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Plenarprotokoll 17/134

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

134. Sitzung

Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Inhalt:

Absetzung der Zusatztagesordnungspunkte 6 Kretschmer, weiterer Abgeordneter und


und 7 sowie des Tagesordnungspunktes 5 . . . 15891 A der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Dr. Martin Neumann (Lau-
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
sitz), Dr. Lutz Knopek, Dr. Peter
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15891 C
Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Aktionsplan Nano-
technologie 2015 gezielt weiterent-
Zusatztagesordnungspunkt 8:
wickeln
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksache 17/7184) . . . . . . . . . . . . . . . 15901 B
NEN: Plenarbefassung gemäß des Gesetzes
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
zur Übernahme von Gewährleistungen im
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15901 C
Rahmen eines europäischen Stabilisie-
rungsmechanismus René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15903 A
(Drucksache 17/7410) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15891 D
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 15905 D
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15891 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15907 B
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15892 D
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 15908 D
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15894 B
Tagesordnungspunkt 27:
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15895 A
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne-
Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 15895 C
ten Franz Müntefering, Sabine Bätzing-
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15896 C Lichtenthäler, Heinz-Joachim Barchmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 15897 C
SPD: Der demografische Wandel in
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 15898 C Deutschland – Handlungskonzepte für Si-
cherheit und Fortschritt im Wandel
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 15899 B
(Drucksache 17/6377) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15910 C
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 15900 A
Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 15910 D
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 15911 C
Tagesordnungspunkt 28:
Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 15913 B
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15915 B
Aktionsplan Nanotechnologie 2015
(Drucksache 17/4485) . . . . . . . . . . . . . . . . 15901 A Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15916 B
b) Antrag der Abgeordneten Florian Hahn,
Albert Rupprecht (Weiden), Michael Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . . 15917 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . 15919 A zessordnung (Abschaffung der nicht-


individualisierten Funkzellenabfrage –
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 15920 B § 100 g Absatz 2 Satz 2 StPO)
Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 15921 B (Drucksache 17/7335) . . . . . . . . . . . . . . . 15934 C

Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15922 B Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15934 D
Sebastian Körber (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15923 C
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 15935 C
Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15924 B
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15925 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15937 C
Petra Ernstberger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15926 A Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15938 C
Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 15940 B
Tagesordnungspunkt 29: Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15940 D
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Kathrin Senger-Schäfer, Harald Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15941 D
Weinberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Gesundheit und
Pflege solidarisch finanzieren Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15941 B, D
(Drucksache 17/7197) . . . . . . . . . . . . . . . . 15927 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Anlage 1
Ausschusses für Gesundheit zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15943 A
Harald Weinberg, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Praxisgebühr und andere Zu- Anlage 2
zahlungen abschaffen – Patientinnen
und Patienten entlasten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung:
(Drucksachen 17/241, 17/7152) . . . . . . . . 15927 B – Unterrichtung: Aktionsplan Nanotechno-
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 15927 C logie 2015

Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 15928 C – Antrag: Aktionsplan Nanotechnologie


2015 gezielt weiterentwickeln
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15929 C
(Tagesordnungspunkt 28 a und b)
Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15931 A
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 15944 B
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15931 B
Anlage 3
Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15932 C
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs:
Tagesordnungspunkt 30:
– Gesetz zu einer rechtsstaatlichen und bür-
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten gerrechtskonformen Ausgestaltung der
Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Ingrid Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaß-
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und nahme
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– … Gesetz zur Änderung der Strafprozess-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
ordnung (Abschaffung der nichtindividua-
zes zu einer rechtsstaatlichen und bür-
lisierten Funkzellenabfrage – § 100g Ab-
gerrechtskonformen Ausgestaltung der
satz 2 Satz 2 StPO)
Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaß-
nahme (Tagesordnungspunkt 30 a und b)
(Drucksache 17/7033) . . . . . . . . . . . . . . . . 15934 C
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15945 C
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion Anlage 4
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung der Strafpro- Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15947 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15891

(A) (C)

Redetext

134. Sitzung

Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Beginn: 9.16 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert:


Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, Platz zu neh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
men. Sitzung ist wieder eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. –
Frau Bundeskanzlerin, wir möchten gerne anfangen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe Ihnen zu-
nächst zwei Mitteilungen zu machen: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wollen wir
die heutige Plenarsitzung mit der Beratung des Antrags
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Britta der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Plenarbefassung
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gemäß dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistun-
Die FDP ist verloren gegangen!) gen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsme-
Erstens. Die für den heutigen Morgen zunächst vorge- chanismus“, der Ihnen auf der Drucksache 17/7410 vor-
sehene Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu den liegt, beginnen. Danach zieht das Plenum des Deutschen
Beratungen des europäischen Gipfels ist aus den Ihnen Bundestages vorsorglich die Befugnisse des Haushalts-
(B) bekannten Gründen abgesetzt. Es gibt eine Vereinbarung ausschusses gemäß § 4 Abs. 4 des Stabilisierungsmecha- (D)
der Fraktionen über die Aufsetzung eines neuen Tages- nismusgesetzes an sich. Anschließend wird die Plenarsit-
ordnungspunktes und über die Vorziehung anderer für zung mit der Beratung des Tagesordnungspunktes 28,
den heutigen Tag ohnehin vorgesehener Beratungs- Aktionsplan Nanotechnologie 2015, fortgesetzt. – Dazu
punkte. kann ich offenkundig Ihr Einvernehmen feststellen. Dann
verfahren wir so.
Zweitens. Die FDP-Fraktion hat mir soeben auf dem
Weg zum Mikrofon mitgeteilt, dass sie noch Beratungs- Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:
bedarf habe und deswegen darum bitte, erst in einer hal- Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/
ben Stunde mit den Plenarberatungen zu beginnen. DIE GRÜNEN
(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Plenarbefassung gemäß dem Gesetz zur Über-
der SPD: Peinlich! – Weitere Zurufe) nahme von Gewährleistungen im Rahmen ei-
nes europäischen Stabilisierungsmechanismus
– Einen Augenblick. Wir haben gestern auf Wunsch ver-
schiedener Fraktionen zu verschiedenen Zeitpunkten das – Drucksache 17/7410 –
Plenum jeweils unterbrochen. Entweder bleiben wir bei
Nach dieser gerade genannten interfraktionellen Ver-
dieser schönen Tradition, dass wir auf Wunsch einer
einbarung sind für die Aussprache 30 Minuten vorgese-
Fraktion, wenn sie Beratungsbedarf hat, einvernehmlich
hen. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das Plenum unterbrechen,
das so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- lege Jürgen Trittin.
ten der SPD und der LINKEN)
oder wir kommen an dieser Stelle, was ich ausdrücklich Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nicht empfehle, in die Situation, dass wir in Zukunft da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle in
rüber durch Mehrheitsbeschluss verfügen. – Ich stelle fest, Europa sind in einer schwierigen Situation. Es zeigt sich,
dass wir einvernehmlich bei der bewährten Tradition blei- dass die umfassende Schuldenkrise – das ist mehr als
ben und berufe deswegen das Plenum für 9.45 Uhr ein. eine Staatsschuldenkrise – bis heute nicht bewältigt ist.
Die Sitzung ist unterbrochen. Es mehren sich die Anzeichen, dass zunehmend auch ge-
gen Spanien und Italien spekuliert wird. Die Gefahr ei-
(Unterbrechung von 9.18 bis 9.45 Uhr) nes Downratings von Frankreich steht bevor.
15892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Jürgen Trittin
(A) Ich sage sehr deutlich – an dieser Stelle soll klar sein, Fraktion würde das, was Sie bisher verhandelt haben, (C)
dass das keine Kritik an der Bundesregierung, an Ihnen, werter Herr Schäuble, auch mittragen, wenn darin nicht
Frau Bundeskanzlerin, ist –, dass es in dieser Situation schon enthalten wäre, was Sie seit Wochen leugnen,
eine schlechte Nachricht ist, dass die Widerstände inner- nämlich eben jener Hebel. Sie haben in den Unterlagen,
halb der Europäischen Union dazu geführt haben, dass die Sie uns übermittelt haben, ausdrücklich vorgesehen,
es auf dem Gipfel am Sonntag nicht zu einer Entschei- dass die EFSF diese Anleihen bei Ankäufen auf dem Se-
dung kommt. Wir stehen in dieser Situation dazu, dass kundärmarkt für sogenannte Repo-Geschäfte mit Ge-
schnell gehandelt werden muss. Zum schnellen Handeln schäftsbanken nutzen darf. Für Rückkaufvereinbarungen
gehört nach unserer festen Überzeugung, dass die Stabi- mit Geschäftsbanken darf sie diese auch für Ankäufe auf
lisierungsfaszilität, die wir in der letzten Sitzungswoche dem Primärmarkt nutzen. Das ist nichts anderes als ein
beschlossen haben, ihre Mittel so effizient einsetzt, dass Hebel, den Sie schon jetzt in die Guidelines aufgenom-
die Spekulation gegen Spanien und Italien abgewehrt men haben, die Sie heute Nachmittag im Haushaltsaus-
werden kann. schuss beschließen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein Unfug!)
sowie bei Abgeordneten der SPD) – Ich habe eben „Unfug“ gehört.
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil ich glaube, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ich erkläre
dass man deswegen um ein bestimmtes Instrument, näm- Ihnen das gleich!)
lich die sogenannte Hebelung dieser Mittel, nicht herum-
kommen wird. Das ist keine neue Botschaft. Das ist viel- Ich kann Ihnen berichten, was Banker dazu sagen. Na-
leicht eine neue Botschaft für Sie, Herr Brüderle. türlich könnte der Hilfsfonds solche Repo-Geschäfte
auch mit Banken abschließen, allerdings würden diese
(Rainer Brüderle [FDP]: Ich kenne das!) wohl deutlich höhere Sicherheiten fordern, womit der
Sie haben in der letzten Sitzungswoche hier erklärt, Hebel weniger groß wäre. Das heißt, Sie wollen hier den
diese Hebelwirkung sei mit – ich zitiere – „Massenver- Weg freigeben. Sie können nicht ausschließen, dass
nichtungswaffen“ gleichzusetzen. diese Passagen dazu genutzt werden, einen solchen He-
bel, falls es keine Einigung über ein anderes Hebelmo-
(Rainer Brüderle [FDP]: Das war ein Zitat von dell gibt, genau dafür zu verwenden.
Warren Buffett! – Thomas Oppermann [SPD]:
So ist es!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
– Ja, das war ein Zitat von Warren Buffett. Ihr Wirt- Herr Kollege.
(B) schaftsminister hat erklärt, diese Hebelung werde es nie (D)
geben. Wir alle wissen, dass es diese Hebelung geben Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wird. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass diese Ent-
Darauf bezieht sich der Kern unseres Antrages. Wir scheidung ins Plenum gehört.
finden, dass über ein solches Instrument hier im Deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schen Bundestag vor den Augen der Bürgerinnen und und bei der SPD)
Bürger entschieden werden muss und nicht hinter den
verschlossenen Türen eines wichtigen Ausschusses. Deswegen beantragen wir, dass diese Entscheidung un-
abhängig davon, wie Sie entscheiden, hier getroffen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wird.
bei der SPD und der LINKEN)
Die Frage der staatspolitischen Verantwortung beant-
Das ist der Kern. Wir sagen: Wir werden diesen Hebel wortet sich darüber, ob die Vertreter des Souveräns ihre
brauchen. Wir werden darüber diskutieren müssen, wie Entscheidungen öffentlich vor den Bürgerinnen und
ein solcher Hebel auszugestalten ist. Aber wir möchten, Bürgern vertreten und öffentlich treffen. Nehmen Sie
dass über diesen Hebel hier entschieden wird, damit sich diese staatspolitische Verantwortung in dieser schwieri-
nicht wiederholt, was wir drei Wochen lang erlebt haben, gen Krise endlich wahr!
nämlich dass das, was jetzt kommt, von denjenigen, die
die ganze Zeit darüber verhandelt haben, zunächst für (Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
unmöglich erklärt wird. GRÜNEN und bei der SPD)

Als mein Kollege Schick Ihnen, Herr Schäuble, vor Präsident Dr. Norbert Lammert:
drei Wochen die Frage gestellt hat, ob es Verhandlungen Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/
über einen Hebel gibt, haben Sie allein die Frage danach CSU-Fraktion.
als unanständig und unangemessen bezeichnet. Ich
finde, Herr Schäuble, Sie sollten sich hier und heute bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Herrn Schick für diese Äußerung entschuldigen. der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Norbert Barthle (CDU/CSU):
und bei der SPD)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Nun sagen Sie, Sie wollten am Sonntag nicht ent- ren! Verehrter Herr Trittin, ich glaube, man muss zuerst
scheiden. Das würden wir Ihnen gerne abnehmen. Meine wieder Ordnung in die Debatte bringen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15893
Norbert Barthle
(A) (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der Bundeskanzlerin in die internationalen Verhandlungen (C)
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- eingebracht haben, vollumfänglich wiederfinden. Das
NEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU/ sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Darüber diskutieren
CSU) wir heute. Alle Journalisten, die gestern vor dem Sit-
zungssaal des Haushaltsausschusses versammelt waren,
– Was gibt es da zu lachen? Das erschließt sich mir haben begriffen, dass in diesen Leitlinien nichts über ei-
nicht. nen Hebel gesagt wird.
(Burkhard Lischka [SPD]: Chaosklub!)
Die Grünen haben es nicht begriffen; denn die Grünen
Erstens. Es ist festzustellen: Die Aufforderung an reden jetzt von den sogenannten Repo-Geschäften, die
Herrn Schäuble, sich zu entschuldigen, geht völlig an der bei den Sekundärmarktaufkäufen als eine Maßnahme in-
Sache vorbei. nerhalb dieser Leitlinien möglich sind. Nun muss man
Ihnen, Herr Trittin, glaube ich, zuerst einmal erklären,
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Stimmt! Er
was das ist. Repo-Geschäft ist ein Begriff aus dem Geld-
muss sich auch bei Herrn Schneider entschul-
markt. Das ist nichts anderes als eine Aufkaufs- und Ver-
digen!)
kaufsverabredung unter festen Bedingungen. Die EFSF
Sie wissen genau, dass diese Äußerung des Finanzminis- wird also künftig auf dem Sekundärmarkt tätig sein kön-
ters in einem Kontext gefallen ist, der ganz anders ist, als nen und dort Staatsanleihen aufkaufen. Nun kann sie
Sie es dargestellt haben. diese Staatsanleihen selbstverständlich auch wieder ver-
kaufen. Wer aufkauft, muss auch verkaufen können. An-
(Lachen bei der SPD – Volker Beck [Köln] ders macht das Ganze keinen Sinn. Wer atmet, muss
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welcher auch ausatmen; sonst platzt er irgendwann.
Kontext denn?)
Deshalb geht das an der Sache vorbei. (Burkhard Lischka [SPD]: Das war aber jetzt
ein schönes Bild! – Weitere Zurufe von der
Zweitens. Herr Trittin, ich halte es für ziemlich arro- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gant, hier zu sagen: Wir Grünen wissen ganz genau, was
es geben wird und was nicht. Sie sprechen über Dinge, Die EFSF soll nicht platzen, sondern sie soll hand-
die noch längst nicht verhandelt sind. lungsfähig sein. Dazu gehört, dass sie Anleihen zu vorher
vereinbarten Bedingungen auch wieder verkaufen und
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE sich dadurch kurzfristig Liquidität beschaffen kann –
GRÜNEN]: Sie haben den Entwurf der Guide- kurzfristig. Das ist der entscheidende Unterschied, Herr
lines vorgelegt! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Trittin. Kurzfristige Liquiditätsbeschaffung ist nicht ge-
(B) DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn vorliegen!) (D)
eignet, um langfristig eine Hebelwirkung zu erzeugen
Deshalb rate ich Ihnen dringend: Beraten Sie sich viel- und damit die Wirksamkeit des Rettungsschirms zu ver-
leicht etwas intensiver mit Ihrer Kollegin Priska Hinz, größern. Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundes-
die dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages tages haben die Mitarbeiter des Bundesfinanzministers
angehört. Ihrer Kollegin Frau Priska Hinz gegenüber genau diese
Definition bestätigt, und zwar im Beisein des Bundes-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- finanzministers. Sie müssten es also begriffen haben. Of-
NEN]: Das haben wir ja gemacht!) fensichtlich haben Sie es immer noch nicht begriffen;
deshalb versuche ich, es Ihnen jetzt noch einmal zu er-
Sie hat gestern über viele Stunden hinweg alle Debatten
klären. Repo-Geschäfte sind nicht geeignet, um einen
verfolgt. Das ist eine kluge Frau mit einer raschen Auf-
langfristig angelegten Hebel zu erzeugen.
fassungsgabe. Dann sind Sie besser beraten und wissen
vielleicht besser Bescheid. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was ist der Stand der Dinge? Wir haben gestern von Das, was über Wochen hinweg unter dem Stichwort
der Bundesregierung den Entwurf dieser Leitlinien be- „Hebel“ in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, hat mit
kommen, in denen bestimmt wird, wie die vier neuen In- diesem Instrument überhaupt nichts zu tun.
strumente der EFSF angewandt werden können. Diese
vier neuen Instrumente haben wir vor zwei Wochen hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
im Deutschen Bundestag – übrigens mit Ihrer Zustim-
mung – beschlossen. Darin steht, was alles neu gemacht Nun will ich auf etwas anderes hinweisen, was ich
werden kann. Ich brauche das nicht zu wiederholen; aber schon bemerkenswert finde: Wir haben vor zwei Wochen
ich will es kurz referieren: Das sind die Sekundärmarkt- – ich glaube, in einem wirklich beispielhaften Vorgang –
operationen, das sind vorsorgliche Kreditlinien, das sind die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages aus-
Primärmarktankäufe, und es ist die Bankenrekapitalisie- geweitet und entsprechend gestaltet. Im StabMechG heißt
rung. es unter § 4 Abs. 2:
Wenn man sich diese Leitlinien, die wir gestern aus- Der vorherigen Zustimmung des Haushaltsaus-
führlich im Haushaltsausschuss beraten haben, vor Au- schusses des Deutschen Bundestages bedürfen:
gen führt, dann kann man feststellen, dass sich in all die- 1. die Annahme oder Änderung der Leitlinien des
sen Punkten die Verhandlungspunkte, die die deutsche Direktoriums der Europäischen Finanzstabilisie-
Bundesregierung, der deutsche Finanzminister und die rungsfazilität durch die Bundesregierung …
15894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Norbert Barthle
(A) Uns werden jetzt Leitlinien vorgelegt, über die auf in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
ternationaler Ebene schon beraten wurde. Über die kön- sowie bei Abgeordneten der SPD)
nen wir abstimmen, und das werden wir auch tun. Wenn
es dazu Änderungen gibt, müssen sie uns wieder vorge- Wir haben gestern im Haushaltsausschuss lange und
legt werden; so steht es im Gesetz. Dann werden wir zu- ausführlich über die sogenannten Guidelines gespro-
vor zumindest im Haushaltsausschuss des Deutschen chen; das ist richtig. Allerdings ist das Bundesministe-
Bundestages darüber beraten. Falls es notwendig sein rium bei unserem ständigen Bohren in Bezug auf die so-
sollte, werden wir das selbstverständlich auch im Ple- genannten Repo-Geschäfte ziemlich ins Schlingern
num des Deutschen Bundestages tun. geraten. Entweder hat der Bundesfinanzminister selber
nicht gewusst, was da hineinverhandelt wurde, oder er
Warum Sie, Herr Trittin, jetzt vorsorglich etwas an war irritiert, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind.
sich ziehen wollen, wofür es noch gar keine schriftliche
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh! Kommissa-
Unterlage gibt und wozu es noch keine Vereinbarung
rin Hinz! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]:
gibt, erschließt sich mir überhaupt nicht; denn damit
Unterstellung!)
konterkarieren Sie das Recht, das wir uns selbst ausbe-
dungen haben, damit konterkarieren Sie die Geschäfts- Das Bundesfinanzministerium musste zugeben, dass
abläufe, die wir vorgesehen haben. Das unterminiert un- diese Repo-Geschäfte dazu dienen können, die Liquidi-
sere Vereinbarungen, anstatt sie zu bestärken. Das ist der tät zu steigern, eine sogenannte kleine Banklizenz zu er-
Hauptvorwurf, den ich Ihnen mache. werben, und dass damit natürlich eine Hebelwirkung
stattfinden würde. Die Aussage war, dass die EFSF dies
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wahrscheinlich machen könnte, dass man aber davon
Was wir derzeit auf europäischer Ebene und weltweit ausgeht, dass die EFSF es nicht tut.
brauchen, ist Vertrauen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aha!)
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der Das war die Darstellung des Bundesfinanzministeriums.
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU/ Im Übrigen sollten wir bis heute Morgen eine schrift-
CSU) liche Klarstellung haben, ob wir das richtig sehen oder
ob das Bundesfinanzministerium ausräumen kann, dass
Was Sie hier betreiben, ist nicht geeignet, das Ver- dieser Hebel so benutzt wird. Diese Klarstellung liegt
trauen auf deutscher Ebene und das Vertrauen in die uns bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor.
(B) Bundesregierung zu stärken. (D)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Lachen bei der SPD) NEN]: Hört! Hört!)

Wir brauchen aber gerade in diesen Verhandlungen Ver- Ich habe schon gestern im Haushaltsausschuss und
trauen. Das ist auch Ihre Verantwortung, bei allem Ver- auf mehrfache Nachfrage Ihrer Kollegen deutlich gesagt:
ständnis für Oppositionsspielereien. Wir sind bereit, den Guidelines zuzustimmen, und wir
sind auch bereit, die Zustimmung dafür zu erteilen, dass
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es Repo-Geschäfte gibt, wenn ausgeschlossen ist, dass
damit eine Hebelwirkung einhergeht; dann müsste dieser
Wenn die Bundesregierung auf europäischer Ebene Passus umformuliert werden. Wir haben bis zum jetzi-
schwierige Dinge durchsetzen will, dann braucht sie den gen Zeitpunkt keine weitere Aussage des Finanzministe-
Rückhalt des gesamten Parlaments und kein solches riums, außer dass die Befürchtung besteht, dass eine He-
Theater der Opposition. belwirkung tatsächlich möglich ist, dass das nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- ausgeschlossen werden kann. Von daher liegen wir völ-
derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lig richtig, wenn wir sagen: Wir wollen diesen Guide-
NEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE lines zustimmen; aber wenn, wie bislang vorgesehen,
GRÜNEN]: Sie will doch gar nichts durchset- eine Hebelwirkung enthalten ist, wollen wir dafür einen
zen!) Parlamentsbeschluss, denn das ist ein neues Instrument
mit neuen Risiken, und darüber muss die Öffentlichkeit
informiert werden. Dann sind wir gerne bereit, zu unse-
Präsident Dr. Norbert Lammert: rer Verantwortung zu stehen und das mit zu beschließen,
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Priska
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hinz das Wort.
sowie bei Abgeordneten der SPD)

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier im Plenum, wo wir auch der Öffentlichkeit nach-
NEN): vollziehbar erklären können, warum diese Erweiterung
und diese Hebelung für den Rettungsschirm notwendig
Herr Kollege Barthle, ich freue mich grundsätzlich, ist.
wenn Sie mich loben. Ich halte nur nichts davon, wenn
Sie mich zur Kronzeugin einer Falschdarstellung ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
chen wollen, die Sie hier im Plenum geben. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15895

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: für die Leitlinien genau diese Absicht, die Sie unterstel- (C)
Bevor der Kollege Barthle Gelegenheit zur Replik er- len, niemals verfolgt wurde und auch nicht verfolgt wer-
hält, möchte ich für den deutschsprachigen Teil der Be- den wird.
völkerung ergänzen, dass die mehrfach erwähnten Gui-
delines Richtlinien sind. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie kommen selber mit den Begriffen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nicht klar!)
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Danke, Herr Präsident! – Dr. Guido Die Bundesregierung ist sogar bereit, Ihnen das schrift-
Westerwelle, Bundesminister: Es sind Leitli- lich zu geben und noch in die Leitlinien einzuarbeiten.
nien, Herr Präsident!) Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen und nicht einen
Trick dahinter vermuten. Bauen Sie keinen Popanz auf!
– Der Bundesminister des Auswärtigen legt Wert auf die Dafür gibt es keinen Grund.
Feststellung, dass es sich um Leitlinien handele.
Danke.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das stimmt! Richtlinien sind was ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
res europäisch!)
Bitte schön, Herr Kollege Barthle. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Thomas Oppermann.
Norbert Barthle (CDU/CSU):
Vielen Dank, Herr Präsident. – In den uns vorliegen- (Beifall bei der SPD)
den Leitlinien für die EFSF, die in der Haushaltsaus-
schussdrucksache 3514 dargelegt sind, steht tatsächlich:
Thomas Oppermann (SPD):
Nutzung von Anleihen für Repo-Geschäfte mit Ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befin-
schäftsbanken, um das Liquiditätsmanagement der den uns in der Tat in einer schwierigen Situation, in einer
EFSF zu unterstützen. Situation, die dieses Parlament so noch nicht erlebt hat.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zum zweiten Mal ist ein europäischer Gipfel verscho-
NEN]: Aha!) ben worden. Die Bundeskanzlerin hat die für heute ange-
Das ist genau das, was ich vorhin ausgeführt habe. kündigte Regierungserklärung zum Gipfel abgesagt.
Die EFSF muss die Möglichkeit haben, sich kurzfristig Heute Nachmittag soll in einer nichtöffentlichen Sitzung
(B) Liquiditätsvorteile zu verschaffen, um damit ihre Tätig- des Haushaltsausschusses legitimiert werden, über was (D)
keiten auf dem Sekundärmarkt entsprechend unterfüttern am Wochenende beim Gipfel verhandelt wird. Da sagen
zu können. Sie, Herr Barthle, wir sollten Vertrauen in diese Regie-
rung haben. Ich sage Ihnen: Wir haben kein Vertrauen in
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Regierung.
NEN]: Das ist der Hebel!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wenn Sie diese Repo-Geschäfte ausschließen, dann ver- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
teuern Sie sozusagen die EFSF, und dann steht weniger LINKEN)
Kapital zur Verfügung, um die eigentlichen Aufgaben
der EFSF zu erfüllen. Es ist richtig: Über die Leitlinien zum Rettungsfonds
wird nach dem Gesetz im Haushaltausschuss entschie-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen den. Als wir aber vor drei Wochen dieses Gesetz im
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Bundestag verabschiedet haben, sind alle davon ausge-
beschrieben, wie der Hebel funktioniert!) gangen, dass Leitlinien eine Art Geschäftsordnung, tech-
Frau Kollegin Priska Hinz, daraus entsteht aber kein nische Regeln sind. Aber nach der Verabschiedung des
Hebel. Ein Hebel würde nur dann entstehen, wenn man Gesetzes begann eine Debatte darüber, dass in diesen
das als Kaskadengeschäft dauernd fortführen würde, um Leitlinien gehebelt werden soll. Die Leitlinien sind jetzt
damit Liquiditätsreserven unendlich – unendlich geht es plötzlich der Ort, wo aus den Milliarden, die wir hier be-
zwar nicht, aber ein Stück weit – auszubauen. Sie benut- schlossen haben, Billionen werden.
zen eine sophistische Definition des Begriffs „Hebel“, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wo steht das
und daran hängen Sie diese Debatte auf. über den Hebel? Es steht doch nirgendwo! Wie
Frau Kollegin Hinz, die Länge Ihrer Kurzintervention kommen Sie darauf!)
zeigt schon, dass Sie vieles zu vernebeln haben. Das berührt selbstverständlich das Ausfallrisiko und das
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Verlustrisiko. Dieses Verlustrisiko ist eine inhaltliche,
GRÜNEN]: Oh! – Burkhard Lischka [SPD]: materielle Frage und keine Frage, die in einer Geschäfts-
Unglaublich! – Weitere Zurufe von der SPD ordnung geregelt werden kann.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Gestern hat Ihnen die Bundesregierung im Haushaltsaus- DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/
schuss klipp und klar gesagt, dass in den Vereinbarungen CSU]: Wo steht das?)
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Thomas Oppermann
(A) Wo kommen wir hin, wenn der Bundestag über Mil- treten und unverantwortliche Steuersenkungen verkün- (C)
liarden beschließen darf, aber die Entscheidung über die den lassen.
Billionen im nichtöffentlich tagenden Haushaltsaus-
schuss fällt? (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Das tun wir doch
gar nicht! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das Wer inmitten der größten Schuldenkrise, inmitten der
tun wir nicht!) größten europäischen Krise Steuersenkungen auf Pump
beschließt und damit die Schulden erhöht, der handelt
Sie nähren doch mit diesem Verfahren den Verdacht, nicht verantwortlich. Deshalb, meine Damen und Her-
dass Sie uns und der Öffentlichkeit etwas unterjubeln ren: Über den Rettungsschirm und über die Richtlinien
wollen. muss im Parlament entschieden werden. Dies ist der Ort,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor den Augen der Bürgerinnen und Bürger, die am
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ Ende mit ihren Euros für das haften müssen, was wir
CSU]: Unverantwortlich!) hier tun.

Es kann doch nicht sein, dass wir hier über einen Teil Ich danke für die Aufmerksamkeit.
der Richtlinien beschließen und nächste Woche der an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dere Teil kommt. Diese Richtlinien sind ein Torso. Der DIE GRÜNEN)
Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsaus-
schuss noch gesagt, das sei der Entwurf eines Entwurfes.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koali- Präsident Dr. Norbert Lammert:
tion: Können Sie wirklich alle Details überblicken, die in Das Wort erhält nun der Kollege Otto Fricke für die
diesen Leitlinien geregelt sind? FDP-Fraktion.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Herr Brüderle kann das!) der CDU/CSU)
Haben Sie in diesen wenigen Stunden den notwendigen
Sachverstand hinzuziehen können, um das jetzt beurtei- Otto Fricke (FDP):
len zu können? – Nein, meine Damen und Herren, dies Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
ist kein angemessenes Verfahren. men und Herren! Herr Oppermann, ich kann bei den
Grünen die Fragen noch nachvollziehen.
Die Debatte über die Leitlinien gehört hier in den
(B) Deutschen Bundestag. Vor den Augen der Bürgerinnen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
und Bürger muss debattiert und entschieden werden, mit NEN]: Was?)
welchem Haftungsrisiko wir in den Rettungsfonds
hineingehen. Die werden wir im Haushaltsausschuss auch weiter be-
antworten und diskutieren. Ich sage das auch der Kolle-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gin Hinz, weil ich versuchen will, liebe Kolleginnen und
DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Kollegen, am Ende auch ein Ergebnis zu bekommen, da-
Dem einmal beschlossenen! – Norbert Barthle mit die Regierung mit einem durch das Parlament ge-
[CDU/CSU]: Worauf beziehen Sie sich eigent- stärkten Rücken verhandeln kann. Denn die schwierigste
lich?) Aufgabe ist nicht hier im Parlament; die schwierigste
Aufgabe hat die Bundesregierung, von der jeder in
Wir stehen zur Euro-Rettung. Wir haben der Ent- Europa etwas will und die versuchen muss, einerseits
scheidung zum Rettungsschirm zugestimmt. Wir waren Führung zu zeigen und andererseits die anderen mitzu-
auch diejenigen, die gesagt haben, dass die bewilligten nehmen. Aber da liegt unsere Verantwortung, ihr den
Mittel wahrscheinlich nicht ausreichen, um eine Stabili- Rücken zu stärken und das nicht durch falsche Äußerun-
sierung unserer Währung herbeizuführen. Da haben Sie gen, wie es der Kollege Oppermann jetzt wieder ver-
widersprochen. Jetzt wollen Sie in den Leitlinien hebeln. sucht hat, kaputtzumachen.
Sie wollen ein Verlustrisiko beschließen, ohne dass die
Öffentlichkeit genau weiß, was da passiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Oh!)
Frau Bundeskanzlerin, sagen Sie uns bitte nicht, Sie
stünden jetzt unter Zeitdruck. Auch wir meinen, dass Herr Kollege Oppermann, der Kollege Trittin hat be-
schnell entschieden werden muss, aber Sie hatten alle wusst nicht das gesagt, was Sie versucht haben, zu sa-
Zeit der Welt. gen; er hat nicht gesagt, dass das Volumen erweitert
(Lachen bei der FDP – Otto Fricke [FDP]: In wird. Ich finde, Sie oder der Kollege Schneider – er ist ja
welcher Welt leben Sie?) ebenfalls ein erfahrener Haushälter, also auch dem
Grundsatz von Klarheit und Wahrheit verpflichtet – soll-
Statt diese Zeit zu nutzen, haben Sie hier Regierungser- ten das noch einmal klarstellen. Das Volumen, mit dem
klärungen gehalten und der Opposition vorgeworfen, sie der deutsche Steuerzahler maximal haftet, wird durch
betreibe die Vergemeinschaftung der Schulden. Statt Ihre die Guidelines nicht erhöht, kann durch die Guidelines
Hausaufgaben zu machen, haben Sie gestern den Bun- auch nicht erhöht werden, weil die Leitlinien diese Mög-
desfinanzminister und den Vizekanzler vor die Presse lichkeit nicht geben.
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Otto Fricke
(A) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das hat gegenwärtig in Europa führen. Wir brauchen dafür Ihre (C)
niemand behauptet!) Unterstützung und keine falschen Aussagen.
Sie wissen es doch ganz genau, dass über die Frage einer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Volumenerweiterung immer nur – das ist auch nach dem
Urteil des Verfassungsgerichts so – das Parlament ent- Präsident Dr. Norbert Lammert:
scheiden kann.
Bitte sehr, Frau Hendricks.
(Manfred Zöllmer [SPD]: Eben!)
Deswegen sollten wir nach außen zumindest klarstel- Dr. Barbara Hendricks (SPD):
len: Was auch immer passiert, welcher Hebel oder wel- Herr Kollege Fricke, ich stimme Ihnen darin zu, dass
che Änderungen oder welche Optimierungen kommen, das Risiko für die Bundesrepublik Deutschland durch
eine Erhöhung des Risikos für den deutschen Steuerzah- den aufgespannten Schirm auf 211 Milliarden Euro be-
ler – im Sinne eines höheren Volumens – wird es darüber grenzt ist. Stimmen Sie mir im Gegenzug zu und räumen
nicht geben. dies auch vor der Öffentlichkeit ein, dass die Eintritts-
wahrscheinlichkeit des Risikos innerhalb der 211 Mil-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- liarden Euro durch eine wie auch immer geartete Hebe-
rufe von der SPD: Keinen Cent mehr!) lung erhöht wird?
Zu der Frage, die dann von Ihnen angedeutet worden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ist und die wir alle im Kopf haben: „Erhöht sich das Ri- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
siko, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit?“, sage ich Ih-
nen: Wenn Sie das wissen, sind Sie wahrscheinlich klü-
ger als der Rest des Parlaments. Otto Fricke (FDP):
Frau Kollegin, ich habe eben bereits versucht, dies
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darzustellen. Es gibt viele Möglichkeiten. Wenn der
NEN]: Jetzt verleugnen Sie aber Ihren Intel- Schirm die richtige Größe hat – in diesem Punkt würden
lekt! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Sie mir wieder zustimmen –,
GRÜNEN]: Das ist Mathematik!)
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist
Dann wollen wir doch einfach einmal eine Sache fest- denn die richtige Größe?)
halten. Das Problem, mit dem wir uns jetzt seit mehreren
Jahren beschäftigen, ist: Wie sorgen wir dafür, dass ei- dann können wir dafür sorgen, dass im Falle der Insol-
(B) nerseits die Rettungspakete so groß sind, dass sie zur venz eines Mitgliedstaates eine Beruhigung auf den (D)
Ruhe führen, aber andererseits auch so klar bedingt sind, Märkten eintritt und es nicht zu Verlusten kommt; ich
dass das Spiel der Neuverschuldung auf anderer Ebene, denke, darin sind wir uns beide einig. Wenn der Schirm
in den Peripherieländern, nicht weitergeht? aber zu klein ist, dann kommt es zu einem Vollverlust.
Von daher kann man nicht sagen, dass sich das Risiko er-
Präsident Dr. Norbert Lammert: höht oder verändert. Wir versuchen, mithilfe einer Maß-
nahme gerade zu erreichen, dass sich das Risiko nicht
Kollege Fricke, darf die Kollegin Hendricks eine
verwirklicht.
Zwischenbemerkung machen?
(Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir
Otto Fricke (FDP): Ihnen vorletzte Woche schon gesagt! – Weitere
Ich würde diese Ausführung gern erst beenden. Da- Zurufe)
nach gern. – Ja, ich weiß. Komplexe Antworten sind unangenehm.
Wenn der Schirm ohne die Maßnahmen Dritter zu Das ist an dieser Stelle einfach so.
klein ist, dann würde er am Ende nichts nützen. Wenn er (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
groß genug wird, indem wir andere dazu bringen, in Ri- der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
siken zu gehen, dann brauchen wir am Ende überhaupt DIE GRÜNEN]: Das ist nur der Nachweis Ih-
nichts zu zahlen. Daher ist die Frage, wie sich dieses Ri- rer Unkomplexität!)
siko auswirkt, von Ihnen und von uns auch nicht zu be-
antworten. Ich möchte an dieser Stelle eines festhalten: Warum
debattieren wir hier heute eigentlich? Wir debattieren
Am Ende wird es eine einzige Frage geben: Sind wir deswegen, weil wir ein Gesetz beschlossen haben, dem
durch die Verhandlungen, die die Bundesregierung führt, die Grünen und die SPD zugestimmt haben, in dem wir
in der Lage, den Ländern, die eine andere Finanzmenta- gesagt haben: Wir übernehmen eine Verantwortung, die
lität als die Deutschen, die Niederländer oder die Finnen dem Parlament in keinem anderen Land zugebilligt wird.
haben, klarzumachen, dass es so nicht weitergeht? Denn Wir als Koalition – nicht die Opposition – haben eine
eines möchte diese Koalition nicht: dass wir im Falle ei- Parlamentsbeteiligung durchgesetzt, Herr Kollege Trittin.
ner Krise so reagieren, wie es Rot-Grün damals getan
hat. Sie haben nämlich gesagt: Wir weichen die Regeln (Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
einfach auf. Dann sind wir alle wieder glücklich. – Das GRÜNEN] führt ein Gespräch mit Abg.
ist der Kampf, den diese Koalition und diese Regierung Thomas Oppermann [SPD])
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Otto Fricke
(A) – Herr Kollege Trittin, Sie erklären das dem Kollegen Die ehrliche Beantwortung der Frage ist doch: Sie (C)
Oppermann jetzt wahrscheinlich noch einmal; das ist versuchen, hier zu verzögern; Sie versuchen, Politik zu
auch nicht schlecht. – Diese Parlamentsbeteiligung sorgt machen. Sie vergessen dabei leider Europa.
dafür – das ist das Wichtige –, dass wir die Sachen im
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber Sie haben
Detail besprechen. Wenn es um das Volumen, also den
das voll im Auge!)
Haushalt selber, geht, ist das Sache des Parlaments.
Wenn es um technische Vorgänge geht, ist das Sache des Das wird diese Koalition eben nicht tun.
Ausschusses.
Herzlichen Dank.
Der Frau Kollegin Hinz möchte ich sagen: Was wol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
len wir heute im Haushaltsausschuss machen? Wir wol-
len die von Ihnen zu Recht gestellten Fragen beantwor- Präsident Dr. Norbert Lammert:
ten. Die Regierung muss eine entsprechende Vorlage Für die Fraktion Die Linke redet jetzt der Kollege
machen. Ich bin mir sicher, dass der gegenwärtig im Roland Claus.
Sonnenlicht sitzende Parlamentarische Staatssekretär
Kampeter diese strahlend präsentieren wird. (Beifall bei der LINKEN)

Herr Kollege Oppermann, ich möchte noch Folgendes Roland Claus (DIE LINKE):
festhalten: Jede Veränderung der Leitlinien muss durch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
den Haushaltsausschuss. Das gilt nicht nur für den Be- Kollege Barthle, Ihre erkenntnisreiche Aufklärung über
schluss der Basis, sondern auch für den Beschluss einer die Geheimnisse der Atemtechnik veranlasst mich zu der
eventuellen Erweiterung oder einer eventuellen Verände- schlichten Bemerkung: Bei dieser Koalition ist einfach
rung. Das werden wir in den nächsten Jahren wiederholt die Luft raus.
machen müssen. Das ist das Wasserdichte dabei. Wir
sorgen dafür, dass das Parlament in jedem Fall auf der (Beifall bei der LINKEN)
jeweils zuständigen Ebene einbezogen wird. Die Beratung des Antrags der Bündnisgrünen – das
gehört auch zur Wahrheit – sollte ja zunächst verhindert
In Richtung der SPD möchte ich noch sagen: Was ist werden. Dabei muss hier daran erinnert werden, dass
Ihr eigentliches Ziel? Darüber redet hier keiner gerne. sich die Grünen auf eine Regierungserklärung verlassen
Sie möchten weitere Abstimmungen. Ich bin mir sicher, haben und dachten: Dazu können wir einen Vorschlag
dass Sie für die nächste Woche am liebsten auch schon machen. Eine angesetzte Regierungserklärung – so
wieder eine namentliche Abstimmung haben wollen, ob- könnte man ja annehmen – ist sicher wie eine Staats- (D)
(B) wohl es darum gar nicht geht.
anleihe. – Dabei sind die Grünen reingefallen. Man darf
auch nicht ausblenden, dass sie diesem Gesetz zur neoli-
(Thomas Oppermann [SPD]: Ist das so beralen Version der Euro-Rettung zugestimmt haben.
schlimm? Haben Sie Angst davor?) Ausgetrickste reagieren bekanntlich empfindlich.
– Dann sind wir uns einig, Herr Oppermann. Danke, es Worum geht es hier? Wichtige Entscheidungen für die
ist gut, dass wir das festhalten. Wir brauchen keine na- Europäische Union stehen an. In Griechenland eskaliert
mentliche Abstimmung. Wir brauchen auch keine Kanz- die Gewalt. Von heute bis Sonntag tagen die EU-Regie-
lermehrheit. rungen nahezu permanent. Das Parlament erwartet Klar-
stellung. Dafür taugt eine Regierungserklärung. Die
(Lachen bei der SPD) bleibt hier aus. Warum? Deutschland und Frankreich
können sich nicht einigen, in welches Kasino sie gehen
Das alles ist in der nächsten Woche nicht notwendig. Ich wollen. Denn – um das einmal so deutlich zu sagen –
finde es sehr gut, dass Sie dem zustimmen. Das können „Hebel“ heißt doch nichts anderes als: Mach aus 1 Euro
wir ja schon einmal festhalten. 3 Euro durch Beteiligung am spekulativen Finanzmarkt!
Frankreich will den Hebel durch eine Banklösung,
(Manfred Zöllmer [SPD]: Eigentor! – Thomas Deutschland durch eine Versicherungslösung.
Oppermann [SPD]: Es muss ihm aber Die Frage ist also, weshalb hier eine Regierungserklä-
schlechtgehen, dass er so laut pfeifen muss!) rung ausbleibt. Zocken wir so oder so? Da kann man
doch nur sagen: Wo leben wir denn? Das kann ein Parla-
Herr Kollege Oppermann, ich möchte einmal das ment doch nicht hinnehmen!
wahre Verhalten der SPD aufzeigen. Voraussetzung für
ein Handeln des Parlaments wäre das Neuner-Gremium (Beifall bei der LINKEN)
gewesen. Was aber hat die SPD gemacht? Sie sagt: Nein,
Weil Deutschland und Frankreich sich nicht einigen kön-
in Bezug auf das Neuner-Gremium können wir diese
nen, welches Kasino besser ist, wird hier einfach ent-
Woche leider nicht entscheiden. Wir wissen zwar schon
schieden, dass Volk und Parlament nicht informiert wer-
seit drei Wochen, dass wir das wählen müssen, aber wir
den. Das ist nicht akzeptabel.
können noch nicht entscheiden.
Nun sagt die CDU/CSU ebenso wie die FDP: Die Ri-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Es gibt die sikosumme bleibt gleich. Das mag ja stimmen. Es macht
Woche nichts zu entscheiden!) aber verdammt noch mal einen Unterschied, ob ich das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15899
Roland Claus
(A) Geld solide anlege oder ob ich es auf den spekulativen wird; nichts anderes hat Schäuble gestern im Haushalts- (C)
Märkten anlege und den gleichen Weg gehe, der vor ausschuss gesagt und in Aussicht gestellt. Es versteht
2008 in den USA beschritten worden war, was dann völ- sich von selbst, dass die Bundesregierung gesetzestreu
lig schiefgegangen ist. Das muss man Ihnen einmal so ist.
deutlich sagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist doch
(Beifall bei der LINKEN) nicht verboten, darüber nachzudenken, wie man einen
Die Linke wird dem Antrag der Bündnisgrünen zu- vereinbarten Gewährleistungsrahmen so nutzen kann,
stimmen. Allerdings hätten wir etwas mehr Demut oder dass er die höchstmögliche Effizienz erhält; es ist aus
wenigstens Selbstkritik erwartet. Liebe Bündnisgrüne, meiner Sicht sogar die Aufgabe, darüber nachzudenken.
man kann nicht mit der CDU in einem Boot auf hohe Die Erhöhung der Effizienz, die Verbesserung der Wirk-
See gehen und dann zugleich die Piraten geben wollen. samkeit, hat noch lange nichts mit dem zu tun, was man
Das glaubt euch doch keiner. klassischerweise als Hebel oder, wie es im Englischen
heißt, als Leveraging bezeichnet.
(Beifall bei der LINKEN)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wenn man dann denkt, der Gipfel der Verwirrung sei Das sieht die Commerzbank anders!)
erklommen, dann hat man die FDP unterschätzt, die in
einer solchen Situation – sekundiert vom Bundesfinanz- Die Situation würde sich verändern – da kann ich die
minister – doch ernsthaft Steuersenkungen einfordert. Frage von Frau Hendricks durchaus verstehen –, wenn
Eine völlig verantwortungslose Politik, meine Damen eine Haftungskaskade eingeführt würde. In diesem Falle
und Herren! müsste der Vorgang von uns im Parlament sicherlich neu
(Beifall bei der LINKEN) bewertet werden. Ich denke, auch darüber gibt es keinen
Dissens.
So kann es hier nicht weitergehen.
Ich will auf den Beitrag des Kollegen Oppermann zu-
(Beifall bei der LINKEN) rückkommen. Herr Oppermann, Sie haben sich in zwei
Sätzen dreimal widersprochen: Sie haben in Richtung
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Bundeskanzlerin gesagt, sie habe alle Zeit der Welt
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb gehabt. Einige Sätze später haben Sie gesagt: „inmitten
für die CDU/CSU-Fraktion. der größten Schuldenkrise, inmitten der größten europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schen Krise“.
(B) neten der FDP) (Thomas Oppermann [SPD]: Sie hat sie mit (D)
herbeigeführt!)
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Irgendwie passt das nicht zusammen.
Herren! Der Kollege Oppermann wie der Kollege Trittin
(Thomas Oppermann [SPD]: Doch!)
haben eingangs ihrer Reden davon gesprochen, dass wir
uns in einer ernsten Situation befinden würden. Umso Wenn wir eine krisenhafte Situation haben, dann muss
weniger habe ich dafür Verständnis, dass Sie einen sehr schnell krisenorientiert und sachgerecht gehandelt
Popanz aufbauen, eine Vortäuschung falscher Tatsachen werden.
vornehmen, um hier eine Scheindebatte loszutreten.
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) krisenverschärfend!)
Ich denke, wir alle sollten uns so weit ernst nehmen,
dass wir unserer Verantwortung in dieser Situation ge- Wenn wir wollen, dass die deutschen Positionen
recht werden wollen. Deswegen haben wir vor wenigen durchgesetzt werden – da haben Sie sich von dem, was
Wochen das Gesetz beschlossen, das die Parlaments- eigentlich gute Parlamentstradition ist, verabschiedet –,
rechte deutlich stärkt. Wir wollen diese Verantwortung dann können Sie hier nicht erklären, Sie entzögen der
ernst nehmen. Das würde doch niemand abstreiten wol- Bundesregierung sozusagen das Vertrauen. Wenn wir
len. wollen, dass die deutschen Positionen, über die wir uns
weitestgehend einig sind, durchgesetzt werden, dann
Gestern – das war im Haushaltsausschuss schon zu müssen wir, wie es Kollege Barthle und Kollege Fricke
merken – hat man immer wieder versucht, künstlich et- schon gesagt haben, der Bundesregierung den Rücken
was in die sogenannten Leitlinien hineinzuinterpretieren, stärken, in unserem ureigenen Interesse.
was darin nicht enthalten ist. Insofern müssen wir wieder
auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Der Bundesfinanzminister hat gestern im Haushalts-
ausschuss ausdrücklich erklärt, dass über die Frage, wie Natürlich nehmen wir unsere parlamentarischen Mit-
die Wirksamkeit der Instrumente erhöht werden kann, wirkungsrechte sehr ernst; wir haben sehr viele Ent-
weiter verhandelt werden muss und dass er danach ent- scheidungen ins Parlament zurückgeholt. Auf der ande-
sprechend dem Gesetz, das wir verabschiedet haben, ren Seite stärken wir der Regierung nicht den Rücken,
selbstverständlich erneut auf das Parlament zukommen wenn wir nicht auch ein Mindestmaß an Vertrauen ge-
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Bartholomäus Kalb
(A) genüber denjenigen aufbringen, die für uns auf der poli- So, wie es ist, nein. – Das haben wir schon von Anfang (C)
tischen Bühne in Brüssel und anderswo verhandeln. an gesagt. Sie haben doch nur, damit Sie noch halbwegs
eine Mehrheit in dieser Stümperkoalition zusammenbe-
Herzlichen Dank. kommen, nichts mehr gesagt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das Vertrauen CSU)
haben Sie selbst zerstört!)
Sie haben das durch den Bundestag gepeitscht, ohne da-
Präsident Dr. Norbert Lammert: rauf einzugehen, dass Sie schon über eine Hebelung,
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der über eine Risikoausweitung der deutschen Haftung ver-
handelt haben. Es darf nicht sein, dass diese Diskussion
Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
nur im Haushaltsausschuss unter „ferner liefen“, fernab
(Beifall bei der SPD) der Öffentlichkeit, geführt wird, sondern es muss so
sein, dass die entsprechenden Entscheidungen hier im
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Bundestag getroffen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ist viel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
von „Vertrauen“ die Rede gewesen. Es ist richtig: Es DIE GRÜNEN)
geht nicht nur um das Vertrauen des Parlaments in die
Regierung und ihre Aussagen, sondern auch um Ver- Es ist vollkommen klar, dass, wenn Sie ein Volumen
trauen darauf, dass die Handlungen der Regierung in in fünffacher Höhe der Fondsmittel generieren wollen,
Europa zu einem Ziel führen, durchdacht sind und ge- damit auch ein höheres Risiko einhergeht. Das wird Ih-
meinschaftlich angegangen werden. Sehr geehrte Frau nen auch jeder Ökonom sagen. Ich würde gerne das eine
Bundeskanzlerin, dieses Vertrauen kann man nach der oder andere Instrument bewerten, aber uns liegt dazu bis
am gestrigen Nachmittag erfolgten Absage der Regie- heute noch nichts vor. Das ist der wahre Skandal. Bis
rungserklärung nicht mehr haben. heute hat Herr Schäuble nichts weiter dazu gesagt, als
dass es Verhandlungen gibt. Das ist nicht akzeptabel.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist nicht überzeugend und führt zu weiterer Verunsi-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cherung.
Kollege Barthle und Kollege Kalb, Sie erwarten von Für uns stellt sich jetzt die Frage: Stimmen wir den
uns, der Opposition, dass wir der Bundesregierung, die Richtlinien in der Fassung, wie sie uns seit gestern Mit-
den Namen nicht wirklich verdient, den Rücken stärken, tag auf Deutsch vorliegen, heute in einer noch schnell
(B) obwohl Sie selbst ihr permanent in den Rücken fallen. einberufenen Sitzung zu? Die neuen Richtlinien liegen (D)
Das ist nicht wirklich Aufgabe der Opposition. mir bislang nicht vor. Angeblich sollen sie noch kom-
men. Bei dem, was wir gestern bekommen haben, han-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
delte es sich nur um einen Entwurf des Entwurfs.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Genau!)
Wir haben gesagt: Wir stehen hier für ein wehrhaftes Nun zu den Repo-Geschäften. Man wird gegenüber
Europa. Wir haben dem Euro-Rettungsfonds trotz dieser dieser Regierung bösgläubig. Man wird auch, wenn man
Regierung zugestimmt, aber gesagt: Es muss klar sein, all das sieht, gegenüber der EZB bösgläubig.
worüber wir abstimmen. Ich habe, wie der Kollege
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Wir werden nur
Schick, im Haushaltsausschuss und hier im Plenum an
bei Carsten Schneider bösgläubig!)
Herrn Schäuble die Fragen gerichtet: Gibt es eine Hebe-
lung oder nicht? Denken Sie darüber nach, die Mittel zu Warum kann die EZB Staatsanleihen auf dem Sekundär-
hebeln? – Eine Hebelung bedeutet nicht, die Mittel nur markt kaufen? Weil es in den Verträgen nicht ausdrück-
zu effektivieren; das ist ein Euphemismus. Letztendlich lich verboten wurde. Deswegen schauen wir uns ganz
bedeutet eine Hebelung, dass man, wie es der Kollege genau an, was in diesen Richtlinien steht. Jetzt kann das
Claus gesagt hat, wieder ins Kasino geht. Denn eine Finanzministerium hundertmal sagen, man wolle nur für
CDO ist nichts anderes als eines dieser Produkte, die wie Liquiditätsgeschäfte zusätzliche Ausleihungen ermögli-
Massenvernichtungswaffen wirken. Da haben Sie, Herr chen. Rechtlich verboten ist es allerdings nicht, auch in
Brüderle, gesagt: Auf gar keinen Fall! – Sie haben es ge- anderen Fällen zu hebeln. Das ist der entscheidende
leugnet. Der Bundestag, die Öffentlichkeit und die Kol- Punkt.
legen hatten den Eindruck, das alles gebe es gar nicht.
Währenddessen ist auf der IWF-Jahrestagung insgeheim (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
darüber verhandelt worden. Das ist der eigentliche Skan- DIE GRÜNEN)
dal, meine Damen und Herren! So wie Sie hier die ganze Zeit das Parlament, die Öf-
fentlichkeit und die eigene Koalition an der Nase herum-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
führen, tun Sie es auch in diesem Punkt. Deswegen sa-
DIE GRÜNEN)
gen wir: Nur wenn das klargestellt ist, nur wenn der
Die Frage ist doch: Reicht das Volumen von insge- Bundestag darüber entscheidet und abstimmt, nur dann
samt 440 Milliarden Euro aus, um überzeugende Signale ist es möglich, die Tragweite wirklich zu begreifen und
an die Finanzmärkte zu geben? Die klare Antwort lautet: auch die Öffentlichkeit angesichts all dieser Milliarden-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15901
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) summen halbwegs aufzuklären und mitzunehmen. Das Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (C)
ist ja sowieso schon schwer genug. Dieses Signal muss nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas
also vom Bundestag ausgehen. Deswegen stimmen wir Rachel.
dem Antrag der Grünen zu.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Präsident Dr. Norbert Lammert: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Ich schließe die Aussprache. Kolleginnen und Kollegen! Deutschland steht ohne
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Zweifel vor großen Herausforderungen. Uns fordert der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7410 Klimawandel. Wir haben die Energiewende eingeläutet,
mit dem Titel „Plenarbefassung gemäß des Gesetzes zur und wir spüren die ersten Auswirkungen der demografi-
Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines schen Entwicklung. Es ist die Nanotechnologie, die hier
europäischen Stabilisierungsmechanismus“. Wer stimmt wie kaum eine andere Technologie Chancen bietet.
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Ich nenne Energieversorgung und Ressourcenscho-
sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koali- nung als Beispiele. Moderne Gebäudetechnik, zum Bei-
tion abgelehnt. spiel Dämmstoffe oder energiesparende Beleuchtungs-
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 28 a und b auf: technologien, ist ohne nanotechnologische Materialien
nicht denkbar. Auch die Verfügbarkeit seltener Rohstoffe
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- ist ein großes Problem. Auch wenn in diesem Bereich
regierung noch viel Forschungsbedarf besteht, so ermöglichen Na-
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 nomaterialien zukünftig die Nutzung von Einsparpoten-
zialen und werden ein Ersatz für seltene Rohstoffe sein.
– Drucksache 17/4485 –
Überweisungsvorschlag:
Das Besondere und Spannende bei Nanomaterialien
Ausschuss für Bildung, Forschung und ist, dass ein Material in dieser kleinsten Dimension eine
Technikfolgenabschätzung (f) neue Eigenschaft und eine neue Funktionalität gewinnt.
Rechtsausschuss Wir wollen die technologischen Innovationen nutzen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und damit zur Standortsicherung in Deutschland beitra-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
gen. Deshalb ist die Nanotechnologie ein wichtiger Be-
Ausschuss für Gesundheit standteil der Hightech-Strategie der Bundesregierung.
(B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(D)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Wir können die Chancen, die uns die Nanotechnolo-
Hahn, Albert Rupprecht (Weiden), Michael gie bietet, allerdings nur dann verantwortlich nutzen,
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- wenn die Anwendung der Nanotechnologie sicher ist,
tion der CDU/CSU sodass keine negativen Auswirkungen für die Gesund-
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann heit der Menschen oder die Umwelt entstehen können.
(Lausitz), Dr. Lutz Knopek, Dr. Peter Röhlinger, Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung den „Ak-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP tionsplan Nanotechnologie 2015“ beschlossen, der sechs
Aktionsfelder umfasst.
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt wei-
terentwickeln Erstens. Wir wollen die Forschung und den Technolo-
gietransfer fördern. Wir müssen die Lösung der globalen
– Drucksache 17/7184 – Herausforderungen angehen. Ohne Zweifel kann die Na-
Überweisungsvorschlag: notechnologie wesentlich zur CO2-Einsparung beitra-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
gen. Im Bereich der diagnostischen und therapeutischen
Rechtsausschuss Ansätze in der Medizin oder im Bereich der Elektromo-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bilität werden wir nur mithilfe von Nanotechnologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und weiterkommen. Deshalb hat die Bundesregierung im
Verbraucherschutz vergangenen Jahr die Nanotechnologie mit 400 Millio-
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit nen Euro im Rahmen von Projekten und institutionell
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union unterstützt. Dies entspricht einem Anstieg von mehr als
50 Prozent gegenüber den Ausgaben im Jahr 2006.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine Stunde (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
Zweitens. Wir möchten die Wettbewerbsfähigkeit des
so beschlossen.
Standorts Deutschland sichern. In Deutschland sind be-
Ich darf diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehr reits über 960 Unternehmen mit der Nanotechnologie
teilnehmen können oder wollen, bitten, entweder den beschäftigt. 63 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
Plenarsaal zu verlassen oder auf andere Weise für eine mer haben hier ihre berufliche Grundlage. 75 Prozent
geordnete Debatte Sorge zu tragen. dieser Unternehmen sind kleine oder mittlere Unterneh-
15902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel


(A) men. Sie haben wir fest im Blick. Die meisten von ihnen in Europa gibt, schließt natürliche und künstliche Mate- (C)
sind jung. Der größte Teil, zwei Drittel, wurde erst nach rialien ein. Diese Definition ist eine wichtige Grundlage,
1990 gegründet. Weil das so ist, haben wir mit dem För- die es uns ermöglicht, die Regelwerke anzupassen und
derprogramm „KMU-innovativ“ ein Flaggschiff aufge- zum Beispiel die Chemikalienrichtlinie zu überarbeiten.
baut, um die kleinen und kleinsten Unternehmen beson-
In diesem Zusammenhang wird immer wieder über
ders zu fördern.
Produktregister und eine generelle Kennzeichnungs-
Drittens: internationale Kooperation. 90 Prozent des pflicht gesprochen. Wenn wir über ein übergreifendes
Wissens weltweit entstehen nicht in Deutschland. Es Produktregister sprechen, sollten wir uns vor Augen füh-
muss unser Ziel sein, dass wir am entstehenden Wissen ren, dass es bereits eine Vielzahl von sektorspezifischen
teilhaben. Umgekehrt muss Deutschland sein Wissen zur Registrierungs- und Zulassungspflichten gibt, und zwar
Verfügung stellen, wenn es beispielsweise darum geht, für Chemikalien, Lebensmittelzusatzstoffe, Lebensmit-
die Ergebnisse zu den Auswirkungen von Nanomateria- telkontaktmaterialien, Kosmetika, Biozidprodukte und
lien auf Mensch und Umwelt auf internationaler Ebene Pflanzenschutzmittel, um nur einige zu nennen. Natür-
zusammenzufassen. Im Rahmen der OECD liefert lich fallen die Nanomaterialien und entsprechende Pro-
Deutschland deshalb konkrete Daten über industriell dukte unter diese spezifischen Regelungen.
gefertigte Nanomaterialien wie Nanosilber und Titan-
Der Aktionsplan der Bundesregierung zielt darauf,
dioxid.
sektorspezifische Regelungen zu prüfen und dort, wo die
Viertens: Risiken der Nanotechnologie erforschen. Eigenschaften von Nanomaterialien und -produkten
Natürlich bewegen uns die Themen Gesundheitsschutz, nicht ausreichend berücksichtigt werden, auf europäi-
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ganz un- scher Ebene an notwendigen Anpassungen mitzuarbei-
mittelbar. Zumindest eine Antwort hat uns die For- ten. Mancher fragt sich: Macht es Sinn, alle Nanopro-
schung in der Vergangenheit schon gegeben: Nano per se dukte zu kennzeichnen? Die entscheidende Frage lautet:
ist kein Hinweis auf ein Risiko. Nein, es müssen stets die Was leistet eigentlich eine solche Kennzeichnung? Im
chemische Zusammensetzung, die Struktur und die Kon- Einzelfall und bezogen auf die jeweiligen spezifischen
zentration eines Stoffes berücksichtigt werden. Erst dann Produktklassen kann eine solche Kennzeichnung sach-
kommen wir zu klaren Aussagen. Wir werden deshalb gerecht sein. Ich möchte Kosmetika als Beispiel nennen.
die Forschungen zu Auswirkungen auf die Menschen Die besondere Relevanz von Kosmetika für uns Verbrau-
und die Umwelt sowie zum Arbeitsschutz fortsetzen; cherinnen und Verbraucher liegt auf der Hand. Hier
„Nanosilber“ und „Kohlenstoffnanoröhrchen“ nenne ich macht eine sektorspezifische Kennzeichnung ohne
hier als Stichworte. Wir werden dies nicht nur unter Zweifel Sinn. Aber welchen Sinn macht es eigentlich,
technologischen Gesichtspunkten tun, sondern auch un- wenn auf einem Laptop wegen der Elektronik „Nano“
(B) ter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten. Um eine steht oder wenn auf einem Brillenglas wegen der Be- (D)
Zahl zu nennen: Die Mittel für die Risiko- und die Be- schichtung „Nano“ vermerkt ist? Nein, Nano an sich ist
gleitforschung belaufen sich derzeit auf 14 Millionen weder eine Qualitätsaussage noch ein geeigneter Warn-
Euro im Jahr. Gegenüber dem Jahr 2006 ist dies ein An- hinweis. Daher ist die Position der Bundesregierung, die
stieg von über 60 Prozent seit dem Amtsantritt von Bun- auch in den Aktionsplan Eingang gefunden hat: die
desforschungsministerin Annette Schavan. Kennzeichnung nach Produktklassen prüfen und im
Lichte neuer Erkenntnisse gegebenenfalls auf europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scher Ebene handeln. – Das ist ein vernünftiges und
Fünftens: Kommunikation intensivieren und Dialog sachgerechtes Vorgehen.
führen. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Bürgerinnen und Bürgern über die Chancen, die Ri-
siken und Fragen zur Nanotechnologie sprechen und dis- Meine Damen und Herren, Sie sehen daran: Mit dem
kutieren. Wir haben dazu verschiedene Foren, beispiels- Aktionsplan zur Nanotechnologie sind wir breit aufge-
weise nanoTruck als ein wichtiges Instrument mit neuem stellt. Wir wollen die verschiedenen Facetten der Nano-
Gesicht, eingerichtet, um die Menschen anzusprechen. technologie berücksichtigen, von der Forschungsförde-
Mit NanoNature und NanoCare stellen wir uns der Dis- rung über die Frage der wirtschaftlichen Verwertung in
kussion. den Betrieben, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer
kleinen und mittelständischen Unternehmen zu erhöhen
Sechstens. Wir möchten die Rahmenbedingungen und um Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu si-
verbessern und weiterentwickeln. Ein wichtiges Stich- chern, bis hin zu Risikobetrachtung und Kommunikation
wort ist in diesem Zusammenhang das Thema Regulie- mit der Bürgerschaft.
rung, das, wie Sie wissen, weitgehend auf europäischer
Ebene, was auch Sinn macht, diskutiert wird. In diesem Sinn wollen wir die Potenziale der Nano-
technologie nutzen, und zwar auf verantwortliche und si-
(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Sehr
chere Weise. Dafür investieren wir in Forschung und
richtig!)
Entwicklung und haben die Mittel seit 2001 verdoppelt.
In diesen Tagen hat die EU-Kommission erstmalig Es ist unser Ziel, die Nanotechnologie für und in
– das war dringend notwendig – eine Definition für Na- Deutschland zu einem Erfolg zu machen.
nomaterialien vorgelegt. Grundlage ist die Größe der
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
konstituierenden Partikel von 1 bis 100 Nanometer. Diese
Definition, die uns endlich ein gemeinsames Verständnis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15903

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: ten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu loben (C)
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die und anzuerkennen.
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
René Röspel (SPD): Sie werden mir nachsehen, dass ich an diesem Ak-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tionsplan nicht viel zu mäkeln habe. Das ist einfach so.
Herren! Ich gebe zu: Ich hätte mir nicht vorstellen kön-
nen, dass die Bundeskanzlerin einmal eine Regierungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
erklärung absagt, damit ich zu Nanotechnologie reden wie des Abg. Dr. Martin Neumann [Lausitz]
kann. [FDP])
(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ Ich finde, darin steht viel Richtiges. Auch die aufgezeig-
DIE GRÜNEN]) ten Wege sind sicherlich richtig. Da gibt es wenig zu mä-
keln. Wenn man den Aktionsplan unter dem Gesichtspunkt
Das könnte man fast lustig finden, wenn das Ganze nicht einer Positionsbeschreibung, wie der österreichische
so traurig wäre. Es zeugt von der dramatischen Situation, Wissenschaftler das formuliert hat, bewertet, dann stellt
in der sich die Regierung befindet, dass das nötig wurde. man allerdings fest, dass ein paar Fragen offenbleiben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christian Zur Kennzeichnung haben wir bereits einiges gehört. Den
Lange [Backnang] [SPD]: Das kann man wohl Bereich Produktregister zum Beispiel finde ich durchaus
sagen!) ausbaufähig.
Herr Hinsken, die Geschäftsordnung verlangt, dass Der Aktionsplan, über den wir heute beraten, ist ein
wir jetzt nicht über die große Finanzproblematik reden, paar Monate alt. Er ist Anfang des Jahres veröffentlicht
sondern über die kleinsten Teile, mit denen wir umge- worden. Ich finde es spannend, dass wir in diesem Zu-
hen, über Nanotechnologie und den Aktionsplan der sammenhang auch über einen Antrag der Koalitionsfrak-
Bundesregierung. Das wollen wir dann auch tun. tionen mit dem Titel „Aktionsplan Nanotechnologie
2015 gezielt weiterentwickeln“ beraten. Ich habe ge-
Der Bundestag war in den letzten Tagen Ausrichter dacht, wenn es einen Antrag gibt, mit dem das Ziel ver-
und Gastgeber einer Konferenz der Büros für Technik- folgt wird, den Aktionsplan der Bundesregierung weiter-
folgenabschätzung in Europa. Einige von uns waren da- zuentwickeln, dann enthält er vielleicht Antworten auf
bei. Ein geladener Gast aus dem österreichischen die offenen Fragen im Aktionsplan, oder wir finden da-
(B) Umweltministerium hat im Zusammenhang mit Nano- rin etwas Neues. Erstaunlicherweise finde ich in diesem (D)
technologie gesagt, dass ein Aktionsplan einer Regie- Antrag überhaupt nichts Neues, liebe Kolleginnen und
rung sinnvoll sei, weil er eine Positionsbestimmung für Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Das ist eine Ver-
diejenigen sei, die sich mit dem Thema befassen. Das ist beugung vor der Regierung; mit dieser Feststellung kön-
richtig. Deswegen begrüßen wir, dass der Aktionsplan nen Sie umgehen. Das ist eine Inhaltsangabe des „Ak-
der Bundesregierung vorgelegt worden ist. tionsplans Nanotechnologie 2015“. Ich habe gehofft,
Die Erstellung des Berichts war eine Fleißarbeit; das dass Sie wenigstens eine Schwerpunktsetzung vorneh-
ist schon angeklungen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter men, aber nicht einmal das ist der Fall. Diesen umfang-
des BMBF sind durch die Labore gegangen und haben reichen Antrag hätten Sie sich sparen können; denn er
sich Anträge und Projekte angeschaut. Sie haben zusam- gibt nur das wieder, was bereits im Aktionsplan steht.
menfassend aufgeführt, was alles mit Nanotechnologie Ich möchte die längere Redezeit, die mir zur Verfü-
möglich ist, welches Potenzial sie bietet, was geleistet gung steht, weil die Debattenzeit verlängert wurde, nut-
werden kann: von der beweglichen Solarzelle über die zen, um ein paar Ihrer revolutionären Forderungen, die
„Bewältigung potenzieller Folgen bei Großunfällen“ bis Sie in Ihrem Antrag mutig an die Regierung richten, auf-
zur „intelligenten Straße“. Nebenbei: Mir sind intelli- zugreifen:
gente Autofahrer immer noch lieber. Diese Aufstellung
zeigt aber in der Tat das große Spektrum und die Chan- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
cen auf, die die Nanotechnologie bietet. An der einen rung auf, die Stärkung der Nanotechnologie im
oder anderen Stelle wurde vielleicht ein bisschen zu viel Rahmen des nationalen Aktionsplans … weiter vo-
unter Nanotechnologie eingeordnet, aber das sei verzie- ranzutreiben.
hen. Das ist eine ausreichende und, wie ich finde, gute
Alle Achtung! Die Bundesregierung hat jetzt also den
Bilanz.
Auftrag, ihren Plan weiter voranzutreiben. Die Bundesre-
Erlauben Sie mir eine Bemerkung, weil in den politi- gierung wird weiter aufgefordert, eine „geeignete Defini-
schen Debatten mitunter der Eindruck entsteht, als sei tion des Begriffs Nanotechnologie zu erreichen“. Das ist
die Politik für diese tollen Forschungsprojekte, diese ein wichtiger Punkt. Dies wurde aber schon längst gefor-
Ideen und Erfindungen verantwortlich. Das ist nicht der dert. Sie, Herr Staatsekretär, haben deutlich gemacht, dass
Fall. Man muss ganz klar sagen: Die Beispiele, die in die Europäische Kommission bereits eine Definition des
solchen Berichten genannt werden, sind das Ergebnis Begriffs „Nanotechnologie“ vorgelegt hat. Interessanter-
der Arbeit der Forscherinnen und Forscher. An dieser weise haben aber gestern diejenigen, die sich mit Tech-
Stelle ist es angebracht, die große Leistung der beteilig- nikfolgenabschätzung befassen, deutlich gemacht – dies
15904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

René Röspel
(A) entspricht nicht Ihrer Einschätzung –, dass die von der folge haben wir dazu Veranstaltungen durchgeführt, um (C)
Kommission vorgelegte Definition für mehr Verwirrung zu zeigen, dass diese Technologie große Chancen bietet,
als für Klarheit sorgt. dass man aber auch rechtzeitig auf mögliche Sicherheits-
probleme achten muss.
Sie fordern die Bundesregierung des Weiteren auf
– das ist sehr mutig –, die „gezielte KMU-Förderung im (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
Bereich Nanotechnologie fortzusetzen und weiter zu [SPD])
stärken“. Ich habe im Aktionsplan nicht gelesen, dass die
KMU-Förderung beendet werden soll. Warum fordern Ich erinnere mich noch sehr gut an den Vorwurf, wir
Sie dann in Ihrem Antrag ihre Fortsetzung? Ich gehe da- seien technologiefeindlich und überbetonten die Risiken.
von aus, dass wir gleich noch etwas dazu hören werden. Ich freue mich, dass Sie dazugelernt haben und wir jetzt
gemeinsam die Chancen und die Risiken betrachten kön-
Im Antrag wird die Bundesregierung ebenfalls aufge- nen. Das ist ein guter Weg.
fordert, „Ressourcen für die Risikoforschung bereitzu-
stellen“. Das finde ich gut, aber auch das ist im Aktions- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
plan enthalten. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
An einer Stelle habe ich tatsächlich etwas Neues ent- Wenn Sie in den TAB-Bericht aus dem Jahr 2003 ge-
deckt, das Sie leider nicht weiter ausführen. Sie weisen schaut hätten, hätten Sie Punkte finden können, die Ihr
ausdrücklich darauf hin, dass die Fördermittel ausrei- Antrag nicht enthält. Meine Damen und Herren von der
chend sein müssen, „um die derzeit offenen Felder Um- Unionsfraktion, Sie hätten besser recherchieren können.
weltverhalten, Lebenszyklusanalysen und Langzeitun- Dass Sie das nicht getan haben, mag vielleicht daran lie-
tersuchungen abzudecken“. Einverstanden, das ist ein gen, dass nicht mehr allzu viele Ihrer damaligen Kolle-
wichtiger Punkt und im Vergleich zum Aktionsplan et- gen Mitglieder des Parlaments sind. Aber es ist erst zwei
was Neues. Aber das ist nur ein Punkt Ihres sieben Sei- Jahre her, dass die damalige Große Koalition einen An-
ten umfassenden Antrags. trag zur Nanotechnologie mit dem Titel „Nanotechnolo-
Sie haben die Chance verpasst, sich zu positionieren. gie – Gezielte Forschungsförderung für zukunftsträch-
Sie geben wieder, was der „Aktionsplan Nanotechnolo- tige Innovationen und Wachstumsfelder“ vorgelegt hat.
gie 2015“ schon enthält. Ihr Antrag ist eigentlich über- Diesen haben wir im Juli 2009 beschlossen. Es war ein
flüssig. Ich bin gespannt, wie uns der Vertreter der Ko- Antrag der Großen Koalition, den die SPD-Fraktion und
alitionsfraktionen gleich erklären wird, warum dieser die Unionsfraktion – Herr Kretschmer, Sie waren dabei –
Antrag nötig ist und uns in der Debatte weiterbringt. gemeinsam eingebracht haben. Lassen Sie mich ein paar
der damaligen Forderungen, die inzwischen Beschluss-
(B) Ich möchte eine Stelle aus dem Antrag zitieren, die lage des Deutschen Bundestages sind, vortragen. Dort (D)
ich ausdrücklich gut finde, weil sie zeigt, dass wir in der steht zum Beispiel:
Diskussion insgesamt weitergekommen sind. Auf Seite 3
heißt es: Dabei sollten auch gesellschaftliche Bedarfsfelder
wie die Nutzung der Nanotechnologie in den Berei-
Es kann festgestellt werden, dass Deutschland hin- chen sauberes Wasser und Energieeffizienz/Klima-
sichtlich Forschungs- und Innovationsförderung, schutz in die Technologieförderung einbezogen
Begleitforschung und vielfältiger Dialogaktivitäten werden …
unter Einbeziehung aller Vertreter aus Gesellschaft,
Wirtschaft und Wissenschaft schon heute eine welt- Das steht auch im Aktionsplan. Diese Forderung unseres
weit führende Rolle bei der Entwicklung der Nano- gemeinsamen Antrags wurde erfüllt.
technologie als sicherer und nachhaltiger Zukunfts-
technologie einnimmt. Vor rund zwei Jahren wurde auch gefordert, Start-up-
Unternehmen mit genügend Risikokapital auszustatten.
Das stimmt; dies ist ausdrücklich zu unterstützen. Aber, Dazu steht eine Menge im Aktionsplan; das können wir
liebe Koalitionskollegen, dies ist leider nicht Ihr Ver- auch abhaken. Des Weiteren wurde gefordert, „Chancen
dienst. Es ist richtig, dass die Nanotechnologie zu Beginn und Risiken der Nanotechnologie noch stärker in der Ge-
der 90er-Jahre, also auch unter ihrer damaligen Regie- sellschaft zu kommunizieren“. Auch darauf wird im Ak-
rungskoalition, gefördert worden ist. Aber die Diskus- tionsplan eingegangen. Aber damals wurde auch gefor-
sion über wichtige Themen wie Sicherheit, Akzeptanz dert – das hätten Sie als neuen Punkt in Ihren Antrag
und Transparenz wurde nicht von Ihnen vorangetrieben. aufnehmen können –, eine Informationsplattform zu
Wenn ich mich nicht falsch erinnere, waren es im We- schaffen, die die Bürger über Vorschriften, Bestimmun-
sentlichen die Kollegen Ulla Burchardt und Hans-Josef gen und Empfehlungen informiert und die laufend aktua-
Fell, lisiert wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Florian Hahn [CDU/CSU]: Das haben wir
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) doch!)
die damals darauf gedrängt haben, dass wir die Diskus- Das taucht zwar irgendwo im Aktionsplan auf, ist aber
sion über die Chancen und die Risiken der Nanotechno- noch immer nicht umgesetzt, obwohl zwei Jahre Zeit
logie führen. Das hat dazu geführt, dass das Büro für war.
Technikfolgenabschätzung schon im Jahre 2003 einen
ausführlichen Bericht dazu verfasst hat. In der Nach- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15905
René Röspel
(A) Eine weitere wichtige von uns damals erhobene For- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
derung, die bereits Beschlusslage des Deutschen Bun- DIE GRÜNEN)
destages ist und aus meiner Sicht bisher von der Bundes-
Wir haben es damals nach großen Kämpfen geschafft,
regierung nicht erfüllt wurde und in Ihrem vorliegenden
dass in unserem gemeinsamen Antrag gefordert wurde
Antrag nicht aufgegriffen wird, ist, „zu prüfen, wie eine
– das fordert auch die NanoKommission –, mindestens
sachgerechte Entsorgung von synthetischen Nanomateri-
10 Prozent der Mittel für die Risikoforschung zur Verfü-
alien sichergestellt werden kann, ohne dass gefährliche
gung zu stellen. Die 14 Millionen Euro, die Sie erwähn-
Nanopartikel in die Umwelt gelangen“. Das ist keine
ten, Herr Staatssekretär, machen gerade einmal 6,2 Pro-
Kleinigkeit, sondern ein zentraler Punkt.
zent aus.
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (Florian Hahn [CDU/CSU]: Mehr als andere
[SPD]) Länder!)
Diese Partikel sind relativ unproblematisch, solange sie Das sind die Zahlen, die ich der Antwort der Bundesre-
an Oberflächen gebunden sind und nicht freigesetzt wer- gierung auf die Große Anfrage meiner Fraktion zur Na-
den können. Wenn aber zum Beispiel ein beschichteter notechnologie entnehme. 6,2 Prozent für die Sicherheits-
Anorak einfach verbrannt wird oder auf andere Weise forschung sind deutlich zu wenig. Deshalb bleiben wir
nicht sachgerecht entsorgt wird, werden diese Partikel bei unserer Forderung.
möglicherweise freigesetzt und verursachen eventuell
Umweltprobleme oder gesundheitliche Schäden, wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sie in die Lunge gelangen. Unsere damalige Forderung DIE GRÜNEN)
nach einer sachgerechten Entsorgung ist daher von zen- Der gesamte Verbraucherschutz ist in Ihrem Antrag
traler Bedeutung und hätte von Ihnen in Ihrem Antrag völlig unterbelichtet. Ich finde es schade, dass Sie Ihren
aufgegriffen werden müssen. Wir erwarten nach wie vor Antrag vor der Anhörung eingebracht haben. Am kom-
von der Bundesregierung, in diesem Bereich aktiv zu menden Montag gibt es im Verbraucherausschuss eine
werden. Anhörung zu Nanoprodukten und ihren möglichen Aus-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirkungen im Umweltbereich. Es liegt bereits eine
DIE GRÜNEN) Reihe kluger Fragen und Stellungnahmen vor. Wenn Sie
ein bisschen länger gewartet hätten, hätten Sie die Aus-
Wir haben damals zu Recht auch bessere Messverfah- sagen der Stellungnahmen berücksichtigen können und
ren und Messtechniken zur Identifizierung von Nanoma- vielleicht nicht einen so substanzlosen Antrag vorgelegt.
terialien in Wasser, Boden und Luft gefordert. Es lassen Ich verweise auf die Stellungnahme des ehemaligen Vor-
(B) sich entsprechende Passagen im Aktionsplan finden, aber sitzenden der NanoKommission, die aus Vertretern der (D)
nicht in Ihrem Antrag. Die meisten von Ihnen kennen ver- Wissenschaft, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und
mutlich die jüngsten Studien – zum Beispiel die der Uni- der Umweltverbände zusammengesetzt war. Diese ha-
versität Landau –, die zeigen, dass die bisher angewand- ben sich ihre Empfehlungen sehr genau überlegt. Wenn
ten Standardverfahren offenbar nicht tragfähig sind. Sie diese berücksichtigt hätten, hätte das Ihrem Antrag
Danach verhalten sich Wasserflöhe, die für 48 Stunden sehr gutgetan.
mit Titandioxidnanopartikeln in Kontakt gebracht wur-
den, einigermaßen normal. Verdoppelt man aber die Stan- Wir werden weiterhin mit allem Optimismus, aber
dardzeit auf 96 Stunden, stirbt eine große Zahl der Tiere. auch mit der nötigen Kritik die Nanotechnologie und vor
Allein durch die Veränderung des Beobachtungszeit- allen Dingen Ihre Regierung begleiten.
raums kommt man zu anderen Ergebnissen. Das heißt, Vielen Dank.
wir müssen die Messverfahren entsprechend anpassen. In
der gestrigen Expertendiskussion wurde zu Recht darauf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
hingewiesen, dass in vielen Bereichen der Nanotechnolo- DIE GRÜNEN)
gie zwar kein Risiko besteht, wohl aber Unsicherheit
herrscht und dass sämtliche Testverfahren im Labor und Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht in der Umwelt durchgeführt werden. Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Dr. Martin Neumann das Wort.
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
[SPD]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das ist ein großes Manko. Wir erwarten, dass das geän-
dert wird. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Herr Rachel, ein Punkt, den Sie als positives Beispiel ren! Lieber Herr Kollege Röspel, Sie haben völlig recht:
hervorgehoben haben, ist die Risikoforschung. Wir ha- Es geht um ganz kleine Teilchen, aber um ganz wichtige
ben bereits 2009 eine solche Forschung gefordert. Ich er- Teilchen. Wir stellen fest, dass Deutschland nach wie vor
innere mich noch gut an die damalige Diskussion und die treibende Wirtschaftskraft im europäischen Wirt-
die Auseinandersetzungen in der Großen Koalition. Wir schaftsraum ist. Unser Land erwirtschaftet allein 27 Pro-
haben Sie immer getrieben und darauf aufmerksam ge- zent des gesamten europäischen Bruttoinlandsprodukts.
macht, dass eine Begleit- und Risikoforschung dazuge- Diese Leistungsfähigkeit – an dieser Stelle muss man
hört. nach den Ursachen fragen – ist natürlich maßgeblich von
15906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Martin Neumann (Lausitz)


(A) den Potenzialen unseres Forschungs- und Innovations- druck hingewiesen worden – eine ganz wichtige Bedeu- (C)
systems abhängig. Jenes Potenzial zu erhalten, zu akti- tung bei.
vieren und zu stärken, gelingt nur, wenn es auf einem
Man muss an dieser Stelle aber auch die Feststellung
funktionierenden – ich bezeichne es einmal so – Innova-
treffen, dass wir in der Sicherheitsforschung im Bereich
tionsdreieck beruht, das aus Forschung, Wirtschaft und
der Nanomaterialien im europäischen und weltweiten
Politik besteht. Ich zähle die Politik ganz bewusst dazu;
Vergleich auf einem der vordersten Plätze stehen. Die
denn die entscheidenden Weichenstellungen im Innova-
entscheidende Frage, auch in der heutigen Debatte, lau-
tionssystem werden von der Politik vorgenommen.
tet: Was brauchen wir? Wir brauchen in Zukunft nicht
Allerdings – darüber sind wir uns im Klaren – kann nur viel größere Transparenz in der Sicherheitsforschung
die Politik Innovationen nicht erzwingen. Der Staat kann – ich glaube, dadurch würden viele Fragen beantwortet –,
Entwicklungen lediglich moderieren und begleiten; das sondern vor allen Dingen auch eine umfangreichere öf-
tut er. Viel entscheidender für die Durchsetzung von fentliche und verständliche Bereitstellung relevanter In-
Innovationen ist es, dass der Forschung die notwendigen formationen. Mit dem BMBF-Projekt DaNa wurde be-
Freiheiten bewahrt bleiben. Die Nanotechnologie – das reits ein Anfang gemacht. Es wurde begonnen, die
haben wir in den bisherigen Diskussionen immer wieder Vermittlung und die Kommunikation mit der Öffentlich-
festgestellt – sieht sich wie kaum ein anderes Technolo- keit zu verbessern.
giefeld der Gefahr ausgesetzt, durch Überregulierung Nanomaterialien – das muss man deutlich hervorhe-
oder Bürokratismus blockiert zu werden. ben – sind nicht per se toxikologisch, wie das manchmal
Meine Damen und Herren, die Nanotechnologie als hier und da in der Diskussion gesagt wird. Für eine Be-
wirklich wichtige und wegweisende Technologie durch- urteilung des Potenzials von Nanomaterialien auf
dringt alle Lebensbereiche. Im Jahr 2015 – davon gehen Mensch und Umwelt fehlen bislang klare und eindeutige
wir aus – wird es in unserem Leben kaum noch einen Erkenntnisse. Die Wissenschaft und die Forschung kön-
Bereich geben, in dem Materialien in Nanogröße keine nen bisher kein einheitliches und generell verbindliches
wichtige Rolle spielen. Nanomaterialien werden künftig Urteil über die Gefahren der einzelnen Nanomaterialien
zu einer verbesserten und verträglichen Individualmedi- fällen.
zin beitragen und somit auch verbesserte Diagnose- und Ich erläutere das an einem Beispiel: Während durch
Therapieverfahren ermöglichen. die einen Studien belegt wird, dass zum Beispiel Nano-
Wir werden neue Materialien für die effiziente Ener- silber krankhafte Veränderungen des Gewebes in Leber
gieumwandlung – das Thema Dämmung ist angespro- und Lunge verursacht, wird durch andere Studien wie-
chen worden – und vor allen Dingen für das große derum belegt, dass im menschlichen Körper aufgenom-
(B) Thema der Zukunft, die Energiespeicherung, schaffen. menes Silber nach einiger Zeit ohne toxikologische Ef- (D)
Ich denke – das ist vom Kollegen Röspel angesprochen fekte abgebaut wird.
worden – an Verfahren zur Sanierung von Luft, Wasser (René Röspel [SPD]: Wo steht, dass das abge-
und Boden mithilfe von Nanomaterialien. baut wird? Das wird nicht ohne toxikologische
Die Potenziale und Möglichkeiten – ich glaube, auch Effekte ausgeschieden!)
darin sind wir uns einig – sind vielfältig. Doch man spürt – Das steht in den Studien, Herr Röspel. Ich glaube, wir
– das ist an dieser Stelle deutlich anzusprechen –, dass beide haben sie gelesen.
an diese Technologie in zunehmendem Maße zuerst die
Fragen gestellt werden: Wo sind die Risiken? Wie groß Durch diese disparate Datenlage wird vor allem deut-
sind die Risiken? lich, dass uns zur Beurteilung und Bewertung von Ge-
fahren noch einheitliche und zudem geeignete Prüf- und
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Messverfahren fehlen. Auf der EPTA-Konferenz habe
Das stimmt ja gar nicht! Diese Fragen werden ich gestern einen entsprechenden Beitrag dazu geliefert
nicht zuerst gestellt!) und gesagt, dass genau das die Stelle ist, wo wir stärker
Chancen und Risiken werden in diesem Kontext mögli- als bisher ansetzen müssen.
cherweise nicht klar voneinander getrennt. Aus genau (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
diesem Grund ist es notwendig, sich mit der Frage der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Ein Zwi-
Sicherheit zu beschäftigen. Denn die Potenziale der Na- schenruf des Experten war: Silber ist Schwer-
notechnologie dürfen nicht leichtfertig verspielt werden, metall!)
indem wir überregulieren – diese Gefahr besteht – und
bürokratische Hürden aufbauen. Nur wenn wir standardisierte Verfahren für die Messung
und Prüfung besitzen, können wir eine entsprechende
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beurteilung und Bewertung vornehmen.
Im vorliegenden Antrag „Aktionsplan Nanotechnolo- Deshalb stellt sich an dieser Stelle für die Wissen-
gie 2015 gezielt weiterentwickeln“ haben wir genau die- schaft und ganz speziell auch für die Sicherheitsfor-
sen Aspekt aufgegriffen und uns – neben den Chancen schung insbesondere die Frage, wie wir mit der Arbeit
und Potenzialen – vor allen Dingen mit der Sicherheit an dieser Stelle konkret weitermachen. Ich will es noch
der Nanotechnologie im Forschungs- und Innovations- einmal auf den Punkt bringen: Es müssen geeignete
system deutlich sichtbar auseinandergesetzt. Wir messen Prüf- und Messverfahren gefunden werden, und – das ist
der Sicherheitsforschung – auch darauf ist mit Nach- ganz wichtig für die Auswertung – es muss eine Ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15907
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) gleichbarkeit hergestellt werden, um klare Aussagen tiger Chancendiskurs genauso unangebracht wie ein ein- (C)
über Risiken, die es ja gibt, treffen zu können. Erst wenn seitiger Risikodiskurs.
wir diese Grundlage haben – das ist eine sehr wichtige
Voraussetzung –, können wir die Diskussion über Maß- (Beifall des Abg. René Röspel [SPD])
nahmen in der Gesetzgebung, die hier angesprochen Es gibt zweifellos Chancen und neue Möglichkeiten
wurde, weiterführen. – das haben die Kollegen hier völlig zu Recht dargelegt,
Mir erscheinen – das will ich an dieser Stelle deutlich das sehen wir auch so – durch nanotechnologische Ver-
sagen – Forderungen nach spezifischen Nanotechnolo- fahren und Produkte: in der Materialforschung und -ent-
giegesetzen oder nach einem Nanoproduktregister im wicklung, der Kommunikationstechnologie, der Spei-
Moment als nicht zielführend. Warum nicht? Ich hatte es chertechnik, bei den erneuerbaren Energien und in der
erläutert: Es ist jetzt natürlich wichtig, auch in der For- medizinischen Diagnostik. Hier gibt es wirklich interes-
schung den entsprechenden notwendigen Spielraum zu sante Anwendungen. Es gibt auch große Erwartungen an
haben. Es gibt weitere Begründungen. Eine möchte ich das zukünftige Potenzial der Nanotechnologie im ge-
an dieser Stelle noch einmal erwähnen: Wir sind der samten Bereich Ressourceneffizienz und Materialein-
Auffassung – das kann man hier so zusammenfassen –, sparung.
dass die gegenwärtigen europäischen gesetzlichen Rah- Seit den 90er-Jahren fließen nicht nur in Deutschland,
menbedingungen greifen und zumindest zum jetzigen sondern weltweit erhebliche Mittel in die Förderung der
Zeitpunkt als hinreichend bewertet werden können. Nanotechnologie, mit steigender Tendenz. Aber – das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben auch die Expertinnen und Experten auf der hier
mehrmals erwähnten EPTA-Konferenz hervorgehoben –:
der CDU/CSU)
Was nicht stimmt, ist die Balance. Die Balance zwischen
Mit REACH existiert bei der Europäischen Chemika- den Mitteln, die wir einsetzen, um verschiedenste An-
lienagentur eine Verordnung, durch die Produktsicher- wendungen zu fördern, und den Mitteln, die wir einset-
heit ausreichend garantiert wird. Nanopartikel erfüllen zen, um unsere gewaltigen Wissenslücken im Zusam-
nach REACH die Anforderungen an den Stoffbegriff menhang mit toxikologischen und ökotoxikologischen
– das ist ganz wichtig – und unterliegen deren Bestim- Fragen zu schließen, ist nicht gegeben.
mungen, vor allen Dingen auch den Tests zur Risikocha-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
rakterisierung bei der Registrierung. Daneben existieren
und bei der SPD)
auch produktbezogene Regelungen, mit denen die glei-
chen Anforderungen an nanoskalige Materialien gestellt Wir wissen bei bestimmten Nanopartikeln sehr wenig
werden. darüber, wie sie sich im gesamten Lebenszyklus, von der
(B) Herstellung bis zur Entsorgung, verhalten werden und (D)
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch kein
welche Folgen sie für den Menschen und das Ökosystem
Nanoproduktregister, das den Verbraucher, glaube ich,
haben.
eher verunsichert – Staatssekretär Rachel hat es ange-
sprochen –, weil es in dem entsprechenden Augenblick Jetzt hat die Bundesregierung in ihrem Aktionsplan
nicht hilft, die Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses ein- erklärt, dass die Risikoerforschung besser werden solle.
zuschätzen. Aber es gibt keine verbindlichen Festlegungen, in wel-
chen Schritten die Mittel wie erhöht werden sollen und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wofür sie eingesetzt werden sollen. Wir haben in den
der CDU/CSU)
Haushaltsberatungen hier mehr Verbindlichkeit einge-
Was wir an dieser Stelle viel stärker brauchen, ist eine fordert, und zwar in Bezug auf das 10-Prozent-Ziel, das
konsistente Gesamtforschungsstrategie, wie ich es ein- die NanoKommission eingefordert hat. Was finden wir
mal bezeichnen will. Die Schwerpunkte dieser Gesamt- in dem Aktionsplan? Keine Verbindlichkeit!
forschungsstrategie – man kann sie nachlesen – sind in
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Leider!)
dem hier vorgelegten „Aktionsplan Nanotechnologie
2015“ und in unserem Antrag enthalten. Das ist typisch für diesen Aktionsplan, muss ich leider
sagen.
Ich bedanke mich.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie recht!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es fehlt an klaren Zielen sowie an klaren Aussagen über
Die Kollegin Petra Sitte gibt ihre Rede zu Protokoll.1) die Schritte und die Mittel. Das ist wirklich ein ganz gro-
So rufe ich nun Krista Sager für Bündnis 90/Die Grünen ßes Problem dieses Aktionsplans.
auf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Jetzt wird es wirklich interessant. Wie ist die Bundes-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es regierung mit der von ihr selbst eingesetzten NanoKom-
um die Nanotechnologie geht, dann ist sicher ein einsei- mission umgegangen, die Sie, Herr Rachel, mit keinem
Wort erwähnt haben? Die Mitglieder dieser Kommission
1) Anlage 2 arbeiten seit 2006 im Auftrag der Bundesregierung und
15908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Krista Sager
(A) haben in diesem Jahr ihren Abschlussbericht vorgelegt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Kurz bevor sie ihren Abschlussbericht vorgelegt haben, und bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/
bringt die Bundesregierung ihren eigenen Aktionsplan CSU]: Kein Register! Keine Irreführung!)
heraus mit der erkennbaren Absicht, sich auf die Emp-
An dieser Stelle ist Action angesagt. Können Sie mir
fehlungen und die verschiedenen Vorschläge aus dieser
erklären, warum zwar in der europäischen Kosmetik-
Kommission nicht beziehen zu müssen. Das ist doch der
richtlinie, nicht aber im Lebensmittelbereich, in der No-
Sinn dieses Manövers gewesen. Sie haben Ihre eigenen
vel-Food-Richtlinie, eine Kennzeichnungspflicht vorge-
Experten, die Sie hier mit keinem Wort erwähnen, durch
sehen ist?
dieses Manöver komplett verladen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist
sowie bei Abgeordneten der SPD) politische Amnesie!)

Ihrem Aktionsplan fehlt es an Action. Ich kann das Das ist nicht logisch. Ich möchte wissen, welche Politik
anhand der Themen Produktregister und Kennzeich- die Bundesregierung dazu machen will.
nungspflicht darlegen. Die NanoKommission hat zu dem Die Experten haben zu Recht gesagt, die Verbrauche-
Thema Produktregister kein einheitliches Votum abgege- rinnen und Verbraucher hätten ein Recht darauf, dass sie
ben, was nicht verwunderlich ist. Aber sie hat sich mit nicht erst Studien und wissenschaftliche Bücher lesen
den verschiedenen Ansätzen und Modellen befasst und müssen, um sicher zu sein, dass ihre Produkte sicher
mit den Fragen: Was kann das im Arbeitsschutz bringen? sind. Gerade im konsumentennahen Bereich muss das
Was kann das beim Verbraucherschutz bringen? Was Vorsorgeprinzip eingehalten und die Verantwortung der
kann das für staatliche Behörden bringen? Was kann das Produzenten vom Design des Produktes bis zur Entsor-
auf der europäischen Ebene bringen? gung wahrgenommen werden.
Bundesumweltminister Röttgen hat vor den Mitglie- Eine Expertin hat gesagt, dass wir Kriterien und
dern der NanoKommission gesagt, er wolle sich für ein Spielregeln für faire Nanotechnologien brauchen. Die
europaweites Produktregister einsetzen. Ich war be- NanoKommission hat eine ganze Menge vernünftiger
stimmt nicht die Einzige im Saal, die gesagt hat: Ich bin Ansätze entwickelt, wie wir zu fairen Kriterien und
gespannt, was da kommt. Ich habe ihm auch gesagt – er Spielregeln kommen können. Sie hat zum Beispiel fünf
ist heute leider nicht da –: Ich werde Sie daran erinnern, Prinzipien für einen verantwortlichen Umgang mit den
dass Sie uns etwas schuldig sind. Dafür ist heute ein Nanomaterialien vorgelegt.
ziemlich guter Tag. Was ist an Konzepten gekommen?
Gar nichts! Was steht im Aktionsplan dazu, welche Kon- Sie haben einen Aktionsplan bis 2015 jetzt offensicht-
(B) zepte und welche Modelle weiterverfolgt werden? Gar lich deswegen vorgelegt, damit Sie Ruhe vor Ihrer eige- (D)
nichts! Das ist wirklich typisch für diesen Aktionsplan. nen Kommission bekommen. Sonst müssten Sie nämlich
Gar nichts steht dazu darin. eine Antwort darauf geben, wie die Vorschläge der
Kommission weiterverfolgt werden. Werden zum Bei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spiel Förderentscheidungen an die Einhaltung der fünf
sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Prinzipien geknüpft? Das wäre eine interessante Frage-
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Kennzeich- stellung.
nungspflicht. Bei der Kennzeichnungspflicht geht es um Ihr Aktionsplan folgt dem Motto: Geht uns nicht mit
Freiheit, nämlich um die Wahlfreiheit der Verbraucherin- unserer eigenen Kommission auf den Wecker, sondern
nen und Verbraucher. Wenn ich Hinweise darauf be- lasst uns wenigstens bis 2015 in Ruhe! – Das ist in dieser
komme, dass bestimmte Nanomaterialien vielleicht ne- Frage entschieden zu wenig.
gativ für das Ökosystem sind, möchte ich selber
entscheiden können: Kaufe ich mir Sportsocken mit die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen Stoffen, oder lasse ich das lieber? Dafür muss man und bei der SPD)
aber wissen, ob diese Technologie verwendet wurde.
Deshalb muss es eine Kennzeichnung geben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Was sieht der Aktionsplan der Bundesregierung in Florian Hahn erhält jetzt das Wort für die CDU/CSU-
diesem Zusammenhang vor? Im Aktionsplan heißt es: Fraktion.

Eine Kennzeichnung kann zwar zu einer informier- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ten Konsumentenentscheidung beitragen, allerdings neten der FDP)
auch als Warnhinweis missverstanden werden.
Florian Hahn (CDU/CSU):
Die Bundesregierung kommt damit zu Erkenntnissen,
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
wie sie in Büttenwarder weit verbreitet sind: Der eine
Kollegen! Nanotechnologie ist eine der spannendsten
sagt dies; der andere das.
und interessantesten Technologien unserer Zeit mit fan-
Ich erwarte von einem Aktionsplan aber mehr, als in tastischen Möglichkeiten für echte Neuerungen und Ent-
Unentschlossenheit zu verharren, wenn es um eine Frage deckungen. Es gibt weltweit kaum noch ein Hightech-
geht, die zur Entscheidung ansteht. Ein Aktionsplan produkt, bei dem keine nanotechnischen Verfahren
muss die Frage beantworten, was die Bundesregierung angewendet werden. Schon jetzt wird Nanotechnologie
in diesem Bereich machen will. beispielsweise in der Krebstherapie, in der Trinkwasser-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15909
Florian Hahn
(A) aufbereitung, beim Schutz vor Korrosion sowie bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Produktion besonders leichter und stabiler Windkraftro- René Röspel [SPD]: Wir wollten erst die An-
toren verwendet. hörung abwarten!)
Als exportorientiertes, rohstoffarmes Land braucht Zum Thema Sicherheitsforschung; es wurde heute
Deutschland solche technischen Innovationen. Das ge- schon mehrfach angesprochen. Der Anteil des Fördervo-
hört auch in Zukunft zur Grundlage unseres Wohlstands. lumens, der für die begleitende Risikoforschung aufge-
wendet wird, beträgt 6,2 Prozent. Das ist im Übrigen
Bis zum Jahr 2015 erwartet die Branche ein Marktvo- weit über dem internationalen Durchschnitt. Wir haben
lumen von weltweit bis zu 3 Billionen Euro. Europaweit auf der Konferenz, die auch von Ihnen erwähnt wurde,
sind wir derzeit in der Nanotechnologie führend. Wir gehört, dass die Amerikaner nur 3 Prozent dafür einset-
dürfen daher unsere Vorreiterrolle nicht verlieren. zen. Ich glaube, wir sind hier auf dem richtigen Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Man kann nicht sagen, dass hier die Balance nicht
neten der FDP) stimmt, wenn wir doppelt so viel ausgeben wie die Ame-
rikaner.
Seit nunmehr zehn Jahren laufen unsere Förderpro-
(Beifall bei der CDU/CSU)
gramme sehr erfolgreich, und das soll auch so bleiben.
Darum wird die Bundesregierung in ihrer Hightech-Stra- Wir wollen nicht verschweigen, dass es viele Unge-
tegie 2020 und im Aktionsplan 2015 diese Zukunftstech- wissheiten in der Nanotechnologie gibt. Aber Ungewiss-
nologie in den kommenden Jahren weiter unterstützen heiten sind nicht automatisch Risiken oder Gefahren.
und vorantreiben. Die wirtschaftliche Nutzung und die Wir nehmen diese Ungewissheiten sehr ernst. Aber – das
Erforschung der Nanotechnologie sollen intensiviert und unterscheidet uns maßgeblich von Ihnen – wir wollen
noch stärker ressortübergreifend abgestimmt werden. solche neuen Technologien als Chance für uns alle be-
greifen und nicht gleich in das beliebte Bedenkenträger-
Bis 2015 fließen jährlich rund 400 Millionen Euro För- tum gegen alles Fremde und Neue verfallen.
dergelder, unter anderem in die Forschungsförderung und
in Hilfen für kleinere Betriebe und Gründer. Es gibt be-
reits fast 1 000 Nanotechnologieunternehmen in Deutsch- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
land. Davon sind etwa drei Viertel kleine und mittlere Un- Herr Hahn, Herr Röspel würde Ihnen gerne eine Zwi-
ternehmen, sogenannte KMU. Diese KMU können schenfrage stellen.
spezifische Förderprogramme für Forschung und Ent-
wicklung beantragen. Das unterstützt den Mittelstand in Florian Hahn (CDU/CSU):
Nein, Herr Röspel hatte genug Zeit. – Wir wollen Pro- (D)
(B) Deutschland, der Arbeitsplätze schafft.
bleme und Vorbehalte als Herausforderung für Wissen-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schaft und Forschung verstanden wissen. Wir wollen uns
neten der FDP) allen Herausforderungen stellen und Probleme lösen.
Der Antrag „Aktionsplan Nanotechnologie 2015 ge- Das ist verantwortungsvolle und vorausschauende Poli-
zielt weiterentwickeln“ skizziert, wie wir nachhaltig und tik.
sicher die Potenziale in Bildung und Forschung und in (René Röspel [SPD]: Sicherheitsforschung be-
der Gesundheit nutzen sowie die Beiträge zu Umwelt- trug nur 3,5 Prozent!)
und Klimaschutz und zur Sicherung der Energieversor-
gung realisieren wollen. Vielleicht gelingt uns dabei ein Unser Ziel ist ein sicherer und verantwortungsvoller
wichtiger Beitrag, um zu umweltfreundlicher und ener- Umgang mit neuen Technologien, der neue Chancen er-
giesparender Mobilität zu kommen. öffnet und diese nicht verhindert. Dabei dürfen wir keine
wissenschaftlichen Erkenntnisse ungeprüft verwerfen
Der Antrag zeigt auch die vielfältigen Möglichkeiten und damit bereits im Vorfeld die Nutzungspotenziale
der Nanotechnologie für eine nachhaltige Landwirt- und Marktchancen unbeachtet lassen. Ziel muss es sein,
schaft und zur Sicherung der Ernährung. Des Weiteren die Risiken sachlich und frühzeitig zu erkennen und
wollen wir mit dem Antrag eine Stärkung der Forschung mögliche Gefährdungen konsequent zu vermeiden.
und eine Intensivierung des Technologietransfers sowie
eine Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort Dazu brauchen wir erfahrene Forscher, aber auch neu-
Deutschland vorantreiben. gierige und forschungshungrige junge Menschen. Wir
müssen daher qualifizierte Nachwuchs- und Arbeits-
Zu Ihren Einwendungen, Herr Kollege Röspel, kräfte frühzeitig gewinnen und ausbilden.
möchte ich sagen: viel Lob – dafür vielen Dank. Dann
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hatten Sie noch viel Zeit und haben den Antrag bei all
dem Lob und all dem Guten, das Sie zu der Initiative der Dies hat die Bundesregierung früh erkannt. So fördern
Bundesregierung sagen mussten, als unnötig bezeichnet. wir unter anderem Informationsangebote für Schüler zur
Wir sind der Meinung, wir müssen Gutes bestärken. Studien- und Berufswahl, aber auch zur beruflichen Wei-
Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Wenn Sie terbildung. Da die Öffentlichkeit einen Anspruch auf
dann darauf hinweisen, Sie hätten gerne noch dies und volle Teilhabe und maximale Transparenz bei all diesen
das, kann ich nur sagen: Hätten Sie selber einen Antrag Prozessen hat, führt die Bundesregierung Bürgerdialoge.
eingebracht und um Ergänzung gebeten, dann hätten wir Dies ist im Übrigen ein Instrument, auf das auch andere
sicherlich darüber reden können. Länder setzen, wie wir auf der EPTA-Konferenz in Berlin
15910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Florian Hahn
(A) hören konnten. Es entspricht unserem Demokratiever- ein Nanoproduktregister oder eine Nanodatenbank, vor (C)
ständnis, die Bürgerinnen und Bürger an der Suche nach allem auf nationaler Ebene, nicht notwendig ist.
Antworten auf Zukunftsfragen zu beteiligen. Hierzu ge-
Lassen Sie uns die vorhandenen und bewährten In-
hört aber auch eine vertrauensbildende Information über
strumente nutzen, beispielsweise die Chemikalienver-
diese Technologie, die einer pauschalen Verteufelung ent-
ordnung REACH, statt neue bürokratische Hemmnisse
gegenwirkt.
aufzubauen. Das war auch die Empfehlung der Sachver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ständigen auf der von uns schon mehrfach erwähnten
neten der FDP) Konferenz.
In diesem Zusammenhang ist es eine positive Ent- Dank der Definition wird es für Unternehmen leich-
wicklung, dass wir voraussichtlich im November die ter, ihre Registrierungsdossiers zu bewerten und exakt zu
Gründung eines deutschen Verbands Nanotechnologie zu bestimmen, wann sie ihre Produkte als Nanomaterialien
erwarten haben. Ich habe mir das einmal angeschaut. Der betrachten sollten.
Verband, der dort gegründet werden soll, hat sich diverse In der Nanotechnologie warten noch viele Herausfor-
Ziele gesetzt. Ich will nur einige nennen: Für die Mitglie- derungen und – Gott sei Dank – noch viel mehr Chancen
der soll ein starkes Netzwerk gebildet werden. Der Ver- auf uns. Packen wir es in diesem Sinne an!
band will in einen offenen Dialog mit Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft treten. Er will Debatten über Chancen Danke schön.
und Risiken der Nanotechnologie proaktiv führen. Er (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
will umfassende und sachliche Informationen über den
Einsatz der Nanotechnologie anbieten. Er will Richtli-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nien entwickeln, um den Arbeitsschutz all derer zu ge-
währleisten, die am Arbeitsplatz mit Nanomaterialien in Damit schließe ich die Aussprache.
Berührung kommen. Er will wissenschaftlich-technische Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Fragestellungen in Expertenhand legen. Er will die Aus-
und Weiterbildung von Fachkräften fördern. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Ich glaube, dass dies auch im Sinne der Verantwor- Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeordne-
tung, die aus unserer Sicht bei der Wirtschaft liegt, ein ter und der Fraktion der SPD
sehr guter Schritt ist.
Der demografische Wandel in Deutschland –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Handlungskonzepte für Sicherheit und Fort-
(B) schritt im Wandel (D)
Wir sollten außerdem festhalten: In dem kürzlich er-
schienenen Gutachten „Vorsorgestrategien bei Nanoma- – Drucksache 17/6377 –
terialien“ des Sachverständigenrates für Umweltfragen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Franz
wird festgestellt, dass es keine Erkenntnisse und keine Müntefering für die SPD-Fraktion.
Nachweise in Bezug auf pauschale negative Umwelt-
und Gesundheitseinflüsse durch den Einsatz von Nano- (Beifall bei der SPD)
technologie gibt.
Franz Müntefering (SPD):
(René Röspel [SPD]: Für pauschale Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Einflüsse!) Die Zahlen sind bekannt. Sie sind alarmierend. Aber die
– Ja, das ist wichtig in der Diskussion, die wir öffentlich Bundesregierung bleibt tatenlos. Der Tanker „Demogra-
führen. Darauf müssen wir immer wieder verweisen, da- fischer Wandel“ ist ohne plausiblen Kurs. Alle reden da-
mit diese Technologie nicht in eine Ecke gestellt wird, in rüber,
die sie schlicht nicht gehört. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht erst
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) seit heute!)
aber niemand ist in der Regierung, der das Steuer neu
In dieser Woche hat die EU-Kommission endlich eine
justiert. Genau das wäre jetzt aber nötig;
Empfehlung für eine gemeinsame Definition für Nano-
materialien vorgelegt. Das ist ein zentrales Anliegen in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was haben Sie
unserem Antrag. Die Definition basiert auf einem An- denn getan als Minister? – Manuel Höferlin
satz, bei dem die Größe der konstituierenden Partikel [FDP]: Phrasendrescherei!)
und nicht etwaige Gefahren oder Risiken berücksichtigt
denn situativ sind die Probleme nicht zu lösen. Umsteu-
werden. Ich will die genaue Definition jetzt nicht vorle-
ern dauert lange. Die Forderung, nachhaltige Politik zu
sen. Aber immerhin hat die Kommission diese Defini-
machen, ist hier an der Tagesordnung.
tion nach zwei Jahren endlich hinbekommen. Damit ist
ein wichtiger Schritt im Hinblick auf den Umgang mit Die Fakten und Entwicklungen sind eindeutig: 2050
etwaigen Umwelt- und Gesundheitsrisiken gegangen gibt es in Deutschland statt 81 Millionen nur noch rund
worden. Nanomaterialien sind daher immer, wie jeder 68 Millionen Menschen. Vielleicht werden es aber auch
andere Stoff auch, einer Einzelfallprüfung zu unterzie- nur 65 Millionen Menschen sein, wenn es mit der Zu-
hen. Ich glaube, ebenso wie der Kollege Neumann, dass wanderung von netto 100 000 Menschen pro Jahr nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15911
Franz Müntefering
(A) klappt. Wir leben zehn Jahre länger als die, die 1960 ver- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
gleichbar alt waren. Das Durchschnittslebensalter be- Der Kollege Dr. Günter Krings hat das Wort für die
trägt 80 Jahre und bald 85 Jahre. CDU/CSU-Fraktion.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schön!)
30 Prozent der 1970 geborenen Frauen und Männer ha- Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
ben keine Kinder. Statt jetzt 50 Millionen werden 2050 Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
nur noch rund 38 Millionen Menschen im Erwerbsalter Herren! Manche Herausforderungen – ich nenne die Fi-
sein. In den letzten 20 Jahren sind 18 Millionen zugezo- nanzmarktkrise und auch das, was wir heute Morgen ge-
gen und etwa 14 Millionen Menschen weggezogen. hört haben – kommen sehr plötzlich auf die Politik zu.
Die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt sich. Die (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausbildung zur Pflegekraft bleibt im Streit zwischen NEN]: Wir sind beim demografischen Wan-
Bund und Ländern aber weit hinter dem Bedarf zurück. del!)
An vielen Orten unterbleibt der fällige Ausbau der pallia-
Sie haben recht, Herr Müntefering: Demografischer
tiven Hospizdienste. Es fehlen altersgerechte Wohnun-
Wandel ist ein Phänomen, auf das wir uns langfristig
gen und Quartiersvernetzungen. Minilöhne heute gefähr-
vorbereiten können.
den die Alterssicherung morgen, besonders bei Frauen,
beispielsweise bei den Alleinerziehenden. Dieses Phänomen geht weit über Deutschland und
Europa hinaus. Auch weltweit können wir Veränderun-
Die Metropolen expandieren – auch bei ihren Wohn- gen in der Art und Weise des Bevölkerungswachstums
kosten. In immer mehr dezentralen Räumen in Ost und feststellen. Diese Tatsache dürfen wir nicht ausblenden.
West sinkt die Bevölkerung schrittweise um 30 bis In zehn Tagen werden die Vereinten Nationen verkün-
50 Prozent. Da stürzen Immobilienpreise ab. Die junge den, dass es jetzt 7 Milliarden Menschen auf der Erde
Generation, die Zukunftsfähigkeit garantiert, geht und gibt. Dieses Wachstum wird in den nächsten Jahren welt-
bleibt weg. Alle Regionen sind betroffen. Defätismus ist weit Auswirkungen haben. Aber wir müssen auch den
falsch. Man kann etwas tun. Zynismus wäre ärgerlich. Bevölkerungsrückgang bei uns, den es seit 2003 gibt, in
Krieg zwischen den Generationen ist Unsinn. Das Mitei- den Blick nehmen. Wir müssen die Risiken erkennen,
nander der Generationen ist das, was nötig ist. aber auch die Chancen begreifen. Wir dürfen allerdings
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht verkennen, dass sich der demografische Wandel in
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Deutschland regional sehr unterschiedlich auswirken
(B) wird. (D)
CDU/CSU)
Kann man etwas tun? Wir sagen: Ja, man kann etwas Der demografische Wandel ist wahrscheinlich einer
tun. Das geht aber nicht ohne Bundesregierung. Deshalb der zentralen Punkte, der darüber entscheidet, ob der so-
versuchen wir gerade, Sie wachzurütteln, Herr Staatsse- ziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft im 21. Jahr-
kretär. hundert noch funktioniert. Es ist wichtig, diesen Wandel
so zu meistern, dass die soziale Gerechtigkeit darunter
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Er ist hell- nicht leidet. Er ist wahrscheinlich die entscheidende so-
wach!) ziale Frage des 21. Jahrhunderts.
Werden Sie heute hier konkret. Es genügt nicht, nächste Generationengerechtigkeit erfordert die Verbindung
Woche mal wieder im Kabinett festzustellen, dass etwas mehrerer Lösungselemente. Die Interessen der immer
passieren muss. Wir wollen wissen, was passiert und weniger werdenden Jüngeren und die Interessen der im-
wann. mer mehr werdenden Älteren müssen fair ausgeglichen
werden. Das setzt voraus, dass wir die nationalen wie in-
(Beifall bei der SPD)
ternationalen Herausforderungen ernst nehmen.
Vor gut vier Monaten haben wir der Regierung mit
Während in Deutschland die Bevölkerung abnimmt,
63 konkreten Fragen Gelegenheit gegeben, gründlich
steigt sie weltweit. Aber die Geschwindigkeit des Bevöl-
Stellung zu nehmen. Bisher null Antwort. Wir hoffen,
kerungswachstums nimmt in den nächsten Jahren welt-
dass wir heute einen Schritt weiterkommen.
weit ab. Heute kommen noch etwa 75 Millionen Men-
(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD]) schen Jahr für Jahr weltweit hinzu. In den 80er-Jahren
hatten wir mit etwa 88 Millionen Menschen mehr pro
Es ist möglich, die Dinge zu gestalten. Wir wollen es. Jahr den Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2050 werden wir
Wir wollen uns nicht mit der Situation abfinden, sondern weltweit nur noch ein Wachstum von 40 Millionen Men-
wir wollen, dass dieses Land eine gute Zukunft hat. schen haben. Warum sage ich das? An diesen Zahlen
Dazu brauchen wir Mut, den demografischen Wandel in wird deutlich, dass wir in Deutschland der demografi-
Deutschland zu organisieren, und eine gute Politik. schen Wende, die ein globales Phänomen ist, einige
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Jahrzehnte voraus sind. Wir in Deutschland müssen der
Welt zeigen, dass der demografische Wandel nicht zu
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Katastrophen führen muss, sondern dass man seine Aus-
DIE GRÜNEN) wirkungen beherrschen kann. Wir tragen als Voran-
15912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Günter Krings


(A) schreitende eine Verantwortung über Deutschland hi- rationengerechtigkeit, gegen auf den demografischen (C)
naus. Wir tragen – wenn man so will – auch eine globale Wandel erforderliche Reaktionen gerichtet, meine Da-
Verantwortung, in diesem Prozess gute Lösungen zu ent- men und Herren.
wickeln, die andere vielleicht kopieren können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Die Große Anfrage der SPD-Fraktion hat mich zu- neten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Ab-
nächst, als sie kurz vor der Sommerpause kam, hoff- soluter Quatsch!)
nungsfroh gestimmt, dass wir das gemeinsam, auch über
Parteigrenzen hinweg, bewältigen können. Ich bin heute Ich wünsche mir deshalb, dass Menschen wie Sie,
– nicht hundertprozentig, aber ein wenig – enttäuscht, Herr Müntefering, in der Fraktion standhaft bleiben und
dass Sie jetzt die Möglichkeit nach § 102 der Geschäfts- andere noch überzeugen können, dass wir an der Stelle
ordnung nutzen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber das macht bei den vernünftigen und gerechten Lösungen bleiben
mich ein bisschen skeptisch, ob es Ihnen da wirklich nur und diese konsequent anwenden müssen.
um die Sache geht. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Da hat er viel
(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu tun!)
NEN]: Das ist eine Unterstellung!) Nur so werden wir auch das Thema Fachkräftemangel
Sie wissen genau, in der nächsten Woche kommt der in den Griff bekommen. Wir können gerade angesichts
große, umfassende Demografiebericht der Bundesregie- des demografischen Wandels immer weniger auf erfah-
rung. Den hätte man noch abwarten können. Sie müssen rene, ältere Arbeitnehmer verzichten. Wir werden das
das nicht tun, aber wenn es Ihnen um die Sache geht, Problem eben nicht allein durch Zuwanderung lösen.
hätte man das vielleicht tun sollen. Wenn wir das Arbeitskräftepotenzial komplett durch Zu-
wanderung konstant halten wollten, bräuchten wir nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die zitierten 100 000, sondern 400 000 pro Jahr. Ich
neten der FDP) hoffe eigentlich, dass wir uns quer über die Fraktionen
Die Ungeduld überrascht natürlich schon ein wenig, einig sind, dass wir nicht wüssten, woher wir jedes Jahr
denn die über zwei Wahlperioden tagende Enquete- 400 000 Zuwanderer nehmen sollten, und damit verbun-
Kommission „Demographischer Wandel“ des Deutschen den wäre eine Integrationsaufgabe, die unsere Gesell-
Bundestages hat 2002 einen umfassenden, hochinteres- schaft wahrscheinlich überfordern würde. Von daher
santen Abschlussbericht vorgelegt. Der ist auch heute brauchen wir eine maßvolle Zuwanderung, und wir
noch lesenswert. Darin stehen auch die Fakten, die Sie brauchen dafür ein modernes Zuwanderungsrecht. Aber
genannt haben. 2002 war mitten in der rot-grünen Regie- wir sollten das Zuwanderungsrecht nicht unnötig
(B) rungszeit. Man hätte also diesen Bericht 2002/2003 als schlechtreden. Wir haben in weiten Teilen schon ein mo- (D)
Ansatzpunkt nehmen können, hieraus eine Strategie zu dernes Zuwanderungsrecht.
entwickeln. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Genau das machen wir, das macht die Bundesregie- Wo bleibt denn das Punktesystem?)
rung mit dem Demografiebericht, der in der nächsten Es hilft gar nichts, über imaginäre Gehaltsgrenzen zu
Woche vorgelegt werden wird. Wir werden dann bis Os- sprechen. Lediglich ein Spezialweg ist mit Gehaltsgren-
tern kommenden Jahres daraus eine umfassende Demo- zen ausgestaltet. Schon heute kann, wenn ein Arbeits-
grafiestrategie entwickeln. Das geschieht übrigens unter platz nicht mit einem deutschen Arbeitnehmer zu beset-
Federführung des Innenministeriums, weil es eine Frage zen ist, ohne Beachtung einer Gehaltsgrenze auch ein
des sozialen Zusammenhalts und damit eine Quer- ausländischer Zuwanderer auf diesen Arbeitsplatz kom-
schnittsaufgabe der Politik ist. men. Das Verfahren kann man sicherlich verbessern
Diese Strategie wird fast alle Politikbereiche erfassen: – das ist richtig –, aber im Grunde haben wir ein sehr
neben Reaktionsnotwendigkeiten bei der Finanzierung modernes und ein sehr offenes Zuwanderungsrecht. Das
der sozialen Sicherungssysteme, der Rentenversiche- sollten wir nicht unnötig schlechtreden.
rung, Pflegefragen, aber auch Themen wie Bildungspoli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tik, Integrationspolitik, Arbeitsmarkt und vieles mehr. In neten der FDP – Lachen bei der SPD)
der Großen Koalition haben wir an einer ganz entschei-
denden Stelle, nämlich bei der Frage der Finanzierung Es geht nicht nur darum, vollmundige Forderungen
der sozialen Sicherungssysteme – da spreche ich Sie, aufzustellen, sondern darum, einfach zu schauen, welche
Herr Müntefering, ganz persönlich an –, einen großen Möglichkeiten wir schon haben. Da ist natürlich auch
Fortschritt erzielt, indem wir gesagt haben, wir müssen die Wirtschaft in der Pflicht. Wer aber meint, er könne
das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre erhö- über ein neues Zuwanderungsrecht – egal, wie das aus-
hen. Das war auch mit Ihre Leistung. Deshalb sehe ich es gestaltet ist – erreichen, dass wir möglichst viele billige
mit noch größerem Bedauern an der Stelle, dass Ihre und willige Arbeitskräfte nach Deutschland bekommen,
Fraktion davon jetzt Stück für Stück abrückt, dass sie der hat die Union nicht mehr an seiner Seite.
diesen Fahrplan verlässt, dass sie gerade diesen entschei- (Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
denden Schritt, den demografischen Wandel abzubilden, DIE GRÜNEN])
aufzugreifen, daraus faire und gerechte Konsequenzen
zu ziehen, jetzt nicht mehr machen will. Die SPD verab- Es kann nicht Zweck des Zuwanderungsrechtes sein,
schiedet sich von diesem Konsens. Das ist gegen Gene- hier in Deutschland die Löhne zu senken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15913
Dr. Günter Krings
(A) Seit ich Mitglied im Deutschen Bundestag bin, habe Wohlstand, Lebensqualität“, die sich selbstredend auch (C)
ich mich in verschiedenen Funktionen – als Vorsitzender mit den gesellschaftlichen Konsequenzen aus der demo-
der Jungen Gruppe meiner Fraktion, als Parlamentari- grafischen Entwicklung befassen muss, wenn sie nicht
scher Beiratsvorsitzender und jetzt auch in der Innen- völlig an der Realität vorbeiirren will. Weiterhin gibt es
politik – mit der Frage des demografischen Wandels be- – Herr Krings hat das eben angedeutet – den interminis-
schäftigt. teriellen Ausschusses „Demografie“, an dem alle Bun-
desressorts beteiligt sind. Dieser soll dem Kabinett noch
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das 2011 einen Bericht zum demografischen Wandel vorle-
kann ich bestätigen!) gen. Es ist davon auszugehen – auch das hat Herr Krings
Ich habe gelernt, dass wir das Thema optimistisch ange- eben gesagt –, dass das wahrscheinlich schon in der
hen müssen. Es gibt viele positive Aspekte. Einer davon nächsten Woche der Fall sein wird.
ist, dass unsere Gesellschaft im Schnitt nicht nur älter, Der demografische Wandel ist längst Realität und hat
sondern auch gesünder älter wird. Es handelt sich also, seine volle Wirkungskraft entfaltet. Er ist kein Phäno-
wenn man so will, um gewonnene Jahre. Nicht nur wer- men. Denn „Phänomen“ bedeutet, dass wir uns nicht er-
den dem Leben mehr Jahre hinzugefügt, sondern durch klären können, was hinter den Beobachtungen steckt. Ich
unsere Lebensweise und die Gesundheitsvorsorge wird glaube, dass längst wissenschaftlich begründet ist, wor-
auch den Jahren mehr Leben hinzugefügt. auf der demografische Wandel, den wir in Deutschland
Es ist richtig, dass es in Deutschland mehr pflegebe- beobachten müssen, zurückzuführen ist. Die Linke sagt:
dürftige Menschen gibt. Die Pflegebedürftigkeit tritt Er ist die Antwort auf das Ende der klassischen Indus-
aber immer später ein. Aus dem Grund bin ich sehr zu- trialisierung. Der Weg in die Industriegesellschaft erfor-
versichtlich, dass wir dieses Problem gemeinsam meis- derte zwingend eine Bevölkerungsexplosion. Somit ist
tern werden. Wir müssen es vorausschauend angehen. nur logisch, dass sich dieser Prozess am Ende umkehrt
Wir müssen das politische Dilemma der Demokratie und die klassischen Ursachen für das Bevölkerungs-
überwinden, heute schon langfristig wirkende Entschei- wachstum wegbrechen. Anderswo in der Welt, wo ver-
dungen treffen zu müssen. Es ist wichtig, auch darauf zu sucht wird, dem europäischen Modell der Industriege-
achten, was in 20 oder 30 Jahren noch richtig ist, und sellschaft zu folgen, verzeichnen wir zeitgleich eine
sich nicht nur mit der nahen Zukunft zu beschäftigen; ein anhaltende Bevölkerungsexplosion mit katastrophalen
Beispiel dazu habe ich eben genannt. Wir dürfen nicht Folgen für die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser,
nur auf aktuelle Umfragewerte achten. Denn es handelt Lebensmitteln und medizinischen Leistungen.
sich hierbei um ein Thema, das wir – hoffentlich ge- Zurzeit – auch das hat Herr Krings bereits erwähnt –
meinsam – in langfristiger Verantwortung angehen wer- sind wir 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde. Diese
(B) den. (D)
Zahl wächst weiter. Manche Experten sagen, dass unsere
Die christlich-liberale Koalition ist bereit, diesem Erde maximal 10 Milliarden Menschen ernähren kann
Thema in den nächsten Wochen eine hohe Priorität ein- und dass diese Zahl gegebenenfalls schon 2030 erreicht
zuräumen. werden könnte. Das ist eine Entwicklung, für die wir Eu-
ropäer im Übrigen eine Mitverantwortung tragen und für
(Katja Mast [SPD]: Das sieht bei Ihnen da deren Folgen wir jetzt einstehen müssen. Jeder Ansatz
drüben aber nicht so aus!) zu einer demografiegerechten Entwicklungskonzeption
Wir warten auf den Demografiebericht und werden da- muss deshalb über die nationale Nabelschau hinausge-
raus eine Demografiestrategie entwickeln. Das hat die hen und die globale Dimension einbeziehen. Es kann
frühere Koalition nicht geschafft. An dieser Stelle wird also nicht allein darum gehen, eine Demografiestrategie
es also deutlicher vorangehen, als das in den letzten Jah- für Deutschland zu erarbeiten. Vielmehr muss mit Hoch-
ren der Fall war, Herr Müntefering. druck und aller politischer Verantwortung sowie Ernst-
haftigkeit an einem neuen Gesellschaftsentwurf gearbei-
Danke schön. tet werden. Deshalb ist es so wichtig, sich der politischen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gestaltungsnotwendigkeit bewusst zu werden. Dabei
geht es um das Primat der Politik und nicht um ein Re-
agieren auf Markterfordernisse.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Heidrun Bluhm hat jetzt das Wort für die Fraktion Die (Beifall bei der LINKEN)
Linke. Die Frage, welche Verwertungsbedingungen die
(Beifall bei der LINKEN) Märkte brauchen und welche politischen Rahmenbedin-
gungen sie als Reaktion auf den demografischen Wandel
fordern, darf nicht mehr im Mittelpunkt stehen.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmärkte haben sich internationalisiert. Die
Seit Jahren befassen sich Experten, Institute, politische Absatzmärkte sind Welthandelsmärkte. Große Wirtschafts-
Stiftungen und Enquete-Kommissionen mit der Analyse unternehmen agieren als Global Player; die hierfür arbei-
und Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung in tenden Menschen sind auf der ganzen Welt unterwegs.
Deutschland und geben verschiedene Handlungsempfeh- All das führt zu Umweltproblemen, zu Klimawandel, zu
lungen. Aktuell gibt es eine Enquete-Kommission des internationalisierten Kapitalverwertungsbedingungen bis
Deutschen Bundestages mit dem Namen „Wachstum, hin zum schnellen Verbrauch natürlicher Ressourcen.
15914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Heidrun Bluhm
(A) Wir werden also mit einer nationalen Demografiestrate- muts- oder Karriererisiko sein. Die Vereinbarkeit von (C)
gie scheitern – ja, scheitern müssen. Berufstätigkeit und Kinderwunsch muss durch den Aus-
bau der Kindertagesbetreuung und eine flexible Gestal-
Die Grundsatzfragen für eine künftige Entwicklung
tung von Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen deutlich
müssen lauten: Wie wollen die Menschen ihre Gesell-
verbessert werden. Lebensentwürfe, die das Kinderkrie-
schaft in den nächsten Jahrzehnten gestalten? Wie kann
gen und das Großziehen von Kindern oder die Pflege be-
die Politik den objektiven Erfordernissen nach gesell-
dürftiger Menschen im Mittelpunkt haben, müssen ge-
schaftlichen Veränderungen nicht nur gerecht werden,
sellschaftlich ebenso anerkannt und durch Einkommen
sondern sie aktiv gestalten? Erst dann stellt sich die
sichergestellt werden wie die heute dominierende und
Frage nach der Rolle der Märkte. Können diese Märkte
idealisierte Karriere in bestimmten Lebensformen.
durch die Politik so reguliert werden, dass sie sich den
durch die demografischen Veränderungen hervorgerufe- Die Lebens- und Verteilungsweise der Gesellschaft
nen künftigen Entwicklungsprozessen für die Gestaltung muss sich grundsätzlich ändern, damit alle Generationen
einer globalen, humanen Gesellschaft anpassen? und alle Lebensweisen gleichermaßen eine Perspektive
haben. Die dafür notwendige Produktivität hat die klas-
Wollen wir weiter zulassen, dass die großen Märkte
sische Industriegesellschaft längst geschaffen. Der Kern
– Marktbeherrscher, Global Player – weiterhin alle Le-
ist dabei nicht die Verteilung des gesellschaftlichen
bensbereiche der Menschen dominieren und sie mithilfe
Reichtums zwischen Jungen und Alten, sondern zwi-
der Politik ihren Markterfordernissen unterordnen? Die
schen oben und unten.
Bundesregierung – so hat es die Debatte heute Morgen
wieder gezeigt – ist weder in der Lage noch gewillt, ei- Wir erwarten von einem Handlungskonzept der Bun-
nen solchen Paradigmenwechsel in ihrer Denkweise desregierung für Sicherheit und Fortschritt im Wandel:
überhaupt zuzulassen. eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik als
zentralen Ansatzpunkt der Zukunftsfähigkeit der sozia-
Selbst wenn statt eines echten Konzepts nur so etwas
len Sicherungssysteme,
wie ein Maßnahmenbündel von der Regierung oder ei-
nem Ausschuss vorgelegt werden sollte, dann gilt es (Beifall bei der LINKEN)
– aus unserer Sicht zumindest –, einige unverzichtbare
eine alters- und altengerechte Gestaltung der Arbeits-
Leitplanken und Grundsätze festzuschreiben. Die demo-
welt; Investitionen in personennahe Dienstleistungen;
grafische Entwicklung darf keinesfalls Argument für
den qualitativen und quantitativen Ausbau einer regiona-
Einschnitte in soziale Sicherungssysteme, für die Priva-
len Daseinsvorsorge entsprechend der unterschiedlichen
tisierung der Daseinsvorsorge oder die Erhöhung des
regionalen Gegebenheiten; den Umbau der gesetzlichen
Renteneintrittsalters missbraucht werden.
Rentenversicherung zu einer solidarisch finanzierten Er-
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN) werbstätigenversicherung; eine Stärkung öffentlicher
Dienste, die allen Generationen gerecht werden und al-
Die Linke ist der Überzeugung, dass die Folgen des
len Menschen ohne Einschränkungen zugänglich sind;
demografischen Wandels nur solidarisch bewältigt wer-
die Erweiterung sozialer und kultureller Dienstleistun-
den können – ja, müssen. Für die Stabilität der Finanzie-
gen sowie eine Stadtgestaltung, die die Mobilität aller
rungsbasis der sozialen Sicherungssysteme kommt es
Menschen unterstützt, ihnen den Zugang zu allen Ange-
eben nicht vordergründig auf das Verhältnis von Jungen
boten gestattet, Familien und Jugendlichen Raum gibt
und Alten an, sondern auf die Anzahl und die Leistungs-
und das Miteinander der Generationen ermöglicht.
fähigkeit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Gerade Letzteres – die Stadt- und Regionalentwick-
lung – könnte ein konkreter Indikator dafür sein, wie die
Notwendig wäre eine aktive Wirtschafts- und Be-
Bundesregierung die objektiven demografischen Ent-
schäftigungspolitik, die mehr existenzsichernde sozial-
wicklungserfordernisse aufnimmt und mit Investitions-
versicherungspflichtige Arbeitsplätze schafft, die Ar-
programmen darauf reagiert.
beitslosigkeit dauerhaft bekämpft, indem sie Arbeit
gerecht und sinnvoll neu definiert und organisiert, und Hier wäre ein sehr konkretes Handlungsfeld für eine
sie eben nicht als zwangsläufige Folge des Konjunktur- vorausschauende, gestaltende Investitions-, Struktur- und
verlaufs hinnimmt. Notwendig ist eine Politik, die pre- Sozialpolitik. Gerade hier zeigt sich leider, wie wenig
käre Beschäftigung unterbindet und die Arbeitnehmerin- die Bundesregierung dazu in der Lage ist. Sie verschließt
nen und Arbeitnehmer angemessen am Wirtschafts- und sich aktuell jeder wirtschaftlichen Vernunft und kürzt die
Produktivitätsfortschritt beteiligt. Mittel für sich selbst refinanzierende Förderprogramme
im Städtebau und in der energetischen Gebäudesanie-
(Beifall bei der LINKEN)
rung. Hier ignoriert sie hartnäckig jegliches fachliches
Das wären zentrale Ansatzpunkte zur Gestaltung gesell- Urteil und handelt stur an den Bedürfnissen der Men-
schaftlicher Prozesse aus den Erfordernissen des demo- schen vorbei.
grafischen Wandels und der Zukunftsfähigkeit der sozia-
Wenn schon in einem relativ übersichtlichen und
len Sicherungssysteme.
praktikablen Politikfeld wie der Stadtentwicklung sicht-
Ein weiterer Ansatzpunkt läge in einer Politik, die es bar wird, wie wenig die Bundesregierung von ganzheitli-
wieder mehr Menschen ermöglicht – und zu deren chen Entwicklungskonzepten hält, dann ist eine in sich
Lebensentwurf es selbstverständlich gehört –, ihren Kin- konsistente und vor allem nachhaltige Antwort auf die
derwunsch zu realisieren. Kinder dürfen niemals ein Ar- komplexe Gesamtproblematik, wie sie heute nachgefragt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15915
Heidrun Bluhm
(A) wird, sehr unwahrscheinlich. Ich bin deswegen wenig und die Bundesregierung dabei ist, eine Demografiestra- (C)
optimistisch, dass die Bundesregierung auf die Große tegie zu entwickeln; sie wird in wenigen Monaten vorge-
Anfrage der SPD-Fraktion eine zukunftssichere Antwort legt. Insofern ist Ihre Große Anfrage, über die wir heute
für die nachwachsenden Generationen geben wird. Dazu reden, wieder einmal ein Stück weit Schaufensterpolitik;
braucht sie die Opposition. Ich verspreche Ihnen: Wir
stehen zur Verfügung. (Mechthild Rawert [SPD]: Hauptsache, wir
kriegen irgendwann einmal Antworten!)
Danke schön.
denn Sie wissen genau, dass die Strategie, die bald vor-
(Beifall bei der LINKEN) gelegt wird, die Antworten bringen wird, die wir benöti-
gen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Manuel Höferlin hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion. Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Bevölke-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rungszahl abnimmt. Die Bevölkerung wird älter.
(Caren Marks [SPD]: Ja! Manche kommen
Manuel Höferlin (FDP): sogar alt zur Welt!)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
– Ich liege bei meiner eigenen Arbeit für eine bessere de-
und Kollegen! Frau Bluhm, vielen Dank für das Ange-
mografische Entwicklung dieses Landes über dem
bot; aber wir brauchen die Opposition nicht, um gute
Durchschnitt. Insofern können Sie sich den unqualifi-
Politik zu machen.
zierten Einwurf sparen.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Das Statistische Bundesamt hat vor zwei Jahren er-
NEN) klärt, dass im Jahr 2060 ein Siebtel unserer Bevölkerung
80 Jahre und älter sein wird. Im Osten der Republik hat
– Meine Herrschaften von der SPD, ich halte das, was die Entwicklung mittlerweile dramatische Ausmaße an-
Sie bei Ihrer Großen Anfrage abliefern, für bezeichnend: genommen. Die Lebenserwartung ist stark gestiegen.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben in Ihrer dreiminü- Gleichzeitig ziehen dort immer mehr junge Menschen
tigen Rede zur Einbringung der Großen Anfrage zu Be- fort. Es kommen also zwei Entwicklungen zusammen,
ginn zweieinhalb Minuten lang Überschriften vorgelesen die sich gegenseitig verstärken und zu dieser Überalte-
(Burkhard Lischka [SPD]: Die Sie nicht ein- rung führen.
(B) mal bilden können!) Die Veränderungen bei der Altersstruktur wird sich (D)
und erst am Ende gesagt, was Sie sich erhoffen. Insofern auch auf die Erwerbstätigkeit in Deutschland auswirken:
glaube ich, dass Sie zurückhaltender sein sollten. Wir werden mehr Rentner in Deutschland haben, Men-
schen, die glücklicherweise länger leben und später pfle-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gebedürftig werden.
Deutschland durchläuft eine tiefgreifende demografi- (Nicolette Kressl [SPD]: Wo ist der Erkennt-
sche Veränderung. Wir wissen das nicht erst seit gestern. nisgewinn?)
Bis in die 90er-Jahre waren Bevölkerungszahlen und Al-
tersstrukturen noch einigermaßen stabil. Inzwischen Das sind Herausforderungen, auf die wir mit Sicherheit
kennen wir das Problem schon länger, nicht erst seit ges- eine Antwort finden.
tern. Auch Vorgängerregierungen hätten das Problem er-
Ich bin überrascht, dass Sie Ihre Anfrage offensicht-
kennen können; aber sie haben es zu der Zeit nicht in al-
lich so lustig finden.
len Bereichen ausreichend gewürdigt und Möglichkeiten
ungenutzt gelassen. (Dagmar Ziegler [SPD]: Wir finden Sie
Wir erleben eine dynamische Bevölkerungsentwick- lustig!)
lung, die nicht so verläuft, wie wir es wollen, sondern in Ich bin vor allen Dingen deshalb überrascht, weil die
die entgegengesetzte Richtung. Die Entwicklung ist re- SPD doch in einem großen Teil der Länder und Kommu-
gional stark differenziert: Wir haben in Deutschland Re- nen auch Verantwortung trägt.
gionen, die sehr stark darunter leiden, dass sich die
Räume durch die Demografie verändern und Bevölke- (Mechthild Rawert [SPD]: Gott sei Dank!)
rungswachstum nicht stattfindet. Zum Beispiel ist der Es ist doch so, dass die Probleme, die im Zusammen-
Bevölkerungsrückgang in ländlichen Bereichen Nieder- hang mit dem demografischen Wandel in den Kommu-
sachsens, Nordhessens und Bayerns sehr stark. Das ist nen auftreten, auch in der Verantwortung der dort Ver-
bedenklich. Die Ungleichgewichte erfordern einen Ein- antwortlichen liegen und Sie ja dort auch immer noch
griff, einen Plan. Verantwortung haben. Vor diesem Hintergrund ist es
Sie wissen selbst, dass nächste Woche der Demo- umso erstaunlicher, dass Sie selbst nicht Lösungen su-
grafiebericht der Bundesregierung vorgelegt wird chen und Antworten geben.
(Nicolette Kressl [SPD]: Vielleicht sind dann (Dagmar Ziegler [SPD]: Wir lachen nur über
mehr von Ihren Kollegen da!) Sie! Über sonst niemanden!)
15916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Manuel Höferlin
(A) Deshalb verstehe ich wirklich nicht, wieso Sie das so ich mir wünschen, dass jetzt hier tatsächlich auch alle (C)
lustig finden. Ressorts vertreten wären. Aber das ist leider nicht der
Fall.
(Zurufe von der SPD)
Wäre es nicht sinnvoller, statt geheim zu tagen, eine
Die Bundesregierung hat unter der Federführung des breite gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, wie
BMI schon im Oktober ein Handlungskonzept zur Siche- wir in Zukunft leben wollen? Nächsten Mittwoch gibt es
rung der privaten und öffentlichen Infrastruktur in den – das wurde ja schon angekündigt – den ersten Bericht
vom demografischen Wandel besonders betroffenen zur demografischen Lage der Nation. Seit zwei Jahren
ländlichen Räumen vorgelegt. Liebe Kolleginnen und ist nun diese Bundesregierung am Ruder. Alles, was zu
Kollegen der SPD-Fraktion, wie Sie wissen und wie ich dieser Frage nun herauskommt, ist ein Bericht. Dabei
auch schon gesagt habe, wird die Bundesregierung gibt es Demografieberichte wie Sand am Meer. Notwen-
nächste Woche den Demografiebericht vorstellen. So- dig wären vielmehr die Entwicklung einer Strategie und
weit ich weiß, ist geplant, im nächsten Jahr eine Demo- die Erstellung eines Handlungskonzepts. Sonst geraten
grafiestrategie vorzulegen. Darum halte ich die Tatsache, Sie noch viel, viel tiefer in dicke Nebel hinein und kön-
ausgerechnet jetzt eine solche Anfrage zu stellen, schon nen nicht in die richtige Richtung steuern.
für ein wenig scheinheilig. Wir werden gute Antworten
finden. Sie werden nachher noch zwei Kollegen von mir Das Absurde an der ganzen Sache ist: Es gibt ja Lö-
hören; diese werden über andere Bereiche sprechen. sungsansätze. Dass Sie unsere Vorschläge nicht anneh-
men wollten – gut. Aber dass Sie nicht einmal danach
(Mechthild Rawert [SPD]: Welchen haben Sie fragen, was Ihre eigenen Einrichtungen dazu zu sagen
denn angesprochen? – Jutta Krellmann [DIE haben, erstaunt mich schon sehr.
LINKE]: Das waren ja noch nicht einmal
Überschriften!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Seit Mitte der 90er-Jahre gibt es beim BBSR ein Ak-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tionsprogramm mit dem schönen Namen „MORO – Mo-
der CDU/CSU) dellvorhaben der Raumordnung“. In diesem Rahmen
sind zahlreiche Handlungsansätze erarbeitet worden: zur
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nachhaltigen Siedlungsentwicklung, zur Infrastruktur,
Die Kollegin Tabea Rößner spricht jetzt für Bünd- zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge
nis 90/Die Grünen. und, und, und. Es gibt auch schon Empfehlungen, wie
die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändert werden
(B) (D)
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sollten. Schade nur, dass Sie an diese Arbeit nicht an-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! knüpfen. Dabei wären diese Ansätze gute Bojen, an de-
Wenn ich auf hoher See bin und Nebel aufzieht, dann nen Sie sich ein bisschen orientieren könnten.
nehme ich ein GPS-Gerät zur Hand. Das weist mir dann Wir sind jetzt gefragt: Steuern wir den Wandel, oder
die Richtung. lassen wir ihn über uns ergehen? Eines ist dabei wichtig:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach! Da vertraut Es darf kein düsteres Bild der Zukunft an die Wand ge-
ihr auf die moderne Technologie?) malt werden.

– Das haben wir immer getan. – Aber wenn ich die Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
desregierung anschaue und auch die Kolleginnen und Wir Grüne haben den demografischen Wandel immer als
Kollegen von der Koalition höre, dann kommt es mir Chance gesehen. Wenn das bei Ihnen auch der Fall wäre,
eher so vor, als ob Sie damit beschäftigt sind, die Dichte dann dürfte man erwarten, dass Sie das Thema deutli-
des Nebels zu messen. cher auf die politische Agenda setzen und öffentlich da-
Der demografische Wandel ist da. Die Auswirkungen rüber diskutieren.
sind spürbar. Als Reaktion darauf erfordern sie ganzheit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
liches Denken und Gestaltungswillen. Beides kann ich sowie des Abg. Franz Müntefering [SPD])
bei der Bundesregierung nicht erkennen.
Der demografische Wandel verändert unsere Gesell-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft von Grund auf. Die Zahlen sind alle genannt. Dass
sowie bei Abgeordneten der SPD) wir immer älter werden, ist erst einmal eine gute Nach-
richt. Aber auf eine Gesellschaft des langen Lebens müs-
Ich frage Sie: Was ist Ihr Lösungsansatz? Wenn ich
sen wir uns auch einstellen. Da würde es schon helfen,
nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis –
wenn wir etwas von unserem Schwarz-Weiß-Denken ab-
genau so verfahren Sie. Sie haben eine interministerielle
kämen. Es gibt nicht nur die Hilfebedürftigen, die De-
Arbeitsgruppe gegründet, die ganz im Geheimen getagt
menzkranken, die Alten mit Rollator auf der einen Seite
hat, und zwar so geheim, dass einzelne Mitglieder dieser
und die Fincabesitzer auf Mallorca auf der anderen
Arbeitsgruppe davon noch nicht einmal eine Ahnung
Seite. Alte Menschen in Deutschland bilden ein vielfälti-
hatten.
ges Spektrum ab. Sie haben unterschiedliche Bedürf-
Herr Krings, Sie sagten, Sie begriffen dieses Thema nisse, und sie haben viele Potenziale. Die gilt es in Zu-
als Querschnittsthema. Wenn es tatsächlich so ist, würde kunft mitzudenken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15917
Tabea Rößner
(A) Nicht das Alter an sich ist das Problem, sondern oft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
sind es die schwierigen Begleitumstände des Alterns. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Um ein selbstbestimmtes Leben und soziale Teilhabe si-
Stichwort Fachkräftemangel. In einigen Regionen
cherzustellen, brauchen wir nicht nur altengerechte Lö-
werden bereits heute händeringend Fachkräfte gesucht.
sungen, sondern altersgerechte. Davon profitieren alle:
Einige kleine Betriebe stellen sogar Schulabgänger ohne
Familien, Jugendliche, Menschen mit Behinderung und
Berufsausbildung ein. Das ist falsch; denn diese jungen
Alte.
Menschen machen später meistens keine Berufsausbil-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dung mehr. Wir brauchen aber Fachkräfte, und deshalb
sowie bei Abgeordneten der SPD) müssen wir dafür sorgen, dass kein junger Mensch mehr
ohne Ausbildung ins Berufsleben startet.
Ein Beispiel zum altersgerechten Wohnen. Ältere
Menschen wollen möglichst lange zu Hause leben. Da- Wir müssen uns auch darum bemühen, dass Men-
für brauchen sie Wohnungen, in denen das möglich ist. schen gerne zum Arbeiten in unser Land kommen, das
Im Mai betonte Staatssekretär Jan Mücke bei der Vor- heißt, wir müssen Zuwanderung positiv und nicht re-
stellung der Studie „Wohnen im Alter“ – ich zitiere –: pressiv gestalten.
Die Anpassung von Wohnungsbestand … an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bedürfnisse älterer Menschen steht ganz oben auf Dazu müssen wir die Einkommensschwelle für ausländi-
unserer wohnungspolitischen Agenda. sche Fachkräfte senken und die im Ausland erworbenen
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Guter Abschlüsse anerkennen. Wir brauchen das Punktesys-
Mann, der Jan Mücke!) tem. Viele Migrantinnen und Migranten arbeiten bereits
unter ihrem Qualifizierungsniveau. Das ist nicht nur her-
Hier hätte es eine konkrete Handlungsoption gegeben. abwürdigend, sondern es vergeudet auch Potenziale.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das sind nur einige Beispiele. Die Liste ließe sich be-
liebig fortführen. Unser Ziel muss es sein, eine Gesell-
Aber was macht die Regierung? Das Thema wird im
schaft zu fördern, die wieder stärker zu einer Gemein-
Ausschuss immer wieder vertagt, und das KfW-Pro-
schaft zusammenwächst. Statt des oft beschworenen
gramm „Altersgerecht Umbauen“ wird abgewickelt. So
Kampfes der Generationen – Herr Müntefering hat es
sieht das also aus, wenn die Bundesregierung etwas ganz
angesprochen – muss es den Dialog der Generationen
oben auf die Agenda setzt.
geben. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich kümmert,
Ein weiteres Beispiel ist der Ärztemangel auf dem eine solidarische, faire und generationengerechte Gesell-
(B) Land. Das ist ein wichtiges Thema. Das von der Bundes- schaft. Dazu brauchen wir freiwilliges Engagement. Das (D)
regierung vorgelegte Versorgungsstrukturgesetz wird kann man aber nicht erzwingen, sondern man muss da-
nicht dabei helfen, die gesundheitliche Versorgung zu rum werben. Wir brauchen neue Partizipationsmöglich-
verbessern. Es kann doch nicht sein, dass junge nieder- keiten; denn die Menschen wollen mitgestalten. Dann
gelassene Ärzte, die bereit sind, ein paar Dörfer weiter, sind sie auch bereit, Veränderungen mitzutragen.
wo es keinen Arzt mehr gibt, eine Zweigniederlassung
Es ist falsch, zu glauben, es gebe ein Patentrezept.
aufzumachen, dafür keine Zulassung erhalten. Solche
Was wir ganz sicher brauchen, ist eine Strategie, um ge-
dezentralen Lösungen sind doch zu begrüßen, aber sie
meinsam mit den Ländern und Kommunen Maßnahmen
werden durch technokratische Verfahren erschwert oder
zu erarbeiten und umzusetzen. Wir brauchen eine Strate-
sogar verhindert.
gie, die über die Ressorts hinausdenkt, und wir brauchen
Wir brauchen einen Perspektivwechsel und sollten schnellstmöglich ein Handlungskonzept.
von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen. Nicht der Ich rate Ihnen: Nehmen Sie endlich ein GPS-Gerät
Erhalt von Infrastruktur um ihrer selbst willen darf im – oder lassen Sie es auch nur einen Kompass sein – in
Fokus stehen. Vielmehr muss man sich fragen: Welche die Hand! Dann werden Sie den Nebel endlich hinter
Infrastruktur brauchen die Menschen, damit sie am ge- sich lassen.
sellschaftlichen Leben teilhaben können? Da reicht es
eben nicht, Fachkräfte mit höherem Gehalt aufs Land zu Vielen Dank.
locken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich komme wie auch Herr Höferlin aus Rheinland- sowie bei Abgeordneten der SPD)
Pfalz, wo einige Regionen vom demografischen Wandel
massiv betroffen sind. Wissen Sie, was mir die Ortsbür- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
germeister häufig berichten? Wenn sich junge Familien Das Wort hat jetzt Manfred Behrens für die CDU/
ein Haus oder eine Wohnung in der Gemeinde an- CSU-Fraktion.
schauen, dann kommen immer drei Fragen: Erstens. Gibt
es Kinderbetreuung? Zweitens. Gibt es Einkaufsmög- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lichkeiten? Drittens. Gibt es Breitband? Das sind die
Bedürfnisse, um die wir uns kümmern müssen: die Ver- Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU):
einbarkeit von Familie und Beruf und echte Breitband- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
anschlüsse, die Homeoffice ermöglichen und viele Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
Dinge des Alltags erleichtern. und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema
15918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Manfred Behrens (Börde)


(A) „Der demografische Wandel in Deutschland“. Inhaltlich deutschen Bevölkerung zu sprechen, halte ich für unan- (C)
stellt die SPD 63 Fragen, um die Sichtweise der Bundes- gebracht.
regierung zu ergründen. Allerdings stelle ich mir bereits
Was ich für sehr angebracht halte, ist eine vernünftige
hier die Frage: Was hat die SPD denn bisher getan? Ich
und glaubwürdige Politik. Die CDU/CSU befasst sich
sage es Ihnen: Obwohl die Problematik längst bekannt
gewissenhaft mit der Entwicklung und der Struktur der
ist, haben Sie keine Konzepte.
Bevölkerung.
Die Altersstruktur in Deutschland ist dadurch gekenn- Gestatten Sie mir als Ortsbürgermeister einer kleinen
zeichnet, dass bereits seit über zwei Jahrzehnten die Gemeinde in Sachsen-Anhalt ein Beispiel: 1990 hatte
Sterberate deutlich über der Geburtenrate liegt. Dem- diese Gemeinde 800 Einwohner. Heute sind es über
nach schrumpft die deutsche Bevölkerung Jahr für Jahr. 2 000 Einwohner. Die Einwohnerzahl hat sich verdrei-
Auch in der Zeit der Regierungsbeteiligung hat Ihre facht. Die Kindertagesstätte hatte in den 90er-Jahren we-
Partei keine tragfähigen Maßnahmen auf den Weg ge- niger als 30 Kinder und konnte nicht mehr existieren.
bracht. Heute hat die Kindertagesstätte 120 Kinder. Jedes Jahr
haben wir einen Bevölkerungszuwachs von 25 neuen
(Mechthild Rawert [SPD]: Schlecht Bürgern. Damit ist die Zukunft der Kindertagesstätte ge-
recherchiert!) sichert.
Und nun, angekommen in der Opposition, versuchen Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
das Thema „Demografischer Wandel“ als eigenes Manuel Höferlin [FDP]: Guter Bürgermeis-
Thema zu deklarieren. Mit Negativinterpretationen ter!)
schüren Sie Ängste innerhalb der Bevölkerung. Sie ma-
Für die Zukunft brauchen wir aber auch vernünftige
len unnötig regelrechte Horrorszenarien an die Wand
Konzepte, die den ganz speziellen regionalen Anforde-
und wundern sich anschließend, dass die Menschen ver-
rungen gerecht werden. Wir brauchen gute regionale
unsichert sind.
Projekte. Daher ist es von großer Bedeutung, dass sich
Um für die Zukunft seriöse Politik anbieten zu kön- die einzelnen Gemeinden ihrer eigenen Stärken und
nen, muss man wissen, was in den vergangenen 100 Jah- Schwächen bewusst werden. Das Ziel kann lauten: Ko-
ren demografisch passiert ist. operation auf regionaler Ebene. An dieser Stelle können
Politik, Wirtschaft und Verbände zusammenkommen,
(Zuruf von der SPD: Herr Behrens erklärt es um ein regional gültiges Problembewusstsein zu entwi-
uns jetzt!) ckeln. Darüber hinaus können sich die regionalen Ko-
operationspartner in einem ständigen Informationsaus-
(B) Zum einen ist die Lebenserwartung um 30 Jahre gestie- (D)
gen. Zum anderen hat sich der Anteil der Kinder an der tausch über kurz- und mittelfristige Ziele für ihre Region
Bevölkerung von 40 auf 20 Prozent halbiert. Zudem hat abstimmen und versuchen, diese gemeinsam mit der
sich der Anteil von Menschen über 65 Jahren auf 15 Pro- Politik zu erreichen. Die CDU/CSU-Fraktion wird die-
zent verdreifacht. Alle diese Zahlen beweisen, dass sen breiten Dialog fordern und fördern.
Deutschland bereits in der Vergangenheit enorme Verän- In meinem Heimatland, Sachsen-Anhalt, ist das
derungen ertragen und überlebt hat. Ich will es ganz Thema seit zwei Jahrzehnten allgegenwärtig, unter ande-
deutlich machen: Deutschland steuert mit seiner demo- rem wurde die Stabstelle Demografische Entwicklung
grafischen Entwicklung nicht auf den Abgrund zu. und Prognosen neu geschaffen. Im Rahmen verschiede-
ner Stadtumbauprogramme haben sich Städte konkret
(Mechthild Rawert [SPD]: Hat das jemand
mit den Bevölkerungsprognosen beschäftigt und ganz-
behauptet?)
heitliche Konzepte erarbeitet. Durch effiziente Struktu-
Als Bundestagsabgeordneter und Ortsbürgermeister ren wird die Funktionsfähigkeit der Gemeinden in Sach-
aus dem Wahlkreis Börde-Jerichower Land befasse ich sen-Anhalt auch zukünftig gesichert.
mich intensiv mit Fragen der demografischen Entwick- An dieser Stelle möchte ich aus meiner Gemeinde ein
lung und deren Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt. Beispiel für die medizinische Versorgung nennen. Eben
(Mechthild Rawert [SPD]: Was haben Sie wurde gesagt, dass es keine Zulassungen für Hausärzte
gemacht?) gibt. Fakt ist, dass wir sterbende Hausärzte und immer
weniger Hausarztpraxen vor Ort haben.
Es ist bekannt, dass es aufgrund geburtenschwacher
Jahrgänge zu einem Rückgang des Arbeitskräftepoten- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zials kommen wird. Es ist auch kein Geheimnis, dass be- NEN]: Sterbende Hausarztpraxen?)
reits schwach besiedelte Gebiete mit einer geringen Be- In meiner Gemeinde hat ein junges Arztehepaar ein
völkerungsdichte vor Probleme gestellt werden; denn Landambulatorium gegründet. Sie haben mehrere von
hier, in ländlichen Gebieten, wird die Tragfähigkeit von der Schließung bedrohte Hausarztpraxen übernommen.
Infrastrukturen im öffentlichen Leben schnell unter- Somit ist die gesundheitliche Betreuung bei mir vor Ort
schritten. gesichert.
Auch die Infrastruktur auf dem gesundheitlichen Ge- Zum Schluss möchte ich noch festhalten, dass die
biet stellt Gemeinden zunehmend vor finanzielle Pro- CDU/CSU-Fraktion an ernsthaften und zukunftssicheren
bleme. Aber an dieser Stelle von einer aussterbenden Konzepten arbeitet. Die Bewältigung des demografi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15919
Manfred Behrens (Börde)
(A) schen Wandels durch Gestaltung der politischen Rah- Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der (C)
menbedingungen und das Erkennen von Potenzialen ist CDU/CSU und der FDP: Haben Sie diese Konzepte? Bis
eine nationale Aufgabe. Die CDU/CSU-Fraktion hat heute haben wir auf unsere Große Anfrage nichts von Ih-
sich dieser Aufgabe angenommen. Sie wird diese auch nen gehört oder gelesen.
in Zukunft mit den Bürgerinnen und Bürgern in
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das kommt
Deutschland erfolgreich gestalten.
nächste Woche!)
Danke schön.
Wollen Sie sich diesem demografischen Wandel ohn-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mächtig und tatenlos ergeben? Ihre Plenarpräsenz und
Ihr Engagement in den Debatten sprechen Bände.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat jetzt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
das Wort für die SPD-Fraktion. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nächste
Woche!)
(Beifall bei der SPD)
Ich werde manchmal darauf hingewiesen und ange-
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): sprochen, es gebe keine Unterschiede mehr zwischen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und den Parteien. Das sehe ich anders. Die Unterschiede
Kollegen! Die ganze Welt redet in diesen Tagen über die könnten teilweise gar nicht größer sein. So läuft die SPD
Zukunftsrisiken, die von den Finanzmärkten und den Sturm gegen die Einführung eines Betreuungsgeldes;
überschuldeten Staaten ausgehen – mit Recht; denn es denn die negativen bildungs- und gleichstellungspoliti-
geht um nicht weniger als um die Sicherung von Wohl- schen Wirkungen wären fatal.
stand, Lebensqualität und solidarischem Miteinander. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Genau darum geht es auch bei der Gestaltung des demo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
grafischen Wandels. Es geht um das Miteinander der Ge-
nerationen. Was macht die Union? Sie hält – gegen die Meinung der
Experten – am Betreuungsgeld fest, nur um ein ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten meintlich konservatives Familienbild zu erhalten,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Kommen Sie
Der demografische Wandel wird überall in unserem zum Thema!)
Leben zu spüren sein. Er wird sich auf Kinder auswir-
in dem die Frau zu Hause am Herd steht und die Kinder
(B) ken: Es wird immer weniger Kinder geben. Er wird sich (D)
auf Jugendliche auswirken, wenn Freizeitangebote nicht erzieht.
mehr aufrechterhalten werden können. Er wird sich auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Familien auswirken, wenn die ältere Generation ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
pflegt, die jüngere erzogen und die Anforderungen des
Arbeitslebens erfüllt werden müssen. Politik sollte den Bauen Sie nicht die Herdprämie aus, sondern das El-
Menschen in einer solchen Situation Orientierung geben. terngeld. Während die SPD das erforderliche Elterngeld
Sie sollten ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu leben ha- ausbauen will, nimmt die Union Kürzungen vor. Es wer-
ben, sondern sie unterstützen, wo das nötig ist. den sogar Forderungen nach einer Streichung laut.

(Beifall bei der SPD) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nur weil
ich den Plenarbetrieb nicht stören möchte,
Wir brauchen von daher gute und nachhaltige Bedin- stelle ich keine Zwischenfrage!)
gungen für Kinder, Jugendliche und Familien. Alle Kin-
der sollen gesund, materiell abgesichert und mit den Wir wollen niemanden zwingen, arbeiten zu gehen, statt
besten Bildungschancen aufwachsen. Wir wollen Ju- zu Hause bei den Kindern zu sein.
gendliche stark machen. Niemand darf zurückgelassen (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wir auch
werden. Sie brauchen notfalls auch eine zweite oder nicht!)
dritte Chance, um die Schule, eine Ausbildung oder ein
Studium abzuschließen zu können. Aber Deutschland ist auf den Schatz gut ausgebildeter
Frauen auf dem Arbeitsmarkt angewiesen. Deshalb
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ brauchen wir Konzepte. Sorgen Sie dafür, dass es für
DIE GRÜNEN) Mütter attraktiv ist, zu arbeiten, dass sie notfalls einige
Tage zu Hause bleiben und sich um ihre kranken Kinder
Wir wollen Familien unterstützen. Sie erziehen die
kümmern können, ohne Angst um den Arbeitsplatz ha-
Kinder und tragen zu einem großen Teil unser soziales
ben zu müssen, und dass sie sich keine Sorgen machen
Sicherungssystem. Die Familienmitglieder übernehmen
müssen, ob der Monat vor dem Gehalt oder das Gehalt
Verantwortung füreinander und für die gesamte Gesell-
vor dem Monat zu Ende ist. Sorgen Sie dafür, dass für
schaft. Egal ob Enkelin, Opa oder Mama, wir wollen für
die Väter die gleichen Regelungen gelten; denn moderne
alle Familienmitglieder eine Balance zwischen Ausbil-
Väter haben dieselben Probleme wie moderne Mütter.
dung, Freizeit, Engagement und Beruf. Mit den richtigen
Ideen und modernen Zukunftsprojekten lässt sich der de- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
mografische Wandel gestalten. DIE GRÜNEN)
15920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Sabine Bätzing-Lichtenthäler
(A) Aber an solchen Konzepten mangelt es Ihnen; Sie ten. Wir stellen uns dem demografischen Wandel, zum (C)
sind meilenweit davon entfernt. Bis jetzt haben wir von Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Dort führt er ganz kon-
Ihnen nur Beschreibungen des Status quo gehört. kret zu Fachkräftemangel. Das wissen wir; das ist die
Herausforderung. Wir werden in Deutschland in 2025
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Könn- 6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger haben. Das ent-
ten wir Herrn Müntefering noch einmal hö- spricht der Einwohnerzahl Hessens. Ich glaube, auf Hes-
ren?) sen sollte die Bundesrepublik nicht verzichten müssen
Von daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von und auch nicht auf die Arbeitskraft so vieler Menschen.
Schwarz-Gelb, Sie brauchen einen Kurswechsel. Sie Wir stellen uns dieser Aufgabe, zum Beispiel durch
müssen jetzt Orientierung geben, statt sich orientie- die Schaffung von Rahmenbedingungen für die bessere
rungslos durchzuwursteln. Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dadurch, dass
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie wollen auf wir mehr in die Qualifikation von Erwerbslosen investie-
unsere Orientierung nicht warten!) ren. Heute investieren wir 1 Milliarde Euro mehr als
2005, zum Ende der rot-grünen Regierungszeit,
Sie müssen jetzt Gemeinwohl organisieren, statt Lobby-
ismus zu betreiben. (Katja Mast [SPD]: Ach, hören Sie doch auf,
Herr Vogel! Das ist das Allerletzte! Verglei-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Patrick chen Sie mit 2008! Da bleiben Sie zurück!)
Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ein Unsinn!
Also wirklich!) obwohl es zu der Zeit 2 Millionen Arbeitslose mehr
gab, Frau Kollegin Mast. Wir stellen uns übrigens auch
Sie haben in dieser Legislaturperiode schon so oft der Aufgabe – das wissen Sie am besten, Frau Kollegin
Ihre Meinung geändert. Tun Sie es doch auch dieses Mast –, den Arbeitsmarkt der Zukunft zu bauen.
Mal. Es ist noch nicht zu spät, dem demografischen
Wandel richtig zu begegnen. Nehmen Sie Ihre Verant- (Mechthild Rawert [SPD]: Sie stellen sich selbst in
wortung wahr, entwickeln Sie Konzepte, so, wie es in eine Ecke mit solchen Aussagen!)
unserer Großen Anfrage gefordert wird. Denn es geht Diese Bundesregierung, diese Koalition hat erst vor zwei
um nicht weniger als um die Sicherung von Wohlstand Wochen eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, bei der
und von Lebensqualität sowie um das Miteinander der wir erstmals die Möglichkeit ausgebaut haben, in die
Generationen. Qualifikation Beschäftigter zu investieren.
Danke schön. (Katja Mast [SPD]: 13,5 Milliarden Euro Kür-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zungen!)
(B) (D)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das hilft den Menschen auf dem Arbeitsmarkt; das hilft
auch bei der Bewältigung des Fachkräftemangels.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der FDP)
Johannes Vogel hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion. Wir alle wissen, dass die Menschen länger werden arbei-
ten müssen. Das ist auch richtig so. Wir kümmern uns
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten daher auch um die Rahmenbedingungen für einen flexi-
der CDU/CSU) blen Renteneintritt.

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Ich glaube, niemand kann sagen, dass diese Koalition
kein Konzept hätte oder sich der Herausforderung nicht
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
stellen würde. Was man aber sagen kann – das bedauere
Erst einmal müssen wir alle festhalten – ich freue mich,
ich wirklich – ist: Es ist schade, wie wenig konstruktiv
dass auch die Kollegen der SPD darauf hingewiesen ha-
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die-
ben –: Wir reden hier über eine gute Nachricht. Wir re-
sen Prozess begleiten.
den darüber, dass wir alle tendenziell immer älter wer-
den und dabei länger fit bleiben. Sie haben natürlich (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war
recht: Dieser Prozess muss politisch gestaltet werden, sehr offensichtlich!)
und zwar mit Jung und Alt zusammen. Die Kollegen
– Kollege Krings hat zuerst darauf hingewiesen – haben Ich nenne als Beispiel den Fachkräftemangel. Wir wis-
schon dargestellt: Es ist bestenfalls Oppositionsgetöse, sen, dass es darum geht, die Potenziale hier in Deutsch-
dass Sie uns, nur weil seit vier Monaten die Antwort der land zu stärken, wir wissen aber auch, dass wir ihn nicht
Bundesregierung ausbleibt, Handlungsunfähigkeit unter- ohne mehr Zuwanderung beheben werden. Es wird nicht
stellen; denn Sie wissen, dass nächste Woche nicht nur ohne mehr Zuwanderung gehen. Wir müssen am Wettbe-
ein Demografiebericht, sondern Anfang des Jahres auch werb um die klügsten Köpfe der Welt teilnehmen.
eine umfassende Demografiestrategie vorgelegt werden. Was hat Ihr Parteivorsitzender dazu beizutragen? Er
spielt das zu stärkende Potenzial im Inland und mehr Zu-
(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Wissen
wanderung gegeneinander aus. Er sagt, wenn dieses Pro-
wir das?)
blem ausschließlich über Einwanderung gelöst werden
Ich glaube, wenn wir uns anschauen, was wir als Ko- soll – was niemand gesagt hat –, so muss sich niemand
alition hier machen, dann lässt sich dieses Bild nicht hal- über Ausländerfeindlichkeiten wundern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15921
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was? Das hat hat, bis sie anerkannte: Deutschland braucht Zuwande- (C)
er gesagt? Das klingt fast wie Lafontaine!) rinnen und Zuwanderer, Deutschland ist ein Einwande-
rungsland.
Dieses Gegeneinanderausspielen hilft uns nicht. Das
hilft uns auch nicht dabei, Menschen nach Deutschland (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zu holen. Denn eine Willkommenskultur, liebe Kollegin- DIE GRÜNEN)
nen und Kollegen von der SPD, stellen wir uns definitiv
Der mittel- und der langfristige Fach- und Arbeits-
anders vor.
kräftemangel beruht auf dem demografischen Wandel.
(Beifall bei der FDP) Der jetzige Fachkräftebedarf liegt begründet in verpass-
ten Chancen, mangelnder Frauenerwerbstätigkeit, man-
Ein letzter Aspekt. Ich würde mir mehr konstruktive
gelnder Beschäftigung von Migrantinnen und Migranten
Begleitung insofern wünschen, als Sie einfach zu dem
und mangelnder Beschäftigung von Älteren.
stehen, was Sie selber für dieses Land erreicht haben. Lie-
ber Kollege Müntefering, das ganze Land kann zum Bei- (Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Wir
spiel Ihnen ganz persönlich und auch Ihnen, liebe Kolle- würden schon gern wissen, warum er sich
ginnen und Kollegen von der SPD, dafür dankbar sein, schämen muss!)
dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben, dass
Zum Kontext der Zuwanderung im Bereich der Fach-
Menschen, wenn sie länger fit bleiben, älter werden, auch
kräfte sage ich Ihnen: Das moderne Zuwanderungsrecht,
länger arbeiten müssen. Deshalb war der schrittweise
das hier reklamiert worden ist, haben wir noch nicht. Ich
Umstieg auf die Rente mit 67 richtig.
sage ausdrücklich: Eine gelingende Integrationspolitik
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ist die beste Werbung für gezielte Zuwanderung. Für
meinen Bereich, für Gesundheit und für Pflege, sage ich:
Davor laufen Sie jetzt davon. Dazu wollen Sie sich jetzt
Für den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge brau-
nicht mehr bekennen. Statt uns vorzuwerfen, wir reagier-
chen wir nicht Billigkräfte, wie es vorhin schon gesagt
ten nicht auf den demografischen Wandel, wäre es ein
worden ist,
guter Anfang, wenn Sie zu dem stünden und sich dazu
bekennen würden, was Sie für dieses Land einmal posi- (Zuruf von der CDU/CSU: Was, wer hat das
tiv erreicht haben. gesagt? – Zuruf von der FDP: Das hat über-
haupt niemand gesagt! Das hat niemand be-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
hauptet! – Gisela Piltz [FDP]: Vielleicht soll-
Das würde uns allen helfen, mehr jedenfalls als solche ten Sie sich schämen, weil Sie nicht zuhören!)
Debatten mit der Behauptung, die Bundesregierung habe
sondern wir brauchen qualifizierte Fachkräfte, zugewan-
(B) kein Konzept. (D)
derte und hiesige. Wenn Sie sich für den Bereich Ar-
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. beitsmarktpolitik stark machen, indem Sie den Mindest-
lohn für alle Branchen bekräftigen, schüren Sie auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
keine weiteren Ängste von Hiesigen und Zuwanderern.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD)
Mechthild Rawert hat das Wort für die SPD-Fraktion. Diesen Schritt sollten Sie schlicht und ergreifend zusam-
(Beifall bei der SPD) men mit uns gehen.
Faktum ist: Zuwanderer werden in Zukunft nicht
Mechthild Rawert (SPD): mehr vorrangig aus der Europäischen Union kommen,
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! auch nicht mehr aus Osteuropa. Denn die europäischen
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Vogel, Sie sollten Länder sind selbst vom demografischen Wandel betrof-
sich schämen. fen. Junge, gut ausgebildete und migrationswillige Men-
schen könnten aber aus den Maghreb-Staaten, aus Fern-
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der FDP)
ost, aus Asien und auch aus Indien und Afrika kommen.
Sie sollten sich wirklich schämen. Ich hatte nicht vor, in Laden wir diese herzlich ein!
dieser Rede zum Thema Demografie die Äußerungen
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aber nicht
insbesondere der Union gegen Zuwanderung zu wieder-
so wie Herr Gabriel!)
holen, weil das ein rückwärtsgerichtetes Denken ist.
Zeigen wir ihnen, dass wir sie hier tatsächlich brauchen!
(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sagen
Integrieren wir sie offenen Herzens in unsere Gesell-
Sie das Herrn Gabriel!)
schaft, aber nicht als Billigkräfte!
Aber es rächt sich heute, dass gerade die Union –
(Beifall bei der SPD – Michael Frieser [CDU/
(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD] – Zuruf von CSU]: Das hätte man in den Antrag schreiben
der CDU/CSU: Schreien Sie nicht so!) sollen! Das hat doch mit dem Antrag nichts zu
tun!)
wenn Sie uns beschuldigen, Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer gegen Zuwanderinnen und Zuwanderer aus- In der Zuwanderungspolitik müssen wir sehr schnell
zuspielen, haben Sie in Ihrem jugendlichen Leichtsinn den Wechsel zu einer offenen, auf Vielfalt beruhenden
die Historie nicht richtig verfolgt – so lange gezögert Willkommens- und Anerkennungskultur schaffen. Wir
15922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Mechthild Rawert
(A) brauchen eine differenzierte Zuwanderungssteuerung del bereits heute einen zentralen Themenschwerpunkt, (C)
mittels eines Punktesystems. Sie haben dies in der Ver- wie Sie, wenn Sie die Arbeit des Ausschusses, mit der
gangenheit vorrangig verhindert. wir uns hier immer wieder beschäftigen, aufmerksam
verfolgt haben, bereits festgestellt haben.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, zu
Recht! Aus guten Gründen!) Genau diese Bereiche, Bildung und Forschung, sind der
Schlüssel, um Produktivität, Innovationskraft und Wohl-
– Nein, nicht zu Recht. stand auch in einer älter werdenden Gesellschaft sicher-
zustellen.
Wir brauchen gute und qualifizierte Arbeit, insbeson-
dere in den sozialen Bereichen, im Gesundheitsbereich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und in der Pflege. Nur das Zusammenspiel von gut aus-
gebildeten hiesigen und noch zuwandernden Fachkräften Die Bundesregierung hat die Weichen gemeinsam mit
wird die Sicherstellung einer würdevollen Pflege für den Bundesländern richtig gestellt, und zwar mit der
alle, um die wir die ganze Zeit ringen und die wir von Ih- Vereinbarung, dass die öffentliche Hand, die Wirtschaft
nen fordern, ermöglichen. Anders schaffen Sie es nicht, und Private bis zum Jahr 2015 insgesamt 10 Prozent des
den demografischen Zusammenhalt zu gewährleisten. Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung auf-
wenden werden. Es wurden nicht nur Vereinbarungen
getroffen. Da, wo die Bundesregierung von sich aus al-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lein tätig werden konnte, hat sie gehandelt. Zusätzlich
Frau Kollegin. wurden bis zum Jahr 2013 12 Milliarden Euro für Bil-
dung und Forschung bereitgestellt. Darum, meine Da-
Mechthild Rawert (SPD): men und Herren von der Opposition, lassen wir uns nicht
Wer diesen solidarischen und attraktiven Zusammen- sagen, dass wir noch nicht tätig geworden sind.
halt will, steht aufseiten der SPD.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregie-
(Beifall bei der SPD – Dr. Günter Krings rung, die unter Federführung des Ministeriums für Bil-
[CDU/CSU]: Die von der SPD werden von dung und Forschung entwickelt wurde, wurde der demo-
Redner zu Redner schlechter! – Weiterer Zuruf grafische Wandel als ein die verschiedenen Bedarfsfelder
von der CDU/CSU: Jetzt kann es nur noch durchziehendes Querschnittsthema prominent aufgegrif-
(B) besser werden! – Gisela Piltz [FDP]: Großartig fen. (D)
angefangen und dann so etwas! Schade!)
(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Es wäre aber schön, wenn auch die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ressorts da wären!)
Ewa Klamt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Weil Bildung und Forschung eine Schlüsselfunktion ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben, fördert das Ministerium Maßnahmen, die auf eine
Erhöhung der Erwerbsbeteiligung und der gesellschaftli-
Ewa Klamt (CDU/CSU): chen Teilhabe älterer Menschen abzielen, ebenso wie
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Maßnahmen zur Erhöhung des Bildungsstandards. Sie
Herren! Mit der Großen Anfrage zum Thema „Der demo- sehen an diesem Punkt auch, dass sich viele der 63 in der
grafische Wandel in Deutschland“ haben Sie, sehr geehrte Großen Anfrage enthaltenen Fragen eigentlich schon er-
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich wieder ein- ledigt haben, weil wir längst entsprechende Maßnahmen
mal mit einer der größten Herausforderungen, die unsere ergriffen haben.
Gesellschaft zukünftig zu bewältigen hat, befasst. Wir ha- Ein weiteres zentrales Thema ist die Sicherung des
ben es hier schon mehrfach gehört: Das Bundeskabinett Fachkräftebedarfs. Dazu gehört sicher auch die
verabschiedet nächste Woche den Demografiebericht. In- Erhöhung der Innovationspotenziale und der Erwerbsbe-
sofern will ich Ihre Große Anfrage positiv werten, und teiligung zugewanderter Menschen. In diesem Zusam-
zwar als konstruktive Begleitung der Bundesregierung menhang liegt mir das Berufsqualifikationsfeststellungs-
auf einem Weg, den diese richtigerweise eingeschlagen gesetz besonders am Herzen.
hat. Denn der demografische Wandel – in diesem Punkt
gebe ich Ihnen vollkommen recht – ist eine der größten (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist sehr
Herausforderungen für unsere Gesellschaft. unausgereift!)
Der Rückgang der Bevölkerungszahl und die zuneh- 300 000 Menschen in Deutschland warten darauf, dass
mende Alterung werden nicht nur im Bereich der sozia- die von ihnen im Ausland erworbenen Berufsqualifika-
len Sicherungssysteme, bei der Pflege und im Hinblick tionen endlich in einem vereinfachten Verfahren und an-
auf den Fachkräftebedarf, sondern auch bei der erfolg- hand einer klaren Regelung geprüft werden können. Da-
reichen Gestaltung einer älter werdenden Gesellschaft in mit soll gewährleistet werden, dass sich diese Menschen
den Bereichen Bildung und Forschung eine entschei- mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten einbringen kön-
dende Rolle spielen. Dort bildet der demografische Wan- nen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15923
Ewa Klamt
(A) (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
NEN]: Hat aber auch lange gebraucht!) Sebastian Körber spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
Daher hoffe ich sehr, dass das derzeit im Bundesrat zur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Beratung anstehende Gesetz nicht blockiert wird, und der CDU/CSU)
ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, ihren
Einfluss in den Ländern geltend zu machen, damit dieses Sebastian Körber (FDP):
wichtige Gesetz in Kraft treten kann. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Durch keine andere Entwicklung wird unsere
(Beifall bei der CDU/CSU) Gesellschaft so stark und auch nachhaltig beeinflusst wie
Weiteren Herausforderungen unserer älter werdenden durch den demografischen Wandel. Dieser wird sich in
Gesellschaft nimmt sich das Bundesministerium für Bil- Deutschland regional sehr unterschiedlich auswirken:
dung und Forschung bereits seit mehreren Jahren in un- auf der einen Seite im ländlichen Raum, wo es Abwan-
terschiedlichen Förderschwerpunkten an. Dazu gehört derungsbewegungen gibt, und auf der anderen Seite in
insbesondere das Thema Pflege. Vor dem Hintergrund den Ballungsgebieten, wo es Zuwanderungstendenzen
der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen unterstützt gibt. Wir werden merken, wie sich das überall in
das Ministerium die Entwicklung von Prozessen – das Deutschland und überall unterschiedlich bemerkbar ma-
sind Dinge, die Sie konkret angesprochen haben –, durch chen wird.
die zum einen Pflegemaßnahmen erleichtert und zum an- Die Stärkung der Innenstädte und der Ortskerne, die
deren pflegende Angehörige und professionell Pflegende Verkehrs- und Telekommunikationsinfrastruktur, die
entlastet werden und mehr Raum für menschliche Zu- medizinische Versorgung und gerade auch die Pflegeein-
wendung ermöglicht wird. richtungen im ländlichen Raum stehen ganz oben auf der
Agenda.
Sie alle kennen auch das Programm „Informations-
und Kommunikationstechnologie 2020“. Gefördert wer- Zur Freiheit jedes Einzelnen gehört es schließlich
den damit neuartige Lösungen für altersgerechte Mobili- auch, sich selbstbestimmt fortbewegen zu können, so-
täts- und Kommunikationstechnologien, mit denen älte- dass in jeder Lebenssituation eine aktive Teilhabe am so-
ren Menschen eine bessere Teilhabe ermöglicht wird. zialen und kulturellen Leben möglich ist und die damit
Wenn ich den Reden hier zuhöre, dann stelle ich immer verbundenen Einrichtungen besucht werden können.
wieder fest, dass ganz viele Kolleginnen und Kollegen Ziel muss hierbei stets die Barrierefreiheit sein, wo im-
überhaupt nicht wissen, was von dieser Bundesregierung mer sie technisch und auch wirtschaftlich möglich ist.
längst auf den Weg gebracht worden ist. Wo sich dies nicht realisieren lässt, muss ein hoher Grad
(B) an Barrierearmut ermöglicht werden. Hierzu sind wir (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – insbesondere auch durch die UN-Behindertenrechtskon-
Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vention verpflichtet, die hier ja mit breiter Mehrheit an-
Dazu brauchen sie Breitband! Und Breitband genommen worden ist. Die Umsetzung der Barriere-
ist nicht da! Da nützt ihnen auch die beste armut ist ein dynamischer Prozess, der nur schrittweise
Kommunikationstechnologie nichts! – Weite- unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit vollzo-
rer Zuruf) gen werden kann.
– Dafür haben Sie mich jetzt gerade hier. Ich erzähle Ih- Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, sagt ein
nen das alles ja gerade. Sprichwort. Es ist doch ein verständlicher Wunsch, dass
Menschen im Alter möglichst lange zu Hause in der ver-
Ich sage Ihnen Folgendes: Trotz vieler bereits getrof- trauten Umgebung bleiben möchten, wo sie sich sicher
fener Maßnahmen steht natürlich fest, dass bei der Be- fühlen.
wältigung des demografischen Wandels noch viele Auf-
gaben vor uns liegen und langfristige strategische (Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Warum strei-
Antworten notwendig sind. Daher wird der anstehende chen Sie dann das Förderprogramm?)
Demografiebericht, den das Bundeskabinett verabschie- Hier ergibt sich Handlungsbedarf. Aktuell sind nur
den wird, sicherlich nicht nur eine Analyse, sondern 1,2 Prozent der Wohnungen in Deutschland altersge-
auch Ansätze in Bezug auf den weiteren Handlungsbe- recht. Wir brauchen aber bis 2020 etwa 2,5 Millionen
darf enthalten. Wohnungen. Wünschenswert wäre also eine deutliche
Erhöhung der Quote auf etwa 20 Prozent bis 2030.
Ich bin überzeugt, dass man den demografischen
Wandel mit gezielter Forschung und Entwicklung aktiv Die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden ist
und positiv gestalten kann, und ich denke, dass das doch deutlich günstiger als die stationäre Pflege und damit
wirklich ein Thema ist, bei dem wir alle konstruktiv mit- gleichermaßen entlastend für die Pflegeversicherung und
arbeiten können. somit auch ein Beitrag für mehr Generationengerechtig-
keit.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Es geht
Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So sollte es nicht darum, was günstiger ist, sondern was
hoffentlich sein!) die Menschen wollen!)
15924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Sebastian Körber
(A) Zukunftsfähige Baupolitik kommt daher an einer Fort- für sich und unsere Gesellschaft nutzen wollen und auch (C)
führung des KfW-Programms „Altersgerecht Umbauen“ können. Eine möglichst lange Teilhabe an der Gesell-
nicht vorbei; darüber sind wir uns als Fachpolitiker in schaft hält länger gesund und rege.
der Koalition einig.
(Beifall bei der SPD)
Kommen wir kurz zur Großen Anfrage der SPD. Da-
bei fällt mir insbesondere die Frage 34 auf; Sie sollten Doch dafür brauchen wir Anreize und Angebote, die
jetzt genau aufpassen. Ältere attraktiv finden. Wir haben schon etwas vorzu-
weisen, was noch weiterzuentwickeln wäre. Ich nenne
(Caren Marks [SPD]: Das lohnt nicht!) als Beispiel den Aufbau der Mehrgenerationenhäuser
Ich zitiere: – das war erfolgreich – und die „Freiwilligendienste al-
ler Generationen“. Doch das entsprechende Programm
Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe erge- wird Ende 2011 ohne Not auslaufen, und diese Dienste
ben sich für die Infrastrukturen, insbesondere für werden vom Bundesfreiwilligendienst ausgebootet. Ein
den Verkehrsbereich? viel zu unpassendes, zeitintensives Angebot für Ältere!
Nun, ein persönlicher Beitrag der SPD dazu war wohl (Beifall bei der SPD)
die Anschaffung eines eigenen Kreuzfahrtschiffes
„MS Princess Daphne“. Ich habe mir das einmal ange- Das reicht aber bei weitem nicht aus. Ältere Men-
schaut, weil das schon sehr bemerkenswert ist. Ich will schen haben es verdient, dass die Bundesregierung ihnen
das inhaltlich nicht weiter werten; Sie können als Partei passende Angebote vorlegt, wenn sie sich engagieren
Ihr Geld investieren, wo Sie möchten. Aber da wir uns und einen Teil ihrer Zeit für die Gemeinschaft verwen-
mit der demografischen Entwicklung und der Barriere- den wollen oder auch wenn sie sich weiterbilden möch-
freiheit befassen, stelle ich leider fest, dass es auf Ihrem ten. Die Gesellschaft erwartet von der Bundesregierung
Schiff keine Behindertenkabinen gibt. Sie sollten also Antworten auf die Fragen: Wie können gute Bedingun-
dringend bei sich selber anfangen. gen geschaffen werden, damit die Menschen ihre Le-
benszeit nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestal-
Wie glaubwürdig ist das denn? Ich darf noch einmal ten können? Was wird getan, um der Altersarmut
aus Ihrer Großen Anfrage zitieren: vorzubeugen? Wie wird Pflege zukunftsfest?
Deutschland muss sich vor dem demografischen Stattdessen ruft die Bundesregierung das Jahr der
Wandel nicht fürchten. Pflege aus, verschiebt wieder einmal die längst angekün-
Vor Ihrer Doppelmoral an dieser Stelle aber sehr wohl! digte Pflegereform, dieses Mal bis ins nächste Jahr.
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD – Caren Marks [SPD]: (D)
der CDU/CSU) Was kümmert die Bundesregierung ihr Ge-
schwätz von gestern?)
Der Demografiebericht ist angesprochen worden. Las-
sen Sie uns auf Grundlage dieses Berichts ein sinnvolles Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
Konzept erarbeiten, um gemeinsam den Menschen in gar nicht klar, wie dringend notwendig sie ist?
Deutschland so lange wie möglich ein selbstbestimmtes
und generationengerechtes Leben zu ermöglichen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon vor der Som-
merpause ein umfassendes Pflegekonzept auf den Markt
Vielen Dank. gebracht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Gisela Piltz [FDP]: Auf den Markt? Ich
dachte, Sie sind sonst immer gegen den
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Markt!)
Jetzt hat Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort. Es umfasst neben der Finanzierung von Pflege die Re-
(Beifall bei der SPD) form des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Pflegeaus-
bildung, die Infrastruktur für Beratung und ambulante
Petra Crone (SPD): Pflege, die Voraussetzungen für eine würdevolle Sterbe-
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! begleitung und die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
Sehr geehrte Damen und Herren! Der demografische Übrigens verzichtet es anders als der gestern verabschie-
Wandel hat natürlich nicht nur, aber eben auch zu einem dete Entwurf eines sogenannten Familienpflegezeitge-
großen Teil damit zu tun, dass wir immer älter werden. setzes nicht auf einen Rechtsanspruch.
Wir gewinnen Lebenszeit. Die meisten Älteren bleiben (Beifall bei der SPD)
länger fit und gesund. Neulich ist beim Marathon hier in
Berlin ein 75-Jähriger aus meinem Wahlkreis mitgelau- Nehmen Sie sich ein Beispiel daran! Denn es ist ein
fen. Wunderbar! Skandal, dass Sie auf die drängendsten Fragen der Zeit
keine Antworten haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ich danke Ihnen.
Die Älteren haben Erfahrung, Wissen und wichtige (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Qualifikationen. Sie bieten ein großes Potenzial, das sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15925

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das ist das integrationspolitische Ziel. Es muss doch (C)
Michael Frieser hat für die CDU/CSU-Fraktion das klar sein, dass wir dem Umstand, dass Menschen, die
Wort. eine ordentliche Qualifikation haben, diese in unserem
Land nicht nutzen können, möglichst schnell und mög-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lichst gründlich ein Ende machen.
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU – Tabea Rößner
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Möglichst
Michael Frieser (CDU/CSU): schnell“ ist gut! Darauf warten wir schon
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lange! – Mechthild Rawert [SPD]: Gründlich
Herren! So leid es mir tut, muss ich feststellen, dass wir war es ja nun nicht!)
zu diesem Thema eine Schaufensterdebatte führen.
Meine Vorredner haben auch schon darauf hingewiesen: Wie Sie wissen, beträgt beispielsweise in Berlin der
Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund 43 Pro-
(Mechthild Rawert [SPD]: Stehen Sie vor oder zent. Ich komme aus Nürnberg, einer Stadt mit einem
hinter dem Schaufenster?) Anteil von Menschen ausländischer Herkunft oder mit
Migrationshintergrund von 34 Prozent. Das zeigt deut-
Wenn man weiß, dass die Antwort der Bundesregierung lich, dass auch dies ein Ansatzpunkt ist.
noch kommt und ein Demografiebericht ansteht, und
wenn man sogar an einem Großteil der Diskussionen be- Wir müssen über die Frage der Ab- und Zuwanderung
teiligt war, aber trotzdem die heutige Debatte nutzt, um reden. Was wollen wir nicht? Wir wollen keine automa-
mit dieser Fleißarbeit an zusammengestellten Fragen in tische Zuwanderung in Sozialsysteme. Zuwanderung hat
der Großen Anfrage in irgendeiner Art und Weise das nur dann Sinn – darin sind wir sicherlich einer Meinung –,
Thema zu besetzen, wenn Teilhabe und Teilnahme der Menschen, die hier-
herkommen, dieser Gesellschaft und damit mittelbar
(Caren Marks [SPD]: Reden Sie auch noch oder unmittelbar auch ihnen selber etwas bringt.
zum Thema? – Mechthild Rawert [SPD]:
Ohne uns wären Sie nicht auf die Sprünge ge- (Caren Marks [SPD]: Sie muss aber auch er-
kommen!) möglicht werden!)

dann muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Deshalb sollte sich jeder, der hierherkommt, optimal
das eher strategischer als inhaltlicher Natur ist. Diese in dieser Gesellschaft einbringen können. Er soll Bei-
Bemerkung wollte ich mir erlauben. träge leisten, aber nicht die Sozialsysteme belasten. Er
soll Steuern zahlen und das, was er von der Gesellschaft
(B) Frau Kollegin Crone, ich finde das, was Sie zu der empfangen hat, an diese zurückgeben können. Das ist für (D)
gestrigen Debatte über die Vereinbarkeit von Pflege und mich optimale Integration. Diese kann positive Auswir-
Beruf gesagt haben, der Sache nicht ganz angemessen. kungen auf die Weiterentwicklung der Gesellschaft ha-
Ich glaube, dass unser Vorhaben in die richtige Richtung ben. Auch das hat etwas mit demografischem Wandel zu
geht. tun.
(Caren Marks [SPD]: Die Debatte ja, aber das Ich will deutlich machen – das fehlt in diesem Fra-
Gesetz ist eine Farce!) genkatalog –, dass es keine Abkopplung von der Gesell-
schaft und keine Spaltung der Gesellschaft geben darf.
Einen Punkt, in dem Nachholbedarf besteht, muss ich Das hat Auswirkungen auf die Integrationspolitik. Es hat
der SPD vorhalten. In der gesamten Großen Anfrage fin- schon seine Gründe, warum die Bundesregierung ein
den sich kein einziges Mal die Wörter „Integration“ oder Modellprojekt auf den Weg bringt, mit dem Teilhabe und
„Migration“. Das ist überraschend. Ich will Ihnen zugu- Teilnahme, Fördern und Fordern individualisiert werden.
tehalten, dass es darin um den Zu- und Abwanderungs- Es soll keine automatischen Prozesse, über die Men-
saldo geht; aber es beschränkt sich auf diesen Kontext. schen integriert werden, geben, sondern individuell ge-
staltete Programme, in deren Rahmen von Mensch zu
Wir müssen eine erfolgreiche Integrationspolitik und Mensch darüber geredet wird, welches die beste Form
eine erfolgreiche Bewältigung der Migration, die in un- der Zuwendung und welcher Zeitpunkt der beste ist, um
serem Land stattfindet, hinbekommen; darum handelt es jemanden abzuholen.
sich. Es wäre völlig verkehrt, zu glauben, dass Zuwande-
rung die einzige mögliche Antwort auf die Herausforde- Es ist wichtig, dass wir das schnell tun. Sprache als
rungen des demografischen Wandels ist. das Betriebssystem einer Gesellschaft muss schnell wei-
tergegeben werden, damit wir diejenigen, die hier leben,
(Zuruf von der SPD: Das hat keiner gesagt!) in diese Gesellschaft optimal integrieren und sie in die
Wichtig ist aber, dass alle Einflüsse des Integrationspro- Lage versetzen, ihrerseits einen positiven, kreativen und
zesses auf eine Gesellschaft im demografischen Wandel konstruktiven Beitrag zu leisten. Deshalb ist mir beson-
berücksichtigt werden. Ich bin deshalb der Frau Kollegin ders die Ausbildung wichtig. Darin sind wir uns einig.
dankbar, dass sie auf das Berufsqualifikationsfeststel- Eine Gesellschaft, die dem demografischen Wandel un-
lunggesetz hingewiesen hat. terliegt, in der die Zahl der Menschen abnimmt und die
Menschen älter werden, eine Gesellschaft, die bunter
(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist ein kraftlo- wird, muss immer größeren Wert auf die Ausbildung
ses Gesetz!) legen. Es ist immer noch Fakt, dass Menschen mit Mi-
15926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Michael Frieser
(A) grationshintergrund gerade bei dem entscheidenden ben. Aber das reicht nicht. Sie brauchen auch eine nach- (C)
Übergang zwischen der Schule und dem Beginn der haltige finanzielle Unterstützung, aber nicht eine mit der
Ausbildung dem Staat verloren gehen. Um diese Frage Gießkanne, sondern eine individuell auf die einzelnen
geht es. Um dem entgegenzuwirken, hat die Bundesre- Bedürfnisse zugeschnittene.
gierung meines Erachtens schon die entscheidenden
(Beifall bei der SPD)
Schritte getan.
(Widerspruch bei der SPD) Der Schwerpunkt muss im Bereich Stadtplanung und
Stadtumbau liegen.
Ich darf Sie bitten, die Integration und die Migration
nicht ganz zu vergessen. Bei der Diskussion über den de- (Sebastian Körber [FDP]: Haben wir doch!)
mografischen Wandel ist diese Frage ganz wesentlich. Und was macht diese Bundesregierung? Sie wird dieser
An der Lösung der Probleme sollten wir gemeinsam ar- Verantwortung in keinster Weise gerecht.
beiten.
Ich weiß: Die direkten Beziehungen zwischen Kom-
Danke. munalpolitik und Bundespolitik sind ein bisschen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schwierig. Aber das kann doch keine Ausrede sein.
neten der FDP) Wenn die Regierung und die Koalition nicht gerade da-
mit beschäftigt sind, sich mit sich selbst zu streiten oder
Klientelpolitik zu betreiben,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Petra Ernstberger hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Manuel Höferlin [FDP]: Das hat so einen
langen Bart!)
(Beifall bei der SPD)
zeigt ihre Politik eine eindeutige Handschrift: Es wird
Petra Ernstberger (SPD): gekürzt und gestrichen, zum Beispiel bei der Städte-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- bauförderung. Im Bereich Städtebauförderung sind die
gen! Meine Damen und Herren! Da Sie von der Koali- Mittel von 570 Millionen Euro in 2009 auf 455 Millio-
tion dauernd darauf abgehoben haben, dass uns nächste nen Euro in 2011 gekürzt worden.
Woche ein Bericht der Bundesregierung vorgelegt wird, (Caren Marks [SPD]: Skandal!)
weise ich darauf hin: „Bericht“ beinhaltet berichten. Das
heißt noch lange nicht, dass in dem Bericht auch die Das geschah vor allem in den Einzelprogrammen: beim
Handlungsoptionen vorgelegt werden. Das verlegen Sie Stadtumbau West Kürzung um ein Fünftel, beim Stadt-
umbau Ost Kürzung um 31 Prozent.
(B) in den Januar nächsten Jahres. (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der SPD: Schweinerei!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Das Programm „Soziale Stadt“ erfuhr eine Kürzung von
Schummer [CDU/CSU]: Das macht das Parla- drei Viertel der Fördermittel.
ment! Das ist unsere Aufgabe!)
(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Das ist die
Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der Antwort auf den demografischen Wandel!)
heute noch nicht im Mittelpunkt gestanden hat, nämlich
die Situation der Städte und Gemeinden in Deutschland. Das bedeutet, dass dieses Programm im Grunde einge-
stampft worden ist und nur noch zur Gesichtswahrung
(Beifall bei der SPD) weiterexistiert.
Gerade diese sind besonders vom demografischen Wan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
del betroffen, und zwar in zwei Bereichen: Auf der einen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Seite geht es um das Wachsen, auf der anderen Seite um GRÜNEN – Manuel Höferlin [FDP]: Das ist
das Schrumpfen. Beides stellt ungeheure Herausforde- Sozialpolitik! Das gehört in den Sozialhaus-
rungen für die Kommunalpolitiker und die Menschen, halt!)
die in diesen Regionen leben, dar. Besonders betroffen
sind Regionen, die an Substanz verlieren. Es gibt Regio- Wer kümmert sich um die Folgen dieser Politik?
nen in Deutschland, die bis 2030 30 Prozent ihrer Bevöl- Meine Fraktion hat dazu eine Kleine Anfrage an die
kerung verlieren werden. Das hat katastrophale Auswir- Bundesregierung gerichtet. Diese hat darauf geantwor-
kungen auf die Infrastruktur und die Menschen, die in tet:
diesen Regionen leben. Es sind die Kommunalpolitike- Gemäß der Aufgabenverantwortung für die Städte-
rinnen und Kommunalpolitiker, welche die Situation vor bauforderung obliegt die Entscheidung über die
Ort und damit die Bedürfnisse der Menschen kennen und konkreten Maßnahmen vor Ort und damit auch die
die passgenaue und zukunftsfähige Problemlösungen Entscheidung über mögliche Schwerpunktsetzun-
entwickeln müssen. gen den Ländern.
Eine besondere Chance bietet die Zusammenarbeit (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr gut!
von Kommunen über die Grenzen hinweg. Dazu ist Subsidiarität! Die brauchen wir! Ganz, ganz
schon einiges vorbereitet worden, was wir den wirklich wichtig!)
guten Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpoliti-
kern zu verdanken haben, die das schon angepackt ha- Das ist nachzulesen in Drucksache 17/5972.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15927
Petra Ernstberger
(A) Das bedeutet doch: In Berlin streicht diese Regierung, Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C)
die Länder bekommen den Schwarzen Peter zugescho- DIE LINKE
ben, und die Kommunen stehen im Regen.
Praxisgebühr und andere Zuzahlungen ab-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaffen – Patientinnen und Patienten entlas-
der LINKEN) ten
Das Gleiche gilt für die Mehrgenerationenhäuser und für – Drucksachen 17/241, 17/7152 –
die Projekte im Rahmen von „BIWAQ“, des Programms
Berichterstattung:
„Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier“.
Abgeordneter Harald Weinberg
Wir brauchen ein Konzept, das den Kommunen wirk-
Verabredet ist hierzu, eine halbe Stunde zu debattie-
lich hilft, das sie unterstützt und den Regionen eine
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
Chance für die Zukunft gibt.
verfahren wir so.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Frau Ernstberger, Sie müssen zum Schluss kommen. gin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Petra Ernstberger (SPD):
Ja, mache ich. – Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
gen, es ist fünf vor zwölf. Sie haben die Verantwortung. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An dem Beispiel, das ich gerade aufgezeigt habe, wurde Mit dem Antrag „Gesundheit und Pflege solidarisch
deutlich, dass Sie dieser Verantwortung nicht gerecht ge- finanzieren“ legen wir Ihnen heute ein durchgerechnetes
worden sind. Konzept vor. Solidarität ist für die Mehrheit der Bevöl-
kerung – trotz all Ihrer Versuche der Unkenntlichma-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chung, sodass man manchmal gar nicht mehr weiß, was
Frau Kollegin. das ist – überaus wichtig.
(Beifall bei der LINKEN)
Petra Ernstberger (SPD):
Kümmern Sie sich um die Städte, die Wachstum be- So findet der Vorschlag einer Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung für Gesundheit und Pflege als solidarische
wältigen müssen, ebenso wie um die, die mit Abwande-
Alternative zu Kapitalstock und Kopfpauschale auch
rung und Leerstand konfrontiert sind.
(B) viel Anklang. (D)
Danke schön.
Die Fraktion Die Linke verfolgt unseres Erachtens
(Beifall bei der SPD) das konsequenteste Konzept im Reigen der Oppositions-
fraktionen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
Damit schließe ich die Aussprache. GRÜNEN]: Oh!)
Ich bitte Sie, zum vorhergehenden Tagesordnungs- Es ist gut, dass die Bündnisgrünen künftig vermutlich
punkt, TOP 28, noch die Überweisung durchzuführen. von ihrem Kapitalstock „Demografiereserve“ für die
Hier wurde interfraktionell verabredet, die Vorlagen auf Pflege absehen. Sie wollen dem Rat ihres Experten fol-
den Drucksachen 17/4485 und 17/7184 an die in der Ta- gen, der ihnen bescheinigt hat, dass damit nur eine
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Scheinnachhaltigkeit verbunden ist.
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ver-
fahren wir so. (Beifall bei der LINKEN)

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf: Nun sind wir noch auf die Ergebnisse des SPD-Modells
gespannt. Mal sehen, wann wir diese bekommen.
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger-Schäfer, Sie und auch viele Bürgerinnen und Bürger kennen
Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der unser Konzept. Deshalb will ich nur kurz darauf einge-
Fraktion DIE LINKE hen. Es sieht vor, alle einzubeziehen, also die „Last“ auf
viele Schultern zu verteilen. Dazu ist es aber erforder-
Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren lich, der Zweiklassenmedizin endlich das Wasser abzu-
graben. Die private Krankenversicherung wollen wir auf
– Drucksache 17/7197 – das Zusatzgeschäft beschränken.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) (Beifall bei der LINKEN)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir wollen, dass alle Einkommen, über die die Men-
schen verfügen, ohne Beitragsbemessungsgrenze verbei-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tragt werden. Die Beitragsbasis soll also erweitert wer-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- den.
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin (Lars Lindemann [FDP]: Wie in Kuba!)
15928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Martina Bunge


(A) Selbstverständlich soll endlich Parität wiederhergestellt Willi Zylajew (CDU/CSU): (C)
werden: Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil sind Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gleich hoch. Die Praxisgebühr und sonstige einseitige Fangen wir mit dem Positiven an: Frau Dr. Bunge, ich
Zuzahlungen sollen abgeschafft werden. Das würde end- bestätige Ihnen gern, dass der Antrag der Linksfraktion
lich Gerechtigkeit schaffen. eine Reihe von richtigen Aussagen enthält,
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
Während sich die Koalitionäre nur streiten und dis- sehen wir auch so!)
kutieren, ließen wir in diesem Jahr von einem unabhän-
die ich auch gern aufzeige und hervorhebe. Allerdings
gigen Gutachter die Potenziale berechnen, die unser
Konzept hat. Der Berechnung wurde ein makroökono- kommen Sie in Ihrem Antrag durch eine Reihe fehler-
misches Simulationsmodell mit 811 Gleichungen, allein hafter Ableitungen zu einem völlig falschen Ergebnis,
155 für das Submodell Gesundheitsökonomie, zugrunde (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Schauen
gelegt. Wir haben darin 50 Jahre Stützzeiträume und Sie doch einmal hinein!)
Mehrrundeneffekte berücksichtigt. Bei der Pflege haben
wir nicht, wie es bei der Gesundheit der Fall war, das Ni- zu völlig falschen Forderungen. Daher werden wir dem
veau bei der Versorgung eins zu eins beibehalten, son- Antrag – das wird Sie nicht überraschen – nicht zustim-
dern wir haben auch noch ein Sofortprogramm eingetak- men.
tet, durch das der Preisverlust in Höhe von 15 Prozent
seit 1995 ausgeglichen werden soll und in dem die Sach- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Linksfraktion
leistungen um 25 Prozent höher liegen. Dies ist der drin- hat recht, wenn sie im gleich im ersten Satz des Antrags
gende Handlungsbedarf, der sich ergibt, bevor Sie es schreibt:
schaffen, die neue Pflegedefinition umzusetzen.
Die Kostenexplosion im Pflege- und Gesundheits-
(Beifall bei der LINKEN) system ist ebenso ein Mythos wie der drohende
finanzielle Kollaps.
Was ist nun dabei herausgekommen? Das Ergebnis ist
hervorragend. Beiträge von jeweils 5 Prozent für Arbeit- Das stimmt deshalb, weil wir mit unserem Partner in der
nehmer und Arbeitgeber würden ausreichen, um all das christlich-liberalen Koalition eine gute Politik machen,
zu bezahlen, was heute in der Gesundheit erforderlich sorgfältig hinschauen und handeln und uns um eine Sta-
ist. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil könnten also bilisierung des Systems bemühen. Es gibt keine Kosten-
um rund ein Drittel gesenkt werden. Bei der Pflege explosion, weil wir Unwirtschaftlichkeiten reduzieren.
könnte man trotz der sofortigen Leistungsverbesserung Es gibt sicherlich überzogene Ansprüche; die lehnen wir
(B) stabil bei einem Beitrag von unter 2 Prozent bleiben. aber ab. Wir stärken die redlichen Kräfte in der Selbstver- (D)
Wer Interesse hat, unsere Studie zu lesen, kann das auf waltung, und im Gegensatz zur Linksfraktion beobachten
www.linksfraktion.de tun. und beeinflussen wir sowohl die Ausgabenseite als auch
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann die Einnahmeseite.
[DIE LINKE]: Ein Werbeblock!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ein Vergleich mit der jetzigen Belastungslage zeigt,
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Lin-
dass vor allen Dingen die unteren 60 Prozent der Bevöl-
ken, beschäftigen sich nur mit der Ausgabenseite.
kerung massiv entlastet würden. Außerdem würden wir
noch Spielraum für Leistungsverbesserungen und für (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nein,
Verbesserungen der Arbeitsbedingungen der im Gesund- nein! Dann haben Sie nicht zugehört! –
heits- und Pflegesystem Beschäftigten gewinnen. Das ist Mechthild Rawert [SPD]: Da müssen Sie ja
dringend erforderlich. selber lachen!)
(Beifall bei der LINKEN) – Natürlich muss ich da lachen. Ich wollte den Schreck-
Mit der steigenden Binnenkaufkraft entstünden lang- moment nutzen. – Sie schauen natürlich nur auf die Ein-
fristig außerdem rund 500 000 Arbeitsplätze außerhalb nahmen; das ist Ihr einziges Anliegen. Sie wollen die
von Gesundheit und Pflege. Die Bürgerinnen- und Bür- Einnahmeseite verbessern.
gerversicherung ist damit ein Paradebeispiel für linke
Umverteilungspolitik, und zwar mit positiven Wirt- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
schaftsimpulsen. Ich lade alle, die mögen, zum Diskurs ist doch nicht verkehrt!)
darüber ein. Ich sage: Damit allein wird es nicht funktionieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Uns ist wichtig, Frau Kollegin Bunge, dass wir so-
(Beifall bei der LINKEN) wohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Kran-
kenversicherung sowie in der Pflegeversicherung eine
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ordentliche Balance zwischen verlässlichen Leistungen
sowie persönlich und volkswirtschaftlich verkraftbaren
Willi Zylajew ist jetzt der nächste Redner für die
Versicherungsbeiträgen erreichen. Diese Balance ist uns
CDU/CSU-Fraktion.
wichtig. Dadurch sichern wir eine gute Versorgung im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gesundheits- und Pflegebereich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15929
Willi Zylajew
(A) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Sie haben Sie versuchen, mit der Studie volkswirtschaftlich ver- (C)
nichts gelesen, Herr Zylajew! Das tut mir leid, nünftige Entwicklungen ein Stück weit auf den Kopf zu
sehr leid!) stellen und aus einer völlig falschen Ecke zu beleuchten.
Wir wollen dies auch weiterhin verlässlich tun, weil wir Ich denke, unser Gesundheitswesen und insbesondere
glauben, dass unser Handeln Patientinnen und Patienten die Pflege sind ordentlich und solide finanziert. Dazu be-
und ihren Angehörigen hilft, gut ist für Arbeitgeber und darf es keiner Initiative und keiner Anträge Ihrerseits.
für Arbeitnehmer, für die gesamte Versichertengemein-
schaft und für den Staat. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
glauben Sie ja wohl selber nicht!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wo ist
denn Ihr Konzept für eine zukunftsfeste Finan- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
zierung? Wann soll das kommen? Ich habe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
noch nichts gehört!) Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Lesen Sie
mal zwischen Weihnachten und Neujahr un-
Mit Ihrem Antrag präsentieren Sie letztlich nichts an-
sere Studie!)
deres – ich behaupte, er ist noch nicht einmal durchge-
rechnet – als mehr Leistungsversprechen, höhere Leis-
tungsvergütungen und höhere Kosten, und zwar ohne Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
jede kritische Betrachtung. Das ist unverantwortlich und Das Wort hat der Kollege Dr. Edgar Franke von der
hat nichts mit Solidarität zu tun. SPD-Fraktion.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist (Beifall bei der SPD)
es!)
Außerdem ist es, wie gesagt, nicht durchgerechnet. Dr. Edgar Franke (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
(Beifall bei der CDU/CSU) Herren! Heute Morgen um kurz nach halb acht habe ich
Jetzt komme ich zu Ihrem Zauberwort „Bürgerversi- nichtsahnend den Fernseher angestellt. Frau Bunge, wen
cherung“. Das war ursprünglich eine Erfindung der SPD. sehe ich da? Den Vorsitzenden der Linken, Klaus Ernst,
Es ist schon rührend, zu sehen, wie die Grünen und jetzt in einem Interview zum Parteitag. Herrn Ernst zufolge
auch die Linken versuchen, dieses Modell zu vitalisie- sind alle Sozialleistungen bezahlbar, wenn man nur rich-
ren. Es ist ein Versuch, der einen, aus der Ferne beobach- tig umverteilt. Sie haben das vorhin auch gesagt: Es liegt
(B) tet, schon ein Stück aufmerksam macht. Sie stellen die an der Umverteilung. (D)
Bürgerversicherung als ein Patentrezept zur Lösung aller (Beifall bei der LINKEN)
Probleme dar, was aus meiner Sicht aber nicht zutrifft.
Ich will auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen. So einfach stellen sich die Linken Politik vor. Es wäre
schön, wenn es so einfach wäre. Ich hatte nie den Ein-
Zum einen würde man nicht mit einem Beitragssatz druck – Sie waren auch Sozialministerin –, dass, wenn
von 15,5 Prozent zurechtkommen. Sie müssen außerdem die Linken an einer Regierung beteiligt waren, automa-
bedenken, dass neben den 15,5 Prozent, die eine erhebli- tisch der Sozialismus ausgebrochen ist und sich die So-
che Belastung darstellen, der Rentenversicherungsbei- zialleistungen von selbst finanzieren.
trag allein um 0,2 Prozentpunkte erhöht werden müsste,
wenn Sie die hälftige Mitfinanzierung möchten. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
würde doch auch wieder erheblich belasten. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie
brauchen keine Angst vor uns zu haben!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wieso das
denn?) Sie haben heute Ihren Parteitag. Deswegen wird un-
sere Debatte leider nicht auf Phoenix übertragen. Wenn
Sie fordern die Abschaffung des Kinderlosenzu- man Ihre beiden Anträge betrachtet, kommt man zu dem
schlags in der Pflegeversicherung. Das stellt aus unserer Schluss, dass sie auch Vorlagen für Ihren heutigen Par-
Sicht eine Mehrbelastung dar. Wenn Sie das Leistungs- teitag sein könnten. Abschaffung der Praxisgebühr und
niveau beibehalten und Vorteile für eine bestimmte Per- aller Zuzahlungen sowie eine solidarische Finanzierung
sonengruppe abschaffen, dann führt dies letztlich dazu, der Pflege und Gesundheit, das hört sich natürlich gut
dass andere unter dem Strich mehr belastet werden. an.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Sie haben (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja!)
nichts kapiert, Herr Zylajew!)
Sie haben gesagt, dass es sich um ein konsequentes Kon-
Sie wissen, dass die Beiträge zur PKV nach Aufzeh- zept handelt. Allerdings ist es ein Konzept, das Minder-
rung der Altersrückstellung deutlich steigen müssten. einnahmen in Höhe von 5 Milliarden Euro bedeuten
Ich glaube, das ist Ihr eigentliches Anliegen. würde. Diese Summe muss man aber seriös gegenfinan-
zieren.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Nein, das
haben wir außen vor gelassen! Lesen Sie sich Frau Bunge, ich komme gleich zu Ihnen. Wir kennen
die Studie einmal durch!) uns ja schon länger.
15930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Edgar Franke


(A) (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU, der es gerade die Bezieher mittlerer Einkommen, die am (C)
FDP und der LINKEN – Michaela Noll [CDU/ meisten darunter leiden.
CSU]: Was heißt das denn?)
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr
– Na ja, so lange nun auch wieder nicht. – Richtig ist auf richtig!)
jeden Fall, dass wir eine Bürgerversicherung einführen
Wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
und die Einnahmen steigern müssen; darin sind wir einer
gerichts kennt, die eine Abschaffung der Beitragsbemes-
Meinung. Richtig ist auch, dass die unteren und mittle-
sungsgrenzen als Verstoß gegen das Verhältnismäßig-
ren Einkommensgruppen benachteiligt sind und die
keitsprinzip ansieht, dann weiß man, dass man damit nur
Hauptlast unseres Sozialversicherungssystems tragen.
den Mittelstand treffen würde. Die Leute, die richtig
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau!) Kohle haben, erreicht man dadurch gerade nicht. Eine
Umverteilung, Frau Bunge, muss in erster Linie über das
Die Gutverdienenden und die Selbstständigen, die im Steuerrecht erfolgen und darf nicht über das Beitrags-
Regelfall die Gesündesten sind, können sich der Solida- recht geschehen. Das Steuerrecht ist dafür das geeignete
rität entziehen und sich privat versichern. Das ist nicht Instrumentarium.
richtig. Daher müssen wir eine Bürgerversicherung ein-
führen. Hier hat auch die Sozialdemokratie Handlungsbedarf.
Wir müssen die Abgeltungsteuer erhöhen. Wir müssen
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) über die Erhebung der Vermögensteuer nachdenken. In
Der Kollege Spahn hat – unrasiert wie heute – bei Deutschland wird Vermögen wesentlich geringer besteu-
Frontal 21 ein Interview gegeben und gesagt, dass es in ert als in den angloamerikanischen Ländern. Insofern
Deutschland spätestens 2020 keine private Krankenver- wäre die Erhebung der Vermögensteuer auch ein Beitrag
sicherung mehr geben wird. dazu, eine Bürgerversicherung zu finanzieren.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Martina
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bunge [DIE LINKE])
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie müs- Die Praxisgebühr hat nicht die steuernde Wirkung ge-
sen genau zuhören! Nicht mehr so wie heute!) habt, die sie haben sollte; das muss man zugestehen. Sie
haben in Ihrer Begründung erwähnt, dass die Praxisge-
Ich glaube, Herr Spahn, Sie wollen auch eine Bürgerver-
bühr viele schlechtergestellte Versicherte vom Arztbe-
sicherung. Das freut uns alle sehr.
such abschrecken würde. Das ist dann natürlich nicht
Frau Bunge, auch das Thema Pflege wurde angespro- ganz logisch. Es ist aber auf jeden Fall so, dass 2 Milliar-
(B) chen. Grundsätzlich ist zu sagen: Eine solidarische Bür- den Euro als Einnahmen aus der Praxisgebühr ein Rie- (D)
gerversicherung im Bereich Pflege ist notwendig. Es senbetrag sind. Wir können jedoch erst umsteuern, wenn
muss endlich gehandelt werden. Von Herrn Rösler und geprüft ist, wie hoch die Einnahmen aus der Bürgerver-
anderen der FDP ist das Jahr der Pflege angekündigt sicherung sein werden. Außerdem, Frau Bunge,
worden. Was ist dabei herausgekommen? Ein Jahr des (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich werde
Nichtstuns, ein Jahr des Streits. gleich rot!)
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) man muss fairerweise sagen, dass man die Bürgerversi-
Von einem Kapitaldeckungsverfahren, das angekün- cherung nur schrittweise einführen kann; denn es gibt
digt wurde, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Bestandschutz für diejenigen, die momentan in der pri-
sehe ich auch nichts. Eines aber muss man sagen – in die- vaten Krankenversicherung sind. Insofern wird sich
sem Punkt haben die Linken ebenfalls recht –: Eine Ka- auch die Einnahmebasis nur langsam verbreitern. Vor
pitaldeckung, eine Finanzierung aus Fonds oder Aktien diesem Hintergrund muss man sagen, dass auch die Ein-
wäre der falsche Weg. Das muss man aus der Krise ge- führung der Bürgerversicherung nicht dazu führen wird,
lernt haben. Wir brauchen ein Umlagesystem. dass man von heute auf morgen auf 5 Milliarden Euro
verzichten kann. Das Ganze muss schrittweise und sach-
(Lars Lindemann [FDP]: Umlagesystem bei bezogen geschehen; alles andere wäre aus meiner Sicht
Leuten, die keinen Job haben!) wirklich unseriös.
Deswegen brauchen wir eine solidarische Bürgerver- Ich glaube, das SPD-Konzept der Bürgerversicherung
sicherung für die Pflege. ist das richtige Konzept für die Pflege- und Krankenver-
sicherung. Politik ist immer die Kunst des Möglichen:
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Was kann ich praktisch realisieren? Versicherte kann
Geschätzte Frau Kollegin Bunge, noch zwei oder drei man aber erst dann entlasten, wenn das Bürgerversiche-
Anmerkungen zum Bürgerversicherungskonzept: Ich rungskonzept in die Praxis umgesetzt wird. Erst wenn
glaube, dass man sich gut überlegen muss, ob man die man weiß, wie viel Geld übrig bleibt, kann man prüfen,
Beitragsbemessungsgrenzen erhöht. Warum muss man ob Zuzahlungen beschränkt bzw. abgeschafft und die
sich das gut überlegen? Vorhin habe ich gesagt: Die Praxisgebühr abgeschafft werden können.
Hauptlast tragen die Bezieher mittlerer Einkommen. Danke schön.
Wenn man die Beitragsbemessungsgrenzen erhöht – ich
weiß, dass die Grünen das auch gefordert haben –, sind (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15931

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
Das Wort hat der Kollege Lars Lindemann von der bei der SPD und der LINKEN – Lars
FDP-Fraktion. Lindemann [FDP]: Mit Ihnen gern, aber nicht
darüber!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Offensichtlich glauben Sie nicht an Ihre weitere parla-
mentarische Existenz. Übrigens: Wenn sich Leistung
Lars Lindemann (FDP): lohnen soll, dann darf man sich auch am Freitagmittag
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die Mühe geben, zu sprechen.
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
solidarischen Krankenversorgung und Pflege in Deutsch- bei der SPD und der LINKEN)
land ist in der Tat eine der ganz großen Aufgaben unserer
Zeit. Sie erfordert Ehrlichkeit in der Analyse, Sachkennt- Jetzt kommen wir zum Antrag der Linken. Da muss
nis bei den Lösungen und die Berücksichtigung der Aus- ich sagen: Nicht überall, wo „Bürgerversicherung“
wirkungen der getroffenen Maßnahmen auf alle mitei- draufsteht, ist auch Bürgerversicherung drin. Manche
nander zusammenhängenden Bereiche der Gesellschaft. Konzepte sind eher geeignet, den Weg zur Bürgerver-
Dabei kommt, sehr geehrter Herr Kollege Franke, die Eile sicherung zu erschweren als ihn zu erleichtern. Sie ma-
sicherlich nicht vor der Sorgfalt. So viel zu dem Thema, chen sich nämlich nicht die Mühe, einmal ein Konzept
wie schnell diese Koalition mit ihren Vorschlägen ist. zu durchdenken und es tatsächlich in ein Gesamtkonzept
Verlassen Sie sich darauf: Sorgfalt spielt bei uns eine grö- einzubetten. Ich werfe Ihnen von der Linken vor, dass
ßere Rolle als Ihre Eile beim Behaupten, dass wir das Sie zumindest denkfaul sind.
nicht könnten.
(Beifall der Abg. Maria Klein-Schmeink
In diesem Zusammenhang sind die Anträge der Frak- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
tion der Linken ein Manifest des Scheiterns an dieser
Aufgabe. Sie genügen keinem Anspruch außer dem, den Ich begrüße hingegen sehr – der Kollege von der SPD
man an Utopien knüpft. hat schon darauf hingewiesen –, dass es jetzt langsam
auch bei der CDU einen Umdenkungsprozess gibt. Kol-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie lege Spahn sagte im Fernsehen, er glaube, dass es bis
haben nicht mal mehr das!) 2020 sicherlich einen einheitlichen Versicherungsmarkt
Liebe Frau Bunge, Utopien scheuen den Blick auf die geben werde. Dazu muss ich sagen: Das dauert mir zwar
Realitäten, die Wirklichkeit, weil ihre Autoren damit zu lang, aber immerhin ist die Erkenntnis da. Ich finde,
(B) überfordert sind. wir sollten uns darauf verständigen, diesen Weg zu ge- (D)
hen.
Weil Sie stets und ständig daran festhalten, dass Soli-
darität Aber was tut die Linke? Wenn Sie es mit einem Bür-
gerversicherungskonzept ernst meinten, dann hätten Sie
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das Ihren alten Antrag, den Sie hier mit aufgesetzt haben, zu-
ist für die FDP natürlich ein Fremdwort!) rückziehen müssen. Das Ziel, die Zuzahlungen abzu-
in diesem Land eben nur die größtmögliche Institutiona- schaffen, teilen wir wohl; aber mit diesem Antrag sagen
lisierung des Verteilens des Geldes anderer Leute sein Sie einfach nur: Weg mit den Zuzahlungen! Die 5,5 Mil-
kann, gebe ich hier meine Rede zu Protokoll, damit Sie liarden Euro, die dann fehlen, holen wir geschwind bei
schnell zu Ihrem Parteitag kommen, wo Sie sich weiter den gutverdienenden Angestellten. – Damit würden alle
Ihren Utopien hingeben können. abhängig Beschäftigten, die über 3 712 Euro im Monat
verdienen, auf einen Schlag zusätzlich belastet, auch ihre
Vielen Dank. Arbeitgeber. Das betrifft übrigens viele mittelständische
Betriebe. Mit dem Mittelstand haben Sie es nicht so;
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
deswegen ist es Ihnen vielleicht egal. Aber man muss
chen bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
das im Hinblick auf die Arbeitsplätze bedenken. Sie for-
KEN – Hilde Mattheis [SPD]: Das ist ja un-
dern eine einseitige Belastung, wollen mal eben Geld ab-
glaublich! Das habe ich auch noch nicht
greifen und sich dann an der Basis dafür feiern lassen.
erlebt! – Maria Klein-Schmeink [BÜND-
Das ist nicht unser Konzept. Auch Sie wissen es eigent-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist hier ein Parla-
lich besser. Das ist nicht in Ordnung.
mentsverfahren!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Abschaffung der Zuzahlungen muss in ein Bür-
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bünd- gerversicherungskonzept eingebettet sein, das bei der
nis 90/Die Grünen. Erhebung der Beiträge alle Einnahmen aller Bürgerinnen
und Bürger einbezieht, wodurch es einen Zufluss an Mit-
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): teln gibt, der es ermöglicht, unter anderem auf die Zu-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber zahlungen zu verzichten. Dann macht es Sinn, die Bei-
Herr Lindemann, es ist schon interessant, dass die FDP tragsbemessungsgrenze zu erhöhen; denn man kommt
jetzt schon gar keinen Bock mehr hat, hier zu sprechen. dann bei denjenigen, die abhängig beschäftigt sind, aber
15932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Birgitt Bender
(A) zusätzliche Einkünfte haben, an alle Einnahmen heran. durch. Wir wollen einen echten Wettbewerb um die (C)
So sehen wir das. beste Versorgung. Wir wollen, dass Kassen, und zwar
sowohl die ehemals gesetzlichen wie die ehemals priva-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Deswegen lesen ten, miteinander um die beste Versorgung der Versicher-
Sie ja auch keine Urteile! – Gegenruf der Abg. ten konkurrieren. Diesen Wettbewerb wollen wir und
Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE darüber hinaus eine nachhaltige und gerechte Finanzie-
GRÜNEN]: Quatsch!) rung. Erst dann handelte es sich um eine Bürgerversiche-
Das bedeutet eine Zusatzbelastung für die gehobene Mit- rung, die diesen Namen auch verdient.
telschicht; dazu stehen wir. Wir wollen mehr Solidarität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Da muss ich an die Adresse der SPD sagen: Sie versu-
chen, sich davor zu drücken, weil auch der sozialdemo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kratische Facharbeiter Einnahmen zum Beispiel aus der Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
Miete für die Einliegerwohnung in seinem Häusle hat. jetzt der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-
Sie sagen dann: Wir beziehen die anderen Einkommens- Fraktion das Wort.
arten nicht ein, aber erhöhen die Abgeltungsteuer. – Da
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
kann ich nur sagen: Wir sind hier im Bundestag; wir, die
neten der FDP)
wir hier sitzen, wissen doch ganz genau, wie das bei je-
der Haushaltsberatung läuft.
Stephan Stracke (CDU/CSU):
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
GRÜNEN]: Genau! Das wird doch nächstens Herren! Als diese Koalition angetreten ist, wurde für die
wieder spannend!) gesetzliche Krankenversicherung ein Defizit in Höhe
Da können Sie die Steuern erhöhen, wie Sie wollen: Die von 9 Milliarden Euro prognostiziert. Wir haben das
Einnahmen sind nicht zweckgebunden. Also wird jedes Blatt gewendet.
Jahr wieder darüber geredet, ob es diesen Zufluss ins (Widerspruch bei der SPD)
Gesundheitssystem weiter geben wird. Das heißt, damit
machen Sie die Finanzierung nicht sicherer und nachhal- Im ersten Halbjahr 2011 erzielte die gesetzliche Kran-
tiger, sondern erhöhen – im Gegensatz dazu – die Un- kenversicherung einen Überschuss in Höhe von 2,4 Mil-
sicherheit. liarden Euro.
(Mechthild Rawert [SPD]: Das wird mit so
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einer Lüge nicht besser!)
(B) Auch das ist kein guter Weg, liebe Kollegen und Kolle- (D)
Vom Defizit hin zum Überschuss – das ist die Leistung,
ginnen von der Sozialdemokratie.
die die christlich-liberale Koalition vollbracht hat. Wir
Jetzt zurück zur Linken. Sie wollen, dass die privaten machen etwas, was trägt.
Krankenversicherungen in Zukunft nur noch Zusatzver- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wir wissen
sicherungen anbieten; Sie wollen ihnen also das Vollver- doch nicht, was Sie machen!)
sicherungsgeschäft wegnehmen. Ich muss Ihnen sagen:
Damit bekommen Sie ein verfassungsrechtliches Pro- Wir schaffen einen Finanzrahmen, der stabil ist. Eine
blem; aber damit wollen Sie sich offensichtlich nicht Bürgerversicherung, wie sie die gesamte Opposition im
auseinandersetzen. Es gibt auch gar keinen Grund dafür. Sinn hat – von den Grünen angefangen über die SPD hin
Warum soll man denn der PKV nicht die Chance geben, zu den Kommunisten –,
auf dem Markt der Bürgerversicherung nach den für alle (Lachen bei der SPD und der LINKEN)
geltenden Spielregeln – diese lauten: Kontrahierungs-
pflicht, einkommensabhängige Beiträge, keine Risikozu- ist das krasse Gegenteil von dem, was trägt. Sie haben
schläge, Beteiligung am Risikostrukturausgleich – daran nicht mehr auf der Pfanne als Umstiegsrhetorik.
teilzunehmen? Viele PKVen empfinden das als eine Zu- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)
mutung. Ja, dann sollen sie sich dieser stellen. Unser
Ziel ist es jedenfalls nicht, die PKV als Vollversicherung Es beginnt ja schon damit, dass Sie gar keine Vorstel-
in diesem Segment plattzumachen. lung davon haben, wie der Weg dorthin konkret gegan-
gen werden soll. Ich habe mir den Antrag der Linken
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einmal sehr genau durchgelesen. Darin sind alle Heils-
versprechen enthalten, die man sich vorstellen kann.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Lesen Sie
Kommen Sie bitte zum Schluss. mal die Kurzfassung unserer Studie!)

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


Die Frage aber, wie das genau gehen soll, soll nach Mei-
nung der Linken lieber die Bundesregierung beantwor-
Ja. – Wir wollen auch keine „AOK für alle“. Sie wol- ten. Sie haben da wahrscheinlich mehr Zutrauen in uns
len die Einheitsversicherung mit einem Einheitsbeitrag. als in sich selber.
Das ist dann aber gar keine richtige Versicherung mehr.
Ich habe den Eindruck, da schimmert so ein bisschen (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist
Sehnsucht nach den Verhältnissen in der früheren DDR richtig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15933
Stephan Stracke
(A) Daran wird schon deutlich, wie hier vorgegangen wird. Das ist also alles andere als solidarisch und gut organi- (C)
siert.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Ich halte auch nichts davon, dass Krankenkassen jetzt
Die Bürgerversicherung ist nichts anderes als eine zu einer Art Finanzamt werden. Genau das steckt hinter
zwangsweise Einheitsversicherung für alle. dem Vorschlag von der Oppositionsbank, und zwar jegli-
cher Couleur, auch Einkommensarten wie Zinsen, Pach-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: So sieht es aus!) ten und Mieteinnahmen einzubeziehen.
Nehmen Sie einmal den Mantel weg, und schauen Sie (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sich an, was das im Ergebnis bedeutet: Dahinter steckt NEN]: Ja, was ist jetzt daran falsch? Dazu
nichts anderes als Zweiklassenmedizin. Genau das wol- habe ich noch nichts gehört!)
len Sie – Zweiklassenmedizin –, weil Sie genau wissen,
dass es in dem Moment, wo Sie den Wettbewerb be- Das verursacht nur erheblichen Aufwand. Außerdem
grenzen und das Nebeneinander von privater und gesetz- treffen Sie damit nicht die Vermögensmillionäre – das ist
licher Krankenversicherung aufheben und damit den In- wieder nur Rhetorik; es steckt nichts dahinter –;
novationsmotor, den die private Krankenversicherung
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
darstellt, wegnehmen, um die Gesundheitsversorgung in
NEN]: Wer hat denn gesagt, dass es die Millio-
diesem Lande insgesamt schlechter bestellt sein wird.
näre sind?)
(Mechthild Rawert [SPD]: Halten Sie doch einmal
Rücksprache mit Herrn Seehofer!) denn deren Einkommen liegt auch bei einer Erhöhung
über der Beitragsbemessungsgrenze. Sie treffen auch
Dann werden ganz viele in die Zusatzversicherung aus- hier wieder den kleinen Mann mit seinen Ersparnissen.
weichen wollen. Somit zementieren Sie die Zweiklas- Ihn wollen Sie schröpfen. Das steckt hinter der Bürger-
senmedizin mit Ihrem Vorschlag, eine Bürgerversiche- versicherung.
rung einzuführen, egal, von welcher Seite er tatsächlich
kommt. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Schauen
Schauen wir uns einmal die Haltung zur Beitrags- Sie sich einmal das Konzept an!)
bemessungsgrenze an. Die Linke sagt, dass sie diese
perspektivisch ganz abschaffen will. Sie sagen selbst, dass Sie maximal 0,4 Beitragspunkte
durch die Einbeziehung von Mieten, Pachten und Zinsen
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: requirieren könnten. Das sind doch allenfalls kurzfristige
Genau!) Effekte.
(B) (D)
Dass das verfassungsrechtlich gar nicht geht, erwähnen
Da unsere Gesellschaft weiter altert und es immer we-
Sie mit keinem Wort. Sie würden auf diese Weise näm-
niger Nachwuchs gibt, werden die Finanzbelastungen im
lich das Äquivalenzprinzip verlassen.
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung um ein
Der Vorschlag der Grünen, diese Grenze auf 5 500 Euro Vielfaches höher werden. Genau deswegen wollen Sie
anzuheben, würde eine Erhöhung um rund 50 Prozent be- geschlossen an die Töpfe und sagen: Wir wollen die pri-
deuten. Natürlich hat der Kollege von der SPD vollkom- vate Krankenversicherung auflösen und am liebsten alle
men recht, wenn er sagt, dass das zunächst einmal die Personenkreise in die gesetzliche Krankenversicherung
breite Mittelschicht in diesem Lande trifft, nämlich die einbeziehen.
Angestellten, die Facharbeiter und die Selbstständigen.
All diese würden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
von den Grünen, durch die Erhöhung der Beitragsbe- GRÜNEN]: Das ist auch richtig, weil das ge-
messungsgrenze treffen. rechter ist!)

(Jens Spahn [CDU/CSU]: So sieht es aus!) Reden Sie einmal mit den Zuständigen von Kommunen,
Ländern und Bund. Wenn Sie alle erfassen wollen, be-
Damit träfen Sie die Leistungsträger unserer Gesell- deutet das jenseits der verfassungsrechtlichen Problema-
schaft. Sie fallen dummerweise auch noch auf Ihre ei- tik zunächst einmal Mehrausgaben. Die Bürgerversiche-
gene Rhetorik herein. Ansonsten würden Sie erkennen, rung wäre ein Belastungsprogramm für Kommunen,
dass nur 1,2 Millionen Privatversicherte davon betroffen Länder und Bund, nichts anderes,
wären.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ein Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Quatsch! Lesen Sie mal!) NEN]: Ganz im Gegenteil: Sie sparen weitere
In ganz überwiegendem Maße träfen Sie dagegen die ge- Kosten! Sie haben doch keine Ahnung! –
setzlich Krankenversicherten, die schon jetzt im System Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
sind. Rund 4,5 Millionen von diesen würden Sie durch GRÜNEN]: Lesen bildet!)
Ihr Modell der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze
da die Arbeitgeber neben dem höheren Arbeitgeberbei-
treffen.
trag auch noch entsprechende Gehälter zahlen müssten,
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: damit der Arbeitnehmeranteil getragen werden kann.
Der Beitragssatz sinkt ja insgesamt!) Das steckt dahinter. Das ist alles andere als beglückend.
15934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Stephan Stracke
(A) Die Linken sind ganz witzig. Sie wollen alle Versi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a und b auf: (C)
cherten in das gesetzliche System hineinnehmen
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was Montag, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
ist daran falsch?) weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
und die kostenfreie Mitversicherung auflösen. Da kann
eines Gesetzes zu einer rechtsstaatlichen und
ich nur sagen: Vielen herzlichen Dank.
bürgerrechtskonformen Ausgestaltung der
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme
haben das ganze Konzept noch nicht verstan-
den!) – Drucksache 17/7033 –
Überweisungsvorschlag:
Sie sollten auf Ihrem Parteitag deutlich machen, dass Sie Rechtsausschuss (f)
die Ehegatten und die Kinder als eigenständig Ver- Innenausschuss
sicherte begreifen und diese entsprechende Beiträge zah- Ausschuss für Kultur und Medien
len dürfen. b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Grüne und Linke wollen, dass unsere Gesundheitsver- Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiteren
sorgung unabhängig vom Aufenthaltsstatus gewährleis- Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
tet wird. Ich bin wirklich dafür, dass wir niemandem im gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Notfall medizinische Behandlung versagen; aber ich Änderung der Strafprozessordnung (Abschaf-
habe nicht vor, unsere hervorragende medizinische Ge- fung der nichtindividualisierten Funkzellen-
sundheitsversorgung auch denen zuteilwerden zu lassen, abfrage – § 100 g Absatz 2 Satz 2 StPO)
die uns ausnutzen, nämlich denen, die illegal hier sind.
– Drucksache 17/7335 –
(Hilde Mattheis [SPD]: Wer ist denn das? – Überweisungsvorschlag:
Mechthild Rawert [SPD]: Das ist unver- Rechtsausschuss (f)
schämt! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE Innenausschuss
LINKE]: Peinlich!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Dazu reichen Sie die Hand, indem Sie sagen: Versiche- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
rungsschutz besteht unabhängig vom Aufenthaltsstatus. derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
Das zeigt: Die Bürgerversicherung ist der falsche Weg. schlossen.
Er führt nicht dazu, dass die Gesundheitsversorgung in
(B) unserem Land besser wird. Deswegen werden wir da Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (D)
nicht mitmachen. Die christlich-liberale Koalition hat ner dem Kollegen Jerzy Montag von Bündnis 90/Die
die besseren Handlungsansätze. Grünen das Wort.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!)
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herzlichen Dank.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 19. Februar dieses Jahres haben die NPD und andere
Hilde Mattheis [SPD]: Damit kommen Sie neofaschistische Organisationen in Dresden eine De-
noch nicht einmal in Bayern durch!) monstration durchgeführt. Dagegen haben Bürgerinnen
und Bürger aus ganz Deutschland, viele Tausende von
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Menschen, demonstriert. Dort ist es auch zu Straftaten
gekommen. Deswegen haben die Ermittlungsbehörden
Ich schließe die Aussprache.
am 18. und 19. Februar an vier Orten in Dresden
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 896 000 Datensätze, 257 000 Rufnummern und 40 732 Be-
Drucksache 17/7197 an die in der Tagesordnung aufge- standsdaten, also Namen, Adressen und weitere persön-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- liche Daten von Bürgerinnen und Bürgern, erhoben, die
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung mit den Straftaten nicht das Geringste zu tun hatten. Am
so beschlossen. 19. Februar sind bei weiteren Funkzellenabfragen an
weiteren 14 Orten in der Innenstadt zusätzlich 138 000 Da-
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- tensätze von 65 645 Anschlussnummern dazugekommen.
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- Das alles ergibt zusammen circa 1 Million Datensätze.
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Praxisgebühr Betroffen sind Zehntausende von völlig unschuldigen
und andere Zuzahlungen abschaffen – Patientinnen und und unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern.
Patienten entlasten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7152, den An- Umfasst waren örtlich ganze Straßenzüge im dicht be-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/241 ab- siedelten Innenstadtgebiet. Die Funkzellen wurden zeit-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – lich zum Teil nur einige Minuten, zum Teil 13 Stunden
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- lang abgeschöpft. Die Daten wurden nicht nur für die
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- Aufklärung der Straftaten verwendet, für die sie erhoben
tionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der worden sind, sondern zum Teil auch bei Verstößen gegen
Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die das Versammlungsgesetz sowie bei einfacher Körperver-
Grünen. letzung, Beleidigung und Sachbeschädigung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15935
Jerzy Montag
(A) Dies alles wissen wir nicht deshalb, weil die Ermitt- Ich würde mich sehr freuen, wenn die Koalition in (C)
lungsbehörden in Dresden dies offengelegt hätten. Dies diesem Punkt nicht mauern, sondern mit uns diskutieren
alles wissen wir dank einer umfassenden, vollständigen und mit uns zusammen das Gesetz verändern würde.
und exzellenten Analyse des Sächsischen Datenschutz-
beauftragten, Herrn Schurig. Ich möchte Herrn Schurig Danke.
an dieser Stelle für mich und meine Fraktion einen aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gesprochenen Dank dafür sagen, dass er diese Arbeit ge-
leistet hat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Patrick Sensburg
von der CDU/CSU-Fraktion.
Er muss sich dafür in Sachsen und in Dresden anfeinden
lassen. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Wir werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
solche Anfeindungen des Datenschutzbeauftragten wie
überhaupt Anfeindungen des Datenschutzes in Deutsch- Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
land nicht hinnehmen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass die Debatte nach dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hin und Her – findet sie statt, oder findet sie nicht statt? –
sowie bei Abgeordneten der SPD) heute doch noch zustande gekommen ist, weil das ein
Nun war diese Maßnahme richterlich angeordnet, guter Anlass ist, über den § 100 g StPO zu diskutieren.
könnte man sagen. Aber ich frage an dieser Stelle: Wie Ich freue mich auch über den Gesetzentwurf von
war sie angeordnet? Bei den Anordnungen fehlte jegli- Bündnis 90/Die Grünen. Deswegen habe ich eben ge-
che substanzielle Auseinandersetzung mit den Punkten, klatscht. Grund war insbesondere, dass Sie gesagt haben,
die nach den gesetzlichen Regelungen notwendig sind: dass das Abfragen der Funkzellen selber nicht infrage
Eingrenzungen nach Ort und Zeitraum der Maßnahme, steht. Ich denke, das sollte Konsens sein. Das ist ein pro-
Stellungnahme zum subsidiären Charakter der Maß- bates Mittel, an dem wir nicht rütteln sollten. Über das
nahme, zum Ausmaß Drittbetroffener und zu den Grund- Wie kann man reden; das machen wir heute. Deswegen
rechtseingriffen. bin ich für Ihren Gesetzentwurf dankbar.
Das Ganze war von der Staatsanwaltschaft vorgefer- Bevor ich auf den Gesetzentwurf zu sprechen komme,
tigt und musste vom Ermittlungsrichter nur noch unter- lassen Sie mich bitte zwei Sätze zum Verhältnis des
schrieben werden. In Dresden besteht der böse Schein, Staates zu seinen Bürgern sagen – am Mittwoch, als es
dass es überhaupt keine ermittlungsrichterliche Prüfung um die Quellen-TKÜ ging, haben wir bereits mehrere
(B) gegeben hat; denn in Dresden gibt es überhaupt keine Stunden intensiv darüber debattiert, und darüber reden (D)
hauptamtlichen Ermittlungsrichter. Nach den Geschäfts- wir auch heute im Zusammenhang mit der Frage der
verteilungsplänen in Dresden übernehmen diese schwie- Funkzellenüberwachung –: Ich habe manchmal den Ein-
rigen grundrechtsrelevanten Aufgaben ganz normale druck, dass von der einen oder anderen Seite versucht
Richter, die zu ihrem Deputat noch ein Zehntel ermitt- wird, das Verhältnis „Staat – Bürger – Kriminelle“ auf
lungsrichterliche Tätigkeit bekommen. Dass sie nicht den Kopf zu stellen, als sei der Staat derjenige, den es zu
mehr können als zu unterschreiben, was man ihnen vor- überwachen gilt, den es ständig zu kontrollieren gilt. Es
legt, ist klar. steht der Vorwurf im Raum, der Staat würde alle seine
Bürger überwachen, nach dem Motto: Big brother is
Diese Fehler in Dresden sind nicht nur Fehler bei ei- watching you. Es wird der Eindruck vermittelt, dass die
ner einzelnen Maßnahme, sondern sie sind auch Fehler Maßnahmen, die der Staat durchführt, per se wahr-
des von uns hier im Bundestag zu vertretenden Bundes- scheinlich rechtswidrig sind. Weil dieser Vorwurf im
rechts. Deswegen müssen wir uns im Bundestag darüber Raum steht, muss man dreimal so genau hinschauen.
unterhalten, ob wir den § 100 g StPO, also die Rechts-
grundlage für die Funkzellenabfragen, nicht reformieren (Burkhard Lischka [SPD]: Das ist jetzt nicht
sollten. Wir Grüne haben dazu einen Gesetzentwurf vor- der Kern! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
gelegt, der die Funkzellenabfrage nicht abschaffen will, LINKE]: Staatstrojaner! Die Diskussion hatten
wie es die Linken fordern – ein absurder Vorschlag, wie wir erst am Mittwoch!)
ich finde –,
Ich glaube, es ist umgekehrt. Das hat man auf euro-
(Beifall des Abg. Dr. Patrick Sensburg [CDU/ päischer Ebene erkannt, Frau Kollegin. Da diskutieren
CSU]) wir über einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts.
sondern der eine Einhegung, eine rechtsstaatliche Ein-
grenzung, dieser Maßnahme vorsieht. Mir fehlt hier und (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Schöne Worte!)
heute die Zeit, Ihnen die einzelnen Punkte dazu vor- Diese Dinge hängen zusammen: Freiheit und Sicherheit
zutragen. Dafür werden wir aber im Rechtsausschuss gibt es nicht, wenn ich das Recht nicht auch durchsetze,
Gelegenheit haben. Ich finde, wir haben vernünftige, ra- wenn der Staat seine Bürger nicht in Schutz nimmt.
tionale, angemessene Vorschläge zur Änderung des Bun- Sonst haben wir Anarchie.
desrechts unterbreitet.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um diesen Punkt geht es nicht! Es geht um
NEN]: Wie wahr!) Kriminalisierung!)
15936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) Sonst haben wir keine Kontrolle. Das ginge zulasten der nerhalb eines Tages konnte damals durch eine Funk- (C)
Schwächeren, weil sie dann nicht mehr den Schutz des zellenauswertung der Täter ermittelt werden. Der Mör-
Staates genießen würden. Es ist wichtig, dass wir Ermitt- der konnte überführt werden. Mord ist ein schweres
lungsmaßnahmen haben, um Straftäter zu überführen, Delikt. Frau Kollegin Enkelmann, Sie schütteln den
die Straftaten zulasten der Bürger vornehmen. Kopf. Das war so. Sie können das in einem Beitrag von
Frau Rauschenberger in der Zeitschrift Kriminalistik
(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy nachlesen. Darin wird dieser Fall wunderbar dargelegt.
[SPD]: Was ist denn mit dem konkreten
Fall? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zu Dres- das rechtfertigt doch nicht die Abfrage von
den!) Tausenden Menschen in Dresden!)
Zum konkreten Fall, Herr Kollege Montag – eigent- – Daraus schließe ich, dass Sie der Meinung sind, dass
lich wollte ich nicht detailliert darauf eingehen, weil wir § 100 g StPO grundsätzlich ein probates Mittel ist. Auch
im Juli ausgiebig über dieses Verfahren diskutiert haben, aus Ihrer Sicht sollte die Funkzellenauswertung stattfin-
aber ich habe ja ein bisschen mehr Zeit –: Es hat viele den. Sonst würden Sie ja darauf abstellen, dass das nicht
Straftaten gegeben, bis hin zu einem Vorgehen gegen ei- nur bei Tausenden Menschen infrage zu stellen ist, son-
nen Polizeibeamten mit einer Eisenstange. Daraus hätten dern schon bei Einzelnen. Wenn das Konsens ist, dann
lebensgefährliche Verletzungen resultieren können, bis können wir sicherlich über vieles reden; denn die Funk-
hin zum Tod. In Ihrer Rede damals haben Sie gesagt, zellenauswertung ist ein pragmatisches und probates
dass wir bei solchen Straftaten keine Toleranz üben soll- Mittel.
ten.
Es geht dabei um Straftaten von erheblicher Bedeu-
(Sebastian Edathy [SPD]: Was hat das mit den tung. Es wird immer wieder kritisiert, das Merkmal
Funkzellen zu tun?) „Straftat von erheblicher Bedeutung“ sei nicht hinrei-
Genau darum geht es: Wie können wir solche Straftäter chend definiert. Lesen Sie einmal die Kommentierungen
verfolgen? Wie können wir auswerten, wer an diesen in den einschlägigen StPO-Kommentaren nach. Dort
Straftaten beteiligt war? wird eindeutig auf § 100 a Abs. 2 hingewiesen, in dem
es einen Straftatenkatalog gibt. Ergänzend wird das Wort
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „insbesondere“ verwendet, was für Juristen bedeutet:
NEN]: Haben Sie schon etwas von der Ver- Straftaten gleicher Qualität werden einbezogen.
hältnismäßigkeit der Mittel gehört?)
(Burkhard Lischka [SPD]: Es ist schon
Auf Zwischenrufe hin habe ich damals gesagt: Was ist schwer, zwölf Minuten zu füllen! – Jerzy
(B) eigentlich mit denen, die an solchen Demonstrationen Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
teilnehmen? Könnten diese Leute nicht auch einmal eine Sachbeschädigung! Körperverletzung! Belei-
Strafanzeige erstatten, wenn sie sehen, dass gegen Poli- digung!)
zeibeamte, gegen Staatsorgane vorgegangen wird? Ich
frage mich: Warum gibt es nicht auch einmal Anzeigen Von daher haben wir bezüglich der erheblichen Strafta-
aus der Demonstration heraus? ten eine klare Ausweisung im Gesetz, der man nachkom-
men sollte.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die Polizei wird ja wohl feststellen, Plus – jetzt komme ich gleich auf die Verhältnismä-
wenn sie angegriffen wird! Die zeigen das ßigkeit zu sprechen –: Es muss ein räumlicher und zeitli-
schon selber an!) cher Zusammenhang bestehen.
Wenn es solche Anzeigen nicht gibt, dann muss der Staat (Sebastian Edathy [SPD]: Ich finde, die Rede
Möglichkeiten haben, um die Sicherheit der Demonstrie- ist unverhältnismäßig zum Thema!)
renden, um die Sicherheit der Bürger sicherstellen zu Es findet also keine Funkzellenauswertung ins Blaue hi-
können. Das halte ich für wichtig. Deswegen gibt es pro- nein statt, in Räume, in denen keine Straftaten stattfin-
bate Mittel dafür. den. Es muss tatsächliche Anhaltspunkte für täterbezo-
(Burkhard Lischka [SPD]: Das kann den gene Kommunikation geben. Auch da gilt: Keine
Dresdner Vorgang noch nicht erklären!) Abfrage ins Blaue hinein, keine Abfrage, um nur einmal
zu schauen, ob man möglicherweise Straftaten findet.
Herr Kollege, zur Verhältnismäßigkeit werde ich gleich
noch etwas sagen. Keine Sorge. All das wird von einem Richter bestätigt. Sie haben
gerade auf Dresden bezogen gesagt, es gebe keine Er-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mittlungsrichter. Das haben Richter genehmigt, die ge-
Das ist ja der Hauptpunkt der Debatte!) nau die gleiche Ausbildung, genau die gleiche Qualifika-
Die Funkzellenüberwachung ist aus meiner Sicht ein tion, zwei Staatsexamen haben. Was möchten Sie noch?
probates Mittel. Das hat der Kollege Montag, wenn ich (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
ihn richtig verstanden habe, eben schon gesagt. Sie stützt GRÜNEN]: Praxis vielleicht! – Jerzy Montag
sich auf § 100 g StPO. Dass es sich dabei um ein proba- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst mal
tes Mittel handelt, hat sich auch in verschiedenen Ver- möchte ich, dass es welche gibt!)
fahren abseits von Demonstrationen gezeigt. Ich weiß
nicht, ob Sie das Verfahren aus dem Jahr 2005 – der Fall Noch ein drittes Staatsexamen für den Ermittlungsrich-
Moshammer – kennen. Innerhalb weniger Stunden, in- ter? Die entsprechenden Richter in Dresden haben genau
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15937
Dr. Patrick Sensburg
(A) die gleiche Qualifikation. Es hat eine Prüfung der Ver- Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): (C)
hältnismäßigkeit stattgefunden. Sehr gerne.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Falsch! Kein Wort, Herr Kollege Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sensburg!) Herr Kollege Sensburg, unseren Gesetzentwurf gilt es
nicht nur zu lesen – das haben Sie geschafft –, –
Diese hat auch stattzufinden.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
NEN]: Hat aber nicht stattgefunden! – Danke.
Sebastian Edathy [SPD]: Sogar die Staats-
regierung räumt ein, dass das nicht der Fall
war!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
– sondern auch zu verstehen. Weil Sie ihn offensicht-
So steht es in jedem Kommentar; Sie lesen diese an- lich nicht verstanden haben – ich befürchte, nicht verste-
scheinend nicht. hen wollten –, will ich es Ihnen an dieser Stelle noch ein-
Sie wollen eine Gesetzesänderung. Sie diskutieren mal erklären. § 477 regelt die Übertragung gewonnener
nicht darüber, ob die Einzelmaßnahme in Dresden recht- Ermittlungserkenntnisse aus einem bestimmten Verfah-
mäßig oder rechtswidrig war, Sie wollen einen Paragra- ren in ein anderes Verfahren. Das ist zulässig und soll
fen ändern, nach unserem Gesetzentwurf zulässig bleiben.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Die Sache ist die: Wenn im Ausgangsverfahren eine
GRÜNEN]: Damit sowas nicht nochmal pas- ermittlungsrichterliche Anordnung notwendig ist, finden
sieren kann!) wir, sollte für die Übertragung der Erkenntnisse in ein
anderes Ermittlungsverfahren auch eine ermittlungsrich-
obwohl jedem klar ist, dass bei § 100 a Strafprozessord- terliche Anordnung nötig sein. Bisher ist es so, dass die
nung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen Polizei diese Übertragung der Erkenntnisse von einem in
ist. ein anderes Verfahren alleine vornehmen kann. In Dres-
(Burkhard Lischka [SPD]: Nur nicht in den führte das dazu, dass man aufgrund einer ermitt-
Sachsen!) lungsrichterlichen Maßnahme diese Funkzellendaten in
einem Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs
Deswegen erachte ich Ihren Gesetzentwurf – das muss abgefragt hat, und dann hat die Polizei sie ohne gerichtli-
ich ganz ehrlich sagen – ein bisschen als einen Scheinge- che Überprüfung in ein Verfahren wegen Verstoßes ge-
setzentwurf, als PR. Denn wenn man sich einmal an- gen das Versammlungsgesetz übertragen.
(B) schaut, was wir bisher geregelt haben und was Sie möch- (D)
ten, dann sieht man, dass die bisherige Regelung völlig Wir meinen: Wenn die Daten ursprünglich einer rich-
ausreichend ist. Sie möchten einen Verweis auf § 477 terlichen Überprüfung bedürfen, dann soll auch die
Abs. 2 Satz 2; Sie wollen also keine Zufallsfunde mehr Übertragung einer richterlichen Überprüfung bedürfen.
ermöglichen. Das steht explizit in Ihrem Gesetzentwurf Nicht mehr und nicht weniger bedeutet der von Ihnen zi-
– das lese ich Ihnen einmal vor –: tierte Satz. Es wäre mir ganz recht, wenn Sie nicht nur
lesen, sondern mitdenken würden, lieber Kollege.
Satz 1 wird wie folgt gefasst:
§ 100 a Absatz 3 und § 100 b Absatz 1 bis 4 gelten, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
auch in Fällen des § 477 Absatz 2 Satz 2 und 3, ent- Bitte schön.
sprechend.
So haben Sie es formuliert. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Kollege Montag, ich habe bei Ih-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ren Ausführungen zwar noch keine Frage gehört,
Herr Kollege Sensburg, lassen Sie die Frage des Kol- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
legen Montag zu? Das ist auch nicht nötig! – Josef Philip
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): war eine Zwischenbemerkung!)
Ich lasse die Frage des Kollegen Montag natürlich zu. aber ich habe einen Hinweis gehört. Ich habe nicht nur
Bei zwölf Minuten Redezeit wird die Zeit ja auch den Gesetzestext gelesen, den Sie vorschlagen, sondern
manchmal etwas knapp. auch die Begründung, die Sie anfügen.
(Sebastian Edathy [SPD]: Das geht uns aber (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
anders! Das kommt uns sehr lange vor!) NEN]: Da steht genau das drin!)
– Das liegt jetzt nicht an mir, sondern am Kollegen Es sind genau die Fälle, in denen zufällig Erkenntnisse
Montag. zum Beispiel wegen Verstoß gegen das Versammlungs-
gebot, Landfriedensbruch entdeckt werden – man könnte
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich aber auch viele andere Fälle denken –, in denen Sie
Jetzt bin ich dank der Verfügung des Herrn Präsiden- eine höhere Hürde fordern, dass Ermittlungsmaßnahmen
ten dran. stattfinden können. Dann sage ich: Wenn solche Maß-
15938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) nahmen möglich sind, wenn durch eine Funkzellenab- klar geworden, welches unsere Position zum Thema (C)
frage Erkenntnisse gewonnen werden, müssen die auch Funkzellenabfrage ist.
zeitnah und schnell von der Polizei genutzt werden. Ich
Danke schön.
glaube, Sie wollen wieder eine höhere Hürde einbauen
– es ist übrigens die erste Hürde, die ich festgestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
habe; zu den anderen komme ich gleich noch –, die an
dieser Stelle nicht angezeigt ist. Aber wir werden im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ausschuss darüber diskutieren. Von daher bin ich ge- Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von
spannt, wie die Diskussion weitergeht. der SPD-Fraktion.
Der nächste Punkt, den Sie ansprechen, ist die Be- (Beifall bei der SPD)
gründungspflicht der Anordnung. Es mag sein, dass Sie
Probleme mit der konkreten Anordnung in Dresden ha-
Sebastian Edathy (SPD):
ben. Wenn Sie aber die Anforderungen sehen, die – in-
klusive der Verhältnismäßigkeitsprüfung; das können Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Sie in aller Literatur nachlesen, auch in der Gesetzesbe- Herr Kollege Sensburg, es wäre sicherlich ganz hilfreich
gründung – an eine Begründung gestellt werden, dann gewesen, wenn Sie seitens der Union deutlich gemacht
sehen Sie, dass diese einzelnen Schritte stattfinden müs- hätten, dass wir hier nicht im luftleeren Raum diskutie-
sen. Sie meinen, wir müssen ein Gesetz schaffen, weil ren, sondern dass es einen konkreten Anlass gibt. Der hat
Sie der Ansicht sind, damals sei etwas nicht richtig ge- etwas mit den problematischen Vorgängen von Dresden
laufen. Das kann eigentlich nicht der Ansatz sein, zu tun.
Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU)
glaube, dass man auch im Rahmen dieser Debatte sagen
aufgrund dessen der Gesetzgeber ein Gesetz macht. muss, dass die vielen Tausend Menschen, die dort regel-
mäßig mit demokratischer Gesinnung friedlich auf die
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Straße gehen, um die Straßen und Plätze eben nicht den
NEN]: Für Sie ist es richtig gelaufen?) Neonazis zu überlassen, unsere Ermutigung und Unter-
stützung bekommen sollten
Das Dritte ist die Übersicht, dass Sie alle Funkzellen-
abfragen in einer Übersicht dokumentiert haben wollen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Das ist die PKS. Das ist die Polizeiliche Kriminalstatis- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
tik der Länder und des Bundes. Da werden solche Dinge
dokumentiert. und nicht einem Generalverdacht unterworfen werden
dürfen.
(B) (Sebastian Edathy [SPD]: Das steht doch (D)
Ich selber war im Februar in Dresden dabei. Wenn
bisher nicht drin!) man sich die Vorschriften anschaut, stellt man fest, es
Wenn Sie ständig ergänzende Dokumentationen fordern, gibt rechtlichen Präzisierungsbedarf von § 100 g der
wird das doch nicht besser, nicht transparenter. Lassen Strafprozessordnung. Wir müssen zur Kenntnis nehmen,
Sie uns diese Maßnahmen in der PKS, in der Polizeili- dass die Auslegung dieses Paragrafen, wie sie in Dres-
chen Kriminalstatistik, dokumentieren. Da sind sie rich- den praktiziert worden ist, offenkundig weder dem Text
tig aufgeführt. noch dem Geist der entsprechenden Norm entspricht. Es
ist ganz klar rechtswidrig gehandelt worden.
Wenn man sich das alles einmal anguckt, zeigt Ihr
Gesetzentwurf eigentlich, dass Sie aufgrund der Ereig- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
nisse in Dresden jetzt Aktionismus zeigen wollen, sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gerieren wollen als diejenigen, die etwas ändern, die et- Man kann nicht von Zehntausenden Bürgerinnen und
was verändern. Bürgern Verbindungsdaten speichern, um in zweistelli-
(Sebastian Edathy [SPD]: Was ist mit dem Ge- ger Anzahl Verfahren einzuleiten. Es sind ja sogar Ver-
setzentwurf von Sachsen selber?) fahren – entgegen der Bestimmung des Paragrafen in der
Strafprozessordnung – wegen Verstößen gegen das Ver-
Das ist meiner Meinung nach nicht der richtige Ansatz. sammlungsrecht, was keine besonders schwere Straftat
Lassen Sie uns in den kommenden Sitzungen darüber darstellt, eingeleitet worden.
diskutieren, ob etwas Gehaltvolles drin ist. Dann bin ich Wenn wir aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass
gern bereit, das eine oder andere vertieft zu diskutieren, dort falsch gehandelt worden ist, müssen wir uns auch
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE die Frage stellen: Hat das nur etwas mit einer falschen
GRÜNEN]: Nicht nur diskutieren! – Jerzy Umsetzung des Paragrafen zu tun, oder ist dieser Para-
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie graf verbesserungswürdig und bedarf er der Präzisie-
wissen schon, dass die CDU in Sachsen selber rung?
Änderungen haben will?) Ich will hier gern Folgendes erwähnen, weil ich finde,
vielleicht sogar zu übernehmen. Aber die Punkte, die ich man muss schon zur Kenntnis nehmen, was für interes-
angesprochen habe, sehe ich nicht als gehaltvoll an. sante Bundesländer wir haben: Als ich im Februar in
Dresden war, habe ich im Vorfeld den sächsischen In-
Ich danke Ihnen für das Zuhören. Ich weiß nicht, ob nenminister gebeten, mir zu ermöglichen, mir als Abge-
Sie noch eine Nachfrage haben. Aber ich glaube, es ist ordneter des Deutschen Bundestages von der Leitung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15939
Sebastian Edathy
(A) des Polizeieinsatzes einen persönlichen Eindruck zu ma- Der hat auf jeden Fall die Verhältnismäßigkeit der Mittel (C)
chen. Das ist fernmündlich abschlägig beschieden wor- völlig aus den Augen verloren.
den. Ich habe dann um eine schriftliche Begründung ge-
beten. Das hat drei Monate gedauert. Das Interessante an diesem Thema ist Folgendes – ich
weiß nicht, ob Sie, Herr Sensburg, das nicht zur Kennt-
(Heiterkeit des Abg. Jerzy Montag [BÜND- nis genommen haben –: Uns liegen nicht nur ein Gesetz-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) entwurf der Grünen und ein Gesetzentwurf der Links-
Auf mehrfache Nachfragen meines Büros antwortete mir fraktion vor. Selbst die sächsische Landesregierung
das Staatsministerium des Innern des Freistaates Sach- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sen: NEN]: Ja, CDU!)
Auf Ihre Anfrage möchte ich Ihnen mitteilen, dass
grundsätzlich Besuchen von Mandatsträgern in den hat über den Bundesrat einen Gesetzesantrag zur Präzi-
Führungsstäben der sächsischen Polizei während sierung des § 100 g der Strafprozessordnung vorgelegt,
bestehender Einsatzlagen nicht zugestimmt wird. ich will nicht sagen, aus schlechtem Gewissen – obwohl
Vor dem Hintergrund, dass es während des Einsat- es relativ naheliegend wäre – vielleicht aber aus Er-
zes für die im Führungsstab beschäftigten Bediens- kenntnis. Man muss sich angesichts des Gebahrens in
teten und insbesondere auch für den Polizeiführer Dresden an den alten Satz von Georg Christoph
des Einsatzes Lichtenberg erinnern: Wenn ein Affe in ein Buch schaut,
kann in der Regel kein Philosoph zurückschauen.
– jetzt kommt es –
(Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem
möglichst wenig Störungen und damit einherge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hende Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit ge-
ben soll, Es gibt, wie gesagt, verschiedene Initiativen, von der
Linkspartei bis hin zu Schwarz-Gelb in Sachsen. Ich
(Burkhard Lischka [SPD]: Für Sachsen sind
halte es für zwingend erforderlich, dass wir bei den an-
Abgeordnete Störer! – Dr. Dagmar Enkelmann
stehenden Beratungen im Rechtsausschuss sehr intensiv
[DIE LINKE]: Was? Abgeordnete stören?)
über dieses Thema reden und dazu auch eine öffentliche
haben wir uns entschlossen, entsprechende Be- Expertenanhörung durchführen.
suchsanfragen abschlägig zu beantworten.
Ich will hierzu nur einige kurze Bemerkungen machen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Meine Fraktion, die SPD, ist nicht der Auffassung der
GRÜNEN]: Unerhört!) Linkspartei, dass man auf dieses Instrument gänzlich ver-
(B) (D)
Also: Die gewählten Volksvertreter stören bei der Poli- zichten kann. Im Gesetzentwurf des Bündnisses 90/Die
zeiarbeit. Das ist eine sehr spezifische sächsische Hal- Grünen wird zwar, wie ich finde, zu Recht erkannt, dass
tung. Ich halte sie für ausgesprochen bedenklich. die Bestimmung „besonders schwere Straftaten“ – das
gilt insbesondere für § 100 a Strafprozessordnung – rela-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- tiv unkonkret ist und in der Tat der Substantiierung be-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- darf. Aber der Gesetzentwurf der Grünen hat auch
NEN – Manuel Höferlin [FDP]: Ich mache die Schwächen. Er hätte zum Beispiel zur Folge, dass eine
Anfrage mal in Rheinland-Pfalz! Mal sehen, Funkzellenabfrage selbst bei besonders schweren Fällen
was ich dann geantwortet bekomme! – des Landfriedensbruchs nicht mehr möglich wäre;
Burkhard Lischka [SPD]: Das ist ja Monar- § 125 a des Strafgesetzbuches wäre dann nicht mehr er-
chie!) fasst.
Ich habe im Nachgang zu meinem Besuch in Dresden (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den sächsischen Innenminister gebeten, mir mitzuteilen, NEN]: Telefone abzuhören ist auch nicht er-
ob auch meine Verbindungsdaten für den Zeitraum, in laubt!)
dem ich mich dort aufgehalten habe, gespeichert worden
sind. Diese Frage hat er nicht beantwortet, aber gesagt: Darüber kann man aber sicherlich reden. Der Gesetzes-
antrag des Freistaates Sachsen zielt im Wesentlichen da-
Wie Ihnen bekannt ist, sind neben dem friedlichen
rauf ab, zu einer Präzisierung des Gesetzes zu kommen.
Protest gegen die rechte Demonstration an vielen
Mir scheint auf jeden Fall Beratungsbedarf gegeben. Es
Orten der Stadt erhebliche Straftaten begangen wor-
den. Ein demokratischer Rechtsstaat ist in seinem besteht die Notwendigkeit, sich diesem Thema intensiv
Bestand darauf angewiesen, dass die Strafverfol- zu widmen und sich darum zu kümmern, dass sich so et-
gungsbehörden solche Straftaten aufklären können. was wie in Dresden nicht wiederholt.

Wer es für den Bestand des Rechtsstaates für existenziell Ich möchte nicht, dass wir im Bundestag zu der Auf-
hält, eine massenhafte Funkzellenabfrage durchzufüh- fassung kommen, die der Vorsitzende des Rechtsaus-
ren, um einer Handvoll Straftäter auf die Spur zu kom- schusses im Sommer im heute-journal vertreten hat.
men, der hat, glaube ich, ein falsches Rechtsstaatsver- Herr Kollege Kauder – leider ist er heute nicht da – hat
ständnis. wörtlich gesagt:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Es ist Mode geworden, die Freiheitsrechte des Bür-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gers in den Vordergrund zu stellen.
15940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

Sebastian Edathy
(A) (Burkhard Lischka [SPD]: Das ist ja wieder trag im Bundesrat auf. Vor diesem Hintergrund müssen (C)
Kauderwelsch! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE wir überlegen, ob wir § 477 Abs. 2 StPO ändern müssen.
LINKE]: Schön wäre es!)
Ärgerlich ist – das muss an dieser Stelle auch gesagt
– „Kauderwelsch“ habe ich nicht gesagt, Herr Kollege werden –, dass dieses Gesetzgebungsverfahren erst vier
Lischka. – Das ist nicht Mode. Das ist demokratischer Jahre alt ist; denn 2007 ist das alles hier beraten worden.
Rechtsstaat. Wenn man sich die Protokolle des Rechtsausschusses
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem anschaut, dann sieht man, dass genau darauf, dass wir
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dieses Problem bekommen werden, hingewiesen worden
geordneten der FDP – Manuel Höferlin [FDP]: ist. Es ist schade, dass man damals – wir selbst waren in
Da hat er recht! Das machen wir ja auch! Wir dieser Zeit in der Opposition – nicht auf die Opposition
sind halt modisch! – Zuruf von der SPD: Ein gehört und dieses Problem mit aufgegriffen hat, sondern
Grundsatz!) dass man sozusagen erst die negativen Erfahrungen in
Dresden machen musste, um jetzt zu einer Beratung die-
Wir müssen feststellen, dass wir es offenkundig mit ser Vorschrift zu kommen. Ich halte es für klug, die Be-
einer Norm der Strafprozessordnung zu tun haben, die ratungen, die jetzt im Bundesrat aufgrund des sächsi-
zumindest missbrauchsanfällig ist, unabhängig davon, schen Antrags stattfinden, abzuwarten. Wir werden dann
ob in Dresden gegen geltendes Recht verstoßen worden im Rechtsausschuss den Vorschlag der Grünen beraten.
ist oder nicht; selbst bei rechtskonformer Umsetzung
dieser Norm ist sie missbrauchsanfällig. Deshalb sollten Ich glaube, der Aspekt, den auch der Kollege
wir uns die nötige Zeit nehmen, intensiv zu beraten. Sensburg genannt hat, ist wichtig: Auf der einen Seite
geht es immer darum, Straftaten aufzuklären – Landfrie-
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. densbruch ist eine Straftat, und wenn ich mich in der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nähe des Ortes aufhalte, an dem eine solche Straftat
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE stattfindet, dann muss ich mir darüber im Klaren sein,
GRÜNEN) dass ich in ein Ermittlungsraster hineingeraten kann,
weil es zwingend ist, Straftaten wie Landfriedensbruch
aufzuklären –, auf der anderen Seite muss aber genauso
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sichergestellt sein, dass die Daten, die bei einer solchen
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Ahrendt für Ermittlung in Massen anfallen, nicht einfach weiterver-
die FDP-Fraktion. wendet und quasi im Rahmen der Ermittlungstätigkeit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für eine Art Rasterfahndung genutzt werden, bei der ge-
der CDU/CSU) fragt wird, ob jemand noch eine andere Straftat began-
(B) gen hat, die man damit gleichzeitig erfassen kann. Das (D)
darf nicht passieren.
Christian Ahrendt (FDP):
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Der Kollege Vor diesem Hintergrund ist uns zu empfehlen, die Be-
Edathy hat es mir leicht gemacht, mit meiner kurzen Re- ratungen im Bundesrat abzuwarten, den Antrag sorgfäl-
dezeit auszukommen, und zwar aus dem einfachen tig zu beraten und dann zu entscheiden, ob wir hier zu
Grunde, weil Sie sehr zutreffend darauf hingewiesen ha- Änderungen der Strafprozessordnung kommen müssen
ben, dass im Bundesrat bereits seit Beginn September oder nicht.
ein Antrag der christlich-liberalen Koalition aus Sachsen
vorliegt, die sich mit dem gleichen Thema, das auch Ge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
genstand des Entwurfs der Grünen hier ist, beschäftigt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hat. Insofern verfolgen wir hier ein wichtiges Anliegen.
Schauen Sie sich an – die Kollegen haben es schon Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
beschrieben –, was in Dresden passiert ist: Hunderttau-
sende gerieten durch die Abfrage einer Funkzelle in die Die Rede des Kollegen Jan Korte von der Fraktion
Überwachung der Polizei, ohne eine Straftat begangen Die Linke ist zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen
zu haben, weil andere in dieser Funkzelle an Straftaten hat jetzt als letzter Redner zu diesem Tagesordnungs-
beteiligt waren und sie sozusagen ein Beifang bei dieser punkt und vermutlich auch an diesem Tag der Kollege
Ermittlungsmöglichkeit waren. Manuel Höferlin von der FDP das Wort.

Das Problem hinsichtlich dieses Beifangs ist nicht die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vorschrift des § 100 g Strafprozessordnung, sondern
dass wir über die Weiterverwendung dieser Verkehrsda- Manuel Höferlin (FDP):
ten faktisch eine Rasterfahndung zulassen; denn da-
durch, dass diese Daten auch in anderen Ermittlungsver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
fahren genutzt werden können, indem sie weitergereicht Herren! Liebe Kollegen! Die Überarbeitung des § 100 g
werden können, kommt es zu einem wesentlich intensi- der Strafprozessordnung habe ich in einer Aktuellen
veren Eingriff auch schon bei Straftaten, bei denen die Stunde selbst auch schon in Betracht gezogen. Darum
Erfassung von Verkehrsdaten selbst gar nicht zugelassen freue ich mich, heute mit Ihnen darüber reden zu kön-
ist. Das ist die Schwierigkeit. Dies greifen die Grünen in nen.
ihrem hier vorliegenden Entwurf auf, das greifen aber
insbesondere auch die CDU und die FDP in ihrem An- 1) Anlage 3
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15941
Manuel Höferlin
(A) Durch die genaue Lektüre Ihrer Anträge zeigt sich, solche weitgehenden Funkzellenabfragen so gestalten, (C)
dass Sie die Kernprobleme, die wir damals am 1. Juli dass solche großen Mengen an Daten nicht so lange ge-
2011 hier besprochen haben, damit nicht wirklich ganz speichert, sondern schneller gelöscht werden?
lösen können. Der Gesetzentwurf ist teilweise nicht so,
dass damit das Kernproblem, das der Kollege Ahrendt (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gerade eben angesprochen hat, gelöst werden kann. Die NEN]: Genau das machen wir!)
Problematik in Bezug auf § 100 g StPO lässt sich mit – Das machen Sie in diesem Gesetzentwurf eben nicht
diesem Vorschlag nicht richtig bewältigen. Das geht da- zureichend.
ran vorbei.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Um es noch einmal genau zu sagen: Beim konkreten GRÜNEN]: Das hat der Kollege Ahrendt aber
Fall in Dresden wurde ein IMSI-Catcher eingesetzt. Es gesagt!)
ging um fünf Linksextremisten, die wohl eine kriminelle
Vereinigung gründen wollten. Die Ermittlungen gingen Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion
in diese Richtung. – um auch darauf in den letzten Sekunden meiner Rede-
zeit einzugehen – wollen im Prinzip die Massenfunkzel-
Danach wurde eine großangelegte Funkzellenabfrage lenabfrage komplett abschaffen, so wie Sie das in dem
durchgeführt. Dass diese Maßnahme sehr weitgehend ist Gesetzentwurf formulieren. Ich glaube, dass diese Maß-
und tief in die Rechte eingreift, weil mit ihr sehr viele nahme völlig ungeeignet und auch scheinheilig ist. Es ist
Daten eingesammelt werden, ist völlig unstrittig. Ob das völlig unstrittig, dass eine Maßnahme wie diese in engen
jetzt rechtmäßig ist oder nicht, ist letztlich die Kerndis- Schranken nötig ist. Deswegen sind wir dafür, dass wir
kussion. Wir glauben, dass der hierzu erfolgte Richterbe- uns diese Sache ganz genau ansehen. Wir brauchen ei-
schluss rechtmäßig war. nen § 100 g StPO, der den Anforderungen an Daten-
schutz und Datensparsamkeit gerecht wird, wir brauchen
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE keine schlechten Versuche, die an dem Thema vorbeige-
GRÜNEN]: Wohl kaum!) hen, und schon gar nicht eine Sabotage des Rechtsstaa-
Aber nachher stellen sich folgende Fragen: Was passiert tes, bei der ihm ein solches Mittel ganz genommen wird.
mit den Daten? Wofür werden sie weiter genutzt? Die Vielen herzlichen Dank.
danach angeordneten Einzelmaßnahmen wurden – das
ist das Kernproblem – erst dann problematisch, als sie in (Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler
Bezug auf einfache Verfahren, wie zum Beispiel beim [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht immer
Verstoß gegen das Versammlungsrecht, herangezogen nur gucken, auch mal machen!)
wurden.
(B) (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Sensburg, Herr Ahrendt, Sie haben schon zu
Recht gesagt, dass es dazu einen Antrag der christlich-li- Ich schließe die Aussprache.
beralen Koalition aus Sachsen gibt. Ich glaube, dass die- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
ser Antrag der Sache besser gerecht wird. Wir werden den Drucksachen 17/7033 und 17/7335 an die in der Ta-
uns das im Ausschuss genau ansehen. Der Punkt mit der gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Funkzellenabfrage wurde zu Recht aufgegriffen. Aber Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
so, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf formuliert haben, sind die Überweisungen so beschlossen.
löst er das Problem mit § 100 g StPO nicht.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
Es geht darum, dass hier massenhaft Daten vorrätig ordnung.
gehalten wurden. In Baden-Württemberg und Rhein-
land-Pfalz, liebe Kollegen von den Grünen, zeigen Sie Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
sich in den Koalitionsverträgen mit Ihrem Koalitions- destages auf Mittwoch, den 26. Oktober 2011, 13 Uhr,
partner, der SPD, gegenüber der Vorratsdatenspeiche- ein.
rung inzwischen sehr aufgeschlossen. Daher muss man Die Sitzung ist geschlossen.
schon einmal überlegen, ob man hier beim Sammeln von
Daten sparsamer sein muss. Die Frage ist: Wie kann man (Schluss: 14.02 Uhr)

Berichtigung
133. Sitzung, Seite 15819 D: Der Name Joachim Poß
ist durch den Namen Johannes Pflug zu ersetzen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15943

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 21.10.2011 Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 21.10.2011

Bär, Dorothee CDU/CSU 21.10.2011 Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 21.10.2011


DIE GRÜNEN
Barnett, Doris SPD 21.10.2011
Laurischk, Sibylle FDP 21.10.2011
Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 21.10.2011
Lay, Caren DIE LINKE 21.10.2011
Behrens, Herbert DIE LINKE 21.10.2011
Lenkert, Ralph DIE LINKE 21.10.2011
Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 21.10.2011
Lindner, Christian FDP 21.10.2011
Bockhahn, Steffen DIE LINKE 21.10.2011
Lötzer, Ulla DIE LINKE 21.10.2011
Bülow, Marco SPD 21.10.2011
Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 21.10.2011
von Cramon-Taubadel, BÜNDNIS 90/ 21.10.2011*
Viola DIE GRÜNEN Möhring, Cornelia DIE LINKE 21.10.2011

Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 21.10.2011 Nahles, Andrea SPD 21.10.2011

(B) Dittrich, Heidrun DIE LINKE 21.10.2011 Neumann (Bremen), CDU/CSU 21.10.2011 (D)
Bernd
Ernst, Klaus DIE LINKE 21.10.2011
Nord, Thomas DIE LINKE 21.10.2011
Freitag, Dagmar SPD 21.10.2011
Ortel, Holger SPD 21.10.2011
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 21.10.2011
Pau, Petra DIE LINKE 21.10.2011
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 21.10.2011
Petermann, Jens DIE LINKE 21.10.2011
Golze, Diana DIE LINKE 21.10.2011
Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 21.10.2011
Groth, Annette DIE LINKE 21.10.2011
Pflug, Johannes SPD 21.10.2011
Hänsel, Heike DIE LINKE 21.10.2011
Dr. Priesmeier, Wilhelm SPD 21.10.2011
Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 21.10.2011
Remmers, Ingrid DIE LINKE 21.10.2011
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 21.10.2011
DIE GRÜNEN Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 21.10.2011

Dr. Höll, Barbara DIE LINKE 21.10.2011 Rupprecht SPD 21.10.2011


(Tuchenbach),
Hörster, Joachim CDU/CSU 21.10.2011* Marlene

Dr. Hoyer, Werner FDP 21.10.2011 Schäfer (Köln), Paul DIE LINKE 21.10.2011

Jelpke, Ulla DIE LINKE 21.10.2011 Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 21.10.2011
DIE GRÜNEN
Korte, Jan DIE LINKE 21.10.2011
15944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

(A) 2015, und die EU-Kommission legt nun endlich die (C)
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich längst fällige Definition für Nanostoffe vor. Demnach gilt
als Nanomaterial, was zu mehr als 50 Prozent ungebun-
dene Teilchen zwischen 1 und 100 Nanometer (nm) ent-
Schnurr, Christoph FDP 21.10.2011 hält. Das ist relevant für die gesamte Forschungsausrich-
tung des Aktionsplans. Bezogen auf den Teil „Risiken der
Schuster, Marina FDP 21.10.2011* Nanotechnologie erkennen“ ist es auch eine ganz wich-
tige Nachricht für den Verbraucher- und den Umwelt-
Schwarzelühr-Sutter, SPD 21.10.2011 schutz. Endlich ist eine Grundlage geschaffen, auf der In-
Rita formationen über nanohaltige Produkte und Verfahren
abgefragt und gesundheitliche und umweltrelevante Prü-
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 21.10.2011 fungen vorgenommen werden können. Angesichts der in-
zwischen vorliegenden Befunde der bundeseigenen Res-
Sharma, Raju DIE LINKE 21.10.2011
sorteinrichtungen zum Risikopotenzial für Nanoteilchen
sind Vorsichtsmaßnahmen einfach Pflicht. So berichtet
Simmling, Werner FDP 21.10.2011
das Bundesinstitut für Risikobewertung, dass Kohlen-
Dr. Sitte, Petra DIE LINKE 21.10.2011 stoff-Nanoröhrchen, die Hoffnungsträger für vielfältige
industrielle Nutzungen sind, Krebs auslösen können, und
Steiner, Dorothea BÜNDNIS 90/ 21.10.2011 nanoskaliges Silber, das in Sporttextilien eingesetzt wird,
DIE GRÜNEN Gift für die Umwelt ist. Das boomende Nanosilber wird
aber selbst von Spezialkläranlagen nicht herausgefiltert
Steinke, Kersten DIE LINKE 21.10.2011 und gelangt aus Produktionsanlagen und Haushalten un-
gehindert in unsere Gewässer.
Storjohann, Gero CDU/CSU 21.10.2011
Endlich kann also die europäische REACH-Verord-
nung nanogerecht angepasst werden. Diese Verordnung
Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 21.10.2011
dient zur Überprüfung aller Chemikalien, die auf den
Tempel, Frank DIE LINKE 21.10.2011 Markt gebracht werden. Doch bislang werden Stoffe, die
bereits als größere Partikel geprüft worden sind, nicht
Dr. Troost, Axel DIE LINKE 21.10.2011 gesondert in nanoskaliger Form erfasst, obwohl bekannt
ist, dass die kleinere Größe die physikalisch-chemischen
(B) Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 21.10.2011 Eigenschaften von Stoffen völlig verändern kann. Auch (D)
ein von Verbraucherschützern und meiner Fraktion seit
Wichtel, Peter CDU/CSU 21.10.2011 langem gefordertes Produktregister für nanohaltige
Stoffe, das von jedermann einsehbar ist, hätte nun eine
Wolff (Wolmirstedt), SPD 21.10.2011 legale Grundlage.
Waltraud
Leider hat die Definition zwei Achillesfersen. Die
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 21.10.2011 enge Größenbegrenzung auf 100 nm lässt nur wenig grö-
ßere Teilchen außen vor, die aber auch Nanoeffekte auf-
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 21.10.2011 weisen können. Die EU-Kommission hätte hier einen
Spielraum für größerskalige Stoffe, für die es Hinweise
auf potenziell gesundheitsgefährdende Eigenschaften
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- gibt, öffnen müssen. So aber wird sie dem Verdacht, Si-
lung des Europarates cherheitsrisiken zugunsten von Unternehmensinteressen
unter den Tisch kehren zu wollen, ausgesetzt bleiben.
Und wird so ganz bestimmt nicht das Sicherheitsbedürf-
nis der Verbraucherinnen und Verbraucher befriedigen.
Anlage 2
Zum anderen kann man auf der Webseite des Um-
Zu Protokoll gegebene Rede weltbundesamtes nachlesen, dass über die Freisetzung
zur Beratung: ursprünglich fest eingebundener Teilchen aus Produkten
durch Alterungs- oder Abbauprozesse bisher keine In-
– Unterrichtung: Aktionsplan Nanotechnolo- formationen vorliegen. Auch die Autoren einer gerade
gie 2015 erschienenen Studie des Verbandes der Chemischen In-
– Antrag: Aktionsplan Nanotechnologie 2015 dustrie zu zehn Jahren Risikobewertung von Nanomate-
gezielt weiterentwickeln rialien sagen, dass enormer Forschungsbedarf für Lang-
zeitprüfungen besteht. So fehlen Daten selbst für
(Tagesordnungspunkt 28 a und b) vergleichsweise einfache Fragen, wie folgende: Bringen
Nanoteilchen, die sich mit der Zeit aus Hauswandfarben
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Wie passend: Wir dis- herauslösen, relevante Belastungen für die Umwelt mit
kutieren heute über den Aktionsplan Nanotechnologie sich?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15945

(A) Damit will ich deutlich machen, dass die Bundesre- Anlage 3 (C)
gierung nicht der gebotenen Sorgfaltspflicht nachkom-
Zu Protokoll gegebene Rede
men wird, wenn sie lediglich auf die Verordnungskom-
petenz der EU-Ebene verweist. Bis die Definition in zur Beratung des Entwurfs:
geltendes Recht umgesetzt wird, wird noch einige Zeit
– Gesetz zu einer rechtsstaatlichen und bür-
vergehen. Bis dahin sollte als absolutes Mindestmaß an
gerrechtskonformen Ausgestaltung der Funk-
Vorsorge eine Kennzeichnungspflicht für nanohaltige
zellenabfrage als Ermittlungsmaßnahme
Produkte eingeführt werden. Das hat kürzlich auch das
Sondergutachten des Sachverständigenrates für Um- – … Gesetz zur Änderung der Strafprozess-
weltfragen nachdrücklich empfohlen. Dieses Instru- ordnung (Abschaffung der nichtindividuali-
ment sehen wir nur als Untergrenze für die notwen- sierten Funkzellenabfrage – § 100 g Absatz 2
dige Vorsorge an. Der unsichere Verbraucher hätte Satz 2 StPO)
damit nur – aber immerhin – die Wahl, sich im Zwei-
(Tagesordnungspunkt 30 a und b)
fel gegen ein Nanoprodukt zu entscheiden. Ob die Na-
noteilchen schädigend sind oder nicht, sagt die Kenn-
zeichnung ja nicht aus. Da, wo es deutliche Hinweise Jan Korte (DIE LINKE): Wir behandeln hier heute
auf Gefährdungspotenziale wie beim Nanosilber oder zwei Gesetzentwürfe, die in der Problemanalyse weitge-
auch Titandioxid gibt, muss die Bundesregierung von hend übereinstimmen, sich in der Konsequenz allerdings
Moratorien Gebrauch machen, bis die Gefährdung ein- doch deutlich unterscheiden. Wo ist der Unterschied?
deutig ausgeräumt werden kann. Und schließlich brau- Während die Kolleginnen und Kollegen der Grünen aus
chen wir ein Produktregister, damit Behörden bei Ge- dem Dresdner „Handygate“, auf das wir später noch ge-
nauer zu sprechen kommen müssen, den Schluss ziehen,
fährdungshinweisen reagieren können.
die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage (FZA) müsse
Bislang verfolgt die Bundesregierung aber im besten zwar durch allerlei legislative Sicherungen einge-
Fall das Prinzip der Nachsorge. Sie kehrt in ihrer Ant- schränkt, aber als Ermittlungsmaßnahme prinzipiell er-
wort auf unsere Kleine Anfrage vom Mai 2011 die Be- halten bleiben, kommt meine Fraktion zu dem Schluss,
weislast immer um und will erst bei eindeutig bewiese- dass die Maßnahme grundsätzlich unverhältnismäßig ist.
ner Gefährdung handeln. Ich meine: Das ist unterlassene Dementsprechend sieht unser Gesetzentwurf konsequen-
Vorsorge. terweise die Aufhebung der Ermächtigungsgrundlage
der nichtindividualisierten FZA in der Strafprozessord-
Die Linke hat bereits in mehreren Anträgen einen hö- nung vor.
(B) heren Anteil der Risikoforschung aus dem jährlichen Die Grünen verharren leider bei ihrer Kritik im Kern (D)
Fördertopf von 200 Millionen Euro eingefordert. Wie in ihrer Position aus der Zeit von Rot-Grün. Denn eines
dramatisch schlecht es um unser Wissen bestellt ist, zeigt sollte man an dieser Stelle ja einmal erwähnen: Erst un-
gerade eine Studie zur Wirksamkeit von In-vitro-Tests ter der Regierungskoalition von SPD und Grünen wurde
der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. die nichtindividualisierte FZA im Jahr 2001 eingeführt.
„In-vitro“ bedeutet, dass nicht am lebendigen Organis- Die Bundestagsfraktion der PDS hatte damals bereits
mus, sondern an Zellkulturen in der Petrischale ge- völlig zu Recht auf die mögliche Ausuferung und die
forscht wird. Im heute behandelten Aktionsplan Nano rechtsstaatlichen Prinzipien nicht gerecht werdende An-
2015 heißt es, dass die meisten der bisher durchgeführten wendung hingewiesen und entsprechend gegen sie ge-
Untersuchungen sich auf zelluläre Studien mit kurzem stimmt.
Zeitverlauf stützen. Immerhin sollen deshalb zukünftig
Langzeitstudien in Geweben durchgeführt werden. Die Was ist aber nun der Anlass für diese Gesetzesinitiati-
Metastudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigt ven?
aber, dass die zellulären Tests keine Aussagekraft haben. Alljährlich versuchen Mitte Februar Tausende Neo-
Viele der wenigen gewonnenen Erkenntnisse über Nano- nazis aus ganz Europa durch Dresden zu marschieren, so
materialien sind also auf Sand gebaut. auch am 19. Februar 2011. Der Aufmarsch hat sich in
den letzten Jahren zum wichtigsten neonazistischen
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie mit dem Aktions- Event entwickelt. Von militanten sogenannten Autono-
plan 2015 gewisse gesellschaftliche Anforderungen um- men Nationalisten, über das parteiförmige Spektrum, an-
setzen, an denen es zuvor fehlte: Sie betonen die Risiko- geführt von der NPD, über Vertriebenenverbände und
forschung und den Arbeitsschutz und wollen eine Burschenschafter bis hin zu Vertretern der sogenannten
stärkere Konzentration der Förderung auf Einsatzfelder Neuen Rechten ist die gesamte Bandbreite von Ewigges-
mit echtem Mehrwert wie Klimaschutz oder Energieeffi- trigen vertreten. Diesem braunen Treiben stellen sich seit
zienz. Ich freue mich, dass die Koalitionsfraktionen in vielen Jahren mehrere zehntausend Gegendemonstranten
ihrem Antrag dafür einen „kurzfristigen Förderschub“ entgegen, die mit friedlichen Massenblockaden den Auf-
fordern, um redliche Forschungsaktivitäten zu ermögli- marsch verhindern wollen. So weit, so gut, sollte man
chen. Doch all das entlastet Sie nicht, vorläufige oder annehmen. Doch die Gegendemonstrationen und Sitz-
dauerhafte Regelungen einzuführen, welche die inzwi- blockaden, die sich gegen die jahrelange Instrumentali-
schen bekannt gewordenen Risiken minimieren. Darauf sierung der Bombardierung Dresdens durch die Nazis
geht der Koalitionsantrag jedoch mit keiner Silbe ein. richteten, wurden von der sächsischen Landesregierung
Deshalb kann meine Fraktion ihn nicht unterstützen. und der Polizei nicht, wie man meinen könnte, mit Sym-
15946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

(A) pathie und politischer Unterstützung aufgenommen, son- Denn von normalen rechtsstaatlichen Verhältnissen (C)
dern von vornherein kriminalisiert und mit Verbotsaufla- sind wir im CDU-FDP-regierten Sachsen leider ein gutes
gen belegt. Stück entfernt, das zeigt unter anderem das Dresdner
Handygate.
Mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken
wurde massiv gegen Demonstrierende vorgegangen. Am Ans Licht der Öffentlichkeit geriet das Ganze zufällig,
19. Februar selbst, wie auch in den Monaten danach, als ein Betroffener, der Mitarbeiter einer Abgeordneten
fanden mehrfach Hausdurchsuchungen statt, von denen meiner Fraktion ist, in seinen Ermittlungsakten nachle-
auch Bürger und Bürgerinnen in anderen Bundesländern sen konnte, mit wem – und das mit Namen der Ge-
betroffen waren. Dabei wurde seitens der Dresdner sprächspartnerinnen und -partner – er wann und wo tele-
Staatsanwaltschaft völlig rechtswidrig vorgegangen und foniert habe. Die ganze Dimension der Affäre kam dann
neben Büros der Partei Die Linke auch eine Anwalts- aber nur äußerst zögerlich und nach und nach ans Licht
kanzlei durchsucht, obwohl weder für das eine noch für der Öffentlichkeit. Erst durch die hartnäckige Recherche
das andere entsprechende Durchsuchungsbeschlüsse von verschiedenen Seiten und durch zahlreiche Medien-
vorlagen. Im Vorfeld der Demonstrationen waren außer- berichte wurde bekannt, dass die Polizei bei und im Vor-
dem bereits Verfahren nach § 129 StGB eingeleitet wor- feld der Demonstrationen am 19. Februar 2011 in Dres-
den. Wegen der Teilnahme an den Protesten gegen den den nichtindividualisierte Funkzellenabfragen (FZA) in
Naziaufmarsch wurde mittlerweile die Immunität der bislang nicht gekanntem Umfang durchgeführt hat.
Vorsitzenden der Linksfraktionen in den Landtagen von Nachdem am 19. Juni 2011 die taz erstmals berich-
Thüringen und Sachsen, Bodo Ramelow und André tete, dass die Dresdner Polizei bei den Antinaziprotesten
Hahn, aufgehoben. Ähnliche Pläne gibt es gegen unsere die Handyverbindungen von Tausenden Demonstranten,
Fraktionsvorsitzenden in Hessen, Janine Wissler und Anwohnern, Journalisten, Anwälten und Politikern aus-
Willi van Ooyen. Und das muss man sich mal vorstellen: gespäht habe, und dies auch durch die Staatsanwalt-
Da heben dann, auf der Basis von völlig unhaltbaren schaft Dresden bestätigt wurde, war das tatsächliche
Vorwürfen, die Abgeordneten der schwarz-gelben Re- Ausmaß der Überwachungsmaßnahme noch weitgehend
gierungskoalition einträchtig mit der rechtsextremen unklar. Zuerst kam raus, dass die Polizei am 19. Februar
NPD die Immunität des Vorsitzenden der größten Oppo- 2011 über insgesamt neun Stunden an 14 verschiedenen
sitionsfraktion im Landtag auf. Solange Sie sich nicht Örtlichkeiten FZA durchgeführt hat. Dabei erfasste und
eindeutig gegen dieses skandalöse Gebaren Ihrer Partei- speicherte die Sonderkommission 19/2 der Polizeidirek-
freunde erklären, so lange können Sie sich hier Ihre tion Dresden fast 140 000 Verkehrsdaten, also die Serien-
schönen Sonntagsreden und Forderungen nach einem nummern der Mobiltelefone und die dazugehörigen Te-
gemeinsamen entschlossenen Engagement gegen Neo- lefonnummern, die Standortdaten, die Telefonnummern
(B) nazis sparen. (D)
eingehender und abgehender Anrufe und Kurznachrich-
ten sowie Datum und Uhrzeit der Kommunikation. Doch
Das alles ist einfach unfassbar und Ausdruck der spe- das war noch längst nicht alles. Einige Zeit später muss-
ziellen Form der „sächsischen Demokratie“, wie sie der ten die Verantwortlichen zugeben, dass auch am 13., 18.
Kollege Thierse neulich treffend charakterisierte. Und und 19. Februar 2011 im Rahmen von „Strukturermitt-
damit auch die Kollegen der Union es endlich mal be- lungen“ gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung
greifen, kläre ich Sie hier jetzt einmal über einen belieb- weitere nichtindividualisierte Funkzellenabfragen durch-
ten Irrtum Ihrerseits auf: Blockaden sind keine Straftat. geführt worden waren. Dabei wurde der Mobilfunk in
Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1995 in weiten Stadtgebieten Dresdens zum Teil bis zu 48 Stun-
seinem Beschluss zu den Mutlangen-Blockaden festge- den überwacht. Das LKA Sachsen erhob dabei insge-
stellt. Sie stellen keine verwerfliche Nötigung und keine samt rund 900 000 weitere Datensätze, die ebenfalls an
Gewalt nach § 240 Strafgesetzbuch dar. Ein Gutachten die SoKo 19/2 übermittelt wurden. Die Mehrzahl dieser
des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundes- Funkzellenabfragen wurden inzwischen durch den säch-
tages belegt, dass es für eine Strafverfolgung in den sischen Datenschutzbeauftragten als rechtswidrig einge-
Jahre 2010 und 2011 ohnehin keinerlei Rechtgrundlage stuft und gegenüber der Landesregierung beanstandet.
gibt.
Der § 100 g Abs. 2 Satz 2 Strafprozessordnung (StPO)
Die Proteste und Blockaden im letzten und in diesem stellt ein Mittel der Strafverfolgung zur heimlichen nach-
Jahr haben aber trotz dieser unglaublichen Kriminalisie- träglichen Erhebung von Telekommunikationsspuren in
rung von antifaschistischem Engagement auch Folgen- einem räumlich und zeitlich eingegrenzten Gebiet dar.
des gezeigt: Es ist möglich, den Nazis die Schranken Die Maßnahme, die sich eigentlich nur gegen Beschul-
aufzuzeigen, es ist möglich, wenn sich die Menschen so- digte und Nachrichtenmittler richten darf – das hat das
lidarisch und mutig zusammenstellen. Und es wird auch Dresdner Handygate mehr als deutlich gezeigt – trifft
möglich sein, den Naziaufmarsch langfristig ganz zu aber de facto alle Personen, die sich in dem betroffenen
verhindern – nämlich genau dann, wenn in Dresden end- Gebiet mit einem Mobiltelefon aufhalten oder darüber
lich eine aufgeklärte Erinnerungskultur entsteht und kommunizieren, sowie diejenigen, die aus diesem Be-
wenn auch in Sachsen wieder rechtsstaatliche Verhält- reich kontaktiert werden oder selber in das betroffene
nisse einkehren. Damit wir alle darauf nicht noch lange Gebiet Kontakt aufnehmen. Dies hat die Bundesregie-
warten müssen, hoffe ich, dass auch im kommenden Jahr rung ja auch in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der
noch mehr Menschen nach Dresden kommen werden, Grünen einräumen müssen. Eine Erfassung von unbere-
um sich den Nazis entgegenzustellen! chenbar vielen Personen, die in keinerlei Zusammenhang
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011 15947

(A) mit den polizeilichen Ermittlungen stehen – insbeson- sich den Rechten entgegenzustellen, und wir brauchen (C)
dere in großen Ballungszentren –, ist also unvermeidlich. die freie Kommunikation. Es kann nicht sein, dass jetzt
Der damit einhergehende massive Grundrechtseingriff ist diejenigen kriminalisiert werden, die den geforderten
für Die Linke nicht hinnehmbar. Durch die FZA wird di- Mut aufbringen und aktiv mit allen anderen verhindert
rekt und gezielt in das Fernmeldegeheimnis, das die Ver- haben, dass der größte Naziaufmarsch in Europa durch
traulichkeit der Kommunikation schützt, eingegriffen. Dresden marschiert.
Die technischen Möglichkeiten der automatisierten Ver-
arbeitung und Verknüpfung der gewonnenen Daten kön- Wir werden auch im Jahr 2012 gemeinsam mit vielen
nen dazu benutzt werden, Freundschaftsbeziehungen und anderen Demokratinnen und Demokraten in Dresden ge-
Netzwerke, Interessen und politische Einstellungen zu gen die Nazi-Demo auf die Straße gehen und sind stolz
identifizieren und Bewegungsprofile zu erstellen. Dieser darauf, in unseren Reihen solche Menschen wie Bodo
massive Eingriff ist in Bezug auf die unberechenbar hohe Ramelow und André Hahn zu haben.
Vielzahl der von der FZA betroffenen Unbeteiligten in
keinster Weise verhältnismäßig.
Anlage 4
Bei der FZA in Bezug auf Demonstrationen, wie in
Dresden, kommt ein massiver Eingriff in die Meinungs- Amtliche Mitteilungen
und die Versammlungsfreiheit hinzu. Das „Volkszäh- Der Bundesrat hat in seiner 888. Sitzung am 14. Ok-
lungsurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1983 hat tober 2011 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zu-
dazu sehr richtig festgestellt, dass bei Demonstrationen zustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
staatliche Datenerhebungsmaßnahmen wegen des damit des Grundgesetzes nicht zu stellen:
verbundenen Einschüchterungseffekts im Hinblick auf
die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine Demo- – Gesetz über die Neuordnung des Geräte- und Pro-
kratie grundsätzlich gemeinwohlschädlich wirken. Ich duktsicherheitsrechts
zitiere an dieser Stelle eine wichtige Passage aus dem da-
maligen Urteil: „Wer damit rechnet, dass etwa die Teil- – Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsge-
nahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative setzes und des Personenbeförderungsgesetzes
behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken
– Gesetz zur Änderung des Energiebetriebene-Pro-
entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung
dukte-Gesetzes
seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8 und 9 GG) ver-
zichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfal- – Gesetz zu dem Protokoll vom 27. Oktober 2010
tungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern zur Änderung des Abkommens vom 11. August (D)
(B) auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine ele-
1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
mentare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähig- und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur
keit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründe- Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Ge-
ten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“ biet der Steuern vom Einkommen und vom Ver-
(Volkszählungsurteil des BVerfG vom 15. Dezember mögen
1983, 1 BvR 209/83; unter anderem Rn. 146). In Dresden
war es außerdem so, dass sich unter den Demonstranten – Gesetz zu dem Protokoll vom 30. März 2011 zwi-
etliche besonders geschützte Personen, nämlich viele schen der Bundesrepublik Deutschland und Irland
Journalisten und Abgeordnete, in der Funkzelle befanden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
oder mit ihnen aus der Funkzelle heraus kommuniziert Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Ge-
wurde. Deren Rechte wurden gleichfalls massiv be- biet der Steuern vom Einkommen und vom Ver-
schnitten. mögen

Der Dresdner Datenskandal verdeutlicht also ein- – Gesetz zu dem Protokoll vom 18. Februar 2011
dringlich, dass es bei der FZA im Hinblick auf die Streu- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
breite und die damit verbundenen schweren Eingriffe in der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppel-
die Grundrechte Unbeteiligter nicht ausreicht, legislativ besteuerung und zur Verhinderung der Steuerver-
Sicherungen einzubauen, die ihre Benutzung erträglich kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom-
machen sollen. Der Gewährleistung der Grundrechte ist men und vom Vermögen
durch Reparaturarbeiten am § 100 g Abs. 2 Satz 2 nicht
– Neunzehntes Gesetz zur Änderung des Bundes-
beizukommen. Erforderlich ist vielmehr die ersatzlose
wahlgesetzes
Streichung dieser unverhältnismäßigen Maßnahme aus
dem Katalog möglicher Verfolgungsinstrumente. – Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Ge-
richtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungs-
Und um es klar zu sagen: Wir werden es nicht akzep- verfahren
tieren, dass erneut friedlicher Widerstand durch sächsi-
sche Behörden mit rechtswidrigen Methoden kriminali-
siert wird. Zivilcourage ist unser aller Pflicht. Die Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
Kriminalisierung der Anständigen schränkt unser aller mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2
demokratisches Grundrecht auf friedlichen Protest ein. der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
Wir brauchen den Mut von Bürgerinnen und Bürgern, nachstehenden Vorlagen absieht:
15948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 21. Oktober 2011

(A) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss (C)


– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Inter- Drucksache 17/6407 Nr. A.13
parlamentarischen Union EP P7_TA-PROV(2011)0258
123. Versammlung der Interparlamentarischen Union
vom 3. bis 6. Oktober 2010 in Genf, Schweiz
Haushaltsausschuss
– Drucksachen 17/5353, 17/6392 Nr. 1.1 –
Drucksache 17/6407 Nr. A.14
– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Euro- Ratsdokument 11491/11
päischen Versammlung für Sicherheit und Verteidigung/ Drucksache 17/6568 Nr. A.3
Versammlung der Westeuropäischen Union Ratsdokument 11492/11
Tagung der Versammlung vom 1. bis 3. Dezember 2009 Drucksache 17/6568 Nr. A.4
in Paris Ratsdokument 11493/11
– Drucksachen 17/6558, 17/6961 Nr. 1.2 –

– Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Euro- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
päischen Versammlung für Sicherheit und Verteidigung/ Verbraucherschutz
Versammlung der Westeuropäischen Union
Drucksache 17/6407 Nr. A.17
Tagung der Versammlung vom 15. bis 17. Juli 2010 in Ratsdokument 10836/11
Paris Drucksache 17/6407 Nr. A.18
– Drucksachen 17/6559, 17/6961 Nr. 1.3 – Ratsdokument 11121/11
Drucksache 17/6407 Nr. A.19
Ratsdokument 11122/11
Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 17/6407 Nr. A.20
Technikfolgenabschätzung Ratsdokument 11137/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.38
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 12026/11
Bericht zur Strategie der Bundesregierung zur Interna- Drucksache 17/6985 Nr. A.39
tionalisierung von Wissenschaft und Forschung Ratsdokument 12099/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.40
– Drucksache 16/13852 –
Ratsdokument 12124/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.41
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ratsdokument 12393/11
Drucksache 17/6985 Nr. A.42
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- Ratsdokument 12514/11
dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- Drucksache 17/6985 Nr. A.43
(B) ratung abgesehen hat. Ratsdokument 12516/11 (D)
Drucksache 17/6985 Nr. A.44
Ratsdokument 12517/11
Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/6985 Nr. A.45
Drucksache 17/2994 Nr. A.1 Ratsdokument 12518/11
EuB-BReg 100/2010 Drucksache 17/6985 Nr. A.46
Drucksache 17/2994 Nr. A.5 Ratsdokument 12519/11
EuB-BReg 107/2010 Drucksache 17/6985 Nr. A.47
Drucksache 17/2994 Nr. A.6 Ratsdokument 12817/11
EuB-BReg 99/2010 Drucksache 17/6985 Nr. A.48
Drucksache 17/4927 Nr. A.9 Ratsdokument 13397/11
Ratsdokument 16995/10 Drucksache 17/6985 Nr. A.49
Drucksache 17/5822 Nr. A.5 Ratsdokument 13407/11
EuB-BReg 153/2011
Drucksache 17/6985 Nr. A.5
EP P7_TA-PROV(2011)0334 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Drucksache 17/6985 Nr. A.6
EP P7_TA-PROV(2011)0337 Drucksache 17/6176 Nr. A.21
Drucksache 17/7091 Nr. A.1 EP P7_TA-PROV(2011)0244
EuB-BReg 179/2011 Drucksache 17/6407 Nr. A.25
Drucksache 17/7091 Nr. A.2 EP P7_TA-PROV(2011)0260
Ratsdokument 13643/11 Drucksache 17/6985 Nr. A.65
EP P7_TA-PROV(2011)0271
Drucksache 17/6985 Nr. A.66
Rechtsausschuss EP P7_TA-PROV(2011)0335
Drucksache 17/6407 Nr. A.7 Drucksache 17/6985 Nr. A.67
Ratsdokument 10667/11 EP P7_TA-PROV(2011)0342

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ISSN 0722-7980

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