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Plenarprotokoll 17/124

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

124. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Siegmund Ehrmann Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14560 D


und des Herrn Markus Meckel als ordentli-
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 14563 A
che Mitglieder des Stiftungsrates der Stif-
tung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 14549 A Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14565 A
Wahl der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms
als stellvertretendes Mitglied im Eisenbahn- Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14566 A
infrastrukturbeirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14549 B Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 14549 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14566 B
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14567 C
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 14550 B
Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . 14568 D
Nachruf auf den ehemaligen Abgeordneten
Hans Apel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14550 D Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14570 A
Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14571 A
Zusatztagesordnungspunkt 1:
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Erste Beratung des von den Fraktionen der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14572 B
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14573 B
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Übernahme von Gewährleistungen im Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14574 D
Rahmen eines europäischen Stabilisie- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
rungsmechanismus DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14575 D
(Drucksache 17/6916) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14551 B
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14575 D
in Verbindung mit Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14576 B
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14576 C
Zusatztagesordnungspunkt 2:
Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14576 D
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP: Parlamentsrechte im Rahmen zu- Tagesordnungspunkt 1: (Fortsetzung)
künftiger europäischer Stabilisierungs-
maßnahmen sichern und stärken a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksache 17/6945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14551 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes-
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister haushaltsplans für das Haushaltsjahr
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14551 D 2012 (Haushaltsgesetz 2012)
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14554 D (Drucksache 17/6600) . . . . . . . . . . . . . . . 14578 C
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14559 B
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14559 B (Drucksache 17/6601) . . . . . . . . . . . . . . . 14578 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Einzelplan 09 Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14620 D


Bundesministerium für Wirtschaft und Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 14622 A
Technologie
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 14623 A
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14578 D Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 14623 A
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14581 C Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14623 B
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14584 C
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 14624 A
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14587 B
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14624 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14588 D
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14590 D Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14625 A

Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14592 C Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 14626 D

Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14594 B Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14628 A
Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14596 C
Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14629 C
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14597 D
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14598 D Tagesordnungspunkt 3:
Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14601 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-
Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14602 D
ten Gesetzes zur Änderung des Um-
Dr. Michael Luther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14604 D weltauditgesetzes
(Drucksache 17/6611) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 A
Einzelplan 11 b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Bundesministerium für Arbeit und zes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit
Soziales an das Gemeinsame Wattenmeersekre-
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin tariat – Common Wadden Sea Secreta-
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14606 A riat (CWSS) (CWSSRechtsG)
(Drucksache 17/6612) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 A
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 14607 C
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14607 D
zes zu dem Abkommen vom 21. Okto-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14609 C ber 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Großherzogtum
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin Luxemburg über die Erneuerung und
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14609 D Erhaltung der Grenzbrücke über die
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14610 B Mosel zwischen Wellen und Grevenma-
cher
Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . 14611 B (Drucksache 17/6615) . . . . . . . . . . . . . . . 14631 A
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14612 D
d) Erste Beratung des von der Bundesre-
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . 14613 D gierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Beher-
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14614 A bergungsstatistikgesetzes und des Han-
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ delsstatistikgesetzes
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14615 C (Drucksache 17/6851) . . . . . . . . . . . . . . . 14631 B
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14616 C e) Antrag des Bundesministeriums der Fi-
nanzen: Entlastung der Bundesregie-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14618 A
rung für das Haushaltsjahr 2010 – Vor-
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14618 C lage der Vermögensrechnung des Bundes
für das Haushaltsjahr 2010 –
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14619 A
(Drucksache 17/6009) . . . . . . . . . . . . . . . 14631 B
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14619 B
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14619 C in Verbindung mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 III

Zusatztagesordnungspunkt 3: Haushalts- und Wirtschaftsführung


des Bundes
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- – Weitere Prüfungsergebnisse –
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung von Vorschriften (Drucksachen 17/1500, 17/2305, 17/3650,
über Verkündung und Bekanntma- 17/3956 Nr. 3, 17/5350, 17/5820 Nr. 5,
chungen 17/6423) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 D
(Drucksache 17/6610) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
b) Antrag der Abgeordneten Johanna Voß, Haushaltsausschusses zu dem Antrag des
Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Präsidenten des Bundesrechnungshofes:
Abgeordneter und der Fraktion DIE Rechnung des Bundesrechnungshofes
LINKE: Universaldienste für Breit- für das Haushaltsjahr 2010
band-Internetanschlüsse jetzt – Einzelplan 20 –
(Drucksache 17/6912) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 C (Drucksachen 17/5385, 17/6424) . . . . . . . 14632 B
c) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
geordneter und der Fraktion BÜND- entwicklung
NIS 90/DIE GRÜNEN: Den Hochschul-
pakt weiterentwickeln: Mehr Studien- – zu dem Antrag der Abgeordneten
plätze, bessere Studienbedingungen und Ulrich Lange, Dirk Fischer (Ham-
höhere Lehrqualität schaffen burg), Arnold Vaatz, weiterer Abge-
(Drucksache 17/6918) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 C ordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Patrick
d) Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Döring, Werner Simmling, Oliver
Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Luksic, weiterer Abgeordneter und der
geordneter und der Fraktion BÜND- Fraktion der FDP: Sicherheit im Ei-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Anerkennung senbahnverkehr verbessern – Stre-
ausländischer Abschlüsse tatsächlich ckennetz mit Sicherungssystemen
voranbringen ausstatten
(Drucksache 17/6919) . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Waltraud Wolff (Wol-
Tagesordnungspunkt 4: mirstedt), Sören Bartol, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
a) Beschlussempfehlung und Bericht des sowie der Abgeordneten Dr. Anton
Haushaltsausschusses Hofreiter, Undine Kurth (Quedlin-
– zu dem Antrag des Bundesministe- burg), Winfried Hermann, weiterer
riums der Finanzen: Entlastung der Abgeordneter und der Fraktion
Bundesregierung für das Haushalts- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konse-
jahr 2009 quenzen aus dem Zugunglück von
– Vorlage der Haushaltsrechnung Hordorf ziehen
des Bundes für das Haushaltsjahr
– zu dem Antrag der Abgeordneten
2009 –
Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch,
– zu dem Antrag des Bundesministe- Herbert Behrens, weiterer Abgeordne-
riums der Finanzen: Entlastung der ter und der Fraktion DIE LINKE: Um-
Bundesregierung für das Haushalts- gehend die Konsequenzen aus dem
jahr 2009 Unglück von Hordorf ziehen
– Vorlage der Vermögensrechnung
des Bundes für das Haushaltsjahr (Drucksachen 17/5046, 17/4854, 17/4840,
2009 – 17/6131) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14632 C

– zu der Unterrichtung durch den Bun-


desrechnungshof: Bemerkungen des in Verbindung mit
Bundesrechnungshofes 2010 zur
Haushalts- und Wirtschaftsführung
des Bundes (einschließlich der Fest- Zusatztagesordnungspunkt 4:
stellungen zur Jahresrechnung
2009) Antrag der Bundesregierung: Ausnahme von
dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem
– zu der Unterrichtung durch den Bun- Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesre-
desrechnungshof: Bemerkungen des gierung
Bundesrechnungshofes 2010 zur (Drucksache 17/6670) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Einzelplan 30 Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14676 D


Bundesministerium für Bildung und Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14678 C
Forschung Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14680 C
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14682 C
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14635 C Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14683 D
Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14637 A Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14685 B
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14638 B Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14685 C
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14685 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14639 C
Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14687 C
Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 14640 C
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14642 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14689 D
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 14643 A Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14691 A
Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14643 A Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14692 D
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 14644 B Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14694 B
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14645 B
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Einzelplan 17
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14646 C Bundesministerium für Familie, Senio-
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14648 A ren, Frauen und Jugend
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 14649 B Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 14650 D BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14696 A
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14652 B Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . 14698 A
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 14653 D
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14698 A
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14699 A
Einzelplan 10
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14700 D
Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14701 A
Ilse Aigner, Bundesministerin
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14655 B Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14701 B
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 14657 B Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 14702 A
Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14659 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14704 D
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14660 A
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14706 A
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14661 B Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14708 A
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . . 14662 D Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14709 C
Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14664 C Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14710 D
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 14666 A
Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14712 A
Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14667 A
Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14713 A
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14668 B Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 14714 C
Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14669 A Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14715 C
Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . 14716 A
Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14670 B
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14716 B
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 14671 D
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14672 D
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14717 C
Einzelplan 15 Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14717 B
Bundesministerium für Gesundheit
Anlage
Daniel Bahr, Bundesminister
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14674 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 14719 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14549

(A) (C)

Redetext

124. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Überweisungsvorschlag:


Haushaltsausschuss (f)
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Innenausschuss
habe zu Beginn einige amtliche Mitteilungen zu machen. Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Zuerst geht es um Nachwahlen zu Gremien, und zwar Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zunächst zum Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
tung der SED-Diktatur. Die Fraktion der SPD schlägt
als neues ordentliches Mitglied aus dem Kreis der Frak- ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
tionen den Kollegen Siegmund Ehrmann vor. Neues CSU und FDP
ordentliches Mitglied aus dem Kreis der Personen, die in Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger
Fragen der Aufarbeitung besonders engagiert sind, soll europäischer Stabilisierungsmaßnahmen si-
(B) anstelle von Professor Hermann Weber der frühere Ab- chern und stärken (D)
geordnete Markus Meckel werden. Sind Sie mit diesen
Vorschlägen einverstanden? – Das ist offensichtlich der – Drucksache 17/6945 –
Fall. Dann sind der Kollege Siegmund Ehrmann und Überweisungsvorschlag:
Herr Markus Meckel hiermit in den Stiftungsrat gewählt. Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, Geschäftsordnung
dass die Kollegin Dr. Valerie Wilms für den aus dem Innenausschuss
Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Kollegen Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Winfried Hermann neues stellvertretendes Mitglied im
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Eisenbahninfrastrukturbeirat werden soll. Stimmen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sie auch diesem Vorschlag zu? – Das ist der Fall. Dann
ist die Kollegin in den Eisenbahninfrastrukturbeirat ge- ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
wählt. fahren
Ergänzung zu TOP 3
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um die erste Beratung des Gesetzentwurfs a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
zur Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewähr- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
leistungen im Rahmen des europäischen Stabilisierungs- rung von Vorschriften über Verkündung und
mechanismus zu erweitern, die jetzt gleich im Anschluss Bekanntmachungen
als Erstes aufgerufen werden soll.
– Drucksache 17/6610 –
Außerdem ist vorgesehen, die verbundene Tages- Überweisungsvorschlag:
ordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Rechtsausschuss
Punkte zu erweitern:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna
ZP 1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Ab-
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- geordneter und der Fraktion DIE LINKE
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Über-
nahme von Gewährleistungen im Rahmen ei- Universaldienste für Breitband-Internet-
nes europäischen Stabilisierungsmechanismus anschlüsse jetzt
– Drucksache 17/6916 – – Drucksache 17/6912 –
14550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Überweisungsvorschlag: Der am 30. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Ge- (C)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) setzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
(6. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden:
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
DIE GRÜNEN der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung
steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsricht-
Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr linie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG)
Studienplätze, bessere Studienbedingungen
und höhere Lehrqualität schaffen – Drucksache 17/6263 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/6918 – Finanzausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss Der am 1. Juli 2011 überwiesene nachfolgende Ge-
setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung,
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Aus-
Sager, Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Ab-
schuss) zur Mitberatung überwiesen werden:
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Anerkennung ausländischer Abschlüsse tat- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
sächlich voranbringen serung der Eingliederungschancen am Ar-
beitsmarkt
– Drucksache 17/6919 –
– Drucksache 17/6277 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag:
Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ausschuss für Gesundheit Technikfolgenabschätzung
(B) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO (D)
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache Ich kann auch dazu Ihr offensichtliches Einverneh-
Ergänzung zu TOP 4 men feststellen.
Beratung des Antrags der Bundesregierung Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Ta-
gesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von Ihren Plät-
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zen zu erheben.
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-
desregierung (Die Anwesenden erheben sich)
– Drucksache 17/6670 – Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Mitglied Hans Apel, der vorgestern nach langer Krank-
weit erforderlich, abgewichen werden. heit im Alter von 79 Jahren in seiner Heimatstadt Ham-
burg verstorben ist.
Schließlich mache ich auf drei nachträgliche Aus-
schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Hans Apel gehörte dem Deutschen Bundestag für sie-
aufmerksam: ben Wahlperioden von 1965 bis 1990 an. In diesem Vier-
teljahrhundert hat er unserem Land in höchsten Ämtern
Der am 10. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Ge- gedient.
setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Aus- Hans Apel wurde am 25. Februar 1932 in Hamburg-
schuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Barmbek geboren. Nach dem Abitur 1951 absolvierte er
eine kaufmännische Lehre und studierte nach kurzer be-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ruflicher Tätigkeit für einen Mineralölkonzern Wirt-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- schaftswissenschaften in Hamburg und promovierte in
ordnung des Kreislaufwirtschafts- und Abfall- diesem Fachbereich.
rechts
Schon während des Studiums war er 1955 der SPD
– Drucksache 17/6052 –
beigetreten, deren Vorstand er später für beinahe zwei
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Jahrzehnte angehören sollte.
Innenausschuss Nachdem er einige Jahre für das Europäische Parla-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ment gearbeitet hatte, gehörte er ihm als Mitglied von
Verbraucherschutz 1965 bis 1969 an. 1965 wurde er auch Mitglied des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14551
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Deutschen Bundestages, in den er – mit Ausnahme einer Überweisungsvorschlag: (C)
Legislaturperiode – stets direkt gewählt wurde. Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Nachdem er Vorsitzender des Verkehrsausschusses Geschäftsordnung
Innenausschuss
und dann stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bun- Rechtsausschuss
destagsfraktion gewesen war, wurde er 1972 zum Staats- Finanzausschuss
sekretär im Auswärtigen Amt mit der Zuständigkeit für Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Europafragen ernannt. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

1974 wurde er im ersten Kabinett von Bundeskanzler ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Helmut Schmidt dessen Nachfolger im Amt als Bundes- CSU und FDP
minister der Finanzen.
Parlamentsrechte im Rahmen zukünftiger
1978 übernahm Hans Apel, selbst Angehöriger der europäischer Stabilisierungsmaßnahmen si-
sogenannten weißen Jahrgänge, das Bundesministerium chern und stärken
der Verteidigung und erwarb sich schnell hohe Anerken-
– Drucksache 17/6945 –
nung in seinem neuen Amt. Er bekleidete es bis zum
Ende der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982, also Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
in der Zeit, die von der anhaltenden Debatte um die Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Nachrüstung und dem Erstarken der Friedensbewegung Geschäftsordnung
gekennzeichnet war. Innenausschuss
Rechtsausschuss
Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Finanzausschuss
Jahre 1990 widmete er sich vor allem der Finanzpolitik. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von ihm – konfrontiert mit den unbeabsichtigten Folgen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
selbst herbeigeführter politischer Entscheidungen – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
stammt der später vielzitierte Satz: „Ich glaub, mich tritt diese Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich stelle
ein Pferd.“ dazu Einvernehmen fest.
Nach dem Abschied aus der Politik, der jedoch kein Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Abschied von der Politik war, leistete er in verschiede- Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.
nen Funktionen vor allem in der Energiewirtschaft in
den neuen Bundesländern einen Beitrag zum Aufbau Ost (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und der inneren Einheit unseres Landes. Hinzu kam eine
(B) rege publizistische Tätigkeit, die einige vielbeachtete Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- (D)
Bücher erbrachte. zen:
Das gesamte öffentliche Wirken von Hans Apel – in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
der Politik, in der Wirtschaft, als Publizist – war geprägt Herren! Diese Haushaltsdebatte steht, wie die öffentli-
von seiner Orientierung an der protestantischen Ethik chen Diskussionen in diesen Wochen, im Zeichen der
und seiner tiefen christlichen Glaubensüberzeugung. Turbulenzen der Finanzmärkte und der Notwendigkeit,
Seine Ehrlichkeit und Offenheit wurden geschätzt, gele- unsere gemeinsame europäische Währung in diesen
gentlich auch gefürchtet, wobei er auch die eigene Partei schwierigen Entwicklungen stabil zu halten und zu ver-
nicht ausnahm von seinem manchmal unbequemen Ur- teidigen.
teil.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner gestri-
Hans Apel hat sich bleibende Verdienste um unser gen Entscheidung erneut bestätigt, dass diese Politik, die
Land erworben: als leidenschaftlicher Parlamentarier, als gemeinsame europäische Währung mit Stabilisierungs-
verantwortungsvoller Bundesminister und als ein Politi- maßnahmen stabil zu halten, in vollem Umfang dem
ker, der maßgeblich an wichtigen Weichenstellungen in Grundgesetz entspricht und die Besorgnisse, wir würden
der Geschichte der Bundesrepublik mitgewirkt hat. auf irgendeine Weise gegen die Bestimmungen unserer
Verfassung verstoßen, unbegründet sind. Wir werden im
Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewah-
Zuge der Beratungen darüber diskutieren, wie die parla-
ren. Seiner Familie spreche ich im Namen des ganzen
mentarische Umsetzung der Entscheidung im Einzelnen
Hauses unsere Anteilnahme aus.
aussehen wird; das Haushaltsrecht des Bundestages ist
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren das Grundprinzip unserer parlamentarischen Demokra-
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. tie. Das Bundesverfassungsgericht hat aber ausdrücklich
klargestellt, dass die bisher getroffenen Entscheidungen
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 1 und 2 auf, die wir ge- in vollem Umfang dem Grundgesetz entsprechen.
rade auf die Tagesordnung gesetzt haben:
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes
ZP 1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
europäischen Stabilisierungsmechanismus passen wir
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Über-
unsere nationale Gesetzgebung an die Änderungen des
nahme von Gewährleistungen im Rahmen ei-
Rahmenvertrags für die Europäische Finanz-Stabilitäts-
nes europäischen Stabilisierungsmechanismus
Fazilität an, die im März und im Juli von den Staats- und
– Drucksache 17/6916 – Regierungschefs der Euro-Zone beschlossen worden
14552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) sind, um diese vorübergehend geschaffene europäische führt kein Weg vorbei; das ist das Grundprinzip der (C)
Finanzierungsanstalt in die Lage zu versetzen, den He- europäischen Architektur. Das darf nicht übersehen wer-
rausforderungen der wirtschaftlichen Entwicklung und den.
der Entwicklung an den Finanzmärkten gerecht zu wer-
den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen kommen Länder, die in Schwierigkeiten
Ich will bei dieser Gelegenheit ausdrücklich darauf
sind, nicht um die notwendigen Anpassungen ihrer
hinweisen: Der EFSF-Rahmenvertrag, den wir im Mai
Haushalte und die Rückführung ihrer zu hohen Defizite
vergangenen Jahres sehr kurzfristig schaffen mussten, ist
herum. Das ist übrigens der Weg, den auch wir in
ein privatrechtlicher Vertrag.
Deutschland gehen, gerade auch mit dem Haushalt 2012.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Weg müssen alle in Europa gehen. So ist es ver-
Das sehen wir anders, Herr Minister!) abredet. Das muss eingehalten werden. Dazu haben sich
alle verpflichtet. Wenn sie Probleme mit der wirtschaftli-
Die Finanzierungsanstalt ist eine privatrechtliche Gesell- chen Wettbewerbsfähigkeit haben, dann sind Struktur-
schaft nach luxemburgischem Recht. Deswegen, Herr reformen in diesen Ländern unvermeidlich, damit sie in
Kollege Trittin, ist es nach dem Grundgesetz gar nicht einer Welt, in der der Wettbewerbsdruck durch die Glo-
möglich, diesen Vertrag der Ratifizierung zuzuführen. balisierung der wirtschaftlichen Entwicklung größer
Nur völkerrechtliche Verträge können nach dem Grund- wird und auf allen lastet, dem Wettbewerb standhalten
gesetz ratifiziert werden. Wir haben ihn allerdings mit können.
dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im
Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanis- Hilfe zur Selbsthilfe: Wir verschaffen Ländern, die in
mus entsprechend in die nationale Gesetzgebung umge- Schwierigkeiten sind, mit diesem Rettungsschirm Zeit
setzt. Das ist nicht in allen Ländern der Euro-Zone für die notwendige Anpassung und für die Lösung ihrer
gleich geregelt. Wir haben das Stabilisierungsmechanis- Probleme, damit sie die Zeit überbrücken können, in der
musgesetz beschlossen, um eine gesetzliche Grundlage sie aufgrund von nicht tragbaren Zinsbelastungen keinen
zu schaffen. Zugang zu den internationalen Finanzmärkten haben,
auf den sie angewiesen sind. Das geht nicht über Nacht.
Das ist kein völkerrechtlicher Vertrag; aber wir wol- Es geht darum, ihnen Zeit zu verschaffen. Die Lösung
len einen völkerrechtlichen Vertrag. Das wird der Ver- der Strukturprobleme können wir ihnen nicht ersparen.
trag über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus
sein, der – so ist es vorgesehen – 2013 in Kraft treten Deshalb stehen all diese Maßnahmen im Einzelfall
und dann eine internationale Finanzinstitution schaffen und generell unter der Voraussetzung einer Vereinbarung
(B) wird. Dieser Vertrag bedarf der Ratifizierung. Ich sage strikter Konditionalität, dass also die notwendigen An- (D)
das, damit wir keinen Streit zu führen brauchen, der al- passungsmaßnahmen zur Rückführung der Defizite und
lenfalls zu Missverständnissen führen könnte. zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit mit den betroffenen Ländern vereinbart werden. So
Wir mussten diesen Mechanismus schaffen, damit aus lautet das Stabilisierungsmechanismusgesetz. Dies muss
den Problemen eines Landes der Euro-Zone keine Ge- eingehalten werden und wird bei der Auszahlung jeder
fahr für die Stabilität der Euro-Zone als Ganzes werden Tranche durch die unabhängigen Institutionen des Inter-
kann. Denn wir mussten im vergangenen Jahr lernen nationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentral-
– daraus haben wir die Konsequenzen gezogen –, welche bank und der Kommission der Europäischen Union
Folgen die Schwierigkeiten eines Landes haben können. überprüft.
Es geht um Griechenland, ein Land mit einer hohen Ver-
schuldung, hohen Defiziten, hoher Staatsverschuldung, So ist es schon bei dem vom EFSF geschaffenen Grie-
unzureichenden Wachstumszahlen und mangelnder chenland-Programm. Wir haben vereinbart, dass die Vo-
Wettbewerbsfähigkeit. All das stand durch den Druck, raussetzungen für die Auszahlung der nächsten Tranche
der durch die gemeinsame Währung entsteht, sehr viel vierteljährlich überprüft werden müssen. Erst wenn die
stärker im Fokus der politischen Entwicklung. Damit aus Überprüfung ergibt, dass die Voraussetzungen vorliegen
den Problemen eines Landes mit einem Anteil von und dass die Vereinbarungen eingehalten sind, kann die
2 Prozent an der gesamten Wirtschaftsleistung der Euro- Tranche ausgezahlt werden.
Zone wegen der Ansteckungseffekte auf den Märkten
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Lage in Grie-
keine Gefahr für die Stabilität der Euro-Zone insgesamt chenland ist ernst, denn im Augenblick ist die Mission
werden kann, brauchen wir diesen Stabilisierungsmecha-
der Troika unterbrochen. Darüber darf es überhaupt
nismus.
keine Illusionen geben. Solange diese Mission nicht be-
Ich füge aber gleich hinzu: Es geht bei all diesen Hil- stätigen kann, dass die Voraussetzungen erfüllt sind,
fen im Zusammenhang mit dem Rettungsschirm immer kann die nächste Tranche für Griechenland nicht ausge-
um Hilfe zur Selbsthilfe. Anders ist das gar nicht mög- zahlt werden.
lich. Wir haben in der Euro-Zone die Währung verge- (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)
meinschaftet, aber nicht die Wirtschafts- und Finanzpoli-
tik. Deswegen können wir den Mitgliedsländern, die in Hier gibt es keinen Entscheidungsspielraum. Das ist in
Schwierigkeiten sind, helfen, Zeit zu gewinnen, ihre den Verträgen und in unserem Gesetz so beschlossen.
Probleme zu lösen; aber die Ursachen der Probleme Das muss jeder wissen. Deshalb ist die Situation ernst.
müssen die Mitgliedsländer selbst beseitigen. Daran Wir haben Verständnis für die Probleme in Griechen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14553
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) land. Ich habe es im Rahmen einer früheren Debatte ge- Darüber hinaus haben wir im Änderungsvertrag zum (C)
sagt: Die Rückführung der Defizite bringt für die betrof- Rahmenvertrag vereinbart, dass wir der europäischen
fene Bevölkerung schwere Belastungen mit sich. Finanzierungsanstalt zusätzliche Instrumente zur Verfü-
gung stellen. Diese Instrumente werden nur unter der
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Voraussetzung eingesetzt, dass mit einem Land, zu des-
GRÜNEN]: Richtig!) sen Gunsten sie eingesetzt werden sollen, entsprechende
Anpassungsmaßnahmen vereinbart sind. Alle Maßnah-
Darüber sollte niemand mit Häme reden. Wer aber jahre- men des EFSF unterliegen der Voraussetzung, dass ent-
lang zu hohe Schulden macht, kommt um Anpassungs- sprechende Programme vereinbart sind. Das ist eine
maßnahmen nicht herum. ganz klare Regelung.
Daher sage ich bei allem Respekt und bei aller Sym- Aber es sollen zusätzlich zu dem bisherigen Instru-
pathie für das griechische Volk: Die Anpassungsmaß- ment, dass man gegebenenfalls Finanzhilfen zur Verfü-
nahmen können wir Griechenland nicht ersparen. Letz- gung stellen kann, weitere Instrumente geschaffen wer-
ten Endes ist es Sache Griechenlands selbst, zu den, sodass man analog zu den Möglichkeiten, über die
entscheiden, ob man dort bereit und in der Lage ist, die der Internationale Währungsfonds verfügt, einen – ich
notwendigen Maßnahmen durchzuführen, um die Defi- sage es einmal untechnisch – Überziehungskredit verein-
zite und die zu hohe Verschuldung zurückzuführen. Das bart, also dass man die Möglichkeit hat, eine Kreditlinie
muss Griechenland selbst entscheiden. Anspruch auf So- einzuräumen. Diese muss ein Land nicht in Anspruch
lidarität hat Griechenland, und Deutschland wird seine nehmen, aber das stärkt das Vertrauen der Finanzmärkte,
Solidarität zur Verteidigung der gemeinsamen Währung weil ein Land unter allen Umständen liquide bleiben
nicht verweigern. Darauf kann sich Griechenland verlas- kann, weil es entsprechende Überziehungsmöglichkeiten
sen. Es muss aber seinen eigenen Beitrag leisten, und es hat. Gerade wegen der besorgniserregenden Meldungen
muss am Ende selbst entscheiden. Daran führt kein Weg aus der Euro-Zone ist es ganz wichtig, dass die Finanzie-
vorbei. rungsanstalt in der Lage ist, Ländern notfalls kurzfristig
Mittel für die Kapitalisierung von Banken zur Verfügung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu stellen. Wenn wir eine Zuspitzung der Krise bekom-
Die Änderungen des Rahmenvertrags über die euro- men sollten – wir wollen sie vermeiden, daran arbeiten
päische Finanzierungsanstalt sehen vor, dass wir sicher- wir, aber man muss auch an unangenehmere Entwick-
stellen, dass die ursprünglich vereinbarte Summe an lungen denken –, ist es wichtig, dass wir Ansteckungs-
Finanzhilfen bis zu einer Obergrenze von 440 Milliarden gefahren im Bankensektor durch Zurverfügungstellung
Euro, für die entsprechende Anpassungsprogramme ver- von zusätzlichem Kapital bekämpfen können. Mit dem
(B) einbart werden mussten und vereinbart worden sind, zur Änderungsvertrag verschaffen wir der Finanzierungs- (D)
Verfügung gestellt werden kann. Diese Finanzierungs- anstalt die notwendigen Möglichkeiten.
anstalt arbeitet nach dem Prinzip, dass sie Finanzhilfen Schließlich wollen wir ein Anpassungsprogramm ver-
zur Verfügung stellt und die Mittel dazu auf den Finanz- einbaren. Unter engen Voraussetzungen soll die Mög-
märkten aufnimmt. Dafür verbürgen sich die Mitglieds- lichkeit bestehen – unter Berücksichtigung der Gefähr-
länder der Euro-Zone. Da für eine entsprechende Bewer- dung der Stabilität der Euro-Zone als Ganzes durch
tung der Ratingagenturen nur die Verbürgung durch die Ansteckungsgefahren; das muss ausdrücklich noch ein-
Mitgliedsländer der Euro-Zone, die über die Höchst- mal zusätzlich von der Europäischen Zentralbank bestä-
bewertung durch das sogenannte Triple A verfügen, tigt werden –, an europäischen Sekundärmärkten zu ope-
zählt und angerechnet wird, brauchen wir in dieser rieren. Ich denke an die Diskussion im vergangenen Jahr,
Finanzierungsanstalt eine Übersicherung. bei der es darum ging, ob es denn unserem Verständnis
einer unabhängigen Europäischen Zentralbank entspre-
Daher ergibt sich die komplizierte Zahl. Um 440 Mil- che, wenn die Europäische Zentralbank am Sekundär-
liarden Euro darzustellen, brauchen wir eine Garantie- markt operiert. Bisher gibt es außer der Europäischen
summe von rund 750 Milliarden Euro. Deutschland
Zentralbank niemanden, der das tun kann. Wir schaffen
muss – seinem Anteil an der wirtschaftlichen Gesamt-
im Rahmen der Finanz-Stabilitäts-Fazilität die Möglich-
leistung der Euro-Zone entsprechend – davon einen
keit, das unter engen Voraussetzungen zu tun. Ich wie-
Anteil von rund 28 Prozent tragen. Das heißt, unsere
derhole: Alles nur unter der Voraussetzung, dass entspre-
Garantieleistungen belaufen sich nach der vorgeschlage-
chende Anpassungsmaßnahmen mit den betreffenden
nen Änderung auf bis zu 211 Milliarden Euro, wobei die
Ländern vereinbart worden sind.
Zinsen – unserem Haushaltsrecht entsprechend – nicht
eingeschlossen sind. Wir machen es bei allen Gewähr- Ich will hinzufügen: Wir haben schon im März
leistungen nach der Bundeshaushaltsordnung so, dass vereinbart, dass die Finanzierungsanstalt unter engen
die Zinsen nicht eingerechnet werden. Dies muss man Voraussetzungen auch am Primärmarkt operieren kann.
im Auge haben. Daher sagen manche, es werden bis zu Angesichts mancher Missverständnisse will ich darauf
250 Milliarden Euro. Wir sollten aber durch unterschied- hinweisen – das ist im März ausdrücklich vereinbart
liche Zahlen keinen Grund für neue Verunsicherungen worden –: nur unter der Voraussetzung, dass die Finan-
schaffen. Das festgelegte Garantievolumen beläuft sich zierungsanstalt dem Land unmittelbar einen Kredit
auf 211 Milliarden Euro. Dazu kommen – unserem gewähren könnte. Dann kann es dort freie Gestaltung
Haushaltsrecht entsprechend – Zinsen in einer entspre- geben, wo es wirtschaftlich sehr viel sinnvoller ist. Man
chenden Größenordnung. gibt also keinen Kredit, sondern man operiert in einem
14554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) begrenzten Umfang am Primärmarkt. Das ist keine gene- werden können. Es muss auch um die Verhandlungen (C)
relle Ermächtigung, dass die Finanzierungsanstalt die zwischen Rat, Parlament und Kommission und die quasi
Haushalte von Mitgliedern der Euro-Zone finanzieren automatischen Sanktionen bei Verletzung des Stabilitäts-
kann. Genau dies ist ausgeschlossen. Nur unter der und Wachstumspakts gehen. Das müssen wir verbessern.
Voraussetzung der Gewährung einer Finanzhilfe kann in (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausnahmefällen auch auf dem Primärmarkt operiert NEN]: Nichts „quasi“! Nichts „automatisch“!
werden. Das stimmt doch gar nicht!)
Wir müssen die derzeitigen Schwierigkeiten auf der – Quasi automatisch.
Grundlage geltender Verträge – eine andere Grundlage
haben wir nicht – bewältigen. Das ist das, was wir leis- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten können. Angesichts der Debatte über die Beteiligung NEN]: Nein! Wenn Sarkozy Ja sagt, ist das au-
der Privatgläubiger will ich darauf hinweisen – das muss tomatisch!)
man wissen –, was Privatgläubigerbeteiligung auf der – Ja, gut: Quasi automatisch mit dem sogenannten Six-
Grundlage geltender Verträge bedeutet – das betrifft ins- pack. – Das ist das, was auf der Grundlage geltender
besondere die geltenden Verträge bezüglich der im Verträge möglich ist. In diesen Tagen zeichnet sich ab,
Markt befindlichen Anleihen –: Wenn man einen dass wir ein Ergebnis finden werden.
Default, also einen Konkurs mit der Auslösung aller
Kreditversicherungsverträge vermeiden will, kann die Ich möchte eine weitere Bemerkung hinzufügen: Ge-
Beteiligung nur im Wege der Vereinbarung erfolgen. rade die Schwierigkeit, auf Grundlage der geltenden
Deswegen haben wir bei dem Entwurf eines zweiten Verträge und der geltenden Rechtslage eine Beruhigung
Griechenland-Programms den mühsamen Weg gehen der Märkte herbeizuführen, zeigt, dass die Märkte erwar-
müssen, der in der Öffentlichkeit nicht einfach darzustel- ten, dass wir eine Struktur für Europa schaffen, dass wir
len und zu erläutern ist. Das liegt in der Natur der Sache. für die gemeinsame Währung bessere institutionelle Vor-
Deswegen nutze ich die Gelegenheit, das zu erläutern. kehrungen treffen. Das wird ein langer Weg sein. In
diese Richtung müssen wir gehen. Dafür müssen wir
Wir haben den Weg der Vereinbarung mit den Finanz- arbeiten; aber heute und morgen müssen wir unsere
instituten gehen müssen, weil alles andere den getroffe- gemeinsame Währung – das liegt in unserem gemeinsa-
nen Vereinbarungen widersprochen hätte, und wir kön- men Interesse und ist im Sinne unserer Verantwortung –
nen in Europa nicht anfangen, uns an getroffene Verträge mit den Mitteln, die wir haben, verteidigen.
nicht mehr zu halten. Deswegen sieht der Vertrag zur Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzent-
Schaffung der internationalen Institution Europäischer wurf.
(B) Stabilisierungsmechanismus, ESM, vor, dass wir den (D)
Stabilisierungsmechanismus ab 2013 ausdrücklich in das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Regelwerk aufnehmen und alle Anleihen, die ab 2013,
also in der Zukunft, von Mitgliedstaaten der Euro-Zone Präsident Dr. Norbert Lammert:
begeben werden, eine Klausel enthalten, die im Falle Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
einer nicht vorhandenen Schuldentragfähigkeit eine die SPD-Fraktion.
Anpassung vorsieht. In Zukunft werden wir also mehr
Möglichkeiten haben. Gegenwärtig müssen wir aber mit (Beifall bei der SPD)
den vorhandenen Instrumentarien zurechtkommen.
Sigmar Gabriel (SPD):
Ich füge hinzu: Die Debatte über ein zweites Pro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr
gramm für Griechenland ist angesichts der Schwierig- geehrter Herr Kollege Schäuble, wir alle wissen, dass
keiten, Griechenland im Rahmen des jetzigen Pro- Sie nicht nur ein konservativer, sondern vor allen Dingen
gramms die nächste Tranche auszuzahlen, sehr verfrüht. auch ein leidenschaftlicher und überzeugter Europäer
Deswegen glaube ich, dass wir uns zunächst einmal sind. Ich erinnere mich noch gut an die Rede, mit der Sie
darauf konzentrieren müssen: Erfüllt Griechenland über- hier vor einigen Monaten das Festhalten am europäi-
haupt die entsprechenden Voraussetzungen, damit die schen Projekt begründet haben. Vieles von dem, was Sie
nächste Tranche ausbezahlt werden kann? Es mag sein, damals und heute hier erläutert haben, teilen wir. Wir
dass daraus Konsequenzen gezogen werden müssen, und finden das – das sage ich ausdrücklich – richtig. Ich
zwar auch für ein neues Griechenland-Programm. frage mich nur: Warum haben Sie als einer der überzeug-
testen Europäer Ihrer Koalition zugelassen, dass die
Wir leisten das, was wir auf der Grundlage der im
gesamte europäische und internationale Politik, vor
Augenblick geltenden Verträge leisten können. Die Bun-
allem die Finanzmärkte, von denen Sie jetzt sagen, wir
deskanzlerin und der französische Staatspräsident haben
müssten sie beruhigen, durch die deutsche Haltung bei
eine Menge Vorschläge erarbeitet, wie wir die Hand-
der Lösung der Krise so stark irritiert und verunsichert
lungsfähigkeit innerhalb der Euro-Zone und die Mecha-
wurden? Bei allem Respekt für Ihre Haltung: Was war
nismen, nach denen wir in der Euro-Zone zu Entschei-
denn das, was wir in den letzten 18 Monaten erlebt ha-
dungen kommen, verbessern können. Das erfordert
ben? Sie persönlich, Herr Schäuble, und Ihre Bundes-
keine Vertragsänderungen. Wir sollten vielleicht darüber
kanzlerin haben vor einem Jahr behauptet, keinen Cent
nachdenken, wie wir die Sanktionsmechanismen verän-
für Griechenland geben zu wollen.
dern können, damit bei Verstößen gegen eingegangene
Verpflichtungen Sanktionen schneller ausgesprochen (Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14555
Sigmar Gabriel
(A) – Oh. – Am 30. Dezember 2009 ging es im Handelsblatt Frau Merkel und Sie sind wie zwei Zauberlehrlinge, die (C)
los. Ich zitiere Herrn Schäuble: „Es wäre falsch verstan- die Geister nicht mehr loswerden, die sie selber gerufen
dene Solidarität, wenn wir den Griechen … unter die haben. Die Rede der Kanzlerin gestern war das beste In-
Arme greifen würden.“ diz dafür.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Guck an!) (Zuruf des Abg. Marco Buschmann [FDP])
Herr Brüderle sagte am 5. März: „Wir haben nicht die Die Rechtfertigungsrhetorik und die Haltet-den-Dieb-
Absicht, einen Cent zu geben.“ Rhetorik dienen doch ausschließlich dazu, die unüber-
sehbaren Lücken in Ihrer Koalition zu vertuschen.
Herr Schäuble, wir haben Sie von Anfang an vor die-
sem Euro-Populismus gewarnt. Aber auch im Jahr 2011 Frau Bundeskanzlerin, Sie und Ihr Finanzminister tun
wurden Sie nicht klüger. Erst haben Sie monatelang eine jetzt so, als sei das, was Sie heute hier dem Parlament
europäische Wirtschaftsregierung abgelehnt, um sie vorlegen, keine Vergemeinschaftung von Schulden. Sa-
dann in einer deutsch-französischen Initiative einzufor- gen Sie einmal: Für wie dumm halten Sie eigentlich Ihre
dern. Natürlich hat Ihnen Ihr bayerischer Ministerpräsi- eigenen Abgeordneten?
dent sofort widersprochen; vermutlich hat er Ihre Äuße- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rungen gegen eine Wirtschaftsregierung vorher für ernst DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gemeint gehalten. Ihnen blieb dann nichts anderes mehr LINKEN)
übrig, Frau Bundeskanzlerin, als das als einen Überset-
zungsfehler darzustellen; ich vermute: bei der Überset- Frau Bundeskanzlerin, viele Ihrer Kollegen durch-
zung in die bayerische Mundart. schauen doch, dass Sie selbst längst die Vergemeinschaf-
tung der Schulden von Griechenland, Portugal, Spanien
Ich kann die Liste der Beispiele fast endlos fortsetzen: und Italien vorangetrieben haben. Wer haftet denn für
von der Ablehnung der Gläubigerbeteiligung, dem die Schuldtitel der Krisenstaaten in Höhe von 120 Mil-
Schuldenschnitt, der Finanztransaktionsteuer im Euro- liarden Euro, die die Europäische Zentralbank aufkaufen
Raum, die Sie, Herr Schäuble, heute selber fordern, bis musste, weil Sie, Frau Merkel, diesen Aufkauf durch den
zum Kauf von Staatsanleihen der Krisenländer durch Rettungsschirm noch im März dieses Jahres verhindert
den Rettungsschirm. Es gab Tage, da musste man Ge- haben?
dächtnisverlust im Stundentakt haben, um die Wider-
sprüche Ihrer Politik nicht zu bemerken. Herr Kollege (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Jawohl!)
Schäuble, jeder, der sich mit der Krise befasst, weiß,
dass es schwer ist, den richtigen Weg zu finden. Jeder Natürlich die Euro-Staaten, die an der Europäischen
(B) weiß, dass es keine einfachen Lösungen gibt und dass Zentralbank beteiligt sind, also auch Deutschland. In den (D)
manches, was man gestern noch für undenkbar hielt, Tresoren der Europäischen Zentralbank liegen die ersten
morgen bereits gemacht werden muss. Deshalb werfe 120 Milliarden Euro an vergemeinschafteten Schulden.
ich Ihnen den Wechsel mancher Positionen nicht wirk- Das sind die ersten Merkel-Bonds, die wir hier im Hause
lich vor – Sie mussten sich vorsichtig vortasten –, aber bekommen haben.
was ich Ihnen vorwerfe, ist die Selbstgerechtigkeit, mit (Beifall bei der SPD – Lachen des Bundes-
der Sie uns vorgestern und gestern hier im Haus Lehren ministers Dr. Guido Westerwelle – Norbert
erteilen wollten. Barthle [CDU/CSU]: Das ist unter Stamm-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tischniveau!)
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE – Ihre Kollegen lachen nicht, weil sie wissen, dass Sie
GRÜNEN) schon die ersten 120 Milliarden Euro vergemeinschaftet
Noch viel schlimmer ist: Sie haben mit Ihren kurz- haben.
sichtigen und dummen Parolen die Öffentlichkeit und Es war übrigens Deutschland, es war einer Ihrer Vor-
Ihre eigenen Abgeordneten immer erst richtig auf die gänger, Frau Bundeskanzlerin, Helmut Kohl, und einer
Bäume getrieben der Vorgänger von Herrn Schäuble, Herr Waigel, die bei
der Währungsunion darauf geachtet haben, dass die Eu-
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
ropäische Zentralbank eine neutrale Rolle als Währungs-
CSU und der FDP)
hüterin genauso wie vorher die Bundesbank als Auftrag
und wissen jetzt nicht, wie Sie sie wieder herunterbe- bekommen hat. Die Neutralität der Europäischen Zen-
kommen sollen. tralbank war einmal der sicherste Stabilitätsanker des
Euro. Und was machen Sie? Sie haben aus diesem Stabi-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten litätsanker, aus der EZB, eine europäische Bad Bank ge-
der LINKEN) macht,
Sie haben dem Boulevard und den Stammtischen Ihrer (Marco Buschmann [FDP]: Ach was! Es geht
eigenen Fraktion Zucker gegeben, und deshalb müssen um Stabilität!)
Sie jetzt um Ihre eigene Mehrheit fürchten.
die sich inzwischen gegen die Gläubigerbeteiligung in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Finanzkrise wehren muss, weil sie sonst selber in
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gefahr gerät. Sie haben sie zum Bestandteil der Krise
14556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Sigmar Gabriel
(A) statt zum Schützer der Währung in Europa gemacht, schied zu Euro-Bonds ist doch nur noch, dass diese tat- (C)
meine Damen und Herren. sächlich eine echte Änderung der EU-Verträge erfordern
und deshalb wirklich nicht so schnell realisierbar wären.
(Beifall bei der SPD)
Herr Schäuble, wir verstehen ja, dass Sie auf der Ba- (Otto Fricke [FDP]: Aha! Interessant!)
sis der geltenden Verträge eine Gläubigerbeteiligung nur Wir glauben, dass wir diese Vertragsänderungen mit-
in Verhandlungen durchsetzen können. Aber das heißt telfristig brauchen. Denn die Einflussnahme auf die
nicht, dass man das, was die Banken einem vorlegen, Haushalts-, die Finanz- und die Steuerpolitik der Euro-
auch gleich unterschreiben muss. Wissen Sie: Sie neh- Krisenstaaten ist ohne Vertragsänderungen aus unserer
men den Mund ja gern ziemlich voll, Sicht zu gering. Wer die Hilfe anderer Mitgliedstaaten
(Otto Fricke [FDP]: Oh! Das sagt der braucht, muss akzeptieren, dass diese Mitgliedstaaten
Richtige!) über die Europäische Union auch Einfluss auf die Fi-
nanzpolitik, die Haushalte und die Steuerpolitik der Kri-
wenn Sie SPD und Grüne für den damaligen Umgang senstaaten erhalten. Nur so schaffen wir auf Dauer Stabi-
mit den Stabilitätskriterien von Maastricht kritisieren. lität.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Otto (Beifall bei der SPD)
Fricke [FDP]: Zu Recht!)
Sie selbst, Herr Schäuble, wollen diese Vertragsände-
– Ja, das wusste ich. Ich wollte Ihnen auch einmal einen rungen ja. Nur: Ihre Kanzlerin folgt Ihnen mal wieder
Gefallen tun nicht. Nichts scheut die Bundeskanzlerin so sehr wie
(Otto Fricke [FDP]: Das gelingt Ihnen nicht!) starke EU-Institutionen. Anders als Sie, Herr Schäuble,
nimmt die Kanzlerin lieber die Risiken eines schwachen
und das in meiner Rede erwähnen. Selbst wenn man un- Europas in Kauf, als Souveränität an Europa abzugeben.
terstellt, Sie hätten recht: Niemals zuvor hat jemand den
wichtigsten Stabilitätsanker des Euro so sehr und nach- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Was? Sie wa-
haltig beschädigt wie Sie und Ihre orientierungslose Re- ren wohl gestern nicht hier!)
gierung im Umgang mit der Europäischen Zentralbank.
Dafür sind Sie zu Recht vom Bundespräsidenten heftig Genau das ist der politische Bruch mit allen Kanzlern
kritisiert worden. vor ihr. Angela Merkel ist die erste Kanzlerin der Repu-
blik, der genau dieses Bewusstsein fehlt. Deshalb
(Beifall bei der SPD) schrieb Helmut Kohl ihr ins Stammbuch – ich zitiere –:
Heute folgt nun der zweite Schritt zur Vergemein- „… keinen Standpunkt oder keine Idee …, wo man hin-
(B)
schaftung von Schulden, diesmal Gott sei Dank nicht gehört und wo man hin will.“ Meine Damen und Herren, (D)
mehr über die EZB, sondern über den Rettungsschirm, wenn der Kopf der Regierung nicht wirklich von Europa
die EFSF. Herr Schäuble, Frau Merkel, Sie haben noch überzeugt ist, wie soll es dann der Rest sein? Kein Wun-
vor wenigen Monaten erklärt, Sie seien gegen den An- der, dass bei Ihnen ständig alles zerstritten und zerredet
kauf von Schuldtiteln auf den Sekundärmärkten durch wird.
den Euro-Rettungsschirm. (Marco Buschmann [FDP]: Mich würde inte-
(Thomas Oppermann [SPD]: Richtig!) ressieren, was wohl Hans-Jochen Vogel Ihnen
ins Stammbuch schreiben würde!)
Heute schlagen Sie in dem vorgelegten Gesetzentwurf
genau diesen Ankauf von Schuldtiteln vor, weil Sie Ein Hühnerhaufen ist im Vergleich zu Ihrer Truppe eine
wahrscheinlich gemerkt haben, dass Ihre fatale Haltung ziemlich geordnete Formation. Wer heute von außerhalb
zur EZB die Währungsstabilität auf Dauer gefährdet. Deutschlands auf Ihre Europapolitik schaut, der kann
Heute schlagen Sie also das genaue Gegenteil von dem vieles erkennen, aber keine klare Linie und kein Kon-
vor, was Sie noch vor wenigen Monaten verteufelt ha- zept.
ben: den Ankauf von Schuldtiteln durch die EFSF.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Marco Buschmann [FDP]: Und was machen DIE GRÜNEN)
Sie? Wie lauten denn Ihre Vorschläge?)
Herr Schäuble, Sie hätten das, was Sie wissen und
Natürlich setzen Sie damit den Weg in die Vergemein- auch selber meinen, von Anfang an offen sagen müssen,
schaftung der Schulden in der Euro-Zone fort. Deutsch- vor allen Dingen hätten Sie konsequent die Wahrheit sa-
land haftet im schlimmsten Fall mit mehr als 200 Mil- gen müssen. Die Wahrheit ist: Sie sind längst auf dem
liarden Euro. Das ist die zweite Tranche der Merkel- Weg in die Vergemeinschaftung von Schulden. Die
Bonds, meine Damen und Herren. Das ist die Realität, heimliche Vergemeinschaftung von Schulden durch die
vor der wir stehen. Zerstörung der Handlungsfähigkeit der EZB muss ein
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ende haben. Deshalb ist die EFSF jetzt der richtige
Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE Schritt. Die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten
GRÜNEN]) im Hinblick auf die Haushalte und Schulden der Euro-
Mitgliedstaaten müssen aber dringend erweitert werden.
Bei Ihnen und Ihrer Haltung wächst nichts mehr zusam- Dabei müssen wir endlich die Geburtsfehler des Euro
men, weil auch nichts zusammengehört. Der Unter- beheben. Wir brauchen mehr europäischen Einfluss auf
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(A) die Stabilitäts-, Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik kämpft haben und das die FDP noch heute bekämpft, (C)
der einzelnen Mitgliedstaaten. nämlich das deutsche Modell der Zusammenarbeit von
Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat. Es ist das Modell
(Beifall bei der SPD) der Sozialpartnerschaft, das Spielregeln für Wirtschaft,
Was wir heute hier im Bundestag vorgelegt bekom- Entwicklung und soziale Entwicklung setzt. Ausgerech-
men, sind erste Schritte auf diesem richtigen Weg. Das net dieses Modell, bei dem der Staat in Krisenzeiten in-
ist in der Tat schwierig und wird vermutlich auch nicht terveniert, hat Ihre Kanzlerin noch gestern zum Haupt-
ausreichen; aber es sind eben die ersten richtigen grund der Krise in Europa erklärt. Vielleicht sollten
Schritte dieser Regierung in der Euro-Krise. Deshalb diejenigen in der CDU/CSU, die sich in der Geschichte
werden wir sie mitgehen. der Republik ein bisschen besser auskennen, der Kanzle-
rin mal erklären, wo tatsächlich die Schulden in
Neben Ihrem Zickzackkurs ist der wohl fundamen- Deutschland entstanden sind.
talste europapolitische Fehler von CDU/CSU und FDP
die verkürzte Kosten-Nutzen-Rechnung der gesamten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei euch!)
Euro-Debatte, die Sie hier ständig angeführt haben.
– Herr Kauder, wollen Sie es vorgelesen bekommen?
Deutschland wird von Ihnen ständig als Zahlmeister hin-
Das kann ich gerne machen. Bei Ihnen kann man ja rela-
gestellt, der für die Faulheit anderer immer zur Kasse ge-
tiv häufig mit Zwischenrufen rechnen. – Frau Kanzlerin,
beten werden soll. Auch wir Sozialdemokraten wollen
es ist sehr interessant, dass Sie gestern – da habe ich zu-
die Fehler – die Korruption und vor allen Dingen den
gehört – gesagt haben, das habe mit der Großen Koali-
Betrug unter der konservativen christdemokratischen
tion in den 60er-Jahren begonnen. Bis 1982 – da fand die
Regierung in Griechenland, der Vorgängerregierung des
Regierungsübernahme durch CDU/CSU und FDP statt –
heutigen Ministerpräsidenten – nicht rechtfertigen. Das
hatte Westdeutschland 314 Milliarden Euro Schulden.
wäre unverantwortlich. Auch wir sagen: Griechenland
Das waren ungefähr 37 Prozent des BIP. 1989 waren es
kann nur europäische Hilfen erhalten, wenn es seine Zu-
schon 474 Milliarden Euro und 45 Prozent des BIP.
sagen einhält. Aber es sind eben nicht vor allem unver-
Dann kam das Versprechen des CDU-Bundeskanzlers,
antwortliche Regierungen gewesen, die Europa an den
die deutsche Einheit koste nichts, und dann waren es
Rand des Abgrunds geführt haben.
1,2 Billionen Euro und 60 Prozent des BIP.
(Zuruf von der FDP: Wer hat denn die Schul-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie wollten die
den gemacht?)
deutsche Einheit doch nie! Sie waren gegen
In Irland, in Spanien und Portugal sind es vor allen Din- die deutsche Einheit!)
gen unverantwortliche Banken und Spekulanten gewe-
(B) sen, die diese Euro-Länder in die katastrophale Ver- Unsere Schulden haben ganz wenig damit zu tun, dass (D)
wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten, aber ganz viel
schuldung getrieben haben.
mit Ihrer gescheiterten Ideologie freier Märkte und ganz
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viel mit gebrochenen Wahlversprechen in Deutschland,
der LINKEN) unter anderem auch beim Umgang mit der deutschen
Einheit.
Nichts anderes ist auch bei uns der Fall. Es ist wirk-
lich unfassbar, dass Ihre Kanzlerin gestern schon wieder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
so getan hat, als wären die Staatsschulden in den Euro- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mitgliedstaaten allein durch falsches Regierungshandeln
entstanden, als litten alle unter zu hohen Staatsschulden, Anstatt daraus etwas zu lernen und endlich aufzuhören,
weil sie über ihre Verhältnisse gelebt hätten. den Menschen unhaltbare Versprechungen zu machen,
machen Sie – Sie haben nichts gelernt – im Gegenteil so
(Otto Fricke [FDP]: Ja, wer hat denn die weiter wie vorher. Jetzt versprechen Sie schon wieder
Schulden gemacht?) Steuergeschenke, die unbezahlbar sind. Während wir
noch fast 30 Milliarden Euro neue Schulden machen,
– Sie rufen auch noch „Ja“. – Die Wahrheit ist doch, dass
fantasieren Sie über Steuersenkungen von mehr als
diese Staatsschulden ganz wesentlich durch den Verlust-
10 Milliarden Euro pro Jahr. Sie sind wirklich nicht
sozialismus des Bankensektors entstanden sind.
mehr ganz bei Trost, meine Damen und Herren. Anders
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann man das nicht bezeichnen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
– Interessant, dass die CDU das eigentlich unkommen- DIE GRÜNEN)
tiert hinnimmt, aber ausgerechnet die FDP unruhig wird,
wenn man die Banken kritisiert. Die Krise des Euro ist ganz wesentlich eine Krise der
verwahrlosten Finanzmärkte. Es war eben ein konserva-
Sie verkleistern die Gründe für die Schuldenkrise, tiver und liberaler Irrglaube, diese Ideologie der Markt-
und man fragt sich: Warum? Weil Sie die Finanzmärkte gläubigkeit und der Staatsfeindlichkeit, die Einstellung,
immer noch schonen wollen? In Wahrheit ist dieses alles das, was Finanzmärkte tun, ihren eigenen Regeln
dumme Modell der wirtschaftlichen und sozialen Staats- zu überlassen, jahrelang vertreten zu haben. Wir sagen
feindlichkeit, das Sie noch ständig verteidigen, doch Ihnen: Diese Dominanz der Finanzmärkte sind wir nicht
längst gescheitert. In Wahrheit hat das Modell weltweit länger bereit zu dulden; denn sie ist ohne jede demokra-
gewonnen, das Sie in den 90er-Jahren so massiv be- tische Legitimation. Sie berührt inzwischen auch die
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(A) Demokratie selbst. Sie bedroht Europa nicht nur als den Willen von Ludwig Erhard beschlossen wurde, bis (C)
Wirtschaftsstandort, sondern auch als Lebensort, Werte- heute gilt. Das ist das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz.
gemeinschaft und funktionsfähige Demokratie.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker
Weil Ihre Diagnose falsch ist und Sie immer noch Kauder [CDU/CSU]: Das weiß ich sehr wohl!)
glauben, die Menschen lebten über ihre Verhältnisse,
statt zu schauen, welche Krisen in den Finanzmärkten Dass bei Ihnen offensichtlich der Zustand erreicht ist,
entstehen, und diesen Verlustsozialismus zu beenden, dass Sie inzwischen selber nicht mehr wissen, was in
haben Sie auch noch die falsche Therapie. Es reicht eben Deutschland Recht und Gesetz ist, das wundert mich al-
nicht aus, einzig und allein auf das Sparen zu setzen. Um lerdings.
jedem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich gehört
Sparen dazu. Vor allem die konjunkturunabhängigen (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Staatsausgaben in den Krisenstaaten müssen runter. Weniger Gabriel! – Volker Kauder [CDU/
CSU]: Dafür brauche ich Sie aber nicht!)
(Otto Fricke [FDP]: Aha! Bei uns auch?)
– Anscheinend doch, sonst würden Sie nicht so seltsame
Aber ich weiß auch noch, wie uns hier von Herrn Zwischenrufe machen. Schade, dass die nicht jeder hö-
Westerwelle und anderen Irland als leuchtendes Beispiel ren kann.
eines deregulierten Niedriglohn- und Niedrigsteuerlan-
des vorgestellt wurde. Damit Sie wissen, worum es geht, Herr Kauder: Das
ist nicht nur Philosophie. Es geht um Folgendes: Wie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wachsen die Menschen auf, die morgen und übermorgen
DIE GRÜNEN)
Europa sein werden? Als wir alle groß geworden sind,
Das heißt, neben dem Sparen muss man als Zweites war Europa ein Zeichen der Hoffnung und der Perspek-
Ihre Ideologie des Niedrigsteuerlandes beenden. Man tive für junge Menschen. Das hat sich ins Gegenteil ver-
muss dafür sorgen, dass in diesen Ländern die Steuern kehrt: 45 Prozent Arbeitslosigkeit in Spanien, 40 Prozent
erhoben werden, die nötig sind, um den Staatshaushalt in Griechenland, 22 Prozent in Frankreich und 20 Pro-
zu finanzieren. Wir können doch nicht in Deutschland zent in England.
den Menschen Steuern abverlangen und anderswo in ei-
nen Steuerdumpingwettbewerb eintreten. Das muss doch (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Und in
endlich beendet werden. Dazu gab es von Ihnen kein Deutschland, Herr Gabriel?)
einziges Wort.
– Wissen Sie, warum bei uns die Arbeitslosigkeit niedri-
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ger ist? Weil wir das getan haben, was Ihre Kanzlerin (D)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gestern als Ursache aller Krisen angesehen hat: Wir ha-
ben in der Krise investiert, Konjunkturprogramme auf-
Ludwig Erhard mit seinen Sparappellen – Sie haben gelegt und uns in der Krise verschuldet. Das ist der
ja mit Ihrem Blick zurück auf die erste Große Koalition Grund, warum wir aus der Krise besser als andere he-
weit in die Vergangenheit geschaut, Frau Bundeskanzle- rausgekommen sind.
rin; ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie darüber nicht
allzu viel wissen – (Beifall bei der SPD)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dummer Jetzt, wo die Krise vorbei ist, wollen wir die Schulden
Spruch!) herunterführen und keine Steuergeschenke machen. Statt
und seiner Aufforderung, Maß zu halten – für ihn war dumme Vorschläge über Goldreserven und anderes zu
Sparen die einzige Antwort auf die erste Krise –, ist ra- machen, mit denen Frau von der Leyen in der letzten
sant gescheitert. Danach kamen unter anderem Schmidt Zeit aufgefallen ist, sollte die deutsche Arbeitsministerin
und Schiller und haben erklärt: Preisstabilität ist wichtig, ihre Kollegen einmal einladen und darüber reden, ein
aber wir müssen genauso in Wachstum und Beschäfti- Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf-
gung investieren. Ich sage Ihnen, was wir brauchen: We- zulegen. Das sind nämlich die Menschen, die morgen
niger Erhard und Merkel, mehr Schmidt und Schiller in Europa tragen sollen. Aber nichts davon bringen Sie auf
Europa! Das ist die richtige Entwicklung für Deutsch- den Weg.
land.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/
CSU]: Das ist nur noch peinlich!) Stellen Sie das dumme Gerede vom „Zahlmeister
Europas“ ein. In Wahrheit sind wir die politischen und
– Haben Sie etwas zu sagen, Herr Kauder? die wirtschaftlichen Gewinner Europas und des Euros –
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist nur noch politisch, weil es die deutsche Einheit ohne Europa gar
peinlich! Bei Ihnen fällt einem fast nichts nicht gäbe und weil nichts, was wir jetzt erleben, so
mehr ein!) teuer sein kann, wie es ohne die deutsche Einheit gewor-
den wäre. Der Zugewinn an Freiheit und Sicherheit und
– Herr Kauder, Sie scheinen nicht einmal zu wissen, dass die wirtschaftliche Prosperität können durch nichts er-
das Gesetz, das damals in der Großen Koalition gegen setzt werden.
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(A) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben – Ja, natürlich. Wenn man wieder eintritt, muss man vor- (C)
uns doch gerade die Kosten der Wiedervereini- her ausgetreten sein. Anders geht das, glaube ich, selbst
gung vorgeworfen!) bei Ihnen nicht.
– Nein, ich habe Ihnen vorgeworfen, dass Sie damals die (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine
Menschen über die Kosten der Wiedervereinigung be- schwache Antwort!)
schwindelt haben. Das habe ich Ihnen vorgeworfen,
nicht die Kosten selber. Zweitens. Es ändert nichts daran, Herr Kollege
Altmaier, dass der Grundgedanke des Stabilitäts- und
(Beifall bei der SPD) Wachstumsgesetzes, sich eben nicht nur um ein Thema
Sie haben doch gesagt: Dafür brauchen wir keine Steuer- zu kümmern, also nicht nur um Preisstabilität, sondern
erhöhung, das zahlen wir alles so. – 1,2 Billionen Euro um die Balance von Preisstabilität, Wirtschaftswachs-
Staatsverschuldung sind daraus geworden. tum, hohem Beschäftigungsniveau und Außenhandels-
gleichgewicht, die richtige Antwort auf die nationale
Wir sind auch die wirtschaftlichen Gewinner, weil wir Wirtschaftskrise war. Und das war die Antwort von
eine Exportnation sind. Statt das als Bundesregierung Schmidt und Schiller. Das wäre auch jetzt die richtige
von Anfang an zu sagen und für die Mithilfe in Europa Antwort in Europa.
durch Deutschland zu werben, haben Sie die Leute erst
mit Stammtischparolen – die Griechen sollen ihre Inseln (Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht die
verkaufen, und ich weiß nicht, was noch alles – auf die Antwort auf seine Frage!)
Bäume gebracht.
Wir brauchen das berühmte magische Viereck dieser
Die Sozialdemokraten haben als Antwort auf – – vier Ziele als gemeinsame Wirtschaftspolitik in Europa.
Darum geht es.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Also mehr In-
Herr Gabriel, möchten Sie noch eine Zwischenfrage flation und mehr Arbeitslosigkeit! Sehr gut!)
des Kollegen Altmaier beantworten?
Ihr Sparappell führt doch, wenn er nicht durch
Sigmar Gabriel (SPD): Wachstum und durch die Schaffung von Beschäfti-
Gerne. gungschancen ergänzt wird, nur dazu, dass die Staaten
immer mehr in die Krise hineingeraten und dass wir in
Deutschland damit nicht herauskommen. – Das war die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Antwort zum Thema Schmidt und Schiller.
(B) Bitte schön. (D)
(Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU] will wieder
Peter Altmaier (CDU/CSU): Platz nehmen)
Herr Kollege Gabriel, Sie haben vorhin gesagt: Wir – Vorsicht, halt; Sie wollten doch noch etwas zu Helmut
brauchen mehr Schmidt und Schiller. – Ist Ihnen erstens Schmidt wissen.
bekannt, dass der damalige Finanz- und Wirtschafts-
minister Karl Schiller 1972 aus der SPD ausgetreten und (Zurufe von der CDU/CSU)
als Minister zurückgetreten ist, weil er mit der Verschul-
– Ich kann Ihnen das nicht ersparen. – Helmut Schmidt
dens- und Inflationspolitik seiner eigenen Partei nichts
ist derjenige, der mit Valéry Giscard d’Estaing die euro-
zu tun haben wollte?
päische Einheit vorangetrieben hat. Helmut Kohl hat das
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Der ist wieder fortgesetzt und zu großem Erfolg gebracht. Wir wären
eingetreten!) heute alle froh, wenn wir in Europa politische Führungs-
persönlichkeiten vom Schlage Schmidt, Giscard
Ist Ihnen zweitens bekannt, dass sein Nachfolger damals d’Estaing oder auch Helmut Kohl hätten. Leider müssen
Helmut Schmidt war, der bereit war, diese Politik mit wir uns aber mit Frau Merkel und Herrn Sarkozy zufrie-
dem Spruch „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Ar- dengeben. Das ist das, was wir zurzeit erleben.
beitslosigkeit“ fortzusetzen, und dass am Ende der
Amtszeit dieses Ministers 5 Prozent Arbeitslosigkeit und (Beifall bei der SPD – Abg. Peter Altmaier
5 Prozent Inflation zu verzeichnen waren? [CDU/CSU] nimmt wieder Platz)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Vielleicht stellen Sie noch eine Zwischenfrage.

Sigmar Gabriel (SPD): Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten ha-
ben als Antwort auf die Entwicklung der Finanzmärkte
Erstens. Mir ist bekannt, dass Karl Schiller später
2009 einen Paradigmenwechsel gefordert. Wenn wir
wieder in die SPD eingetreten ist. Ich glaube, heute ist
nicht ernst machen mit der Regulierung der Finanz-
Peer Steinbrück Vorsitzender einer Gesellschaft, die das
märkte und mit der Verschränkung von Risiko und Haf-
Ziel hat, sein Erbe und seine Vernunft im Bereich der
tung auf den globalen Finanzmärkten, also der Beteili-
Wirtschaftspolitik in Deutschland wachzuhalten.
gung der Gläubiger an den Kosten der Krise, dann droht
(Beifall bei der SPD – Peter Altmaier [CDU/ ein Kompetenzverlust des Politischen und der Demokra-
CSU]: Aber ausgetreten ist er!) tie insgesamt.
14560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Sigmar Gabriel
(A) Wir dürfen eben nicht zulassen, dass solche Propa- Wer das versteht, der wird politisch vernünftig han- (C)
gandaparolen in die Welt gesetzt werden, als seien die deln. Wer das nicht versteht, verspielt die Zukunft nicht
Probleme gelöst, wenn die Menschen nicht mehr über nur des Euros, sondern der Demokratie in Europa.
ihre Verhältnisse lebten. Ich habe gestern einen Brief ei-
nes im Bewachungsgewerbe Tätigen bekommen, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
4,01 Euro pro Stunde verdient. Er hat Ihre Sprüche, er Sie haben mit Ihrer Propaganda gegen Europa und den
würde über seine Verhältnisse leben, genau verfolgt. Er Euro über Monate nichts anderes gemacht, als Europa in
muss 300 Stunden im Monat arbeiten, um auf 1 000 Euro Misskredit zu bringen. Jetzt haben wir es alle miteinan-
brutto zu kommen. Das sind die Leute in Deutschland, de- der sehr schwer, da wieder herauszukommen. Wir woll-
nen Sie sagen, sie lebten über ihre Verhältnisse. ten das nicht.
(Beifall bei der SPD) Sie wollten als Eiserne Kanzlerin in der Bild-Zeitung
abgebildet werden, unter der Überschrift „Keinen Cent
Deshalb geht es darum, diejenigen zur Verantwortung für Griechenland“. Jetzt haben wir Mühe, zu erklären,
zu ziehen, die tatsächlich an der Krise schuld sind. Wir dass das alles in die falsche Richtung gelaufen ist.
müssen dabei Europa neu begründen und unseren Bürge-
rinnen und Bürgern erklären, dass wir in Zukunft in der Man darf sein Volk nicht in eine falsche Richtung auf-
Welt eben nicht mehr als Einzelstaaten Gehör finden. Ob wiegeln. Man muss als Politiker wissen, in welche Rich-
Klimapolitik, Migrationsfragen, Außen- und Sicher- tung man will, und dafür kämpfen und eintreten. Nichts
heitspolitik oder Wirtschaftspolitik – nur als Europäer davon haben Sie in den letzten Monaten getan.
werden wir an Einfluss gewinnen. (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei
Die Alternative dazu ist noch schmerzlicher. An wen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
soll ein hochverschuldeter Mitgliedstaat eigentlich seine GRÜNEN)
Kompetenzen abgeben? An eine gemeinsame EU, die
demokratisch legitimiert ist? Oder an anonyme Finanz- Präsident Dr. Norbert Lammert:
märkte, die inzwischen gegen alles wetten, was schnel- Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle für
len Gewinn verspricht? die FDP-Fraktion.
Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zu einer Schuldenkrise ausgeweitet hat, ist auch das der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
Symptom unserer gescheiterten Gesellschaftspolitik der DIE GRÜNEN]: Aber nicht wieder Nord-
letzten Jahrzehnte. In der Folge waren die Rechnungen rhein-Westfalen-Tag! – Jürgen Trittin [BÜND-
(B) für das Streben nach unbegrenztem Wirtschaftswachs- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Tätä, tätä!) (D)
tum auf Pump und die Gier nach maximalen Renditen
und maßlosen Profiten geschrieben. Rainer Brüderle (FDP):
Die notwendige Schaffung verbesserter internationa- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
ler Mechanismen muss in Europa beginnen. Wir wollen, lege Gabriel, wir diskutieren ein sehr ernstes Thema,
dass wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Zusammenhalt nämlich wie wir Europa neu gestalten: Europa ja, aber
wieder zusammenfinden. Darum, Frau Bundeskanzlerin, ein Stück anders als bisher.
geht es, nicht nur um Rettungsschirme. Man kann das auf zwei Wegen machen. Man kann das
wie Sie in parteipolitischer Polemik tun. Dabei kann ich
Es geht nicht darum, den Menschen ständig zu sagen,
Ihnen mindestens so lange, wie Sie es getan haben, vor-
sie sollten weniger verbrauchen.
halten, was bei Ihnen alles schiefgelaufen ist, mit dicken
(Marco Buschmann [FDP]: Das sagen doch Backen rauf oder runter.
die Grünen!) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Es geht vielmehr darum, dass wir dafür Sorge tragen, GRÜNEN]: Das haben Sie ja gestern schon
dass die tatsächlichen Ursachen der Krise endlich bewäl- gemacht! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]:
tigt werden. Sie haben seit der Großen Koalition und den Das haben Sie gestern gemacht!)
Verabredungen beim G-20-Gipfel in Pittsburgh fast Man kann sich dem Thema aber auch ernsthaft nä-
nichts auf den Weg gebracht. Sie haben alles liegen ge- hern. Es geht darum, wie wir das Vertrauen der Men-
lassen. schen für eine europäische Zukunft gewinnen.
Sie sind mit der Finanzkrise so umgegangen wie man- Wir haben andere Bedingungen in Europa. Europa ist
che mit dem Elbhochwasser. Immer, wenn das Wasser nicht mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleichzu-
im Keller steht, dann heißt es: Nie wieder in Über- setzen. Es ist kein Melting Pot. Europa ist Vielfalt. Wir
schwemmungsgebieten bauen. Wenn das Wasser weg ist, haben eine Wirtschafts- und Währungsunion, keine poli-
wird weitergemacht wie bisher. – Sie haben das alles in tische Union. Wir müssen Regeln haben, damit es funk-
Europa und international zugelassen. Wir wollen dafür tioniert. Gegen diese Regeln darf nicht verstoßen wer-
Sorge tragen, dass in Europa endlich wieder in Wachs- den, sonst kann es nicht funktionieren. Was Herr
tum und Beschäftigung investiert wird, damit wir aus der Schäuble heute vorgelegt hat, bedeutet die Gründung ei-
Schuldenkrise herauskommen. ner neuen Stabilitätskultur.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14561
Rainer Brüderle
(A) Es hat auch keinen Sinn, einen billigen Weg zu gehen. ten, und jetzt empfehlen Sie uns staatliche Eingriffe als (C)
Die Euro-Bonds haben Sie gar nicht mehr erwähnt, Lösung.
nachdem Ihnen das Verfassungsgericht klar ins Stamm-
buch geschrieben hat: So geht es nicht, weil das eine ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
samtschuldnerische Haftung für alle europäischen Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Weil Sie
Staatsschulden bedeutet. nicht mit Geld umgehen können!)
Die Bundeskanzlerin hatte mit ihren Ausführungen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
recht. Ihre Polemik wegen ihres anderen Lebenswegs ist
der CDU/CSU)
fehl am Platz. Wir sollten stolz darauf sein, dass jemand,
Diese Wundertüte will selbst Ihre SPD-Basis nicht. der einen anderen Lebensweg hatte, der einen Teil seines
Erklären Sie Ihren Arbeitnehmern doch einmal, welche Lebens in der DDR gelebt hat, an der Spitze unseres
Haftung wir mit einer solchen Wundertüte von Euro- Staates steht; denn das ist ein Symbol dafür, dass wir
Bonds eingehen würden! gemeinsam unseren Weg gehen. Sie aber greifen zu billi-
ger Polemik und sagen: Sie waren ja bei der ersten Gro-
(Thomas Oppermann [SPD]: Frau Merkel hat ßen Koalition nicht dabei. – Was Sie hier machen, ist
das auch gewollt!) einer parlamentarischen Debatte unwürdig. Das gilt
Es geht vielmehr darum, dass wir die Strukturen an- selbst für Sie, Herr Gabriel.
passen. Man hat damals einen Stabilitäts- und Wachs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tumspakt gemacht. Denn die deutsche Mitgift für die eu-
ropäische Zukunft ist die Idee der Geldwertstabilität. Was sie gemeint hat, ist richtig. Es handelt sich um
Jede deutsche Familie kann vom Großvater und Urgroß- ein generelles Problem. Man hat sich zu sehr von den
vater berichten, die in Deutschland zweimal ihr Geld realwirtschaftlichen Strukturen entfernt. Sie hingegen
verloren haben. Wir hatten zweimal einen Währungs- glauben, immer neue Konjunkturprogramme aufzulegen
schnitt. Deshalb war es für uns ganz entscheidend, die und Geld zu drucken, würde zu Wirtschaftswachstum
Unabhängigkeit der Notenbank und die Verpflichtung führen. Nein, am Schluss muss man effizient sein, man
auf Geldwertstabilität in den Prozess einzubringen, und muss Ressourcen anders kombinieren.
zwar aus zwei Gründen. Erstens kann eine Marktwirt- (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie
schaft nur dann funktionieren, wenn die sie steuernden schmeißen das Geld raus! – Thomas
Signale, nämlich die Preise, die Knappheitsrelation rich- Oppermann [SPD]: Sie senken die Steuern!)
tig widerspiegeln. Bei einer inflationären Entwicklung
spiegeln sie die Knappheitsrelation nicht richtig wider. Der Wiederaufstieg in Deutschland war nicht allein
(B) Der zweite Grund ist die soziale Dimension. Die größte durch konjunkturelle Maßnahmen bedingt, sondern er (D)
soziale Schweinerei ist Inflation. war dem Fleiß und Einsatz der Menschen geschuldet, er
war möglich aufgrund der mittelständischen Strukturen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und des Ideenreichtums der Menschen. Deshalb ist der
Es sind die kleinen Leute, die ein Sparbuch und ein schnelle Wiederaufstieg Deutschlands erfolgt.
Girokonto haben, die der Inflation nicht ausweichen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
können. Deshalb war der Hinweis des Kollegen Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Altmaier richtig. Es ist eine Illusion, zu meinen, dass GRÜNEN]: Reden Sie doch nicht von den
man, wenn man eine lockere Geldpolitik betreibt, Euro- Menschen! Sie wissen doch gar nicht, wovon
Bonds einführt und die Stabilitätsregeln bricht, etwas Sie reden!)
erreicht. Man erzielt vielleicht einen kurzfristigen
Effekt, aber langfristig sind es die kleinen Leute und die Sie sind dem Münchhausen-Theorem verpflichtet, das
Schwachen, die dafür die Zeche zahlen. Das ist das besagt, möglichst viele Staatsausgaben zu tätigen und
Resultat, wenn man Grundsätze nicht durchhält. Das immer weitere Konjunkturprogramme aufzulegen. Als
aber, nämlich Grundsätze durchhalten, ist es, was wir wir die Konjunkturprogramme schrittweise zurückge-
erreichen müssen. führt haben, wurde dies kritisiert. Ich kenne diese Kritik.
Wenn sich die Situation verbessert, dann muss man die
Die soziale Marktwirtschaft ist bei uns Realität. Wir Sondermaßnahmen zurückführen. Sie hingegen denken
müssen sie wieder nach Prinzipien ausrichten, und wir immer noch in der Tonnenideologie. Das ist verkehrt.
müssen Grundsätze durchhalten Man muss in realwirtschaftlichen Strukturen denken.
Wirtschaftspolitik gleicht der Uhrmacherarbeit, sie hat
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nichts mit dem globalen Hin- und Herschieben von
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie rui-
Staatsausgaben zu tun.
nieren sie doch! Wo regieren Sie denn?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und diese hier in Europa einpflanzen, damit Europa eine der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Sie
Erfolgsstory wird. Was ist denn im Bankensektor pas- sind uns ja als Feinmechaniker bekannt!)
siert? Es war doch die WestLB, die unter Ihrer Kontrolle
in Nordrhein-Westfalen ist, die das Geld verbrannt hat. Man kann über viele Ihrer Ausführungen über Irland
Die staatseigenen Landesbanken in Deutschland haben oder andere Staaten reden. Irland hat, was die Realwirt-
bisher 130 Milliarden Euro verbrannt. Das war Steuer- schaft betrifft, einen guten Weg eingeschlagen. Die
zahlergeld, für das die Steuerzahler hart arbeiten muss- Lösung kann doch nicht sein, dass der Deutsche Bundes-
14562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Rainer Brüderle
(A) tag oder gar die deutsche Sozialdemokratie die politische mit einer Stabilitätskultur verknüpfen, damit es funktio- (C)
Führung in Irland übernimmt. Es sind übrigens Ihre niert. Viele draußen in der Welt, auch unsere amerikani-
Genossen in Spanien, die gerade eine Jugendarbeits- schen Freunde, haben gar nicht geglaubt, dass das mit
losigkeit in Höhe von 40 Prozent produziert haben. Die dem Euro auf den Weg kommt. Sie haben nicht geglaubt,
Lösung kann vielmehr nur sein, dass wir unter Wahrung dass wir das so weit führen können. Sie glauben auch
der Souveränität von Irland und mit allem Respekt heute nicht, dass wir die Kraft haben, es so zu richten,
gemeinsam Regeln vereinbaren, die Irland auf den Pfad dass es funktioniert.
der Tugend führen. Es geht eben nicht, dass man mit
einer finalen Bankenbesteuerung von 10 Prozent den Es gilt das, was Wolfgang Schäuble gesagt hat: Es
Wettbewerb in Europa verzerrt. Wenn diese Regierung gibt bei Griechenland klare Vereinbarungen, und die
nicht hart gehandelt und sich Zeit genommen hätte, dann Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem
hätten wir jetzt nicht eine Entwicklung in Europa hin zu Währungsfonds und Europäischer Kommission ist aus
einer Stabilitätskultur. Jetzt wird die Schuldenbremse in Athen abgereist, weil Zusagen nicht eingehalten worden
Spanien und in Italien in der Verfassung verankert. Auch sind. Wenn die Griechen Zusagen nicht einhalten, gibt es
Frankreich geht in diese Richtung. Prinzipien setzen sich kein Geld; das ist die Spielregel.
durch, wenn man beharrlich ist. Nicht das Heischen nach (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
schnellem Beifall und das schnelle Nachgeben sind die CDU/CSU)
Lösung, sondern Prinzipientreue in elementaren Fragen
der Politik. Das kennt jeder Sportler, das kennt jeder Fußballspieler:
Wenn man die Spielregeln nicht einhält, wird man not-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – falls vom Platz gestellt. Wenn Griechenland nicht mit-
Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE macht, kann nicht die Konsequenz sein, dass ganz
GRÜNEN]: Oh je!) Europa keine Zukunftsperspektive entwickelt. Die Grie-
Ein bisschen mehr Rückgrat und weniger Eiermann! chen müssen sich entscheiden. Sie sind eingeladen – sie
Herr Steinmeier hat es gestern gezeigt: Er ist von den wurden damals unter falschen Bedingungen aufgenom-
Euro-Bonds quasi abgerückt, weil das Verfassungs- men –, mitzumachen. Es liegt jetzt an Griechenland, ob
gericht Ihnen eine schallende Ohrfeige für den Grund- sie den Weg mitgehen oder ob sie – Stichwort: Europa
gedanken „Die anderen sollen es auch machen“ erteilt der zwei oder drei Geschwindigkeiten, à deux, à trois
hat. vitesses – einen anderen Weg in Europa wählen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir können uns nicht die Zukunftsentwicklung – die
Menschen wollen eine Perspektive; ich verweise auf die
(B) Ein Sirtaki-Siggi-Konzept, nach dem man schnell ein- jungen Leute in Spanien, in Italien und anderswo, die auf (D)
mal locker etwas bewegt, ist keine Lösung. Sie lenken die Straße gehen und protestieren – kaputtmachen las-
von Ihrer Fehlsteuerung durch Euro-Bonds ab. Sie len- sen, weil ein Teil Europas nicht bereit ist, geschlossene
ken davon ab, dass Sie als große deutsche Partei bei der Verträge einzuhalten.
ersten Hilfsmaßnahme für Griechenland nicht in der
Lage waren, eine Entscheidung zu treffen. Sie haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
kraftvoll gesagt: Enthaltung.
Irgendwann ist die Stunde der Wahrheit: Entweder sie
(Thomas Oppermann [SPD]: Wie Sie bei der machen mit, wie es vereinbart worden ist, oder sie ma-
Schuldenbremse!) chen nicht mit.
Sie haben sich weggeduckt. Sie haben weder Ja noch (Thomas Oppermann [SPD]: Ihre Leute
Nein gesagt, weil Sie in den entscheidenden Fragen machen doch gar nicht alle mit!)
keine Grundsatztreue haben.
Wir können uns den ganzen Weg nach Europa nicht von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) einem Mitglied, das die Regeln nicht einhält, verbauen
lassen. Es geht darum, die Grundsatztreue einzuhalten,
Es wäre gut, wenn Sie sich in den Wettbewerb der damit Europa einen guten Weg nimmt.
Ideen – nicht der Polemik – engagiert einbringen wür-
den, (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Herr
Brüderle, machen Sie eine Fraktionssitzung,
(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
aber lassen Sie uns in Ruhe! Sie müssen in die
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
andere Richtung sprechen!)
NEN – Sigmar Gabriel [SPD]: Haben Sie der
Schuldenbremse zugestimmt?) Sie vollführen kurzfristig Eiertänze, mit denen Sie
wie wir es schaffen, Europa voranzubringen. ablenken von der Unfähigkeit in Nordrhein-Westfalen,
von Ihrer Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Haben
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Haben Sie Mut! Stehen Sie zu Grundsätzen! Das zahlt sich aus
Sie der Schuldenbremse zugestimmt?) und nicht das Herumeiern, wie Sie es heute vorgeführt
haben.
Europa ist unsere Zukunft. Deutschland darf sich nie
wieder singularisieren. Der Euro ist elementar für die (Anhaltender Beifall bei der FDP und der
europäische Entwicklung. Es geht darum, wie wir dies CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14563

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: desrepublik Deutschland, sondern auch in den Ländern, (C)
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion die Sie angeblich retten wollen.
Die Linke.
(Zuruf von der FDP: Sie haben nichts
(Beifall bei der LINKEN) verstanden!)
Wenn es darum geht, wie Ihre Rezepte wirken, so ist
Klaus Ernst (DIE LINKE): Griechenland das beste Beispiel: 4,5 Prozent Minus-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wachstum 2010, weitere 5 Prozent Minuswachstum
Herren! Herr Brüderle, ich habe den Eindruck, Ihnen 2011. Wissen Sie, was das bedeutet? Sie kommen mir
wird gerade dazu gratuliert, dass Sie Ihre eigenen Leute vor wie ein Arzt, der einem Patienten Medikamente gibt
auf Linie bringen. und der, wenn der Patient das nächste Mal kommt und
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE schon hereinkriecht, weil er gar nicht mehr stehen kann,
GRÜNEN]: Genau!) sagt: Wir erhöhen die Dosis. – Wie lange wollen Sie
denn die Dosis erhöhen? Bis Europa gänzlich gescheitert
Offensichtlich sind die Widersprüche in Ihrer eigenen ist? Das ist Ihr Konzept, das Sie anderen Leuten, anderen
Regierungsfraktion mindestens so groß wie die, die Ländern aufdrängen wollen.
gegenwärtig in der Bevölkerung vorhanden sind. Ich
sage Ihnen eines: Wenn Ihnen die Bürger draußen zuhö- (Beifall bei der LINKEN)
ren, wie Sie hier in regelmäßiger Wiederkehr vertreten, Wir sitzen heute hier als Anwälte der Bürger. Die
dass Hunderte von Milliarden Euro für Bankenrettungen Bürger haben Angst um ihr Geld, und diese Angst haben
beschlossen werden, dann halten sie sich inzwischen bei sie zu Recht. Drei Jahre nach der Lehman-Pleite stehen
jedem Ihrer Worte die Geldbörse zu; denn sie wissen, wir vor der nächsten Bankenkrise. Immer neue Ret-
dass sie letztendlich für das zu zahlen haben, was Sie tungsschirme werden aufgespannt. Seit dem Ausbruch
hier vertreten, Herr Brüderle. Das ist die Wahrheit. der Finanzkrise sind die gesamtstaatlichen Schulden
(Beifall bei der LINKEN) durch Stützungsmaßnahmen zugunsten der Finanzinsti-
tutionen bei uns in der Bundesrepublik in den Jahren
Wir sagen Nein zu dem, was Sie hier vorlegen. Ich 2008, 2009 und 2010 um 315 Milliarden Euro gestiegen.
will Ihnen sagen, warum. Allein auf die Bad Banks entfallen nach Aussagen der
Erstens. Sie retten mit diesem Gesetz weder den Euro Bundesregierung 190 Milliarden Euro. Das waren, wie
noch die Europäer. Einzig und allein die Banken, die Sie wissen, bis vor kurzem noch Privatbanken, die Sie
Versicherungskonzerne, die Hedgefonds und die Finanz- dann verstaatlichen mussten. So viel dazu, Herr
(B) investoren werden gerettet, und das einmal mehr, nicht Brüderle, da Sie sich gerade so über die Landesbanken (D)
zum ersten Mal. erregt haben. Sie haben die falschen Konzepte, und Sie
haben vor allem durch Zaudern geglänzt. Sie verstärken
Zweitens. Wir sagen Nein zu diesem Gesetz, weil Sie bei den Bürgern den Eindruck, dass diese Regierung der
nichts gegen die Ursachen der Wirtschaftskrise unter- Krise nicht gewachsen ist, und dieser Eindruck täuscht
nehmen. Die Ursachen liegen nämlich bei den Zocker- nicht.
buden. Die Ursachen liegen in diesem Bankensystem.
Die Ursachen liegen in nicht regulierten Finanzmärkten. Lassen Sie mich zu den wirklichen Ursachen der
Da hat diese Regierung nichts getan, um auch nur eine Krise kommen. Wer diese Krise nur als Schuldenkrise
wirkliche Maßnahme zu beschließen. Dafür sind Sie bezeichnet, hat sie nicht verstanden.
mitverantwortlich, Herr Brüderle. Was die erste Ursache betrifft – wir haben gerade
(Beifall bei der LINKEN) darüber gesprochen; auch mein Kollege Gabriel –: Wie
verhält es sich denn eigentlich mit dem Stabilitäts- und
Drittens. Wir sagen Nein, weil dies eine beispiellose Wachstumsgesetz?
Selbstentmachtung des Parlaments ist. Die Mehrheit die-
ses Hauses streitet wochenlang um 5 Euro mehr für die (Zuruf von der FDP: Sie und Gabriel Hand in
Menschen mit Arbeitlosengeld-II-Bezug; das ging Hand!)
wochenlang, monatelang und sogar bis zum Vermitt- Zahlen lügen nicht. Wir haben in den zehn Jahren von
lungsausschuss. Wenn es hier um 90 Milliarden zur 2000 bis 2010 Handelsbilanzüberschüsse von 1 552 Mil-
Erweiterung des Rettungsschirms geht, stellt die Regie- liarden Euro erzielt. Das ist der Saldo. Das heißt, wir
rung sogar die Frage, in welcher Weise das Parlament haben in dieser Größenordnung mehr verkauft, als wir
überhaupt beteiligt werden muss. Meine Damen und importiert haben. In dem Stabilitätsgesetz, über das wir
Herren, das versteht draußen bei den Bürgern dieses gerade gesprochen haben, geht es unter anderem um die
Landes kein Mensch mehr, und das zu Recht. Stabilität des Preisniveaus. Es geht um einen hohen
(Beifall bei der LINKEN) Beschäftigungsstand und um – ich zitiere – „außenwirt-
schaftliches Gleichgewicht“. Erklären Sie mir doch
Viertens. Wir sagen Nein, weil sich Ihre Strategie der einmal – Frau Merkel ist ja nicht mehr da –, wie Sie ei-
Euro-Rettung auf einen einfachen Nenner bringen lässt, gentlich diese 1 552 Milliarden Euro Außenhandelsüber-
und der heißt: Milliarden für die Banken, für die Ver- schuss mit diesem Gesetz in Einklang bringen wollen.
sicherungen, für die Hedgefonds, auf der anderen Seite Sie haben die staatliche Politik auf eine einseitige Stei-
Sozialkürzungen bei den Menschen nicht nur in der Bun- gerung der Exporte ausgerichtet und haben nicht berück-
14564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Klaus Ernst
(A) sichtigt, dass Sie damit alle anderen Länder an die Wand Wenn Sie das nicht machen, werden wir uns damit in (C)
drücken. Sie haben im Ergebnis dieser Politik erreicht, zwei bis drei Monaten wieder befassen müssen. Dann
dass sich die anderen Länder verschulden müssen; denn werden wir weiteres Geld der Bürger ausgeben müssen,
eines ist doch klar: Wer ständig mehr verkauft, als er und das alles nur, weil Sie nicht bereit sind, die richtigen
kauft, muss nach dem Gesetz der Logik davon ausgehen, Maßnahmen zu treffen, meine sehr verehrten Damen und
dass den Käufern irgendwann das Geld ausgeht und da- Herren.
mit auch die wirtschaftliche Puste. Bei den anderen Län-
dern hat unser Exportüberschuss zu einem Berg von (Beifall bei der LINKEN)
Schulden geführt. In einem vereinten Europa – das müs- Ich sage Ihnen nun, was notwendig wäre, um tatsäch-
sen Sie sich einmal hinter die Ohren schreiben – gilt der lich die Probleme zu lösen, die den Bürgerinnen und
einfache Satz: Unsere Überschüsse sind die Schulden Bürgern dieses Landes wirklich auf den Nägeln brennen.
der anderen. Deshalb müssen wir es politisch so gestal-
ten, dass unsere Überschüsse durch mehr Importe redu- Erstens. Wir brauchen eine Entkopplung der Staats-
ziert werden. Das geht nur durch höhere Löhne, höhere finanzen von den Finanzmärkten.
Renten und nicht durch Ihr Lohndumping. (Otto Fricke [FDP]: Aha! Und wie?)
(Beifall bei der LINKEN) Ich sage Ihnen, dass dazu momentan die Ausgabe von
Zweitens. Ihr Lohndumping führte letztendlich dazu, Euro-Bonds gar nicht mehr ausreicht.
dass es in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr (Otto Fricke [FDP]: Aha!)
2000 ein Reallohnminus von 4 Prozent gibt. Auf der an-
deren Seite sind die Exporte und die Gewinne der großen Wir brauchen vielmehr eine Euro-Bank für öffentliche
Konzerne gestiegen. Deshalb erinnere ich Sie an eine Anleihen
weitere einfache Formel, die im Finanzkapitalismus gilt: (Otto Fricke [FDP]: Und wer kauft die?)
Der den Arbeitnehmern vorenthaltene Lohn ist das
Spielgeld der Spekulanten. Mit Ihrer Lohndumpingpoli- und eine von den Finanzmärkten losgelöste Europäische
tik in dieser Republik haben Sie die Krise erst ermög- Zentralbank. So hätten wir Politiker Einfluss auf die
licht, weil Sie dadurch die Kapitalakkumulation an den Finanzmärkte und auf die Zinsen. Solange das nicht der
Finanzmärkten hervorgerufen haben. Fall ist, wird es immer wieder passieren, dass wir wie
die Schoßhunde hinter den Finanzmärkten herlaufen und
(Beifall bei der LINKEN) ihnen, wenn sie jaulen, die Kohle geben, damit sie weiter
Zum Dritten: Sie haben nichts getan, um die Entfesse- funktionieren. Das ist Ihre Politik. Wir brauchen aber
lung der Finanzmärkte einzudämmen. Ich zitiere aus der eine Dominanz der Politik und eine Politik, die die Bür-
(B) Financial Times von gestern. Dort heißt es: ger vor der Ausbeutung durch die Finanzmärkte schützt. (D)
Die Bilanzsumme des britischen Bankensektors, (Otto Fricke [FDP]: Deshalb dürfen wir keine
Schulden machen!)
(Otto Fricke [FDP]: Auf die haben wir ja wohl
keinen Einfluss!) Dazu sind Sie nicht bereit. Deshalb wird sich das, was
wir hier beschließen, zu einem Fass ohne Boden entwi-
die ein Vielfaches des BIPs ausmacht, dient nur zu ckeln.
zehn Prozent der Kreditvergabe an die Industrie.
Die Deutsche Bank begnügte sich 2010 mit 4,1 Pro- (Beifall bei der LINKEN)
zent ihrer Bilanzsumme, um sie an Handel, Ge- Wir brauchen zweitens eine gerechte Besteuerung
werbe und gewerbliche Immobilienfinanzierung von Einkommen und Vermögen. Die öffentlichen Haus-
auszureichen … halte müssen saniert werden.
Was heißt das? Das heißt, dass die Banken ihrer eigentli- (Otto Fricke [FDP]: Kein Wort zum Gesetz-
chen Aufgabe nicht gerecht werden, nämlich die Real- entwurf!)
wirtschaft mit Krediten zu versorgen. Jetzt frage ich Sie:
Was haben Sie eigentlich gemacht, um das wieder ins Doch alle hier vertretenen Parteien außer uns haben mit
Lot zu bringen? dazu beigetragen, dass die Steuersätze in der Bundesre-
publik Deutschland drastisch nach unten gefahren wur-
(Beifall bei der LINKEN) den. Die Spitzensteuersätze sind gesenkt worden, auch
Was haben Sie gemacht? Nichts haben Sie gemacht. Sie von Rot-Grün. Jetzt will die SPD sie wieder erhöhen;
sind weiter auf dem Trip, die Banken zu stützen, obwohl das finde ich toll. Eine Vermögensbesteuerung fehlt nach
diese die Verursacher der Krise sind. wie vor. Mit solchen Mitteln könnte man Staatshaushalte
sanieren.
Das vierte Problem, das mit zu erwähnen ist, ist, dass
die Staaten, die vorher die Banken gerettet und die Fi- Drittens. Wir brauchen eine rechtliche Neuordnung
nanzmärkte stabilisiert haben, sich nun selbst an den Fi- des Bankenwesens. Ohne diese wird es nicht gehen.
nanzmärkten zu hohen Zinsen verschulden müssen. An Rechtliche Neuordnung des Bankenwesens heißt: Die
diesem Punkt erkennen Sie eines nicht: Wir müssen die großen privaten Banken müssen unter gesellschaftliche
Finanzierung der Staaten von der Spekulation und von Kontrolle; ansonsten geben wir in diesem Bereich das
den Finanzmärkten loslösen. Demokratieprinzip auf,
(Otto Fricke [FDP]: Ja, wie macht man das?) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14565
Klaus Ernst
(A) weil wir immer das machen müssen, was die Banken Oder vielleicht sollten wir gemeinsam einmal darüber (C)
wollen. Das ist nicht im Sinne der Bürger unseres Lan- sprechen, was mit der Bayern LB ist,
des.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. und bei der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) gegen die mittlerweile die Staatsanwaltschaften wegen
der Zockereien mit Herrn Haider auf dem Balkan ermit-
Präsident Dr. Norbert Lammert: teln. Wir können gerne über staatliche Banken sprechen.
Nun erhält der Kollege Jürgen Trittin das Wort für die Aber ich glaube, wir müssen gelegentlich über alle Ban-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ken sprechen. Wir müssen auch darüber sprechen, dass
das Verhalten zum Beispiel der Deutschen Bank und von
Lehman Brothers und die Versuche, in Regulierungsoa-
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen wie Irland Geschäfte zu machen, die man woanders
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr nicht machen kann, genauso Ursachen dieser Krise sind,
Ernst, Sie haben gemeinsam mit Herrn Brüderle belegt: wie das kriminelle Verhalten der konservativen Regie-
Es gibt eine unheilige Allianz zwischen einer Partei, die rung in Griechenland es gewesen ist.
sich selber „links“ nennt, und den Kräften innerhalb der
Koalition, die aus falsch verstandenem D-Mark-Chauvi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nismus eine europäische Lösung dieser Euro-Krise ver- und bei der SPD)
hindern. Sonst könnten Sie nicht zu diesem Abstim-
mungsverhalten kommen. Da hätte ich von Ihnen Klarheit und Prinzipientreue er-
wartet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben gesagt, man müsse zu den Prinzipien ste-
hen. Ein zentrales Prinzip sei die Unabhängigkeit der
Jene D-Mark-Chauvinisten in Ihren Reihen, die ge- Europäischen Zentralbank. Meine Damen und Herren,
klagt haben, haben gestern vor dem Bundesverfassungs- wer hat denn die Europäische Zentralbank genötigt,
gericht eine krachende Niederlage erfahren.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
(Marco Buschmann [FDP]: Wer hat denn ges- GRÜNEN]: Ja! – Florian Toncar [FDP]: Die
tern eine Niederlage kassiert? Die Grünen!) Grünen!)
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, es sei für Schulden anderer Staaten aufzukommen und Anlei-
(B) richtig, dass der Deutsche Bundestag versucht, die Krise hen aufzukaufen? (D)
nicht durch Rückzug aus dem Euro oder durch Raus-
schmiss, sondern durch eine Stärkung europäischer Insti- (Otto Fricke [FDP]: Sie! Sie haben es
tutionen zu lösen. Das ist die Botschaft aus Karlsruhe, beantragt!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer hat denn dafür gesorgt, dass die EZB heute 120 Mil-
und das ist die Botschaft, die die drei antieuropäischen liarden Euro Staatsanleihen von Krisenstaaten in ihren
Parteien im Deutschen Bundestag, die Linke, die FDP Büchern hält? Es war diese Regierung mit dieser Bun-
und die CSU, nicht hören wollen. Das ist die Wahrheit. deskanzlerin. Niemand anderes trägt dafür die Verant-
wortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Lieber Herr Brüderle, ich würde mir wünschen, dass
Sie, wenn Sie schon gegen Banken wettern, über alle Ich will Ihnen auch sagen, warum das Ihre Verantwor-
Banken sprechen. Sie hätten natürlich auch erwähnen tung ist: weil Sie sich noch im März, als über die EFSF
können, dass die WestLB – jetzt unter dem Schutz des verhandelt worden ist, geweigert haben, das zu beschlie-
Bankenrettungsfonds, also von uns aus Steuermitteln ge- ßen, was Sie heute beschließen wollen, nämlich die
rettet – als Bad Bank vier Jahre in der Verantwortung un- Möglichkeit, am Sekundärmarkt Anleihen aufzukaufen.
ter anderem eines gewissen Herrn Pinkwart gewesen ist. Damit haben Sie die Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank auf schäbige Weise beschränkt. Deshalb
(Otto Fricke [FDP]: Nein! Eben gerade nicht!) können Sie hier nicht von Prinzipientreue reden.
Ich weiß nicht, ob Sie sich an den noch erinnern. Da meldet sich gleich der Mario Barth der FDP zu ei-
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Fünf Jahre!) ner Zwischenfrage. Bitte schön.
– Fünf Jahre; Entschuldigung, Axel, ich nehme das zu- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
rück. – Sie hätten auch über die Sachsen LB sprechen DIE GRÜNEN und bei der SPD)
können.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert:
GRÜNEN]: Damit haben sie auch nichts zu In Anwendung der Geschäftsordnung mache ich von
tun! Nein!) meiner Möglichkeit Gebrauch, –
14566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abg. Otto Fricke [FDP] will wieder Platz neh- (C)
Entschuldigung! men)
– Bleiben Sie ruhig stehen. – Sie haben sich an dieser
Präsident Dr. Norbert Lammert: Stelle auch an einem anderen Punkt vergaloppiert. Sie
– dem Wunsch nach einer Zwischenfrage mit Geneh- haben gesagt, es gebe keine Vergemeinschaftung von
migung des Redners stattzugeben. – Bitte schön, Herr Schulden. Es gibt sie. Mit genau dem Hinweis auf den
Kollege Fricke. Aufkauf dieser Staatsanleihen gibt es eine Vergemein-
schaftung von Schulden. Sie wettern gegen Euro-Bonds;
Otto Fricke (FDP): Sie haben sie längst in diesem Lande eingeführt.
Dass Sie von Chauvinismus wirklich viel Ahnung ha-
ben, haben Sie gerade bewiesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Herr Trittin, ich darf Sie einmal fragen: Stimmt es,
dass die Grünen im Jahre 2009 einen Antrag gestellt ha- Hören Sie auf, zu erzählen, das Bundesverfassungsge-
ben, in dem wörtlich steht: richt habe sie verboten. Ganz im Gegenteil, das Bundes-
verfassungsgericht hat selbstverständlich nichts dagegen
Der Deutsche Bundestag … fordert gesagt, dass die Europäische Union mithilfe von Euro-
– nach dem Willen der Grünen – Bonds die Spekulationen gegen Ungarn oder Lettland er-
folgreich beendet hat.
die Europäische Zentralbank auf, verstärkt über den
Aufkauf von Wertpapieren an der Stabilisierung der (Marco Buschmann [FDP]: Wer lesen kann, ist
Finanzmärkte und der Sicherung der Kreditversor- klar im Vorteil!)
gung mitzuwirken …
Darüber schweigen Sie ja lieber, weil Sie es nicht zur
Stimmt es also, dass Sie selber – ich glaube, Sie waren Kenntnis nehmen wollen. Das zeigt die ganze europa-
damals in einer nicht unwichtigen Position – als Grüne politische und währungspolitische Geisterfahrt dieser
genau diese Forderung erhoben haben und, anders als Koalition.
diese Koalition – auch wenn uns das, was die Europäi-
sche Zentralbank gemacht hat, an vielen Stellen nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gepasst hat –, die Unabhängigkeit eben nicht akzeptie- und bei der SPD – Abg. Otto Fricke [FDP]
ren? nimmt wieder Platz)
(Marco Buschmann [FDP]: Was stört uns Herr Schäuble, ich will mit Ihnen nicht darüber in
(B) unser Geschwätz von gestern?) Streit geraten, ob privatrechtliche Verträge, die faktisch (D)
hoheitliche Aufgaben erfüllen – und darum handelt es
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich bei EFSF –,
Lieber Herr Kollege Fricke, Sie haben richtig zitiert. (Marco Buschmann [FDP]: Hört! Hört!)
(Otto Fricke [FDP]: Danke!) nach Übereinstimmung aller Kommentatoren einem völ-
Wenn Sie mich an dieser Stelle zu Ende anhören, dann kerrechtlichen Vertrag gleichkommen und deshalb der
werden Sie feststellen, dass ich ausdrücklich nicht die Ratifizierung bedürfen. Sie haben ja tätige Reue geleis-
Europäische Zentralbank kritisiere. tet,
(Marco Buschmann [FDP]: Sagt der Tom (Marco Buschmann [FDP]: Sie reden von Rati-
Gerhardt der Grünen!) fizierung? Wovon reden Sie denn jetzt?)
Ich finde richtig, dass die Europäische Zentralbank dies indem Sie heute gesagt haben: Wir machen es über eine
gemacht hat Vertragsänderung, und ab 2013 machen wir es richtig. –
(Otto Fricke [FDP]: Dann passt das vorher Insofern nehme ich schon zur Kenntnis, dass Sie in die-
nicht! – Gegenruf der Abg. Claudia Roth ser Frage still und heimlich unsere Position übernommen
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben.
Das passt gut!) (Marco Buschmann [FDP]: Sie wissen gar
in einer Situation, in der von dieser Bundesregierung ge- nicht, was Sie sagen!)
nau die Institution blockiert worden ist,
Ich will aber an dieser Stelle eine sehr ernste Frage
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE stellen: Dürfen wir eigentlich solche hoheitlichen Aufga-
GRÜNEN]: Voilà!) ben in Form von privatrechtlichen Verträgen regeln?
Dürfen wir eigentlich europäische Institutionen wie die
die das besser kann, was Sie jetzt selber zugeben, weil
EZB, wie die Europäische Kommission tätig werden las-
Sie diese Kompetenz, die heute leider von der EZB
sen auf der Basis einer Zweckgesellschaft nach Luxem-
wahrgenommen werden muss, nun an den Europäischen
burger Recht? Daran habe ich sehr klare Zweifel – nicht
Stabilitätsmechanismus bzw. die EFSF übertragen.
weil das juristisch fragwürdig ist, sondern vor allen Din-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Dieser Logik gen, weil das politisch und gesellschaftlich die falsche
können noch nicht einmal die Grünen folgen! – Botschaft ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14567
Jürgen Trittin
(A) (Marco Buschmann [FDP]: Wenn das Ihr größtes Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Problem ist in dieser Situation!) Nächster Redner der CDU/CSU-Fraktion ist der Kol-
Wenn solch entscheidende Aufgaben übernommen und lege Bartholomäus Kalb.
auf europäische Institutionen übertragen werden, dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
darf das nicht in privater Rechtsform geschehen. Dann neten der FDP)
muss das als hoheitlicher Akt und unter der Aufsicht des
Bundestages und gegebenenfalls auch – gerade wenn es
auf Europa übertragen wird – unter der Aufsicht des Eu- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
ropäischen Parlaments geschehen. Deswegen war der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
Weg in die Zweckgesellschaft der falsche Weg. Ich freue nen und Kollegen! Ich will versuchen, eine etwas andere
mich, dass Sie ihn am Ende korrigieren werden. Tonlage zu finden; denn es geht mir darum, dass wir uns
nicht gegenseitig irgendetwas an den Kopf schmeißen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sondern die Debatte so führen, dass die Menschen im
und bei der SPD)
Lande verstehen können, worum es heute geht, worum
Heute streiten wir darüber, dass der Bundestag ausrei- es uns geht.
chende und hinreichende Kontrollfunktionen hat, so-
lange es diese Institution nicht gibt. Ich glaube, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
da zu einem Miteinander kommen werden. neten der FDP)

(Marco Buschmann [FDP]: Wenn ich die Vor- Wir behandeln heute in erster Lesung eine sehr wich-
schläge der Grünen umsetze, die verfassungs- tige und ernste Angelegenheit. Es geht im Kern um die
widrig sind!) Frage: Was müssen wir tun, was können wir tun, um
dafür zu sorgen, dass unsere gemeinsame Währung wei-
Ich sage Ihnen – das scheint offensichtlich Unruhe im terhin stabil bleibt? Mit dem zu beratenden Gesetzent-
Regierungslager ausgelöst zu haben –, weil es sympto- wurf zur Änderung des Euro-Stabilisierungsmechanis-
matisch ist, lieber Herr Westerwelle: Weil Sie die rich- musgesetzes – ich gebe zu: das ist ein komplizierter
tige Lösung aufgrund von Uneinigkeit in den eigenen Ausdruck –, einem Regelwerk zur Übernahme von
Reihen immer blockiert haben, laufen Sie in solche halb- Gewährleistungen im Rahmen der europäischen Hilfs-
seidenen Zweckgesellschaften. maßnahmen, setzen wir die Beschlüsse des Gipfels vom
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 21. Juli 2011 in nationales Recht um.
und bei der SPD – Lachen bei der FDP)
Am 10. Mai 2010 wurde in einer ausgesprochen
(B) Dann wundern Sie sich auch noch über Europamüdig- schwierigen Situation für die Euro-Zone und unter gro- (D)
keit. ßem Zeitdruck zunächst die Europäische Finanz-Stabili-
täts-Fazilität, kurz EFSF, vom EU-Gipfel als vorläufiger
Sie gehen diesen Weg leider weiter. Jetzt stellen Sie
Rettungsschirm ins Leben gerufen. Am 21. Juli dieses
den Stabilisierungsmechanismus auf eine vertragliche
Jahres haben die Staats- und Regierungschefs der Euro-
Grundlage. Der nächste Schritt wäre vernünftigerweise,
Länder die Erweiterung des Garantierahmens und zusätz-
zu einer europäischen Wirtschaftsregierung zu kommen,
liche Instrumente vereinbart, um flexibler reagieren zu
weil die Ursache eben nicht allein Überschuldung ist,
können und damit drohenden Ansteckungsgefahren für
sondern weil die Ursache in Regulierungsdumping,
andere Länder der Euro-Zone wirkungsvoller begegnen
Steuerdumping und all den realwirtschaftlichen Proble-
zu können.
men in Europa liegt.
Frau Bundeskanzlerin, was ist aber Ihr Weg zur Wirt- Der EFSF-Rettungsschirm soll künftig auch Staatsan-
schaftsregierung? Sie stellen sich eine Wirtschaftsregie- leihen aufkaufen können. Wenn solche Käufe notwendig
rung so vor, dass Herr Van Rompuy entsprechend dem werden sollten, dann sollen sie von der EFSF, nicht wie
Minimalkonsens zwischen Ihnen und dem französischen bisher notgedrungen von der EZB, durchgeführt werden.
Staatspräsidenten agiert. Das ist keine Wirtschaftsregie- Derartige Käufe dürfen allerdings auch künftig nur unter
rung; das ist nichts anderes als die Fortsetzung der sehr strengen Voraussetzungen stattfinden, zum Beispiel
Luxemburger Zweckgesellschaft mit anderen Mitteln. wenn Gefahren für die Finanzstabilität festgestellt wer-
den. Ein Freibrief für umfassende Ankäufe ist abzuleh-
Ich sage Ihnen: Das, was wir heute neben den Verän- nen. Anleihenkäufe auf dem sogenannten Sekundär-
derungen beim Stabilisierungsfonds brauchen, ist eine markt sind im Ausnahmefall künftig ebenfalls möglich.
vertragliche Regelung, die besagt: Wir wollen eine
Koordination in der Steuerpolitik, in der Wirtschaftspoli- Euro-Länder können sich, um die Finanzmärkte zu
tik und bei den Sozialstandards. Diese Koordinierung stabilisieren, eine Kreditlinie von der EFSF zusichern
setzt eine Vertragsänderung voraus. Es ist das Gebot der lassen, die sie natürlich nicht nutzen müssen. Gerät ein
Stunde, einen Impuls zu setzen, um dieses Europa auf Euro-Mitgliedstaat am Finanzmarkt unter Druck, darf
eine neue Stufe der Vergemeinschaftung zu führen. die EFSF mit einem Vorsorgekredit helfen, noch bevor
Dafür fehlt Ihnen in dieser Koalition schon lange die es zum echten Hilfsfall kommt.
Kraft.
Mit der Möglichkeit der Rekapitalisierung von Kre-
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE ditinstituten wird ein weiteres wichtiges Instrument
GRÜNEN und bei der SPD) geschaffen.
14568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bartholomäus Kalb
(A) Das Volumen der EFSF wird europaweit auf 780 Mil- Es darf auch erwähnt werden, dass das sogenannte (C)
liarden Euro aufgestockt, um effektiv über 440 Milliar- Defizitkriterium nach dem Maastricht-Vertrag von uns
den Euro verfügen zu können. Das ist dem Umstand ge- schon in diesem Jahr eingehalten werden kann. Wir sind
schuldet, dass eine erhebliche Übersicherung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt mit einem Anteil
erforderlich ist, um nach den Vorgaben der Finanzmärkte von 1,5 Prozent besser, als bisher angenommen werden
eine AAA-Bewertung für die Anleihen bekommen zu konnte. Wir strengen uns also an und sind auf einem
können. guten Weg.
Einem Hilfe suchenden Land wird allerdings nur Zum Abschluss darf ich eine persönliche Bemerkung
dann geholfen, wenn es Auflagen erfüllt und bereit ist, machen: Ich habe bei der Einführung der gemeinsamen
sich einem ehrgeizigen Reformprogramm zu unterzie- europäischen Währung zu den großen Skeptikern gehört.
hen. Aufgrund der hohen Summen und aufgrund der Tat- Ich meine, damals gab es gute Argumente dafür. Es
sache, dass die Verfügung über deutsche Steuergelder bringt aber heute nichts mehr, die Debatten von damals
allein beim Parlament liegt, legen wir ganz im Sinne des zu führen. Wir stehen heute nicht vor der Frage, ob wir
Bundesverfassungsgerichts größten Wert auf eine inten- den Euro wollen oder nicht. Der Euro ist unsere gemein-
sive und umfassende Parlamentsbeteiligung. Mit dem same Währung.
vorliegenden Entschließungsantrag gehen wir sogar über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Forderungen und Anregungen des Bundesverfas- neten der FDP)
sungsgerichts hinaus.
Wir haben deshalb alles zu tun, um die Stabilität unserer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gemeinsamen Währung sicherzustellen. Das ist unsere
neten der FDP) Verantwortung, die wir zu tragen haben.
Wir haben uns bewusst entschieden, zur Sicherung Ich gebe zu und sage ganz ausdrücklich: Nach meiner
der Finanzstabilität der Euro-Zone Hilfen an Euro-Mit- Überzeugung hat uns der Euro sehr stark geholfen, die
gliedsländer zu gewähren. Die Hilfen stellen keinen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu steigern. Wir
Blankoscheck dar. Sie sind, wie bereits gesagt, an strikte sind ein absolut exportorientiertes Land. Damit hat diese
Auflagen gebunden, die den betroffenen Ländern ganz Währung dazu beigetragen, dass wir wirtschaftlich gut
erhebliche Anstrengungen abverlangen. Aber auch Soli- dastehen, dass der Wohlstand gesichert werden kann,
darität hat ihre Grenzen. Die Hilfen sind Hilfen zur dass unsere sozialen Sicherungssysteme gut sind und
Selbsthilfe, wie es der Finanzminister bereits vorhin zum dass die Menschen und die Arbeitsplätze sicher sind.
Ausdruck gebracht hat. Auch wenn wir bisher Zweifel daran gehabt hätten, so
brauchen wir bloß Richtung Schweiz zu schauen und zu
(B) Die Notwendigkeit zur Ertüchtigung der EFSF ergibt verfolgen, zu welchen Maßnahmen sich die Schweiz (D)
sich daraus, dass sich die Folgen zu hoher Staatsdefizite veranlasst sieht, nämlich den Schweizer Franken an den
in einigen Ländern der Euro-Zone in den vergangenen Euro zu binden, weil sie sonst auf den globalen Märkten
Wochen auf den Finanzmärkten erneut zugespitzt haben. in Bezug auf ihre wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit
Auslöser der krisenhaften Zuspitzung waren Zweifel an nicht mehr mithalten könnte.
der Entschlossenheit einzelner europäischer Staaten,
eine strikt auf Rückführung der Neuverschuldung Ich sage ganz offen: Es ist eine unserer wichtigsten
bedachte Finanzpolitik zu betreiben. Aufgaben, langfristig für die Stabilität des Euro einzu-
treten und ihn zu sichern. Bei allen kritischen Diskussio-
Deutschland zieht im Haushalt Konsequenzen aus der nen, die wir untereinander führen und die die Menschen
Schuldenkrise. Die aktuelle Schuldenkrise hat ihre Ur- im Lande mit uns führen, und allen Besorgnissen, die
sachen ganz klar in den zu hohen Haushaltsdefiziten und verständlicherweise vorhanden sind: Die Menschen in
in einer zu hohen Gesamtverschuldung einiger Euro- unserem Land erwarten, dass wir alles tun, um unsere
Länder. Die christlich-liberale Koalition hat frühzeitig gemeinsame Währung zu sichern.
die Weichen gestellt und setzt den Kurs der erfolgrei-
chen Haushaltskonsolidierung unverändert und konse- Herzlichen Dank.
quent fort. Wesentliche Ziele sind die Einhaltung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
verfassungsrechtlichen Schuldenbremse und der konse-
quente Abbau der Neuverschuldung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Insbesondere dank des Aufschwungs und des im ver- Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
gangenen Jahr umgesetzten Zukunftspaketes wird die SPD-Fraktion.
Neuverschuldung nach den Plänen der Bundesregierung (Beifall bei der SPD)
im Jahr 2012 mit rund 27 Milliarden Euro weit geringer
als bisher angenommen ausfallen können. Unser Ziel ist
und bleibt ein ausgeglichener Bundeshaushalt. Unser Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Ziel ist und bleibt die Reduzierung der Neuverschuldung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
und die Einhaltung der Schuldenbremse. Es ist heute sprechen heute über den EFSF-Rahmenvertrag und
schon mehrfach gesagt worden: Viele Länder folgen uns damit über die künftige Architektur, aber auch über die
Gott sei Dank jetzt auf diesem Weg. Architekten innerhalb der EU. Ich war gestern bei der
Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts in
(Beifall bei der CDU/CSU) Karlsruhe. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14569
Axel Schäfer (Bochum)
(A) für uns entscheidend. Erstens. Das Bundesverfassungs- Weil das in einer Demokratie dazugehört, will ich an (C)
gericht hat den Weg zur weiteren europäischen Integra- dieser Stelle ausdrücklich den Kollegen Oettinger, den
tion geöffnet und uns damit verpflichtet, ihn zu gehen. neuen EU-Kommissar, loben. Zur Stärkung der Demo-
Zweitens. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht kratie ist es erforderlich, dass unser Parlament ebenso
an die Stelle des Bundestages gesetzt und gesagt: Wir wie die anderen nationalen Parlamente beteiligt wird,
wissen alles besser. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, zu wenn es um die Vorentscheidung, um die Prägung der
überlegen, wie wir unsere Rolle bei Finanzfragen inhalt- Kommission geht. Günther Oettinger hat gesagt: Jawohl,
lich auszufüllen haben. Drittens. Es hat wieder einmal bevor die Investitur im Europäischen Parlament stattfin-
die Rechte des Deutschen Bundestages gestärkt. det, bevor ich dort offiziell angehört, befragt und beur-
teilt werde, gehe ich in den Europaausschuss des Deut-
(Marco Buschmann [FDP]: Gott sei Dank!) schen Bundestages – die SPD hatte die Initiative
ergriffen und ihn eingeladen – und stelle mich dort den
Deshalb ist es falsch von der Bundesregierung – Herr Fragen; ich stehe Rede und Antwort. Ich sage ehrlich: Er
Minister Schäuble, bei allem Respekt –, dass ein privat- hat in vielen Dingen auch mich überzeugt. Stellen Sie
rechtlicher Vertrag, in dem Staaten vereinbaren, staat- sich vor: Am selben Tag ist hier eine Ministerin ernannt
liche Aufgaben wahrzunehmen, nicht dem Bundestag worden. Davon hat der Bundestag vorher nichts gewusst.
zur Ratifizierung vorgelegt wird. Ich bin mir sicher, es Der zuständige Ausschuss hatte keine Chance, mit ihr
gibt eine große Mehrheit in allen Fraktionen, die diese vor ihrer Ernennung über ihre Vorstellungen zu diskutie-
politische wie rechtliche Auffassung teilen. Nur manche ren, um einen Eindruck von ihren politischen Qualitäten
trauen sich nicht, das zu sagen. Wir, die SPD, trauen uns, zu bekommen. Diese Möglichkeit hatten wir bei Günther
weil wir es für richtig halten, und auch, weil wir die Oettinger. Wenn wir die Kommission stärken wollen,
große Mehrheit der Verfassungsrechtler auf unserer Seite muss auch der Deutsche Bundestag gestärkt werden,
haben. wenn es um Entscheidungen über die Kommission geht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ein weiterer Punkt ist die Selbstverpflichtung, die die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) europäische Sozialdemokratie eingegangen ist. Die Ini-
tiative dafür ging von der SPD aus. Wir werden eine
Sprechen wir endlich offen über die Architektur der
stärker demokratisch legitimierte Kommission nur dann
Europäischen Union. Wir dürfen nichts mehr verschwur-
bekommen, wenn sie durch die Europawahl demokra-
beln, auch weil es um Demokratie geht. Eine Stärkung
tisch legitimiert wird. Dadurch würde die Kommission
der gemeinsamen europäischen Handlungsfähigkeit
ein breiteres Kreuz erhalten, das hilft, wenn es um zen-
funktioniert nur integrativ und nicht nur intergouverne-
trale Finanzfragen geht. Dann würde die Kommission
mental, wie das jetzt meist der Fall ist. Es gibt keine
(B) öffentlich ganz anders wahrgenommen und könnte auch (D)
Pseudokonstruktion einer Wirtschaftsregierung à la Herr
gegenüber den Regierungen anders und selbstbewusster
Van Rompuy, die zweimal im Jahr tagt. Es gibt eine real
auftreten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
existierende europäische Regierung, die wir dazu ertüch-
ten werden 2014 mit einem Spitzenkandidaten oder einer
tigen, demokratisch stärken und mit Mitteln ausstatten
Spitzenkandidatin antreten und sagen: Wenn es für ihn
müssen: Das ist die Europäische Kommission. Das ist
oder sie eine parlamentarische Mehrheit gibt, wird er
bisher die Mehrheitsmeinung im Bundestag gewesen.
oder sie sich im Parlament als Kommissionspräsident
Leider halten die Kolleginnen und Kollegen von CDU/
zur Wahl stellen. Das ist die Legitimation, die wir brau-
CSU und FDP sich nicht mehr an diese gemeinsame
chen. Dafür kämpfen wir.
Grundlage. Es ist eben kein europäischer Weg, der inter-
gouvernemental gegangen wird. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage noch etwas zu den Architekten: In diesem
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Haus sind wir uns Gott sei Dank über viele Dinge einig.
Zum Beispiel respektieren wir alle die Entscheidungen
Es ist falsch, zu glauben, wir brauchen für alles Ver- von Gerichten und halten uns an europäische Gesetze.
tragsänderungen. Wir brauchen eine Kommission, die Natürlich sind wir alle für Medienvielfalt und gegen
mutig ist, all das, was von Jacques Delors begonnen Rechtspopulismus. Das Problem in Europa ist, dass wir
wurde, fortzuführen. Wir hatten in der SPD-Fraktion ge- Regierungen haben, in Dänemark, den Niederlanden,
rade die Möglichkeit, sehr intensiv mit ihm zu diskutie- Italien und Ungarn, die dieses Grundverständnis nicht
ren. Es geht um die Möglichkeiten, wirtschaftliche teilen. Das hat nichts mit einzelnen Streitpunkten auf
Koordinierung in Gesetzesform zu gießen und damit viel den Gebieten Bildung, Soziales oder Energie zu tun. Das
mehr an Vorgaben zu machen als das, was bisher auf sind christdemokratische oder rechtsliberale Regierun-
dem Tisch liegt. Wenn wir diese Form der Ertüchtigung gen. Die aktuelle europäische Krise ist zum Teil eine
der Europäischen Kommission wählen, stärken wir auf Krise der Mehrheit der Christdemokraten, die die Ver-
der einen Seite natürlich die Handlungsfähigkeit und die antwortung in Europa haben. Diese Krise ist nur durch
Handlungsmöglichkeit des Europäischen Parlaments, ein anderes Mehrheitsverhältnis in Europa zu bewälti-
und auf der anderen Seite beziehen wir den Deutschen gen. Wir werden das gemeinsame Europa nur mit mehr
Bundestag in allen Fragen voll ein. Das ist doch offen- sozialdemokratischer Politik realisieren können. Die
sichtlich der Wille der Kolleginnen und Kollegen auf der EVP wird das definitiv nicht hinbekommen.
rechten Seite des Hauses. Sie müssen das aber auch in
ihren praktischen Entscheidungen umsetzen. (Beifall bei der SPD)
14570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie reden doch die (C)
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Otto ganze Zeit am Thema vorbei!)
Fricke das Wort.
Herr Gabriel, Sie wollen, dass wir – anders als bei der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) EFSF – nicht auf unseren Anteil begrenzt haften. Nichts
anderes tun wir; die Haftung war schon immer auf den
Otto Fricke (FDP): Anteil begrenzt.
Geschätzter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Vergiss es! –
men und Herren! Ganz grundsätzlich ist die Frage zu Sigmar Gabriel [SPD]: Das haben Sie uns vor
stellen, die sich jeder Bürger stellt: Warum haben wir ei- einem Jahr auch schon versprochen! –
gentlich Schulden? Das ist doch das Kernproblem, über Manfred Zöllmer [SPD]: Ottos Märchen-
das wir heute reden. Dieses Problem müssen wir lösen. stunde!)
Wir haben nicht wegen irgendwelcher Bankenkrisen
Schulden. Sie wollen eine Gesamthaftung Deutschlands für alle eu-
ropäischen Staatsschulden. Genau das schwebt Ihnen
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor.
NEN]: Doch! Irland!)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist Quatsch, was
– Doch? Haben Sie sich eigentlich einmal überlegt, wa-
Sie erzählen!)
rum wir schon vor der Bankenkrise, also zum Ende der
rot-grünen Regierungszeit eine Verschuldung von über Sie wollen nichts anderes als einen Länderfinanzaus-
60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hatten, warum wir gleich auf Kosten von Deutschland.
am Ende der Regierungszeit von Rot-Grün schon weit
über 1 000 Milliarden Euro Schulden hatten? Doch nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wegen der Bankenkrise. Der Grund dafür ist, dass die der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Das
Politik immer wieder denselben Fehler gemacht hat. machen Sie gerade!)
Man hat gesagt: Für unsere Politik brauchen wir mehr
Das ist Ihr Wunsch; das bestätigen Sie. Sie haben das ge-
Geld.
meinsam mit Herrn Steinmeier, gemeinsam mit Ihrem
(Klaus Hagemann [SPD]: Mit der FDP! Die Weltökonomen Herrn Steinbrück immer wieder bestä-
FDP war immer dabei!) tigt.
Herr Ernst, Sie sagen immer, dass wir uns von den (Sigmar Gabriel [SPD]: Dadurch, dass Sie das
Märkten unabhängig machen müssen und Euro-Bonds mehrfach behaupten, wird es nicht wahrer! Sie
(B) brauchen – das ist ja schön; auch SPD und Grüne wollen reden unter Ihren Möglichkeiten! – Claudia (D)
Euro-Bonds –, aber ich muss Sie schon fragen: Wer soll Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
diese Bonds nach Ihrer Meinung kaufen? Diese Euro- NEN]: Es stimmt nicht!)
Bonds kauft doch der Markt. Dann haben wir wieder das
Problem, dass der Markt darauf vertrauen muss, dass wir Man kann es immer wieder finden, zuletzt auch im Spie-
das Geld zurückzahlen. Oder er vertraut uns eben nicht. gel. Sie wollen eine gemeinsame Haftung Deutschlands
Wer ist denn der Markt? Der Markt ist auch Arbeitneh- für alle Schulden.
mer. Der Markt ist auch ein Pensionsfonds. Der Markt ist (Sigmar Gabriel [SPD]: Quatsch! Uns reichen
auch die Altersvorsorge von ganz vielen Arbeitnehmern. schon die Schulden, die wir wegen Ihnen ma-
Der Markt ist auch jeder Riester-Rentner, der sein Geld
chen!)
dort angelegt hat. Auf dem Markt haben auch Universi-
täten ihr Geld angelegt. All diese müssen die Sicherheit Wir wollen eine anteilige Haftung entsprechend der Ver-
haben, dass jemand, der sich verschuldet hat, das Geld antwortung. Das ist der Kern und der wesentliche Unter-
zurückzahlt. Daran glaubt man nun nicht mehr. schied zwischen Rot-Rot-Grün und der bürgerlichen
Jetzt kommt der nach meiner Meinung für Europa Koalition.
entscheidende Punkt, bei dem sich Links von Bürgerlich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
deutlich unterscheidet. Für uns heißt Europa: Als starkes der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg]
Land, als größter Zahler Europas haben wir die Ver- [SPD]: Das ist einfach falsch!)
antwortung, für unseren Teil zu haften und für unseren
Teil etwas zu tun. Das ist das – dies will ausdrücklich sa- Bei der Lösung müssen wir auf eines achten – und ich
gen –, was diese Koalition will: eine Haftung für den bin dem Bundesverfassungsgericht für seine gestrige
Anteil, der der Stärke entspricht. Entscheidung dankbar –: Die Hauptaufgabe, die wir be-
züglich Europa haben, ist doch, Europa wieder in die Öf-
Was wollen Sie? Herr Gabriel, jetzt kommen wir ein- fentlichkeit und in die Parlamente zu bringen. – Herr
mal zu Ihren wunderschönen Arten von Euro-Bonds. Sie Gabriel, hören Sie mir bitte zu; ich habe Ihnen doch auch
wollen etwas anderes. zugehört. Das wäre fair und nett.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben doch gar
(Sigmar Gabriel [SPD]: Ich muss nicht vorne
nicht zugehört, Herr Fricke!)
sitzen, um zuzuhören! – Lothar Binding [Hei-
– Nein, Sie haben nicht zugehört; Sie haben nach hinten delberg] [SPD]: So einen Unsinn muss man
geguckt. sich nicht antun!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14571
Otto Fricke
(A) – Ja, klar, man kann den Rücken zuwenden. Jeder hat don machen“? Das waren doch Sie alle. Jetzt stehen Sie (C)
seine Art von Höflichkeit. – Ich will auf eines hinaus. hier und beklagen die Folgen Ihrer eigenen Politik, ohne
Die Bürger fragen sich – das merken wir in all unseren ein Wort der Kritik an dem zu verlieren, was Sie da an-
Gesprächen –: Wer entscheidet eigentlich über mein gerichtet haben.
Geld? Wo passiert das? Irgendwo in Brüssel in einem
(Beifall bei der LINKEN)
Hinterzimmer, irgendwo in einem Ministerium? Die Par-
lamentsbeteiligung, Art. 38 des Grundgesetzes und die Ich will einen schwäbischen Unternehmer zitieren,
Verfassungsgerichtsentscheidung – wenn wir wollen, den Vorstandsvorsitzenden von Bosch. Er sagte: Die Fi-
können wir sogar 320 Jahre auf Locke zurückgehen – nanzmärkte sind kurz davor, die Weltwirtschaft in eine
sorgen dafür, dass die Diskussion über die Frage, wie neue Krise zu reißen. Außerdem sagte er: Wenn ich den
viel Geld wir wem wofür geben, in die Parlamente Finanzsektor zu regulieren hätte, dann würde ich die
kommt. Das ist die wesentliche Grundlage, die Voraus- Universalbanken abschaffen und viele Finanztransaktio-
setzung für eine Vertiefung Europas. nen verbieten, die nichts mehr mit realen Geschäften zu
tun haben. – Das ist die Position der Linken. Das, was
Herzlichen Dank.
Fehrenbach von Bosch sagt, erzählen wir Ihnen seit Jah-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren. Wenn Sie weiterhin Billionen Bonds, Derivate und
der CDU/CSU) das Treiben der Schattenbanken zulassen und nur Sprü-
che klopfen, dann wird die Entwicklung so weitergehen
Präsident Dr. Norbert Lammert: wie in den letzten Jahren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Maurer für die (Beifall bei der LINKEN)
Fraktion Die Linke.
Wir haben Ihnen gesagt: Wir schlagen vor, die Finan-
(Beifall bei der LINKEN) zierung der europäischen Staaten von dem Diktat der Fi-
nanzmärkte zu entkoppeln.
Ulrich Maurer (DIE LINKE): (Marco Buschmann [FDP]: Dann muss man
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Schulden reduzieren!)
ren! Wenn die Lage nicht so extrem ernst wäre und die
Folgen nicht so katastrophal, dann wäre es schon fast Wir haben vorgeschlagen, dafür zu sorgen, dass in der
amüsant, zu sehen, wie Sie sich hier gegenseitig die Ver- Tat eine europäische Bank Staatsanleihen zeichnen und
antwortung zuschieben für eine Suppe, die Sie gemein- begeben muss, anstatt dies den sogenannten Finanz-
sam angerührt haben. Die Krise, in der wir uns befinden, märkten zu überlassen. Sie sagten, Sie glauben nicht,
dass das geht.
(B) hat zwei zentrale Ursachen: zum einen die völlige Dere- (D)
gulierung der Finanzmärkte und die Unterwerfung der Ich will Ihnen ein Beispiel liefern, ein revolutionäres
Politik unter die Finanzmärkte und zum anderen die Beispiel aus der Schweiz aus den letzten Tagen. Die
Schaffung riesiger volkswirtschaftlicher Ungleichge- Schweizerische Nationalbank hat erklärt: Die Preisfin-
wichte, vor allem auch durch die Bundesrepublik dung beim Schweizer Franken durch die internationalen
Deutschland. Sie alle waren sich einig, dass eine richtige Finanzmärkte wird von uns nicht mehr akzeptiert. – Dann
Strategie sei, in Deutschland die Löhne zu senken, die hat sie einen eigenen Preis festgesetzt und gesagt: Diesen
Renten und die Sozialleistungen zu kürzen, um sich auf Preis werden wir mit allen Mitteln verteidigen. – Oh
der Basis des Euro einen Wettbewerbsvorteil für die Wunder: Die internationalen Finanzmärkte haben den
deutsche Exportindustrie zu verschaffen. Bei dieser Stra- diktierten Preis in den ersten Tagen akzeptiert. Das müs-
tegie waren Sie sich alle einig. sen Sie zur Kenntnis nehmen. Das war ein revolutionärer
(Beifall bei der LINKEN – Marco Buschmann Schritt.
[FDP]: Die Arbeitslosigkeit ist gesunken!) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Kennen Sie
Wenn ich den Kollegen Gabriel heute das Schicksal auch die Instrumente, die die Schweizer ein-
eines Wachmanns beklagen höre, setzen?)

(Marco Buschmann [FDP]: Wo ist er denn?) Warum fahren Sie damit fort, Rettungsschirme zu
konstruieren, von denen Sie wissen, dass sie nicht aus-
dann fällt mir ein, wer die Gesetze zur Einführung der reichen werden, um die Spekulationen gegen italienische
Zeitarbeit, der Sklavenarbeit, der Leiharbeit in Deutsch- oder spanische Staatsanleihen zu beenden? So werden
land gemacht hat. Ein bisschen Selbstkritik und ein biss- die Spekulationen fortgesetzt. Warum unterwerfen Sie
chen Demut wären in dieser Situation angemessen. sich auch damit wieder dem Diktat der sogenannten
Finanzmärkte, anstatt Konsequenzen zu ziehen? Stellen
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sich einmal vor, wir hätten in Deutschland nicht
Kollege Trittin, wer hat eigentlich die Finanzmarkt- mehr das System der Kommunaldarlehen, sondern Duis-
förderungsgesetze gemacht? Schauen Sie einmal nach. burg und Dortmund müssten sich an den internationalen
Wer hat dafür gesorgt, dass die Hedgefonds in Deutsch- Finanzmärkten verschulden. Was glauben Sie, was da
land zugelassen wurden, dass die Derivate zugelassen los wäre? Genau so gehen Sie jetzt mit der Situation auf
wurden? Wer ist hier im Deutschen Bundestag herumge- europäischer Ebene um. Die Griechen bedecken Sie mit
rannt – auch unter Ihrem Applaus – und hat geschrien: Auflagen. Die Italiener und die Spanier machen jetzt
„Wir müssen Frankfurt zu einem Finanzplatz wie Lon- schreckliche Dinge, die ihre Länder in die Depression
14572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Ulrich Maurer
(A) treiben werden. Warum ziehen Sie nicht die Lehren aus Brüssel gestoppt hat. Auch das gehört zur Prinzipien- (C)
der deutschen Geschichte? Die deutsche Reichsregie- treue dazu.
rung hat sich auf genau die gleiche Art und Weise in die
Krise hineingespart, wie Sie es jetzt verordnen, nämlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zulasten der Masseneinkommen. Das hat uns Faschis- sowie bei Abgeordneten der SPD)
mus und Krieg beschert. Wir sind sehr erregt – das will Wenn wir über diesen Rettungsschirm diskutieren,
ich Ihnen sagen –, weil Sie sich bei dem, was Sie da ma- dann reden wir auch darüber, dass viele Menschen das
chen, im Hinblick auf die Zukunft Europas insgesamt Gefühl haben, dass Politik nicht mehr entscheidet. Sie
verantwortungslos verhalten. machen durch Ihre zögerliche Salamitaktik eben nicht
(Beifall bei der LINKEN) deutlich, dass die Änderungen, die jetzt kommen, die
Handlungsfähigkeit der Politik steigern. Dieser Schirm
Wenn die Politik nicht grundlegend geändert wird, wird nicht die endgültige Lösung sein. Es ist nicht sozu-
wenn Deutschland nicht aufhört, den Euro als Plattform sagen das Manna, das vom Himmel fällt, aber es ermög-
zu benutzen, um dann auf der Basis von Lohnsenkungen licht der Politik, mehr einzugreifen als vorher. Deswegen
und Konkurrenzvorteilen die anderen Länder an die ist die neue EFSF besser als die alte.
Wand zu konkurrieren – das war schon unter Schröder
und Fischer so –, wenn die Kaufkraft in Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht gestärkt wird, wenn Deutschland nicht auch als sowie bei Abgeordneten der SPD)
Binnenmarkt stark wird und wenn Sie weiter abschrei- Wessen Erfolg ist das? Seien Sie doch mal ehrlich!
ben, was Ihnen der internationale Bankenverband dik- Sie haben eineinhalb Jahre lang immer wieder Schritt für
tiert – Gregor Gysi hat es gestern nachgewiesen –, dann Schritt versucht, jede dieser neuen Möglichkeiten zu
setzen Sie die Krise fort, von Rettungsschirm zu Ret- verhindern. Sie haben hinausgezögert und gezaudert.
tungsschirm, von Milliardenverlust zu Milliardenverlust. Und jetzt stellen Sie sich hier hin, vertreten genau diese
Sie haben es bis heute nicht begriffen: Nicht Rettungs- Möglichkeiten und reden von Prinzipientreue. Ihr Zick-
schirme werden Europa retten, sondern eine grundle- zackkurs ist der Grund, warum die Menschen nicht ver-
gende Veränderung der Politik. stehen, weshalb es jetzt richtig ist, diesen Schirm so zu
(Beifall bei der LINKEN) verändern. Das kann man Ihnen zu Recht vorwerfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Diese Doppelzüngigkeit und kurzsichtige Note ist das
Das Wort erhält jetzt der Kollege Manuel Sarrazin für
Problem der deutschen Europapolitik. Die Europäische
(B) die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Union ringt um ihre Zukunft, aber Sie ringen immer nur (D)
darum, die nächste kleine Nachgabe deutlich zu machen.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anstatt die Zukunft Europas zu beschreiben, die euro-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die De- päischen Institutionen – das Europäische Parlament und
batte hatte teilweise Züge eines historischen Seminars, die Kommission – zu stärken und für eine demokratisch
Institut für Zeitgeschichte, speziell 70er-Jahre. legitimierte Wirtschaftsregierung zu kämpfen, befassen
Sie sich immer noch mit Zwischenrufern, die von Euro-
(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Austritt und Nord-Euro sprechen.
Hause – Norbert Barthle [CDU/CSU]: In der
Tat! – Otto Fricke [FDP]: Da hat er allerdings Andere finde ich interessanter. Das Verfassungsge-
recht! – Zuruf von der LINKEN: Geschichts- richt hat in seinem Urteil gestern aus meiner Sicht einen
vergessenheit!) weisen Weg im Hinblick auf einen starken Bundestag
und einen handlungsfähigen Rettungsschirm gewiesen,
Ich möchte in Richtung der Koalition sagen: Prinzi- einen Weg, für den wir Grüne immer plädiert haben.
pientreue ist ein großes Wort. Herr Fricke, da Sie von
Schulden und Schuldenstaaten geredet haben, muss ich (Marco Buschmann [FDP]: Lesen Sie mal Ihre
Ihnen sagen: Gerade das Beispiel Irland, das Sie gepre- eigenen Papiere!)
digt haben, hat es doch gezeigt: Vor der Krise lag die
Staatsverschuldung in Irland bei unter 30 Prozent, jetzt – Vielleicht sollten Sie sich vergegenwärtigen, was wir
befindet sich das Land unter dem Rettungsschirm. Das damals im Haushaltsausschuss eingefordert haben. Wir
ist neoliberale Politik, die Sie zum Vorbild nehmen. Das haben damals gesagt, dass wir genau das wollen, was das
gehört zur Wahrheit dazu. Verfassungsgericht mit seiner verfassungskonformen
Auslegung vorgegeben hat. Wir sollten uns also dies-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezüglich nicht nur bemühen. Damals haben wir wie in
sowie bei Abgeordneten der SPD) § 10 EUZBBG ein zwingendes Einvernehmen gefordert.
Daran werden Sie sich doch noch erinnern können. Wir
Zur Wahrheit und zur Prinzipientreue gehört genauso, konnten uns bei Ihnen bzw. beim Ministerium nicht
dass Sie seit Monaten etwas von quasiautomatischen durchsetzen. Das ist die historische Wahrheit, wenn Sie
Sanktionen erzählen. Aber genau in diesen Tagen haben denn schon auf Prinzipientreue setzen.
Sie das – die Stärkung des Stabilitätspakts – bei den Ver-
handlungen im Rat gekippt. Quasiautomatische Sanktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nen wird es nicht geben, weil Ihr Finanzminister das in sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14573
Manuel Sarrazin
(A) Das Bundesverfassungsgericht hat weniger die Gren- Sie haben im anderen Teil Deutschlands damit ihre (C)
zen des Grundgesetzes als die europäischer Verträge auf- besonderen Erfahrungen gemacht.
gezeigt und deutlich gemacht: Wir müssen über die Ver-
träge nachdenken, wenn wir die Krise handlungsstark Liebe Kollegen, das Ganze empfinde ich schlichtweg
und europäisch lösen wollen. – Das Gericht hat den ge- als peinlich. Ich bin überzeugt: Auch die Menschen neh-
genwärtigen Charakter der Verträge betont und macht men es als peinlich wahr, wenn wir uns in dieser Art der
uns klar, dass vielleicht Vertragsänderungen – übrigens Vergangenheitsbewältigung und mit parteipolitischer
ein weiteres Extabu Ihrer Koalition – notwendig sein Polemik auseinandersetzen, anstatt darüber nachzuden-
werden. Dabei verhindert es keineswegs die Einführung ken, wie wir diese Krise bewältigen können und wohin
von Euro-Bonds, sondern denkt im Gegensatz zu Ihnen es in Europa gehen muss. Das ist doch das Thema.
voraus und setzt Mindeststandards für solche Ideen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dabei geht es um die Fortentwicklung der europäischen
Verträge und um das Budgetrecht dieses Hauses. Es Ich kann nur sagen: Ich bin der Bundeskanzlerin aus-
schafft etwas, das Sie nicht nutzen. Das Verfassungs- gesprochen dankbar, die gestern in ihrer Rede dargelegt
gericht gibt Spielraum für eine proeuropäische Linie in hat, wohin es in diesem Europa gehen muss. Sie hat uns
der deutschen Europapolitik, die selbstbewusst ist und klargemacht, dass wir eine Stabilitäts- und Soliditätskul-
wieder zum Motor für die europäische Integration als tur in ganz Europa brauchen. Das ist der richtige Weg;
Lösung der Krise werden kann. Ein Schritt dabei ist die darauf müssen wir unsere Kraft verwenden. Das zeigt
neue EFFS. Diesen Schritt wollen wir als starkes Parla- uns nicht nur die Situation in Europa, sondern auch in
ment gemeinsam mit Ihnen gehen. den USA, in Japan und in vielen anderen führenden
Da Sie in diesem Zusammenhang von Parlaments- Industrienationen. Man muss darüber reden, ob man
rechten reden, möchte ich darauf hinweisen, dass die nicht über seine Verhältnisse gelebt hat. Jeder, der über
grüne Bundestagsfraktion gerade Klage gegen die Infor- seine Verhältnisse lebt, wird irgendwann dafür bestraft.
mationspolitik der Regierung gegenüber dem Bundestag Damit meine ich nicht den Taxifahrer in Athen, Herr
vor Gericht eingereicht hat. Ich erwarte von Ihnen, dass Ernst. Ich meine die gesamte griechische Bevölkerung.
Sie klar sagen – so ist die einvernehmliche Haltung des (Volker Kauder [CDU/CSU]: Oder den Por-
Deutschen Bundestages –, dass es sich bei diesen Fragen schefahrer in Berlin!)
um Angelegenheiten der Europäischen Union handelt,
bei denen die Informationsrechte des Bundestags ent- – Natürlich auch den Porschefahrer; das ist logisch. – Es
sprechend zu berücksichtigen sind. muss darum gehen, alle Kräfte darauf zu verwenden,
unsere Währung erstens stabil zu halten und zweitens
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zukunftsfest zu machen und damit auch den gesamten
(B) Ich sage Ihnen: Noch ist Zeit, in dieser Frage einzu- europäischen Wirtschaftsraum entsprechend aufzustel- (D)
lenken. Dazu sollten Sie Ihre Regierung bringen, anstatt len.
hier immer nur große Reden zu schwingen.
Das hat inzwischen auch die gesamte deutsche Wirt-
Vielen Dank. schaft erkannt. Ich bin froh, dass dies vor wenigen Tagen
die führenden Vertreter, Hans Heinrich Driftmann als
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammer-
tages und Otto Kentzler als Präsident des Zentralver-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bands des Deutschen Handwerks, in einem Namensbei-
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von trag in der Welt deutlich zum Ausdruck gebracht haben.
der CDU/CSU-Fraktion. Ich darf mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitieren:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die deutsche Wirtschaft bekennt sich in dieser
schwierigen Phase zum Euro – und unterstützt die
Norbert Barthle (CDU/CSU): Verantwortlichen dabei, die Währungsunion und
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die EU insgesamt für künftige Krisen zu wappnen.
Herren! Herr Kollege Sarrazin, in einem Punkt gebe ich Allein aus demografischen Gründen muss Deutsch-
Ihnen völlig recht: Wenn man die Debatten verfolgt, ins- land auf Europa setzen, und international werden
besondere die Argumente der Opposition, kann man wir uns gegenüber größeren, aufstrebenden Staaten
heute den Eindruck gewinnen, dass es sich um Vergan- nur als aktionsfähiges Europa Einfluss sichern.
genheitsbewältigung handelt, wenn es darum geht, wie
wir die Verschuldungskrise innerhalb Europas bekämp- Auch die Handwerker haben erkannt, dass die Aktion,
fen wollen. Es hilft uns doch nicht weiter, wenn wir Europa zukunftsfest zu machen, allen hilft, auch den
darüber räsonieren, ob nun die Regierung Karamanlis Menschen, die in Handwerksbetrieben und in kleinen
oder die Regierung Papandreou an der riesigen Verschul- oder mittleren Unternehmen beschäftigt sind. Das hilft
dung Griechenlands Schuld hat. Es hilft uns auch nicht unserer Bevölkerung insgesamt. Deshalb müssen wir
weiter, wenn wir den Blick zurücklenken, Herr Gabriel, uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir dies insge-
um herauszufinden, wer für den hohen Schuldenstand in samt gestalten.
Deutschland Verantwortung trägt. Das waren nämlich Dabei ist die Ertüchtigung der EFSF nur ein Schritt
wir alle, alle Parteien, die in diesem Haus vertreten sind. von vielen Schritten. Aber auch die Ertüchtigung der
Ausnahme sind die Linken.
EFSF ist in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es
(Florian Toncar [FDP]: Die auch!) geht um die Stärkung des Regelungsgefüges innerhalb
14574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Norbert Barthle
(A) der Europäischen Union. Dabei geht es nicht nur darum, Haushaltsausschuss gestern Abend einen Koalitionsan- (C)
mit möglichst viel Geld Europa zu sichern. Das ist nicht trag vorgelegt, in dem festgehalten ist, wie wir uns die
nur eine Frage des Geldes. Es geht auch darum, Europa parlamentarische Beteiligung vorstellen. Ich lade die
insgesamt gut aufzustellen und es fester gegenüber Opposition dazu ein, sich daran zu beteiligen. Wir haben
Angriffen von außen zu machen. Wir stärken deshalb bereits ein Vorgespräch geführt. Ich hoffe, dass wir zu-
den Stabilitätspakt, schließen einen Euro-Plus-Pakt und einanderfinden; denn es ist gute parlamentarische Tradi-
führen die europäische Integration fort. Eines ist klar: tion, Gesetze, die die Beteiligung des Parlaments betref-
Aus aufgrund akuter Entwicklungen heraus entstande- fen, in großem Konsens zu verabschieden.
nen temporären Rettungsmaßnahmen müssen dauerhafte
Krisenpräventionsmaßnahmen entstehen. Es muss in Der Gesetzentwurf sieht vor, den gesamten Deutschen
Zukunft um präventive Maßnahmen gehen. Darauf stel- Bundestag an allen Entscheidungen bei der EFSF, die zu
len wir uns ein, und danach richten wir uns. einer Inanspruchnahme von Gewährleistungen führen,
insbesondere dann, wenn es um neue Hilfsprogramme
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geht, zu beteiligen. Das heißt, dass die Zustimmung des
Bundestages Voraussetzung für eine Zustimmung zur
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch ein Wort zu den
EFSF ist. Es ist ein abgestuftes Verfahren vorgesehen.
bereits besprochenen Euro-Bonds sagen. Liebe Kollegen
Werden im Rahmen der genehmigten Gewährleistungen
von Rot und Grün, das Bundesverfassungsgerichtsurteil
zentrale Bedingungen des Programms geändert oder
ist eindeutig: Unter den gegebenen Bedingungen sind
angepasst, ist – genau so wie es das Bundesverfassungs-
Euro-Bonds verfassungswidrig. Deshalb ist es erstaun-
gericht explizit vorschreibt – die vorherige Zustimmung
lich, wie sich SPD und Grüne jetzt mühsam von diesen
des Haushaltsausschusses notwendig. Uns reicht es,
Euro-Bonds absetzen,
wenn der Haushaltsausschuss über das operative Ge-
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schäft zeitnah und umfassend informiert wird.
NEN]: Das haben wir doch gar nicht!)
Ich glaube, dass das der richtige Weg ist, um nicht nur
während sie zuvor tage-, wochen- und monatelang die Kontrolle, sondern vor allem auch eine parlamentarische
Bundesregierung aufgefordert haben, sofort Euro-Bonds Legitimation der Bundesregierung herzustellen; denn
einzuführen. Das konnte jeder nachlesen. Dabei hat aber dadurch wird die Position der Bundesregierung in den
sicherlich auch das Urteil von Standard & Poor’s eine internationalen Verhandlungen gestärkt. Das ist kein
Rolle gespielt, nach dem Euro-Bonds genauso bewertet Zeichen des Misstrauens, sondern ein Zeichen des
würden wie Griechenland-Anleihen, also als Ramsch- Zutrauens und der Stärke bei unseren Verhandlungsposi-
papiere eingestuft. Das ist ein eindeutiges Urteil. tionen auf europäischer Ebene.
(B) Meine Damen und Herren, die SPD – erlauben Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
mir diesen Schlenker – lag aber bei den großen politi-
schen Entscheidungen eigentlich schon immer daneben. Ich werbe deshalb nachdrücklich dafür: Stimmen Sie
allen Teilen dieses Gesetzentwurfes zu! Dann haben wir
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei der Ost- einen weiteren Baustein zur Sicherung der Zukunft
politik zum Beispiel!) Europas geschaffen.
Das begann mit dem NATO-Doppelbeschluss. Das war Danke.
bei der deutschen Wiedervereinigung so. Bei der Krisen-
bewältigung in Europa ist es gerade wieder so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –


Gerd Bollmann [SPD]: Keine Ahnung von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Geschichte!) Für die FDP spricht jetzt der Kollege Marco
Buschmann.
Ich bin positiv überzeugt, dass wir uns mit dem, was
wir derzeit in Spanien, in Italien und in Frankreich erle- (Beifall bei der FDP)
ben, aber auch ganz konkret dort, wo Hilfsmaßnahmen
und Rettungsschirme wirken, nämlich in Portugal und Marco Buschmann (FDP):
Irland, auf dem richtigen Weg befinden. Die Signale aus Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
diesen Ländern zeigen: Das Konzept, ein stabiles Europa gen! Lassen Sie Folgendes der Sturm- und Drangphase
zu gestalten und die Verschuldung der Staaten zurückzu- eines jungen Kollegen geschuldet sein: Wenn wir für
führen, wird erkannt und ernsthaft umgesetzt. jede hohle Phrase der Opposition einen Euro ins Phra-
Mit dem Gesetz regeln wir jetzt die nationale Umset- senschwein geworfen hätten, hätten wir die europäische
zung. Damit wollen wir unseren nationalen Beitrag leis- Staatsschuldenkrise schon gelöst. Dann könnten wir
ten und entsprechend Vorsorge treffen. Ich bin froh, dass diese Beträge überweisen und brauchten keinen EFSF.
es uns gelungen ist, eine Beteiligung des Deutschen (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]:
Bundestages vorzusehen, die noch über das hinausgeht, Haben Sie denn gestern bei Herrn Brüderle
was das Bundesverfassungsgericht uns vorgegeben hat. und bei Herrn Kauder mitgezählt?)
Ich will mich an dieser Stelle ganz bewusst bei der FDP
und selbstverständlich auch bei der CSU für die gute und Denn was wir heute hier gehört haben, war der Versuch
konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Wir haben im des geordneten Rückzugs aus den Euro-Bonds.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14575
Marco Buschmann
(A) Die Krönung war dann noch der Versuch von Herrn Das sichert das Budgetrecht des Deutschen Bundestages (C)
Trittin, der nur austeilen und nicht einstecken kann wie kein anderer Mechanismus, den wir im deutschen
– zumindest ist er gar nicht da und bereit, sich dem zu Recht kennen.
stellen –, uns über demokratische Grundsätze und das,
(Beifall bei der FDP)
was das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, zu
belehren. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Darin unterscheidet sich unser Entwurf von dem, was
Sie, lieber Kollege Sarrazin, vorschlagen. Weil Sie das
(Beifall bei der FDP) immer abstreiten, möchte ich kurz aus dem Beschluss
der AG Haushalt von Bündnis 90/Die Grünen vom
Uns braucht niemand darüber zu belehren, dass ein zen-
30. August zitieren:
trales Element von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
der Parlamentsvorbehalt ist. Dabei geht es auch nicht um Vor der Entscheidung über die Gewährung von
Pfründe der Abgeordneten; das ist völlig klar. Es geht Finanzhilfen und vor der Entscheidung über die Be-
vielmehr darum, dass die gewählten Repräsentanten der dingungen der Finanzhilfe
Bürger das Zepter für politische Prioritäten in der Hand
– also wenn Geld fließen soll –
behalten.
soll die Bundesregierung Einvernehmen mit dem
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundestag herstellen.
NEN]: So ein Quatsch!)
Das heißt, es wäre schon schön, wenn man sich im
Wenn man ihnen dieses Zepter entreißt, dann entreißt Grundsatz daran halten würde, aber Ausnahmen bestäti-
man dem Volk ein Stück seiner Selbstbestimmung. Da- gen die Regel. Das ist viel weicher als das, was wir vor-
rüber braucht uns niemand zu belehren. Daher werden schlagen.
wir als Koalition aus Union und FDP – das haben wir
Ihnen auch schwarz auf weiß aufgeschrieben – in das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Stabilitätsmechanismusgesetz die schärfste Form eines der CDU/CSU)
Parlamentsvorbehaltes schreiben, den das deutsche Ihr Vorschlag wäre vom Bundesverfassungsgericht ver-
Staatsrecht kennt. Die Vertreter Deutschlands in den worfen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat ge-
Gremien der EFSF müssen bei allen haushaltsrelevanten sagt: Der Bundestag muss vorher zustimmen. Es hat
Entscheidungen mit Nein stimmen, es sei denn, es liegt nicht gesagt: Er soll.
vorher die ausdrückliche Zustimmung des Deutschen
Bundestages vor. Ein Quasi-Ja durch Enthaltung oder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) Fernbleiben bei der Abstimmung ist nicht möglich. Herr Kollege Buschmann, der Kollege Sarrazin (D)
Durch diesen Mechanismus gelangt das Vetorecht würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie
Deutschlands in diesen Gremien, das aus dem Einstim- das?
migkeitsprinzip folgt, aus den Händen der Regierung in
die Hände des Parlaments. Einen stärkeren Kontroll- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht das
mechanismus werden Sie im gesamten deutschen Recht Leiden verlängern!)
nicht finden. Die Koalition setzt hier Maßstäbe.
Marco Buschmann (FDP):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Selbstverständlich.
der CDU/CSU)
Mit diesem Verfahren haben wir vor der Entschei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dung des Bundesverfassungsgerichts – denn wir haben Bitte.
schon vorher gehandelt – gezeigt, dass wir sehr genau
wissen, was unsere Verfassung von uns verlangt, und Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dass wir ihren Inhalt verteidigen werden.
Verehrter Herr Kollege, da Sie höchstrichterliche
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rechtsprechung anscheinend ja prophezeien können,
NEN]: Integrationsverantwortungsgesetz! Da- frage ich Sie: Sind Sie sich dessen bewusst, dass das
von haben Sie wohl noch nie gehört!) Bundesverfassungsgericht in seinem gestrigen Urteil in
der verfassungskonformen Auslegung ausdrücklich auch
Wir als selbstbewusste Parlamentarier stellen eben keine § 1 Abs. 4 Satz 3 des StabMechG erhalten hat, der eine
Blankoschecks aus. Ob man es Euro-Bonds oder Blan- ähnliche Regelung vorsieht? Verstehen Sie, dass wir uns
koschecks nennt, wir werden sie nicht ausstellen, weder deswegen durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil
unserer Regierung noch einer anderen europäischen Re- vollumfänglich bestätigt sehen?
gierung. Unser Kontrollmechanismus verwandelt die
deutschen Vertreter in den Gremien der EFSF von Erfül- Marco Buschmann (FDP):
lungsgehilfen der Regierung in einen starken Arm des Nein, das kann ich nicht verstehen. Sie haben das
Parlaments. Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht verstanden.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ein Quatsch!) NEN]: Das steht doch wörtlich drin!)
14576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Marco Buschmann
(A) Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: § 1 Abs. 4 Von allen verantwortlichen Kräften, habe ich gesagt. Es (C)
StabMechG bedarf der verfassungskonformen Ausle- gibt eine Ausnahme. Das sind die Kolleginnen und Kol-
gung. Es hat den Wortlaut anders ausgelegt, nämlich legen von der Linkspartei. Aber Sie handeln auch nicht
nicht im Sinne eines Bemühens. Das hat Herr Voßkuhle verantwortlich, in europäischen Fragen schon gar nicht.
ausdrücklich gesagt, und das wüssten Sie, wenn Sie es Da Sie allen europapolitischen Entscheidungen nicht zu-
verfolgt hätten. Es reicht eben nicht das Bemühen um gestimmt haben, bleiben Sie insofern Ihrer Tradition we-
Einvernehmen. nigstens treu.
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Ich bin überzeugt, dass wir mit der Verabschiedung
GRÜNEN]: Er war ja da im Gegensatz zu Ih- dieses wichtigen Regelungswerks im Rahmen der Euro-
nen! Also wirklich!) Gruppe das Signal an die Märkte senden, dass die Bun-
desrepublik Deutschland zu ihren Verpflichtungen und
– Ich kann doch nichts dafür, wenn er nicht versteht, was
zu ihrer Rolle im Rahmen der europäischen Integration
das Bundesverfassungsgericht erklärt.
steht.
Sie haben die Botschaft gestern nicht verstanden.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Altmaier, ich möchte Sie kurz unterbre-
Sie wollen mit Nebelkerzen davon ablenken, dass Ihre chen. Der Kollege Ernst würde Ihnen gerne eine Zwi-
Maßstäbe gestern grandios gescheitert wären, wenn sie schenfrage stellen.
im Bundesgesetzblatt gestanden hätten.
Im Übrigen sind auch die Blankoschecks namens Peter Altmaier (CDU/CSU):
Euro-Bonds vom Tisch. Aber gerne.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie disqualifizieren sich ja nur selber!) Klaus Ernst (DIE LINKE):
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich gesagt: Herr Kollege Altmaier, da Sie die Verantwortung so
Ein Mechanismus, der automatisch den Steuerzahler be- hervorgehoben haben, möchte ich Ihnen eine Frage stel-
lastet, ohne dass das deutsche Parlament davor ist, ist len. Erstens. Halten Sie es wirklich für verantwortlich,
mit der Verfassung nicht in Einklang zu bringen. Genau dass sich in einer gemeinsamen Währungsunion ein
das haben aber Cem Özdemir, Jürgen Trittin und Sigmar Land durch Lohndumping und Reduzierung von Löhnen
Gabriel in den letzten Wochen propagiert. Diese Vor- und Renten permanent Vorteile verschafft, was dazu
schläge sind vom Tisch. Wenn verfassungskonforme De- führt, dass andere Länder negative Bilanzen aufweisen
(B)
mokraten zu entscheiden haben, dann kommen sie auch und Schulden machen? Zweitens. Halten Sie es wirklich (D)
nicht wieder auf den Tisch. Das ist eine gute Sache für für verantwortlich, dass in einem gemeinsamen Europa
den deutschen Steuerzahler und das deutsche Parlament. anderen Ländern Programme aufgezwungen werden,
durch die die Löhne weiter gesenkt, die Renten gekürzt
Herzlichen Dank. und die Gesundheitssysteme infrage gestellt werden und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die gleichzeitig zu einer weiteren Reduzierung des Wirt-
der CDU/CSU) schaftswachstums führen? Drittens. Glauben Sie, dass
dadurch die Zustimmung der Bürger in diesen Ländern
zu einem gemeinsamen Europa erhöht oder eher verrin-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gert wird?
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Peter Altmaier von der CDU/CSU- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt reicht es
Fraktion das Wort. aber!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Viertens. Glauben Sie, dass durch immer neue Maßnah-
men in Milliardenhöhe, die wir hier beschließen, die Zu-
Peter Altmaier (CDU/CSU): stimmung der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepu-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und blik Deutschland zu diesem Europa erhöht wird?
Herren! Mir liegt am Ende der Debatte daran, die Ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
meinsamkeiten, die deutlich geworden sind, hervorzuhe-
ben. Wenn ich das, was Sie heute Morgen gesagt haben
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und was wir in den letzten Tagen in den Zeitungen lesen
konnten, richtig bewerte, dann komme ich zu dem Bevor Sie, Herr Altmaier, antworten, will ich darauf
Schluss, dass wir in 14 Tagen diesen Gesetzentwurf mit hinweisen, dass von Fragenketten nichts in der Ge-
einer breiten parlamentarischen Mehrheit von CDU/ schäftsordnung steht, sondern nur von einer Frage.
CSU, FDP, SPD und Grünen verabschieden werden. Wir (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eine Kette hat
kehren damit zu der langen und bewährten Tradition zu- mehrere Glieder!)
rück, dass grundlegende europapolitische Entscheidun-
gen von allen verantwortlichen Kräften dieses Hauses Peter Altmaier (CDU/CSU):
gemeinsam getragen werden.
Herr Kollege Ernst, ich habe gesagt, dass sich die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Linkspartei treu bleibt. Das gilt auch für Ihre Zwischen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14577
Peter Altmaier
(A) frage. Das, was Sie als neoliberal und als Lohndumping Er hat heute erklärt: (C)
kritisiert haben, und alle sozial- und wirtschaftspoliti-
schen Reformen der letzten zehn Jahre, von der Agenda Bei Euro-Bonds bin ich zumindest reserviert.
2010 bis zu dem, was die Koalition von CDU/CSU und (Joachim Poß [SPD]: Ja und?)
FDP in den letzten beiden Jahren getan hat, ist nichts an-
deres als die Voraussetzung dafür gewesen, dass wir Die Bedingungen dafür, in die gemeinsame Verant-
heute in Deutschland ein Wachstum haben, dass wir wortung zu gehen, sind nicht erfüllt.
heute in Deutschland Lohnsteigerungen haben und dass
wir heute in Deutschland eine gute Situation in den so- (Joachim Poß [SPD]: Das will doch auch
zialen Sicherungssystemen haben, was den Arbeitneh- keiner!)
merinnen und Arbeitnehmern zugute kommt. Wir ma- Es geht nicht, dass man Freibriefe verteilt, nach
chen unsere Politik in Europa, weil wir wollen, dass dem Motto: Man bedient sich dieser Bonds, und die
dieses erfolgreiche Wirtschaftsmodell nicht auf Deutsch- Garantie dafür müssen andere tragen, weil man
land begrenzt bleibt, sondern dass es sich auf alle Staa- sonst das gute Rating nicht bekommt. Da macht
ten der Europäischen Union ausdehnt und dazu führt, man es sich zu einfach.
dass die Wirtschaft wächst und die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer durch einen erhöhten Lebensstandard (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
davon profitieren. Das haben Sie nicht verstanden, und
Herrn Borjans’ Haushalt ist vom Verfassungsgerichtshof
das werden Sie auch in Zukunft nicht verstehen.
Nordrhein-Westfalen schon einmal für verfassungswid-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rig erklärt worden. Offenbar hat das gewirkt. Hören Sie
auf Ihren eigenen Finanzminister, und finden Sie zu ei-
Die Frage des Vertrauens in die gemeinsame europäi- ner vernünftigen, sachlichen Diskussion in dieser Frage
sche Währung beantworten jeden Tag die Devisen- zurück.
märkte. Der Euro ist eine stabile Währung. Er hat in den
letzten zehn Jahren an Wert gewonnen. Die Menschen (Joachim Poß [SPD]: Ich bin in einem guten
investieren weltweit in den Euro. Es gibt niemanden, der Gespräch mit ihm!)
den Euro schlechtredet, wenn ich von Ihnen einmal ab- Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege
sehe. Sarrazin hat auf einen Punkt hingewiesen, der in der öf-
Als ich vorhin von der breiten Mehrheit gesprochen fentlichen Kommunikation schwierig ist. Er hat gesagt:
habe, habe ich den Kollegen Oppermann gesucht. Er Sie sagen heute dies, und dann ändern Sie Ihre Meinung. –
versucht, das umzudrehen, und sagt: Wir stimmen zu. Das ist bei Ihnen noch nie vorgekommen; ich weiß das.
(B) Aber hat denn die Koalition eine Mehrheit? – Wir haben Der Punkt ist natürlich, dass wir in dieser ganzen (D)
jetzt zwei Jahre Erfahrung mit Abstimmungen. Unsere Staatsschuldenkrise, die einige Länder in Europa erfasst
Koalition hatte nach jeder wichtigen Abstimmung in die- hat, zwei zum Teil gegensätzliche Ziele gleichzeitig ver-
sem Hohen Hause eine Mehrheit, die größer war als der folgen müssen: Es geht zum einen darum, dass man Soli-
Vorsprung ihrer Mandate aufgrund der Zusammenset- darität mit denen übt, die in Schwierigkeiten sind, und
zung des Deutschen Bundestages. Ich schlage vor: Küm- ihnen hilft, aus diesen Schwierigkeiten herauszukom-
mern Sie sich um Ihre Mehrheiten. Wir kümmern uns men. Dass wir dazu bereit sind, haben wir in den letzten
um unsere Mehrheiten. Am Ende werden wir mit der zwölf Monaten wiederholt bewiesen. Zum anderen geht
Verabschiedung des Gesetzentwurfs ein gemeinsames es darum, dass wir auch dafür sorgen, dass aus den Feh-
und starkes Signal für unsere europäischen Partner und lern gelernt wird und dass in Europa eine Stabilitätskul-
für die Märkte senden. tur verankert wird, in der vermieden wird, dass wir in
zwei, drei oder vier Jahren in genau derselben Situation
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sind.
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn der
Bosbach?) So, wie ich eben gesagt habe, Sie sollten auf Herrn
Borjans hören, sage ich: Schauen Sie nach Italien. In Ita-
Ich will ein Wort zu den berühmten Euro-Bonds sa- lien war es so, dass man im August, als die Krise plötz-
gen. Wir sind doch nicht diejenigen gewesen, die dies zu lich überhandzunehmen schien, endlich bereit war, sich
einer ideologischen Frage gemacht haben. Der Bundes- auf ein Sparprogramm zu einigen. Anschließend hat sich
finanzminister hat darüber ganz nüchtern diskutiert, und die Europäische Zentralbank an den Märkten betätigt
er hat begründet, warum wir glauben, dass sie auf abseh- und interveniert. Das Ergebnis war, dass die politisch
bare Zeit nicht das richtige Instrument seien. Dann ha- Verantwortlichen in Italien als Erstes wesentliche Teile
ben SPD und Grüne plötzlich und ohne Vorankündigung dieses Sparprogramms gekippt haben.
so getan, als hätten sie ein Allheilmittel zur Lösung aller
Probleme in Europa. Das war leider Gottes nicht zielfüh- Lieber Herr Kollege Schneider, was glauben Sie
rend. denn, wie viele Regierungen in Europa noch die Chance
hätten, Sparprogramme durch ihre Parlamente zu brin-
Wenn Sie mir nicht glauben, Herr Kollege Poß, dann gen oder Schuldenbremsen in den nationalen Verfassun-
glauben Sie vielleicht dem Finanzminister von Nord- gen zu verankern, wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt
rhein-Westfalen Walter-Borjans. Euro-Bonds einführen würden?
(Joachim Poß [SPD]: Das ist Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Peter Altmaier
(A) Das ist der Punkt: dass Sie Ihren eigenen Zielen entge- stellen – ob es eine egalitäre, eine neoliberale oder eine (C)
genarbeiten, wenn Sie solche Vorschläge zum falschen andere Entwicklung geben wird –, und uns anschauen,
Zeitpunkt machen. welche Wirtschaftsmodelle in anderen Staaten vertreten
werden, dann sage ich Ihnen: Die Frage, ob der Euro
(Joachim Poß [SPD]: Lesen Sie doch Ihre ei-
Erfolg hat oder nicht, ist nicht nur eine währungspoliti-
genen Äußerungen! Sie haben sich doch offen
sche Frage, sondern es ist eine ordnungspolitische Frage
zu den Euro-Bonds geäußert! Das verschwei-
allererster Güte. Wir haben als CDU/CSU, als FDP dazu
gen Sie doch!)
beigetragen, dass der Weg zum Euro möglich geworden
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, ist. Wir werden gemeinsam – hoffentlich auch mit Ihnen –
dass wir eines Tages feststellen werden, dass wir mit der dafür sorgen, dass der Euro ein Erfolgsmodell bleibt.
Verabschiedung der EFSF und mit seiner Ertüchtigung
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
in diesem Jahr den nächsten großen Schritt in der euro-
päischen Integration gegangen sind. Es ist richtig, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
die Politik in den letzten Monaten oftmals gezwungen Joachim Poß [SPD]: Jetzt sind alle überzeugt
war, in kurzen Abständen zu intervenieren, und dass da drüben, Herr Altmaier!)
viele den Eindruck hatten: Wir werden zum Teil zwar
nicht getrieben, aber jedenfalls dazu angehalten, den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Entwicklungen an den Märkten ein Stück weit hinterher- Ich schließe die Aussprache.
zulaufen. Das ist problematisch. Wir müssen das Primat
der Politik wiederherstellen. Wir müssen dafür sorgen, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
dass nicht die Märkte, sondern die Politik die Rahmen- den Drucksachen 17/6916 und 17/6945 an die in der Ta-
bedingungen vorgibt. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
(Joachim Poß [SPD]: So ist das! Hört! Hört!) sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich sage Ihnen, dass es auch vor diesem Hintergrund Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-
richtig ist, jetzt den nächsten qualitativen Schritt in der nungspunkt 1 – fort:
europäischen Integration zu gehen.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Niemand kennt das Endziel der europäischen Integra- Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
tion. Niemand weiß, wie viele Schritte man zu welchen Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012)
Zeiten gehen muss. Aber in der gegenwärtigen Situation (D)
(B) – Drucksache 17/6600 –
– nach der Bankenkrise, vor dem Hintergrund der Staats-
schuldenkrise – ist das Gebot der Stunde, das zu leisten, Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
was beim Abschluss des Vertrages von Maastricht noch
nicht möglich war, nämlich die Währungsunion durch b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
eine Stabilitätsunion und durch eine vernünftige wirt- regierung
schaftliche Steuerung in Europa zu komplettieren. Sie
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
sind herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen und
bei der Diskussion darüber, was notwendig ist, mitzu- – Drucksache 17/6601 –
machen. Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
(Joachim Poß [SPD]: Die sind nicht überzeugt,
da drüben! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Am Dienstag haben wir für die heutige Aussprache
Kein Applaus von der Union!) eine Redezeit von neuneinhalb Stunden beschlossen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist von Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
vielen in dieser Debatte versucht worden, antieuropäi- ministeriums für Wirtschaft und Technologie, Einzel-
sche Ressentiments neu zu beleben. Es ist von vielen plan 09.
auch die Behauptung aufgestellt worden, es sei nicht
möglich, eine gemeinsame Währung wie den Euro im Als erster Redner hat das Wort der Bundeswirt-
21. Jahrhundert dauerhaft zu verteidigen. Ich kann nur schaftsminister Dr. Philipp Rösler.
sagen: Diejenigen, die den Euro eingeführt haben – es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sitzen viele in diesem Hohen Haus, die damals dabei der CDU/CSU)
waren, zum Teil mit Bauchschmerzen –, die damals den
Mut dazu hatten, haben etwas geschafft, was es weltweit
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
in dieser Form bis heute sonst nicht gibt. Der Euro ist
und Technologie:
nicht nur eine gemeinsame Währung. Er ist nicht nur ein
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Ergebnis der europäischen Integration, sondern er ist
Herren Abgeordnete! Wir alle kennen die guten Zahlen
inzwischen auch weltweit das Symbol für das europäi-
der deutschen Wirtschaft. Trotz einer leichten Abküh-
sche Sozialmodell.
lung im zweiten Quartal erwarten wir für das Jahr 2011
Wenn wir darüber reden, wie wir uns die weltwirt- 2,6 Prozent Wachstum. Wir haben eine grandiose Be-
schaftliche Entwicklung in einer globalisierten Welt vor- schäftigungssituation. Es gibt mehr als 41 Millionen Er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14579
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) werbstätige; davon sind über 28 Millionen sozialver- Es reicht aber nicht aus, nur im Inland nach Fachkräf- (C)
sicherungspflichtig Beschäftigte. Im letzten Jahr wurden ten zu suchen. Ich füge hinzu: Wir brauchen auch die
700 000 neue Jobs geschaffen. Davon waren mehr als Zuwanderung Qualifizierter aus dem Ausland. Dazu
die Hälfte Vollzeitjobs. Wir haben die niedrigste Arbeits- müssen wir die Regeln verbessern.
losigkeit seit 1992. Die Zahl der Arbeitslosen liegt bei
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
unter 3 Millionen.
Macht doch!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts Wir müssen Schluss machen mit bürokratischen Hemm-
solcher Zahlen
nissen. Die Vorrangprüfung muss weiter reduziert wer-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die haben Sie den. Wir müssen auch, was die sofortige Niederlassungs-
alle geschaffen, ja?) möglichkeit hier anbelangt, die Einkommensschwelle
– Sie alle kennen die Diskussion – von 66 000 Euro auf
ist Verunsicherung und ist erst recht Angst vor Rezession 40 000 Euro senken.
vollkommen unangebracht. Wir haben eine starke Wirt-
schaft, und wir erwarten auch weiterhin robustes Wachs- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
tum in Deutschland. Macht doch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
Jetzt klatscht die CDU aber nicht!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es geht aber um weit mehr als nur um reine Kennzahlen
Deswegen war es ein bisschen merkwürdig, wie sich und Einkommensdaten. Wir brauchen in Deutschland
gestern gerade die Sozialdemokraten noch einmal selbst eine Willkommenskultur; denn die Frage der Zuwande-
beweihräuchert haben ob der guten Taten damals in der rung ist auch, aber nicht nur eine ökonomische Frage,
Großen Koalition. Abgesehen davon, dass das jetzt ja sondern weit darüber hinaus auch eine gesellschaftliche
eher schon verwelkte Siegerkränze sind, muss man eines Frage, der wir uns gemeinsam annehmen müssen.
deutlich machen:
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem
(Garrelt Duin [SPD]: Von Siegerkränzen sind BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Sie noch weit entfernt!) geordneten der CDU/CSU)
Tatsächlich haben wir das Wachstum doch vor allem den – Das ist eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die wir
Unternehmerinnen und Unternehmern, ihren Beschäftig- offensichtlich derzeit haben.
ten und ihren Produkten und Dienstleistungen in (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Deutschland zu verdanken, also denjenigen Menschen in Sie sind doch an der Regierung!)
(B) unserem Lande, die gerade in den Krisenzeiten 2008 und (D)
2009 fleißig gewesen sind. Das sind Menschen, denen Jetzt komme ich aber zu weiteren Unterschieden.
wir uns in besonderer Weise verpflichtet fühlen.
Wer Wachstum verstetigen will, muss natürlich auch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten an Entlastung denken. Es waren doch die Menschen in
der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: den Unternehmen, die in schwierigen Jahren Leistung
Die brauchen Rahmenbedingungen!) – Zuruf erbracht haben. Sie müssen auch etwas von dem Geleis-
des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) teten spüren. Deswegen ist es richtig, untere und mittlere
Einkommen steuerlich zu entlasten und gleichzeitig die
Das bedeutet, Herr Kollege Heil, dass wir alles dafür kalte Progression zu reduzieren. Das ist übrigens nicht
tun müssen, um das Wachstum, das wir momentan noch nur eine Frage der Entlastung, sondern auch eine Frage
haben, auch weiter zu verstetigen, und die richtigen poli- der Steuergerechtigkeit.
tischen Entscheidungen treffen müssen.
Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Lohnzusatz-
Dazu müssen wir zuallererst die größte Wachstums- kosten in Deutschland zu senken; denn in Deutschland
bremse in Deutschland lösen, und das ist in der Tat der sind bekanntermaßen nicht die Löhne zu hoch, sondern
Fachkräftemangel. Wir wollen schwächere Jugendliche die Lohnzusatzkosten.
mehr fördern als bisher, damit sie Ausbildungsfähigkeit
und -reife erhalten. Wir wollen eine bessere Vereinbar- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die Löhne
keit von Familie und Beruf. Wir sollten auch diejenigen sind zu niedrig!)
nicht vergessen, die älter sind, aber noch im Arbeits- Wir wollen in Deutschland als christlich-liberale Regie-
leben stehen. Ich habe kein Verständnis für große Unter- rungskoalition nicht nur Wachstum, sondern gleichzeitig
nehmen, die sich auf der einen Seite über Fachkräfte- auch Beschäftigung. Entlastung ist dazu genau der rich-
mangel beklagen, aber auf der anderen Seite Menschen tige Weg.
über 55 entlassen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Natürlich geht es neben der Entlastung im finanziel-
Das ist ein Verlust für die Unternehmen und auch ein len Bereich auch um die Entlastung von bürokratischen
volkswirtschaftlicher Fehler. Wenn wir Fachkräftesiche- Aufgaben. Bürokratie ist doch so etwas wie eine Art
rung betreiben, müssen wir sie in allen Generationen Mehltau, der sich im Moment über die Unternehmen in
betreiben. Das kann helfen, das Wachstum gerade in die- Deutschland legt. Deswegen ist es beispielsweise richtig,
ser Zeit in besonderer Weise zu verstetigen. dass wir endlich mit dem bürokratischen Monstrum
14580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) ELENA Schluss gemacht haben. Das stellte gerade eine Wir jedenfalls stehen für Mut zum Fortschritt. Wir (C)
Belastung für die kleinen und mittelständischen Unter- sind davon überzeugt, dass es morgen tatsächlich besser
nehmen dar. Hier kann man sehr schnell sehen, dass man werden kann als heute und dass man Probleme, die
selbstverständlich, ohne viel Geld in die Hand zu neh- durch die Anwendung und Nutzung von Technologien
men, Wachstum verstetigen und gerade Mittelstand, entstehen, nicht durch ein Verbot von Technologien wird
Handel und Handwerk in Deutschland unterstützen lösen können. Vielmehr kann man immer nur versuchen,
kann. durch bessere technologische Lösungen genau solche
Probleme zu vermeiden. Wir sind die Koalition des Fort-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schritts, und Sie sind die Koalition des Rückschritts und
der CDU/CSU) des Kultur- und Fortschrittspessimismus.
Entlastung ist für die SPD allerdings ein Fremdwort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich habe mir einmal das Konzept angesehen, das Sie
gerade vorgelegt haben. Sie wollen nicht Entlastung, Sehr bemerkenswert fand ich die gesamten Einlassun-
sondern Belastung: bis zum Jahr 2016 zusätzliche Steu- gen der Opposition in den letzten beiden Tagen zur Sta-
ererhöhungen in einem Umfang von 37 Milliarden Euro. bilität des Euro. Eines ist doch klar: Gerade die Wirt-
Das ist Geld, das andere Menschen in Deutschland erst schaft braucht eine stabile Währung. 60 Prozent unserer
einmal verdienen müssen. Wenn Sie das Geld dann Exporte gehen nach Europa, und 40 Prozent gehen in die
wenigstens zur Haushaltskonsolidierung einsetzen woll- Euro-Zone. Deutschland hat wie kein anderer Staat von
ten, dann könnte man darüber ja noch diskutieren, aber einer gemeinsamen Währung, von unserem Euro, profi-
Sie planen gleichzeitig im Bund Mehrausgaben in Höhe tiert.
von 85 Milliarden Euro. Das zeigt einmal mehr, Ihre
Einnahmen- und Ausgabenrechnung wird am Ende nicht Aber dass gerade Sie uns hier Ratschläge geben wol-
funktionieren. Das beweist die Binsenweisheit, die jeder len, wie wir in diesen schwierigen Zeiten den Euro stabi-
in Deutschland kennt: Sozialdemokraten können eben lisieren können, ist wirklich ein Treppenwitz der Ge-
einfach nicht mit Geld umgehen. schichte. Sie waren es doch, die 2005 dem Euro in die
Kniekehle getreten haben, und jetzt planen Sie sogar das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zweite Foul, indem Sie nach wie vor den Euro-Bonds
der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) das Wort reden, obwohl das Bundesverfassungsgericht
Da, wo Sie regieren, geht es immer nur in Richtung gestern deutlich gemacht hat, dass eine solche Transfer-
Schuldenstaat. union, wie Sie auf der linken Seite sie sich vorstellen,
niemals machbar und niemals zulässig wäre. Wir wollen
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ist Ihnen sie auch politisch nicht. Wir lassen nicht zu, dass der
(B) das nicht peinlich? – Gegenruf des Abg. deutsche Steuerzahler für die Schulden anderer Staaten (D)
Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: NRW!) aufkommen muss.
Dass es auch anders gehen kann, sehen Sie am Einzel- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen Sie
plan 09, nämlich am Haushalt des Bundesministeriums doch gerade!)
für Wirtschaft und Technologie. Wir schaffen es,
150 Millionen Euro in die Hand zu nehmen für For- Was sollen wir Herrn Papandreou sagen, wenn er am
schung und Technologie, aber nicht, indem wir die Ein- 27. September zu uns nach Deutschland kommt, wenn
nahmen erhöhen, sondern indem wir sparen und kürzen. wir ihn bitten, eine Schuldenbremse in die Verfassung
Dazu sind wir bereit. Die Ausgaben werden um 110 Mil- aufzunehmen? Oder was wollen wir Herrn Berlusconi
lionen Euro gekürzt, indem Subventionen zurückgefah- oder den Kollegen in Spanien sagen? Die werden sagen:
ren werden. Wir würden das gerne machen. Aber was ist mit euren
Ministerpräsidenten in Rheinland-Pfalz, in Baden-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie ist das mit Württemberg, in Nordrhein-Westfalen? Da, wo Rot-
den Hoteliers?) Grün regiert, gibt es neue Schulden. Da, wo Grün-Rot
regiert, gibt es neue Schulden.
Nur so, meine Damen und Herren, kann es gelingen,
nachhaltige Haushalte aufzustellen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Saarland!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist mit der In Nordrhein-Westfalen, wo im Grunde Rot-Rot-Grün
Hotelsteuer?) regiert, wird sogar gegen die Verfassung verstoßen. Wie
Wir werden mit dem dadurch freiwerdenden Geld neue sollen wir von anderen glaubwürdig die Aufnahme einer
Märkte fördern, etwa in den Bereichen digitale Welt, Schuldenbremse in die Verfassung fordern, wenn Sie
Nanotechnologie und auch Energieeffizienz. Ich sage nicht in der Lage sind, sich daran vernünftig zu halten?
Ihnen: Gerade bei diesen Förderprojekten stehen sich die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Grünen selbst im Wege; denn wenn es jemanden gibt,
der fortschrittsfeindlich und kulturpessimistisch ist, dann Stabilität erreichen wir nicht mit Ihrem Weg in ein
sind es doch Sie, meine sehr verehrten Damen und Her- Schulden-Europa. Stabilität erreichen wir nur, indem wir
ren von den Grünen. europaweit klare Stabilitätskriterien vereinbaren:
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bleiben Sie mal
NEN) seriös, Herr Kollege! – Gegenruf des Abg.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14581
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sagen gerade (Beifall bei der SPD) (C)
Sie, Herr Heil!)
Aufnahme der Schuldenbremse in die Verfassungen und Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Wettbewerbsfähigkeitstest. Wer diese Tests als Staat Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nicht besteht, muss sich harten Sanktionsmaßnahmen nen und Kollegen! Herr Rösler, als Sie Herrn
unterwerfen, damit er wieder auf den Pfad der Stabilität Westerwelle vor einigen Monaten ablösten oder ablösen
zurückgebracht werden kann. mussten – wie auch immer –, haben Sie einen schönen
Satz gesagt: Ab jetzt wird geliefert. – Sie werden diesen
Ich sage ausdrücklich: Es wäre zu kurz gegriffen, Satz nicht los; denn Sie haben nicht nur Lieferschwierig-
wenn man glaubt, man könne dies durch eine gemein- keiten,
same Wirtschafts- und Finanzregierung erreichen, die
man mal eben so ins Leben ruft. (Klaus Barthel [SPD]: Sie wollen doch Panzer
liefern an Saudi-Arabien!)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wie Frau Merkel, Ihre Chefin!) sondern in den Fällen, in denen Sie etwas liefern, liefern
Sie tatsächlich nichts, was Deutschland gebrauchen
Bevor es eine gemeinsame Regierung gibt, müssen Sie kann. Ihre Rede war dafür ein treffender Beweis.
zunächst einmal die Frage klären, in welche Richtung
diese Regierung regieren soll. (Beifall bei der SPD)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist eine Wenn alles so toll und rosig ist, wie Sie das hier
gute Frage an Ihre Regierung!) beschreiben, müssen Sie sich einmal eines fragen:
Warum bekommen Sie dann nach und nach bei Land-
Dazu braucht sie diese klaren Kriterien. Sie wollen ein
tagswahlen einen auf den Deckel?
Schulden-Europa,
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ach Quatsch!)
2,7 Prozent!)
wir wollen eine Stabilitätsunion. Das ist der Unterschied
Die Menschen sehen das offensichtlich anders.
zwischen linker Regierung und christlich-liberaler
Koalition. Das hat einen ganz realen Hintergrund. Die Menschen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) spüren, dass Sie von der Substanz einer wirtschaftlichen
Entwicklung zehren, die ohne Frage in den letzten Jah-
Unsere Aufgabe in unruhiger werdenden Zeiten ist es, ren positiv war und die auch in diesem Jahr noch positiv
(B) Wachstum zu verstetigen, für Fachkräftesicherung zu ist. Hierfür können viele etwas – da haben Sie vollkom- (D)
sorgen, men recht –: anständige Unternehmer, die in der Krise
nicht ihre Leute auf die Straße gesetzt haben, kluge Ge-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wie denn?) werkschaften, die mitgeholfen haben und die Sie früher
Ressourcen zu sichern. Wir müssen die Menschen und noch geschmäht haben, aber auch die Reformpolitik der
Unternehmen in Deutschland entlasten und so Wachs- SPD-geführten Bundesregierung und das Krisenmanage-
tumskräfte freisetzen. Wir müssen Märkte absichern, ment der Großen Koalition.
neue Märkte finden und unsere Unternehmen von büro- Sie leben von der Substanz. Damals ist alles gegen die
kratischen Lasten befreien, damit sie die Chance haben, FDP auf den Weg gebracht worden, und jetzt versuchen
die neuen Märkte zu nutzen. Sie, sich neben die schönen Zahlen zu stellen. Das wer-
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Na, dann den Ihnen die Menschen nicht durchgehen lassen, Herr
tun Sie es doch!) Rösler.
Dazu braucht man eine stabile Währung und den Mut, (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
sich auf den Weg zur Stabilisierung zu machen. Überall CSU]: Das wollen wir mal sehen!)
da, wo Sie regieren, meine sehr verehrten Damen und
Jetzt, wo an der einen oder anderen Stelle dunkle
Herren, wachsen die Schulden und die Arbeitslosigkeit.
Wolken aufziehen, wäre es eigentlich Ihre Aufgabe als
Da, wo wir regieren,
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, in den
(Garrelt Duin [SPD]: Überall da, wo Sie noch zentralen ökonomischen Debatten Vorschläge zu ma-
regieren, werden Sie abgewählt!) chen, was zu tun ist, wie man die Kraft des Auf-
schwungs nutzen kann, um sich auch für schlechtere
wachsen die Unternehmen und die Beschäftigung. Das Zeiten zu wappnen, und wie man den Strukturwandel, in
ist das Ziel erfolgreicher Wirtschaftspolitik. dem Deutschland steckt, tatsächlich bewältigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Was aber liefern Sie? Nichts. In den zentralen ökono-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mischen Debatten dieser Zeit ist der Bundesminister
Philipp Rösler ein Totalausfall.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie Zustimmung des
Für die SPD hat jetzt das Wort der Kollege Hubertus Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Heil. NEN])
14582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) So war es bei der Diskussion über die Euro-Rettung, wo Beispiel noch eine breite industrielle Wertschöpfungsba- (C)
Sie nicht nur von den Märkten getrieben waren, sondern sis und -kette haben, von der Grundstoffindustrie bis zu
vor allem von den innerparteilichen Skeptikern – ich den Hightechschmieden.
sage nur: Herr Schäffler und andere –, die in unverant-
wortlicher Weise – an dieser Stelle hätte ich ein klares Das unterscheidet uns von anderen Standorten und
Wort des Bundeswirtschaftsministers und FDP-Vorsit- Volkswirtschaften in Europa. Ich kann mich gut daran
zenden erwartet – einem wirtschaftspolitischen Nationa- erinnern, wie das vor zehn Jahren war, als uns Ober-
lismus das Wort reden und die den Euro nicht wollen. schlaue – auch aus Ihren Reihen – im Verbund mit iri-
Denen in den eigenen Reihen müssen Sie Einhalt gebie- schen und anderen Politikern ins Stammbuch schreiben
ten, Herr Rösler. Das ist Ihre Aufgabe und Ihre Verant- wollten: Lasst das mit der Industrie mal bleiben! Das ge-
wortung. Sie schweigen zu diesem Thema beredt. Offen- hört alles ins Museum. Setzt vor allen Dingen auf
sichtlich haben Sie die Lage in Ihrer Partei nicht mehr Dienstleistungen, besonders auf Finanzdienstleistun-
im Griff, und das schon nach wenigen Wochen. gen! – Das waren Ihre Parteifreunde von der FDP, Herr
Rösler,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Florian Toncar [FDP]: Wer denn?)

Wenn wir dann erleben müssen, dass Sie Pappkame- die uns damals Volkswirtschaften wie Irland als Vorbild
raden aufbauen, um die eigenen Reihen wieder zu an die Wand gemalt haben.
schließen, und sagen: „Keine Vergemeinschaftung der (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Haftung in Europa“, dass wir gleichzeitig aber heute
Morgen über einen Gesetzentwurf diskutieren, der not- Wir haben vom keltischen Tiger gesprochen; wir haben
wendig sein wird und der genau diesen Weg geht – wir erlebt, was passiert, wenn eine Volkswirtschaft sich von
mussten durch das Nichthandeln Ihrer Koalition und das der industriellen Basis verabschiedet und sich allein auf
Fehlen von Führung durch Frau Merkel in Europa erle- Finanzdienstleistungen abstützt.
ben, dass Sie die EZB geradezu in den Aufkauf von (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Völliger
Staatsanleihen getrieben haben –, dann kann ich nur sa- Blödsinn!)
gen: Sie machen der deutschen Öffentlichkeit etwas vor.
Das gibt dann kurzfristig unglaubliche Wachstumsra-
Das mag helfen, das Gesetz, das jetzt notwendig ist, in ten; langfristig aber ist die Blase geplatzt, und Europa
Ihren Koalitionsreihen über die Rampe zu bringen; ich muss jetzt die Suppe dieser wirtschaftsradikalen, indus-
will aber gar nicht wissen, was das für notwendige Vor- triefeindlichen Politik auslöffeln, für die in den letzten
haben in der Zukunft bedeutet. Sie haben gerade gesagt, Jahren die FDP im Geiste gestanden hat.
(B) was bei Europa nicht geht, nämlich einen Weg in Rich- (D)
tung Vergemeinschaftung, in Richtung einer Wirtschafts- (Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner
regierung zu gehen. Ihre Bundeskanzlerin sagt das [Berlin] [FDP]: Völliger Unsinn! Keine Ah-
Gegenteil, Herr Rösler. Sie müssen sich irgendwann ent- nung hat der Mann!)
scheiden; denn wir alle wissen, dass die Währungsunion
dauerhaft nur dann erfolgreich weiter funktionieren kann, Deshalb sage ich Ihnen: Es war gut, dass die damals
wenn wir auf dem Weg der europäischen Integration nach SPD-geführte rot-grüne Bundesregierung dieser Mode
vorne gehen. nicht nachgegeben hat. Auch wir wissen, dass wir ein
guter Finanzplatz sein müssen, gar keine Frage. Aber wir
Die Unterstellung, dass Sozialdemokraten unkondi- brauchen eben auch industrielle Wertschöpfung in die-
tioniert die Schulden anderer Länder für Deutschland sem Land, und davon haben wir uns nicht verabschiedet.
übernehmen wollten, brauchen Sie als Pappkameraden
für die eigenen Reihen. Mit der Realität hat das nichts zu Wenn wir jetzt in die Zukunft schauen, sehen wir vier
tun. Für uns ist ganz klar: Wer Hilfen in Anspruch strukturelle Wandlungsprozesse, die unsere Wirtschaft
nimmt, der muss sich auch in Europa harten Konsolidie- verändern werden:
rungsregeln unterwerfen. Wir haben nie etwas anderes Erstens haben wir aufgrund technischen und wissen-
gesagt. schaftlichen Fortschritts weiterhin den Trend zu einer
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Lügen stärker wissensbasierten Wirtschaft, auch in der indus-
haben kurze Beine!) triellen Produktion. Da wachsen industrielle Dienstleis-
tungen und Produktionsstärke zusammen. Dabei kommt
Aber vielleicht brauchen Sie das, um die eigenen Trup- es eben nicht zu einer Zerstörung der industriellen Basis,
pen zu erheitern. In der deutschen Öffentlichkeit wird sondern zu einem Einbau des Neuen in die bestehenden,
Ihnen das nicht helfen. erfolgreichen Strukturen.
(Beifall bei der SPD) Zum Zweiten erleben wir, dass wir in einer immer
stärker vernetzten, internationalisierten Wirtschaft leben.
Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Rösler: Es gab Wir, die deutsche Volkswirtschaft, profitieren als Ex-
einige ganz interessante Überschriften, die – neben der portvizeweltmeister von dieser Entwicklung, auch im
Frage nach der Krise – etwas mit dem strukturellen Wan- Euro-Raum.
del unserer Wirtschaft zu tun haben. Ohne Frage: Die
Wirtschaft in Deutschland ist gut aufgestellt, weil wir – im Drittens findet bei uns ein demografischer Wandel
Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften in Europa – zum statt, der den Arbeitsmarkt dramatisch verändern wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14583
Hubertus Heil (Peine)
(A) Viertens gibt es eine Diskussion um endliche und setzen? Wir haben klar gesagt: Ein Vorrang muss sein, (C)
knappe Ressourcen. die Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen in
Ordnung zu bringen, damit der Staat mit Blick auf
Dieser strukturelle Wandel wird weiter stattfinden; er
schwierige Zeiten handlungs- und zukunftsfähig bleibt.
wird an Dynamik zunehmen. Aber wenn wir die Chan-
cen, die für Deutschland in diesem Wandel stecken, nut- Sie wissen wie ich, dass wir da schon einmal weiter
zen wollen, dann geht es nicht, dass man nur zuschaut, waren: Bundesminister Peer Steinbrück hatte im Jahr
die Risiken, die mit einem solchen Wandel verbunden 2008, gesamtwirtschaftlich und gesamtstaatlich gespro-
sind, einfach ausblendet und nicht in der Lage ist, eine chen, zum ersten Mal seit 40 Jahren die Situation eines
zukunftsfähige Struktur- und Industriepolitik zu betrei- insgesamt ausgeglichenen Haushalts von Bund, Län-
ben. Herr Rösler, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört; dern, Kommunen und Sozialversicherungen. Es war die
das Wort „Industriepolitik“ kam in Ihrer gesamten Rede Finanzkrise, die uns einen Strich durch die Rechnung
überhaupt nicht vor. Sie haben keinen Plan, wie Sie den gemacht hat; denn, Herr Fuchs, wir mussten uns in der
Strukturwandel gestalten wollen. Das wäre aber zum Großen Koalition gemeinsam mit viel Geld gegen die
Nutzen Deutschlands notwendig. Sie sind ein Totalaus- Folgen der furchtbaren Krise stellen. Wir müssen jetzt
fall im Strukturwandel dieser Republik. runter von diesen Schulden. Da geht es nicht an, dass
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man in dieser Zeit neue Löcher, zum Beispiel bei den
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommunen, reißt.

Ich habe gerade etwas vom Fachkräftemangel und (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir helfen
von der Fachkräftesicherung gehört. Das sind schöne doch den Kommunen!)
Überschriften. Aber wie sieht die Realität aus? Wenn Sie Denn wir wissen genau wie Sie, dass die öffentliche
weiter so handeln, wie Sie jetzt handeln, dann wird sich Hand mehr Geld beispielsweise in die Bildung investie-
in Deutschland ein Trend verstärken, den man nur als ren muss. Es kann nicht sein, dass Sie den Menschen
Trend zu einem tief gespaltenen Arbeitsmarkt bezeich- weismachen wollen, man könne gleichzeitig die Haus-
nen kann: Auf der einen Seite werden immer mehr Un- halte von Kommunen, Ländern und Bund in Ordnung
ternehmen händeringend nach Fachkräften suchen; in bringen, Steuergeschenke machen und gleichzeitig mehr
einzelnen Branchen und Regionen ist das schon heute in Bildung investieren. Das wird nicht aufgehen. Des-
der Fall. Auf der anderen Seite haben wir Menschen in halb haben wir eine Prioritätenliste:
dauerhafter Arbeitslosigkeit – es gibt einen verfestigten
Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit – abgehängt. Erstens. Wir müssen die Schulden senken und den
Haushalt in Ordnung bringen.
Herr Rösler, da nützen auch die warmen Worte nichts,
(B) (D)
die Sie gerade gewählt haben nach dem Motto „Wir wol- Zweitens. Wir müssen gleichzeitig mehr in Bildung
len jungen Leuten, die ein bisschen Probleme haben, investieren,
eine Chance geben“. Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel
für die Qualifizierung dieser Jugendlichen dramatisch. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Investie-
Gehen Sie einmal in unser Heimatland Niedersachsen: ren Sie mal in Ihre Bildung, damit Sie nicht so
Ihre Kürzungspolitik – was Sie da mit Frau von der einen Unsinn reden!)
Leyen anrichten – könnte dazu führen, dass über 100 Ju- beispielsweise weil Jahr für Jahr 65 000 junge Menschen
gendwerkstätten dichtmachen müssen. Dann müssen wir unsere Schulen ohne Abschluss verlassen. Diese jungen
Arbeitslosigkeit finanzieren und können die jungen Menschen haben doch gar keine Chance auf dem Ar-
Menschen nicht in Arbeit bringen. Herr Rösler, Sie spal- beitsmarkt. Das ist der Nachwuchs für Hartz IV, den
ten den Arbeitsmarkt; das ist Ihre Politik. diese Gesellschaft produziert. Deshalb sagen wir: Ja, wir
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ werden eine Zeit lang ein Stück mehr Solidarität auch
CSU]: Das ist ein solcher Schwachsinn!) von Spitzenverdienern brauchen, damit junge Menschen
in diesem Land eine Chance auf gute Bildung bekom-
– Herr Kauder, Sie haben doch keine Ahnung von Nie- men. Das wollen Sie nicht; das ist der Unterschied.
dersachsen.
(Beifall bei der SPD)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch, natürlich! –
Gegenruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Ber- Herr Rösler, wir werden miteinander darüber zu spre-
lin] [FDP]: Herr Kauder, es hat doch keinen chen haben, dass die Wirtschaft, der wirtschaftliche Fort-
Sinn, sich mit dem auseinanderzusetzen!) schritt in diesem Land, verlässliche Rahmenbedingungen
braucht. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur ein
Aber von Zwischenrufen haben Sie Ahnung. Das haben
Thema ansprechen, bei dem die gesamte deutsche Wirt-
wir heute schon erlebt; das muss man nicht ernst neh-
schaft über den Zickzackkurs entsetzt ist, den Sie – nicht
men.
so sehr Sie persönlich, denn Sie sind noch nicht so lange
Herr Rösler, Sie haben sich mit der Haushaltspolitik im Amt – da gefahren haben: In der energiepolitischen
auseinandergesetzt und wieder die alte Guido- Debatte war der Bundesminister für Wirtschaft ein To-
Westerwelle-Platte „Steuern runter macht Deutschland talausfall. Die Entscheidungen wurden woanders getrof-
munter“ aufgelegt. Keine Frage: Entlastungen sind wün- fen. Sie redeten irgendetwas von Kaltreserven von Atom-
schenswert. Aber die spannenden Fragen sind doch: Was kraftwerken. Wir wissen jetzt: Die Bundesnetzagentur
ist machbar? Ist die Politik in der Lage, Prioritäten zu wird nicht darauf zurückkommen müssen.
14584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Hubertus Heil (Peine)


(A) Es ist einfach so, dass der Fehler früher – im Herbst Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
letzten Jahres – von Ihrem Vorgänger Brüderle und von Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Heil.
Frau Merkel und Herrn Röttgen gemacht wurde. Sie ha-
ben einen Energiekonsens, der in diesem Land für Pla- Hubertus Heil (Peine) (SPD):
nungs- und Investitionssicherheit gesorgt hat, zugunsten Herr Rösler, nach einigen Wochen im Amt muss man
von wenigen Konzernen mutwillig aufgerissen. Dies hat Ihnen schon sagen: nicht geliefert, Fehlbesetzung. Des-
dazu geführt, dass Rechtsunsicherheiten entstanden und halb kann ich Ihnen nur sagen: Sie werden bald nicht
dass Stadtwerke milliardenschwere Investitionen auf die mehr im Amt sein.
lange Bank geschoben haben. Denn verlängerte Rest-
laufzeiten von alten Atommeilern sind eine feine Sache Herzlichen Dank.
für die großen Energiekonzerne. Sie verfestigen deren (Beifall bei der SPD)
Marktmacht, weil die Investitionen schon abgeschrieben
sind – die Folge sind hohe Gewinne – und Investitionen
sich nicht lohnen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von
Dann kam Fukushima, und Sie haben an dieser Stelle der CDU/CSU-Fraktion.
eine 180-Grad-Wende gemacht. Mit Gerhard Schröder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gesprochen: Ich finde es schön, dass Sie sich an unsere
Politik angepasst haben, denn als evangelischer Christ
weiß ich: Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
der umkehrt, als über hundert Gerechte. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Heil, es wäre ganz gut, wenn Sie ab und zu mit Ihren
Haushältern Kontakt aufnehmen würden. Diese Koali-
Ich sage Ihnen aber auch: Nach dem Schweinsgalopp, tion hat die Kommunen deutlich gestärkt. Der Aufwuchs
in dem Sie in diesem Sommer die Gesetze durchgezogen bei den Kommunen beträgt 4,3 Milliarden Euro, weil der
haben, bleiben, ökonomisch gesehen, massive hand- Bund die Kosten der Grundsicherung übernimmt. Diese
werkliche Fehler. Wir müssen nacharbeiten, damit Mittel fließen direkt in die kommunalen Haushalte ein.
Deutschland die Chancen der Energiewende nutzen
kann. Wir werden eine saubere, sichere und auch bezahl- (Otto Fricke [FDP]: Teuer war es, aber wir ha-
bare Energieversorgung in diesem Land nur bekommen, ben es gemacht! – Hubertus Heil [Peine]
wenn verlässliche Rahmenbedingungen da sind. Wenn [SPD]: Das haben wir Ihnen abverhandelt,
Herr Fuchs!)
(B) ich mir aber zum Beispiel Ihre Novelle des Erneuerbare- (D)
Energien-Gesetzes und Ihr Netzausbaubeschleunigungs- Das sollten Sie nicht verschweigen. Ich halte es für un-
gesetz angucke – das ist schon vom Namen her geschei- fair, wenn Sie hier so argumentieren. Das ist Ihrer auch
tert, denn es wird nicht zum notwendigen Ausbau von nicht würdig; Sie sollten das wissen.
Energienetzen führen –, dann kann ich nur sagen: Was
Sie treiben, ist keine Energiewirtschaftspolitik, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
es ist energiepolitischer Dilettantismus, den Sie hier an Ich finde das nicht fair. Wir sollten im Deutschen Bun-
den Tag gelegt haben. Auch das schadet diesem Land. destag nicht einfach darüber hinweggehen, wenn Sie sa-
gen, wir würden die Kommunen ausbluten. Sie wissen
Herr Rösler, zum Schluss: Sie mögen persönlich ein genau, dass das nicht stimmt. Das sollte nicht so stehen
netter Mensch sein, aber ich kann Ihnen nur eines sagen: bleiben. Deutschland geht es nämlich unter der christ-
Sie kümmern sich in diesen Zeiten als FDP-Vorsitzender lich-liberalen Koalition gut,
vor allen Dingen um die Krise der FDP. Wenn ich die
Kommentare von Herrn Kubicki und von anderen lese, (Zurufe von der FDP: Sehr gut!)
dann tun Sie dies nicht mit besonders großem Erfolg. und zwar richtig gut.
Das ist kein Schaden für dieses Land; das ist ein Pro-
blem Ihrer Partei, das Sie selbst lösen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es ist lange her, dass sich unser Land wirtschafts- und
Herr Kollege Heil. beschäftigungspolitisch in einer solch ausgezeichneten
Verfassung befunden hat wie jetzt.

Hubertus Heil (Peine) (SPD): (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:


Aha!)
Das Problem für dieses Land ist, dass Sie als FDP-
Vorsitzender so viel Zeit investieren, um sich um die Es gibt in Deutschland mehr Jobs als jemals zuvor. Über
Krise in der FDP zu kümmern, dass Sie offensichtlich 41 Millionen Menschen sind erwerbstätig, und wir haben
keine Kraft haben, um sich die Krise im Euro-Raum vor- weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Ich kann es nur im-
zunehmen. Das ist ein Problem für dieses Land. mer wiederholen: Als Gerhard Schröder aufgehört hat,
gab es unter Rot-Grün 5 Millionen Arbeitslose. Gerhard
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie müssen Schröder hatte damals versprochen, die Arbeitslosigkeit
gehen und Buße tun!) zu halbieren. Was hat er gemacht? Er hat sie verdoppelt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14585
Dr. Michael Fuchs
(A) Angela Merkel hat das Versprechen von Gerhard Jeder hat von der wirtschaftlichen Situation profitiert. (C)
Schröder eingelöst. Wir sind auf dem Weg, die Zahl der Die Unternehmen verdienen wieder Geld. Wir werden in
Arbeitslosen zu halbieren, die Gerhard Schröder hinter- diesem Jahr die höchsten Steuereinnahmen haben, die
lassen hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir noch in wir jemals hatten. Das All-time High betrug 561 Milliar-
diesem Jahr die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen den Euro. In diesem Jahr geht es nach neuesten Schät-
auf 2,5 Millionen erreichen werden. Das ist ein exzellen- zungen Richtung 570 Milliarden Euro. Auch das ist ein
ter Erfolg. Erfolg dieser Regierung. Dafür sind wir dankbar.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Herr Heil, Sie sprachen eben das Thema Jugend-
arbeitslosigkeit an. Da stellen sich mir die Nackenhaare Zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir wieder
auf. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist so nennenswerte, vernünftige Lohnerhöhungen, die netto in
gering wie nie zuvor. den Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ankommen. Das war während Rot-Grün nicht der Fall.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)
Die Inflation führte dazu, dass den Arbeitnehmern am
Es gibt bereits viele Regionen in Deutschland, in denen Ende des Tages von den damaligen Lohnerhöhungen
Unternehmen händeringend Auszubildende suchen und nichts übrig blieb.
sie nicht finden. In allen anderen europäischen Ländern
(Klaus Barthel [SPD]: Deshalb wächst der
liegt die Jugendarbeitslosigkeit weit höher. In Spanien
Niedriglohnsektor immer weiter!)
ist sie mit 45 Prozent am dramatischsten.
Wir müssen überlegen, ob wir nicht europapolitische Auch das zeigt, dass unsere Regierung auf einem guten
Solidarität leisten. Ich halte es durchaus für denkbar, Weg ist.
unsererseits dafür zu sorgen, dass junge Menschen in Dennoch bin ich der Meinung, dass wir jetzt sehr auf-
Spanien Deutsch lernen. Ich sage an den Außenminister passen müssen. Wir haben zwar enorme Wachstumszah-
gerichtet: Das wäre eine gute Aufgabe für die Goethe- len zu verzeichnen. Nach minus 4,7 Prozent – für eine
Institute. Es ist zwar wichtig, dass man sich mit Kultur- reife Volkswirtschaft eine gewaltige Zahl – direkt auf
politik beschäftigt, aber es täte not, an Goethe-Instituten 3,6 Prozent Wachstum umzuschalten – in diesem Jahr
in Europa Deutschunterricht anzubieten. Man könnte die geht es Richtung 3 Prozent Wachstum –, das ist schon
jungen Menschen aus anderen europäischen Ländern in bemerkenswert. Wir haben die Krise von 2008/2009 de
Deutschland ausbilden und ihnen damit eine Perspektive facto überwunden, aber wir müssen aufpassen, dass das
bieten. auch so weitergeht; denn Deutschland profitiert nicht nur
(B)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit in allen (D)
der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da Bereichen, sondern auch – das hat es unter Rot-Grün
sitzt Frau Pieper! Sie ist zuständig!) ebenfalls nicht gegeben – von einem robusten Konsum
der Haushalte.
Meiner Meinung nach ist das sowohl eine sehr gute
Chance für Deutschland als auch im Sinne der europäi- (Klaus Brandner [SPD]: Das stimmt doch gar
schen Solidarität, die ich unterstütze. nicht!)

Obwohl die Konjunktur im zweiten Quartal einen Zwei Drittel des deutschen Bruttoinlandsproduktes basie-
kleinen Gang zurückgeschaltet hat, ist die Nachfrage ren auf dem Konsum in Deutschland in einer Größenord-
nach Arbeitskräften ungebrochen. Die Unternehmen nung, wie wir sie schon lange nicht mehr hatten. Ich
suchen nach wie vor Auszubildende. Ich habe mich bei empfehle Diskussionen mit dem HDE und ähnlichen
der Arbeitsagentur in meinem Wahlkreis erkundigt. Wir Verbänden. Die werden Ihnen das bestätigen, Herr Heil.
haben dort im Moment eine Arbeitslosenquote von Auch das hat es unter Ihrer Regierung nie gegeben.
3,9 Prozent, so niedrig wie nie zuvor. In diesem Jahr Das heißt aber nicht, dass wir uns jetzt in die Hänge-
bewarben sich 1 733 junge Menschen um einen Ausbil- matte legen und ausruhen dürfen. Im Gegenteil: Wir
dungsplatz. Demgegenüber stand ein Angebot von müssen einiges in die Wege leiten. Das fängt damit an,
2 271 Stellen. Das zeigt, welchen Überhang an Stellen dass wir die deutsche Wirtschaft im Außenhandel – dort
wir mittlerweile in Teilen Deutschlands haben. Das sind ist sie stark – unterstützen müssen. Da ist der Bundes-
die Folgen der guten Politik der christlich-liberalen wirtschaftsminister gefordert; denn im Außenhandel
Koalition, und darauf sind wir stolz. brauchen wir eine weitere Öffnung der Weltmärkte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
der FDP)
Insbesondere unsere mittelständisch geprägte Wirt-
Wir sollten auch überlegen, welche Wege es gibt, den schaft bzw. die mittelständischen Unternehmen brau-
Fachkräftemangel zu überwinden. Deutschland muss ein chen liberale Handelsmärkte. Darum müssen wir uns
offenes Land sein. Wir müssen unsere Chance nutzen, bemühen. Bilaterale und regionale Freihandelsabkom-
aber wir sollten sie zuallererst im europäischen Raum men sind für die Mittelständler ein Problem,
nutzen. In 25 Ländern herrscht Freizügigkeit. Wir haben
also gute Chancen, die Arbeitskräfte zu bekommen, die (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
wir auf dem Arbeitsmarkt brauchen. [SPD])
14586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Michael Fuchs


(A) weil sie keine großen Rechtsabteilungen haben, die sich dass das nicht geht. Ihr Kollege Fell, der ebenfalls in so (C)
um die Einfuhr- bzw. Exportbedingungen der einzelnen einem Gremium sitzt, ist leider nicht anwesend. Ich ver-
Länder kümmern können. stehe nicht, wie diese Situation entstehen konnte.
Es ist schade, dass es uns nicht gelungen ist, hinsicht- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr kriegt ja auch
lich der Doha-Runde Fortschritte zu erzielen. Ich bin Spenden von diesen Unternehmen!)
nach wie vor der Meinung, dass Fortschritte auf diesem
Wir brauchen vernünftige Gaspreise. Es bereitet mir
Gebiet dringend notwendig sind. Den Abschluss der
Sorgen, dass wir schon jetzt stark von Russengas abhän-
Doha-Runde sollten wir alle anstreben. Herr Bundes-
gig sind: 38 Prozent beziehen wir aus Russland. Die
wirtschaftsminister, ich halte es für notwendig, dass die
Abhängigkeit wird weiter zunehmen, wenn es uns nicht
Bundesregierung in Brüssel entsprechende Initiativen
gelingt, neue Märkte zu erschließen. Wir brauchen in
ergreift;
Deutschland einen LNG-, einen Flüssiggasterminal. Es
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo sind die ist schade, dass Eon Ruhrgas sich jetzt in Amsterdam
denn?) beteiligt und nicht mehr in Wilhelmshaven. Meiner Mei-
nung nach ist das eine Notwendigkeit; denn dadurch
denn die Freihandelsabkommen, die zurzeit überall könnten die Russen in eine Wettbewerbssituation kom-
geschlossen werden, sind für die deutsche Wirtschaft men. Die gegenwärtige Situation bereitet mir Sorgen.
gefährlich. Aufgrund der Tatsache, dass die Kernkraftwerke abge-
(Garrelt Duin [SPD]: Sehr richtig!) schaltet werden, müssen wir zusätzliche Gaskraftwerke
bauen. Dadurch werden wir noch stärker von Gazprom
Diese Freihandelsabkommen führen dazu, dass ein Bila- abhängig. Das mag zwar Herrn Schröder freuen, mich
teralismus entsteht, der für deutsche Unternehmen aber nicht.
schwer zu handhaben ist. Die Bundesrepublik Deutsch-
land kann ein Freihandelsabkommen gar nicht mehr Es ist auch wichtig, dass wir den Rohstoffzugang in
selbst abschließen. Das muss in Brüssel abgeschlossen anderen Bereichen stärker in den Fokus nehmen, Herr
werden, aber das geht viel zu langsam. Minister. Die Situation bei den Seltenen Erden bereitet
mir Sorgen. China erhebt jetzt Exportzölle auf Seltene
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Erden. Das schadet der deutschen Wirtschaft in einigen
Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) zentralen Bereichen ganz erheblich. Die Preise sind zu
Über ein Freihandelsabkommen mit den sechs Mit- hoch und die Chinesen dadurch noch einen Tick wettbe-
gliedstaaten des Golfkooperationsrates – das sind werbsfähiger. Dieses Problem sollten wir in den Fokus
Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die nehmen. Wir sollten mit den Ländern, die Seltene Erden
(B) Vereinigten Arabischen Emirate – wird seit 15 Jahren abbauen, beispielsweise Kasachstan, Rohstoffabkom- (D)
verhandelt. Lange Zeit waren auch Sie von der Opposi- men schließen, damit wir an die Quellen kommen, die
tion an den Verhandlungen beteiligt. Das Abkommen ist die deutsche Wirtschaft dringend benötigt.
immer noch nicht fertig. Das kann eigentlich nicht sein. (Beifall des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin]
Die Amerikaner haben mit diesen Staaten innerhalb von [FDP])
zwei Jahren ein Freihandelsabkommen hinbekommen.
Das schadet unserer Wirtschaft erheblich. Deswegen for- Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Umvertei-
dere ich Sie auf, dieses Freihandelsabkommen schleu- lungsmentalität der Opposition sagen. Wenn ich mir Ihre
nigst abzuschließen – da muss man gegebenenfalls auch Steuererhöhungsvorschläge anschaue, wird mir schlicht
einmal mit Pascal Lamy in Genf reden –, wenn wir das schlecht. Haben Sie eigentlich immer noch nicht wahr-
mit dem multilateralen Doha-Abkommen nicht besser genommen, dass 10 Prozent der deutschen Steuerzahler
hinbekommen. schon heute 52,7 Prozent des Einkommensteueraufkom-
mens aufbringen?
Wir brauchen auch bezahlbare Rohstoffe. Wir brau-
chen bezahlbare Energie. Ich fordere insbesondere Sie, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist mit den
die Grünen, und die anderen Solarfetischisten auf – Herr Abgaben?)
Kelber ist gerade nicht anwesend –, sich mit den Solar- 25 Prozent der deutschen Steuerzahler bringen 75 Pro-
firmen in Verbindung zu setzen. Schließlich sitzen Sie in zent des Einkommensteueraufkommens auf.
den Aufsichtsräten, Beiräten und anderen Gremien die-
ser Firmen. Am Wochenende las ich in den Zeitungen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Steuern und
dass die Solarwirtschaft im Vergleich mit anderen Berei- Abgaben!)
chen der deutschen Industrie eine lausige Bezahlung bie- Das zeigt doch, dass wir eine gewaltige Umverteilung
tet. Ich empfinde es als ziemliche Unverschämtheit, von oben nach unten haben.
wenn in der Solarwirtschaft, ein Wirtschaftszweig, der
mit mehr als 6 Milliarden Euro pro Jahr subventioniert (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die armen Rei-
wird, so schlechte Arbeitsbedingungen herrschen. chen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 40 Prozent der deutschen Steuerzahler zahlen überhaupt
neten der FDP) nichts.
Da sind Sie gefordert; denn Sie sitzen ja in den ganzen (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Natürlich
Gremien. Herr Kuhn, weisen Sie bitte einmal darauf hin, zahlen die Steuern! Mehrwertsteuer! –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14587
Dr. Michael Fuchs
(A) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die zahlen So- Wäre es nicht besser, die FDP löste das Volk auf und (C)
zialversicherungsbeiträge!) wählte sich ein anderes?
Wenn wir jetzt noch etwas draufsatteln, dann ist das (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
nur demotivierend. Dann gibt es ja auch noch den Halb- FDP: Das geht nur im Sozialismus!)
teilungsgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht
festgelegt hat. Den haben Sie anscheinend vollkommen Wir hören von der Bundesregierung seit zwei Tagen,
vergessen. Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent plus man wolle Kurs halten. Das hört sich zunächst nicht
Vermögensteuer – diese Mehreinnahmen wollen Sie schlecht an, aber Kurs halten kann bekanntlich nur, wer
über Ihre Kanäle umverteilen – auch einen Kurs hat.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war bei (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)
Kohl der Fall!) Auch Geisterfahrer – das darf ich Ihnen sagen – halten
sich streng an die Devise: Kurs halten.
würde nur den Leistungswillen verringern. Bei vielen
mittelständischen Unternehmen ist es so, dass zur Ein- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)
kommensteuer weitere Unternehmensteuern hinzukom-
men. Diese Belastungen wollen wir ihnen nicht mehr Worüber reden wir beim Etat des Bundeswirtschafts-
zumuten. ministeriums? Faktisch reden wir über einen verfüg-
baren Anteil am Bundeshaushalt von 1 Prozent. Er um-
(Beifall des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] fasst 6 Milliarden Euro – das sind zunächst 2 Prozent –,
[FDP] – Garrelt Duin [SPD]: Streuen Sie doch aber davon müssen wir ja 3 Milliarden Euro abziehen,
den Leuten nicht auch noch Sand in die die nicht verfügbar sind, weil sie für die Steinkohlesub-
Augen!) ventionierung und für die Subventionierung staatsnaher
Monopolisten im Bereich Luft- und Raumfahrt vorgese-
Einen allerletzten Satz möchte ich zu den Grünen
hen sind. Ich sage zur Klarstellung, damit niemand
sagen; ich möchte sie nicht vergessen. Ich habe ein biss-
denkt, hier seien großen Wirtschaftslenker am Werke:
chen nachgelesen. In Ihrem Fraktionsbeschluss vom
Industrie- und Mittelstandspolitik wird mit diesem Etat
1. September 2011 steht, dass wir eine zwangsläufige
leider nicht gemacht. Das würde die Linke gern ändern.
Entwicklung zu einer Dienstleistungsgesellschaft haben.
Sie schreiben: (Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein
[CDU/CSU]: Ausgerechnet!)
Denn das traditionelle Industriemodell mit seinem
gigantischen Energie- und Rohstoffhunger, seinen Nun höre ich oft den Einwand, man würde gern mehr
(B) immensen Emissionen und einer Ausrichtung auf Geld in die Hand nehmen, aber der Sozialetat sei ja so (D)
die Massenfertigung standardisierter Produkte ist hoch. Das stimmt. Aber wahr ist, dass wir diesen riesi-
nicht zukunftsfähig. gen sozialen Reparaturbetrieb nur deshalb brauchen,
weil Sie eine Wirtschafts- und Sozialpolitik machen, die
Das ist nicht meine Vorstellung. Für mich ist Deutsch-
die Gesellschaft spaltet, die einen Niedriglohnsektor eta-
land ein Industrieland, und das muss es bleiben. Die
bliert hat und zu solchen Zuständen führt, dass Men-
CDU/CSU wird zusammen mit den Liberalen die Wei-
schen zum Amt gehen und aufstocken müssen. Das ist
chen stellen, dass wir ein Industrieland bleiben, und
ein Versagen Ihrer Wirtschaftspolitik.
zwar in der vollen Breite.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Minister Rösler hat hier erklärt, 50 Prozent der neuen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jobs seien Vollzeitjobs. Das hat er als Erfolg verkündet.
Die befristeten sind in diesen 50 Prozent enthalten. Das
Für die Linken hat jetzt das Wort der Kollege Roland
heißt doch andersherum, Herr Minister, dass über die
Claus.
Hälfte aller neu geschaffenen Jobs in den Bereichen
(Beifall bei der LINKEN) Zeitarbeit, Leiharbeit und befristete Verträge zu finden
ist. Das Allerschlimmste und am wenigsten Hinnehm-
Roland Claus (DIE LINKE):
bare ist, dass junge Menschen heutzutage bei ihrem
Berufseinstieg in aller Regel nur befristete Verträge
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und bekommen. Das müssten Sie ändern. Dieses Problem
Kollegen! Herr Bundesminister Rösler, es bleibt Ihr müssten Sie angehen, statt hier 50 Prozent als Erfolg zu
Geheimnis, woher Sie die Selbstgefälligkeit nehmen, mit feiern.
der Sie hier gerade geredet haben.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja!
Allerdings!) Zur Klarstellung: Die Linke steht für eine Wirt-
schaftspolitik, die Mittelstand und Existenzgründern
Nach den FDP-Wahlergebnissen in Sachsen-Anhalt und Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,
in Mecklenburg-Vorpommern und vor den Wahlen in von der Beschäftigte sorgenfrei leben können.
Berlin kann ich mir nicht erklären, wie Sie hier auftreten
und sagen können: Wir haben alles richtig gemacht. Da (Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/
bleibt mir nur im Sinne von Bert Brecht der Vorschlag: CSU])
14588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Roland Claus
(A) Die Linke will eine Wirtschaftspolitik, die gleicherma- wurde, haben sie sich vom Acker gemacht. Deshalb ha- (C)
ßen zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer ben wir es heute mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu
Gerechtigkeit beiträgt. tun.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das habt (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nichts da! Die
ihr exzellent gezeigt! – Dr. Georg Nüßlein bauen weiter!)
[CDU/CSU]: So wie in der DDR!)
Herr Minister, Sie haben den Fachkräftemangel ange-
Herr Bundesminister Rösler wollte mit aller Macht sprochen. Man hätte denken können: Jetzt packt er ein
sein neues Amt antreten. Sie wollten liefern. Man hätte Problem an. In Ihren Etat eingestellt haben Sie für die
vermuten können, dass es jetzt losgeht. Mit diesem Etat Förderung von Aufgaben zur Bekämpfung des Fachkräf-
liefern Sie nicht. Mit diesem Etat bringen Sie hier nur temangels gerade einmal 9 Millionen Euro. Wenn ich
Murks ein. diesen Betrag umrechne, komme ich zu dem Ergebnis:
Das entspricht 70 bis 75 Vollzeitstellen. Ich sage Ihnen
Ich will das an einigen Beispielen verdeutlichen. Sie eines: Sie dürfen die Leute nicht verdummen. Die Leute
versprechen eine Neuausrichtung und Straffung des För- können selber rechnen. Dieses Programm ist einfach nur
derangebotes – so Ihr Text. Sie wollen eine umfassende lächerlich, Herr Minister.
Überprüfung und Bündelung der Förderprogramme. Ich
betreue den Wirtschaftsetat im Haushaltsausschuss seit (Beifall bei der LINKEN)
nunmehr fünf Jahren. Ich habe diesen Spruch jedes Jahr Nach meiner Überzeugung geht vernünftiges Wirt-
mehrfach gehört: von Minister Glos, von Minister zu schaften erst, wenn Industrie, Handwerk, Dienstleistun-
Guttenberg, von Minister Brüderle, nunmehr von Minis- gen, Tourismus und Gewerbe die Übermacht der Finanz-
ter Rösler. Passiert ist nie etwas. Sie alle haben verspro- märkte, Banken und Ratingagenturen überwinden. Ein
chen, den Förderdschungel zu lichten, das Förderange- Jegliches hat seine Zeit. Die Börse hatte ihre gute Zeit.
bot besser zu bündeln und für einen Service aus einer Ihre schlechte muss nicht ewig dauern. Auch das Kasino,
Hand zu sorgen. Passiert ist nie etwas. Ich will nur an das wir immer als anonym beklagen, ist Menschenwerk.
eine Episode erinnern: Als mir gesagt wurde: „Das er- Es wurde von Menschen geschaffen und kann von Men-
folgt jetzt alles wunderbar aus einer Hand“, habe ich ge- schen geschlossen werden.
dacht: Wo es eine Hand gibt, muss es auch einen Kopf
und ein Telefon geben. Dann habe ich gefragt: Können (Beifall bei der LINKEN)
Sie mir die Telefonnummer geben? Es hat zehn Monate
gedauert, Kurs halten ist falsch, wenn man merkt, dass man auf
dem falschen Kurs ist.
(B) (Heiterkeit der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE (D)
LINKE]) (Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin]
[FDP])
bis aus dem Bundeswirtschaftsministerium eine Antwort
Dieser Kurs kann geändert werden. Wir haben mit die-
kam. Jetzt haben Sie die Chance, das zu toppen.
sem Etat die Chance dazu. Das bedeutet aber in der Tat:
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da sehen Sie müssen auf dem Holzweg, auf dem Sie sich befin-
Sie mal, wie wichtig Sie da eingeschätzt wer- den, umkehren.
den!) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner
Ich will ein Wort zur Wirtschaft in Ostdeutschland sa- [Berlin] [FDP]: Das ist wirklich frei von jeder
gen. Es gibt die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung Beziehung zur Realität! Keine Zahlen interes-
der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die zu einem sehr sieren ihn! Da ist ganz klar Post-DDR im
beachtlichen Teil für die Wirtschaft in den neuen Bun- Kopf!)
desländern zum Einsatz kommt. Hier nehmen Sie erneut
eine empfindliche Kürzung vor. So erreichen wir keine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Angleichung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse. Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn für Bünd-
Ich will Sie auch daran erinnern, dass nicht eine einzige nis 90/Die Grünen.
Firmenzentrale ihren Standort im Osten hat und dass wir
dort einen enorm geringen Anteil von Industriefor-
schung, dafür vorwiegend verlängerte Werkbänke ha- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ben. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Parteivorsitzender Rösler!
Eigentlich geht es schon heute eher darum, auch die
neuen Potenziale im Osten als Chance zu begreifen, die (Florian Toncar [FDP]: Minister!)
Erfahrungsvorsprünge bei Transformationsprozessen zu Ich sage bewusst „Parteivorsitzender“, weil Sie als Wirt-
nutzen und auch die damit verbundenen Schwierigkeiten schaftsminister in den letzten vier Monaten nichts Nen-
anzugehen. Hier ist über die Solarbranche geredet wor- nenswertes geliefert haben.
den. Ich verfolge die Entwicklung in diesem Bereich mit
großem Interesse. Ich habe feststellen können: Solange (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir haben
die Rendite gut war, waren die Private-Equity-Fonds mit diese elegante rhetorische Girlande schon ka-
großen Geldsummen im Geschäft. Als es schwierig piert!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14589
Fritz Kuhn
(A) Das hat einen einfachen Grund, den man als Handels- es sich leisten können, sondern auch für diejenigen, die (C)
kaufmann gleich versteht: Wer liefern will, muss etwas es sich nicht leisten können, also für Menschen mit ge-
auf Lager haben. ringen Einkünften. Ich sage in Richtung Frau von der
Leyen: Auch der Hartz-IV-Kühlschrank muss – das ist
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- heute leider nicht der Fall – ein Energieeffizienzkühl-
SES 90/DIE GRÜNEN) schrank sein. Hier tun Sie nichts. Sie kommen da aber
Ich will jetzt deutlich machen, dass das bei Ihnen in den nicht heraus, Herr Rösler.
letzten vier Monaten nicht der Fall gewesen ist.
Für uns heißt Industriepolitik Effizienz und nicht Be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie sollten lieber ton. Damit zitiere ich fast Herrn Brüderle von heute früh,
zum Haushalt sprechen!) stelle aber dazu fest, dass Herr Rösler davon nichts ver-
steht und sich bisher nicht dafür eingesetzt hat. Sie ha-
In der ganzen Euro-Diskussion, in der es um die
ben nicht einmal die Energiekonzeption der Bundes-
Frage geht, wie wir zu stabilen Verhältnissen im Euro-
regierung geändert, sondern verfahren noch immer nach
Raum kommen können und welche Auswirkungen das
der alten Energiekonzeption, die vor dem Atomausstieg
auf die Banken haben kann, habe ich von Ihnen nur ver-
galt, in der Zeit, in der Sie die Atomlaufzeiten verlängert
nommen, dass Sie sich systematisch und prinzipiell
haben. Das ist fossiles Denken. Manchmal kommen Sie
– egal, um welchen Vorschlag es sich handelt – gegen
mir so vor, als wollten Sie falsifizieren, dass die Ener-
vernünftige, neue Regelungen in Europa wenden und
giewende überhaupt möglich ist. Jedenfalls sage ich Ih-
alle Vorschläge abwehren.
nen für die Grünen: Mit passivem Herumgucken wird
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie diese Energierevolution nicht stattfinden.
des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie sind die Dagegen-Partei im europäischen Kontext.
Jedenfalls wäre es Ihre Aufgabe als Wirtschaftsminister, Sie haben gerade von der Zuwanderung von Fach-
deutlich zu machen, was Sie tun wollen, damit solche kräften aus dem Ausland gesprochen. Das war schon ein
Krisen eingedämmt werden und – vor allem – damit dreistes Stück. Sie sprachen von einem Punktesystem
künftige Krisen nicht wieder aufgrund der Mechanis- und davon, dass die 60 000-Euro-Grenze auf 40 000 Euro
men, die wir heute haben, entstehen können. heruntergesetzt werden sollte. Es war so, als hätten Sie
als Frohnatur zum ersten Mal über dieses Thema gere-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie det. Ich muss Sie aber, Herr Minister, daran erinnern,
des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) dass Sie regieren, und zwar die FDP seit zwei Jahren und
Sie haben in der Energiepolitik und in der Ener- Sie als Wirtschaftsminister seit vier Monaten. Liefern
(B) (D)
giewende null Komma null geliefert. Wir steigen aus der Sie doch!
Atomwirtschaft aus, aber Sie im Wirtschaftsministerium (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ändern nichts, was die Fragen der alternativen Energien,
der Energiewende und der Energieeffizienz angeht. Gehen Sie mit dem Koalitionspartner in Klausur und lie-
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fern Sie! Das hatten Sie angekündigt. Sie sollten nicht
NEN]: Das können die nicht!) nur gackern, Herr Minister. Darauf käme es jetzt an. Die
Wirtschaft wartet dringend darauf, dass diese Frage end-
Der neue Haushaltsentwurf sieht für den Bereich der lich geregelt wird.
Energieeffizienz im Energie- und Klimafonds 89 Millio-
nen Euro vor. Dieses Jahr werden wahrscheinlich ledig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
lich 1,6 Millionen Euro abfließen, weil Sie gar nicht in
Ich finde, dass ein Wirtschaftsminister nicht so
der Lage sind, eine Konzeption des Energiesparens und
feuchtfröhlich, wie Sie es gerade getan haben, über die
der Energieeffizienz zu entwickeln. Dazu sage ich Ihnen
Frage reden darf, was alles toll ist. Er darf das alles nicht
klar: Sie müssen da liefern, sonst schaffen wir den
schönmalen. Es gibt nämlich in zunehmendem Maße ei-
Atomausstieg nicht – jedenfalls nicht, ohne dem Klima
nen doppelt gespaltenen Arbeitsmarkt. Die Zahl derer,
zusätzlich zu schaden.
die auf Dauer ausgegrenzt sind, ist zu hoch. Das muss
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch Sie als Wirtschaftsminister angehen – und nicht nur
Frau von der Leyen. Innerhalb des Kreises derer, die ei-
Herr Fuchs, wir verstehen Industriepolitik so, dass nen Job haben, gibt es viele mit einem prekären Job, von
wir auf dem Energiesektor mit höchster Effizienz vorge- dem sie gar nicht leben können. Da muss doch ein Wirt-
hen. Dafür brauchen wir einen Wirtschaftsminister, der schaftsminister, der Format hat, folgendes Programm
sich für diese Effizienzrevolution einsetzt. ausrufen: Wir wollen dafür sorgen, dass systematisch
(Florian Toncar [FDP]: Das gilt auch für den mehr Vollerwerbsstellen geschaffen werden, von denen
Bundesrat!) die Leute leben können. Sie müssen dann halt in Gottes
Namen auch mal an das Thema Mindestlohn herange-
Übrigens sagen wir: Die Energieeffizienz in Deutsch- hen. Sie können sich da nicht so schamhaft wegdrücken,
land muss mit jährlich 3 Milliarden Euro gesteigert wer- wie Sie es im Normalfall immer tun.
den. Das hat übrigens auch eine soziale Komponente.
Mehr Energie einzusparen bzw. die Energieeffizienz zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steigern, muss nicht nur für diejenigen möglich sein, die sowie bei Abgeordneten der SPD)
14590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Fritz Kuhn
(A) Ich komme nun zu einem sehr wichtigen Punkt. Es Aber dafür müssen Sie ordnungspolitische Klarheit da- (C)
gab einmal Zeiten, da war das Wirtschaftsministerium rüber haben, worauf es gegenwärtig ankommt.
sozusagen die Grundsatzabteilung für die soziale Markt-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wirtschaft in Deutschland. Man war stolz darauf, aus
dem Wirtschaftsministerium heraus ordnungspolitisch Ich komme zu dem Punkt, der mich am meisten stört
klar und präzise zu formulieren und weiterzudenken. und wo Sie bisher wirklich grandios versagt haben. Wir
Bisher aber haben Sie daran überhaupt nicht gedacht. stellen fest, dass die Finanzmarktkrise nichts anderes be-
deutet, als dass sich die Akteure der Realwirtschaft nicht
Das Entflechtungsgesetz – es hat ja damit zu tun, ob
mehr darauf verlassen können, dass sie, wenn sie inves-
Wettbewerb in unseren Märkten, auch im Energiebereich
tieren wollen, zu vernünftigen Bedingungen verlässli-
und bei den Banken, überhaupt möglich ist –
ches Geld von den Banken bekommen. Das ist doch der
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kernpunkt der Beunruhigung in der Realwirtschaft. Hier
NEN]: Eingesammelt haben sie es!) würde ich von einem Minister, der ordnungspolitisch für
die Grundsätze der Marktwirtschaft zuständig ist, schon
haben Sie auf Bonsai-Level zusammengestrichen. Je- Vorschläge hören wollen, wie er, seine FDP und die Re-
denfalls haben Sie sich nicht um die entscheidende Frage gierung sicherstellen wollen, dass die ursprünglich die-
gekümmert, ob es wirklich Entflechtung im Sinne von nende Funktion der Finanzmärkte in unserem wirt-
mehr Wettbewerb gibt. Darüber haben Sie zwei Jahre schaftspolitischen Geschehen wieder Realität wird.
lang in irgendwelchen Versammlungen fröhlich geredet,
gemacht aber haben Sie nichts. Man muss sich einmal fragen: Warum haben wir ei-
gentlich Finanzmärkte? Doch nicht deshalb, damit es ir-
Damit es klar ist: Wir beteiligen uns gerne an dem gendwelchen Spekulanten gut geht und sie etwas zu tun
Streit in Bezug auf die Frage, wer es ordnungspolitisch haben, sondern damit die Funktion, Ersparnisse der Ge-
am Genauesten nimmt. Aber dann können Sie sich das sellschaft in Investitionen zu verwandeln, schnell, rei-
ganze Zeug, das Ihnen irgendwelche mittelmäßigen Be- bungslos und effektiv erfüllt werden kann. Davon sind
rater aufgeschrieben haben nach dem Muster, die Grü- Sie meilenweit entfernt. Ich habe keinen Vorschlag von
nen seien Kulturpessimisten, in die Haare schmieren. Ihnen gehört, der irgendein ordnungspolitisches Konzept
Machen Sie eine klare Ordnungspolitik und beantworten der Finanzmärkte beinhalten würde, sodass es an dieser
Sie die großen Fragen, die heute zur sozialen Marktwirt- Stelle weitergeht.
schaft gestellt werden.
Deswegen, Herr Rösler, komme ich wirklich zu dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Urteil, dass Sie zwar in den letzten Tagen und Wochen
(B) Die erste Frage ist: Haben wir noch eine soziale als Parteivorsitzender eine große Klappe gehabt haben, (D)
Marktwirtschaft? Meine Antwort ist klipp und klar: aber als Wirtschaftsminister nichts – ich wiederhole: null
Nein, wir haben sie nicht mehr. Wir müssen wieder eine Komma null – geliefert haben.
soziale Marktwirtschaft werden. Davon sind wir weit Danke schön.
entfernt. Es ist Aufgabe eines ordnungspolitisch bewuss-
ten Ministers, dass er dafür kämpft, sie wiederherzustel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
len. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Die habt ihr
doch zerstört!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Sie schwafeln andau- CDU/CSU-Fraktion.
ernd von einer Steuersenkung für Beschäftigte, weil das
mehr Leistung ermöglichen würde. Zu glauben, dass die (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt kommt der
heutige Workforce, die arbeitenden Menschen, weniger Universaldienst! – Dr. Martin Lindner [Berlin]
leistet, weil die Steuern zu hoch sind, ist doch weltfrem- [FDP]: Herr Nüßlein rettet jetzt den Minister!)
der Quatsch. Die Leute arbeiten fleißig und redlich. Wir
brauchen keine Steuersenkungen. Die Mittel, die wir ha- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
ben, brauchen wir für Innovation, für Effizienzsteige- Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lieber
rung und für mehr soziale Gerechtigkeit. Kollege Claus, Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz ha-
ben Sie in der DDR unter Beweis gestellt. Wir alle ken-
(Garrelt Duin [SPD]: Für Bildung!)
nen das Ergebnis und wundern uns, wie Sie die Stirn ha-
Dazu ein ganz einfaches Beispiel: Machen Sie eine ben können, heute so aufzutrumpfen.
ordentliche Energiepolitik in Form von Energieeinspa-
(Roland Claus [DIE LINKE]: Das können Sie
rung. Sorgen wir statt einer Steuersenkung für eine Sen-
noch ein paarmal wiederholen!)
kung der Energiekosten für alle Bürgerinnen und Bürger
in unserem Land, sodass die Menschen weniger für Was den Kollegen Kuhn angeht, so irritiert mich Ihre
Energie zahlen. Es hätte auch positive Auswirkungen Pauschalkritik an der Energiepolitik dieser Regierung.
auf die Inflation, wenn wir das schaffen würden. Eine Ich würde Ihnen empfehlen, nach Atdorf in den
Senkung der Kosten für den Energieverbrauch wäre eine Schwarzwald zu fahren, wo die Grünen momentan
sinnvolle Entlastung der Bevölkerung, insbesondere der Stunk gegen das größte in Planung befindliche Pump-
Geringverdiener. An dieser Stelle können wir etwas tun. speicherkraftwerk machen. Sie meinen, es passe nicht in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14591
Dr. Georg Nüßlein
(A) die Landschaft, es sei ein Unding und man dürfe es nicht benhaufen zu beseitigen, den Sie angerichtet haben. Ich (C)
bauen. Wenn das Ihre Art und Weise ist, eine konse- sage Ihnen ganz offen: Was Sie da machen, ist Hohn.
quente Energiepolitik zu betreiben, nämlich hier in der
Aber ich will nicht nur mit dem Finger auf andere zei-
Theorie allgemeine Weisheiten zu verkünden und in der
gen. Wir alle müssen unsere Lehren aus dem ziehen, was
Praxis gegen alles zu sein, dann sollte einen das dazu be-
gerade passiert.
wegen, weniger große Töne zu spucken.
Als CSU-Politiker sage ich an dieser Stelle ganz be-
Ich glaube, dass die europäische Schuldenkrise nicht
wusst: Es muss Schluss sein damit, erst ökonomisch
nur diese Haushaltsdebatte dominiert, sondern auch in
sinnvolle Kriterien zu entwickeln und uns über Kataloge
den nächsten Monaten unsere Wirtschaftspolitik domi-
und Auflagen zu einigen, aber dann, wenn es zum
nieren wird.
Schwur kommt, diese Kriterien mit dem Verweis auf das
Um hier ein paar Dinge geradezurücken, möchte ich angeblich Hehre, Große, Ganze, Europäische auf die
kurz zurückblenden. Am 29. Juni 2000 gab Hans Eichel Seite zu schieben. Mancher EU-Beitritt, der erfolgt ist,
eine Regierungserklärung ab. Damals feierte er geradezu und mancher, der noch von Ihnen gestützt wird – Stich-
überschwänglich die von Rot-Grün unterstützte Auf- wort „Türkei“ –, ist ein Beispiel dafür.
nahme Griechenlands in die Euro-Zone. Trotzdem
Europapolitik muss mit dem Betrachten der Realität
drückte ihn anscheinend schuldbewusst eine gewisse
beginnen. Europapathos am falschen Platz verstellt den
Vorahnung. Ich zitiere:
Blick, meine Damen und Herren. Das gilt meiner An-
Wer dazugehört, muss sich auch zukünftig so ver- sicht nach auch für die anstehenden Entscheidungen, die
halten, wie er sich verhalten hat, um dazugehören man in allen Punkten doch wohl mit dem Begriff „Di-
zu können. lemma“ überschreiben kann und bei denen wir immer
die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Dass man
Das war eine ziemlich gestelzt formulierte Anforderung
sich daher mit der Entscheidung nicht ganz leicht tut,
an die Griechen.
müsste doch nachvollziehbar sein.
Dr. Gerd Müller von der CSU konterte damals glas-
Meine Damen und Herren, für mich ist aber auch
klar:
ganz besonders wichtig, dass Europapolitik demokrati-
Herr Eichel, die Aufnahme Griechenlands in den scher werden muss. Dies geht aus meiner Sicht nur
Eurokreis war ein schwerer Fehler. durch eine Rückbindung der Brüsseler Entscheidungen
an die Entscheidungen der nationalen Parlamente.
Müller spricht explizit von manipulierten Zahlen.
Ich finde es schon einigermaßen ungewöhnlich, ja be-
Nun kann man behaupten, die Griechen hätten beim
(B) schämend, dass uns das Bundesverfassungsgericht im- (D)
Beitritt betrogen. Lässt man das Revue passieren, was
mer und immer wieder an unsere Rechte und Pflichten
damals diskutiert wurde, muss man aber feststellen, dass
als Volksvertreter erinnern muss. Es muss doch unsere
ihnen offenkundig schon damals niemand geglaubt hat.
vornehmste Aufgabe sein, hier dafür Sorge zu tragen,
Mundus vult decipi: Nicht die Welt, aber die Gegen- dass der Bundestag mit im Boot ist und mitentscheidet.
seite wollte betrogen sein – auch und gerade die dama- Das ist ganz wichtig – nicht nur bei der Euro-Thematik,
lige rot-grüne Bundesregierung. Das ist die Realität, sondern auch bei allem anderen, was europapolitisch in
meine Damen und Herren. Zukunft entschieden wird.
Auch wenn Sie es in den Debatten diese Woche schon Ich stehe als CSU-Politiker selbstverständlich für das
x-mal gehört haben, sage ich es noch einmal: Die Konzept eines Europas der Regionen. Wer die schwie-
Maastricht-Kriterien haben Schröder und Eichel 2003 rige Situation jetzt missbrauchen will, um seine Vision
aufgeweicht, weil ihnen Schulden machen zu können eines europäischen Bundesstaates zu realisieren, kann
wichtiger war als die Euro-Stabilität. Das war Sünden- mit unserer, kann mit meiner Unterstützung jedenfalls
fall Nummer zwei. nicht rechnen. In der Tat braucht die EU Mittel und
Wege – Kompetenzen, wenn Sie so wollen –, um Schul-
Deshalb ärgert mich die Haltet-den-Dieb-Debatte, die
denstaaten zum Konsolidieren zu zwingen. Dafür darf
wir an dieser Stelle führen. Sie tragen hier Verantwor-
man aber andere nicht in Sippenhaft nehmen. Subsidiari-
tung, und ich sage Ihnen ganz offen, auch wenn ich un-
tät steht für uns neben Solidarität.
schuldig bin: Ich schäme mich für eine solche deutsche
Politik, für diesen gigantischen Wortbruch gegenüber (Klaus Brandner [SPD]: Lesen Sie jetzt aus
den Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Deutsche Mark dem Parteiprogramm vor?)
im Vertrauen auf den Waigel’schen Stabilitätspakt herge-
– Das eine muss dem anderen nicht widersprechen. Wir
geben haben, den Sie – Sie! – gebrochen haben.
verfolgen durchaus eine Linie in diesem Punkt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Als Wirtschaftspolitiker steht für mich fest, dass wir
Was wir heute erleben, was unseren Aufschwung bei all dem, was wir in den nächsten Wochen entschei-
– ich sage das ganz explizit – gefährden kann, ist der den müssen, darauf achten müssen, die Disziplinierung
Fluch Ihrer bösen Tat. Sie und die Medien hängen uns durch die Kapitalmärkte nicht komplett außer Kraft zu
bei der Gelegenheit gleich einmal das Etikett „schlech- setzen. Einen Alkoholiker kann man nicht mit Alkohol
teste Bundesregierung“ um, weil wir uns in der Tat therapieren. Das heißt, ein Land, das nicht spart, darf
schwertun, obwohl wir sehr darum ringen, den Scher- nicht durch vollständige Haftungsübernahmen und da-
14592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Georg Nüßlein


(A) raus resultierend niedrige Zinsen zum Schuldenmachen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
animiert werden. Deshalb lehnen wir Ihre Euro-Bonds Für die SPD spricht jetzt der Kollege Klaus Brandner.
ab.
(Beifall bei der SPD)
Das heißt außerdem: Ein Investor, der hohe Renditen
bekommt, darf nicht am Ende das extra verzinste Risiko Klaus Brandner (SPD):
an den Steuerzahler delegieren können. Hier müssen wir
meines Erachtens noch Ideen entwickeln und auch man- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
che Bankerdrohung hinterfragen: Cui bono? Wem nutzt nen und Kollegen! Den Optimismus von Bundeswirt-
das? schaftsminister Rösler kann man wohl nur bewundern.
Ich kann verstehen, dass Sie, lieber Herr Rösler, lieber
Es muss jedenfalls unser Ziel sein, das im Maastricht- vom Aufschwung reden als von der schwankenden Welt-
Vertrag vereinbarte Verbot der Schuldenübernahme für wirtschaft. Während zum Beispiel die Süddeutsche Zei-
andere Staaten nicht dauerhaft zu schwächen. Das war tung von einem „Eisigen Herbst“ spricht, ihn geradezu
auch ein wohlüberlegtes Prinzip, dessen Festlegung prophezeit, hat sich für Sie das Konjunkturklima nur
sinnvoll war. Deshalb kann man es nicht einfach vom leicht abgekühlt.
Tisch wischen.
Obwohl selbst die Wirtschaftswoche schreibt, dass es
Ein ausgeglichener Haushalt, wie ihn die CSU in „Ab mit Schwung“ geht, macht der Aufschwung für Sie
Bayern realisiert hat, ist wirtschafts- und finanzpolitisch nur eine kleine Pause.
unabdingbar, und auch die Schuldenbremse ist in diesem Sie freuen sich weiterhin über das Wachstumswun-
Land etwas sehr Wichtiges. Sie ist eine entscheidende derland Deutschland. Damit hatten Sie bisher vielleicht
politische Leistung aller Kolleginnen und Kollegen, die auch recht; denn wir sind überraschend gut aus der Krise
sie mitgetragen haben. gekommen. Es konnten umfangreiche Entlassungen ver-
Die viel zitierten Märkte – das ist, glaube ich, das mieden und viele Insolvenzen abgewendet werden.
Spannende daran – trauen uns die Stabilitätsorientierung Doch damit eines klar ist: Auch wenn Sie und die FDP
zu. Die Verzinsung für deutsche Staatsanleihen ist ex- den Erfolg für sich beanspruchen – es war die Große Ko-
trem niedrig, die wirtschaftliche Lage trotz aller Bedro- alition, die gehandelt hat. Es gab kein Hickhack und kein
hungen noch immer gut. Beschäftigung und Wettbe- Zickzack. Sie hat das Vertrauen der Menschen in die
werbsfähigkeit sind auf einem außerordentlich hohen Politik gestärkt, indem sie schnell und vor allen Dingen
Niveau. klar und richtig gehandelt hat.

(B) Das Glas ist jedenfalls mehr als halb voll. So sollten (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Deshalb (D)
wir das aus meiner Sicht sehen. Wir Deutschen müssen, seid ihr abgewählt worden!)
glaube ich, aus dem Dauerpessimismus herauskommen. – Sie?
Wir sollten auch aufhören, in Extremen zu denken.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein,
Ich nenne ein Beispiel: Kaum hat man eine Krise hin- ihr!)
ter sich gelassen und die Zahl der Arbeitslosen einiger-
maßen abgebaut, schon soll der Fachkräftemangel, der – Wie gehen Sie mit den Ergebnissen um? Ihre Ergeb-
angeblich entsteht, nur über Zuwanderung von außer- nisse haben wir gerade gesehen. Herr Lindner, ich würde
halb der EU zu lösen sein, und das bei einem EU-weiten nicht so hochmütig auftreten. Wir werden in 14 Tagen
Arbeitsmarkt. Die CSU jedenfalls setzt auf Qualifizie- hier freudige Debatten über Ihr Wahlergebnis haben.
rung statt auf neue Multikultiexperimente. Herzlichen Dank.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Herr Rösler, da hören Sie es ja!) Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wir sind
hier im Bundestag, oder?)
– Das sage ich auch in Richtung FDP.
Die Große Koalition hat in der Krise Handlungsfähig-
Ein anderes Beispiel: Kaum ist man sich einig, dass keit bewiesen. Sie hat die Bankenrettung vorangetrieben,
Innovationen unabdingbar sind, wird der hohe Anteil damit die Mittelständler sichere Kredite bekommen, sie
von 1,37 Milliarden Euro für die Luft- und Raumfahrt hat die Konjunkturpakete geschnürt, damit Aufträge er-
am Haushalt des BMWi kritisiert. Aus bayerischer Er- teilt werden konnten, und sie hat eine Arbeitsmarktpoli-
fahrung kann ich Ihnen sagen, dass nur wenige Innova- tik gestaltet, die auf Arbeitsplatzsicherung und auf Ar-
tionsthemen unsere Entwicklung so getrieben haben. Ein beitsplatzerhalt gesetzt hat. Sie profitieren jetzt davon,
wenig mehr Fortschritts- und Technologiezuversicht dass Deutschland so gut aus der Krise gekommen ist.
würde dieses großartige Land noch mehr voranbringen. Aber Sie, Herr Minister Rösler, und die FDP haben da-
mit gar nichts zu tun.
Lassen Sie uns daran arbeiten. Ich glaube, es lohnt
sich. (Gisela Piltz [FDP]: Ist klar!)

Vielen herzlichen Dank. Das will ich hier eindeutig feststellen. Es scheint, als wä-
ren Sie gleich auf zwei Augen blind: Damals wollten Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht sehen, was aus der Krise herausführt, und heute
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14593
Klaus Brandner
(A) wollen Sie nicht sehen, welche Faktoren für eine dro- – So ist es. – Das wäre ökonomisch vernünftig. Das (C)
hende zweite Krise sprechen. würde die Nachfrage sichern, und es würde endlich die
Würde der Arbeit herstellen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Alle außer Ihnen haben die Zahlen auf dem Tisch.
Es ist ein Skandal, dass in Deutschland über 1 Million
Das deutsche Wachstum kam im zweiten Quartal des
Menschen für weniger als 5 Euro die Stunde arbeiten
Jahres mit 0,1 Prozent fast zum Erliegen. Die Wirtschaft
müssen. Die Schaffung eines allgemeinen gesetzlichen
in den 17 Euro-Ländern stagniert. In den USA und in Ja- Mindestlohns wäre eine wichtige und gute Aufgabe.
pan sieht es insgesamt auch nicht besser aus. Auch die
GfK-Konjunkturerwartungen der deutschen Konsumen- Sinnvoll wäre auch eine breit angelegte Gründungs-
ten brachen im August ein und erreichten den niedrigs- förderung. Das würde helfen, Menschen in Arbeit zu
ten Stand seit Juni 2010. Die Konjunkturerwartungen bringen, neue Arbeit zu schaffen und neue Arbeitsfelder
des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung fie- zu erschließen. Die Förderung von Existenzgründungen
len im August auf den tiefsten Stand seit Dezember wird seitens des Bundesministeriums für Arbeit und So-
2008. Der DAX – wir alle wissen es – ist seit Ende Juli ziales, seitdem Schwarz-Gelb regiert, deutlich weniger
um 30 Prozent gesunken. unterstützt. Es wäre eine wichtige Aufgabe für das Wirt-
schaftsministerium, sich dieses Themas anzunehmen
Wenn Sie, sehr geehrter Herr Rösler, schon nicht auf und dafür zu sorgen, dass auf diesem Gebiet endlich
mich und meine Interpretation hören wollen, so hören mehr Engagement entfacht wird.
Sie wenigstens auf warnende Expertenstimmen, zum
Eine gute Aufgabe wäre darüber hinaus, die öffentli-
Beispiel die des Weltbankpräsidenten Zoellick, der sagt:
chen Vergabeverfahren zugunsten fairer Arbeitsverhält-
Für die globale Wirtschaft besteht das Risiko, in diesem
nisse und nicht zugunsten von Lohndumping entschei-
Herbst in eine neue Gefahrenzone zu rutschen. KfW-
den zu lassen. Es kann doch nicht sein, dass der
Chef Schröder sagt: Die Lage ist viel dramatischer als
Billigste, der nicht immer der Qualifizierteste ist, als Al-
2008. IWF-Chefin Lagarde sagt: Es droht der Rückfall
lererster den Auftrag bekommt. Und es kann auch nicht
in die Rezession. Es müssen Maßnahmen ergriffen wer-
sein, dass wir einen fairen Wettbewerb einfach aus-
den, um eine drohende Abwärtsspirale abzuwenden. – schließen, in dem der faire Unternehmer, der sich an Re-
Sie aber tun so, als sei alles in Butter. Sie tun so, als sei geln hält, am Ende der Dumme ist. Da hätten Sie die
all das nur Oppositionsgeschwätz. Aufgabe, endlich dafür zu sorgen, dass die Nachfrage
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir wollen das und damit der Binnenmarkt gestärkt werden. Sie würden
alles verhindern, Herr Kollege Brandner!) einen großen Beitrag zur sozialen Befriedung in diesem
(B) (D)
Land leisten, wenn Sie endlich diesen Themen nachge-
Als Haushälter jedenfalls kann ich diese Zahlen und hen würden.
Prognosen nicht einfach ignorieren. Man muss als Haus- (Beifall bei der SPD)
hälter und – nach meinem Verständnis – auch als Minis-
ter wachsam sein und Vorsorge treffen. Deshalb erwarte Auch an anderer Stelle, meine Damen und Herren,
ich mehr von Ihnen, sehr geehrter Herr Minister. Sie könnten Sie liefern. Wir alle wissen vom drohenden
müssen jetzt endlich liefern. Fachkräftemangel – auch darauf ist heute schon an man-
cher Stelle hingewiesen worden –; in manchen Regionen
(Beifall bei der SPD) ist er ganz besonders ausgeprägt. Sicherlich wissen wir
alle, dass die Beseitigung dieses Mangels eine zentrale
Immerhin – das will ich hier klar sagen – waren Sie Herausforderung ist, für die Sie kein Konzept haben. Sie
nicht ganz untätig. Sie haben dem Haushalt des Wirt- fördern im Handwerk überbetriebliche Ausbildungszen-
schaftsministeriums ein neues Gewand gegeben, Sie ha- tren. Diese könnten Sie ausbauen. Hier könnten Sie mehr
ben den Haushaltsplan übersichtlicher gestaltet und kla- für die Ausbildung tun. Sie könnten insbesondere etwas
rer strukturiert. Er ist transparenter als vorher. Aber eine für die betriebliche Weiterbildung tun. Sie ist in
Verpackung allein bringt noch nichts; auf den Inhalt Deutschland nämlich ein Stiefkind, insbesondere in klei-
kommt es an. Da aber ist – das haben die Vorredner nen und mittelständischen Betrieben. Hier hätten Sie
schon deutlich gemacht – von Umdenken nichts zu se- Chancen, Zukunftssicherung zu betreiben und eine neue
hen. Wenn Sie sich trotz schwankender Weltwirtschaft Aufgabe zu übernehmen. Das würde tatsächlich zu län-
allein auf die Exportwirtschaft verlassen, dann muss ich gerfristiger und nachhaltiger Beschäftigung führen. Qua-
sagen: Das ist ein Standbein zu wenig. Das reicht nicht lifikation ist letztlich das beste Standbein für eine nach-
aus. Obwohl die Nachfrage aus dem Ausland schon fast haltige Beschäftigung.
komplett zusammengebrochen ist, wird der Binnenmarkt
nach wie vor von Ihnen total vernachlässigt. Meine Damen und Herren, Sie könnten den Regio-
nen, die wirtschaftliche Nachteile oder Nachholbedarf
Dabei hat der Bundeswirtschaftsminister so viele haben, helfen. Gerade hierzu besteht ein renommiertes
Stellschrauben. Zum Beispiel könnte man einen allge- Programm, durch das nachweislich Hilfe zur Selbsthilfe
meinen gesetzlichen Mindestlohn verabschieden. geleistet wird, regionale Investitionen gestärkt und dau-
erhaft wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen wer-
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sehr gute den: Ich denke an die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
Maßnahme! Jawohl! Wunderbar!) rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Aber gerade
14594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Klaus Brandner
(A) hier kürzen Sie entscheidend. Wir fordern Sie auf, in die- Es gab also keine antizyklische Wirkung mehr. Es gibt (C)
ser Angelegenheit umzukehren und dafür zu sorgen, Dinge aus dem Konjunkturprogramm, die bis heute nicht
dass gerade diese Felder von Ihnen weiter bedient wer- abbezahlt sind.
den.
Was mir aber besonders wichtig ist, ist Folgendes: Ich
(Beifall bei der SPD) meine, dass die politische Leistung, in einer Krise
80 Milliarden Euro Schulden aufzunehmen, was Sie ge-
tan haben, und diese 80 Milliarden Euro dann irgendwie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu verteilen, nicht zu überschätzen ist. Das ist etwas, was
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege man, glaube ich, leichter hinkriegt als das, was diese Ko-
Brandner. alition vor sich hat. Diese Koalition muss nicht 80 Mil-
liarden Euro verteilen, sondern diese Koalition muss in
Klaus Brandner (SPD): vier Jahren 80 Milliarden Euro einsparen. Das ist eine
ganz andere politische Herausforderung. Da sind wir auf
Herr Minister, stabil steht man nur auf beiden Beinen.
einem ganz ausgezeichneten Weg.
Deshalb: Fördern Sie die Export- und Binnenwirtschaft.
Füllen Sie Ihren Haushalt mit mehr Inhalten und Kon- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zepten. Gerade Sie als Wirtschaftsminister und Vize- der CDU/CSU)
kanzler kann ich nur auffordern: Liefern Sie endlich, da-
mit die deutsche Wirtschaft wieder auf zwei gesunden Die Haushaltskonsolidierung schreitet im Rekord-
Beinen stehen kann. tempo voran. Wir sind, ausgehend von 86 Milliarden
Euro, wie es Ihr Vorschlag 2010 vorsah, mittlerweile bei
Herzlichen Dank. einem Haushaltsentwurf, der, vorsichtig gerechnet, mit
27 Milliarden Euro Neuverschuldung auskommt. Das ist
(Beifall bei der SPD) eine Reduzierung von über 70 Prozent in lediglich zwei
Jahren. Wir haben als Koalition den festen Vorsatz, dass
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir im Bund das Ende der Neuverschuldung erreichen,
Für die FDP hat jetzt das Wort der Kollege Florian noch bevor die Schuldenbremse im Grundgesetz das von
uns verlangt, also noch vor 2016; denn wir wollen sta-
Toncar.
bile Staatsfinanzen. Auf dem Weg sind wir schon weit
(Beifall bei der FDP) vorangekommen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Florian Toncar (FDP):
(B) Wenn ich das mit dem vergleiche, was dort passiert, (D)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wo Sie regieren, dann kann ich nur sagen, das ist eine
stelle mir in dieser Debatte nur einmal einen Moment komplett andere Richtung.
lang vor, was ein Besucher auf der Besuchertribüne, der
nicht aus Deutschland kommt, sondern der hier zu Gast (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert
ist, denken mag, wenn er diese Debatte zur Wirtschafts- denn im Saarland?)
politik und zur Wirtschaftslage in Deutschland hört. Ich
Da kann man, glaube ich, auch sehr deutlich sehen, wie
glaube, er wäre über das Bild, das hier gezeichnet wird,
die Alternativen in Deutschland aussehen.
überrascht; denn dieses Bild ist verzerrt, und die großen
Erfolge, die wir – zum Teil gemeinsam – erzielt haben, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert
werden völlig vernachlässigt. Wir sollten deutlich ma- denn im Saarland?)
chen, dass wir vieles erreicht haben, und kein so tristes
Bild der Lage in Deutschland malen. Sie haben in Nordrhein-Westfalen einen verfassungs-
widrigen Haushalt vorgelegt. Aber noch interessanter
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) finde ich das, was in Baden-Württemberg passiert. Dort
hat der Staat dieses Jahr unerwartet 1,1 Milliarden Euro
Die Wirtschaftslage unterliegt sicherlich großen He- zusätzliche Steuereinnahmen bekommen, und die Regie-
rausforderungen, Kollege Brandner. In der Regel spielen rung hat entschieden, davon über 800 Millionen Euro zu-
dabei externe Herausforderungen eine Rolle, also solche, sätzlich auszugeben. Die Regierung in Baden-Württem-
die wir als nationaler Gesetzgeber nicht allein beeinflus- berg könnte dieses Jahr ohne die Aufnahme neuer
sen können. Ich wiederhole: Es ist viel erreicht worden. Schulden auskommen. Aber der Ministerpräsident, ein
Das ist nicht nur ein Erfolg der Konjunkturprogramme, grüner Ministerpräsident, sagt: Das schaffen wir erst
die vor mittlerweile zweieinhalb Jahren aufgelegt wor- 2020. Ich glaube, deutlicher als mit dem Vergleich zwi-
den sind. Durch sie ist manches Richtige auf den Weg schen dem, was in den Ländern geschieht, in denen Sie re-
gebracht worden, beispielsweise die Neuregelung der gieren, und dem, was wir hier im Bund machen, kann man
Kurzarbeit. Man muss es aber differenzierter sehen: Vie- nicht aufzeigen, dass wir ganz unterschiedliche Vorstel-
les der Konjunkturprogramme, für die Sie 80 Milliarden lungen von guter Wirtschaftspolitik haben.
Euro Schulden gemacht haben, hat Preissteigerungen
nach sich gezogen. Letzten Endes ist vieles erst jetzt be-
zahlt worden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Toncar, möchten Sie eine Zwischen-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) frage des Kollegen Heil zulassen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14595

(A) Florian Toncar (FDP): merurlaub von ungefähr acht Wochen hinter sich haben; (C)
Nein. der hat offenbar etwas verpasst.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was hat er denn
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: durchgesetzt?
Keine Zwischenfrage.
Denn es ist sehr wohl so gewesen, dass der Bundeswirt-
schaftsminister eine ganze Reihe von Beiträgen geleistet
Florian Toncar (FDP):
hat.
Gerne später, wenn dann noch Zeit ist. Aber ich
möchte das jetzt im Zusammenhang vortragen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nennen Sie
doch einmal einen Punkt, den er durchgesetzt
Ich möchte auf das eingehen, was jetzt vor uns liegt.
hat!)
Wir müssen den Haushalt konsolidieren, und wir schaf-
fen das, ohne dass das Wirtschaftswachstum kostet. Wir Wir haben erreicht, dass es erstmals Gläubigerbeteili-
schaffen das deshalb, weil wir auch im Haushalt des gung gibt. Wenn wir das gemacht hätten, was Sie woll-
Wirtschaftsministeriums die richtigen Schwerpunkte set- ten, wenn wir also frühzeitig Geld ins Schaufenster ge-
zen. Wir als Koalition geben trotz Sparkurs und trotz Re- stellt hätten,
duzierung der Verschuldung in vier Jahren 12 Milliarden
Euro extra für Bildung und Forschung aus. Vorgesehen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na, na, na!)
sind dieses Jahr allein 330 Millionen Euro zusätzlich für frühzeitig Zusagen gemacht hätten, dann hätte doch nie-
Zukunftstechnologien im Bereich des Wirtschaftsminis- mand gesagt: Nun lasst uns doch die Gläubigerbeteili-
teriums. Wir schichten Subventionen um. Es werden gung einführen. – Es war richtig, dass diese Bundes-
Subventionen abgebaut. Ineffiziente Förderprogramme regierung dafür gekämpft hat, dass Gläubiger auch einen
werden deutlich reduziert, und stattdessen wird in die Beitrag leisten müssen, und zwar bevor wir weitere
Technologien der Zukunft investiert. Steuergelder in Aussicht stellen.
Natürlich tun wir auch etwas für die Binnennach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
frage. Es ist ja gerade der Vorsatz der Koalition, da- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wann kommt
durch, dass kleinere und mittlere Einkommen entlastet der?)
werden und dass wir auch bei den Lohnzusatzkosten zu
einer Absenkung kommen, die Kaufkraft zu stärken. Da- Wir haben darüber hinaus mittlerweile erreicht, dass
bei geht es um die Einkommensgruppen, die ihr Geld in immer mehr europäische Staaten sich zu Schuldenbrem-
der Regel auch ausgeben. So fördert man Binnennach- sen bekennen. Das sind Ergebnisse, die vor einem hal-
(B) frage und nicht mit irgendwelchen eher fragwürdigen ar- ben Jahr noch völlig undenkbar gewesen wären. Es lohnt (D)
beitsmarktpolitischen Maßnahmen. sich eben durchaus, nicht sofort Zugeständnisse zu ma-
chen, nicht sofort zu sagen, es gibt Geld, sondern zu-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer hat denn nächst einmal ganz konkrete belastbare Gegenleistungen
die Krankenkassenbeiträge gesteigert?) einzufordern.
Ich will natürlich auch etwas zum Thema stabiler (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagen Sie
Euro sagen; denn das ist das große wirtschaftspolitische seit einem Jahr! Von Gipfel zu Gipfel stol-
Thema dieser Zeit. Zum einen finde ich es bemerkens- pern!)
wert, wer da wieder glaubt, diese Koalition belehren zu
können. Das sind mit Herrn Steinmeier, Herrn Trittin Der Kurs dieser Bundesregierung in der Euro-Politik
und vielen anderen die Leute, die verantwortlich dafür war, wie ich glaube, richtig und dient der Stabilität unse-
sind, dass Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen rer Währungsunion.
wurde, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wollen Sie die der CDU/CSU)
wieder rausschmeißen?) Im Übrigen möchte ich auch sagen: Der Bundeswirt-
die verantwortlich dafür sind, dass der Stabilitätspakt schaftsminister hat sich überlegt, wie man es erreichen
faktisch ausgehebelt worden ist, und die zu ihrer Regie- kann, dass mehr deutsche und auch europäische Unter-
rungszeit Verantwortung dafür getragen haben, dass die nehmen in Griechenland investieren.
Statistiker aus Europa nicht nachrechnen dürfen, ob Mit- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist dabei
gliedstaaten wirklich so viele Schulden machen, wie sie herausgekommen?)
angeben, oder ob es nicht deutlich mehr sind. Von diesen
Leuten lassen wir uns heute nicht sagen, wie man den Ohne diesen Aspekt wird man das Problem am Ende
Euro zu stabilisieren hat. Sie sollen einmal an ihre ei- nicht an der Wurzel packen können. Ich glaube, er war
gene Verantwortung denken. einer der Ersten in Europa, die das Thema überhaupt ein-
mal von dieser Seite angepackt haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was hat es
Ich habe in dieser Debatte gehört, der Bundeswirt- gebracht?)
schaftsminister wäre hier bei der Euro-Diskussion in
letzter Zeit nicht dabei gewesen. Ich kann nur sagen: Wir müssen natürlich diesen Weg weitergehen. Auch bei
Wer das behauptet, der muss einen verlängerten Som- den Griechen müssen noch einige Voraussetzungen er-
14596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Florian Toncar
(A) füllt werden, beispielsweise in den Bereichen Bürokratie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
und Rechtssicherheit. Es ist aber unverzichtbar, dass wir Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Schlecht von
unsere und die europäische Wirtschaft dazu bringen, sich der Fraktion Die Linke.
auch in Griechenland zu engagieren.
(Beifall bei der LINKEN)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie denn?)
Deshalb war das eine richtige Initiative. Michael Schlecht (DIE LINKE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Rösler, ich bin es ja von Ihrem Vorgänger gewohnt,
der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: dass hier immer relativ fröhlich der Aufschwung und die
Richtig, dass wir darüber geredet haben!) wirtschaftliche Lage umschrieben wird. So sprach er ja
gerne vom XXL-Aufschwung. Dass Sie aber in diesem
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, auf den
Tenor weitermachen, finde ich angesichts einer Situa-
auch der Kollege Kuhn eingegangen ist, nämlich das
tion, in der wirklich die Krisenhaftigkeit oder zumindest
Thema Energieeffizienz. Ich glaube in der Tat, Energie-
das Risiko einer nächsten Krise auch hier in Deutschland
effizienz ist eine Voraussetzung dafür, dass wir weiter
geradezu mit den Händen zu greifen ist, schon abenteu-
vorankommen und die Energiewende funktionieren
erlich.
kann. Ich möchte aber auch daran erinnern, Herr Kollege
Kuhn, dass zurzeit ein Gesetzentwurf im Bundesrat liegt, Ebenso abenteuerlich ist es, wenn man übersieht, dass
sich nach wie vor der Finanzsektor, der ja am Ende für
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Durchfinanzierung der Realwirtschaft verantwortlich
Im Vermittlungsausschuss!)
ist, in einer hoch krisenhaften Situation befindet, wenn
der das Thema Energieeffizienz zum Inhalt hat. In die- man nicht zur Kenntnis nimmt – ansonsten stoßen die
sem Gesetzentwurf geht es darum, die energetische Ge- Meinungen dieser Leute ja bei Ihnen immer auf offene
bäudesanierung steuerlich zu fördern. Ich möchte Sie Ohren –, dass Herr Ackermann Ende letzter bzw. Anfang
einfach fragen, ob es eigentlich im Sinne der Wähler in dieser Woche erklärt hat, dass man sich an eine Situation
Baden-Württemberg gewesen ist, dass Ihre Landesregie- wie im Jahre 2008 erinnert fühlt, oder der Chef der KfW,
rung hierzu gesagt hat: Wir machen da nicht mit. Schröder – das ist ja schon erwähnt worden –, die Ein-
schätzung vertritt, dass das Risiko höher ist als im Jahr
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2008, weil mittlerweile die Staaten als Retter nicht mehr
Vermittlungsausschuss!) zur Verfügung stehen, und wenn man nicht zur Kenntnis
nimmt, dass die neue Präsidentin des Internationalen
(B) Ich persönlich bin der Meinung, dass die Energiewende Währungsfonds, Lagarde, es als großen Risikofaktor be- (D)
eine gesamtstaatliche Aufgabe ist und alle Ebenen be- nennt, dass die Banken in Europa um mindestens
trifft. Daher müssen sich selbstverständlich auch die 200 Milliarden Euro unterfinanziert sind. Ich sage Ihnen
Länder anteilsmäßig finanziell engagieren. Deswegen ganz deutlich: Ein Wirtschaftsminister, der diese Risiken
empfinde ich die Verzögerung, die da jetzt entstanden nicht zur Kenntnis nimmt und während der Aussprache
ist, als völlig unnötig, als kontraproduktiv, und sie ist si- hier nicht thematisiert, ist für mich ein Risiko für dieses
cher auch nicht im Sinne der Wähler in Baden-Württem- Land. Wenn man diese Gefahren nicht sieht, besteht
berg. nämlich die Gefahr, dass man darauf nicht reagiert.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jetzt müsste man die Regulierung des Finanzsektors
der CDU/CSU) – das ist ja in den letzten Jahren immer wieder verlaut-
bart worden – wirklich nachholen. Aus unserer Sicht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: müsste man sogar den ganzen Finanzsektor und damit
Kommen Sie zum Schluss. auch die Banken an die Kette legen. Wir teilen die Auf-
fassung von Ackermann, der vor kurzem selbst formu-
liert hat, dass er unsicher ist, ob die Banken die Daseins-
Florian Toncar (FDP): vorsorge vernünftig organisieren. In der Tat müssen wir
Herr Präsident, ich möchte noch eine letzte Bemer- dafür sorgen, dass das geschieht. Das ist am ehesten
kung machen, da ich neu die Hauptberichterstattung für möglich, wenn die Banken unter öffentliche Kontrolle
diesen Einzelplan übernommen habe und auch mehrere gebracht werden. Die ganzen unnützen Geschäfte, die
Kollegen neu dabei sind. Ich möchte betonen, dass wir mit dem Begriff „Kasinogeschäfte“ umschrieben wer-
gemeinsam mit dem Ministerium gute Beratungen hin- den, müssen beendet werden, und alle Banken in
bekommen können und wir die Ideen, die noch da sind, Deutschland müssen so organisiert werden, wie bereits
sicherlich so in den Haushalt einarbeiten können, dass die Sparkassen organisiert sind. Die Sparkassen sind be-
der Haushalt dadurch noch besser wird. Ich hoffe, dass kanntlich in öffentlicher Hand und immer die Stützpfei-
das kollegial ablaufen wird; eigentlich bin ich sogar ler der Realwirtschaft gewesen. Für diese Organisation
überzeugt, dass es klappt. sind wir.
Ich wünsche uns allen gute, konstruktive Haushalts- (Beifall bei der LINKEN)
beratungen.
Wenn man sich die realwirtschaftliche Seite, die Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) teilungsseite, anschaut, stellt man fest, dass Ihr Blick auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14597
Michael Schlecht
(A) die Realität vollkommen blauäugig ist. Denn der bereits das einmal jemandem, der vielleicht nur 1 000, 1 100 (C)
auslaufende Aufschwung war ein Aufschwung, der bei oder 1 200 Euro verdient! Diese Leute haben keine Spar-
der breiten Masse der Bevölkerung nie angekommen ist. quote oder eher eine negative.
Die Unternehmensgewinne sind in den letzten zehn Jah-
Die aktuelle Situation ist klar: Die Konjunktur ist be-
ren, so auch zuletzt, massiv angestiegen; seit 2000 waren
es, preisbereinigt, 35 Prozent. Bei den abhängig Be- reits am Wegknicken. Alle Frühindikatoren stehen auf
rot. Im zweiten Quartal wuchs die Wirtschaft nur um
schäftigten haben wir – die Zahl ist schon häufig genannt
0,1 Prozent. So ist es offiziell verkündet worden. Schaut
worden – eine Reallohneinbuße von 4,5 Prozent zu ver-
zeichnen. Das heißt, die Unternehmen haben in den letz- man genau hin, stellt man fest, dass sie im zweiten Quar-
tal bereits gesunken ist. Denn ein ganz erheblicher Teil
ten zehn Jahren ihre Gewinne um mehr als ein Drittel
dieses sogenannten Wirtschaftswachstums ging auf den
steigern können, und die abhängig Beschäftigten müssen
heute mit weniger auskommen, und das in einem reichen Lageraufbau zurück. Entscheidend für diese Entwick-
lung ist auch, dass der private Konsum bereits im Minus
Land, in dem mit immer höherer Produktivität gearbeitet
ist. Das hat sehr viel mit dem Lohndumping zu tun. Des-
wird. Das bringt die Ungerechtigkeit auf den Punkt; es
ist ein Skandal. wegen wäre es notwendig – quasi als ein Konjunkturpro-
gramm –, als Sofortmaßnahme zumindest einen gesetzli-
(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken chen Mindestlohn von 10 Euro aufzulegen.
[CDU/CSU]: Herr Kollege, Sie haben sich
aber schlecht abgesprochen mit dem Kollegen (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das ist
Claus! Der hat etwas anderes gesagt!) Unsinn!)

– Hören Sie zu, ich erkläre Ihnen ja noch etwas! Das zweite große Problem ist aber, dass das Auslands-
geschäft schon längst wegbricht. Das ist natürlich kein
Ein besonderer Skandal ist darüber hinaus, dass die Wunder angesichts der Tatsache, dass diese Regierung
Lohnkürzungen bei den 40 Prozent der Beschäftigten in gerade angetreten ist, in Europa ein massives Sozialkür-
diesem Lande, die ohnehin am wenigsten verdienen, in zungsprogramm aufzulegen. Auf Initiative Deutschlands
den letzten zehn Jahren am massivsten waren. Sie haben sind EU-weit Kürzungsprogramme in einem Umfang von
Lohnkürzungen in Höhe von 10, 20 und zum Teil mehr 400 Milliarden Euro aufgelegt worden. Da mit der Um-
Prozent aufoktroyiert bekommen. Es ist wirklich ein rie- setzung bereits begonnen worden ist, ist es kein Wunder,
siger Skandal, wenn diejenigen, denen es am schlechtes- dass sozusagen die Kunden der deutschen Wirtschaft im-
ten geht, am stärksten zur Kasse gebeten werden. mer weniger Geld haben, um in Deutschland einzukau-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) fen.

(B) Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am Volks- Die deutsche Regierung hat dadurch selbst einen Bei- (D)
einkommen, in unserem Land ist beständig gesunken. trag dazu geleistet, dem Export – einer wichtigen Stüt-
Anders ausgedrückt, damit das einmal ganz deutlich ze – die Füße wegzuhauen, gleichzeitig aber nicht die
wird: Wäre der Anteil der Beschäftigten am Volksein- Binnennachfrage so zu stärken, wie es notwendig wäre.
kommen seit 2000 gleich groß geblieben, dann hätten Denn nach wie vor gelten in Deutschland Gesetze, die es
die abhängig Beschäftigten in Deutschland in diesen fast verunmöglichen, gegen Lohndumping anzukom-
zehn Jahren 1 000 Milliarden Euro, also 1 Billion Euro, men.
mehr bekommen müssen. Das ist in Euro ausgedrückt Diese Tendenzen müssten umgekehrt werden. Wir
der Preis, der hinter dem Lohndumping der letzten zehn bräuchten im Grunde eine Rückabwicklung der gesam-
Jahre steckt. Es ist ein Skandal, dass die Beschäftigten so ten Agenda 2010: Befristungen müssten weg, die Leih-
schamlos enteignet worden sind; denn das ist es, was in arbeit müsste weg, gewerkschaftliche Rechte müssten
unserem Land passiert ist. gestärkt werden und zu guter Letzt – ich betone es noch
Für diese Politik war natürlich nicht nur die jetzige einmal, weil es eine Sofortmaßnahme ist, die schnell
Regierung verantwortlich, sondern das waren alle Regie- umzusetzen wäre –: die Einführung eines gesetzlichen
rungen der vergangenen zehn Jahre. Diese Politik wurde Mindestlohns von 10 Euro. Mit 10 Euro würde nicht nur
von SPD und Grünen eingeleitet mit der Agenda 2010 den Menschen in diesem Lande geholfen; die 10 Euro
mit Befristung, Leiharbeit und den Hartz-IV-Gesetzen, wären auch ein Beitrag für Europa insgesamt. Das würde
und sie wurde immer von dem Applaus von CDU/CSU Europa voranbringen.
und FDP begleitet und weiter fortgesetzt – bis heute. Danke schön.
Diejenigen, die unter dieser Politik leiden, müssen wis-
sen, dass diese vier Fraktionen dafür verantwortlich sind. (Beifall bei der LINKEN)
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die
Menschen kein Geld in die Geschäfte tragen und dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sich deshalb der Konsum so schlecht entwickelt. Das Wort hat nun Tobias Lindner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das stimmt doch gar nicht! – Dr. Joachim Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Pfeiffer [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Grund ist nicht ein vermeintlicher Käuferstreik. Die ren! Ich bin ein neuer Abgeordneter; Sie, Herr Rösler,
Rede vom Käuferstreik ist mehr als zynisch. Sagen Sie sind ein neuer Minister. Ich muss Ihnen in meiner ju-
14598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Tobias Lindner


(A) gendlichen Naivität gestehen: Ich hätte von Ihnen einen Unternehmen an Minen im Ausland. Wenn das Ihre neue (C)
Haushaltsentwurf mit neuen Schwerpunkten erwartet. Rohstoffstrategie ist, dann gute Nacht!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist doch
Sie schreiben selbst in den Erläuterungen zum Etat: Teil davon! Das macht Sinn!)
„Der Wirtschaftsetat präsentiert sich in einem neuen Ge-
wand“. Ja, das ist richtig, der Wirtschaftsplan wurde neu Wenn wir beim Thema „Gute Nacht“ sind, will ich
strukturiert. Sie haben vier neue Oberkapitel gebildet. zum Schluss auf ein weiteres Kapitel in Ihrem Etat ein-
Und was haben Sie dann getan? Sie haben die bisherigen gehen. Leider trägt es den Titel eines Kinderbuchs:
Förderprogramme einfach nur in diese vier neuen Ober- Peterchens Mondfahrt. In die Luft- und Raumfahrt in-
kapitel einsortiert. vestieren Sie 1,3 Milliarden Euro. Das sind rund 20 Pro-
zent des gesamten Etats; das sind 200 Millionen Euro
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ mehr als im Vorjahr; und das in Zeiten knapper Kassen.
DIE GRÜNEN)
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Gut so!)
Ist das die neue Strategie Ihres Ministeriums? Es ist kein
Gewand, das wir hier vor uns haben, sondern ein Um- Herr Rösler, ich weiß nicht, warum Sie gerade diesen
hang. Und wenn man diesen Umhang lüftet, dann findet Schwerpunkt setzen.
man dahinter nur die alten Klamotten von gestern und (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
vorgestern. Die FDP will sich auf den Mond schießen! –
Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Materialfor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schung!)
Die Regierung hat die Notwendigkeit einer Klima- Aber wenn dies, Herr Minister, Ihre Brot-und-Butter-
wende inzwischen akzeptiert. In Ihrem Ressort, Herr Themen sind, wenn Sie sprichwörtlich hinter den Mond
Rösler, liegt die Zuständigkeit für die Haupt-CO2-Emit- wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Steigen Sie
tenten. Gerade dann aber, wenn es diese Regierung mit doch gleich mit ein in die Raumrakete.
der Klimawende ernst meint, braucht die deutsche Wirt-
schaft neue Impulse, um auf dem internationalen Markt Vielen Dank.
und auch in Deutschland zukunftsfähig zu bleiben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen neue Technologien rund um den Klima-
schutz. 12 Prozent aller Emissionen werden von Industrie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) und verarbeitendem Gewerbe verursacht. Dabei werden Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU- (D)
zwei Drittel des Stroms durch ineffektive Pumpen, An- Fraktion.
triebe und Anlagen verschleudert. Die Potenziale für
Energieeffizienz und Energieeinsparung sind also enorm. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dafür aber braucht es erstens Beratung, zweitens neue der FDP)
Technologien und drittens auch neue Verfahren. Hier
könnten Sie Anreize schaffen. Schaut man aber in den Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Wirtschaftsplan, stellt man fest, dass Sie in diesem Be- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
reich nichts getan haben. Ist das Ihre neue Effizienz? ren! Wir diskutieren heute über den Haushalt, heute
Morgen auch über den Euro. Insofern ist es sinnvoll, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bedeutung des Euro für unsere Wirtschaft und den
Wir brauchen Effizienz nicht nur im Energiebereich. Haushalt herauszustellen. Der Euro hat herausragende
Auch angesichts knapper werdender Rohstoffe und stei- Bedeutung für Deutschland. Gerade auch in diesem Jahr,
gender Welthandelspreise ist der Blick auf einen scho- trotz der Krise in Europa, würden wir ohne den Euro
nenden und effizienten Einsatz in diesem Bereich drin- deutlich schlechter dastehen, als wir es tun.
gend notwendig. Aber offen gestanden: Sie scheinen auf Der Euro ist stabiler, als es die D-Mark je war: Seit
diesem Auge ganz blind zu sein, wie ein Blick in den der Einführung des Euro lag die Inflation im Durch-
Etat zeigt – nicht einmal Ihre eigene Rohstoffstrategie schnitt bei 1,6 Prozent; zur Zeit der D-Mark waren es
setzen Sie im Etatentwurf irgendwie um. 2,6 Prozent. Das sind die Fakten; ich nenne sie all denen
Es gilt, Schlüsseltechnologien voranzubringen. Es in Deutschland, die das durchaus infrage stellen.
geht um Recycling und Stoffkreisläufe; es geht aber Fakt ist weiterhin, dass die EZB in Zeiten eines Auf-
auch um den Einsatz alternativer Rohstoffe. Hierzu schwungs in Deutschland, wie wir ihn in diesem Jahr ha-
braucht man Grundlagenforschung, Förderung von Pi- ben, ihren Zinssatz natürlich nicht nur an Deutschland,
lotanlagen und natürlich auch neue Finanzierungsinstru- sondern an ganz Europa orientiert. Deshalb können sich
mente; hierzu absolute Fehlanzeige im Wirtschafts- unsere Unternehmen – vom Handwerker bis zum Groß-
ministerium. unternehmen – in diesem Jahr, also im Aufschwung, mit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Krediten zu so guten und günstigen Zinsen versorgen,
wie sie es in den letzten Jahrzehnten im Aufschwung
Anstatt Innovationen voranzubringen und in die Zu- sonst nie konnten. Dies gilt auch für jeden Häuslebauer,
kunft zu blicken, fördern Sie die Beteiligung deutscher der günstigere Zinsen erhält, als er sonst erhalten würde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14599
Dr. Joachim Pfeiffer
(A) Es gilt auch für den Staat, egal ob Gemeinde oder Bund; gebnis einer klugen Politik, die wir in der Krise und auch (C)
denn wir müssen für unsere Schulden – auch wir sind jetzt betrieben haben.
nicht frei von Schuld, geschweige denn von Schulden –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
weniger Zinsen zahlen, als wir es sonst tun müssten.
neten der FDP)
Der Euro bringt unserer Volkswirtschaft darüber hi- Das Ergebnis dieser klugen Politik führt heute dazu,
naus beispielsweise rund 10 Milliarden Euro weniger dass man unserer Politik nicht deshalb folgt, weil wir
Absicherungskosten im Export. Gerade dieser Tage hat schöne blaue Augen haben und weil uns in Europa alle
die KfW festgestellt: Allein in den letzten zwei Jahren so gern haben, sondern weil man sieht, dass die Politik,
hat der Euro uns in Deutschland 50 bis 60 Milliarden die wir in Deutschland gemacht haben, die einzige ist,
Euro zusätzlichen Wohlstandsgewinn gebracht; das wäre die in die richtige Richtung führt. Deswegen wird diese
nicht der Fall, wenn wir nicht den Euro, sondern noch Politik in den anderen europäischen Ländern zunehmend
die D-Mark hätten. Damit entfiel im letzten Jahr – auch übernommen.
das wurde ausgerechnet – ein Wirtschaftswachstum von
1 bis 1,25 Prozent auf den Euro; das ist ein Drittel des (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie
gesamten Wirtschaftswachstums, das wir im letzten Jahr etwas zur Atomkraft!)
in Deutschland hatten. Damit sind wir beim Haushalt. Herr Heil, letztes Jahr
So weit, so gut. Dennoch ist natürlich nicht alles wun- haben auch Sie uns noch dafür kritisiert, dass wir für
derbar; wir können nicht sagen: „Weiter so!“ Der Euro 2010 bis 2014 ein Sparpaket in Höhe von 80 Milliarden
ist, was die Stabilität und die Inflation anbelangt, eine Euro geschnürt haben. Sie haben gesagt: Die Konjunktur
Erfolgsgeschichte. Heute stellt niemand in Europa mehr würde abgewürgt, man müsste das Gegenteil machen,
die Bedeutung einer geringen Inflation infrage. Das war man müsste Konjunkturprogramme auflegen, um die
vor 20 oder 30 Jahren anders. Es ist heute Morgen ange- Wirtschaft entsprechend anzuregen, man würde das zarte
sprochen worden, dass es deutsche Kanzler gab, die ge- Pflänzchen des Aufschwungs gleich wieder ersticken.
sagt haben: „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Ar- Das war die Kritik, die hier letztes Jahr an unserem
beitslosigkeit.“ Im Ergebnis hatten sie dann beides. Die Haushalt vorgebracht wurde. Was ist das Ergebnis? –
Kultur einer geringen Inflation, die in Deutschland ent- Wir hatten im letzten Jahr den größten Aufschwung seit
wickelt wurde, ist heute in Europa akzeptiert. der Wiedervereinigung. Gleichzeitig haben wir die
Nun müssen wir bei der Verschuldung zu einer ähnli- Haushaltskonsolidierung wieder auf den richtigen Weg
chen Entwicklung kommen; da hege ich Hoffnung. Man gebracht. Hier ist immer noch viel zu tun, aber wir wer-
kann entweder sagen, dass das Glas halb voll oder halb den das schaffen. Die Entwicklung ist weitaus besser als
(B) leer ist. Ich bin Optimist und sage: Das Glas ist halb voll. erwartet. In Europa liegen wir mit unserem Defizit von (D)
Ich hoffe, dass die jetzige schwierige Situation, die wir 1,5 Prozent an der Spitze. Vielleicht wird es sogar etwas
in Europa haben, in den Volkswirtschaften, in der Politik geringer sein.
und bei den Bürgern zu der Einsicht führt, dass es nicht Wir werden es in diesem Jahr als einzige Volkswirt-
mehr geht, dauerhaft über seine Verhältnisse zu leben. schaft innerhalb Europas wahrscheinlich sogar schaffen,
Vielmehr sind das Konsolidieren der Haushalte, das Spa- dass der Anteil der Verschuldung am Bruttoinlandspro-
ren, und die gleichzeitige Bereitstellung wettbewerbsfä- dukt zurückgeht, und zwar von 84 Prozent in Richtung
higer Produkte und Dienstleistungen der richtige Weg. 80 Prozent. Das heißt, wir sind bereits in diesem Jahr
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dorthin unterwegs, wohin wir in Europa insgesamt wol-
neten der FDP) len.
Meine Damen und Herren, das ist kein Zufall, son-
Wenn dies gelingt, dann kann in fünf oder zehn Jah-
dern das ist das Ergebnis einer klugen Politik der Konso-
ren in der Tat nicht nur Deutschland, sondern ganz Eu-
lidierung auf der einen Seite und einer Politik der
ropa besser dastehen, als dies heute der Fall ist. Ganz
Wachstums- und Wettbewerbsorientierung auf dem Ar-
Europa kann dann so dastehen, wie Deutschland es heute
beitsmarkt, auf dem Finanzmarkt und auf dem Güter-
tut. Wir sind besser aus der Krise herausgekommen, als
markt auf der anderen Seite.
wir in die Krise hineingegangen sind. Das war immer
unser Motto, das hat gestern auch die Frau Bundeskanz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lerin angesprochen. Europa hat dann die Chance, insge-
samt besser aus der Krise herauszukommen. Der Kollege Heil hat vorhin den Arbeitsmarkt ange-
sprochen und beklagt, was in diesem Bereich alles ge-
Dass dies nicht vom Himmel fällt, wie es hier zum kürzt würde. Tatsache ist, dass wir heute über 41 Millio-
Teil nach dem Motto dargestellt worden ist, das sei ein nen Menschen in Arbeit haben. Das sind so viele wie
Selbstläufer und selbstverständlich, sieht man, wenn noch nie. Wir haben weniger als 3 Millionen Arbeits-
man in die anderen europäischen Länder blickt. Gehen lose, und wir haben die Jugendarbeitslosigkeit halbiert.
Sie doch einmal nach Portugal, nach Spanien oder auch
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und einen ver-
nach Großbritannien, nach Italien oder nach Estland.
festigten Sockel von Langzeitarbeitslosen!)
Dort wurden in den letzten zwei Jahren zum Beispiel die
Gehälter im öffentlichen Dienst um 10 bis 30 Prozent Es ist daher doch klar, dass wir nicht mehr alle Institutio-
gekürzt. Wir leben in Deutschland auf einer Insel der nen und Instrumente brauchen, um diese Arbeitslosig-
Glückseligen; dies ist aber kein Zufall, sondern das Er- keit zu verwalten und zu betreuen. Selbstverständlich
14600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Joachim Pfeiffer


(A) muss auch dort gekürzt werden. Im Übrigen wollen wir, Zum Bereich Forschung und Technologie. Es ist ha- (C)
dass dieser Bereich flexibler wird. Wir wollen den Ar- nebüchen, dass hier die Förderung von Luft- und Raum-
beitslosen, den Arbeitswilligen und den Arbeitsuchen- fahrt kritisiert wird.
den unterstützen, indem die Bundesagentur vor Ort ge-
stärkt wird und sie ihre Mittel und Instrumente flexibler (Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/
einsetzen kann. CSU])

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ahnungslos! – Gerade diese Sektoren sind wichtig für die Zukunft.
Bettina Hagedorn [SPD]: Die Kassen sind Schauen Sie sich doch einmal an, wo das Wachstum auf
leer!) internationaler Ebene stattfindet. Wo haben wir die
Technologien? Nehmen wir unsere Luft- und Raum-
Wir wollen nicht das, was Sie wollen, nämlich jeden fahrtindustrie. Was wären wir denn heute ohne Airbus
Träger und jede Institution erhalten, die bisher durchaus oder EADS?
an der Verwaltung der Arbeitslosigkeit verdient haben.
Das ist Klientelpolitik, die wir nicht mitmachen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
sowie des Abg. Klaus Breil [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Lachen bei der SPD) Wo würden wir stehen? Diese Bereiche sind mit Steuer-
geldern aufgebaut worden. Deshalb werden wir auch Lö-
Wir werden vielmehr die Instrumentarien am Arbeits- sungen finden,
markt entsprechend entrümpeln.
(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit Klientel- NEN]: Subventionsabbau!)
politik kennen Sie sich besser aus, das
stimmt!) die den Erfolg im europäischen Verbund dauerhaft si-
chern und zukunftsträchtige Entwicklungen ermögli-
Wir werden auch im Bereich des Finanzmarkts wei- chen.
terarbeiten. Einiges wurde erreicht. Es wird so getan, als
wäre nichts passiert. Die Regulierung an den Finanz- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
märkten haben wir in Angriff genommen. Es gab deut- Sie blasen Subventionen rein! Ohne Ende! –
sche Alleingänge, die kritisiert wurden, zum Beispiel das Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was heißt das
Verbot konkret für die EADS, Herr Kollege?)

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ungedeckter – Wir werden Lösungen für die EADS finden, aber nicht
(B) Leerverkäufe!) auf dem offenen Markt. Wir werden die Technologie in (D)
Europa entsprechend sichern.
ungedeckter Leerverkäufe und anderes mehr. Es gibt in
Europa und auf der Welt noch viel zu tun, aber wir haben (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie denn? –
unsere Hausaufgaben gemacht. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Mit Subventionen!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)
– Es geht nicht um Subventionen.
Was wir auf nationaler Ebene tun konnten, haben wir ge-
tan. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Der Subventions-Pfeiffer!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch lange
nicht!) Wir werden Schwerpunkte in den Wachstumsberei-
chen Mittelstand, Energie und Nachhaltigkeit, Chancen
Zum Thema Gütermarkt. Es nützt nichts, zu sagen: der Globalisierung, Innovationen, Technologie, neue
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir müssen weiter ak- Mobilität und Nanotechnologie setzen. Wir wollen im
tiv werden, und wir sind aktiv. Die Änderung des Tele- Bereich Technologie nach vorne kommen. Wir werden
kommunikationsgesetzes, die vom Bundeswirtschafts- den Mittelstand entsprechend nach vorne bringen. Dann
minister vorgeschlagen wurde und dessen Umsetzung können wir das Wachstum, das wir haben, stabilisieren
sich in der Diskussion befindet, sorgt dafür, dass und für die Zukunft fortschreiben und damit die Ver-
Deutschland im Bereich Breitbandausbau weiter an der schuldung weiter reduzieren. Deutschland ist auf dem
Spitze bleibt und wir diese wichtige Infrastruktur in richtigen Weg, ein Vorbild für Europa zu werden. Es gilt,
Deutschland so etablieren, dass weiteres Wachstum entsprechend Kurs zu halten und Vollgas zu geben. Einer
möglich ist. europäischen Lösung für Konsolidierung und Wachstum
steht nichts mehr im Wege, wenn wir in Deutschland den
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da sind wir eingeschlagenen Weg konsequent umsetzen.
nicht an der Spitze!)
In diesem Sinne: Vielen Dank.
Auch in anderen Sektoren, beispielsweise bei der Post
und im Eisenbahnbereich, werden wir wettbewerbsori- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
entierte Regulierungen einführen.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nüßlein oder Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie?) Das Wort hat nun Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14601
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) (Beifall bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜND- Zum Konsum ist heute schon so manches gesagt wor- (C)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzähl denen mal et- den. Steuersenkungsdebatten helfen da überhaupt nicht.
was über Subventionen!) Aber dadurch, dass man 5 Millionen Menschen, die in
Deutschland für weniger als 8 Euro pro Stunde arbeiten,
Garrelt Duin (SPD): und mehr als 1 Million Menschen, die weniger als
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und 5 Euro pro Stunde verdienen, von diesem Schicksal be-
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister freit und einen Mindestlohn einführt, könnte man die
Rösler, ich hatte beim Amtswechsel von Herrn Brüderle Nachfrage in Deutschland stärken. Wer sich an dieser
zu Ihnen, das gebe ich zu, die leise Hoffnung, dass wir Stelle verweigert, ist wirklich blind.
einen Wirtschaftsminister für die Bundesrepublik (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Deutschland bekämen, der das ganze Amt stärker ausfül- der LINKEN)
len würde, der mit ein bisschen mehr Elan an die Sache
herangehen würde, der nicht immer nur reagiert, der Das Investitionsklima in Deutschland könnte man in
nicht nur immer hinterherhechelt und der nicht das sehr viel stärkerem Maße anheizen, als diese Koalition
Nichtstun im Nachhinein zur Strategie erklärt. das tut. Das wäre unter anderem mit einem Instrument
möglich, das – das möchte ich Ihnen an dieser Stelle vor-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das ist doch eine halten – in Ihrem Koalitionsvertrag steht, mit der steuer-
hohle Phrase!) lichen Forschungsförderung. Investitionsentscheidun-
gen international aufgestellter Unternehmen hängen
Es ist leider so – das kann man feststellen, auch am heu-
unter anderem von steuerlichen Bedingungen ab. Sie re-
tigen Tag –: Der Einzige, der wirklich Spaß an diesem
den immer allgemein über Steuersenkungen. Werden Sie
Wechsel hat, ist Brüderle. Er lebt wieder ein bisschen auf
doch einmal konkret und legen Sie, wie es in Ihrem Ko-
und muss nicht die fertigen Texte vorlesen, sondern kann
alitionsvertrag festgelegt wurde, einen Vorschlag zur
hier, wie zu alten Oppositionszeiten, versuchen, ein biss-
steuerlichen Forschungsförderung in Deutschland vor.
chen auf die Sahne zu hauen.
Die Unternehmen und die Gesellschaft warten darauf,
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sehr gute dass ein solches Instrument eingeführt wird. Handeln Sie
Reden, die wehtun!) endlich.
Sehr geehrter Herr Minister, wir sind wirklich ent- (Beifall bei der SPD sowie des Abg.
täuscht, dass Sie die Realitäten – das haben Ihre Rede Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
wie auch der gesamte Haushaltsplan heute zum Aus- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Fritz Kuhn [BÜND-
druck gebracht – nicht erkennen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar nichts!)
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie haben über Fachkräfte gesprochen. Vor einem
Jahr hat Ihr Vorgänger ein Positions- bzw. Strategiepa-
Sie feiern eine Party, die schon zu Ende ist. Sie gucken pier zur Beseitigung des Fachkräftemangels auf den
nach hinten. Sie gucken in die Vergangenheit. Sie erzäh- Tisch des Hauses gelegt. In diesem Papier standen ganz
len etwas von Zahlen, die in der Vergangenheit liegen. viele Punkte, die man alle umsetzen wollte. Passiert ist
Die aktuellen Zahlen haben Sie mit keinem Wort er- seit einem Jahr nichts. Lieber Herr Rösler, als Sie hier
wähnt. Heute ist überall nachzulesen: Im Juli hatte die von einer Willkommenskultur gesprochen haben, haben
deutsche Wirtschaft bei den Aufträgen für den Export ei- wir geklatscht. Da stehen wir an Ihrer Seite und sagen:
nen Einbruch von minus 7,4 Prozent zu verzeichnen. Ja, das müssen wir in Deutschland erreichen. Das, was
Das ist der stärkste Rückgang seit zweieinhalb Jahren. Herr Nüßlein hier, keine Viertelstunde später, stellvertre-
Im DB-Research-Bericht, der Ihnen allen zugegangen tend für die CSU und große Teile der CDU gesagt hat,
ist, steht als Überschrift – Herr Pfeiffer, Sie haben das war aber das Gegenteil von Willkommenskultur in
eben so wörtlich hervorgehoben –: „Deutschland: Nicht Deutschland.
länger die Insel der Glückseligen“. Wir stehen am Be-
ginn einer sehr kritischen Zeit. (Beifall bei der SPD)

(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Da sind Mit solchen Reden verhindern Sie, dass die Zuwande-
wir der gleichen Meinung!) rung stattfindet, die wir so dringend benötigen,

Als Bundeswirtschaftsminister muss man das Haus rüs- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Europäi-
ten, man muss sich präparieren für die kritische Zeit und scher Arbeitsmarkt!)
nicht die Party von gestern feiern. neben all den Maßnahmen zur Qualifizierung von Jun-
(Beifall bei der SPD) gen und Älteren, insbesondere mit Blick auf die Be-
schäftigungsquote von Frauen in Deutschland.
Man muss mehrere Dinge tun und das Problem auch auf
nationaler Ebene angehen. Der Kollege Brandner hat Neben den nationalen Herausforderungen gibt es eine
vorhin schon gesagt, dass man besser auf zwei gesunden Reihe von Dingen, die Sie, Herr Minister, auf der inter-
Beinen steht. nationalen und insbesondere auf der europäischen Ebene
bewerkstelligen können, wenn Sie dort endlich aktiv
Was ist mit der Binnennachfrage? Wir brauchen eine werden. Davon ist in den ersten Monaten Ihrer Amtszeit
Stärkung des Binnenkonsums und mehr Binneninvesti- aber genauso wie bei Ihrem Vorgänger nichts zu spüren.
tionen, das heißt mehr Investitionen in Deutschland. Am Dienstagabend waren wir gemeinsam auf einer Ver-
14602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Garrelt Duin
(A) anstaltung, bei der der deutsche EU-Kommissar, Herr der Energiewende erst recht bewusst – im Bereich der (C)
Oettinger, gesprochen hat. Er hat sehr klug gesprochen; Energienetze die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen
das will ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. voranbringen? Das TKG ist gerade angesprochen wor-
den. Der Streit in der Koalition verhindert, dass wir hier
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl jetzt endlich zu Potte kommen.
wahr! Sehr gute Rede!)
(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Gibt es da
Er hat zum Beispiel über die Energiepolitik gesprochen. Streit?)
Unter anderem hat er gesagt, dass für die Industrie, aber
auch für das Handwerk, Herr Hinsken, und für alle Bür- Finden Sie eine vernünftige Einigung. Dann können wir
gerinnen und Bürger das Thema Energiepreise von ent- in diesem Punkt gemeinsam vorankommen.
scheidender Bedeutung ist. Darum müssen wir uns küm-
mern. Wo ist Ihre Initiative, um die Energiepreise in (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dörmann hilft
Deutschland verträglich zu halten? Was Sie machen, ist euch!)
Augenwischerei und hat Bild-Zeitungs-Niveau. Sie schi- Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind mit den Aufga-
cken zum Beispiel das Kartellamt zu den Tankstellen. ben betraut, die FDP zu retten und dieses Land krisenfest
Damit lösen Sie das Problem zu hoher Energiepreise in zu machen. Konzentrieren Sie sich darauf – Sie schaffen
Deutschland doch nicht. Wir brauchen eine breit ange- es eh nicht, die FDP zu retten –, dieses Land krisenfest
legte Effizienzstrategie. Aus Ihrem Haus und von der zu machen. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die
Bundesregierung kommt aber nichts dazu. Fehlanzeige! nicht – so wie Sie – orientierungslos, planlos, konzep-
(Beifall bei der SPD) tionslos und tatenlos ist.

Es ist dringend erforderlich, dass die Industriepolitik (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Oh!)
auf europäischer Ebene koordiniert wird. Wir beobach- Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die in Deutschland
ten mit großer Sorge, dass die europäische Gesetzge- und auf europäischer Ebene wieder ein Gesicht hat.
bung, die massiven Einfluss auf die Betriebe in Deutsch-
land hat, zunehmend von Staaten in der Europäischen Herzlichen Dank.
Union gestaltet wird, die längst deindustrialisiert sind.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/
CSU])
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Angesichts dieses Umstands müssen wir und zuvorderst Das Wort hat nun Ernst Hinsken für die CDU/CSU-
der Bundeswirtschaftsminister auf europäischer Ebene Fraktion.
(B) auftreten. Dem müssen wir entgegenwirken. Dafür (D)
braucht man aber Mumm und Kraft. Das wäre wichtig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
für die Automobil-, die chemische und die Grundstoffin- neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]:
dustrie, für die Maschinenbau-, aber natürlich auch für Herr Hinsken, sagen Sie etwas zu EADS!
die Luft- und Raumfahrtindustrie. Bayerische Arbeitsplätze! – Gegenruf des
Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Weil das Thema Luft- und Raumfahrt heute schon NEN]: Aber nicht im Handwerk!)
von mehreren Rednern angesprochen worden ist, will
ich Ihnen Folgendes sagen: Durch die öffentliche Dis-
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
kussion über EADS, durch das öffentliche Überlegen,
wer die Anteile übernehmen könnte, ist das Ganze im Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
Grunde genommen schon zum Scheitern verurteilt. und Kollegen! Viele Deutsche, die den Urlaub im Aus-
Dann schreiben Sie in Ihrer Stellungnahme zum Thema land verbracht haben, erinnern sich, dass Sie dort gefragt
„Übernahme der Anteile durch die KfW“ – das ist ein worden sind: Wie haben Sie das in Deutschland nur ge-
Synonym für all das, was in dieser Wahlperiode aus dem schafft, dass Sie so blendend dastehen, dass Sie eine so
Wirtschaftsministerium kommt –, es gebe keine konkre- niedrige Arbeitslosigkeit haben, dass bei Ihnen die Wirt-
ten Planungen oder Festlegungen. Dies ist nicht nur schaft trotz der Finanzkrise und trotz der Wirtschafts-
schlecht für das, was bei EADS gerade passiert, sondern krise so hervorragend läuft? – Wir werden überall benei-
zieht sich durch alles durch. det, und bei uns versucht man, das Ganze so schlecht-
zureden wie irgendwie möglich.
Wir fragen in jeder Ausschusssitzung und in jeder Ob-
leutebesprechung, wann es eine Arbeitsplanung aus dem Ich möchte auf noch etwas hinweisen und einen
Bundeswirtschaftsministerium gibt. Jedes Mal werden wir Kronzeugen dafür zitieren, wie es bei uns läuft, wie wir
vertröstet. Es kommt nichts, weil nichts in Arbeit ist, weil von anderen betrachtet werden. Der französische Pre-
nichts in Planung ist, weil dieses Wirtschaftsministerium mierminister Fillon sagt:
tatenlos ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind da- Die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-
ran nicht schuld; sie würden gerne etwas tun, aber bekom- lands ist ein Glück für Europa. Meine Regierung
men von der Spitze keine Ansage. hat sich zum Ziel gesetzt, unsere Industrie genauso
Wo ist zum Beispiel Ihr Beitrag für eine der größten wettbewerbsfähig zu machen wie die deutsche.
Aufgabenstellungen in unserer Republik, die lautet: Wie (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bravo!)
können wir im Konsens im Bereich der Telekommunika-
tion, des Verkehrs und natürlich – dies ist uns allen nach Ist das nicht toll?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14603
Ernst Hinsken
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Georg insbesondere was die Konjunkturprogramme anbelangt. (C)
Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist toll!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danke schön!)
Sollten wir darüber nicht glücklich sein? Die Franzosen
Sie waren richtig, vernünftig und dringend erforderlich.
sind nicht klüger als wir Deutsche, aber sie sind anschei-
Sie haben sich positiv ausgewirkt, weil dadurch auch die
nend ein bisschen ehrlicher als Sie auf der linken Seite
Binnenwirtschaft angekurbelt werden konnte.
dieses Hauses.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gegen die
Das, was Sie heute hier geboten haben, spottet jeder
FDP!)
Beschreibung.
Auch das muss in diesem Zusammenhang erwähnt wer-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh!)
den.
Das waren zum Teil – Herr Kollege Heil, das bin ich von
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was sind über-
Ihnen nicht gewöhnt – Hasstiraden ohnegleichen.
haupt die wichtigsten Ressourcen, die wir in der Bundes-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na, na! – Rolf republik Deutschland haben? Bodenschätze haben wir
Hempelmann [SPD]: Ernst!) nicht. Aber wir haben sehr viel Wissen in den Köpfen.
Wir brauchen dringend eine hervorragende Bildung.
Ich habe das Gefühl, Sie könnten zusammen eine neue Meines Erachtens ist auch anzuerkennen, dass die deut-
Partei mit dem Namen „ASR“ gründen. Was heißt das? sche Wirtschaft – das ist vielfach unbekannt – pro Jahr
Alles schlechtreden. Mehr können Sie nicht. Das haben 30 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, um die Bildung
Sie heute ausgiebig gezeigt. zu fördern. Der Bund stellt dafür in diesem Jahr 12 Mil-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und liarden Euro zusätzlich bereit. Ich möchte die Millionen-
der FDP) beträge, die hinzukommen, nicht erwähnen, weil dies
den zeitlichen Rahmen sprengen würde.
Wir sind auf das Geschaffene stolz. Wir haben einen
Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland so gut dasteht. Noch etwas: Das duale System in der Bundesrepublik
Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen. Deutschland ist – das sollte von allen Seiten anerkannt
werden – unser Erfolgsrezept schlechthin. Wo gibt es das
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer ist denn denn noch? Überall auf der Welt wird es kopiert. Das
„wir“?) duale Berufsausbildungssystem ist das am besten geeig-
Der Fleiß der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nete Konzept, um erfolgreich Fachkräfte auszubilden
nehmer und vor allen Dingen die Kreativität der Unter- und so künftig im Wettbewerb bestehen zu können.
(B) nehmer haben die Grundlage dafür geschaffen, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
so hervorragend dastehen.
Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen: Sie,
Es ist bereits mehrmals – auch von Ihnen, Herr Minis- Herr Minister Dr. Rösler, und Ihr Vorgänger, Herr
ter Dr. Rösler – auf die Arbeitslosigkeit verwiesen wor- Brüderle, haben mit uns im Koalitionsvertrag das Ziel
den. formuliert, einen Bürokratieabbau vorzunehmen. Was
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie geht es haben wir getan?
weiter?) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nichts!)
Die Arbeitslosenquote in der EU beträgt 9,1 Prozent, in Wir haben uns vorgenommen, die Bürokratie um 25 Pro-
der Bundesrepublik Deutschland 7 Prozent. Die Jugend- zent zu reduzieren. Eine Senkung um 22,6 Prozent haben
arbeitslosigkeit ist in den USA doppelt so hoch, in wir bereits erreicht.
Frankreich zweieinhalbmal so hoch, in Italien dreimal so
hoch und in Spanien sage und schreibe fünfmal so hoch (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer sagt das?)
wie in Deutschland. Wir sollten bereit sein, das anzuer- – Ich sage das. Ich kann Ihnen auch genau sagen, um
kennen und zu würdigen. Reden wir nicht alles schlecht! was es sich dabei handelt. Wenn Sie mir eine Zwischen-
Seien wir stolz darauf, was wir alles zusammen mit un- frage stellen – dann bekomme ich nämlich eine Rede-
seren Mitbürgern geschafft und geleistet haben! zeitverlängerung –,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Besonders freut mich, dass vor allen Dingen die Mit- bin ich gerne bereit, Herr Heil, darauf einzugehen.
telständler, die eine tragende Säule unserer Gesellschaft
sind, die Lage positiv beurteilen. Niemand von ihnen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Den Gefallen
rechnet im kommenden Jahr mit einer Rezession. Es tue ich Ihnen nicht!)
wurde natürlich auch in der Vergangenheit viel Positives
Aber das tun Sie ja nicht.
geleistet. Ich wäre nicht ehrlich genug, wenn ich bestrei-
ten würde, dass gerade in der letzten Wahlperiode von (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann würden
der Großen Koalition richtige Weichenstellungen vorge- Sie ja nicht mehr aufhören!)
nommen worden sind,
Herr Minister Dr. Rösler, ich meine, wir brauchen ei-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herzlichen nen großen Wurf. Ein großer Wurf beim Bürokratieab-
Dank für die Ehrlichkeit!) bau wäre für mich zum Beispiel, die Voraussetzungen
14604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Ernst Hinsken
(A) dafür zu schaffen, dass die Aufbewahrungsfristen, unter (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten aller (C)
anderem im Hinblick auf Steuererklärungen oder bei Be- Fraktionen)
legen im sozialen Bereich, in Zukunft von zehn auf fünf
darum besorgt sein, dass wir bei der europäischen Kohä-
oder zumindest sieben Jahre verkürzt werden können.
sionspolitik nicht den Kürzeren ziehen, dass wir bei der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Verteilung der Mittel mit dabei sind, dass bei der Neuab-
der FDP) grenzung die richtigen Maßnahmen ergriffen werden,
dass die strukturschwachen Gebiete – um es so zu for-
Das würde eine Entlastung von 3 bis 5 Milliarden Euro
mulieren – nicht vor die Hunde gehen und dass vor allen
bringen. Vor allen Dingen würden wir die Voraussetzun-
Dingen das Leben auf dem Lande auch in strukturschwa-
gen dafür schaffen, dass Bürokratie abgebaut werden
chen Gebieten weiterhin interessant bleibt.
kann.
(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
NEN]: Raumfahrt! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
Wir könnten ja auch Steuersenkungen ma-
chen!) DIE GRÜNEN]: Was ist mir der Raumfahrt?)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, noch Dafür sorgt diese Regierung. Sie wurde dafür gewählt.
ganz kurz wenige Worte zum Thema Energie. Energie ist Ich bin der festen Überzeugung, dass das auch so umge-
ein bedeutender Wettbewerbsfaktor. Hier gilt es, den setzt wird, weil wir es dringend brauchen und weil es der
Umstieg richtig und klug zu managen. Ich habe bei Ih- Zukunft unserer Bundesrepublik Deutschland dient.
nen, Herr Minister Dr. Rösler, keine Bange, dass Sie ihn Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
richtig angehen und die notwendigen Maßnahmen er-
greifen. Ich erwähne wiederum Frankreich: In Frank- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
reich ist Strom um fast die Hälfte billiger als bei uns. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollten noch
etwas zu EADS sagen! – Fritz Kuhn [BÜND-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Dann tun NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war jetzt nichts
Sie doch etwas!) mit Raumfahrt!)
Das ist ein Wettbewerbsnachteil ohnegleichen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann tun Sie
Das Wort hat Michael Luther von der CDU/CSU-
mal etwas!)
Fraktion.
Die letzte Bemerkung. Insbesondere in ländlichen Be-
reichen der Bundesrepublik Deutschland haben wir (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil
(B) [Peine] [SPD]: Herr Luther, warum kürzen Sie (D)
große Sorgen. Der demografische Wandel bringt mit
sich, dass mehr und mehr Landflucht zu verzeichnen ist. die regionale Wirtschaftsförderung, die Herr
Wir müssen alles tun, um der Landflucht entgegenzuwir- Hinsken haben will?)
ken. Ich bitte Sie, Herr Minister, sich dafür einzusetzen,
dass für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Dr. Michael Luther (CDU/CSU):
regionalen Wirtschaftsstruktur“ weiterhin Mittel zur Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Verfügung gestellt werden, die wir dafür dringend brau- Kollegen! Wir nähern uns jetzt dem Ende der Haushalts-
chen. debatte. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Regierungs-
vorlage und das, was als Haushalt erarbeitet worden ist,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der den Haushältern überantwortet werden.
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die wer- Ich bin mit großer Aufmerksamkeit dieser Debatte
den gerade gekürzt!) gefolgt. Es sind, denke ich, ein paar gute Anregungen
gemacht worden, die wir berücksichtigen werden und
Sie hat sich bewährt. Allein in den letzten zehn Jahren
wollen, aber es sind auch viele Dinge gesagt worden, für
wurden im Rahmen der GRW 150 000 neue Arbeits-
die ich wenig Verständnis habe. Darauf werde ich noch
plätze geschaffen.
im Einzelnen eingehen.
(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
Ich glaube, dass wir – das kann ich Ihnen versprechen –
[SPD])
das, was hier gesagt worden ist, in den Haushaltsbera-
In den letzten 20 Jahren wurde dafür in der Bundesrepu- tungen aufnehmen und unter der Maßgabe einer sparsa-
blik Deutschland ein Betrag von 50 Milliarden Euro zur men Haushaltsführung abwägen werden. Dann werden
Verfügung gestellt. Dies hat sich positiv niedergeschla- wir versuchen, es entsprechend zu berücksichtigen.
gen.
Bevor ich jedoch etwas zu dem Einzelplan selbst
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber warum sage, sollten wir vielleicht einen Moment innehalten und
kürzen Sie dann da?) feststellen, dass wir auf die momentane Situation in
Deutschland stolz sein können. Der deutschen Wirt-
Wenn es in diese Richtung ginge, wäre es der Sache
schaft geht es gut. Wir haben ein ziemlich hohes Wirt-
dienlich.
schaftswachstum, eine niedrige Arbeitslosenquote und
Das Allerletzte. Wir müssen alle zusammen – von eine hohe Beschäftigungsquote, auch was Vollzeitbe-
ganz links bis zu uns herüber – schäftigung und die sozialversicherungspflichtigen Ar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14605
Dr. Michael Luther
(A) beitsverhältnisse anbelangt. Sie ist höher als die, die wir (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
in den letzten 20 Jahren hatten. Dann sollten Sie auch mal liefern! Nicht im-
mer nur davon reden!)
Ein Problem der Wirtschaft – ein paar Dinge dazu
sind genannt worden – ist der Fachkräftemangel. Wenn Es wird ein deutliches Signal auch im Haushalt des Bun-
man Leuten im europäischen Ausland sagt, was unsere deswirtschaftsministers gesetzt, etwas für die Fachkräf-
Probleme hier in Deutschland sind, dann schütteln sie tegewinnung, Fachkräftesicherung und berufliche Bil-
nur den Kopf. Letztendlich handelt es sich bei vielem dung zu tun. Das braucht unsere Wirtschaft, und das ist
von dem, was angesprochen wurde, um Luxusprobleme. ein richtiges Signal.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein zweiter Punkt. Wichtige Wurzeln unserer Wirt-
schaft sind der industrielle Mittelstand und das hochqua-
Deshalb will ich an dieser Stelle kurz innehalten und sa- lifizierte Handwerk. Beide sind darauf angewiesen, neue
gen: Das ist auch gut so. und innovative Produkte auf den Markt zu bringen. Für
das, was die große Industrie in ihren Forschungsabtei-
Wir haben auch festzustellen: Politik hat Einfluss auf lungen erledigt, braucht der Mittelstand Unterstützung,
die Lage eines Landes. Und die gute Lage des Landes ist damit die Ideen der Mittelständler umgesetzt werden
auch Resultat einer guten Regierung unter Angela können. Diese Unterstützung kann nur in Kooperation
Merkel als Bundeskanzlerin. mit Hochschulen und Forschungsinstituten erfolgen. Das
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bewährte Instrument dafür ist das Zentrale Innovations-
Jetzt ist es raus! – Garrelt Duin [SPD]: Rau- programm Mittelstand, dessen Mittel 2012 um 29 Pro-
schender Beifall! – Hubertus Heil [Peine] zent gesteigert werden sollen. Das ist ein richtiges Signal
[SPD]: La-Ola-Wellen! Winkelemente!) und eine Antwort auf die Frage der Zeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es ist aber auch richtig, dass wir nicht ausruhen dürfen.
neten der FDP)
Wir leben nach wie vor in schwierigen Zeiten. Die
Schuldenkrise vieler Länder – angefangen bei Amerika Das Thema Luft- und Raumfahrt ist hier auch kritisch
bis hin zu einigen europäischen Staaten – belastet die betrachtet worden. Ich will dazu ein Stichwort nennen:
Zukunftsaussichten und die Märkte gewaltig. Trotzdem Hochtechnologie. Wer in der Welt spitze sein will,
glaube ich: Der Euro ist die richtige Antwort auf die He- braucht Spitzentechnologie. Entscheidende Entwicklun-
rausforderungen einer globalen Welt. gen im Bereich der Hochtechnologie werden nun einmal
auch in der Luft- und Raumfahrt auf den Weg gebracht.
Wir haben allerdings festzustellen, dass ein Teil unse- Deswegen halte ich es für richtig, dass hierfür ein erheb- (D)
(B) rer heutigen Probleme darin besteht, dass bei der Einfüh-
liches Budget bereitgestellt wird, um diesen Weg – die
rung des Euro nicht ausreichend geregelt wurde, dass Erfahrungen, die wir damit in den letzten Jahren gewon-
sich die Staaten letztendlich an Stabilitätskriterien zu nen haben, sind gut – weiterzuverfolgen.
halten haben. Aber ich füge hinzu: In jeder Krise liegt
auch eine Chance. Wir sollten die Chance nutzen und Energieforschung ist ein weiteres Stichwort. Mit dem
jetzt in Europa die richtigen Zeichen setzen. beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie und unse-
rem Energiekonzept hin zu erneuerbaren Energien und
An dieser Stelle will ich auch ganz klar sagen: Das, zu mehr Energieeffizienz und Sparsamkeit haben wir
was die Bundeskanzlerin, der Finanzminister und auch eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen. Mit
der Wirtschaftsminister in den letzten Wochen und Mo- dem Umbau unserer Energieversorgung werden wir eine
naten geleistet haben und noch leisten müssen, sind rich- internationale Vorreiterrolle einnehmen. Aber dies ist
tige Schritte in die richtige Richtung. Ich glaube, wir eine große Herausforderung.
werden gut aus der Krise herauskommen.
Klimaschutz. Die Stichworte Elektromobilität und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Energieforschung benennen hier wichtige Zukunftsfel-
der. Auch hier setzt der Haushalt des Bundeswirtschafts-
Was kann nun das Bundeswirtschaftsministerium tun,
ministeriums einen Schwerpunkt.
um die Lage im Land weiter zu stabilisieren? Ich denke,
die Lage in Europa mit der Staatsschuldenkrise und in Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ausfüh-
Amerika zeigt eines: Schulden sind Gift – ganz beson- ren, und zwar auch in eigener Sache. Vor 20 Jahren war
ders dann, wenn sie aus dem Ruder laufen. Deswegen ist ich Berichterstatter für das Thema Wismut. Damals ist
das Gebot der Stunde: sparsame Haushalte. Wir werden die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut in
in den Haushaltsberatungen prüfen, wo weniger möglich die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland
ist. Das ist auch im Sinne unserer deutschen Wirtschaft übergeben worden. Es wird nachher im Bundeswirt-
und aller Deutschen. schaftsministerium eine Veranstaltung mit dem Titel
„20 Jahre Wismut GmbH“ geben. Auf die Sanierungs-
Deutschland lebt nicht von Dienstleistungen. Unser arbeiten, die dabei geleistet worden sind, können wir
Land ist deshalb so stark, weil wir eine starke indus- wirklich stolz sein.
trielle Basis haben. Diese gilt es zu stärken. Deswegen
muss man sich fragen: Was braucht die Industrie? Ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Punkt – das ist auch schon von anderen erwähnt worden – bei Abgeordneten der SPD – Iris Gleicke
ist das Thema Fachkräfte. [SPD]: Das ist wohl wahr! Das stimmt!)
14606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Michael Luther


(A) Worüber ich mich besonders freue, ist, dass es wahr- auch höhere Steuereinnahmen für den Finanzminister (C)
scheinlich heute gelingen wird, einen Vertrag zu unter- durch mehr Löhne. Es fallen aber auch Zentnerlasten
zeichnen, auf dessen Grundlage die Rekultivierung, die von der Bundesagentur für Arbeit, weil sie bei mehr Ar-
Wismut-Sanierung, bis über das Jahr 2022 hinaus fortge- beit weniger Ausgaben für das Arbeitslosengeld und
setzt wird. Ich denke, dann ist dieses Thema abgearbei- steigende Einnahmen durch mehr Beiträge in der Ar-
tet. Dafür bin ich sehr dankbar und will das an dieser beitslosenversicherung hat.
Stelle auch zum Ausdruck bringen.
Deshalb können wir auch die Bundesbeteiligung an
Ich komme zum Schluss. Ich danke dem Minister und der Arbeitsförderung schrittweise und früher zurückfah-
dem Haus für die gute Vorarbeit. Der Haushalt liegt jetzt ren. Das Darlehen der Bundesagentur für Arbeit wird in
in den Händen des Parlamentes. Wir werden mit ihm diesem Jahr voraussichtlich überschaubare 2 Milliarden
sorgsam umgehen. Ich wünsche uns allen gemeinsam Euro betragen. Im nächsten Jahr wird es nicht mehr nö-
eine gute Beratung. tig sein. Ab 2014 kann die Bundesagentur für Arbeit be-
reits wieder anfangen, eine Rücklage zu bilden. Auch
Danke schön.
aus diesen Zahlen spricht der Erfolg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir haben im Augenblick rund 1 Million offene Stel-
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen len. Die Unternehmen suchen händeringend Mitarbeite-
nicht vor. rinnen und Mitarbeiter. Das bedeutet auch, dass wir in
der Arbeitsmarktförderung die Schwerpunkte jetzt rich-
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des tig setzen müssen. Wir können nicht mehr die Rezepte
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Einzel- aus den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit anwenden, wo
plan 11. Das Wort hat Bundesministerin Ursula von der es in der Tat schwierig war, Beschäftigung zu finden,
Leyen. und sehr viele Menschen in künstlicher Beschäftigung
(Beifall bei der CDU/CSU) gehalten worden sind, um Struktur in den Alltag zu be-
kommen und um Beschäftigung – zumindest künstlich –
aufrechtzuerhalten. Nein, wir müssen jetzt in der Ar-
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für beitsmarktförderung die Schwerpunkte konsequent auf
Arbeit und Soziales: Aktivierung, Qualifizierung und Weiterbildung setzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Das spricht auch aus den Zahlen dieses Haushaltsplans.
möchte den Einzelplan des Ministeriums für Arbeit und
(B) Soziales einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D)
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Schauen wir uns einmal die Daten auf dem Arbeits- GRÜNEN]: Wenn Sie es denn nur täten!)
markt an: Die Zahl der Erwerbstätigen beträgt 41 Millio-
nen. Seit der Wiedervereinigung ist sie noch nie so hoch Dass sich diese neue Schwerpunktsetzung auf passge-
gewesen. Darunter sind allein 28 Millionen sozialversi- naue Lösungen lohnt, zeigt die Weichenstellung des ver-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir ha- gangenen Jahres. Der Bundestag hat Mittel für eine För-
ben in der Krise mit 6 Millionen Arbeitslosen gerechnet. deroffensive für Alleinerziehende bereitgestellt. Wir
Heute haben wir stattdessen unter 3 Millionen Arbeits- haben jetzt ein Jahr Zeit gehabt, die neuen Instrumente
lose. Bei den Langzeitarbeitslosen haben wir den nied- passgenau zu nutzen, und können sagen, dass diese
rigsten Stand seit Einführung von Harz IV. Die Jugend- Frauen – in 95 Prozent der Fälle sind es Frauen – mit den
arbeitslosigkeit liegt deutlich unter 10 Prozent. Das ist Kindern die Netzwerke der Unterstützung brauchen, um
die Hälfte der Quote, die wir im europäischen Durch- Arbeit zu finden und annehmen zu können.
schnitt zu verzeichnen haben.
Die Ergebnisse können sich sehen lassen; denn der
Meine Damen und Herren, die von Angela Merkel ge- Rückgang der Arbeitslosigkeit bei den langzeitarbeitslo-
führte Regierung ist am Arbeitsmarkt die erfolgreichste sen Alleinerziehenden – einer Gruppe, bei der sich über
deutsche Regierung der letzten 20 Jahre. Jahre keinerlei Bewegung zeigte – ist inzwischen höher
als der Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit über-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haupt. Das zeigt, dass die Einführung dieser passge-
Deshalb ist der Haushalt des Bundesministeriums für nauen Instrumente und dieser individuellen, auf die
Arbeit und Soziales auch ein Haushalt, aus dem der Er- Gruppen hin ausgerichteten Betreuung die richtige Ant-
folg spricht. wort gewesen ist.
Wir haben in der Krise für das Jahr 2012 noch mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
145 Milliarden Euro für diesen Haushalt geplant. Tat-
Inzwischen haben wir nämlich festgestellt, dass die
sächlich können wir heute mit knapp 127 Milliarden
Haltung, es habe keinen Zweck, diese Frauen in Arbeit
Euro für das nächste Jahr planen. Das macht 18 Milliar-
zu vermitteln, weil sie sich um Kinder kümmern müss-
den Euro an Ersparnis – schlicht und einfach, weil mehr
ten, nicht mehr richtig ist, sondern dass umgekehrt ein
Menschen in Arbeit sind.
Schuh daraus wird: Gerade weil die Frauen Kinder ha-
Mehr Menschen in Arbeit – das bedeutet nicht nur ben, brauchen sie die Hilfe durch Kinderbetreuung, fa-
weniger Ausgaben für das Arbeitslosengeld, sondern milienfreundliche Arbeitsplätze und Netzwerke im All-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14607
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) tag, damit sie ihr eigenes Einkommen verdienen sowie stellen, statt weiterhin auf die Mogelpackung 1-Euro-Job (C)
für ihre Rente sorgen können und damit auch für sich zurückzugreifen. Da gehören die Jugendlichen nicht hi-
und die Kinder Zukunft und Perspektive finden. nein. Qualifizierung, Aktivierung und Weiterbildung:
Das muss die Grundlage für die Jugendwerkstätten sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Der nächste Schwerpunkt, der mir wichtig ist, ist Wei-
neten der FDP)
terbildung und Qualifizierung. 2005 haben wir bei
5 Millionen Arbeitslosen 2 Milliarden Euro in Weiterbil-
dung investiert. Heute, bei weniger als 3 Millionen Ar- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
beitslosen, haben wir die Mittel auf 3 Milliarden Euro Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
gesteigert. Das heißt: Wir investieren ganz gezielt in Kollegen Heil?
Weiterbildung, weil das auch die Grundlage dafür ist,
dass wir in der Zukunft ausreichend Fachkräfte haben. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Arbeit und Soziales:
Ja.
Besonders wichtig ist mir der Schwerpunkt bei den
jungen Menschen. Wir investieren dafür 3,2 Milliarden
Euro in den Bereichen SGB II und SGB III aus Steuer- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und Beitragsmitteln. Im laufenden Jahr wird es noch Bitte schön.
mehr sein als im vergangenen Jahr. Das ist klug inves-
tiertes Geld. Davon profitieren 500 000 junge Menschen Hubertus Heil (Peine) (SPD):
im Übergang von der Schule in Ausbildung und Lehre
Frau Ministerin, wenn uns beiden die Jugendwerk-
und dann hoffentlich auch in den Beruf. Viele der Ju-
stätten in unserer niedersächsischen Heimat so am Her-
gendlichen haben multiple Schwierigkeiten. Häufig fehlt
zen liegen, dann bitte ich Sie, zu dem, was zumindest in
der Schulabschluss; es gibt soziale Schwierigkeiten und
Ihrem Entwurf vorgesehen ist – ich hoffe, dass sich bei
Probleme, die Lehre durchzuhalten.
der Instrumentenreform noch Änderungen ergeben –, zur
Dieses Engagement wird die Bundesregierung mit der Kenntnis zu nehmen, was durch die Anhörung, vielleicht
Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente weiter auch durch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und
verstärken und verstetigen. durch Rückmeldungen aus Niedersachsen deutlich
wurde: Unabhängig davon, dass Sie das Volumen für die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Arbeitsmarktförderung massiv herunterfahren – da beißt
(B) neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: die Maus keinen Faden ab; das können Sie noch so sehr (D)
Im Gegenteil! Sie kürzen, und das wissen Sie!) schönreden –, werden rein rechtlich bestimmte Kofinan-
– Weil Sie gerade so munter dazwischenrufen, Herr Heil: zierungen künftig nicht mehr möglich sein, sodass die
Sie haben vorhin die niedersächsischen Jugendwerkstät- Strukturen zusammenbrechen.
ten angesprochen. Sie liegen mir sehr am Herzen, weil
Ich habe noch eine Frage an Sie. Sie beziehen sich
ich sie als niedersächsische Sozialministerin mit aller
immer wieder auf das Institut für Arbeitsmarkt- und Be-
Kraft unterstützt habe. Das gilt auch heute noch. Es geht
rufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Können Sie
aber nicht an, dass das Geschäftsmodell dafür genutzt
mir erklären, warum die Mittel für den Gründungszu-
wird, um junge Menschen in 1-Euro-Jobs zu bringen.
schuss, der von diesem Institut als hoch erfolgreiches In-
Junge Menschen haben in 1-Euro-Jobs nichts zu suchen.
strument bewertet wird, damit Menschen sich aus der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen können,
von Ihnen so dramatisch zurückgeführt werden? Bei Ih-
Sie brauchen Aktivierung und Qualifizierung. nen passen Reden und Handeln mal wieder nicht zusam-
Ich kann aus dem Gutachten des Instituts für Arbeits- men, Frau von der Leyen, auch wenn Sie schöne Girlan-
markt- und Berufsforschung zitieren, das übrigens im den herumwinden.
Auftrag des Hamburger Senats erstellt wurde. Darin
heißt es: Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Ein langzeitarbeitsloser 1-Euro-Jobber hat gerin- Arbeit und Soziales:
gere Chancen auf einen regulären Job als ein Lang- Erstens zu der Frage der Jugendwerkstätten, Herr
zeitarbeitsloser, der überhaupt keine Förderung be- Heil. Jugendliche gehören nicht in 1-Euro-Jobs. Ich
kommt. glaube, darin sind wir uns einig.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gründungs- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist nicht
zuschuss!) der Punkt!)
Das heißt, wir müssen fragen: Was bewirken eigentlich Das ist bisher die Finanzierungsgrundlage gewesen, und
die 1-Euro-Jobs? das war nicht richtig.
Bei den Jugendlichen sind mir Qualifizierung und Ak- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tivierung wichtig. Deshalb müssen wir die Arbeit der Ju- NEN]: Weil Sie ihnen keine Arbeit gegeben
gendwerkstätten auf solide und nachhaltige Grundlagen haben!)
14608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) Jugendliche brauchen vielmehr Qualifizierung und Akti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
vierung. neten der FDP)
(Katja Mast [SPD]: Ausbildung!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Genau darauf stellen wir um. Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert von den Linken?
Deshalb werden am morgigen Tag das Bundesarbeits-
ministerium, das niedersächsische Sozialministerium,
die Jobcenter und die Träger zusammentreffen, um diese Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
passgenaue neue Finanzierung für die gute Arbeit der Ju- Arbeit und Soziales:
gendwerkstätten sicherzustellen. Nein, ich komme jetzt zum zweiten Teil, nämlich zum
Thema Rente, sonst kommt dieses Thema gar nicht mehr
Deshalb bitte ich Sie, nicht länger so zu tun, als wäre dran.
das der Zusammenbruch der Jugendwerkstätten,
Mir ist wichtig, zu sagen, dass die Menschen bei die-
(Anette Kramme [SPD]: Er ist es!) ser Arbeitsmarktlage nicht nur mehr Chancen haben, in
Arbeit zu kommen, sondern dass auch mehr Beiträge in
nur weil wir die Bezahlung für die Arbeit der Jugend- die Sozialversicherung gezahlt werden. Damit haben wir
werkstätten von der Mogelpackung 1-Euro-Jobs auf eine mehr Möglichkeiten, eine demografiefeste Vorsorge für
nachhaltige, solide Finanzierungsgrundlage stellen. das Alter zu schaffen. Wir haben ein stabiles, ein demo-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) grafiefestes Rentensystem, für das wir international ge-
lobt werden. Die OECD sagt, dass die Leitplanken, die
Zweitens zum Gründungszuschuss. Wir haben offen- aufgestellt worden sind – Berechenbarkeit der Entwick-
sichtlich beide das Gutachten gelesen, aber Sie haben lung des Beitragssatzes, Entwicklung des Rentenniveaus
den zweiten Teil nicht zitiert, nämlich dass es bei 70 Pro- und private Vorsorge als zweites Standbein –, vorbildlich
zent derer, die den Gründungszuschuss in Anspruch ge- sind.
nommen haben, um Mitnahmeeffekte geht.
Ich möchte die beiden Grundprinzipien herausstellen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das erste Grundprinzip ist, dass die Rente aufgrund von
NEN]: Das stimmt nicht! – Gegenruf des Abg. Arbeitseinkommen und privater Vorsorge möglich ist,
Max Straubinger [CDU/CSU]: Das steht doch und das zweite Grundprinzip ist, dass die Beiträge die
drin!) jüngere Generation nicht überfordern. Wenn die Linke
jetzt jedem eine Durchschnittsrente zahlen will, dann
(B) Das hat auch das IAB so bezeichnet. Daraus spricht die schert sie alle über einen Kamm. Dann ist es ganz egal, (D)
Erkenntnis: Wenn sich jemand selbstständig machen ob sich ein Geringverdiener ein ganzes Leben lang
will, dann muss er erstens ein solides und tragfähiges krummgelegt und hart gearbeitet hat oder ob jemand
Konzept haben – das setzen wir voraus – und sich zwei- überhaupt nicht gearbeitet hat. Das unterhöhlt die Fun-
tens auch relativ früh, also in einer absehbaren Zeit, da- damente unseres Rentensystems und ist ungerecht. Das
für entscheiden, statt erst in der Langzeitarbeitslosigkeit wollen wir nicht.
– oder bevor diese eintritt – eine Notgründung zu ma-
chen. Den Effekt dieser Notgründungen sehen wir daran, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dass 120 000 Selbstständige zusätzlich Aufstocker sind. neten der FDP)
Das kann doch nicht das Ziel einer Gründung sein, und Die Rente muss der Lohn für die eigene Lebensleistung
das in einer Zeit, in der es offene sozialversicherungs- bleiben.
pflichtige Arbeitsplätze gibt, die die Menschen besetzen
können. Wir haben im Augenblick die Situation, dass die
große Mehrheit der Älteren, also derjenigen über
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 65 Jahre, eine eigene Rente hat. Es handelt sich um
neten der FDP) 97,5 Prozent. Wir wissen aber auch, dass in Zukunft
Deshalb: Weg von den alten Rezepten aus der Zeit der Familienstrukturen und Erwerbsbiografien vielfältiger
Massenarbeitslosigkeit. Damals waren sie richtig, aber werden. Es gibt Zeiten der Ganztagsarbeit, der Teilzeit,
heute sind sie nicht mehr adäquat. Wir müssen weg von Arbeit mit geringem Einkommen, unsichere Arbeitsver-
der künstlichen Beschäftigung. hältnisse usw. Wir müssen dafür sorgen, dass in Zukunft
gerade Menschen mit geringem Einkommen oder mit
Die 1-Euro-Jobs sind richtig für Menschen, die der- verschiedenen Aufgaben – Kindererziehung, Pflege,
zeit, wo der Arbeitsmarkt aufnahmefähig wie ein Teilzeitjobs – wissen, dass auch sie sich eine eigene
Schwamm ist, überhaupt keine Chance haben. Aber ein Rente verdienen können; denn eine Gesellschaft im de-
großer Teil der Langzeitarbeitslosen bekommt jetzt eine mografischen Wandel lebt davon, dass die Menschen ar-
neue Chance. Das sieht man auch daran, dass wir zwar beiten, Kinder erziehen und Ältere pflegen.
die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik gekürzt ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ben, die Langzeitarbeitslosigkeit aber nicht gestiegen ist. neten der FDP)
Im Gegenteil, sie ist gesunken. Das zeigt, dass die Men-
schen auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit gefunden ha- Mir geht es vor allem um Frauen, die in den 50er-,
ben. 60er- und 70er-Jahren geboren wurden und die ihre Kin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14609
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) der in den letzten Jahren großgezogen haben. Diese ha- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommt jetzt (C)
ben keine Kindergartenplätze gehabt, ganz zu schweigen die Goldreserve, Frau Ministerin?)
von einem Krippenplatz. Das Wort „Ganztagsschule“ ist
Deutschland geht es gerade gut. Ich sage: Jetzt ist die
ein Fremdwort gewesen. Die Unternehmen hatten mit
richtige Zeit für die richtigen Anreize.
dem Thema „Vereinbarung von Familie und Beruf“ noch
nichts am Hut. Wenn die Frauen gearbeitet haben, haben Vielen Dank.
sie Jobs mit geringen Einkommen gehabt. Seit zehn Jah-
ren wissen sie, dass sie privat vorsorgen müssen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heißt, sie müssen riestern, wenn es irgendwie geht. Diese
fragen sich zu Recht, ob sie eine eigene Rente haben Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
werden, wenn sie all das geleistet haben, oder ob sie in Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollege
der Grundsicherung landen werden. Das Gleiche gilt für Seifert.
den Geringverdiener, der 35 Jahre lang gearbeitet hat,
aber nur wenig Einkommen erzielt hat. Er fragt sich: Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Habe ich zum Schluss eine eigene Rente? Lohnt es sich Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie
überhaupt, zu riestern, wenn die Riester-Rente auf die sind unter anderem diejenige, die in Deutschland für die
Grundsicherung angerechnet wird? Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu-
An diese Schwachstelle müssen wir heran. Wir möch- ständig ist. Diese Konvention ist seit zweieinhalb Jahren
ten deshalb im Rentendialog der nächsten Monate vor- geltendes Recht in Deutschland. Sie haben dafür in die-
schlagen, eine Zuschussrente einzuführen. 850 Euro sol- ser Haushaltsdebatte kein Wort gefunden. In den letzten
len diejenigen erhalten, die ein Leben lang etwas Jahren war in Ihrem Haushalt für die Umsetzung der
geleistet und die für das Alter vorgesorgt haben. Arbeit, UN-Behindertenrechtskonvention – außer für die Moni-
Kindererziehung, Pflege und – seitdem es in den letzten toring-Stelle, die verpflichtend war – kein Euro einge-
Jahren möglich ist – private Vorsorge, das heißt riestern, stellt. Jetzt sehe ich leider wieder nicht, dass Mittel ein-
hochgefördert vom Staat, sind dafür die Kriterien. Die gestellt sind. Falls ich etwas übersehen habe, klären Sie
Botschaft muss sein: Arbeit lohnt sich, und private Vor- mich bitte auf.
sorge zahlt sich, wenn man ein Leben lang arbeitet, aus. Die Begründung dafür, dass kein Geld eingestellt ist,
war in der Vergangenheit immer, Sie müssten erst den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Nationalen Aktionsplan aufstellen, damit Sie wissen,
neten der FDP)
wofür Sie das Geld ausgeben sollen. Jetzt liegt etwas
Es gibt rund 20 000 Personen, auf die das zutrifft. vor, was „Nationaler Aktionsplan“ heißt, und Sie stellen
(B)
Man muss allerdings auch wissen, dass im Augenblick wieder nichts ein, mit der Begründung: Jetzt liegt der (D)
rund 18 000 jährlich in die Grundsicherung fallen. Das Nationale Aktionsplan ja vor; wir brauchen aber prak-
zeigt andererseits, dass von 800 000 Menschen eines tisch nichts zu tun. Sagen Sie mir bitte, wann, wo und
Jahrgangs, der in Rente geht, die ganz große Mehrheit durch wen wird diese Menschenrechtskonvention in
ihre eigene Rente bezieht. Das ist gut. Wir müssen aber Deutschland endlich richtig umgesetzt?
auch vorbeugen, damit das so bleibt. Deshalb ist mir (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
wichtig, dass wir hier die richtigen Schwerpunkte setzen. DIE GRÜNEN)
Wir wollen auch die Zurechnungszeiten bei der Rente
wegen Erwerbsminderung weiter absichern. Wir wollen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mehr Freiraum für Hinzuverdienste geben. So wichtig es Frau Ministerin.
auch ist, die voraussichtliche Rentenhöhe immer wieder
zu überprüfen: Wir können mit der Rente selber niemals Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
einen vollen Ausgleich für die Veränderungen im Er- Arbeit und Soziales:
werbsleben in den 30 bis 40 Jahren vor Renteneintritt Herr Kollege Seifert, der Nationale Aktionsplan ist
schaffen. Eine nachhaltige Rentenpolitik beginnt nicht etatisiert im Haushaltsplan des Bundesministeriums für
erst im Rentensystem, Arbeit und Soziales. Der Nationale Aktionsplan zeichnet
(Anette Kramme [SPD]: Wie wahr!) sich dadurch aus, dass die Bundesregierung selber fest-
legt, was sie dazu beitragen will, eine inklusive Gesell-
sondern sie reicht von Krippenplätzen – Gott sei Dank schaft weiterzuentwickeln. Das heißt, es soll in vielen
gibt es ab 2013 einen Rechtsanspruch auf Krippenplätze – verschiedenen Bereichen selbstverständlich werden,
über Ganztagsschulen, Tagesambulanzen für Demenz- dass sich Menschen mit Behinderungen anderen nicht
kranke, Vätermonate bis hin zu Pflegezeiten und fairen anpassen müssen. Es soll eine Selbstverständlichkeit
Löhnen. All das ist das Fundament für eine nachhaltige sein, dass Menschen mit Behinderungen und Menschen
Rentenpolitik. ohne Behinderungen, Menschen mit Handicaps und
Menschen ohne Handicaps gemeinsam teilhaben und zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sammenleben.
Ich komme zum Schluss. Wir haben heute Morgen in Unsere Aufgabe ist die Erstellung und Umsetzung des
diesem Haus über die Schuldenspirale europäischer Län- Nationalen Aktionsplans. In diesem Sommer haben wir
der gesprochen. ihn vorgelegt. Wir machen uns jetzt auf den Weg, ihn in
14610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) den nächsten Jahren umzusetzen. In 240 Punkten sind noch eine Differenzierung zwischen aktiver und passiver (C)
detailliert die Selbstverpflichtungen unserer Ressorts be- Arbeitsmarktpolitik vor, dann weiß man: Die aktive Ar-
schrieben. Wir sind übrigens eines der ersten Länder, die beitsmarktpolitik wird rasiert. Sie lassen sich im wahrs-
die UN-Behindertenrechtskonvention so umgesetzt ha- ten Sinne des Wortes von Wolfgang Schäuble die Butter
ben, dass daraus ein Nationaler Aktionsplan hervorge- vom Brot nehmen und Ihre Klientel im Regen stehen.
gangen ist.
(Beifall bei der SPD)
(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Das stimmt
doch nicht!) Wir wissen natürlich, wie Ihre Argumentation ist. Sie
argumentieren mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit.
Im Augenblick hat eines der Bundesländer, Rheinland- Bei dieser Gelegenheit sei einmal eingefügt: Da haben
Pfalz, einen eigenen Aktionsplan entwickelt. Andere einige gute Arbeit geleistet. Frank-Walter Steinmeier,
Bundesländer werden folgen. Das Gleiche gilt für Kom- Olaf Scholz, Peer Steinbrück haben fantastische Arbeit
munen, Unternehmen, Vereine und Verbände. geleistet. Sie sehen aktuell die Früchte dieser Arbeit.
Im Arbeitsministerium ist nur die Etatisierung der Ar- (Beifall bei der SPD)
beit des vor kurzem erstellten Nationalen Aktionsplans
vorgenommen worden. Alle anderen Ressorts sind mit Aber – um auf das Thema zurückzukommen –: Gute
verschiedenen Aktivitäten an diesem Aktionsplan betei- konjunkturelle Phasen müssen genutzt werden, um
ligt. Um Ihre Frage jetzt aus dem Stegreif zu beantwor- strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt zu lösen.
ten, müsste ich aus allen Ressorts alle entsprechenden (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist es!)
Mittel zusammensuchen und aufaddieren. Das würde
eine stolze Summe ergeben. Von diesen strukturellen Problemen am Arbeitsmarkt ha-
ben wir eine ganze Menge. Da ist insbesondere die
Vielen Dank. Langzeitarbeitslosigkeit zu nennen. Langzeitarbeitslose
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben zu 20 Prozent keinen Schulabschluss, zu 52 Pro-
zent keine Berufsausbildung und sind zu 45 Prozent im
Dauerbezug von SGB II. Wir sehen nicht, dass das Pro-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
blem des perspektivischen und teilweise schon vorhan-
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Frak- denen Fachkräftemangels gelöst ist. Wir sehen keinen
tion. Nachweis von Aktivitäten im Bereich Migration. Das
(Beifall bei der SPD) Anerkennungsgesetz, das Sie planen, ist unzureichend.
Vor allen Dingen: Wo sind bei den vielen Personengrup-
(B) Anette Kramme (SPD): pen, die Sie vorhin angesprochen haben – den Frauen, (D)
den Menschen mit Behinderung –, Ihre konkreten Akti-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
vitäten? Sie reden viel. Aber in der Sache wird wenig ge-
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
tan.
schön, dass Sie da sind. Wir waren uns nicht ganz sicher,
ob Sie kommen würden. Sie schweben ja neuerdings in (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine
den hohen Sphären der Finanzpolitik. Zimmermann [DIE LINKE] und Markus
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Georg Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Schirmbeck [CDU/CSU]: Genial, die Rede, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe das Ge-
die Sie beginnen!) fühl, dass wir über zwei verschiedene Dinge sprechen,
Da waren wir uns nicht so sicher, ob Sie sich für das obwohl der Gesetzentwurf, von dem wir reden, der glei-
Klein-Klein der Rente und der Arbeitsmarktpolitik tat- che ist, nämlich der zur Instrumentenreform. Sie sagen,
sächlich noch interessieren. da werde etwas Positives getan. Wir sehen nur: Die öf-
fentlich geförderte Beschäftigung wird zunichtege-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Georg macht; das betrifft die Politik für Menschen in Langzeit-
Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht arbeitslosigkeit. Die Jobperspektive haben Sie bereits in
in der Muppet-Show!) der Vergangenheit durch eine andere Finanzierung ka-
puttgemacht. Die ABM werden gestrichen. Arbeitsgele-
Frau Bundesministerin, Sie haben zum wiederholten
genheiten sollen noch arbeitsmarktferner sein und wer-
Male eine riesige Ausgabensenkung zu vertreten. Rich-
den damit mit Sicherheit nicht Menschen helfen, zurück
tig ist, dass der Etat des Bundesministeriums für Arbeit
in den Beruf zu finden. Es fehlt eine Qualifizierungsini-
und Soziales nach wie vor der größte Ausgabenbrocken
tiative zur Bekämpfung des Fachkräftemangels. Müsste
im Gesamthaushalt ist. Er umfasst circa 126 Milliarden
man nicht Geld in die Hand nehmen, um konsequent aus
Euro. Aber man muss natürlich auch wissen, dass ein
Ungelernten Gelernte, aus Meistern Techniker und aus
Großteil dieses Betrages als Zuschuss für die Rentenver-
Technikern Universitätsabsolventen zu machen? Das ge-
sicherung zur Verfügung steht.
plante Anerkennungsgesetz löst den Zuständigkeitswirr-
Wenn man sich das genauer anschaut, dann stellt man warr nicht auf und gibt keinerlei zusätzliche Möglichkei-
fest, dass die Arbeitsmarktpolitik immens betroffen ist. ten zur Nachqualifizierung. Darüber hinaus gibt es eine
40 Milliarden Euro stehen für die Arbeitsmarktpolitik Personalreduktion bei der Bundesagentur für Arbeit, das
zur Verfügung. Davon wollen Sie 4,7 Milliarden Euro heißt 10 000 bis 17 000 Stellen weniger. Man muss si-
streichen, also mehr als 10 Prozent. Nimmt man dann cherlich darüber reden, dass es in manchen Bereichen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14611
Anette Kramme
(A) der BA weniger Bedarf gibt. Aber wir wissen ganz ge- Ihre Schwarzmalerei finde ich armselig; das resultiert (C)
nau, dass wir an anderen Stellen mehr Personal benöti- daraus, dass Sie die Fakten einfach nicht anerkennen.
gen, nämlich da, wo es um die Vermittlung von Men-
schen in Arbeit geht. Warum wird nicht die Chance (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
genutzt, um in diesem Bereich etwas zu machen? Die 2,7 Prozent!)
entsprechenden Modellprojekte waren mehr als erfolg-
Der Etat weist insgesamt 4,7 Milliarden Euro weniger
reich.
Ausgaben aus als 2011. Dabei hat dieser Etat deutliche
Frau Ministerin, Sie sollten es eigentlich wissen: För- Mehrbelastungen schultern müssen: 1,3 Milliarden Euro
dernde Arbeitsmarktpolitik ist das A und O. Wir müssen mehr Bundesgeld für die Rentenversicherung, 1,5 Mil-
die Integration in Arbeit finanzieren statt Arbeitslosig- liarden Euro mehr Bundesbeteiligung an den Kosten der
keit. Unterkunft, ein um 1,3 Milliarden Euro höherer Bundes-
anteil bei der Grundsicherung im Alter. Die letzten bei-
Gegenüber dem Stern hatten Sie im Februar 2010 er-
den Positionen entlasten übrigens die Kommunen. Es
klärt:
gibt aber auch Entlastungen – das ist schon gesagt wor-
Die Angebote müssen Schlag auf Schlag kommen. den –: Die Bundesagentur für Arbeit braucht 2012 kein
Tempo, Tempo, Tempo. Heute meldest du dich ar- Darlehen mehr. Sie kann stattdessen bereits mit der
beitslos – und morgen hast du was zu tun. Rückzahlung beginnen. Auch die Aufwendungen für das
Arbeitslosengeld II sinken. Beides ist natürlich der guten
Das klingt dynamisch und zupackend. Aber mit Ihrem Lage am Arbeitsmarkt zu verdanken.
Haushalt graben Sie genau diesem Ziel das Wasser ab.
„Tempo, Tempo, Tempo“ klappt nur, wenn Vermittler da Auch bei der Umsetzung der Sparvorgaben gilt: Die
sind, die etwas zu vermitteln haben, und wenn Geld da Hausaufgaben sind gemacht.
ist, um Menschen zu qualifizieren und in den Arbeits-
markt zu integrieren. Erstens. Nach den Sparvorgaben vom Sommer 2010
sind 2012 bei den Arbeitsmarktaufwendungen im Be-
Herzlichen Dank. reich SGB II 1,5 Milliarden Euro gegenüber dem dama-
(Beifall bei der SPD) ligen Finanzplan einzusparen. Auch diese Vorgabe wird
punktgenau erfüllt. Das Eingliederungsbudget beläuft
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sich damit im Jahr 2012 auf 8,45 Milliarden Euro. Ange-
Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDP- sichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist das
Fraktion. auch gut zu leisten und sollte hier keineswegs Anlass zu
Kassandrarufen geben; denn wir senken die Eingliede-
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rungskosten aufgrund der sinkenden Arbeitslosenzahlen, (D)
der CDU/CSU) worüber wir uns sehr freuen sollten.

Dr. Claudia Winterstein (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Katja
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Mast [SPD]: Strukturell! Keine konjunkturel-
Herren! Zu Beginn einige Bemerkungen zum „Regie- len Kürzungen!)
rungsdialog Rente“, der gestern begonnen hat. Ich Bei alldem wird natürlich der Betreuungsschlüssel nicht
denke, man muss über die entsprechenden Vorschläge außer Acht gelassen. Diesen haben wir sehr wohl im
noch ausführlich diskutieren und die Details klären. Das Blick.
betrifft ja nicht den Haushalt 2012, sondern erst den des
Jahres 2013. Bei alldem muss man natürlich im Auge Zweitens. Wir werden 2012 auch für das Arbeitslo-
haben, dass Verbesserungen bei Sozialleistungen immer sengeld II deutlich weniger Geld ausgeben, als für 2011
das Problem mit sich bringen, dass sie Geld kosten. Ich veranschlagt ist. Der Ansatz liegt mit 19,5 Milliarden
denke, da kommt noch einiges auf uns zu. Wir werden Euro um 900 Millionen Euro niedriger als der für das
diesen Punkt noch ausführlich diskutieren müssen. Da- Jahr 2011. Insgesamt plant der Bund im Jahr 2012 für
bei darf der Blick auf das Machbare nicht verloren ge- die Grundsicherung der Arbeitsuchenden Gesamtausga-
hen. ben in Höhe von 33 Milliarden Euro. Den größten Teil
davon, nämlich 25 Milliarden Euro, machen die Ansätze
(Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
für Arbeitslosengeld II und für die Kosten der Unter-
DIE GRÜNEN]: Aha!)
kunft aus; das ist schon eine beachtliche Summe. Es ist
Nun zum Haushalt 2012. Dem vorliegenden Entwurf besonders wichtig, die Reform der arbeitsmarktpoliti-
des Einzelplans 11 kann ich als Haushälterin ein gutes schen Instrumente voranzutreiben und diese passgenau
Zeugnis ausstellen. Die Hausaufgaben sind gemacht. und effizient zu machen, damit wir möglichst viele Men-
Hierfür ein Dank an die Ministerin. schen in den ersten Arbeitsmarkt zurückbringen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Frau Kramme, ich habe das Gefühl, dass Sie uns die- der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Was wird
sen Erfolg schlichtweg nicht gönnen. denn besser dadurch?)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Auf die Einzelkritik der Opposition will ich hier nicht
CDU/CSU) weiter eingehen.
14612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Claudia Winterstein


(A) (Iris Gleicke [SPD]: Das habe ich befürchtet! Der beste Schutz gegen Armut ist ein Arbeitsplatz. (C)
Entlarvend! – Katja Mast [SPD]: Es reicht mir,
wenn Sie sagen, was Sie gut machen!) (Katja Mast [SPD]: Mit guter Bezahlung!)

Ich will nur einen grundsätzlichen Unterschied deutlich Deshalb richtet sich die FDP-Politik darauf, hier die
machen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposi- Chancen zu verbessern. Die gute Lage am Arbeitsmarkt
tion, möchten natürlich möglichst viele Menschen in öf- hilft uns natürlich dabei. Sie wird einen weiteren Schub
fentlich geförderte Beschäftigung bringen. bekommen, weil im kommenden Jahr eine Entlastung
bei den Sozialversicherungsbeiträgen möglich wird. Die
(Katja Mast [SPD]: Nein, das möchten wir Reserven der Rentenversicherung entwickeln sich so
nicht!) gut, dass wir eine Beitragssenkung vornehmen können.
Wir von der Koalition möchten allerdings viele Men- Zum Schluss will ich noch ganz kurz auf die Finanzen
schen in den regulären Arbeitsmarkt bringen, der Bundesagentur für Arbeit eingehen. Die Situation
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der BA stellt sich deutlich günstiger dar als erwartet.
2011 muss die BA ein viel geringeres Defizit abdecken
weil das von Dauer ist. Dazu haben wir gerade jetzt gute als geplant: nicht 5,4 Milliarden Euro, wie bei der Haus-
Chancen; denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist her- haltsaufstellung 2011 erwartet wurde, sondern lediglich
vorragend, so gut wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. 1,9 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass sie das Darle-
hen, das sie 2011 vom Bund zum Ausgleich des Defizits
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bekommt, schon bis 2013 zurückzahlen und dann erneut
der CDU/CSU – Priska Hinz [Herborn] Rücklagen aufbauen kann. Insofern können wir mit der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Leute Entwicklung sehr zufrieden sein.
müssen auch auf dem Arbeitsmarkt ankom-
men können!) Eines ist klar: Wenn Sie nichts zu kritisieren haben,
dann denken Sie sich etwas aus.
Man kann es gar nicht oft genug sagen – Sie müssen
auch einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen –: Seit (Zuruf von der LINKEN: Unverschämt!)
April haben wir weniger als 3 Millionen Arbeitslose.
Kurzarbeit spielt kaum mehr eine Rolle. Aber wir können sehr zufrieden sein mit der Entwick-
lung in dieser Zeit, und auf diesem Weg wird die Koali-
(Katja Mast [SPD]: Alles Erfolg der FDP!) tion auch weitermachen.
Es gibt vor allem bei der sozialversicherungspflichtigen Danke.
Beschäftigung einen massiven Zuwachs. Nehmen Sie
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
das einmal zur Kenntnis! Auch die Erwerbstätigenzahl
erreicht mit über 41 Millionen einen nie dagewesenen
Rekord. Das sind hervorragende Zahlen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Wort hat nun Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke.
Auch die Chancen der Langzeitarbeitslosen am Arbeits-
markt sind derzeit so gut wie lange nicht. Ihre Zahl sinkt (Beifall bei der LINKEN)
seit Monaten deutlich. Die jüngsten Zahlen zeigen einen
Rückgang um 6 Prozent im Vergleich zum letzten Jahr. Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Winterstein, Ihre Rede war sehr bezeichnend. Wir reden
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der hier über den Sozialhaushalt, und das Einzige, was Ihnen
Kollegin Mast? zu den sozialen Problemen in diesem Land einfällt, ist,
sich für Kürzungen im Sozialbereich auf die Schulter zu
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
klopfen. Man könnte fast denken, dass Sie hier unbeab-
sichtigt Wahlkampf für die Opposition machen.
Nein, ich möchte gerne fortfahren.
Ein klassisches Argument in Haushaltsdebatten zur
(Katja Mast [SPD]: Schade! Keine
Abwehr von sozialen Verbesserungen lautet häufig: Die
Antworten!)
Sozialausgaben steigen immer weiter an. – Ich finde,
Ihre Klage, das seien alles Billigjobs und nur der Nie- man muss das einmal genauer beleuchten. Dafür gibt es
driglohnsektor würde boomen, ist schlichtweg Unsinn. ein seriöses Kriterium, und zwar die Sozialleistungs-
Schauen Sie sich die Zahlen einmal an: Die Zahl der Er- quote. Zur Erläuterung: Die Sozialleistungsquote meint
werbstätigen ist gegenüber dem Vorjahr um 527 000 ge- die Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlands-
stiegen. Zugleich ist bei der Zahl der sozialversiche- produkt. Doch genau diese Quote ist seit 2003 nicht ge-
rungspflichtig Beschäftigten gegenüber dem Vorjahr ein stiegen, sondern – im Gegenteil – gesunken, und zwar
Zuwachs von 684 000 zu verzeichnen. Da kann doch von 31,2 Prozent auf 27,9 Prozent. Also halten wir fest:
niemand ernsthaft behaupten, wir hätten nur bei den Bil- Dieses klassische konservative Abwehrargument gegen
ligjobs einen Boom. linke Verbesserungsvorschläge ist nicht haltbar.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14613
Katja Kipping
(A) Frau von der Leyen, Sie haben sich heute wieder rhe- die 63- bis 65-Jährigen! – Gegenruf des Abg. (C)
torisch für Alleinerziehende eingesetzt. Das ist ein An- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Malo-
liegen, bei dem ich vollkommen an Ihrer Seite bin. Aber chen bis zum Tode! Das wollen Sie!)
zur ganzen Wahrheit gehört auch: Es war Schwarz-Gelb,
Dann gibt es die schöne Zuschussrente. Eine von vie-
die im Zuge des sogenannten Sparpaketes das Elterngeld
len Bedingungen dafür ist, dass man 35 Jahre lang in
für Hartz-IV-Beziehende quasi gestrichen haben, indem
eine private oder in eine Betriebsrente eingezahlt hat.
es angerechnet wird. Von dieser Streichung sind auch
Nun wird es spannend. Inzwischen gibt es also quasi
47 000 Alleinerziehende betroffen. Nun weiß ich, dass
eine Pflicht, sich über den Rentenfonds am globalen Fi-
das nicht aus Ihrer Feder stammt; aber Sie haben es nicht
nanzkasino zu beteiligen. Haben Sie denn gar nichts aus
verhindert. Da halten wir doch einmal fest, was schwarz-
der Finanzkrise gelernt? Eine Zuschussrente unter sol-
gelbe Familienpolitik heißt: Gerade bei den Ärmsten
chen Bedingungen ist vor allen Dingen eines: ein Treib-
wird genommen. Ich finde, das ist der falsche Weg.
stoff für die Versicherungskonzerne wie Allianz und Co.
(Beifall bei der LINKEN) Ein Sicherheitsgurt gegen Altersarmut sieht wahrlich an-
ders aus.
Es war schon viel vom Rentendialog die Rede. Tat-
sächlich müssten wir gegen Altersarmut einiges unter- (Beifall bei der LINKEN)
nehmen. Immerhin warnt die OECD: International ge-
Was wir als Linke dem entgegensetzen, ist eben nicht
hört Deutschland zu den Schlusslichtern bei der Alters-
eine Durchschnittsrente, wie Sie sie darstellen. Was es
sicherung von Geringverdienenden. Sie warnt zu Recht;
unserer Meinung nach tatsächlich braucht, ist eine soli-
denn leider droht Altersarmut für immer mehr Menschen
darische Mindestrente, die garantiert, dass kein Rentner
zur Realität zu werden. Die Zahl der minijobbenden
und keine Rentnerin im Alter unter die Armutsrisiko-
Rentner ist in den letzten zehn Jahren um 60 Prozent ge-
quote fällt.
stiegen. Viele Rentner müssen noch arbeiten, weil die
Rente einfach nicht reicht. (Beifall bei der LINKEN)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist Frau Winterstein, Sie überlegen bei Sozialhaushalten
es!) immer nur, wo man noch kürzen kann. Wir haben andere
Anforderungen an den Sozialhaushalt. Wir meinen, ein
Wir wissen auch: Wer heute in Rente geht, bekommt
Sozialhaushalt muss vor allen Dingen eine in Zahlen ge-
im Schnitt eine deutlich niedrigere Rente als jemand, der
gossene Teilhabegarantie für alle sein. Von einer solchen
vor zehn Jahren in Rente gegangen ist. Aber das ist doch
Garantie für Teilhabe ist schwarz-gelbe Sozialpolitik
nicht vom Himmel gefallen. Das ist doch keine Naturka-
wahrlich weit entfernt.
tastrophe, die über uns gekommen ist. Das ist das Ergeb-
(B) (D)
nis von ganz konkreten politischen Maßnahmen, und da (Beifall bei der LINKEN)
muss ich leider sagen: Es ist auch das Ergebnis schwarz-
gelb-rot-grüner Regierungspolitik. Sie haben das zu ver- Das wird unter anderem daran deutlich, wie wenig Mit-
antworten. tel Sie für das Arbeitslosengeld II, besser bekannt als
Hartz IV, einplanen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
CDU/CSU: Familienpolitik in der DDR!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Was plant nun das Haus von der Leyen? Als Erstes Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
sollen die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Rentner ver- Kollegen Lindner?
bessert werden. Das heißt: noch mehr mini- oder midi-
jobbende Rentnerinnen und Rentner. Katja Kipping (DIE LINKE):
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben nicht, Mit Vergnügen.
Frau Kipping!)
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
– Sie wollen die Rentner dazu verdonnern, durch Malo-
Was sagten Sie gerade? In Zahlen gegossene Teil-
chen im Alter die niedrige Rente aufzubessern.
habe? Sie regieren jetzt in Berlin seit bald zehn Jahren.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das ist ein
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Angebot!)
Sie sind bald draußen aus dem Parlament!)
Da muss ich sagen: Das mag mit 65 gehen, das mag auch
In Berlin gibt es eine Arbeitslosenquote von 13,5 Pro-
noch mit 70 gehen. Was machen wir aber mit der 90-jäh-
zent, und zwar trotz Wirtschaftsbooms; das ist einmalig
rigen Rentnerin, die sich kaum noch auf den Beinen hal-
in Deutschland. Im Schnitt ist diese Zahl in Deutschland
ten kann und deren Rente trotzdem zu niedrig ist, um da-
auf 7,7 Prozent zurückgegangen, in Berlin liegt sie bei
mit über die Runden zu kommen? Im Klartext: Sie
13,5. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt deutschlandweit
wollen, dass die Rentner mit Malochen im Alter Ihre
bei 8,3 Prozent, in Berlin bei 23,5 Prozent.
Rentenkürzungen ausbaden müssen. Das ist für mich
nicht hinnehmbar. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Muss man das
verstehen?)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Nein, ab 65 dürfen die heute Zehn Jahre regieren Sie. Die Jugendarbeitslosigkeit ist
schon verdienen, was sie wollen! Es geht um etwa dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Sie
14614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Martin Lindner (Berlin)


(A) verweigern in Berlin einer ganzen Generation die Teil- über ein Gerichtsurteil dazu gezwungen, das rückgängig (C)
habe. Erklären Sie uns einmal, wie Ihr Reden hier und zu machen; aber da war einiges erreicht worden.
Ihr praktisches Handeln vor Ort auch nur halbwegs in
Deckung zu bringen sind. Zur rot-roten Regierungspolitik gehört auch, dass
man es – trotz widriger Bedingungen und jeder Menge
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Knüppel, die das Bundesministerium dem Land zwi-
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: schen die Beine geworfen hat – geschafft hat, öffentliche
So ist es!) Beschäftigung in die Wege zu leiten, die deutlich besser
ist:
Wenn Sie gleich antworten wollen, das läge an den
schlechten finanziellen Konditionen in Berlin, sage ich (Diana Golze [DIE LINKE], an den Abg.
Ihnen noch ergänzend: Berlin gibt pro Kind 6 100 Euro Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] gewandt:
jährlich aus. In Hessen oder Sachsen sind es etwa Aufstehen!)
5 500 Euro. Sachsen liegt auf Platz eins im Bildungsmo-
nitor, und Berlin liegt auf Platz 16 von 16 Ländern. In Berlin ging es eben nicht nur um billige 1-Euro-Jobs;
man hat Stellen im öffentlichen Beschäftigungssektor
Sie machen dort eine hundsmiserable Bildungspolitik, mit sinnstiftenden Tätigkeiten geschaffen. Insofern kann
eine miserable Arbeits- und Wirtschaftspolitik, und jetzt ich sagen: Von Berliner Beschäftigungspolitik könnte
stellen Sie sich hierhin und erzählen uns, dass wir keine sich so manches Bundesland eine Scheibe abschneiden.
soziale Politik machen, obwohl wir gerade dafür gesorgt
haben, dass mittlerweile fast alle Menschen in Arbeit ge- (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger
kommen sind. [CDU/CSU]: Über den Länderfinanzaus-
gleich zahlt Bayern 2,2 Milliarden an Berlin! –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD], an den Abg. Dr. Martin
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe es doch Lindner [Berlin] [FDP] gewandt: Diese Ant-
gesagt: eine gute Frage! – Fritz Kuhn [BÜND- wort hätten Sie sich auch bis zum Schluss an-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch keine hören können! – Dr. Martin Lindner [Berlin]
Zwischenfrage!) [FDP]: Sie sollten sich dafür schämen, dass
Sie vom Sozialticket reden, wenn Sie nur ein
Katja Kipping (DIE LINKE): Drittel der jungen Menschen in Arbeit krie-
Herr Lindner, vielen Dank für diese Frage. Ich hätte gen! Die können dann mit dem Sozialticket
mich eher mit der Haushaltspolitik beschäftigt und sie zur Arbeitsagentur fahren! Ein Skandal ist
diszipliniert abgearbeitet. Ich bin Ihnen aber dankbar, das!)
(B) dass Sie jetzt den Bereich „Wahlkampf in Berlin“ eröff- – Ich würde jetzt gerne weiter über den Haushalt reden. (D)
nen und mir Gelegenheit geben, außerhalb meiner Rede- Sie können gerne noch eine Zwischenfrage stellen und
zeit auf einige Erfolge der Politik der Berliner Landesre- damit meine Redezeit verlängern. Aber dann müssten
gierung hinzuweisen. wir uns an die parlamentarischen Gepflogenheiten hal-
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jetzt ten.
kommt höhere Dialektik! – Max Straubinger (Zuruf von der LINKEN: Stehen bleiben bei
[CDU/CSU]: Da bricht großes Weinen aus, der Antwort!)
Frau Kipping!)
– Über die Kinderstube des Herrn Lindner wollen wir
Es ist tatsächlich Fakt, dass ein Großteil der Rahmen- jetzt hier nicht reden.
bedingungen auf Bundesebene gesetzt wird. Im Übrigen:
Die schlimme Haushaltslage in Berlin ist von den Regie- Kommen wir zurück zum Haushalt. Sie haben deut-
rungen vor Rot-Rot verursacht worden; das wissen Sie lich weniger Mittel für das Arbeitslosengeld II einge-
genau. plant. Sie können das deswegen tun, weil Sie zuvor mit
jeder Menge Tricks das Existenzminimum – wir haben
(Beifall bei der LINKEN) die Pflicht, es zu garantieren – kleingerechnet haben. In-
Wer hat denn damals die Bank in den Ruin getrieben? zwischen gibt es ein Gutachten des DGB, das es schwarz
auf weiß auf den Punkt bringt: Die schwarz-gelbe Be-
Reden wir aber über rot-rot-grüne Regierungspolitik. rechnung des Existenzminimums ist verfassungswidrig.
Das ist auch ein Ergebnis Ihrer Politik.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was? Wann gab es denn Rot-Rot-Grün? – (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ent-
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: In Berlin scheidet doch das Gericht! – Karl Schiewerling
wurden 1 000 Autos abgefackelt! Das ist Er- [CDU/CSU]: Das Landessozialgericht Baden-
gebnis Ihrer Politik!) Württemberg sieht das aber anders! – Max
Straubinger [CDU/CSU]: Kommunistische
Zu dieser Bilanz gehört, dass sich in Berlin ein rot-roter Gerichte!)
Senat für den Erhalt des Sozialtickets starkgemacht hat.
Zur rot-roten Regierungspolitik in Berlin gehört auch, Vor dem Hintergrund dieses Gutachtens wende ich
dass man Regeln zu Kosten der Unterkunft für die Ärms- mich jetzt an Grüne und SPD: Geben Sie sich doch einen
ten durchgesetzt hat, die bundesweit beispielhaft waren. Ruck und reichen Sie zusammen mit uns eine Normen-
Leider haben Sie dagegen gekämpft und das Land Berlin kontrollklage ein! Für eine solche Klage bräuchte es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14615
Katja Kipping
(A) 25 Prozent der Abgeordneten. Das schaffen wir Linken Wenn man eine lange Frage stellt, dann muss man ste- (C)
leider noch nicht ganz alleine; aber zusammen könnten hend auch eine lange Antwort ertragen.
wir es schaffen. Wenn wir uns zu einer solchen Normen-
kontrollklage durchringen, dann wird das Gericht sehr (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie hat
wohl entscheiden. Vor allen Dingen würden wir damit nicht auf meine Frage geantwortet!)
den Betroffenen den mühsamen Weg durch die Instan- – Das entscheidet nicht der Fragesteller, das ist generell
zen ersparen. Nehmen Sie sich also ein Herz! Entschei- so. Sie kennen die Spielregeln.
den Sie sich gegen die Komplizenschaft mit der CDU
und für die Betroffenen! Das Wort hat nun Frau Kollegin Priska Hinz für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder
[CDU/CSU]: Die alten Feindbilder!) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ja, wir Linken meinen – ich habe es selber nachgerech- NEN):
net –: Sie haben das Existenzminimum mit Tricks klein- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-
gerechnet. Wenn man es ordentlich berechnete, müsste tieren hier über einen bemerkenswerten Haushalt. Wenn
es bei rund 500 Euro liegen. Wir werden dazu Ände- wir in andere Einzelpläne schauen, sehen wir, man
rungsanträge einbringen. könnte dort tatsächlich sinnvoll einsparen; sei es im Ver-
teidigungshaushalt, im Wirtschaftsetat oder beim Sub-
Sie können jetzt nicht mit dem Einwand kommen, das ventionsabbau. Es wird aber im Bereich des Einzelplans
sei nicht finanzierbar. Erstens ist das Existenzminimum für Arbeit und Soziales gespart, also dort, wo es um
ein Grundrecht; das kann man nicht einfach nach Kas- Langzeitarbeitslose und Benachteiligte geht. Da schla-
senlage ausdealen. Zweitens: So knauserig Sie bei den gen Sie wirklich in unverantwortlicher Weise zu.
Ärmsten sind, so fahrlässig großzügig sind Sie, wenn es
um die Superreichen geht. Es muss Ihnen doch zu den- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ken geben, dass sich die Vermögenden in diesem Land und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Wo
zusammenschließen, um für eine Vermögenabgabe zu denn?)
plädieren. Die Millionäre drängeln sich quasi, stehen Da werden mit einem Federstrich erneut 900 Millionen
Schlange, um die öffentlichen Kassen zu füllen; aber Sie Euro beim Eingliederungstitel eingespart. Zugegeben,
sorgen mit Ihren ideologischen Scheuklappen dafür, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen geht zurück.
die Einzahlungsschalter geschlossen bleiben. Ich finde,
so viel Großzügigkeit können wir uns tatsächlich nicht (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)
leisten.
(B) – Ja, warten Sie ab. – Seit dem vergangenen Jahr haben (D)
(Beifall bei der LINKEN) wir einen kleinen Rückgang von 6,1 Prozent.
Was uns wirklich etwas kostet, ist die schwarz-gelbe (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Das nennen Sie
Verweigerungshaltung beim Mindestlohn. Sie kostet uns „klein“?)
jedes Jahr Milliarden. Es gibt jetzt eine Prognos-Studie,
Aber Sie kürzen den Titel um ein Drittel. Das hat noch
die unter anderem zu dem Ergebnis kommt: Wenn wir
nicht einmal eine haushalterische Logik, sondern das
einen Mindestlohn von 10 Euro hätten, dann würde das
sind schlicht und einfach Scheuklappen, die Sie aufha-
den Sozial- und Steuerkassen zusammen rund 13 Mil-
ben. Sie wollen diesen Titel aus ideologischen Gründen
liarden Euro im Jahr einspielen.
rasieren.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Und bei 13 Euro? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wie viel kommt dann zusammen?) sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von
Halten wir fest: Dieses Land kann sich die schwarz- der SPD: Strukturelle Kürzungen!)
gelbe Verweigerungshaltung beim Mindestlohn einfach Natürlich gibt es auf dem Arbeitsmarkt eine gute Ent-
nicht mehr leisten. wicklung, es gibt eine gute Konjunktur. Das betrifft aber
(Beifall bei der LINKEN) die Langzeitarbeitslosigkeit nicht im gleichen Maße.
Frau Ministerin, deshalb wäre es wichtig, dass Sie nicht
Das ist nur einer von vielen Gründen dafür, warum wir nur hier am Pult von Qualifizierung reden, sondern dass
uns Schwarz-Gelb nicht weiter leisten können. Sie sich auch für ausreichende Mittel in Ihrem Etat ein-
Danke. setzen, damit die Qualifizierung von Langzeitarbeitslo-
sen tatsächlich stattfinden kann, sodass diese Zugang
(Beifall bei der LINKEN) zum ersten Arbeitsmarkt finden können. Sonst findet das
überhaupt nicht statt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lieber Kollege Lindner, ich möchte Sie daran erin- sowie bei Abgeordneten der SPD)
nern, dass man während der Beantwortung einer Frage,
die man gestellt hat, stehen bleibt. Wirtschaftsminister Rösler hat erstaunlicherweise et-
was Richtiges gesagt. Er sagte nämlich, der Fachkräfte-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mangel sei die zentrale wirtschaftspolitische Herausfor-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derung. Daraus darf man aber doch keine Kürzungen
14616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Priska Hinz (Herborn)


(A) von Qualifizierungen ableiten. Die Bundesregierung dis- Was ist passiert? Es ist ein bürokratisches Monstrum (C)
kutiert seit einem Jahr über ein Konzept gegen den Fach- entstanden, das die Kommunen mit zusätzlichen Verwal-
kräftemangel, und die Ministerin, die mit ihrem Haus- tungskosten belastet. Jetzt ist nichts mehr davon zu hö-
haltsplan tatsächlich etwas dagegen tun könnte, nimmt ren, dass die Umsetzung hapert. Deswegen sage ich: Gut
ihre Chancen nicht wahr, sondern lässt ihren Haushalt in der Darstellung, schlecht in der Umsetzung. Genauso
rasieren. Sie setzt sich nicht dafür ein, dass entspre- ist auch Ihr Einzelplan zu lesen. Daraus ist nämlich von
chende notwendige Umstrukturierungen im Gesamt- guter Umsetzung einer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
haushalt dazu führen, dass der Arbeitsetat geschont wird. nichts herauszulesen.

Auch bei Ihrem Umgang mit der Bundesagentur für Danke schön.
Arbeit stellt man fest, dass Sie aus der Finanz- und Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schaftskrise nichts gelernt haben. Vor der Krise hatte die und bei der SPD)
BA Rücklagen in Höhe von 17 Milliarden Euro. Aus
diesen konnte man zum Beispiel das Kurzarbeitergeld fi-
nanzieren. Was machen Sie jetzt? – Sie plündern den Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Haushalt der BA, damit Sie eines der Löcher im Bundes- Das Wort hat nun Karl Schiewerling für die CDU/
haushalt schließen können, von denen es leider zu viele CSU-Fraktion.
gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Aufgrund der Ergebnisse des Vermittlungsausschus-
ses übernehmen Sie für die Grundsicherung im Alter die Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Finanzierung. Aus diesem Grund müssen Sie jetzt Gel- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
der aus der BA nehmen. Das belastet die BA in den Kolleginnen und Kollegen! Dieser Haushalt wird nun
nächsten Jahren mit 12 Milliarden Euro. Stattdessen nach der Hälfte dieser Legislaturperiode diskutiert. Im
sollte der Bund diese Mittel übernehmen und nicht über- November wird er letztendlich verabschiedet. Frau Kol-
legen, an welcher Stelle konjunkturelle Maßnahmen legin Hinz, ich schätze, ich muss Ihnen leider sagen,
dazu führen, dass eine Entschuldung stattfindet, sondern dass Ihre letzte Bemerkung in Bezug auf die Bundesar-
er sollte überlegen, welche strukturellen Maßnahmen beitsministerin zwar spannend, aber falsch war. Sie müs-
dazu führten. Sie reißen der BA auch an dieser Stelle die sen sich einmal genau anschauen, was wir in der ersten
Beine weg. Übrig bleibt eine Instrumentenreform, die Hälfte dieser Legislaturperiode erreicht haben. Ich will
nicht zielgenau auf Zielgruppen gerichtet ist, die not- Ihnen das in kurzen Sätzen darlegen – so weit zum
wendigerweise eine Unterstützung brauchen. Sie setzen Thema Reden und nicht Handeln oder nur Schaulaufen
(B) vielmehr den Rotstift an. Damit ist Ihre Instrumentenre- und keine Erfolge erzielen –: Wir haben die Jobcenterre- (D)
form schon vom Grundsatz her gescheitert. form und die Regelsätze organisiert und arbeitsmarkt-
politische Instrumente verabschiedet. Wir haben Freiheit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Verantwortung darin verankert. Wir haben die Zeit-
und bei der SPD) arbeit reguliert, den Mindestlohn in der Zeitarbeit einge-
Notwendig wäre eine Sozialministerin, die die führt und mehr Mindestlöhne nach dem Entsendegesetz
1,5 Millionen jungen Menschen ins Visier nimmt, die eingeführt als viele andere vorher. Ich denke, diese Halb-
sich ohne Berufsabschluss auf dem Arbeitsmarkt befin- zeitbilanz kann sich sehen lassen. Das haben wir ge-
den, und die die Instrumente auf sie ausrichtet. Notwen- meinsam geschafft. So weit zum Thema: eine Ministe-
dig wäre eine Sozialministerin, die sich für aktive Ar- rin, die nur redet, aber nichts hinbekommt.
beitsmarktpolitik, für die Qualifizierung von älteren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Menschen, die aus der Erwerbstätigkeit herausgedrängt neten der FDP)
werden, und für Langzeitarbeitslose, die einer besonde-
ren Qualifizierung bedürfen, einsetzt. Dafür wäre eine Sicherheit geben, Perspektiven ermöglichen, Verant-
Instrumentenreform sinnvoll. Sie aber streichen auch ein wortung übernehmen – diese Zielsetzung haben wir in
effektives Mittel wie den Gründerzuschuss weg. Dabei der Union und in der christlich-liberalen Koalition in der
ist gerade dieser effektiv. Was Sie machen, ist ein reiner Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und im sozialpolitischen
Kahlschlag. Bereich in der Vergangenheit verwirklicht. Wir werden
sie auch im kommenden Jahr verwirklichen. Wenn wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns den Haushalt des Geschäftsbereiches Arbeit und So-
und bei der SPD) ziales ansehen, dann stellen wir fest, dass es in der Tat in
dem einen oder anderen Bereich Kürzungen gibt. Das
Die Ministerin ist gut in der Darstellung, aber weniger bleibt nicht aus; dazu werde ich gleich etwas sagen. Wir
gut in der Umsetzung. Das haben wir beim Bildungspa- müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass Arbeitsmarkt-
ket für Kinder gesehen. Wochenlang ist sie durch Talk- politik keine Arbeitsplätze schafft. Arbeitsplätze werden
shows getingelt und hat erklärt, wie wichtig es ist, dass durch gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen und
Kinder in Sportverbänden Mitglied werden und an der durch stabile Strukturen in der Arbeitsmarktpolitik in der
Kultur teilhaben können. Wirtschaft geschaffen.
(Anette Kramme [SPD]: Reitunterricht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Klavier!) neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14617
Karl Schiewerling
(A) 800 000 zusätzliche Arbeitsplätze, die in der letzten Zeit Soziallehre zu beachten. Dabei geht es um Personalität, (C)
geschaffen worden sind, sind beredter Ausdruck dafür. um Solidarität, um Subsidiarität und um Nachhaltigkeit.
Wir sind zufrieden; das ist gut. Deswegen können wir
Unter dem Gesichtspunkt der Personalität muss auch
bestimmte Gelder reduzieren und anders, effektiver so-
im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik alles getan werden,
wie effizienter einsetzen. Übrigens: Von den etwa
um Menschen zu motivieren und zu begleiten, damit sie
800 000 bis 900 000 zusätzlichen sozialversicherungs-
in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdie-
pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind weit mehr
nen und eine Rente zu erwirtschaften, auf die sie stolz
als die Hälfte ohne irgendwelche arbeitsmarktpolitischen
sein können, weil die Rente Lohn für Lebensleistung ist.
Instrumente geschaffen oder besetzt worden. Ich weise
All das steckt hinter dem Prinzip der Personalität.
darauf hin, dass auch diese Dinge letztendlich gut und
sinnvoll funktionieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senken Sie sie ab! Super!)
neten der FDP)
Es geht auch um die Frage der Subsidiarität. Das
Rahmenbedingungen schaffen, damit zukunftsfähige heißt, wenn die Menschen ihren Lebensunterhalt nicht
Arbeitsplätze entstehen, ist unsere Aufgabe. Das gelingt aus eigener Kraft erwirtschaften können, haben sie ein
aber nur, wenn wir Sicherheiten haben. Betriebe brau- Anrecht auf Unterstützung. Diese Unterstützung ist aber
chen für ihre Planung Sicherheit – das ist keine Frage –, nicht auf Dauer angelegt. Sie ist vielmehr ein Sprung-
aber auch die Arbeitnehmer brauchen Sicherheit. Arbeit brett. Mithilfe der Förderung soll man aus der Abhängig-
muss für die Arbeitnehmer planbar sein. Mit diesem keit vom Staat herauskommen und wieder in die Lage
Haushalt schaffen wir die dafür notwendigen Vorausset- versetzt werden, sein Leben selbstbestimmt und eigen-
zungen. Wir müssen diejenigen fördern, qualifizieren ständig zu gestalten. Das ist unser Menschenbild. Daran
und gegebenenfalls reintegrieren, die keinen Arbeits- orientieren wir uns, und daran richten wir unsere Politik
platz haben oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. aus.
(Caren Marks [SPD]: Das geht aber nicht ohne (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Geld!) neten der FDP)
Wir müssen alles daransetzen – das ist die Zielrichtung –, Drittens geht es um den Bereich der Solidarität. Wir
dass die Menschen in der Lage sind, eigenverantwortlich lassen diejenigen, die der Hilfe bedürfen, nicht im Regen
für sich und ihre Familien zu sorgen. Letztendlich geht stehen.
es darum, dass Menschen auch im Alter Sicherheit ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) ben. (D)
der FDP)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich freue mich sehr, dass der Beauftragte für die Belange
NEN]: Das müssen Sie alles machen! Aber Sie behinderter Menschen, Hubert Hüppe, hier ist. – Nein, er
machen es nicht!) ist schon gegangen.
Frau Kollegin Kipping, wir sagen, dass Menschen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auftritt verpasst!
die eine Rente beziehen, die Möglichkeit haben sollen, Schade!)
etwas hinzuzuverdienen. Das Konzept, das Frau von der
Leyen vorgestellt hat, besagt nicht, dass wir Menschen Ich sage es trotzdem: Letztendlich geht es auch darum,
zwingen, zu arbeiten. Wir eröffnen vielmehr Möglich- dass Menschen, die behindert sind, die keine Chance ha-
keiten. ben, jemals ohne fremde Hilfe zu leben, alle Unterstüt-
zung bekommen, die sie brauchen, damit sie ein selbst-
(Zuruf von der LINKEN: In einem der größten bestimmtes Leben führen können.
Niedriglohnsektoren!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Warum steht
Diejenigen, die zusätzlich Geld verdienen, zahlen in die davon aber nichts im Haushalt?)
Sozialversicherung ein und zahlen Steuern. Ich halte das Ich wünsche mir manchmal, es wäre noch mehr möglich.
für eine gute und reizvolle Perspektive unter dem Ge- Wir wollen die Augen aber nicht davor verschließen,
sichtspunkt der Eigenverantwortung. Deswegen unter- dass wir unter dem Gesichtspunkt der Inklusion schon
stützen wir dieses Konzept. einiges erreicht haben. Ich erinnere zum Beispiel an den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung.
neten der FDP) (Anette Kramme [SPD]: Der finanziell toll
unterlegt ist!)
Wir stehen vor tiefgreifenden Problemen und sehr
komplexen Aufgaben. In diesem Zusammenhang ist Gemeinsam bringen wir die Sache voran, damit wir
auch die Politik gefordert. Auch in einer Debatte wie letztendlich erfolgreich sind.
dieser, in der es um den Haushalt geht, ist es wichtig,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sich zu vergewissern, mit welchem geistigen Hinter-
neten der FDP)
grund wir diese Aufgaben angehen und welches Men-
schenbild wir dabei zugrunde legen. Wir sind verpflich- Wenn es um die von Ihnen oft angeführte soziale Ge-
tet, die Grundlagen und Prinzipien der christlichen rechtigkeit geht, will ich Ihnen sagen, dass diese soziale
14618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Karl Schiewerling
(A) Gerechtigkeit verschiedene Facetten hat. Im Kern geht kommen. Mit Ihnen hoffe ich, dass wir an der einen oder (C)
es um die Teilhabe und die Chancengerechtigkeit. Es anderen Stelle weiterhin zu Verbesserungen kommen.
geht aber auch um die Leistungsgerechtigkeit.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Lothar Binding [Heidelberg]
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: [SPD]: Das war Gesülze!)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: der Kolle-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): gin Kipping?
Ja.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nein. – Ich will zum Punkt Hilfe zur Selbsthilfe kom-
Bitte schön. men. Die Mittel, die im Eingliederungstitel vorgesehen
sind, werden – absolut betrachtet – reduziert; das ist
richtig. Aber pro Langzeitarbeitslosem stehen mehr Mit-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): tel zur Verfügung als noch vor Jahren.
Lieber Herr Kollege Schiewerling, Sie haben sich ge-
rade mit viel Enthusiasmus für die Teilhabe behinderter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Menschen ausgesprochen, haben gesagt, was Sie sich al- neten der FDP – Brigitte Pothmer [BÜND-
les wünschen. Können Sie mir bitte sagen, wie Sie ange- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist einfach
sichts dessen vertreten können, dass in der Regelbedarfs- falsch!)
stufe 3 erwachsene Menschen mit Behinderung, die bei Daher kommt es jetzt darauf an, dass wir diese Mittel ef-
ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, Geld ab- fizient einsetzen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Hier
gezogen bekommen mit der Begründung, sie brauchten kommt es darauf an, dass es gute Maßnahmen gibt, die
zu Hause nicht so viel? Als hätten diese Menschen wir fördern und unterstützen. Daran wird es nicht schei-
20 Prozent weniger Kosten als andere! Es ist ein solcher tern. Wir werden die Menschen, die Unterstützung benö-
Skandal. Ihre Regierung sagt: Wir überprüfen das am tigen, wieder in Beschäftigung bringen. Wir werden uns
Sankt-Nimmerleins-Tag; denn wir können die Behinder- noch in diesem Monat in diesem Parlament über die ar-
ten nicht bevorzugen. Das gehört zur Begründung dazu. beitsmarktpolitischen Instrumente zu unterhalten haben.
Finden Sie nicht, dass das ein Skandal erster Ordnung Wir werden den entsprechenden Gesetzentwurf hier in
ist, den man sofort aus der Welt schaffen müsste? zweiter und dritter Lesung im Detail beraten. Ich glaube, (D)
(B)
(Beifall bei der LINKEN) dass es notwendig ist, intensiv darauf einzugehen.
Lassen Sie mich einen Satz zum Thema Rente sagen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU): Der Rentendialog ist jetzt entstanden; dafür sind wir sehr
Geschätzter Herr Kollege Seifert, ich weiß, dass über dankbar. Wir haben uns im Koalitionsvertrag mit Blick
diesen Punkt in der Vergangenheit heftig diskutiert auf die Entwicklungen der Renten und der Altersein-
wurde und auch immer noch darüber diskutiert wird. Ich künfte vorgenommen, diese Dinge in dieser Legislatur-
will Ihnen allerdings sagen – ich bitte Sie herzlich, in periode möglichst schnell zu regeln. Es gibt ein paar
dieser Frage offen zu sein –, dass es in der Regelstufe 3 Grundprinzipien, die wir beachten werden. Sie lauten
unterschiedliche Berechnungen gibt und dass die Le- wie folgt.
benssituation vieler Menschen, die behindert sind, so Erstens. Rente ist Lohn für Lebensleistung. Wenn wir
aussieht, dass sie sehr wohl gemeinsam mit anderen in dies nicht beibehalten, machen wir Rente zu einem So-
einem Haushalt leben. Dies ist in die Berechnungen und zialhilfesystem. Das ist Rente aber nicht. Rente muss
Grundlagen eingeflossen. Lohn für Lebensleistung bleiben.
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Einzelne Ansätze dürfen wir nicht isoliert betrachten. neten der FDP)
Zweitens. Rente muss aufgreifen, dass innerhalb ei-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Warum?)
nes Solidarsystems gewisse Ausgleiche möglich sind.
Ich will Ihnen allerdings gerne zugestehen – ich Letztendlich ist all das, was wir der Rentenversicherung
hoffe, dass Sie das akzeptieren –, dass es abgesehen von als Leistungsträger zusätzlich aufbürden, mit Steuern der
einer Reihe von Detailfragen – ich gebe zu, dass man Allgemeinheit zu finanzieren und kann nicht von den
über diese trefflich diskutieren kann – unterschiedliche Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern gestemmt wer-
Gesichtspunkte gibt. Es gibt auf Bundes-, Länder- und den. Das ist ein wichtiger Teil unseres Solidarsystems.
kommunaler Ebene in der Bundesrepublik Deutschland (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
viele Anstrengungen zur Inklusion und zur Integration der FDP)
von Menschen mit Behinderungen; freie Träger und
viele Institutionen arbeiten mit großem Nachdruck und Wir werden im Haushaltsjahr 2012 alles daransetzen,
mit großer Leidenschaft daran. Dazu gehören auch Leis- die Voraussetzungen zu schaffen, dass Menschen, die in
tungen, die den behinderten Menschen insgesamt zu- Beschäftigung kommen wollen, wieder in Beschäftigung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14619
Karl Schiewerling
(A) kommen. Wir werden die Brücken dafür weiter bauen. Wir haben keine neue Regelbedarfsstufe eingeführt; (C)
Wir werden für die Langzeitarbeitslosen, die es beson- darum ging es auch gar nicht.
ders schwer haben, die Treppe in den ersten Arbeits-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Doch!)
markt zielführend weiter stabilisieren und ausbauen. Ich
sage Ihnen: Wir wollen dies in der Verantwortung, die – Nein. – Es ging darum, dass Menschen mit Behinde-
wir vor den Menschen haben, tun. Wir sind auf einem rung, die erwerbsfähig sind und zu Hause wohnen, mit
guten Weg. Diesen Weg werden wir zum Wohle der Unterstützung und Förderung im Prinzip jederzeit die
Menschen gemeinsam in dieser Koalition fortsetzen, und Möglichkeit haben, aus ihrer Abhängigkeit herauszu-
zwar in einem guten Schulterschluss mit all denjenigen, kommen. Die Diskussion, die wir geführt haben, mün-
die wollen, dass wir auf diesem Weg weitergehen. dete in die Strukturen, die wir geschaffen haben. Um auf
Ihre Frage zu antworten: Ich teile die Auffassung des
Herzlichen Dank. Bundesarbeitsministeriums.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:


Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
gin Katja Kipping.
(Beifall bei der SPD)
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Kollege Schiewerling, ich möchte noch einmal Katja Mast (SPD):
auf die Regelbedarfsstufe 3 eingehen. Da das ein kom- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
plizierter Begriff ist, zur Erläuterung: Bei der Neufest- Lieber Kollege Schiewerling, ich hätte gerne von Ihnen
setzung der Hartz-IV-Regelsätze hat Ihre Regierung be- gehört, was Sie dazu sagen, dass der Haushalt des Bun-
schlossen, eine neue Stufe für erwachsene bedürftige desarbeitsministeriums von 2011 bis 2015 um 26,5 Mil-
Behinderte einzuführen. Im Ergebnis werden erwachse- liarden Euro gekürzt werden soll, ganz egal, wie hoch
nen Bedürftigen – vor allen Dingen betroffen sind Be- die Arbeitslosenzahlen sind und was in dieser Republik
hinderte – im Monat 73 Euro gestrichen. Sie haben den passiert. Das sind strukturelle Kürzungen, keine kon-
Behinderten also richtig in die Tasche gegriffen und ih- junkturellen Kürzungen.
nen pro Monat 73 Euro weggenommen. Ich hätte auch gern etwas von Ihnen zu Folgendem
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui!) gehört: Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat uns allen
(B) mitgeteilt – über 3 000 Unterschriften haben es besiegelt –, (D)
Es ging dabei nicht um objektive Berechnungen, son- dass im letzten Jahr die Zahl der Langzeitarbeitslosen,
dern um eine ganz klare politische Entscheidung Ihrer- die Arbeitslosengeld II beziehen, um 4 Prozent zurück-
seits. Diese Entscheidung war so umstritten und ist so gegangen ist, dass Ihre Haushaltskürzungen, die diese
stark kritisiert worden, dass Sie im Vermittlungsaus- Personengruppe betreffen, aber ein Volumen von 25 Pro-
schuss, als es um einen Kompromiss mit dem Bundesrat zent hatten. Auch hier wurde also strukturell gekürzt.
ging, versprochen haben, zu prüfen, inwieweit man ver- Auch hier hätte die Möglichkeit bestanden, Menschen
hindern kann, dass Behinderte so benachteiligt werden. durch Bildung in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Inzwischen liegt mir eine Antwort des Bundesarbeitsmi- Auch hier haben Sie Möglichkeiten gestrichen, echte
nisteriums vor, in der es eindeutig heißt: Wir sehen dies- Beschäftigungspolitik zu betreiben, um Vollbeschäfti-
bezüglich keinen Handlungsbedarf. Es bleibt alles so, gung – Sie sprechen ja immer gern von „Arbeit für alle“;
wie es ist. – Ich finde, das ist nicht hinnehmbar. Ich hätte wir sagen lieber „gute Arbeit für alle“ – zu erreichen. Sie
Sie vorhin gern gefragt, ob Sie die Auffassung der Bun- nehmen langzeitarbeitslosen Menschen mit Ihrer Politik
desregierung teilen, dass tatsächlich diesbezüglich kein die Perspektiven und die Chancen auf würdevolle Teil-
Handlungsbedarf besteht. Ich glaube, wenn man es mit habe an dieser Gesellschaft. Dazu haben Sie gerade
der UN-Behindertenrechtskonvention ernst meint, dann nichts gesagt, Kollege Schiewerling.
sollte man nicht gerade den ärmsten Menschen mit Be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hinderung in die Tasche greifen.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- GRÜNEN)
neten der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin]
Ich frage mich: Was ist eigentlich Ursula von der Leyens
[FDP]: Sie haben doch das Blindengeld in
Ziel in der Arbeitsmarktpolitik?
Berlin gestrichen!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Menschen in Ar-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): beit bringen! Ganz einfach!)
Frau Kollegin Kipping, um mit der UN-Behinderten- Welche Antwort hat die Ministerin auf die Probleme am
rechtskonvention anzufangen: Wir nehmen sie ernst. Im Arbeitsmarkt? Wofür kämpft diese Ministerin? Für
Kern geht es bei der UN-Behindertenrechtskonvention Goldreserven in Europa oder für gute Arbeit für alle?
um Inklusion und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das ist doch die Frage an dieser Stelle.
(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Ohne In Deutschland ist eine Spaltung am Arbeitsmarkt
Geld?) festzustellen. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die
14620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Katja Mast
(A) langzeitarbeitslos sind. Diese Menschen befinden sich Wo sind Ihre Antworten für diese 1,5 Millionen Men- (C)
übrigens in unterschiedlichen Situationen. Manche von schen, welche die Fachkräfte unserer Wirtschaft für mor-
ihnen stehen ganz am Rand, weisen vielfache Vermitt- gen sind? Sie sind für den Zusammenhalt in der Gesell-
lungshemmnisse auf und hatten seit vielen Jahren keine schaft sowie das wirtschaftliche Wachstum wichtig.
Arbeit mehr. Denen müssen wir uns politisch zuwenden;
Sie geben den Menschen, die am Rande stehen
sie stehen am Rand. Auf der anderen Seite haben wir gut
– Langzeitarbeitslose mit vielen Vermittlungshemmnis-
ausgebildete Fachkräfte, von denen wir noch mehr brau-
sen –, keine echten Antworten. Sie nehmen Ihnen durch
chen.
Ihre Instrumentenreform die Perspektive auf eine sozial-
Ich komme zur zweiten Spaltung am Arbeitsmarkt. versicherungspflichtige Beschäftigung. Ich habe das Ge-
Wir haben im europäischen Vergleich die höchste Quote fühl, dass sich Ihre Ministerin bereits aus der Arbeits-
an prekären Beschäftigungsverhältnissen. Auf der ande- marktpolitik verabschiedet hat. Sie will noch hoch
ren Seite gibt es Menschen in Normalarbeitsverhältnis- hinaus und hat vergessen, was man für Menschen tun
sen. Auch in Bezug auf diese Spaltung gibt es von muss, die am Rande stehen.
Ursula von der Leyen bzw. von ihrer Arbeitsmarktpolitik
keine Antworten. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Die SPD
hat sich von der Realität verabschiedet!)
Es gibt eine dritte Spaltung auf dem Arbeitsmarkt.
Frauen verdienen im Schnitt 23 Prozent weniger als Ich finde, dass es Ursula von der Leyens Aufgabe ist,
Männer. Es geht dabei nicht nur um Alleinerziehende. diesen Menschen ein Gesicht und eine Stimme zu geben.
Das ist eine Geschlechterfrage. Auch darauf gibt es Aber dazu höre ich leider nichts von Ihnen. Deshalb
– weder im Haushalt noch in den arbeitspolitischen In- werden wir den von Ihnen vorgelegten Haushaltsentwurf
strumenten noch durch irgendwelche Taten – keine Ant- nicht durch das Parlament durchwinken.
worten von Ursula von der Leyen. Darum geht es heute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in der Haushaltsdebatte. der LINKEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN) Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner für
Der vorgelegte Haushalt verschärft diese Spaltung; er
die Fraktion der FDP ist unser Kollege Dr. Heinrich
vermindert sie nicht. Das ist umso bemerkenswerter,
Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
weil die Regierung letztes Jahr ein sogenanntes Sparpa-
ket vorgelegt hat. Ich glaube, Sie haben es sogar als Zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kunftspaket bezeichnet. Dazu sage ich lieber Kürzungs-
(B) (D)
paket. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist übrigens die Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Politik, bei der es um Bildungsperspektiven auf dem Ar- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
beitsmarkt geht. Dabei geht es nicht um Arbeitslosen- Manchmal kann man sich wirklich nur wundern. Als vor
geld, sondern um das Schaffen von Chancen durch akti- einer Woche die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt ge-
ves Tun und Handeln. Dort wird gekürzt. Da wird auch geben wurden, lief die folgende Meldung über den
um so viel gekürzt, wie Sie in Ihren Sparbeschlüssen Ticker: Arbeitslosenzahl erreicht niedrigsten Stand seit
vorgesehen hatten. Aber wo überall wird das nicht ge- 20 Jahren – Opposition kritisiert unzureichende Arbeits-
tan? Überall dort, wo Sie diejenigen mit belasten woll- marktpolitik der Bundesregierung. – Darüber habe ich
ten, die gut verdienen. Beispielsweise gibt es keine Fi- mich gewundert.
nanztransaktionsteuer, obwohl Sie sie vorgesehen hatten.
Auch die Brennelementesteuer gibt es nicht. Die Wie- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
dereinführung des Fiskusprivilegs bei Insolvenzverfah- CDU/CSU)
ren gibt es ebenfalls nicht. Die Streitkräfte sollten ihren
Das zeigt aus meiner Sicht zweierlei. Zum einen zeigt es,
Beitrag zum Sparpaket leisten. Das alles gibt es nicht.
wie gut wir sind. Zum anderen zeigt es, wie einfallslos
Das Einzige, woran diese Regierung festhält, ist das
Sie sind. Frau Mast, Sie haben gefragt: Was ist eigentlich
Kürzen bei den Menschen, die am Rande stehen, und
das Ziel dieser Koalition bzw. dieser Bundesregierung? –
dort, wo es um Investitionen in der Arbeitsmarktpolitik
Unser Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Dabei
geht. Deshalb regen wir von der Opposition uns auch die
sind wir sehr erfolgreich. Ich will Ihnen die Zahlen nen-
ganze Zeit über so auf. Sie kümmern sich nicht um die
nen; man kann sie nicht oft genug wiederholen. Im Au-
Menschen, die am Rande dieser Gesellschaft stehen. Sie
gust waren noch 2,945 Millionen Menschen arbeitslos,
kürzen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Bildungs-
238 000 weniger als noch ein Jahr zuvor.
politik des Bundes. Das ist der größte Skandal dieser
Bundesregierung. (Zuruf von der SPD: Trotz Ihrer Regierung!)
(Beifall bei der SPD) 41,13 Millionen Menschen waren erwerbstätig – das ist
ein absoluter Hochstand, ein Allzeithoch –, 527 000 mehr
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Es gibt
Menschen als noch vor einem Jahr. 28,3 Millionen Men-
in dieser Republik 1,5 Millionen Jugendliche im Alter
schen gehen einer sozialversicherungspflichtigen Be-
von 20 bis 30 Jahren, die keine Berufsausbildung haben.
schäftigung nach, 684 000 mehr als noch vor einem Jahr.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die meisten in Tiefstand bei der Jugendarbeitslosigkeit: Mit 10 Prozent
rot-grün-regierten Ländern!) hat Deutschland in Europa die Spitzenposition inne.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14621
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Erstmals gibt es mehr angebotene Lehrstellen als Stel- Wir sind bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslo- (C)
lenbewerber. Davor können Sie doch nicht die Augen sigkeit erfolgreich. Wir werden – allen Unkenrufen zum
verschließen. Sie können sich doch nicht hier hinstellen Trotz – sogar noch erfolgreicher sein. Ich will Ihnen
und herummäkeln und sagen: Alles, was diese Bundes- auch sagen, warum. Weil unsere Reformen Ihrer ver-
regierung macht, ist schlecht. korksten und vom Bundesverfassungsgericht beanstan-
deten Hartz-IV-Gesetze auch für die Langzeitarbeitslo-
Frau Nahles hat ausweislich der Tickermeldung er- sen einen Pfad zurück in sozialversicherungspflichtige
klärt: Wenn die Bundesregierung nicht alles falsch ge-
Beschäftigung schaffen werden: mit kooperativen Job-
macht hätte, dann hätte sie einen noch stärkeren Rück-
centern, mit Zielvereinbarungen, unterjähriger Erfolgs-
gang der Arbeitslosigkeit erzielen können. – Dazu will
kontrolle – demnächst kann übrigens jeder sogar online
ich eines sagen – Frau Nahles ist jetzt nicht mehr da –:
sehen, wie sein Jobcenter performt, wie gut es also ist –,
Wenn Frau Nahles und die SPD regiert hätten, hätten Sie
mit Regelsätzen, die die Existenz sichern, aber Erwerbs-
diese Zahlen nicht erreicht; denn unsere Zahlen sind so
arbeit nicht unattraktiv machen, und mit arbeitsmarkt-
gut, weil wir auf einen Mix der Beschäftigungsformen
politischen Instrumenten, die die Jobcenter vor Ort in die
setzen. Sie aber wollen nur bestimmte Beschäftigungs-
Lage versetzen, einem Langzeitarbeitslosen in freiem
formen – das haben Sie eben gesagt, Frau Mast – als
Ermessen die bestmögliche Förderung zukommen zu
gute Arbeit anerkennen. Ich sage Ihnen: Wir freuen uns,
lassen. Das heißt, wir gehen individuell auf jeden Einzel-
dass mehr als die Hälfte der neuen Stellen Vollzeitstellen
nen ein. Deswegen werden wir weitere Erfolge bei der
sind. Ich sage Ihnen aber auch: Wenn wir ein hohes Maß
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erzielen, also
an Beschäftigung wollen, dann gehören Teilzeit, Midi-
dort, wo Sie jahrelang nur nach dem Gießkannenprinzip
jobs und auch geringfügige Beschäftigung ebenso zum
gearbeitet haben.
Erwerbsleben wie Zeitarbeit oder befristete Beschäfti-
gung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Katja Mast [SPD]: Für uns sind 5-Euro-Löhne
Noch eine kurze Anmerkung zur Rentenpolitik. Ich
nicht in Ordnung! Für Sie schon!)
will hier sehr deutlich sagen: Eine nachsorgende Kom-
Dieses hohe Maß an Beschäftigung ist kein Selbst- pensation im Bereich der Altersarmutsbekämpfung stößt
zweck. Ohne diesen Höchststand bei der sozialversiche- sehr schnell an Grenzen. Auch ein Mindestlohn ist keine
rungspflichtigen Beschäftigung und bei der Erwerbstä- Lösung; das wissen Sie so gut wie ich.
tigkeit hätten wir nicht diese insgesamt sehr komfortable
Situation im Bundeshaushalt – mit der Schuldenbremse –, (Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)
aber auch in den Sozialkassen. Wie kommt es denn, dass
(B) wir beim Rentenbeitrag Senkungsspielräume von 0,8 Pro- Man müsste einen Mindestlohn von 12 Euro einführen, (D)
um nach einem Arbeitsleben von 45 Jahren eine Rente
zentpunkten haben, die wir – wie gesetzlich vorgesehen –
auf Grundsicherungsniveau zu erzielen. Nein, hier sind
nutzen wollen?
wir ganz dezidiert anderer Auffassung. Wir glauben,
(Katja Mast [SPD]: Das ist die Konjunktur!) Prävention ist das Gebot der Stunde. Die Frage wurde
gestellt: Lohnt es sich für die Menschen, zu riestern?
Weil wir ein hohes Maß an Beschäftigung haben. Sie ha- Diese Frage wollen wir beantworten. Einen Vorschlag
ben es in der Vergangenheit nicht geschafft, die Beschäf- hat das BMAS in diesen Tagen gemacht. Sie kennen un-
tigungspotenziale auszuschöpfen. Deswegen sollten Sie seren Vorschlag, der Freibeträge für private und betrieb-
uns hier keine Vorwürfe machen. liche Vorsorge vorsieht. In jedem Fall sollte derjenige,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der eigene Anstrengungen unternommen hat, belohnt
der CDU/CSU) werden. Dieser Weg, den wir hier aufzeigen, ist richtig.
Dass so viele Menschen Arbeit haben, trägt zur soliden Mein letzter Punkt ist das Thema Hinzuverdienst-
Finanzierung unseres Gemeinwesens und zur Stabilisie- grenzen. Es geht uns nicht darum, die Anhebung dieser
rung der sozialen Sicherungssysteme bei. Grenzen als einen Beitrag zur Altersarmutsbekämpfung
zu sehen, nach dem Motto: Die Älteren müssen noch ar-
Ich habe von dieser Stelle aus immer gesagt: Ein Ar-
beitsplatz ist das höchste Gut. Man kann auch sagen: beiten. – Sie verkennen, dass es für viele Menschen auch
Viele Arbeitsplätze sind die beste Garantie für einen etwas mit Teilhabe und dem Selbstwertgefühl zu tun hat,
funktionierenden Sozialstaat. im Alter noch dazuzugehören. Ich erlebe in unglaublich
vielen Gesprächen, dass die Menschen sagen: Es ist
(Katja Mast [SPD]: Gute Arbeit!) wirklich überfällig. Warum verdammt ihr uns zu einem
400-Euro-Job, wenn wir als 63-Jährige in Rente gehen?
Frau Mast, auch wenn Sie es nicht sofort einsehen wol- Wir wollen gerne noch mehr machen. Gebt uns Spiel-
len: Wir können gute Fortschritte bei der Bekämpfung raum. – Genau das tut diese Koalition. Wir sind sehr nah
der Langzeitarbeitslosigkeit verzeichnen. Allein im Au- am Puls der Menschen. Wir kommen gut voran. Das
gust 2010 ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürfti-
sieht man an unseren Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt.
gen – diese Zahl ist nicht direkt mit der Zahl der Lang-
zeitarbeitslosen gleichzusetzen; der Kreis ist größer – im Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jahresvergleich um 298 860 zurückgegangen, ein Minus
von 6,1 Prozent; die Kollegin Hinz hat darauf hingewie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sen. der CDU/CSU)
14622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Maßnahmen ist seit Jahresbeginn insgesamt um fast (C)
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist 38 Prozent zurückgegangen. Erzählen Sie nicht immer,
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Sabine auch die Arbeitslosigkeit sei zurückgegangen! Deren
Zimmermann. Bitte schön, Frau Kollegin Zimmermann. Rückgang im Vergleich zum Vorjahr – die Zahlen kön-
nen Sie überall nachlesen – beträgt insgesamt nur
(Beifall bei der LINKEN) 7,5 Prozent, im Hartz-IV-Bereich sind es sogar bloß
3,5 Prozent. Dabei benötigen gerade Langzeiterwerbs-
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): lose Qualifizierung und Bildung, um überhaupt eine
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Chance auf einen Job zu bekommen.
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin
von der Leyen, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zuge- Nun erzählt uns die Arbeitsministerin, in den kom-
hört. Ich muss Ihnen von dieser Stelle aus sagen: Ihre menden Jahren 330 000 Langzeiterwerbslose wieder in
Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik spaltet die Gesellschaft Arbeit bringen zu wollen. Da müsste Frau von der Leyen
in Arm und Reich. schon zaubern können; denn dieses Vorhaben ohne Geld
durchzuführen zu wollen, das ist wohl ein hehres Ziel.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Vielmehr drängt sich der Eindruck auf: Diese Bundesre-
FDP: So, so!) gierung ist daran interessiert, eine hohe Sockelarbeitslo-
Während Sie und Ihre Regierung zusehen, dass zo- sigkeit beizubehalten, sozusagen als Abschreckung für
ckende Banken gestützt werden, Reiche immer reicher die Beschäftigten, um sie daran zu erinnern, dass ihnen
werden, haben Sie für die Menschen, die arbeitslos sind Hartz IV droht, sollten sie selbstbewusst höhere Löhne
und täglich um das Überleben kämpfen, nur Peanuts in und bessere Arbeitsbedingungen einfordern.
der Tasche. Das ist unmöglich. (Zuruf von der FDP: Was soll das denn? –
(Beifall bei der LINKEN) Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist
eine Verschwörungstheorie!)
20 Milliarden Euro wollen Sie bei den Erwerbslosen
abkassieren. Schon im letzten Jahr haben Sie beschlos- Das ist die Logik Ihrer Politik.
sen, die Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik bis 2014 (Beifall bei der LINKEN)
– die Zahlen wurden bereits genannt – um diesen Betrag
zu reduzieren. Da können Sie sich drehen und wenden, Die Linke fordert die Bundesregierung zu einem
wie Sie wollen: Das ist nichts anderes als eine brutale grundlegenden Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik
Kürzung auf dem Rücken von Millionen von arbeitslo- auf. Vor allem die Menschen mit den schlechtesten Job-
sen Menschen. chancen, Langzeiterwerbslose, Menschen mit Behinde-
(B) rung und Ältere, dürfen nicht abgeschrieben werden. Sie (D)
(Beifall bei der LINKEN) müssen verstärkt gefördert werden.
Als Begründung für diesen Kahlschlag haben Sie in die- (Beifall bei der LINKEN)
sem Jahr das Gesetz zur Verbesserung der Eingliede-
rungschancen am Arbeitsmarkt nachgeschoben. Ich Sich nur auf leicht vermittelbare Erwerbslose zu konzen-
muss schon sagen: Das ist ein dreistes Bubenstück, die- trieren, wie Sie es machen, und den Rest seinem Schick-
sem Kürzungsprogramm auch noch das Etikett „Verbes- sal zu überlassen, ist unchristlich und unsozial. Nehmen
serung“ aufzudrücken. Ohne Moos, nichts los – das weiß Sie endlich Geld in die Hand, und investieren Sie in
doch jeder, und wenn kein Geld vorhanden ist, können Qualifizierung und Weiterbildung!
keine Maßnahmen durchgeführt werden. Damit verbes-
sern Sie nicht die Chancen für die Langzeiterwerbslosen, Vizepräsident Eduard Oswald:
sondern erhöhen nur die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frau Kollegin, Sie haben noch die Chance, eine Zwi-
Menschen keinen Job mehr bekommen. Das ist Ihre schenfrage des Kollegen Dr. Lindner zuzulassen.
Politik.
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Birkwald [DIE LINKE]: Und das ist eine Aber natürlich, Herr Lindner. Ich freue mich.
schlechte Politik!)
In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es Vizepräsident Eduard Oswald:
großspurig: Die Arbeitsmarktpolitik soll dezentraler, fle- Das ist ja schön.
xibler, individuell und letztlich effizienter gestaltet wer-
den. – Ich bitte Sie! Was soll in Zukunft der Arbeitsver- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ich freue
mittler vor Ort noch entscheiden können, wenn ihm mich auch!)
keine Mittel zur Verfügung stehen? Wollen Sie den Be-
schäftigten der Bundesagentur für Arbeit, den Jobver- Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
mittlern, den Schwarzen Peter zuschieben? Das ist doch Denken Sie, dass Sie so in Berlin über 5 Prozent kom-
wohl unmöglich. men?
Schon jetzt sparen Sie bei den arbeitsmarktpolitischen (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Passen
Maßnahmen, zum Beispiel bei der Weiterbildung. Die Sie auf, dass Sie nicht unter 5 Prozent rut-
Zahl der neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in schen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14623

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: ben wir eine, sozusagen im Nebenerwerb. Erst passierte (C)
Sie sollten zuerst die Frage anhören, statt schon vor- nichts, und dann gab es plötzlich hektische Betriebsam-
her zu antworten. – Bitte schön, Kollege Lindner. keit. Zuerst habe ich gedacht, dass das vielleicht etwas
mit der Großen Anfrage „Altersarmut“ meiner Fraktion
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): zu tun hat. Die Antworten kann man grob in drei Punk-
Wenn wir schon bei Zahlenspielen sind, Frau Kolle- ten zusammenfassen. Erstens. Es gibt keine seriösen Stu-
gin, und Sie gerade wieder angemahnt haben, dass wir dien dazu, sagt die Bundesregierung. Zweitens sagt sie:
zu wenig Eingliederungshilfen für Behinderte anbieten: Wir haben nicht vor, welche zu erstellen. Die dritte Ant-
Wie erklären Sie es sich, dass der rot-rote Senat im Jahr wort lautet: Altersarmut ist kein Problem. – So ähnlich
2003, dachten auch die drei Affen. So ähnlich sind auch die
Vorschläge, die die Ministerin jetzt zum Thema Altersar-
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE mut vorlegt. Sie kommen typisch von-der-Leyensch da-
GRÜNEN]: Gleich reißt er es für Berlin! – her: Erst gibt es ein Riesentamtam. Aber es ist nicht wie
Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: beim Scheinriesen Tur Tur, der größer wird, wenn man
Jetzt sind Sie bei 2,8 Prozent!) näher kommt. Hier handelt es sich eher um einen aufge-
blasenen Zwerg.
kurz nachdem er ins Amt gekommen ist, das Blinden-
geld in Berlin von 585 Euro auf 468 Euro gekürzt hat Worüber wird beim Rentendialog eigentlich geredet?
und Berlin damals beim Blindengeld von Platz eins auf Es geht nicht um diejenigen, die sich tatsächlich Sorgen
Platz zehn abgerutscht ist? Können Sie sich bei diesem machen und Sorgen machen müssen. Jeder Zweite sorgt
Punkt ebenso wie bei der Jugendarbeitslosigkeit erklä- sich nämlich in der Tat darum, dass sein Einkommen im
ren, wie das Reden von Ihnen und Ihren Kollegen ir- Alter nicht ausreicht. Es geht nicht um diejenigen, die
gendwie mit dem in Einklang zu bringen ist, was Sie in mit 63 gerne noch etwas tun wollen, um dazuzugehören.
der Wirklichkeit fabrizieren? Die Frage ist: Wem muten wir eigentlich zu, dass er im
Alter noch arbeiten muss, weil sein Einkommen nicht
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): ausreicht? Es ist Altersarmut, und um die geht es.
Ich finde es gut, dass Sie dieses Podium nutzen, um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
noch einmal richtig Wahlkampf für Berlin zu machen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Sie haben es auch wirklich nötig. KEN)
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ich bitte
Für die Regelung, die bei der sogenannten Zuschuss-
Sie, auf meine Frage zu antworten!)
rente getroffen werden soll, hat die Ministerin im
(B) Aber Sie verwechseln die Bundespolitik mit der Landes- Zeit-Interview fünf Zeilen gebraucht, um alle Bedingun- (D)
politik. Was das angeht, was Sie hier anführen, um uns gen aufzuzählen, die man erfüllen muss, um vielleicht
vielleicht in die Bredouille zu bringen: Sie sollten da- einen Anspruch darauf zu haben. Das soll bei etwa
rüber nachdenken, dass Sie in der Bundespolitik viele 20 000 Menschen der Fall sein. Übrigens sind gar keine
Menschen in Armut und Hartz IV treiben. Mittel dafür eingestellt. Dieses Instrument wird wahr-
scheinlich niemanden tatsächlich erreichen. Man soll
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Claudia 35 Jahre privat vorgesorgt und 45 Jahre eingezahlt ha-
Winterstein [FDP]: Antworten Sie doch ein- ben. Das dient nicht der Bekämpfung von Altersarmut,
fach!) sondern das ist eine Mogelpackung und nichts anderes.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ihre Kahlschlagpolitik ist kein Rezept für eine positive
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Ihr kopfloses Spa-
ren auf dem Rücken der Erwerbslosen wird ein Bume- Wen trifft denn die Altersarmut tatsächlich? Sie trifft
rang sein. Sie tragen dazu bei, dass die Demokratie zer- Frauen. Diese erreichen trotz aller Anrechnungspirouet-
stört und die Spaltung der Gesellschaft in Arm und ten der Ministerin mitnichten so viele Beitragsjahre.
Reich immer weiter vorangetrieben wird. Heute sind es im Schnitt bei Frauen 26,8, bei Männern
Danke schön. 40,2 Beitragsjahre. Wie soll man da auf 45 Beitragsjahre
kommen? Die Altersarmut trifft vor allen Dingen die
(Beifall bei der LINKEN) Ostdeutschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien in
den letzten 20 Jahren, die jetzt ins Rentenalter kommen
Vizepräsident Eduard Oswald: und der Gefahr der Altersarmut ausgesetzt sind. Auf
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächste hat für die diese Probleme gibt es keine Antwort.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau Wen trifft die Altersarmut noch? Sie trifft die Gering-
Katrin Göring-Eckardt das Wort. Bitte schön, Frau Kol- verdiener. Es ist schon erwähnt worden, dass uns die
legin Göring-Eckardt. OECD bescheinigt hat, dass wir bei der Altersversor-
gung für Geringverdiener – darunter befinden sich
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 69 Prozent Frauen – das Schlusslicht bilden. Es sind
NEN): heute 6,5 Millionen Menschen, die im Niedriglohnsektor
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! arbeiten. Für die Probleme dieser Menschen gibt es
Zwei Jahre hatten wir keine Rentenministerin. Jetzt ha- keine Antwort. Das gilt auch für die Langzeitarbeitslo-
14624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Katrin Göring-Eckardt
(A) sen. Gerade diese haben unter den Kürzungen im Haus- gungen die meisten Erwerbstätigen die Möglichkeit ha- (C)
halt zu leiden. Bis 2015 wird es 10 Milliarden Euro we- ben, eine Zuschussrente zu erhalten, und dass vor allem
niger geben. Besonders drastisch wirkt sich das Fehlen Frauen – ich spreche sie als Abgeordnetenkollegin an –
von 5,2 Milliarden Euro beim Gründungszuschuss aus. von einer Zuschussrente profitieren werden.
Das trifft die Selbstständigen. Weitere Kürzungen gibt es
bei der Arbeitsförderung und der Integration. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
res Kollegen Weiß? NEN):
Herr Weiß, das würde ich gerne tun, wenn dem so
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wäre. Abgesehen davon, dass die Ministerin es vorgezo-
NEN): gen hat, nicht dem Parlament ihre Vorschläge vorzule-
Sehr gerne. gen – das machen Sie jetzt freundlicherweise, aber das
Parlament wird erst nach dem Rentendialog informiert,
was bei dieser Bundesregierung so üblich ist; damit kön-
Vizepräsident Eduard Oswald: nen wir notfalls leben –, sage ich Ihnen: 20 000 Men-
Bitte schön, Kollege Weiß. schen sollen im nächsten Jahr – das sagt die Ministerin –
von dieser Zuschussrente profitieren. 400 000 Menschen
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): bekommen die Grundsicherung im Alter. Zwischen die-
Verehrte Frau Kollegin Göring-Eckardt, bevor durch sen beiden Zahlen scheint mir doch ein gewisser Ab-
Ihre Rede in der Öffentlichkeit eine Meldung über den stand zu bestehen. Es stimmt also nicht, dass tatsächlich
Vorschlag der Bundesministerin Ursula von der Leyen diejenigen von der Zuschussrente profitieren, die beson-
zur Zuschussrente verbreitet wird, möchte ich Sie Fol- ders von Altersarmut betroffen sind. Ich wäre im Grund-
gendes fragen: Zum Ersten. Müssen Sie nicht anerken- satz für die Zuschussrente, wenn sie nicht wieder eine
nen, dass die vorgeschlagene Rentenzahlung von Mogelpackung nach dem Motto „Wir reden viel und ma-
850 Euro für Menschen, die in ihrem Berufsleben zu we- chen es ganz groß“ von Frau von der Leyen wäre. Ich
nig für die Rente ansparen konnten, um über 100 Euro befürchte: Am Schluss profitieren nur ganz wenige. Es
über der Grundsicherung liegt, die zu Zeiten von Rot- wird viel geredet, aber für die Menschen verbessert sich
Grün für Menschen, die im Alter zu wenig Rente haben, nichts.
eingeführt worden ist? Zum Zweiten: Ist Ihnen bekannt,
dass der Vorschlag der Frau Bundesministerin von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(B) Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie wären im (D)
Leyen damit startet, dass man 30 Beitragsjahre haben
muss, um diese Rente zu erhalten? Zu den Beitragsjah- Grundsatz dafür, wenn sie nicht von der Union
ren zählen auch Zeiten der Kindererziehung und der wäre!)
Pflege. Ferner muss man 40 Versicherungsjahre haben, Ich will auf ein Argument eingehen, das Frau von der
wozu auch Jahre der Arbeitslosigkeit zählen. Leyen in ihrer Rede vorhin deutlich gemacht hat, als sie
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gesagt hat: Das Rentensystem kann die Veränderungen
45!) in der Arbeitswelt und das, was im Arbeitsleben nicht
funktioniert hat, nicht ausgleichen. Mein Vorschlag ist
– Nein. Der Vorschlag der Frau Bundesministerin von ganz einfach: Vielleicht kann die Rentenministerin ein-
der Leyen startet damit, dass man 30 Beitragsjahre ha- mal mit der Arbeitsministerin reden, sodass man tatsäch-
ben muss, später sind es 35. Wir reden davon, von wel- lich Prävention gegen Altersarmut betreiben kann. Der
chem Punkt aus wir starten. Zu diesen 30 Beitragsjahren Mindestlohn ist zwar nicht das alleinige Instrument in
zählen auch Zeiten der Kindererziehung und der Pflege. diesem Zusammenhang, aber wenigstens ist er eines, das
Zu den 40 Versicherungsjahren, die man haben muss, man anwenden könnte.
zählen auch Zeiten der Arbeitslosigkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
NEN]: Hartz IV nicht!) CSU]: Jetzt kommt wieder das Allheilmittel
Man muss zudem fünf Jahre in eine staatlich geför- Mindestlohn!)
derte private Altersvorsorge oder in eine betriebliche Al-
tersvorsorge eingezahlt haben. Die Zeiten des Arbeitslo- All die von Koalitionsseite gemachten Vorschläge
sengeld-II-Bezuges werden auf die Rente angerechnet. sind nichts anderes als Trostpflaster. So bekämpft man
Sie zählen bei den 40 Jahren mit. die Altersarmut nicht. Altersarmut ist übrigens mehr, als
ein bisschen an der Rente zu drehen. Altersarmut ist
mehr als komplex: Sie bedeutet nicht nur Einkommens-
Vizepräsident Eduard Oswald: armut, sondern auch schlechteres Wohnen – Sie haben
Kollege Weiß, Sie sind dabei, eine Frage zu stellen. ganz nebenbei den Heizkostenzuschuss gestrichen –,
mangelhafte medizinische Versorgung; darauf gibt es
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): keine Reaktion. Auch gibt es keine Lösung für das Pro-
Ich möchte Frau Kollegin Göring-Eckardt die Frage blem der geringeren Mobilität. Die Frage, wie Migran-
stellen, ob sie anerkennt, dass unter diesen Startbedin- tinnen und Migranten oder auch Menschen mit Behinde-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14625
Katrin Göring-Eckardt
(A) rungen heute im Alter leben, spielt überhaupt keine ein Soll von 131,3 Milliarden Euro. Dies würde für das (C)
Rolle. Es geht nur mit einem Gesamtkonzept zur Be- Jahr 2012 – ich will in dieser Haushaltsdebatte auch ein-
kämpfung von Altersarmut und nicht mit einem Trost- mal auf Zahlen eingehen – immerhin eine Einsparung
pflaster für einige wenige. von 4,7 Milliarden Euro bedeuten. Für diese Leistung
möchte ich der Bundesregierung meine ausdrückliche
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anerkennung aussprechen. Wir haben es geschafft, die
sowie bei Abgeordneten der SPD) Krise zu überstehen. Die Wirtschaft wächst und hat das
Das, was von der Leyen macht – sie gibt keine Ant- Vorkrisenniveau erreicht. Wir haben einen enormen Zu-
worten –, ist Budenzauber in guter Blüm’scher Tradi- wachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.
tion, nach dem Motto: Wir verschließen die Augen vor Meine Damen und Herren der Opposition, es gibt keinen
den eigentlichen Problemen. Das ist nicht Armutsbe- Grund zu Schwarzmalerei: Deutschland geht es gut.
kämpfung, sondern ein Armutszeugnis dieser Bundesre- Hätte Rot-Grün das erreicht, hätte man drei Wochen auf
gierung – ein weiteres. den Marktplätzen getanzt.
Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Und jeden Abend ein Feuerwerk
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgebrannt!)
und bei der SPD)
Lassen Sie uns zum Haushalt zurückkehren. Grund
Vizepräsident Eduard Oswald: für die sinkenden Gesamtausgaben ist zunächst die posi-
tive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt mit stabilen Ar-
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für
beitslosenzahlen von unter 3 Millionen; 2,945 Millionen
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul
derzeit. Dies führt zu einer deutlichen Entlastung der so-
Lehrieder.
zialen Sicherungssysteme. Weniger Ausgaben, mehr
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Einnahmen – das rechnet sich; zu dieser Erkenntnis
der FDP) dürfte auch Frau Hagedorn kommen. Positive Auswir-
kungen haben auch die in der Arbeitsmarktpolitik einge-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): planten strukturellen Einsparungen im Rahmen des Zu-
kunftspakets vom Juni dieses Jahres.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegin Göring-
Eckardt, Sie haben sich in weiten Teilen Ihrer Rede mit Frau Hinz hat vorhin ausgeführt, die Reform der ar-
dem jetzt anstehenden Rentendialog beschäftigt. Ich beitsmarktpolitischen Instrumente würde letztendlich zu
würde sagen: Thema verfehlt. Wir reden heute über den einer Verschlechterung führen, weil die Fallmanager der
(B) Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozia- Jobcenter vor Ort in Zukunft weder das Geld noch die (D)
les und noch nicht über ein Projekt, das wir unmittelbar richtigen Mittel hätten. Das Gegenteil ist richtig. Ma-
nach der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instru- chen Sie sich die Mühe und sprechen Sie mit Ihren Job-
mente angehen wollen und für das ich unserer Arbeits- centern! Sprechen Sie mit der Bundesagentur!
ministerin ausdrücklich danken möchte. Frau von der
Leyen, was sie machen, das ist gut, das ist wichtig. Das (Bettina Hagedorn [SPD]: Wahrscheinlich
Ganze ist eine Baustelle; da haben Sie recht. gehen Sie da nie hin!)

Ich will eines sagen: Ich habe, als die Frau Ministerin Dort wird die Flexibilisierung ausdrücklich begrüßt.
den beginnenden Rentendialog hier vorgestellt hat, refle- Hätten Sie, Frau Hagedorn, sich die Mühe gemacht, am
xartig vom linken Flügel dieses Hauses, von der Links- Montag von 11 bis 14 Uhr bei der Anhörung zugegen zu
partei, abermals den Ruf „Mindestlöhne!“ gehört. sein, dann hätten Sie gehört, dass die Bundesagentur die
Flexibilisierung ausdrücklich begrüßt, weil die Instru-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr mente passgenauer eingesetzt werden können.
richtig!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau!)
Noch einmal zur Klarstellung – ich muss Ihnen schon
beim Rechnen helfen –: Um eine über die Grundsiche- Vorredner haben bereits ausgeführt, dass es unser Be-
rung hinausreichende Altersrente zu erreichen, kommt streben ist, nicht die Arbeitslosigkeit zu fördern, sondern
man weder mit dem Mindestlohn, den die Gewerkschaf- die Rückkehr in Arbeit. Das heißt, die Vermittlung in Ar-
ten fordern, noch mit dem Mindestlohn, den die Linkspar- beit ist unser erklärtes Ziel und nicht das Verbleiben in
tei vorschlägt – derzeit sind es 10 Euro, Frau Kipping –, Arbeitslosigkeit.
hin, sondern man brauchte 12,20 Euro. Ich kann verste-
Meine Damen und Herren, es wurde eben bereits da-
hen, dass man vor lauter Liebesbriefschreiben nach Kuba
rauf hingewiesen: Der Ansatz des Integrationstitels
nicht dazu kommt, so etwas nachzurechnen. Vielleicht
wurde zwar insgesamt etwas reduziert; das ist richtig.
sollten Sie das einmal tun.
Aber prozentual, das heißt im Verhältnis zu der Anzahl
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der betroffenen Personen, ist er gestiegen. Es gebietet
die Ehrlichkeit, den Mitbürgerinnen und Mitbürgern
Meine Damen und Herren, die Gesamtausgaben für auch das entsprechend zu sagen.
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahr
2012 belaufen sich auf rund 126,6 Milliarden Euro. Im (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/
Vergleich dazu haben wir in diesem Jahr voraussichtlich DIE GRÜNEN])
14626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Paul Lehrieder
(A) – Frau Pothmer, ich will wiederholen: Wir schärfen die setzt, um zu Einsparungen zu kommen, sondern wir (C)
arbeitsmarktpolitischen Instrumente, und das ist gut so. haben es geschafft, durch mehr Effizienz, mehr Transpa-
renz und strukturelle Vereinfachungen bei weniger Aus-
Die christlich-liberale Koalition stellt sich den He- gaben nicht nur die hohe Qualität unseres sozialen Sys-
rausforderungen, die die demografische Entwicklung der tems in Deutschland beizubehalten, sondern auch
kommenden Jahre und Jahrzehnte an uns richtet. Wir ge- nachhaltige Verbesserungen zu erreichen.
hen aktiv gegen Alters- und Kinderarmut und den Fach-
kräftemangel vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir verbessern weiter die Beschäftigungsbedingun- Erlauben Sie mir, da sich meine Redezeit so langsam
gen für Frauen und die Vereinbarkeit von Familie und dem Ende zuneigt, auf Folgendes hinzuweisen.
Beruf. Ich will einräumen: Wir haben mit dem Eltern-
geld und mit dem Ausbau der Krippenplätze auch mit Vizepräsident Eduard Oswald:
den Kollegen der SPD in der letzten Legislaturperiode
Das geht schneller, als Sie glauben.
einiges richtig gemacht. Das kann man ja einmal neidlos
sagen. Wir entwickeln das weiter fort. Wir verbessern
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter. Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich habe es fast befürchtet, Herr Präsident.
Wir sorgen für eine bessere Integration unserer Mi-
grantinnen und Migranten, um deren Potenziale zu nut- (Anette Kramme [SPD]: Man muss die Zeit
zen, und wir erleichtern älteren Menschen den Zugang auch nicht ausschöpfen!)
zum Arbeitsmarkt. Unter welchen Voraussetzungen und
mit welchen Prämissen das erfolgen wird, werden wir in Die Bundesagentur für Arbeit hat noch im Frühjahr
den nächsten Wochen und Monaten diskutieren. Frau ein Defizit von 5,4 Milliarden Euro zum Jahresende er-
Göring-Eckardt, Sie sind herzlich eingeladen, im Aus- wartet. Mittlerweile ergeben die Prognosen einen Wert
schuss mit uns das Für und Wider der einzelnen Maß- von etwa 1,9 Milliarden Euro. Auch hier macht sich die
nahmen im Rahmen des Rentendialogs zu diskutieren. wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung sehr positiv
bemerkbar. Das heißt, wir werden in den nächsten Jahren
Wie meine Vorredner schon verdeutlicht haben, muss auch bei der Bundesagentur für Arbeit die richtigen Ent-
ein vernünftiger und zukunftsorientierter Haushalt zwei scheidungen zugunsten unserer Arbeitnehmerinnen und
Funktionen erfüllen. Er muss für wirtschaftliches Wachs- Arbeitnehmer, aber auch zugunsten der Menschen tref-
tum sorgen und jedem Bürger die Möglichkeit geben, fen,
sich zu entwickeln und einer Arbeit nachzugehen. Er
(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Bei der
(B) muss aber auch solide und finanzierbar sein. Diese Ba- Finanzierung?) (D)
lance, liebe Kolleginnen und Kollegen, hält der vorlie-
gende Haushaltsentwurf. die das Pech haben, derzeit keinen Arbeitsplatz zu ha-
Meine Damen und Herren, wir haben gemeinsam be- ben.
schlossen, die Schuldenbremse in das Grundgesetz auf- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
zunehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt! –
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein,
nein!) Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin für
– Ja, ihr nicht; das weiß ich schon. – Dieser Schritt war die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin
wichtig und richtig, um eine nachhaltige und zukunfts- Angelika Krüger-Leißner. Bitte schön, Frau Kollegin
orientierte Politik zu betreiben, eine Politik für unsere Krüger-Leißner.
Kinder und Enkelkinder. Daran wird die christlich-libe-
rale Koalition festhalten.
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nicht die Poli- Kollegen! Frau Ministerin von der Leyen hat ja in ihren
tik der Arbeitslosen! Wo bleiben die Beiträge Eingangsworten wieder versucht, uns glauben zu ma-
der Wirtschaft bei Ihrem Sparpaket?) chen, dass sie mit diesem Haushalt alles bewältige: Alle
Wie wichtig die Schuldenbremse ist, haben auch Sie wichtigen arbeitsmarktpolitischen und sozialpolitischen
heute Morgen in der Debatte von neun bis elf in diesem Aufgaben wolle sie damit bewältigen. Wir sehen das
Hohen Hause vernehmen können. Genau diese Schul- ganz anders. Im Übrigen stehen wir damit nicht allein.
dendisziplin muss von den Ländern eingefordert werden, Dieser Haushalt zeigt dramatische Fehlentwicklungen in
die in den letzten Jahren über ihre Verhältnisse gelebt ha- der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf. Im Übrigen be-
ben. Wir sind auf einem guten Weg. Wir sollten auf die- stätigen Ihnen, Frau Ministerin, das auch die Länder, die
sem guten Weg voranschreiten. Kommunen, die Verbände, die Sozialträger, die Träger
im Umfeld der Arbeitsmarktpolitik. Nicht zuletzt in der
Wir müssen auch im Bereich Arbeit und Soziales spa- Anhörung am Montag – da waren Sie ja nicht zugegen –
ren. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposi- wurde ein vernichtendes Urteil über Ihre Instrumenten-
tion, wir haben gerade nicht einfach den Rotstift ange- reform gefällt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14627
Angelika Krüger-Leißner
(A) (Max Straubinger [CDU/CSU]: In welcher Ich frage Sie nun: Warum hören Sie eigentlich nicht (C)
Anhörung waren Sie? – Gegenruf des Abg. auf Ihre Experten? Hat nicht in der Vergangenheit die so-
Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In einer ande- lide Finanzsituation der BA dazu beigetragen, dass wir
ren als wir!) seit 2008 gut durch die Krise gekommen sind und dank
des Kurzarbeiterprogramms Arbeitsplätze erhalten wer-
Die Instrumentenreform hat zusammen mit den Kürzun- den konnten? Ist das alles schon vergessen? Aus meiner
gen beim Eingliederungstitel in Höhe von 4 Milliarden Sicht ist gerade angesichts der anhaltenden weltweiten
Euro verheerende Auswirkungen und stellt letztlich Finanzkrise und ihrer möglichen Auswirkungen auf die
nichts anderes dar als eine Kürzungsorgie. konjunkturelle Entwicklung die Bildung von Rücklagen
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie haben eine bei der BA unverzichtbar. Eine Schwächung der BA
sehr selektive Wahrnehmung, Frau Krüger- können wir uns einfach nicht leisten.
Leißner!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
– Oh, ich war von Anfang bis Ende da. der LINKEN)

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Kollektive Mein Fazit ist, dass Sie Ihre Prioritäten falsch gesetzt ha-
Amnesie!) ben.
Ich will aber nicht nur meckern, ich will Ihnen auch
Aber es hat sich ja schon öfter gezeigt, dass bei Ihnen
einen Vorschlag machen.
Reden und Handeln keine Einheit mehr bilden.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha!)
Ich habe mir Ihre Kürzungsvorschläge genau ange-
schaut. Dabei ist mir ein Bild vor Augen gekommen: In – Ja, mit erheblichen Einsparungen. Sie werden staunen. –
Brandenburg finden wir sehr viele Biber. Wenn ich an Hören Sie doch auf Ihre Kollegen bei der CDA. Diese
der Havel entlangfahre, sehe ich diese freundlichen Zeit- haben nämlich vor einigen Tagen einen klugen Be-
genossen. Sie nagen und nagen so lange am Baum- schluss gefasst. Ich weiß, dass Ihnen das nicht passt,
stamm, bis er instabil wird, ins Wanken gerät und aber es sind kluge Köpfe dabei, nicht nur der Vorsit-
schließlich umfällt. Genau dieses Bild spiegelt sich in zende, Herr Laumann; auch der Stellvertreter des Bun-
Ihren Kürzungsplänen wider. desvorsitzenden, Herr Brauksiepe, der ja Ihr Staatssekre-
tär ist, und Herr Schiewerling sowie, wie ich nachlesen
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Aber wir konnte, Herr Weiß sind in der CDA.
sind freundliche Zeitgenossen!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn das mal
Sie nagen bereits in diesem Jahr mit der Umsetzung keine Biber sind!)
(B) der ersten Sparbeschlüsse am soliden Fundament der Ar- (D)
beitsmarkt- und Sozialpolitik. Im Bereich der BA und Sie alle haben sich dazu durchgerungen, zu beschließen,
des SGB II werden rund 2 Milliarden Euro gekürzt. Für dass es einen allgemeinen flächendeckenden Mindest-
das nächste Jahr planen Sie eine Verdopplung der Kür- lohn geben muss. „Endlich!“, kann ich da nur sagen.
zungen auf dann sage und schreibe 4 Milliarden Euro al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
lein in diesem Bereich. Ich finde, das ist ungeheuerlich der LINKEN)
und entspricht weder den Anforderungen an eine aktive
Arbeitsmarktpolitik noch den Erwartungen der Men- Ich kann jetzt nur noch hoffen, dass Frau Ministerin
schen auf Teilhabe. Für diese Prioritätensetzung im von der Leyen diesen klugen Vorschlag aufgreift und
Haushalt tragen Sie allein die Verantwortung. entsprechende Prioritäten setzt. Hier kann sie nämlich
sparen. Fast 7 Milliarden Euro kann sie mit der Einfüh-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung des Mindestlohns einsparen.
Bei der BA wollen Sie bis 2015 nur im SGB-III-Bereich Frau von der Leyen, lassen Sie sich nicht von dieser
11,5 Milliarden Euro einsparen. Dazu kommt noch ein FDP aufhalten!
Verlust durch das Wegfallen der Einnahmen aus einem
halben Mehrwertsteuerpunkt. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut, wenn man
ein Feindbild hat, Frau Krüger-Leißner!)
Dieses ununterbrochene Nagen, um im Bild zu blei-
ben, führt zu leeren Kassen bei der BA und lässt die BA Hören Sie auf die Vertreter des Sozialflügels Ihrer Par-
ins Wanken geraten. Das hat Ihnen der Chef der BA, tei! Es ist noch Zeit, die Prioritäten in diesem Haushalt
Frank-Jürgen Weise, bereits Anfang Februar gesagt. Er zu verändern.
hat Sie mit folgenden Worten gewarnt: Danke.
Und die 3,0 Prozent (Beifall bei der SPD)
– also der aktuelle Beitragssatz zur Arbeitslosenversi-
cherung – Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt für die Fraktion
reichen so gerade eben aus, das operative Geschäft
der CDU/CSU unser Kollege Axel Fischer. Bitte schön,
zu finanzieren. Sie reichen nicht, um Defizite in-
Kollege Axel Fischer.
folge der Krise abzubauen oder gar ein Polster für
die nächste Krise aufzubauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Auch wenn es durch manch andere politische Diskus- (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sion derzeit überdeckt wird: Der bisherige Kurs der
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich man- christlich-liberalen Koalition, orientiert am Leitbild der
che Aussagen der Kolleginnen und Kollegen Revue pas- Leistungsgerechtigkeit, war mit Blick auf den Arbeits-
sieren lasse, dann frage ich mich, in welchem Land sie markt sehr erfolgreich. Es ist uns gelungen, seit 2009 die
eigentlich leben oder was sie heute Morgen zu sich ge- Zahl der Arbeitslosen um 500 000 zu reduzieren, von
nommen haben. 3,4 auf nur noch 2,9 Millionen. Für das kommende Jahr,
2012, erwarten wir nur noch gut 2,6 Millionen Arbeits-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) lose. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen im SGB-II-
Wenn die Kollegin Hinz noch da wäre – sie hat bestimmt Bezug ist in diesem Zeitraum um 200 000 auf knapp
gute Gründe, nicht da zu sein –, würde ich ihr sagen: 2 Millionen gesunken.
Was wir für Eingliederung und Verwaltung für das Jahr Das sind weniger Arbeitslose, als jeder der Anwesen-
2012 vorsehen, nämlich 8,5 Milliarden Euro, ist der den noch vor zwei Jahren gedacht bzw. erhofft hätte. Das
gleiche Betrag wie in 2007. Es gibt nur einen kleinen ist es, was wichtig ist für unser Land. Die christlich-libe-
Unterschied: Im Vergleich zu 2007 wird die Zahl der rale Koalition hat vielen Menschen nicht nur Hoffnung
Arbeitslosen im SGB-II-Bezug jetzt nur noch auf auf ein selbstbestimmtes Leben mit Arbeit gegeben;
1,861 Millionen geschätzt. Es steht also deutlich mehr vielmehr haben wir die Menschen tatsächlich in Arbeit
Geld pro Arbeitslosem zur Verfügung. Das muss man gebracht.
hier auch einmal deutlich sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der vorliegende Haushaltsentwurf trägt eindeutig die Ich rede hier nicht von staatlicher Beschäftigung, von
Handschrift der christlich-liberalen Koalition. statistikschönendem Parken von Arbeitslosen in mehr
oder weniger sinnvollen Schulungen; nein, viele Men-
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt! Das ist schen haben in den letzten zwei Jahren die Erfahrung
wahr!) machen können, dass sie im ersten Arbeitsmarkt beste-
hen, dass sie ohne staatlichen Schutzraum aus eigener
Darin ist deutlich die Orientierung an unseren Zielen zu
Kraft ihr Auskommen haben und für sich und ihre Fami-
erkennen: die Menschen wieder in Arbeit zu bringen und
lien sorgen können. Das ist es, was für die Menschen im
den Bundeshaushalt zu konsolidieren.
Land zählt. Mit zielgerichteter und angemessener Hilfe
Die geplanten Ausgaben von 126,6 Milliarden Euro für jeden Einzelnen fahren wir fort.
(B) im Einzelplan 11 liegen um knapp 5 Milliarden Euro un- (D)
ter den Ansätzen des laufenden Jahres. Das ist möglich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ohne Einschnitte bei der Rente, mit erhöhten Hartz-IV- So erfreulich diese Entwicklung ist, so positiv ist auch
Regelsätzen und mit verstärkter Übernahme der Kosten die Wirkung auf den Bundeshaushalt: Erheblich weniger
der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Arbeitslose – das bedeutet erhebliche Potenziale für Ein-
durch den Bund. Die erheblich gesunkenen Haushaltsan- sparungen. Wir haben Spielräume eröffnet, die wir drin-
sätze sind ein erfolgreicher Beitrag zur notwendigen gend zur Haushaltskonsolidierung brauchen, zum Abbau
Haushaltskonsolidierung und zur Zurückführung der der Neuverschuldung und für viele andere Dinge mehr.
Neuverschuldung des Bundes. Dieser Beitrag wäre ohne
die entschlossene und zielgerichtete Arbeit der christ- Wir werden die Menschen sicher nicht durch noch hö-
lich-liberalen Koalition und der Frau Bundesministerin here steuerliche Belastungen ihres Einkommens für
von der Leyen in den letzten beiden Jahren nicht mög- mehr und bessere Leistungen motivieren können. Es ist
lich gewesen. doch geradezu absurd, Menschen mit viel Mühe zu qua-
lifizieren und in produktive Arbeit zu bringen, wenn sie
(Beifall bei der CDU/CSU)
hinterher aufgrund der Steuer- und Abgabenlast nicht
Er ergibt sich im Wesentlichen aus der geplanten Absen- mehr haben als ein Arbeitsloser.
kung der Ausgaben im Bereich des Arbeitsmarktes.
Diese Absenkung ist nur möglich geworden, weil wir die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft haben und weiter der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist
bekämpfen werden. es!)

Gleichzeitig steigen die Ausgaben für die Sozialversi- Nein, wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht ar-
cherung um mehr als 3 Milliarden Euro auf jetzt 84 Mil- beitet. Mit steigender Steuer- und Abgabenlast werden
liarden Euro, davon 82 Milliarden Euro für die Rentner; wir keinen wirtschaftlichen Aufschwung fördern kön-
das sind etwa zwei Drittel des Arbeits- und Sozialhaus- nen.
halts. Mit diesem Aufwuchs setzen wir trotz allem not-
wendigen Sparen ein Zeichen dafür, wie wichtig uns ein Leistungsgerechtigkeit in einer Verantwortungsge-
sicheres Auskommen für unsere Rentner ist; denn Rente meinschaft – dieses Leitbild bringt uns weiter als das
ist Lohn für Lebensleistung. Leitbild von Verteilungsgerechtigkeit in einer Gemein-
schaft mit beschränkter Haftung. „TEAM“ darf nicht zur
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Abkürzung für den Satz: „Toll, ein anderer macht’s“
neten der FDP) werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14629
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
(A) Nicht nur die sinkende Zahl der Arbeitslosen bringt Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
Entlastung für den Haushalt; vielmehr ermöglichen ins- Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzte Rednerin in die-
besondere Effizienzverbesserungen bei der Arbeits- ser Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten un-
marktvermittlung im Bereich von SGB II erhebliche Ein- sere Kollegin Bettina Hagedorn. Bitte schön, Frau Kolle-
sparungen. gin Hagedorn.
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Wen meinen (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
Sie denn damit?) [FDP]: Lenken Sie ein, Frau Hagedorn! Der
Haushalt ist besser, als Sie zugeben wollen!)
Dies ist ein Verdienst der Umstrukturierung der Arbeits-
vermittlung, wie sie in den vergangenen Jahren erfolgt
Bettina Hagedorn (SPD):
ist. Ausgangspunkt war vor sieben Jahren der Streit um
die Aufgabenwahrnehmung bei der Arbeitsvermittlung. Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Als letzte Rednerin in dieser Runde sage ich:
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Sagen Sie doch Herr Kollege Fischer, Sie haben gerade eben gemeint,
mal: Wer handelt denn so?) die Opposition habe heute ausnahmslos etwas Komi-
sches getrunken, um zu einer ganz anderen Wahrneh-
Mit der Zulassung unterschiedlicher Träger – kom- mung des Einzelplans 11 zu kommen als Sie.
munaler und der Bundesagentur – wurde damals die Saat
ausgebracht für die Früchte, die wir heute ernten können. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
Denn nur durch dieses gelungene Experiment konnten Den Eindruck hat, glaube ich, die Opposition bei den
vielfältige Erfahrungen in allen Teilen Deutschlands ge- Redebeiträgen von FDP und CDU/CSU in der heutigen
sammelt werden. Diese Erfahrungen sind die Grundlage Runde. Wir haben es also nicht nur mit einem gespalte-
für die heutige, vielerorts sehr erfolgreiche Vermitt- nem Arbeitsmarkt, sondern offensichtlich auch mit einer
lungstätigkeit bei Jobcentern. gespaltenen Wahrnehmung zu tun.
Dass dies bis heute so erfolgreich umgesetzt wurde, (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das liegt an
ist nicht zuletzt auch Verdienst der Bundesagentur für Ihnen!)
Arbeit. Unter Leitung von Herrn Weise hat sich die Bun-
desagentur in den letzten Jahren permanent weiterent- Darum will ich ein bisschen zur Aufklärung beitra-
wickelt, hat die politischen Entscheidungen erfolgreich gen. Frau Ministerin von der Leyen, Sie haben mit dem
umgesetzt und praktikable Lösungen für den Arbeits- Hinweis darauf eingeleitet, der Etat betrage 18 Milliar-
markt erarbeitet. den Euro weniger als noch in Krisenzeiten, und das sei
(B) möglich dadurch, dass man am Arbeitsmarkt so erfolg- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- reich gewesen sei. Das ist richtig. Richtig ist auch, dass
neten der FDP) wir alle uns darüber freuen und dass alle in der Regie-
rungskoalition, die uns unterstellen wollen, wir würden
Aufbauend auf diesen positiven Erfahrungen gehen uns darüber nicht freuen, vollkommen schief gewickelt
wir schon einen Schritt weiter. Mit der Internetver- sind. Wir freuen uns darüber. Der Punkt ist nur: Politik
gleichsplattform für den SGB-II-Bereich ermöglichen darf sich, wenn es gut geht, nicht im Feiern einer Party
wir es Kommunalpolitikern und anderen Menschen, zu genügen. Wir sind im Moment in einer konjunkturell gu-
jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit die Jobcenter in ten Zeit; darüber freuen wir uns.
ihrer Region und darüber hinaus anzuschauen und ent-
sprechend zu bewerten. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das merkt
man aber sehr selten!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L.
Gerade im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik ist es
Kolb [FDP]: Das finde ich gut!)
aber unsere Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen,
Sie sehen, wir nutzen auch die neuen Medien intensiv. die Sicherheit für die Zukunft geben;
Ich glaube, auch da sind wir auf einem guten Weg. Ich (Beifall bei der SPD)
möchte an dieser Stelle Herrn Staatssekretär Fuchtel an-
sprechen, der sich hier in besonderer Weise verdient ge- das hat sogar der Kollege Schiewerling hier gesagt.
macht hat. Herzlichen Dank für diesen Einsatz! Wenn das unser Ziel sein soll, dann ist der Etat unge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nügend. Das ist er deshalb, Frau von der Leyen, weil die
18 Milliarden Euro an Ersparnis, die Sie hier angespro-
Sie sehen, der vorgelegte Haushaltsentwurf ist eine chen haben, eine konjunkturelle Rendite darstellen, die
ideale Grundlage, um bei intensiven Diskussionen in den jede Regierung, egal wie sie heißt, im Haushalt abbilden
Ausschüssen zu einem Etat zu kommen, der die Ziele, würde. Das ist sozusagen Sparen im Schlafwagen. Diese
die wir uns setzen – Leistungsgerechtigkeit, Senkung der Rendite ist das Ergebnis einer guten und vorsorgenden
Arbeitslosigkeit und Haushaltskonsolidierung –, in Arbeits- und Sozialpolitik mitten in der Krise, damals
Übereinstimmung bringt. gemeinsam in der Großen Koalition.

Herzlichen Dank. Es ist aber Fakt, dass es leider nicht immer so bleiben
muss: Es gibt nicht nur von der OECD Hinweise darauf,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass wir beim Haushalt 2012 – über den sprechen wir
14630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bettina Hagedorn
(A) hier – nicht unbedingt davon ausgehen können, dass es Was bedeutet es also für Berlin? Berlin hat durch das (C)
immer so gut weitergeht wie bisher. Sparpaket in diesem Jahr für den SGB-II-Bereich, also
für die Jobcenter, nur – so könnte man sagen –
Wie sind eigentlich Ihr Haus und die Bundesagentur 136,5 Millionen Euro weniger erhalten; im Bereich der
für Arbeit als wichtiger Player in diesem Feld gerüstet? Bundesagentur für Arbeit waren es rund 80 Millionen
Die Bundesagentur für Arbeit, die hier schon angespro- Euro weniger. Das sind in diesem Jahr summa summa-
chen worden ist, hatte 2008 dank unserer gemeinsamen rum über 200 Millionen Euro. Man muss aber sagen: Die
Politik noch eine Rücklage von 17 Milliarden Euro. Da- Kürzungen wurden in diesem Jahr durch die brummende
rum war die Bundesagentur für Arbeit in der Lage, in der Konjunktur abgefedert.
Krise die von uns gewünschten Instrumente, etwa das
Kurzarbeitergeld, einzusetzen. 2009 blieb dann von die- Ich zeige jetzt exemplarisch für Berlin, wie es 2012
ser Rücklage aufgrund eines Defizits von 15 Milliarden weitergeht. 2012 werden sich die Kürzungen im SGB-II-
Euro logischerweise kaum noch etwas übrig. 2010 – da Bereich auf 226 Millionen Euro fast verdoppeln. 2013
waren wir uns sogar einig – haben wir den Abbau des werden es – nur im SGB-II-Bereich – schon über
Defizits bei der Bundesagentur für Arbeit bezuschusst. 400 Millionen Euro sein. 2014 und 2015 werden es je-
Jetzt erhält sie ein Darlehen. weils knapp 540 Millionen Euro sein. Das summiert sich
bis 2015 in Berlin auf Kürzungen von sage und schreibe
Sie von der Regierung waren vor neun Monaten der 1,7 Milliarden Euro. Dazu kommen die Kürzungen im
Meinung, dass die Bundesagentur für Arbeit 2011 und Bereich der Bundesagentur für Arbeit. Diese summieren
2012 ein Bundesdarlehen in Höhe von 7,4 Milliarden sich bis 2015 für Berlin auf 611 Millionen Euro. Summa
Euro in Anspruch nehmen müsse. Dank der guten Kon- summarum ergibt sich allein für Berlin bis 2015 ein
junkturdaten, über die wir alle uns freuen, prognostizieren Kahlschlag von 2,3 Milliarden Euro.
Sie jetzt – Frau Dr. Winterstein hat es vorhin gesagt –,
dass die Bundesagentur für Arbeit in diesem Jahr ein Das bedeutet, dass die engagierten Mitarbeiterinnen
Darlehen von nur 1,9 Milliarden Euro braucht, schon im und Mitarbeiter in den Jobcentern und in der Bundes-
nächsten Jahr 1 Milliarde Euro davon zurückzahlt und ab agentur für Arbeit nicht wissen, wie sich dies auswirken
2013 wieder eine Rücklage bildet. Sie haben aber nicht wird. Sie arbeiten nämlich mit Langzeitarbeitslosen und
einkalkuliert, dass es möglicherweise auch anders kom- mit Arbeitslosen, und wir können heute noch gar nicht
men kann. wissen, wie viele wir davon in den nächsten Jahren auf-
grund von möglicherweise krisenhaften Entwicklungen
Sie von der Regierung haben aber im Sommer 2010 in anderen Teilen der Welt, von denen wir als export-
das sogenannte Zukunftspaket – das Kürzungspaket, abhängiges Land abhängig sind, haben werden, Frau von
(B) über das wir hier reden – auf den Weg gebracht, damit der Leyen. Weder die Bundesagentur für Arbeit noch Sie (D)
die Schuldenbremse eingehalten wird. Dieses Kürzungs- oder Ihre möglichen Nachfolger haben dann im Rahmen
paket umfasst strukturelle Kürzungen. Für diejenigen am des Haushalts noch irgendetwas in der Hand, um präven-
Fernseher, die es nicht verstehen: Strukturelle Kürzung tiv tätig werden zu können. Liebe Kolleginnen und Kol-
bedeutet, dass Sie diese Milliardenbeträge in jedem Fall legen, das ist eine Katastrophe.
kürzen, völlig egal, wie sich die Arbeitslosigkeit und die
Krise weiterentwickeln. Das Geld steht also weder der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bundesagentur für Arbeit noch in Ihrem Bereich zur
Verfügung. Wir reden hier über Summen von über Ich muss zum Schluss kommen. Frau von der Leyen,
20 Milliarden Euro; die Zahlen sind schon genannt wor- Sie sind von Frau Dr. Winterstein dafür gelobt worden,
den. wie brav Sie das Sparpaket umsetzen.
Weil sich viele Menschen in der letzten Zeit bei hohen (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Völlig zu
Beträgen, gerade im Milliardenbereich, nicht mehr rich- Recht!)
tig vorstellen können, was sich dahinter verbirgt, sage
ich Ihnen jetzt konkret, was das eigentlich für das Land Das sollte Sie stutzig machen. Von der FDP, die die BA
Berlin bedeutet. schon immer auf dem Kieker hatte, so gelobt zu werden,
bedeutet eigentlich, dass Sie im Kabinett Ihren Job ver-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie kommen Sie fehlt haben. Von Ihnen war der geringste Widerstand ge-
auf Berlin?) gen dieses Sparpaket zu spüren. Kollegen von Ihnen wa-
ren da erfolgreicher als Sie. Das ist bitter für die
Man muss dazu wissen, dass diese Kürzungen sehr un- Menschen, für die Sie Verantwortung tragen.
terschiedlich wirken; das haben wir in der Vergangenheit
schon besprochen. Der Deutsche Paritätischen Wohl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fahrtsverband hat als Sachverständiger dem Haushalts- DIE GRÜNEN – Karl Schiewerling [CDU/
ausschuss eine bemerkenswerte Studie dazu vorgelegt. CSU]: Gut für den Euro!)
Sie zeigt, dass es gerade in den östlichen Bundesländern
und den Stadtstaaten zu einem Kahlschlag kommt, der Vizepräsident Eduard Oswald:
noch größer als in anderen Bereichen ist. Auch in den Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn.
strukturschwachen Flächenländern im Westen und Nor-
den ist es schlimm. Baden-Württemberg und Bayern Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
kommen praktisch ohne Kürzung davon. mir nicht vor.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14631
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna (C)
ordnungspunkte 3 a bis e sowie Zusatzpunkte 3 a bis d Voß, Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, weiterer Ab-
auf: geordneter und der Fraktion DIE LINKE
3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Universaldienste für Breitband-Internet-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur anschlüsse jetzt
Änderung des Umweltauditgesetzes – Drucksache 17/6912 –
– Drucksache 17/6611 – Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Rechtsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlei- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
hung der Rechtsfähigkeit an das Gemeinsame DIE GRÜNEN
Wattenmeersekretariat – Common Wadden Den Hochschulpakt weiterentwickeln: Mehr
Sea Secretariat (CWSS) (CWSSRechtsG) Studienplätze, bessere Studienbedingungen und
höhere Lehrqualität schaffen
– Drucksache 17/6612 –
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/6918 –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Arbeit und Soziales
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
kommen vom 21. Oktober 2010 zwischen der Haushaltsausschuss
Bundesrepublik Deutschland und dem Groß- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
herzogtum Luxemburg über die Erneuerung Sager, Memet Kilic, Ekin Deligöz, weiterer Ab-
und Erhaltung der Grenzbrücke über die Mo- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
sel zwischen Wellen und Grevenmacher GRÜNEN
– Drucksache 17/6615 – Anerkennung ausländischer Abschlüsse tat-
Überweisungsvorschlag: sächlich voranbringen (D)
(B)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/6919 –
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ausschuss für Bildung, Forschung und
rung des Beherbergungsstatistikgesetzes und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
des Handelsstatistikgesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/6851 – Ausschuss für Gesundheit
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
Innenausschuss ten Verfahren ohne Debatte.
Ausschuss für Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
e) Beratung des Antrags des Bundesministeriums die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
der Finanzen überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2010 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis c sowie Zu-
satzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
– Vorlage der Vermögensrechnung des Bundes sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
für das Haushaltsjahr 2010 – hen ist.
– Drucksache 17/6009 – Tagesordnungspunkt 4 a:
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
ZP 3 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- – zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen
rung von Vorschriften über Verkündung und
Bekanntmachungen Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2009
– Drucksache 17/6610 –
Überweisungsvorschlag: – Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes
Rechtsausschuss für das Haushaltsjahr 2009 –
14632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) – zu dem Antrag des Bundesministeriums der Rechnung des Bundesrechnungshofes für das (C)
Finanzen Haushaltsjahr 2010
Entlastung der Bundesregierung für das – Einzelplan 20 –
Haushaltsjahr 2009 – Drucksachen 17/5385, 17/6424 –
– Vorlage der Vermögensrechnung des Bundes Berichterstattung:
für das Haushaltsjahr 2009 – Abgeordnete Rüdiger Kruse
Carsten Schneider (Erfurt)
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech- Dr. Claudia Winterstein
nungshof Michael Leutert
Priska Hinz (Herborn)
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2010 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung Wer stimmt für Nr. 1 der Beschlussempfehlung, also
des Bundes (einschließlich der Feststellungen für die Feststellung der Erfüllung der Vorlagepflicht? –
zur Jahresrechnung 2009) Ich sehe, das sind alle Fraktionen des Hauses. Vorsichts-
halber: Gegenprobe! – Keine. Enthaltungen? – Auch
– zu der Unterrichtung durch den Bundesrech- keine. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
nungshof
Wer stimmt für Nr. 2 der Beschlussempfehlung, also
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes für die Erteilung der Entlastung? – Ich sehe, das sind alle
2010 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung Fraktionen. Vorsichtshalber: Gegenprobe! – Das ist nicht
des Bundes der Fall. Enthaltungen? – Auch niemand. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
– Weitere Prüfungsergebnisse –
Tagesordnungspunkt 4 c:
– Drucksachen 17/1500, 17/2305, 17/3650, 17/3956 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Nr. 3, 17/5350, 17/5820 Nr. 5, 17/6423 – richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Berichterstattung: Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
Abgeordneter Dr. Michael Luther – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich
Lange, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz,
Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung schlägt der weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
(B) Haushaltsausschuss die Erteilung der Entlastung der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick (D)
Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2009 vor. Wer Döring, Werner Simmling, Oliver Luksic, wei-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemo-
kraten. Gegenprobe! – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Sicherheit im Eisenbahnverkehr verbessern –
und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Somit ist die Streckennetz mit Sicherungssystemen aus-
Beschlussempfehlung angenommen. statten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Beckmeyer, Waltraud Wolff (Wolmirstedt),
der Haushaltsausschuss, die Bundesregierung aufzufor- Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der
dern, a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bun- Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
deshaushaltspläne die Feststellungen des Haushaltsaus- Dr. Anton Hofreiter, Undine Kurth (Quedlin-
schusses zu den Bemerkungen des Bundesrechnungs- burg), Winfried Hermann, weiterer Abgeordne-
hofs zu befolgen, b) Maßnahmen zur Steigerung der ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wirtschaftlichkeit unter Berücksichtigung der Entschei- NEN
dungen des Ausschusses einzuleiten oder fortzuführen,
c) die Berichtspflichten fristgerecht zu erfüllen, damit Konsequenzen aus dem Zugunglück von
eine zeitnahe Verwertung der Ergebnisse bei den Haus- Hordorf ziehen
haltsberatungen gewährleistet ist. Wer stimmt für diese – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
nen, die Fraktion der Sozialdemokraten, die Fraktion Die weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Linke. Gegenprobe! – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. LINKE
Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist so-
Umgehend die Konsequenzen aus dem Un-
mit angenommen.
glück von Hordorf ziehen
Tagesordnungspunkt 4 b: – Drucksachen 17/5046, 17/4854, 17/4840,
17/6131 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Berichterstattung:
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrech- Abgeordnete Werner Simmling
nungshofes Dr. Anton Hofreiter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14633
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner cen der jungen Generation zu sichern, das entscheidet (C)
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der über die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft.
Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5046
Wir machen uns in diesen Tagen im Kontext der De-
mit dem Titel „Sicherheit im Eisenbahnverkehr verbes-
batten über Europa Gedanken über die nächsten Genera-
sern – Streckennetz mit Sicherungssystemen ausstatten“.
tionen. In all diesen Debatten wird deutlich: Die große
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
Frage in Europa wird sein: Welche Agenda ist notwen-
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Keiner. Enthal-
dig, um den nächsten Generationen gute Zukunftschan-
tungen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. So-
cen zu geben? Da stehen im Mittelpunkt: Bildung, Aus-
mit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
bildung, Wissenschaft und Forschung.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 4 c. Unter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Diese Haushaltsberatungen sind auch so etwas wie
Grünen auf Drucksache 17/4854 mit dem Titel „Konse- eine Zwischenbilanz dieser vierjährigen Legislatur-
quenzen aus dem Zugunglück von Hordorf ziehen“. Wer periode. Zur Zwischenbilanz gehört: In Deutschland gibt
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die es heute mehr Forscher und weniger Schulabbrecher.
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Die Linksfraktion, Mehr junge Menschen beginnen ein Studium. Es gibt
die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion mehr Bildungsaufsteiger. Bei den weltmarktrelevanten
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Die Be- Patenten gehören wir im globalen Vergleich zur Spitzen-
schlussempfehlung ist angenommen. gruppe und liegen weit vor den traditionellen Innova-
tionsnationen Japan und USA. Im Ranking der weltweit
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c wettbewerbsfähigsten Länder hinsichtlich der Innovatio-
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags nen steht Deutschland auf Platz drei. Diesen Platz haben
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4840 mit dem wir erreicht, weil es in Deutschland viele innovative Un-
Titel „Umgehend die Konsequenzen aus dem Unglück ternehmen sowie großartige Hochschulen und For-
von Hordorf ziehen“. Wer stimmt für diese Beschluss- schungseinrichtungen gibt und weil es in den letzten Jah-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegen- ren gelungen ist, die an Innovationen beteiligten Akteure
probe! – Das ist die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – in einem großen Projekt der gesamten Bundesregierung,
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Frak- der Hightech-Strategie, zusammenzubringen. Auch in
tion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung Zukunft muss uns leiten, alle Akteure zusammenzubrin-
ist angenommen. gen und an Zukunftsprojekten zu arbeiten, mit denen wir
Wir kommen zum Zusatzpunkt 4: die große Innovationskraft unseres Landes erhalten und
(B) weiter ausbauen können, weil das die Quelle für künfti- (D)
Beratung des Antrags der Bundesregierung gen Fortschritt und Wohlstand ist.
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-
Ich will das in Zahlen ausdrücken: Der Etat des
desregierung
BMBF wird 2012 auf 12,8 Milliarden Euro steigen.
– Drucksache 17/6670 – (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nicht
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/6670? – „um“, sondern „auf“! „Um“ wäre schön! – Ge-
Das sind alle Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber: genruf der Abg. Anette Hübinger [CDU/CSU]:
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch Das hat sie doch gesagt!)
niemand. Der Antrag ist somit angenommen. – „Auf“ habe ich gesagt: auf 12,8 Milliarden Euro stei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die gen.
Haushaltsberatungen fort und kommen zum Geschäfts- (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Zuhören!)
bereich des Bundesministeriums für Bildung und For-
schung, Einzelplan 30. Wenn Sie eine Vergleichszahl brauchen, um diese Zahl
bewerten zu können, nenne ich Ihnen gerne die Zahl aus
Ich darf das Wort der Frau Bundesministerin dem letzten Jahr der rot-grünen Bundesregierung: Da-
Dr. Annette Schavan erteilen. Bitte schön, Frau Bundes- mals hatte der Haushalt ein Volumen von 7,6 Milliarden
ministerin, Sie haben das Wort. Euro, was auch nicht schlecht war.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Ma-
ger! – Klaus Hagemann [SPD]: Nennen Sie
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- einmal die Zahlen am Ende der Regierung
dung und Forschung: Kohl!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Lieber Herr Hagemann, wenn ich mir diese zwei Zah-
Meine Damen und Herren! Zu den vornehmsten Aufga- len vor Augen führe, beginne ich, zu verstehen, warum
ben einer vorausschauenden, werteorientierten Politik Sie in jedem Jahr, pünktlich zu den Haushaltsberatun-
gehört es, die Zukunftschancen der jungen Generation gen, in Berlin etwas streuen – irgendeinen finden Sie im-
zu sichern. Das ist das große Thema dieser Bundesregie- mer, der das dann auch schreibt; irgendwann einmal stel-
rung. Das ist der Auftrag des BMBF. Die Zukunftschan- len wir alle Beiträge zusammen –: Von der Leyen lässt
14634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) sich rasieren, und Schavan wird die Geldsäcke nicht los. Das Zweite sind die Bildungsketten; auch das ist uns (C)
Mit Verlaub, das erinnert mich an Dinner for One: Same wichtig. Ich habe gerade die Zahl 1,5 Millionen gehört.
procedure as every year. Natürlich, 1,5 Millionen junge Leute bis 25 Jahre
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Bis 29!
der FDP – René Röspel [SPD]: Wer sind Sie Zwischen 20 und 29!)
denn? Der Butler?) sind ohne Berufsausbildung. Das heißt, es war richtig,
Die Geschichte geht jedes Jahr gleich aus. Pünktlich dass wir uns entschieden haben, nicht zu warten, bis sie
zum Ende eines jeden Haushaltsjahres wird klar, dass ohne oder mit schwachem Schulabschluss die Schule ver-
das Geld, das dieses Parlament für von diesem Parla- lassen, sondern mit mehr individueller Förderung, mehr
ment beschlossene Projekte und Initiativen zur Verfü- Berufsorientierung und mehr persönlicher Begleitung
gung gestellt hat, ausgegeben wurde. früher anzusetzen. Auch das ist ein großer Fortschritt. Wir
wollen, dass jeder junge Mensch in Deutschland einen
(Dagmar Ziegler [SPD]: Das stimmt doch gar Schulabschluss und eine Ausbildung bekommt und die
nicht!) Möglichkeit zu einem guten Berufseinstieg hat.
Dinner for One ist amüsant; dagegen ist das, was Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tun, schlicht unseriös. Das ist der Unterschied. 2005 haben 37 Prozent eines Jahrgangs ein Studium
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) begonnen. Wir haben damals in den Koalitionsvertrag
geschrieben, dass wir die Zahl auf 40 Prozent steigern
Zu den konkreten Zwischenergebnissen dieser Legis- wollen. 2010 liegt diese Quote bereits bei 46 Prozent.
laturperiode gehört, wie ich finde, die ausgesprochen po-
sitive Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt. Das (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Einschließlich
zeigt sich gerade jetzt, im September. Diese Entwicklung der ausländischen Studierenden!)
hat natürlich mit der demografischen Entwicklung in Das heißt, die Lust aufs Studieren war noch nie so groß
Deutschland zu tun; dieser Trend wird sich in den nächs- wie heute. Die jungen Leute wissen, dass es eine tolle
ten Jahren fortsetzen. Tatsache ist aber auch, dass im Sache ist und dass es gute Angebote gibt. Sie wissen,
Vergleich zum vergangenen Jahr – das sagt die Bundes- dass die Studienfinanzierung verbessert worden ist. Um
agentur für Arbeit – über 10 Prozent mehr Ausbildungs- es noch einmal in Zahlen zu sagen – ich bin dem Parla-
plätze zur Verfügung gestellt werden. ment dafür dankbar, dass wir das gemeinsam auf den
Weg gebracht haben –: Im Januar 2012 werden die Län-
Die Bewerberzahlen sind um 2,5 Prozent gesunken.
der vom Bund 1,14 Milliarden Euro für den Ausbau des
Rund 91 000 Stellen sind noch unbesetzt. 88 000 junge Studienangebots bekommen. Im Jahr 2011 haben sie be- (D)
(B) Leute sind noch unversorgt.
reits 600 Millionen Euro bekommen. Wir werden eine
(Agnes Alpers [DIE LINKE]: 1,5 Millionen!) halbe Million neuer Studienplätze in einem überschau-
baren Zeitraum schaffen. Das ist ein Fortschritt, den es
Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr besser; das ist gut. Da- in keinem anderen europäischen Land gibt.
bei ist immer wieder festzustellen, dass die duale Berufs-
ausbildung in Deutschland – und damit verbunden die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bereitschaft der Unternehmen, auszubilden – eine tra- neten der FDP)
gende Säule ist, wenn es um die Sicherung der Zukunft- Wir verbessern die Bildungsfinanzierung: Förderbei-
schancen der jungen Generation geht. träge, Freibeträge, Modernisierung, Internationalisierung,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine deutliche Steigerung der Zahl derer, die BAföG be-
kommen – 8 Prozent wurden zusätzlich aufgenommen –,
Zwei weitere Maßnahmen möchte ich in diesem Zu- Zuwachs bei den Begabtenförderungswerken und das
sammenhang nennen, weil ich ihnen große Bedeutung Deutschlandstipendium.
beimesse. Das eine ist der Deutsche Qualifikationsrah- (Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist der absolute
men. Ich gehe davon aus, dass wir hier schon zum Brüller! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE
Schuljahr 2012 Konsens zwischen den Sozialpartnern, GRÜNEN]: Das ist ein Ladenhüter!)
den Ländern und dem Bund haben werden. Dann kann
tatsächlich erreicht werden, worüber wir viele Jahre ge- – Das passt Ihnen auch nicht; das weiß ich. Wir können
sprochen haben: eine Gleichwertigkeit von beruflicher gerne weiter darüber streiten. – Am Ende der Legislatur-
und allgemeiner Bildung. periode werden wir Bilanz ziehen.
(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Da bin ich (Zurufe von der SPD: Das werden wir auch
gespannt!) machen!)

Das heißt, dass das Abitur und anspruchsvolle berufliche Das ist ein richtiges, wichtiges und überfälliges Element
Bildung auf einer Stufe stehen. Das halte ich für einen der Bildungsfinanzierung in Deutschland.
ganz wichtigen Punkt. Das ist ein großer Fortschritt mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Blick auf die Gleichwertigkeit von allgemeiner und be-
ruflicher Bildung. Eine wichtige Maßnahme ist das Anerkennungsge-
setz. Ich möchte diese Haushaltsdebatte nutzen, alle, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie mit uns über das Anerkennungsgesetz diskutieren, zu
bei Abgeordneten der SPD) bitten, Sorge dafür zu tragen, dass wir es jetzt zügig ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14635
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
(A) abschieden. Bitte lassen Sie sich nicht auf den verschie- Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
denen Ebenen alles Mögliche einfallen, über das man Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächste Red-
noch diskutieren könnte. Bis zu 300 000 Bürgerinnen nerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialde-
und Bürger warten darauf, dass dieser Gesetzentwurf mokraten unsere Kollegin Dagmar Ziegler. Bitte schön,
verabschiedet wird und dass sie endlich die Möglichkeit Frau Kollegin Ziegler.
haben, ihren im Ausland erworbenen Abschluss aner-
kannt zu bekommen. Das ist ein wichtiger Schritt der In- (Beifall bei der SPD)
ternationalisierung. Das ist ein wichtiger Schritt der Ge-
rechtigkeit. Im Übrigen ist es eine, wie ich finde, nicht
Dagmar Ziegler (SPD):
mehr haltbare Situation, dass wir in Zeiten, in denen wir
über Fachkräftemangel sprechen, viele Fachkräfte in Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
Deutschland haben, die hier nicht eingesetzt werden ginnen und Kollegen! Frau Schavan, Sie sind eigentlich
können. Deshalb ist es meine herzliche Bitte – das sage für die Bildungsrepublik Deutschland verantwortlich,
ich bewusst an die Länder und an alle Akteure –, jetzt und – wir haben es gehört – Sie haben eigentlich viel
dieses Gesetz einzuführen und umzusetzen. Es ist ein Geld für Bildung und Forschung in Ihrem Etat. Leider ist
wichtiges Element der Deckung des Fachkräftebedarfs und bleibt das die einzig gute Nachricht.
in Zukunft.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erstens entfaltet das ganze Geld viel zu wenig Wirkung.
In den nächsten Wochen und Monaten wird uns, die Zweitens bleiben am Jahresende jedes Mal – das belegen
Länder und den Bund, das Thema Alphabetisierung be- die Zahlen; ich wundere mich, dass Sie das gar nicht
schäftigen. Auch hier – das gilt nicht nur für Deutsch- wahrnehmen wollen – Millionen Euro liegen, und zwar
land, sondern für alle europäischen Länder; aber das ist ungenutzt. Drittens bringen Sie unser Land nicht voran,
kein Argument – müssen wir gemeinsam mit den Unter- weil Sie die Antworten auf die zentralen Herausforde-
nehmen ansetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass unter rungen schuldig bleiben, obwohl Sie in Ihrer Rede so ge-
dem Stichwort „Weiterbildung“ bessere Möglichkeiten tan haben, als würden Sie sie liefern können und wollen.
angeboten werden. Der Bund ist bereit, da zu investie-
ren. Ich appelliere an die Länder, es auch zu tun. Es kann Sie haben kein Konzept zur Herstellung von Bil-
nicht sein, dass der Bund investiert und die Länder dann dungsgerechtigkeit.
auf die Idee kommen, dort sparen zu können, weil der
Bund zahlt. Die Rechnung geht nur auf, wenn sich Bund (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na! – Wie
und Länder gemeinsam engagieren. bitte? – Das ist ja das Allerletzte!)
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie können nicht sagen, wie Sie dafür sorgen wollen, (D)
dass alle Kinder und Jugendlichen gleiche Chancen ha-
Das gilt auch für dieses wichtige Thema. ben, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und vom
Zu dem, was Wissenschafts- und Forschungspolitik Geldbeutel der Eltern. Sie bleiben die Antwort auf die
ausmacht – manche Kolleginnen und Kollegen haben es Frage schuldig, wie Sie den benachteiligten jungen Men-
gestern Abend bei der Eröffnung der Science Gallery der schen mit Migrationshintergrund Zukunftsperspektiven
Max-Planck-Gesellschaft erlebt –, gehört der verstärkte geben wollen.
Dialog über Wissenschaft und Forschung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Richtig!)
Sie haben auch die Chance verpasst, sich zum 40-jäh-
Dazu gehören die Bürgerdialoge, an denen sich viele rigen Bestehen des BAföG klar zu einer gerechten Bil-
Bürgerinnen und Bürger beteiligen, ob zur Hightech- dungsfinanzierung zu bekennen. Stattdessen fördern Sie
Strategie oder zur künftigen Energieversorgung. Dazu mit Ihrem nationalen Stipendienprogramm diejenigen,
gehören viele neue Wege der Kommunikation, um nicht die ohnehin gute Chancen haben. Handwerklich ist es so
nur mit Zahlen, finanziellen Investitionen und neuen schlecht gemacht, dass der Abruf der Mittel fast gleich
Konzepten zu wirken, sondern auch Sorge dafür zu tra- null ist.
gen, dass die Wissenschaft im Hinblick auf die Zu-
kunftsfähigkeit unseres Landes in die Mitte der Gesell- (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Die
schaft getragen wird. größte BAföG-Erhöhung seit Jahren! – Gegen-
ruf des Abg. Christian Lange [Backnang]
Alles in allem, so finde ich, ist das eine gute Zwi- [SPD]: Nein, die schlechteste Regierung aller
schenbilanz, an der viele, auch in diesem Haus, mitge- Zeiten! Die muss mal ein Programm auflegen!
wirkt haben. Das ist das Fundament, um in den nächsten Fachkräftemangel in Berlin!)
zwei Jahren weiter voranzukommen. Unser Ziel muss
sein, auch mit Blick auf die europäischen Debatten, Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bildungs-
Sorge dafür zu tragen, dass die Zukunftschancen der jun- nähe oder Bildungsferne fangen früh an. Ab 2013 hat je-
gen Generation in Deutschland sichere Chancen sind. des Kind einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungs-
Vielen Dank. platz. Aber Sie wissen selber: Der Kitaausbau kommt
nicht schnell genug voran, weil die Kommunen hierfür
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht genug Geld haben;
14636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dagmar Ziegler
(A) (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Dafür werden Die SPD-Fraktion hält den weiteren Ausbau der Ganz- (C)
sie jetzt aber bei der Grundsicherung entlastet! tagsschulen für dringend notwendig. Sie, Frau Schavan,
Da geht es um 4 Milliarden!) berufen sich auf das Kooperationsverbot. Alle – die Kol-
legen von der CDU, der FDP, der Linken, der Grünen
das hat auch mit der Steuerpolitik zu tun, die Ihre Koali-
und der SPD – sind sich einig, dass etwas geschehen
tion zu verantworten hat.
muss. Warum tun Sie nichts, Frau Schavan? Sie verhar-
(Beifall bei der SPD) ren im Stillstand und sagen nur, es wäre schön, wenn der
Und: Der Bedarf ist größer als angenommen. Auch da- Bund mehr Einfluss hätte. Sie tun aber nichts dafür. Ich
rauf wird seitens der Bundesregierung und dieser Koali- frage mich, wofür eine Bildungsministerin in diesem
tion überhaupt nicht reagiert. Genau hier wäre entschlos- Lande eigentlich zuständig ist.
senes Handeln notwendig. Wir alle wissen – auch Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sagen es immer in Ihren Reden –: Frühe Förderung in der LINKEN)
Kitas sorgt für bessere Bildungschancen, bessere
Sprachentwicklung und bessere Integration. Warum neh- Ich möchte noch einen Aspekt erwähnen, was den
men Sie nicht, um eine bessere Wirkung zu erzielen, Fachkräftebedarf angeht. Alle wissen, dass bei den
frühzeitig mehr Geld in die Hand, um später sinnvoll in Frauen in diesem Land ein Fachkräftepotenzial schlum-
Schulen und Hochschulen zu investieren? mert. Es könnten 460 000 Mütter als Fachkräfte für un-
sere Wirtschaft gewonnen werden, wenn es ein flächen-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) deckendes Ganztagsangebot in Kitas und Schulen gäbe.
Das ist für Sie nicht wichtig. Junge Menschen und kleine (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Was
Kinder haben bei Ihnen nicht die Priorität, die sie haben macht Ihr Ministerpräsident da?)
müssten.
Auch der Wirtschaftsminister müsste doch dieses Poten-
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/
zial sehen. Die Bundesregierung müsste ein Gesamtkon-
CSU und der FDP – Albert Rupprecht [Wei-
zept entwickeln, bei dem ein Rad in das andere greift. Je-
den] [CDU/CSU]: Absurd! Ich sage nur:
der Minister und jede Ministerin kocht aber aus
6 Milliarden! – Uwe Schummer [CDU/CSU]:
Das ist ja Wahnsinn! So ein Quatsch!) Profilierungssucht das eigene Süppchen. Am Ende bleibt
das Land auf der Strecke.
– Entschuldigung. Die Zahlen im Haushalt sprechen für
sich. (Ewa Klamt [CDU/CSU]: Das merken wir ja,
wo wir stehen weltweit!)
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was reden
Sie denn da? Sie haben wohl gar nicht in den Ich kündige Ihnen hiermit an, dass wir einen Antrag
(B) (D)
Haushalt hineingeguckt! – Uwe Schummer einbringen werden, in dem wir fordern, dass der Bund
[CDU/CSU]: In welcher Welt leben Sie denn?) einen höheren Finanzierungsanteil am Kitaausbau über-
nimmt. Wir haben am Montag dieser Woche auch ein
– Bleiben Sie ganz gelassen. Sie können ja gerne noch Konzept vorgelegt, das zeigt, wie das alles zu finanzie-
einmal richtig ausholen. Lange wird Ihnen dieser Genuss ren ist.
nicht mehr bleiben.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das gehört
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gott sei aber nicht zu diesem Haushalt! Sie sind im
Dank!) völlig falschen Haushalt! – Weitere Zurufe von
Ich möchte Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich an, an der CDU/CSU)
welchen Stellen in den Kinder- und Jugendplänen ge-
kürzt wird und welche Leistungen für benachteiligte Ju- Vizepräsident Eduard Oswald:
gendliche gestrichen werden – überall ein großes Frau Kollegin, lassen Sie sich nicht irritieren. Sie ha-
Streichkonzert. ben das Wort. Niemand sonst.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sie sind wohl LINKEN)
gerade beim völlig falschen Haushalt, Frau
Kollegin!)
Dagmar Ziegler (SPD):
Sagen Sie nicht, dass Sie die Chancen für Kinder und Ju- Diese Koalition irritiert mich jeden Tag – aber nicht
gendliche in diesem Land verbessern. Sie verschlechtern bei meiner Rede.
sie kontinuierlich und von Haushaltsjahr zu Haushalts-
jahr. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Sie, Frau Ministerin Schavan, haben Ihrer Partei ein
Bildungskonzept vorgelegt, mit dem Sie nicht mehr er-
(Beifall bei der SPD) reichen, als endlich in die Gegenwart zu stolpern. Sie
2003 hat die rot-grüne Bundesregierung ein 4-Milliar- vollziehen jetzt das nach, was Sozialdemokratinnen und
den-Euro-Programm zum Ausbau der Ganztagsschulen Sozialdemokraten seit Jahrzehnten predigen, nämlich
gestartet. Die jetzige Regierung tritt bei diesem Thema dass das dreigliedrige Schulsystem ungerecht ist und zu
aber auf der Stelle. Es gibt nichts als Stillstand, keine keinen guten Bildungserfolgen führt.
Entwicklung.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hauptschule wird abgeschafft! Wer hätte das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14637
Dagmar Ziegler
(A) gedacht? „CDU schafft Hauptschule ab“, das Ich möchte noch etwas zur Leistungsfähigkeit des (C)
ist doch mal eine Meldung! – Gegenruf des Bildungswesens im Hinblick auf die Nachwuchsförde-
Abg. Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: So ein rung sagen: Hierfür sind 3,2 Milliarden Euro vorgese-
Schwachsinn!) hen, Frau Ziegler. Dabei sind die Mittel für den Studen-
ten- und Wissenschaftleraustausch um 19 Prozent auf
Aber selbst mit diesem kleinen Schritt, den Sie vorschla- 131 Millionen Euro erhöht worden.
gen, überheben Sie sich; denn Ihre eigene Parteibasis
will das nicht, auch Ihre Länderkollegen wollen Ihnen (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sagenhaft!)
nicht folgen, und die Kanzlerin düpiert Sie.
Das Budget für die Begabtenförderung ist gar um
Alles in allem ringen Sie um Ihre eigene Zukunft, 34 Prozent auf 264 Millionen Euro erhöht worden.
aber nicht, wie es Ihre Aufgabe wäre, um die Zukunft
unseres Landes. Deshalb wird das mit der Bildungsrepu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
blik leider nichts mit dieser Koalition. Die Mittel für Maßnahmen zur Verbesserung der Berufs-
Vielen Dank. orientierung sind seit 2010 sogar um 170 Prozent erhöht
worden,
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Uwe
CSU: Schlechte Rede! Magere Kost!)
Schummer [CDU/CSU]: Das waren wir!)
Vizepräsident Eduard Oswald: weil wir wissen: Der Fachkräftemangel ist ein Fakt, und
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un- wir müssen etwas dagegen tun. Wir tun das Richtige.
serer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Ich nenne Ihnen aber noch mehr Zahlen, weil Sie
Heinz-Peter Haustein. Bitte schön, Kollege Haustein. eben sagten: Zahlen können nicht lügen, Zahlen sagen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was los ist, abgesehen von gewissen – wie sagte der eine
Herr noch? – Statistiken; auf jeden Fall war es keiner
von uns.
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (Heiterkeit)
Damen und Herren! Liebe Frau Ziegler, ich weiß nicht, Zur Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wissen-
von welchem Land Sie gesprochen haben, aber der Ein- schafts- und Innovationssystems“. Hierfür stehen
zelplan 30 von Frau Schavan – Bildung und Forschung – 4,8 Milliarden Euro zur Verfügung, ein Aufwuchs von
ist eine reine Erfolgsgeschichte. 17 Prozent. Meine sehr verehrten Damen und Herren (D)
(B)
(Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist Ihre Wahrneh- von Rot-Grün, ein Aufwuchs von 17 Prozent bei diesem
mung!) Kapitel! Für den Hochschulpakt sind 1,45 Milliarden
Euro vorgesehen; er ist bis 2020 konzipiert. Die Mittel
Da Sie meinen, die Zahlen sagten die Wahrheit, werde für den Qualitätspakt Lehre belaufen sich auf 175 Mil-
ich Ihnen die Zahlen, wie es sich als Haushälter gehört, lionen Euro, ein Plus von 25 Prozent.
einmal näherbringen. Bildung und Forschung sind ein
Grundelement in unserem Land. Wir haben keine Roh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stoffe, aber wir haben die Bildung. Unser Rohstoff sind Stichwort Fachkräftemangel. Wir entwickeln den Bo-
unsere Gehirne. logna-Prozess weiter. Dafür sind 45 Millionen Euro vor-
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesehen. Für das Kapitel „Forschung für Innovationen,
DIE GRÜNEN) Hightech-Strategie“ sind 4,85 Milliarden Euro einge-
stellt, ein Plus von 7 Prozent. Diese Zahlen können sich
Bildung und Forschung schaffen auch Arbeitsplätze. doch sehen lassen.
Die Arbeitsmarktstatistik zeigt das auch: Wir haben we-
niger als 3 Millionen Arbeitslose. Das ist doch etwas. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die christlich-libe- Darin sind für die Gesundheitsforschung 261 Millionen
rale Bundesregierung und dieses Parlament die richtigen Euro enthalten, ein Plus von 47 Prozent.
Weichen gestellt haben.
Auch bei der Klimaforschung – das versteht sich von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) selbst – gibt es ein Plus von 52 Prozent, also 277 Millio-
Als Haushälter kann ich Ihnen ein paar Zahlen nicht nen Euro. Für die naturwissenschaftliche Grundlagen-
ersparen. Der Haushalt umfasst 12,8 Milliarden Euro. forschung sind 237 Millionen Euro geplant, ein Plus von
Das bedeutet ein Plus von 9,9 Prozent. 67 Prozent. Uns ist klar, dass man die Energiewende mit
der jetzigen Technologie nicht schafft. Ein Elektroauto
(René Röspel [SPD]: Schöne Zahl!) mit einer Speichertechnologie von vorgestern ist irgend-
Das kann sich wohl sehen lassen. wann so nicht mehr zu bauen. Wir brauchen neue For-
schung, neue Innovationen, neue Technologien. Deshalb
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geben wir dafür so viel Geld aus.
Das Ministerium selbst braucht 173 Millionen Euro für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Verwaltung. neten der FDP)
14638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Heinz-Peter Haustein
(A) Zusammengerechnet ergeben diese Zahlen 12,8 Mil- Wirtschaftsförderung praktiziert. Die Anteile der deut- (C)
liarden Euro. Die Frau Ministerin hat es schon angespro- schen Industrie auf dem Weltmarkt bilden für Sie immer
chen, und auch ich habe mir angeschaut, was Rot-Grün noch den Dreh- und Angelpunkt Ihrer Förderpolitik. Ein
in seiner Regierungszeit gemacht hat. Sie, also diese jüngst von den Hochschulverbänden veröffentlichtes
Seite des Hauses, haben sieben Jahre lang regiert und in Thesenpapier kritisiert zu Recht genau diesen Umstand.
sieben Jahren eine Steigerung um 900 Millionen Euro Sie kritisieren dort die rasante Ökonomisierung von
erzielt. Die andere Seite dieses Hauses hat in drei Jahren Wissenschaftseinrichtungen und die immer stärker
bereits eine Steigerung von 2 600 Millionen Euro für geförderte Inszenierung und Vermarktung wissenschaft-
diesen Bereich erzielt. Das macht den Unterschied. Auf licher Erkenntnisse. Immer weniger Themen werden
der einen Seite sitzen die Bremser, auf der anderen Seite nämlich wissenschafts- und gesellschaftsbestimmt aus-
die Lokführer. gewählt und bearbeitet.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Der Erkenntnisgewinn der Wissenschaft
Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Hört!
Hört!) – so heißt es in dem Thesenpapier weiter –

Sie haben es verpennt, wir haben den Turbo reinge- soll sich auf den Menschen, seine sozialen Lebens-
hauen. formen sowie die ihn umgebende Natur und Tech-
nik beziehen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein herzliches
Glückauf aus dem Erzgebirge. Sie soll sich an das „Alltagsleben“ der Menschen ankop-
peln und als „Forschung für den Menschen“ erkennbar
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der sein. Dietrich Grönemeyer hat dazu unlängst geschrie-
CDU/CSU) ben:
An der Neugier und an der Begeisterungsfähigkeit
Vizepräsident Eduard Oswald: der Wissenschaftler, an ihrer Bereitschaft, dem
Vielen Dank, Kollege Haustein. – Jetzt spricht für die Fortschritt ein ganz neues Ansehen zu geben, wird
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. Petra Sitte. es nicht fehlen.
Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Sitte.
Lassen Sie mich das am Beispiel der Gesundheitsfor-
(Beifall bei der LINKEN) schung illustrieren. Herr Haustein hat sie eben erwähnt.
An großen Volkskrankheiten soll verstärkt geforscht
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): werden. Das ist gut so. Um aber eine unvoreingenom-
(B) Danke, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! mene Erprobung neuer Produkte und Verfahren zu ge- (D)
Wir führen diese Debatte in einer Zeit, da längst öffent- währleisten, bedarf es in diesem Programm zugleich ei-
lich über die Zukunft der Zivilgesellschaft, den sozial- ner viel breiteren Förderinitiative für nichtkommerzielle
ökologischen Umbau, ja sogar die Systemfrage disku- klinische Studien. Unabhängiges Herangehen bringt
tiert wird. neue Impulse für Wissen und für die Wirkung von The-
rapien, für die Erkundung von Seuchen, von Krankheits-
Wie auch immer die Antworten ausfallen mögen, ei- ursachen und vor allem für die Erkenntnis über ihre Ver-
nes ist sicher: Das bisherige einseitig technologieorien- knüpfung mit sozialen Umständen.
tierte Wachstumsmodell ist an seine Grenzen gestoßen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Diszipli- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das machen
nen können, wollen und müssen die systemischen Zu- wir doch!)
sammenhänge ebenjener vielfältigen Krisen, vor denen
– Nein, das machen Sie nicht. Sie haben 800 Millionen
wir jetzt stehen, komplex bearbeiten. Es geht am Ende
Euro in eine Pharmainitiative gesteckt. Das Geld bekom-
um nichts Geringeres als um Erkenntnisse, wie leis-
men also jene Konzerne, die seit Jahren Gewinne in Mil-
tungsfähigen, solidarischen und demokratischen Ge-
liardenhöhe einfahren. Was tun die Konzerne gegenwär-
meinschaften sowie Menschen ein würdevolles Leben
tig? Sie fordern noch mehr Geld und reduzieren
ermöglicht und nachfolgenden Generationen ein lebens-
gleichzeitig ihre eigenen Forschungsausgaben. Das passt
fähiger Globus erhalten werden kann. Daran muss sich
doch nicht zusammen. Demzufolge wird für nichtkom-
das, was Sie hier vorlegen, messen lassen.
merzielle klinische Studien immer weniger Geld übrig
Dabei fordert die Linke, dass mit den Milliarden öf- bleiben. Es sollen nur noch mickrige 30 Millionen Euro
fentlicher Forschungsmittel, die Sie gerade gepriesen ha- in diesem Bereich eingesetzt werden. Das halten wir für
ben, konsequent gemeinnütziges Wissen erarbeitet und gänzlich inakzeptabel.
eine verantwortungsvolle Technikfolgenabschätzung be-
(Beifall bei der LINKEN)
trieben wird.
Klinische Studien können bekanntermaßen nur mit
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist
Patientinnen und Patienten realisiert werden. Das ist lo-
[CDU/CSU]: Das machen wir doch!)
gisch. Also sollen in die neuen Zentren für Gesundheits-
– Nein, genau das machen Sie nicht. – Mit Blick auf den forschung bei der Helmholtz-Gemeinschaft Uniklinika
Haushalt stellt man fest, dass die Bundesregierung die eingebunden werden. Das ist ein interessanter Gedanke,
Zeichen der Zeit eben nicht verstanden hat. Wissen- immerhin behandeln sie Tausende von Patienten auf me-
schaftsförderung wird in erster Linie immer noch wie dizinisch höchstem Niveau. Das Problem ist nur: Die fi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14639
Dr. Petra Sitte
(A) nanzielle Situation beider Akteure ist gänzlich verschie- Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
den. Die Hochschulmedizin in unserem Land ist Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist
dramatisch unterfinanziert. Sie müsste endlich ihren In- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
vestitionsstau überwinden können, und sie müsste zu- Frau Priska Hinz. Bitte schön, Frau Kollegin Hinz.
gleich den Kostendruck in der Krankenversorgung über-
winden können. Die neuen Millionen sollten aus unserer
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sicht weniger für neue Strukturen, als vielmehr zur Mo-
bilisierung der vorhandenen Potenziale in Universitäts- NEN):
klinika eingesetzt werden, um weitere Forschungspoten- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweite
ziale zu erschließen. Dazu müsste man allerdings gute Botschaften zu Beginn, auch wenn das für die Op-
gemeinsam mit den Ländern schnelle Lösungen finden. position vielleicht ungewöhnlich ist: Die Ausgaben für
Statt also satte Pharmakonzerne noch satter zu machen, Bildung und Forschung steigen tatsächlich um knapp
hätte man, wie es die Linke seit Jahren fordert, die Uni- 10 Prozent. Darüber freuen wir uns, weil das für Bildung
klinika stärken müssen, indem man dort investiert. und Forschung gut ist.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,


bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
Noch eine Anmerkung zu unserer Kritik an der Ge- geordneten der SPD)
sundheitsforschung aus globaler Sicht. Es geht mir um
armutsbedingte Krankheiten. Meistens sind sie chro- Frau Schavan ist als Ministerin auch für lebenslanges
nisch, sie sind oft nicht tödlich und sie grassieren vor al- Lernen zuständig. Ich freue mich, dass sie auch selber
lem dort, wo es Hunger, Armut, mangelnde Hygiene so- dazugelernt hat. Letztes Jahr haben Sie nämlich trotz un-
wie schlechte bis gar keine medizinische Versorgung seres Protestes die Mittel für die Berufsorientierung radi-
gibt. Im Gesundheitsforschungsprogramm taucht nun kal gekürzt. Diesen Fehler korrigieren Sie jetzt wieder.
der Bereich Impfstoffentwicklung auf. In der Tat bieten Sie haben den Mittelansatz für den internationalen Aus-
neue, beispielsweise in Berlin an der Charité entwickelte tausch deutlich gesenkt. Dieser Ansatz wird wieder er-
Verfahren zu Bekämpfung von TBC – übrigens entwi- höht. Außerdem wollen Sie sich mit der Union von der
ckelt mithilfe öffentlicher Mittel – neue Chancen für die Hauptschule verabschieden. – All das ist richtig. Da ha-
Betroffenen. Deshalb sehen wir Deutschland als eines ben Sie dazugelernt. Wir freuen uns, dass Sie grünen
der reichsten Länder, aber eben auch die Pharmakon- Ideen folgen, wenn auch manchmal etwas später. Aber
zerne in der Verantwortung zur Umsetzung der UN-Mil- immerhin: Sie lernen dazu.
lenniumsziele; denn diese beinhalten unter anderem,
dass Impfstoffe und Therapien genau jene Menschen er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei (D)
reichen müssen, die sie am dringendsten brauchen, sie
sich aber am wenigsten leisten können. der CDU/CSU)

Was ist unsere Forderung an die Bundesregierung? Jetzt endet leider die positive Bilanz des lebenslangen
Unsere Forderung an die Bundesregierung ist, dass man Lernens, und ich komme zu den Problemen, die Sie mit
mit derartigen Förderprojekten endlich für faire und ge- Ihrer Politik machen oder haben, und damit auch zu den
rechte Lizenzen sorgt, Lizenzen, die es ermöglichen, Schwerpunkten, die Sie im Haushalt setzen.
dass die Produkte bei den Betroffenen ankommen und Der Fachkräftemangel, den Sie ebenso wie Frau von
dass sie für die Entwicklungsländer auch wirklich be- der Leyen und der Wirtschaftsminister betont haben,
zahlbar sind. müsste Sie zum Handeln drängen. Aber ein Blick in den
(Beifall bei der LINKEN) Haushalt zeigt, dass die Weiterbildungsmittel, die Sie
letztes Jahr um 20 Prozent gekürzt haben, nicht einmal
Vor allem aber müssten deutlich mehr Mittel zur Lösung auf das alte Niveau aufgestockt werden.
globaler Gesundheitsprobleme eingesetzt werden. Sie
haben in Ihrem Haushalt lediglich 20 Millionen Euro Bei der Weiterbildungsallianz kommt mir nicht so
vorgesehen, aber nicht etwa für das nächste Jahr, son- sehr Ihr Bild des „Same procedure as every year“ in den
dern auf vier Jahre verteilt. Auch das ist angesichts unse- Sinn wie der Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Sie
res Reichtums schlicht und ergreifend beschämend. kommt nämlich auch immer wieder, und bis heute ist
nichts daraus geworden.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen, meine Damen
und Herren. Gesundheit bestimmt unmittelbar und indi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
viduell Lebensqualität. Das weiß jeder von uns; jeder hat
Ein durchdachtes Konzept für eine bessere Weiterbil-
seine Erfahrungen damit gemacht. Versäumnisse in der
dungsberatung lässt auf sich warten. Auf das Gesetz zur
Forschung von heute gefährden Menschen und Gesell-
Anerkennung ausländischer Abschlüsse warten wir und
schaften von morgen. Die Erde ist rund. Krankheiten
vor allem diejenigen, die es betrifft, die eine Anpas-
machen nicht vor Staatsgrenzen hält. Aus diesem Grund
sungsqualifizierung brauchen und endlich arbeiten wol-
können wir nur Erfolge erzielen, wenn wir konsequent
len, seit eineinhalb Jahren, und das nur, weil Sie nicht zu
global handeln und kooperativ vorangehen.
Potte kommen. Das ist eine sehr schlechte Bilanz für
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. eine Bildungsministerin.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
14640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Priska Hinz (Herborn)


(A) Im Übergangssystem sind immer noch 400 000 Ju- halt, Frau Ministerin Schavan, kann man das ganz be- (C)
gendliche, obwohl es eine Entspannung auf dem Ausbil- sonders gut studieren.
dungsmarkt gibt. Darüber hinaus gibt es aber, wie
Danke schön.
gesagt, 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsab-
schluss. Statt in der Weiterbildung durchdachte Kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zepte zu erarbeiten, die Ausbildung, Qualifizierung und und bei der SPD)
Weiterbildung verzahnen und diesen jungen Menschen
eine Chance geben – diese Kompetenz haben Sie als Vizepräsident Eduard Oswald:
Bundesministerin –, ist an dieser Stelle von Ihnen nichts
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
zu verzeichnen. unser Kollege Albert Rupprecht. Bitte schön, Kollege
Was die Bertelsmann-Stiftung tut, nämlich mit den Albert Rupprecht.
Ländern Konzepte zu entwickeln, wie man das Über- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gangssystem eindampfen kann, wäre eigentlich Ihre
Aufgabe gewesen. Das ist eine staatliche Aufgabe und
nicht die einer privaten Stiftung. Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kollegen! Wir erleben derzeit weltweit, dass in
und bei der SPD) vielen Industrieländern, in den USA, in Großbritannien,
in Frankreich und anderswo, im Bereich Forschung und
Sie von der Koalition haben vorhin über die Aussage Bildung dramatisch gekürzt, gestrichen und rasiert wird.
von Frau Ziegler, dass viel Geld im Haushalt stehe, aber Die Haushaltsschulden erzwingen solche Maßnahmen in
nicht alles ausgegeben werde, gelacht. Wir haben letzten diesen Ländern. Wir erleben andererseits, dass wir in
Winter im Haushaltsausschuss erleben müssen, dass die Deutschland die siebte Steigerung dieses Etats auf ein
Koalition einen Maßgabebeschluss gefasst hat, wonach neues Rekordniveau haben.
Ausgabenreste in Höhe von 88 Millionen Euro übertra-
gen werden. Das betraf Bereiche von Programmen, die Frau Ziegler, ich schätze Sie eigentlich als sehr sach-
die Ministerin unbedingt durchführen wollte, welche orientierte Kollegin, aber wenn Sie hier die Aussage wa-
aber aus unserer Sicht unsozial und nicht durchdacht gen, dass wir für Kinder und Jugendliche nichts übrig
sind und für die sie das Geld nicht ausgeben kann. Ich hätten, dann frage ich Sie, was mit diesen Steigerungen
nenne als Beispiel das Stipendienprogramm, das bis in unserem Haushalt passiert.
heute ein echter Rohrkrepierer ist. Immer noch sind (Dagmar Ziegler [SPD]: Das fragen wir uns
nicht mehr als 25 Prozent der Mittel ausgeschöpft, aber auch!)
(B) Sie wollen dieses unsoziale Projekt im kommenden (D)
Haushalt mit weiteren Mitteln ausstatten. Noch einmal die Zahlen: 2012 steigen die Mittel gegen-
über dem Vorjahr um 10 Prozent auf 12,8 Milliarden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Euro. Das bedeutet eine Steigerung im Vergleich zu der
sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von Zeit, als Sie Verantwortung trugen – 2005, als Rot-Grün
der FDP: Was ist daran unsozial?) abgewählt worden ist –, um 69 Prozent.
Im Bereich der Bioökonomie versenken Sie Millio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nenbeträge in die Grüne Gentechnik, obwohl niemand Klaus Hagemann [SPD]: Jetzt werden Sie ab-
gentechnisch veränderte Nahrungsmittel auf dem Teller gewählt!)
haben will. Vielleicht wird das Urteil über den Honig,
der Spuren von gentechnisch veränderten Pollen ent- Es ist schlichtweg absurd, zu behaupten, wir hätten für
hielt, zu einem Umdenken bei Ihnen führen. Kinder und Jugendliche, für Forschung und Bildung
nichts übrig. Man kann über jedes einzelne Programm
Sie fördern weiterhin die Fusionsforschung. Sie hal- oder jede einzelne Maßnahme reden, aber es ist unred-
ten an der Finanzierung des Fusionsreaktors ITER fest. lich, zu behaupten, wir hätten nichts für Kinder und Ju-
gendliche übrig.
(Zuruf von der FDP: Richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es gibt nur zwei Dinge, die hinsichtlich dieses Projekts neten der FDP)
feststehen: stetige Kostenexplosion und Verschiebung
der Zeitpläne. Niemand braucht Ergebnisse einer teuren Es ist eine weltweit herausragende Leistung, die wir mit
Fusionsforschung, die erst ab dem Jahr 2050 nutzbar diesem Haushalt erbringen. Diese Leistung wird mit
sind. Bis dahin müssen wir auf erneuerbare Energien Ausnahme von einigen Ländern des asiatischen Raums
umgestiegen sein. Da müssen Sie Geld hineinstecken. in keinem Land der Welt erreicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir erleben derzeit, dass US-Wissenschaftler besorgt
und bei der SPD – Albert Rupprecht [Weiden] die Frage stellen, wie sie im nächsten Jahr ihren Haushalt
[CDU/CSU]: Wieso haben Sie das damals mit- finanzieren sollen, in einem Land, in dem angeblich
beschlossen?) Milch und Honig für Wissenschaftler fließen. Sie sind be-
sorgt, weil sie nicht wissen, ob sie im nächsten Jahr die Fi-
Das Ausgeben von viel Geld bedeutet nicht unbe- nanzierung noch sicherstellen können. Wir erleben auf
dingt, dass gute Politik gemacht wird. An Ihrem Haus- der anderen Seite, dass wir in Deutschland den Wissen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14641
Albert Rupprecht (Weiden)
(A) schaftlern der Institutionen, für die wir auf Bundesebene 105 Millionen Euro. Wir erwarten uns von diesem In- (C)
Verantwortung tragen – Helmholtz-Gemeinschaft, Max- strument sehr viel. In der Tat ist es unsere Aufgabe, das
Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Fraunhofer- Bündel an sonstigen Maßnahmen, die existieren, auf die
Gesellschaft und DFG –, nicht nur sagen können, dass wir wirklich effektiven Kerninstrumente zu reduzieren. An
das Vorjahresniveau halten, sondern ihnen sogar einen dieser Stelle sage ich auch: Das ist nicht nur Bundesauf-
Zuwachs um 5 Prozent versprechen können. Mehr noch: gabe; das Ganze geht vielmehr nur gemeinsam mit den
Nicht nur in diesem Jahr bekommen sie einen Zuwachs Ländern.
von 5 Prozent, sondern es gibt die Zusage, dass sie bis
zum Jahr 2015 jedes Jahr eine Steigerung von 5 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
erhalten. Für uns sind berufliche Bildung und duale Ausbil-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dung genauso wertvoll und wichtig wie der akademische
Abschluss und die akademische Bildung. Deswegen ver-
Das ist gelebte Kontinuität, das ist gelebte Verläss- stetigen wir die Ausgaben für die überbetrieblichen Bil-
lichkeit, und das ist gelebte Prioritätensetzung für For- dungsstätten des Handwerks; das war uns als Unions-
schung und Bildung. Aber das ist auch eine Geisteshal- fraktion ein außerordentlich wichtiges Anliegen in den
tung, die in der Tat durch die Kanzlerin geprägt ist. Das Vorgesprächen zur Abstimmung des Haushalts. Wir stei-
war schon in der Großen Koalition so, und das wird in gern darüber hinaus die Ausgaben im Bereich der Be-
der jetzigen Koalition fortgeführt. Wir sind neugierig rufsorientierung auf 50 Millionen Euro; das ist eine satte
und offen für neue Technologien, weil wir der festen Steigerung um 278 Prozent.
Überzeugung sind, dass wir nur mit neuen Technologien
und mit Forschung die Probleme der Menschheit lösen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
können. Sehr geehrte Damen und Herren, obwohl wir für die
Unter Rot-Grün war es ganz anders: Damals sind Hochschulen nicht primär verantwortlich sind – sie un-
massenweise Wissenschaftler, die über Zukunftstechno- terstehen, wie Sie wissen, der Länderverantwortung –,
logien forschen, in die USA ausgewandert oder, besser gibt der Bund Milliarden Euro als Unterstützung:
gesagt, geflohen. 1,1 Milliarden Euro fließen in den Studienplatzausbau
im Hochschulpakt. Für den Hochschulbau werden Kom-
(René Röspel [SPD]: Das ist doch Quatsch!) pensationsmittel im Umfang von 695 Millionen Euro zur
– Natürlich ist das der Fall. Verfügung gestellt. 175 Millionen Euro stehen für den
Qualitätspakt Lehre bereit. Für die Weiterentwicklung
(René Röspel [SPD]: Nennen Sie mal ein paar des Bologna-Prozesses sind 46 Millionen Euro veran-
(B) Beispiele!) schlagt; das ist übrigens eine Steigerung um 32 Prozent. (D)
Für die Studienfinanzierung geben wir erstmals über
– Beispielsweise Wissenschaftler aus der Biotechnolo- 1 Milliarde Euro aus. Der mit Abstand größte Brocken
gie. davon ist mit 820 Millionen das BAföG.
(René Röspel [SPD]: Das ist doch Quatsch!) Zusammenfassend heißt das: Wir geben mehr als
Wir stellen auf der anderen Seite fest – Befragungen 3 Milliarden Euro, also ein Viertel des gesamten Haus-
zeigen das –, dass sich im Augenblick 80 Prozent der halts, für mehr Studienplätze, für Hochschulbau, für
Wissenschaftler aus Deutschland, die im Augenblick in strukturelle Verbesserung der Lehre und für die Studien-
den USA tätig sind, überlegen, nach Deutschland zu- finanzierung aus, und das, obwohl das alles – mit Aus-
rückzukommen – 80 Prozent! nahme der Studienfinanzierung – originäre Aufgabe der
Länder wäre.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hier gibt es aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
keine Stellen!)
Sehr geehrte Damen und Herren, die Diskrepanz zwi-
Wir stellen fest, dass Deutschland als Wissenschafts- schen verfassungsgemäßer Verantwortung der Länder
und Forschungsstandort wieder attraktiv ist. Wir werden und tatsächlicher Aufgabenerfüllung ist, wie ich meine,
diesen Standortvorteil, den wir als Politiker, als Ent- durchaus enorm und auch ein Stück weit bedenklich.
scheider gestalten, knallhart nutzen, und wir werden ver- Alle Bundesländer müssen sich also ihrer verfassungsge-
suchen, die besten Köpfe für Deutschland zu gewinnen. mäßen Verantwortung stellen. Wir erleben, dass die
Wir werden im Hinblick auf Wissenschaftler und For- Realität hier sehr unterschiedlich ausschaut. Mein Hei-
scher das Zuwanderungsrecht verbessern. matland Bayern hat für den Haushalt 2012 im Bereich
Forschung und Bildung einen deutlichen Anstieg be-
(Klaus Hagemann [SPD]: Da bin ich schlossen,
gespannt!)
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das
Sehr geehrte Damen und Herren, wir geben nicht nur wurde auch Zeit! – Weiterer Zuruf der Abg.
mehr Geld aus, sondern wir setzen auch wichtige Dagmar Ziegler [SPD])
Schwerpunkte. Wir wollen, dass die Zahl der Kinder und
Jugendlichen ohne Schul- oder Berufsabschluss halbiert während Brandenburg, Ihr Heimatland, Frau Ziegler, im
wird. Deswegen setzen wir auf das Instrument der Bil- Hochschulbereich massiv kürzt. Schüler und Studenten
dungsketten. Wir investieren dort einen Betrag von marschieren dort zu Tausenden auf die Straßen.
14642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Albert Rupprecht (Weiden)


(A) (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das sind die Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
Roten!) Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt als Nächster für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Klaus
Es geht natürlich nicht, dass Länder auf Finanzie- Hagemann. Bitte schön, Kollege Klaus Hagemann.
rungswege wie Studiengebühren verzichten und an-
schließend beim Bund auf der Matte stehen und verlan- (Beifall bei der SPD)
gen, dass er ihre Aufgaben und Ausgaben kompensiert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Klaus Hagemann (SPD):
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
die Studis sollen jetzt die Landeshaushalte sa- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie
nieren, oder was?) haben eben auf die beliebte Fernsehsendung hingewie-
sen, die Ende eines jeden Jahres ausgestrahlt wird: Din-
Zum Zweiten muss, wenn es um die Weiterführung ner for One – „the same procedure as every year“. Die
der Pakte geht – wie ich meine –, einiges neu austariert Menschen sehen sie sehr gerne. Es stellt sich nur die
werden. Das kann im Ergebnis auch heißen, dass der Frage, wer dann letztendlich als Bettvorleger landet. Das
Bund mehr Aufgaben übernimmt. Aber ich denke, das werden wir sehen, wenn abgerechnet wird.
muss immer mit Mehrwert begründet sein. In einer föde-
ralen Struktur ist das Subsidiaritätsprinzip das entschei- Ich möchte Ihnen, was den Mittelabfluss angeht, mit
dende Kriterium. Letztendlich muss das von Thema zu einer anderen Literaturstelle antworten, nämlich mit dem
Thema genau durchdacht werden. Buch von Michael Ende Die unendliche Geschichte. Je-
des Jahr wieder geben Sie mir die Möglichkeit, dieselbe
Sehr geehrte Damen und Herren, auch im Bereich der Presseerklärung herauszuholen und nur die Zahlen durch
Forschung erhöhen wir die Ansätze und setzen inhaltli- andere zu ersetzen. Das ist Realität, und das möchte ich
che Schwerpunkte. Bei der institutionellen Forschungs- Ihnen jetzt noch einmal vorlegen.
förderung im außeruniversitären Forschungsbereich ge-
ben wir 5 Prozent mehr aus; wir erhöhen den Ansatz auf Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als So-
4,3 Milliarden Euro. zialdemokraten begrüßen und unterstützen natürlich den
geplanten Aufwuchs von 12 Milliarden Euro in den
Bei der Projektförderung gibt es eine erhebliche Stei- nächsten Jahren. Wir haben das ehrgeizige Ziel – das
gerung auf 5,4 Milliarden Euro. Für die Gesundheitsfor- wird bei uns in Kürze der Parteitag absegnen –, noch
schung stehen im Jahre 2012 1,38 Milliarden Euro zu mehr Mittel für Bildung und Forschung oben draufzupa-
Verfügung. Das ist nahezu eine Verdoppelung gegenüber cken. Aber es muss glaubhaft sein, dass wir diese Mittel
(B) dem Ansatz von Rot-Grün im Jahr 2005. zur Verfügung stellen können. Die ersten Anträge wer- (D)
den wir schon zu diesem Haushalt vorlegen.
Für die Energieforschung – das ist einer unserer
Schwerpunkte – geben wir im Gesamthaushalt bis 2014 (Beifall bei der SPD)
3,5 Milliarden Euro aus. Davon entfallen 80 Prozent auf Es ist jetzt auf einige Projekte hingewiesen worden.
erneuerbare Energien. Im Jahr 2012 sind das 657 Millio- Daher wollen wir doch einmal gucken, wann sie instal-
nen Euro. liert worden sind, wer sie erdacht hat. Zunächst muss
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man sich natürlich vor Augen führen, wo wir am Ende
der Regierungszeit von Helmut Kohl bei Forschung und
Sehr geehrte Damen und Herren, auch in diesem Be- Bildung waren, nämlich bei rund 5 Milliarden Euro. Da
reich lässt sich nachweisen, dass wir die Projektförder- musste erst etwas aufgebaut werden.
mittel im Einzelplan 30, beispielsweise im Bereich Ener-
gieeffizienz, erneuerbare Energien, gegenüber dem An- Was wurde dann eingeführt, meine Damen und Her-
satz von Rot-Grün im Jahre 2005 verdreifacht haben. ren? Unter Rot-Grün wurde der Pakt für Forschung und
Innovation eingeführt.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben als
(Beifall bei der SPD)
Unionsfraktion unsere Anliegen im Vorfeld eingebracht.
Wir werden im Laufe der Verfahren nur noch wenige Die Exzellenzinitiative, die Furore in den Universitäten
Änderungsanträge einbringen müssen; denn unsere An- macht, hat man sich unter Rot-Grün ausgedacht, und sie
liegen sind weitestgehend oder fast alle berücksichtigt. wurde in der Zeit der Großen Koalition unter Beteili-
gung der SPD ausgestaltet.
Wir haben im Jahre 2012 im Bereich Forschung und
Bildung eine Steigerung um 10 Prozent. Das ist interna-
tional vorbildlich; das ist hervorragend, ausgezeichnet. Vizepräsident Eduard Oswald:
Das ist vor allem gegenüber den Ansätzen in der Zeit, als Kollege Hagemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
Sie von Rot-Grün Regierungsverantwortung hatten, eine des Kollegen Schirmbeck? Sie sehen, dass Ihr Kollege
Steigerung um 69 Prozent. Das, sehr geehrte Damen und dort schon erwartungsvoll steht.
Herren, ist ein Quantensprung.
Danke schön. Klaus Hagemann (SPD):
Ein Kollege aus Osnabrück-Land kriegt immer das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14643

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Dummes (C)


Bitte schön, Kollege Schirmbeck. Zeug!)
– Nein, das ist kein dummes Zeug, Kollege Rehberg. Es
Georg Schirmbeck (CDU/CSU): ist Realität. Es liegt keine titelscharfe Festlegung auf
Kollege Hagemann, das finde ich sehr sympathisch. – Einzelmaßnahmen vor.
Sie haben eben davon gesprochen, wo wir am Ende der
Regierungszeit von Helmut Kohl waren. Jetzt muss man (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Lesen Sie das
auch fragen: Wo waren wir, als Helmut Kohl die Regie- nach! Das ist alles aufgeführt!)
rung übernommen hat?
Bildung kommt ja nicht nur im Einzelplan 30 vor. Ich
(Heiterkeit bei der SPD) frage Sie beispielsweise, warum Sie im Einzelplan 11,
Arbeit und Soziales, im Bereich Bildung die Mittel für
Was hat die sozialliberale Koalition hinterlassen? Erst
Jugendliche, die keinen Schulabschluss bzw. keine abge-
dann können Sie die Lebensleistung von Helmut Kohl
schlossene Ausbildung haben, sehr deutlich nach unten
nachvollziehen. Von daher wäre das schon einmal eine
fahren.
ganz interessante Frage.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Jobcenter in Alzey-Worms, in meinem Landkreis,
Klaus Hagemann (SPD): bekommt 25 Prozent weniger Mittel für Maßnahmen für
Mein Landsmann Helmut Kohl hat den Satz geprägt: Jugendliche.
Wichtig ist, was hinten herauskommt.
Warum führen Sie Kürzungsmaßnahmen bei der poli-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Genau!) tischen Bildung durch? Warum kürzen Sie bei dem Pro-
Dann schauen wir uns einmal an, was bei Forschung und gramm zur Humanisierung der Arbeitswelt? Gerade die
Bildung hinten herausgekommen ist: Der Ausgangs- Forschung auf diesem Sektor ist doch wichtig, wenn
punkt der rot-grünen Koalition waren 5 Milliarden Euro; Menschen einigermaßen fit bis 67 Jahre arbeiten sollen.
ich sagte es schon. Wir haben dann den Pakt für For- Was nützen die schönsten Zahlen und die schönsten
schung und Innovation oben draufgepackt. Die Ansätze Programmtitel, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
für diesen werden jetzt wieder aufgebaut – völlig d’ac- sie nur auf dem Papier stehen und nicht umgesetzt wer-
cord. Unter Rot-Grün wurde die Exzellenzinitiative, die den, wenn wir Minderausgaben haben bzw. zusätzlich
für Furore bei den Universitäten gesorgt hat, gestartet noch Mittel in die globale Minderausgabe fließen sollen?
(B) und in der Großen Koalition umgesetzt. Unter Beteili- Allein im letzten Jahr sind 325 Millionen Euro nicht ver- (D)
gung der SPD wurde zu Zeiten der Großen Koalition der ausgabt worden; und in den letzten sieben Jahren ist das
Hochschulpakt I und II gestartet. Gemeinsam haben wir immer wieder geschehen.
den Cluster-Wettbewerb gestartet. All das ist aufgebaut
worden. Wir haben die Hightech-Strategie zusammen Dann schauen wir uns einmal die Situation der Studie-
mit Ihnen, lieber früherer Koalitionspartner, entwickelt renden an – im Oktober beginnt ja das neue Semester –:
und in die Tat umgesetzt. Wir haben eine deutliche Erstes Beispiel: Das elektronische Zulassungsverfah-
BAföG-Erhöhung durchgesetzt, bei der wir Sie zum Ja- ren ist ein Flop. Es geschah nichts. Sie, Frau Ministerin,
gen tragen mussten. haben nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen. Ich ma-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) che Ihnen persönlich keinen Vorwurf, aber ich halte fest,
dass man die HIS zu lange hat gewähren lassen und dass
Wir haben in dieser Zeit unter Beteiligung der SPD, aber zu spät die Leine gezogen wurde.
ohne die FDP, lieber Kollege Schirmbeck, die Mittel für
die Begabtenförderungswerke aufgestockt. Sie haben sie Zweites Beispiel: Hochschulbau. Wir wissen, meine
im vergangenen Jahr leider wieder heruntergefahren. Damen und Herren, dass gerade angesichts der im Mo-
Jetzt fahren Sie die Mittel endlich wieder nach oben, ment starken Studierendenjahrgänge Hochschulbauten
nachdem die Begabtenförderungswerke Rabatz gemacht notwendig sind. Wie spiegelt sich das aber in den Zahlen
und sich beschwert hatten. Also, lieber Kollege, so wider? Seit 2007 wurden in keinem Jahr alle Mittel ab-
schlecht ist es gar nicht, was die Sozialdemokraten zu gerufen. Es liegen damit 0,5 Milliarden Euro auf Halde,
verantworten oder mitzuverantworten haben. die eigentlich für den Hochschulbau hätten eingesetzt
werden müssen. 500 Millionen Euro stünden hier zur
(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne-
Verfügung. Hier spielen natürlich die Länder mit hinein.
ten der CDU/CSU)
Sie sehen also, lieber Kollege Schirmbeck, wie wir die (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Ach ja?)
Dinge weiterentwickelt haben. – Ja. – Aber wenn Sie ständig die Steuern senken und
Lassen Sie mich in meinen Ausführungen fortfahren: den Ländern die Einnahmen wegnehmen wollen,
Sie haben das 12-Milliarden-Euro-Programm vorgelegt, (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Frau Minis- CSU)
terin, aber Sie haben immer noch nicht titelscharf festge-
legt, wohin die 12 Milliarden Euro fließen werden. Wir wo bleibt dann den Ländern die Möglichkeit, entspre-
erwarten, dass uns dies bald vorgelegt wird. chend zu investieren und kozufinanzieren?
14644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Klaus Hagemann
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bildung und Forschung sind mehr als in den Jahren (C)
DIE GRÜNEN) zuvor Teil der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit,
Frau Sitte, egal ob es um die Stimulierung von Wirt-
Drittes Beispiel: Das Deutschlandstipendium ist schaftswachstum oder um die Bewältigung der Heraus-
schon beleuchtet worden; bisher ist es auch nur ein Flop. forderungen durch die Energiewende geht. Dabei ver-
Zwei Drittel der Ausgaben sind für Werbung, ein Drittel, folgt diese Koalition langfristige Ziele, und die
1,5 Millionen Euro, Ausgaben für das Stipendienpro- Entwicklung zeigt, dass für uns, gerade im wissenschaft-
gramm. Wenn Sie das Geld für die Begabtenförderung lichen Raum, Verlässlichkeit und Kontinuität im Vorder-
oder das BAföG ausgegeben hätten, wäre das erfolgrei- grund stehen.
cher gewesen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zum Schluss zum Qualitätspakt Lehre, der dazu
dient, dass der Unterricht in den Universitäten besser Ausdruck der langfristigen Planungssicherheit – das
wird. Hierfür stehen 200 Millionen Euro zur Verfügung. ist für unsere Forschungseinrichtungen ganz wichtig –
Nach Ihrer Statistik, die wir dieser Tage erhalten haben, ist der Pakt für Forschung und Innovation. Wir garantie-
sind bis Ende August 0,6 Prozent abgeflossen. 111 Uni- ren für die Jahre 2011 bis 2015 4,9 Milliarden Euro.
versitäten sind zuvor ausgewählt worden, aber zumin- Diese von uns gewollte langfristige Entwicklung zielt
dest bis Ende August sind noch keine Bescheide hinaus- vor allem auf die Leistungsfähigkeit des Wissenschafts-
gegangen. Die Universitäten warten dringend auf diese systems ab. Diese gilt es weiter zu fördern, und hier set-
Mittel, damit sie die Lehre in den Universitäten verbes- zen wir auch mit der institutionellen Förderung an, in-
sern können. dem wir einen jährlichen Mittelaufwuchs von 5 Prozent
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann garantieren.
[SPD]) Im Haushaltsjahr 2012 übertreffen wir die geplante
Es bleibt also viel zu beraten. Ich freue mich auf die Marke und erreichen sogar einen Aufwuchs von knapp
Diskussionen morgen im Berichterstattergespräch und 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit ein Volu-
im Haushaltsausschuss. men von etwa 4,4 Milliarden Euro.
Herzlichen Dank. Der Bereich Forschung und Entwicklung folgt einem
besonderen und speziellen Konzept. Es ist nicht so, dass
(Beifall bei der SPD) man heute an einer Stellschraube dreht und bereits mor-
gen die Effekte oder Ergebnisse sehen kann. So funktio-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: niert Wissenschaft nicht. Die Haushaltsjahre setzen hier
(B) Nun hat Martin Neumann für die FDP-Fraktion das manchmal einen zu engen Rahmen – das ist genau das (D)
Wort. Problem, das Sie, Herr Hagemann, hier angesprochen
haben –, der die Begleitung der Forschungsorganisatio-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen bei ihrer langfristigen Entwicklung, ihren Projekten
und Ansätzen beeinträchtigt.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Am Beispiel der Helmholtz-Gemeinschaft zeigt sich,
Kollegen! Sehr geehrter Herr Hagemann, gehen Sie bitte dass die Planung und der Bau von Großgeräten – durch
davon aus, dass kein Geld, so wie Sie es eben behauptet Kooperationspartner oder durch behördliche Genehmi-
haben, liegen bleiben wird. Vielmehr folgen Wissen- gungsprozesse – sich manchmal so lange erstrecken,
schaft, Bildung und Forschung einer besonderen Spezi- dass sie dem Haushaltsjahr und seinen Planungen ent-
fik, und da geht es tatsächlich darum, das Geld sinnvoll wachsen. Es bleibt aber kein Geld liegen, um das ganz
und langfristig auszugeben. deutlich zu sagen.

Der uns vorliegende Einzelplan 30 für das Haushalts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
jahr 2012 ist eben nicht, wie Sie es hier gesagt haben, ein Wir brauchen viel mehr Verlässlichkeit und müssen
bloßer Sammelkatalog von kurz- und mittelfristigen vor allen Dingen auf eines achten: dass wir die haushäl-
Maßnahmen im BMBF, sondern Ausdruck – das ist das terischen Rahmenbedingungen weiter flexibilisieren.
Neue, hören Sie da genau zu – einer langfristig angeleg- Mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz werden wir genau
ten wissenschafts- und forschungspolitischen Strategie. an diesem Punkt ansetzen und damit die Leistungsfähig-
(Klaus Hagemann [SPD]: Von der SPD!) keit der Forschungsorganisationen steigern.
Diesem Gedanken folgend hat die christlich-liberale Der Einzelplan 30 folgt damit einem wichtigen Ge-
Koalition den zugesagten Aufwuchs der Finanzmittel danken, den ich bereits betont habe, nämlich dem der
vorgenommen. Die Zahlen sind mehrfach genannt wor- langfristigen Entwicklung und der Kontinuität. Beson-
den. Wir haben ein Volumen von 12,8 Milliarden Euro; ders zu nennen ist die Titelgruppe „Naturwissenschaftli-
das ist eine Steigerung um 1,2 Milliarden Euro, und das che Grundlagenforschung“, wo wir einen Aufwuchs von
vor dem Hintergrund einer umfassenden Haushaltskon- über 52 Prozent auf nunmehr 277 Millionen Euro haben.
solidierung. Damit kommt sehr deutlich zum Ausdruck, Denn ohne genügende Grundlagenforschung kann es
welchen Stellenwert diese Koalition Wissenschaft und keine ausreichenden Innovationen geben. Oder, um es
Forschung beimisst. direkt mit den Worten von Max Planck zu sagen, der ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14645
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) mal formulierte: „Dem Anwenden muss das Erkennen sie nicht wisse, wohin mit ihrem Geld. Nur: Die Zahlen (C)
vorausgehen“. stammen allesamt aus Ihrem Haus, Frau Ministerin.
Wie wichtig dies ist, stellen wir gegenwärtig In mehreren Positionen stellt diese Zahlentabelle klar,
schmerzlich im Bereich der Elektrochemie vor dem Hin- dass die Auslastung im Haushalt 2011 bis zum 31. Juli
tergrund der Energiespeicherfrage fest. Insofern ist es deutlich unter 10 Prozent gelegen hat.
geradezu ein Gebot, die Grundlagenforschung intensiv
zu fördern und damit das deutsche Wissenschaftssystem (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie sollten
für die wichtigen gesellschaftlichen Herausforderungen mal diese Zahlenspielerei lassen!)
zu stärken. – Das ist keine Zahlenspielerei, das ist eine Tabelle aus
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem BMBF. – Wenn man sich anschaut, welche Projekte
von dieser geringen Auslastung betroffen sind, dann
Ein letzter Satz zum Thema Hochschule: Hier sind stellt man fest: Es sind die Prestigeobjekte der Koalition
die Verantwortlichkeiten klar; sie liegen bei den Län- und der Bundesregierung – die Bildungsketten, das so-
dern. Wir wollen mit dem Hochschulpakt 2020 die In- genannte Deutschlandstipendium und der Qualitätspakt
vestitionen um 60 Prozent auf 1,46 Milliarden Euro an- Lehre.
heben. Denn Hochschulen sind nicht nur ein wichtiger
Pfeiler des deutschen Wissenschaftssystems und damit In all diesen Positionen schaffen Sie lange nicht das,
seiner Leistungsfähigkeit, sondern nach meinem Ver- was Sie vorgeben, schaffen zu können. Das kritisieren
ständnis auch der Ort, wo Grundlagenforschung stattfin- wir heftig,
det und diese in die Anwendung überführt werden kann. (Beifall bei der LINKEN)
Dieses klar gezeichnete Profil zeichnet den Haus- und zwar nicht, weil wir diese Projekte nicht schön fin-
haltsplan aus – den, sondern weil das Geld woanders besser aufgehoben
wäre.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kollege, der letzte Satz ist schon sehr lang, und
Sie haben die Zeit schon deutlich überschritten. Wir werden nicht kritisieren, dass Sie an anderen Stel-
len zum Teil Geld draufsatteln; denn Geld für Bildung
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): wird sehr dringend gebraucht. Insgesamt muss für allge-
– und sollte nach meinem Dafürhalten in den anste- meine und berufliche Bildung deutlich mehr aufgebracht
henden Beratungen nicht verwässert werden. werden.
(B)
Danke schön. Trotzdem müssen Sie uns einmal erklären, woraus (D)
sich zum Beispiel der höhere Bedarf bei den Bildungs-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ketten ergibt, wenn bis zum 31. Juli kaum etwas abge-
flossen ist. Wäre das Geld dann nicht direkt in den Schu-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: len besser aufgehoben, wo man dafür sorgen könnte,
Das Wort hat nun Rosemarie Hein für die Fraktion dass die Kinder einen Schulabschluss erlangen und dann
Die Linke. eine ordentliche Ausbildung erhalten können?
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
[CDU/CSU]: Dafür ist der Bund gar nicht zu-
Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): ständig!)
Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen und Dort aber kommt das Geld doch gar nicht an.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss Ih-
nen sagen: Die Zahlenjongliererei, die wir vorhin vorge- Allerdings hätten wir auch gerne im gesamten Be-
führt bekamen, finde ich einigermaßen erbärmlich. Es reich der beruflichen Bildung deutlich mehr Mittel, um
geht doch nicht um die Frage, wer es erfunden hat: die die kolossalen Defizite der vergangenen Jahre auszuglei-
CDU oder die SPD; oder waren es vielleicht doch die chen, wenn auch mit einer anderen Zielrichtung. Es gibt
Schweizer? zwar für Jugendliche unter 25 Jahren einen Rechtsan-
spruch auf eine Berufsausbildung, eine Vermittlung in
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arbeit oder Beschäftigung oder eine Bildungsmaß-
Wir führen keine Urheberrechtsdebatte!) nahme. Wer aber bis zum 25. Lebensjahr keinen Berufs-
Es geht um die Zukunftschancen junger Menschen in abschluss erreichen konnte, ist irgendwann über 25 und
diesem Land, und dazu sollte der Bildungshaushalt einen wird dann nicht mehr gefördert und hat immer noch kei-
Beitrag leisten. Diesen Satz der Ministerin könnte ich nen beruflichen Abschluss. Etwa 17 Prozent in der Al-
glatt unterschreiben, nur leistet der Bildungshaushalt das tersgruppe zwischen 25 und 30 Jahren haben keinen be-
nicht. ruflichen Abschluss. Hier sehen wir dringenden
Handlungsbedarf.
(Heiner Kamp [FDP]: Haben Sie denn nicht
zugehört?) (Beifall bei der LINKEN)
Ich kann schon verstehen, dass die Ministerin wenig er- Frau Ministerin, das größte Fiasko – es hat heute
freut gewesen ist über die jüngste Pressemeldung, dass schon mehrfach eine Rolle gespielt – erleiden Sie offen-
14646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Rosemarie Hein


(A) sichtlich mit Ihrem famosen Deutschlandstipendium für Stadt Magdeburg wurden die Mittel aus dem Konjunk- (C)
besonders Begabte. Sie wollten 2010 schon einmal turpaket II vorrangig verwendet, um Schulen, Kitas und
10 Millionen Euro dafür ausgeben; aber nur 20 Prozent Kultureinrichtungen zu sanieren. Das Konjunkturpaket II
davon sind tatsächlich abgeflossen. Das restliche Geld war aber kein Bildungsprogramm.
ist liegen geblieben, Herr Neumann. In diesem Jahr sol-
Damit der Bildungshaushalt des Bundes künftig tat-
len es wieder 10 Millionen Euro sein; aber es wird nicht
sächlich wieder als Bildungshaushalt bezeichnet werden
viel mehr abfließen als letztes Jahr. Trotzdem veran-
kann, müsste der Bund in Bildungsfragen wieder mit den
schlagen Sie für das nächste Jahr fast den vierfachen Be-
Ländern kooperieren können. Dann müssten Bildungs-
trag. Frau Schavan, Ihr Lieblingskind findet keine Ab-
aufgaben nicht über andere Ressorts oder Bundesinstitu-
nehmer. Da hilft auch nicht der Aufruf, den wir alle
tionen gesteuert werden; die Mittel könnten direkt in die
kürzlich per Mail erhalten haben: Private werden aufge-
Bildungsarbeit der Schulen und Hochschulen fließen.
fordert, über Stipendien Bildung zu finanzieren, wie es
Das würde wirklich helfen.
in anderen Ländern üblich sei.
Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das können Koalition, die Anträge für eine Aufhebung des Koopera-
Sie machen! Gehen Sie mit gutem Beispiel vo- tionsverbots in der Bildung liegen auf dem Tisch. Die
ran!) Länder sind überwiegend dazu bereit; alle, die ich frage,
Ich will Sie diesbezüglich gerne mit einer Neuigkeit wollen das. Die Initiative liegt bei Ihnen.
überraschen, die Sie vielleicht noch nicht kennen: An Schönen Dank.
der Fachhochschule Köthen ist man an solchen Stipen-
dien interessiert. Vor einigen Monaten wandte sich ein (Beifall bei der LINKEN)
Kreistagsabgeordneter aus Köthen mit der Bitte an den
Kreistag, doch für die Fachhochschule den Privatanteil Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
in Höhe von 150 Euro über ein Stipendium zu finanzie- Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-
ren, weil man den Betrag selbst nicht aufbringen könne. nis 90/Die Grünen.
Vielleicht kennen Sie sich in den Hochschulen nicht aus
und wissen nicht, wie schwierig es ist, private Sponsoren Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
für ein solches Stipendium zu finden.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Da sind Sie Über dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht
eingesprungen, Frau Hein, stimmt’s?) „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“
Frau Schavan, ziehen Sie daraus die Lehre und lenken (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
(B)
Sie die dafür eingeplanten Ausgaben in Höhe von Gemessen an Ihrem Bildungsetat und vor allem an der
38 Millionen Euro am besten ins BAföG um. Dann Wirklichkeit in unserem Land, muss ich feststellen: Ihr
kommt das Geld wenigstens da an, wo es gebraucht Wachstums- und Bildungsversprechen ist leider ein Ver-
wird. sprecher. Chancen gibt es kaum, Wege zum sozialen
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Aufstieg sind blockiert. Unsere Gesellschaft bleibt leider
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) viel zu undurchlässig. Ein Sechstel aller Kinder lebt in
Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, in Berlin sogar jedes
All dies zeigt – man müsste noch viel mehr anführen –, vierte Kind. Kaum eines dieser Kinder hat Aussicht auf
wie falsch Ihr Versuch ist, die Verantwortung des Staates einen Universitätsabschluss, weil es unsere Schulen
für die Bildungsfinanzierung immer mehr aufzugeben eben nicht gut genug hinbekommen, vererbte Armut zu
und sie in private Hände zu legen. Das tut die Bundes- überwinden.
regierung auch beim Bildungs- und Teilhabepaket, das
bestenfalls privaten Nachhilfelehrerinnen und -lehrern Wie reagiert Schwarz-Gelb darauf? Ihre Werbeagen-
zugutekommt. Welch ein Armutszeugnis! tur erfindet den Euphemismus „Bildungsrepublik“. Eine
orientierungslose CDU führt strukturkonservative
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist doch Hauptschuldebatten aus dem letzten Jahrtausend.
eine Rede aus dem Handbuch des Kommunis-
mus!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt kom-
men Sie mit so was! Unglaublich!)
Es ist überhaupt ein Problem, dass immer mehr Bil-
dungsaufgaben nicht von den Bildungsinstitutionen, die Frau von der Leyen schnürt ein bürokratisches Bildungs-
dafür da sind, geleistet werden, sondern von der Bundes- paket, das kaum einem armen Kind in diesem Land hilft.
anstalt für Arbeit, den Jobcentern, den Sozialämtern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
usw. Dabei könnte man direkt in den Schulen helfen, sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
wenn man das Geld anders verteilte. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gelder vertei- Sie regieren ganz klar an den Kernproblemen unseres
len? Das kennen Sie ja von früher!) Bildungs- und Wissenschaftssystems vorbei; Sie packen
sie nicht an.
Für Bildung sind bekanntlich die Länder und Kom-
munen zuständig, die das Geld in aller Regel auch für Sie packen auch nicht Maßnahmen für mehr Bil-
Bildung ausgeben, wenn sie es denn haben. In meiner dungsgerechtigkeit und den sozial-ökologischen Umbau
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14647
Kai Gehring
(A) unserer Gesellschaft und Wirtschaft an. Hier sind ge- det. Drei Jahre und 15 Millionen Euro später haben wir (C)
zielte Investitionen und Innovationen bitter nötig. Nur noch immer kein funktionierendes System. Das anhal-
einige Beispiele: Aktivitäten in den Bereichen Klimaka- tende Zulassungschaos ist unzumutbar. Ich frage mich
tastrophe, Energiewende und Atomausstieg müssen sich immer wieder: Frau Schavan, wo bleibt hier Ihr Einsatz? –
ganz klar im Forschungshaushalt widerspiegeln und dort Werden Sie endlich von der Zuschauerin zur Krisen-
Niederschlag finden. managerin.
(Zurufe von der CDU/CSU: Tun sie doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Falsche Prioritäten und zögerliches Handeln von
Ministerin Schavan führen aktuell dazu, dass allein in Hinsichtlich der Studienfinanzierung sollten Sie ideo-
diesem Wintersemester mindestens 50 000 junge Men- logischen Ballast abwerfen.
schen keinen Studienplatz finden. Diesen 50 000 jungen
Hochschulzugangsberechtigten droht eine Warteschleife. (Lachen des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/
CSU])
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was hat das
mit der Energiewende zu tun?) Das BAföG-Reförmchen aus dem letzten Jahr hat
Schwarz-Gelb mit dem unausgegorenen nationalen Sti-
Es ist schlichtweg paradox, dass diese Bundesregierung pendienprogramm verbunden.
den Fachkräfte- und Akademikermangel immer wieder
beklagt, aber nichts zu dessen Behebung liefert. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gut, dass das
keine Ideologie ist!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Praxis gibt uns bisher klar recht, weil die Mittel aus
dem großspurig verkündeten Deutschlandstipendium auf
Ob Warteschleifen für Azubis, die Stagnation bei den ein Gartenzwergniveau herabgesunken sind. Die Wirt-
Weiterbildungsmitteln oder Studienplatznotstand – das schaft lässt Sie hier im Regen stehen, und private Stifter
schwarz-gelbe Motto lautet: Mangel verwalten, statt Lö- wollen das Programm nicht.
sungen gestalten. Es war nicht nur in diesem Haus lange
bekannt, dass aufgrund von höherer Studierneigung, (Heiner Kamp [FDP]: Das stimmt doch gar
doppelten Abiturjahrgängen und des Ausstiegs aus der nicht!)
Wehrpflicht die Zahl der Studienberechtigten erheblich
steigt. Frau Schavan, dennoch haben Sie den Hochschul- Vor allem aber geht dieses Eliteprogramm an den Bil-
pakt kaum nachgerüstet. dungsaufsteigern aus nicht akademischen und einkom-
mensarmen Elternhäusern vorbei. Deshalb sage ich:
(B) (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das stimmt Kassieren Sie diesen Ladenhüter ein, statt weiter in ihn (D)
doch gar nicht!) zu investieren. Stecken Sie das Geld ins BAföG, das
Es kann nicht sein, dass Sie stoisch auf Ihrem 12-Mil- bringt viel mehr.
liarden-Paket sitzen bleiben. Eile mit Weile hilft keinem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
einzigen Studienberechtigten in diesem Land, vor allem und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
nicht den 50 000, die keinen Platz finden. LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir hätten es heute spannend gefunden, zu erfahren,
sowie bei Abgeordneten der SPD) wie Sie mit dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur steuer-
Für dieses Wintersemester helfen deshalb nur noch Not- lichen Absetzbarkeit von Erstausbildungskosten umge-
maßnahmen vor Ort, damit sich die Studienplatzlücke hen wollen. Es wäre spannend gewesen, dazu etwas von
verkleinert. Länder wie Baden-Württemberg und Nord- der Bundesbildungsministerin zu hören. Anstelle einer
rhein-Westfalen unternehmen außerordentliche Anstren- nachlaufenden Kostenerstattung wollen wir eine bessere
gungen, um die unerledigten Hausaufgaben der Bundes- direkte Förderung während der Ausbildungszeiten.
bildungsministerin nachzuarbeiten. Deshalb fordern wir (Beifall des Abg. René Röspel [SPD])
Sie auf, noch in diesem Herbst den Hochschulpakt nach-
zuverhandeln und vor allem eine Masterkomponente Wir haben hierzu Vorschläge für eine neue und moderne
einzuführen. Das ist dringend notwendig. Studienfinanzierung gemacht. Die staatliche Studienfi-
nanzierung ist zu stärken; kurzfristig durch einen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BAföG-Ausbau, mittelfristig durch ein Zwei-Säulen-
sowie bei Abgeordneten der SPD) Modell mit einem Sockel für alle und einem Bedarfszu-
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, darauf hinzuweisen, schuss für Bedürftige. Das wäre eine moderne und ge-
dass zu diesem Studienplatzmangel verschärfend hinzu- zielte Studienfinanzierung der Zukunft.
kommt, dass wir noch immer kein bundesweit funktio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nierendes Hochschulzulassungsverfahren haben.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Und daran Letztlich kann man nur sagen: Das ist eine magere
haben Sie schon so lange gearbeitet!) Halbzeitbilanz, weil dieser schwarz-gelbe Bildungshaus-
halt nicht das hält, was er verspricht. Sie setzen falsche
Das ist der nächste große Skandal. Zu spät wurde im Prioritäten und stecken Geld in alte Strukturen und La-
Sommer 2008 ein neues Zulassungsverfahren verabre- denhüter.
14648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Kai Gehring
(A) Ich möchte trotzdem versöhnlich schließen. Wir kön- klar, dass wir in dieser Legislaturperiode noch mehr für (C)
nen den Bildungserfolg in Deutschland insgesamt und Bildung und Forschung tun müssen. Deshalb wollen und
gemeinsam steigern, wenn strukturelle Blockaden end- werden wir in dieser Zeit eine Summe von zusätzlich
lich aufgebrochen und finanzielle Prioritäten richtig ge- insgesamt 12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung
setzt werden. Dazu gehören auch moderne Bund-Län- investieren. Denn jeder hierin investierte Euro ist eine
der-Finanzbeziehungen im Bildungsbereich und die gute Investition in unser Land, in unsere Zukunft und in
Überwindung des Kooperationsverbots im Grundgesetz. unsere Menschen.
Unsere grüne und klare Botschaft an die Ministerin, an
die Koalition und an die Opposition ist: Wir sind offen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für gemeinsame Gespräche zur Überwindung des Ko- Der Regierungsentwurf zeigt wieder deutlich, wie
operationsverbots und zu einer modernen Bund-Länder- ernst es uns mit diesem Ziel ist, und das trotz eingeführ-
Finanzbeziehung in diesem Bereich. Ich glaube, wir alle ter Schuldenbremse. Es ist nicht wegzudiskutieren, dass
gemeinsam müssen den Bildungsföderalismus moderni- der Etat des Bundesministeriums für Bildung und For-
sieren. Sonst wird er noch weiter an Akzeptanz verlie- schung 2012 überproportional ansteigt. Wir reden hier
ren. von einer Steigerung um 10 Prozent. Die Zahl ist so
Vielen Dank. schön, dass ich sie wiederholen muss. Insgesamt macht
diese Steigerung 1,2 Milliarden Euro für Bildung und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Forschung aus.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Klaus Hagemann [SPD]: Voriges Jahr habt ihr
gekürzt!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Anette Hübinger für die CDU/CSU- Die finanzielle Entwicklung des Einzelplans 30 könnte
Fraktion. nicht besser sein. Nun kommt es also darauf an, die rich-
tigen Schwerpunkte und Signale zu setzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)
Anette Hübinger (CDU/CSU):
Auch hier hat das Bundesministerium für Bildung und
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Forschung einen guten Job gemacht. Ein Kompliment an
Kolleginnen und Kollegen! Zu vielen Redebeiträgen in die Ministerin und ihr Haus, mit einem herzlichen Dank
der heutigen Debatte fällt mir ein Ausspruch des Publi- verbunden!
(B) zisten Willy Meurer ein: „Lautes Stöhnen und Klagen (D)
gehören heutzutage in Deutschland zum guten Ton.“ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der FDP: Leider ja!) Aus Sicht der Union sind im vorliegenden Entwurf
Das kann man aber nicht auf unseren Haushalt beziehen alle wichtigen Maßnahmen und Instrumente mit einem
und schon gar nicht auf den Einzelplan 30. Hier haben adäquaten Finanzvolumen ausgestattet, auch diejenigen,
wir nämlich, wie der Berliner sagt, keinen Grund zum bei denen im letzten parlamentarischen Haushaltsverfah-
Meckern. ren noch nachgebessert werden musste. Wenn ich mir
beispielsweise die Zahlen für den Studenten- und Wis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) senschaftleraustausch, die Förderung der Instandhaltung
und Modernisierung überbetrieblicher Bildungsstätten
Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf schaffen wir
und die vorgesehenen Zuschüsse für Begabtenförde-
den schwierigen Spagat zwischen finanzieller Konsoli-
rungswerke ansehe, dann stelle ich fest, dass kein Raum
dierung und dem Setzen nachhaltiger Wachstumsim-
für Kritik bleibt.
pulse. Gerade die schwierige finanzielle Lage in einigen
europäischen Mitgliedstaaten führt uns immer wieder (Klaus Hagemann [SPD]: Die habt ihr erst
vor Augen, wie unerlässlich gerade dieser Zweiklang runtergefahren!)
zwischen Konsolidierung und Investieren für erfolgrei-
ches politisches Handeln ist. Bei der Konsolidierung un- Den steigenden Studierendenzahlen aufgrund doppelter
serer Staatsfinanzen gehen wir einen weiteren wichtigen Abiturjahrgänge unter Aussetzung der Wehrpflicht wird
Schritt, um mittelfristige Ziele der Schuldenbremse zu durch einen beachtlichen Mittelaufwuchs im Hochschul-
erreichen. Beim Investieren, der zweiten Seite der Me- pakt Rechnung getragen. Herr Gehring, Sie sagen, dass
daille, kommt es auf die richtigen Stellen an, um die Zu- da nichts passiert ist. Aber ein Plus von 60 Prozent muss
kunft unseres Landes zu sichern. Das heißt, wir müssen man erst einmal erreichen. Vielleicht haben Sie das über-
dort investieren, wo die Basis für wirtschaftliche Ent- lesen.
wicklung gelegt wird. Bildung und Forschung sind dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wichtige, wenn nicht sogar die wichtigsten Bausteine. Klaus Hagemann [SPD]: Im vorigen Jahr habt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ihr gekürzt!)
Es ist absolut richtig, dass diese beiden Bereiche zen- Ebenso spiegeln sich die neue Herausforderungen wie
trale haushaltspolitische Schwerpunkte in der christlich- die Energiewende, Klima, Mobilität, Umwelt und Ge-
liberalen Koalition sind. Für uns war von Anfang an sundheit durch signifikante Aufwüchse wider. Frau Sitte,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14649
Anette Hübinger
(A) Ihnen kann ich vielleicht noch sagen – hören Sie mir hier von der Regierung als Haushaltsplanentwurf vorge- (C)
bitte zu, Frau Sitte –: legt wird, handelt es sich um durchaus respektable Zah-
len, Frau Schavan.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich höre immer
zu! Multitasking!) (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Richtig!)
Im Bereich Gesundheit haben wir 2011 wegen der Pro- Das muss und möchte ich sagen. Das mache ich gerne.
blematik hinsichtlich der Lizenzen unter anderem die Vieles von dem, was im Haushaltsplanentwurf steht, ist
PDPs eingeführt. 20 Millionen Euro sind der erste vollkommen in Ordnung.
Schritt. Den muss man erst einmal machen.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist wirklich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. sehr fair, dass das auch mal gesagt wird!)
Petra Sitte [DIE LINKE]: Das reicht doch
nicht aus! Das ist nicht einmal ein Tropfen auf Das ist nicht weiter verwunderlich, weil das im Wesent-
den heißen Stein!) lichen eine Fortschreibung dessen ist, was wir unter Rot-
Grün gemacht und in der Großen Koalition mitgestaltet
Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf und der mit- haben. So viel zum Thema „Same procedure as every
telfristigen Finanzplanung des Bundes bis 2015 sendet year“.
die christlich-liberale Koalition ein klares Zeichen der
Verlässlichkeit in die deutsche Bildungs- und Wissen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dagmar
schaftslandschaft. Ziegler [SPD], an den Abg. Georg Schirmbeck
[CDU/CSU] gewandt: Immer noch „fair“?)
Angekündigte Aufwüchse werden von uns realisiert
und im Rahmen der Finanzierungsplanung garantiert. Es stellt sich bloß die Frage, welche neuen Akzente
Diese Planbarkeit erweist sich für unsere Forschungsin- Sie, Frau Schavan, gesetzt haben. Wenn man sich die
stitute als handfester Standortvorteil im internationalen Halbzeitbilanz anschaut und das, was Sie für das nächste
Wettbewerb. Nicht nur die Rückmeldungen aus unseren Jahr vorschlagen, fällt vor allem auf, dass so richtig
außeruniversitären Forschungsinstituten über die jährli- nichts auffällt. Sie haben hier einen ziemlich selbstgefäl-
chen Aufwüchse in Höhe von 5 Prozent sind durchweg ligen Vortrag – so würde ich das nennen – gehalten; aber
positiv; rund um den Globus wird uns für diese Entwick- das Ganze wirkt doch ziemlich uninspiriert und farblos.
lung Anerkennung gezollt. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Selbstgefällig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist das, was Gabriel macht!)
Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass Man vermisst echte Ideen, wie wir in Sachen Bildung ei-
(B) die internationale Ausrichtung von Hochschulen und nen ordentlichen Schritt vorankommen können. Das sagt (D)
Forschungsinstituten in Zukunft eine noch größere Rolle nicht nur die SPD. Das sagen alle. Da brauchen Sie sich
spielen wird. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass gar nicht groß umzuhören. Das sagen die Sozialver-
der Titel „Studenten- und Wissenschaftleraustausch so- bände, das sagen die Gewerkschaften, das sagen die Ar-
wie internationale Hochschul- und Wissenschaftskoope- beitgeber, die Kirchen, die Wissenschaftler, die Bürge-
ration“ mit entsprechenden finanziellen Mitteln hinter- rinnen und Bürger. Die Menschen wünschen sich, dass
legt ist. Auch hier liegt eine Steigerung vor – ich glaube, wir im Bereich der Bildung einen ordentlichen Sprung
Frau Hinz hat das Thema angesprochen –, und zwar um nach vorne machen.
19,13 Prozent. Diese Steigerung wird im mittelfristigen (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Genau!
Finanzplan durchgeschrieben. Auch an dieser Stelle hat 6 Milliarden!)
das Ministerium seine Hausaufgaben also gemacht.
Ich will Ihre Bilanz mit der der Regierungszeit von
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rot-Grün vergleichen. Wie war das damals?
Wer den gesamten Entwurf objektiv beurteilt, kann
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nur zu einem Schluss kommen: Der Bund hat seine
Gute Zeit!)
Hausaufgaben in Sachen Bildung und Forschung ge-
macht. In der Schule würde man sagen: glatte Eins. Nachdem die Kohl-Regierung das BAföG geradezu ka-
putt gemacht hat, haben wir das BAföG wieder auf ein
Herzlichen Dank.
ordentliches Fundament gestellt und vorangebracht. Im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Bereich der Hochschulen haben wir neue Finanzierungs-
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: instrumente eingeführt. Vor allem haben wir mit dem
Stark versetzungsgefährdet!) Ganztagsschulprogramm einen ganz wichtigen Akzent
zur Fortentwicklung der Bildung gesetzt. Das hat wirk-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lich etwas gebracht.
Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring
(Beifall bei der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
In der Großen Koalition haben wir leider sehr viel
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Zeit damit verbringen müssen, all diese Errungenschaf-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ten von Rot-Grün gegen die Angriffe der Union zu ver-
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem, was teidigen.
14650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Swen Schulz (Spandau)


(A) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Da kommen Sie haben ja gesagt: Die Studierneigung steigt –, daher (C)
einem die Tränen!) muss es auch entsprechende Angebote geben. Diese
müssen geschaffen werden. Wir müssen den Hochschul-
Aber immerhin haben wir den Hochschulpakt hinbe- pakt ausbauen. Die SPD-Fraktion hat ein entsprechendes
kommen, nachdem die SPD-Bundestagsfraktion ganz al- Konzept für einen „Hochschulpakt Plus“ vorgelegt. Da-
lein dafür gesorgt hat, dass im Grundgesetz die Voraus- rin enthalten ist auch ein neues Element zur Schaffung
setzung dafür geschaffen wurde. von Masterstudienplätzen; dies ist ein wichtiger Punkt.
(Widerspruch bei der CDU/CSU) Wir brauchen auch neue Wege der Bildungsfinanzie-
Ich weiß noch ganz genau, dass Frau Schavan auf ihren rung. Über das Modell „Geld folgt Studierenden“ sollte
Händen saß und zugeschaut hat. Hinterher hat sie abge- man nachdenken. Wir haben einen Abschlussbonus für
staubt. erfolgreiche Studienabschlüsse als Anreiz für gute Lehre
vorgeschlagen. Was kommt in all diesen Bereichen von
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Blicken Sie Ihnen? Nichts, gar nichts, Fehlanzeige. Das ist zu wenig.
doch einmal in die Zukunft!) Das ist Arbeitsverweigerung.
Was ist jetzt? Jetzt regieren Sie – leider ohne die SPD – (Beifall bei der SPD)
mit der FDP.
Wir von der SPD haben ein Konzept vorgelegt, in
(Ulla Burchardt [SPD]: Aber nicht mehr dem jährlich 20 Milliarden Euro mehr Investitionen in
lange!) die Bildung vorgesehen sind. Es ist nicht leicht, das zu
Und was machen Sie? Als neues Instrument im Bildungs- verwirklichen. In diesem Konzept ist auch vorgesehen,
bereich bieten Sie eigentlich nur ein neues Stipendienpro- dass wir die Steuern für diejenigen, die sehr gute Ein-
gramm an, das Deutschlandstipendium. Aber noch nicht kommen und große Vermögen haben, erhöhen. Das ist
einmal das läuft vernünftig. kontrovers, aber es ist eine klare Ansage zugunsten der
Bildungsrepublik Deutschland.
Gleichzeitig lassen Sie das BAföG, dieses wichtige,
zentrale Element der Bildungsfinanzierung, links liegen. (Beifall bei der SPD)

(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Wissen Sie, was Ihr Problem ist, Frau Schavan? Sie
Massiv ausgebaut!) kämpfen in diesen Monaten innerparteilich um Ihr Über-
leben.
Ich habe gerade erst zu dessen 40. Geburtstag gesagt,
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]:
dass an dieser Stelle nichts passiert. Liebe Kolleginnen
Quatsch! Ahnungsloser!)
(B) und Kollegen von der Regierungskoalition, wie stellen (D)
Sie sich das vor? Hunderttausende warten darauf, dass Es geht dabei um die Frage „Hauptschule – ja oder
sie eine bessere Unterstützung für ihren weiteren Bil- nein?“, die übrigens in Berlin – Sie schimpfen immer so
dungsweg bekommen. Was sagen Sie diesen Hundert- viel auf Berlin – erfolgreich beantwortet ist.
tausenden? Bewerbt euch mal auf die ein-, zweitausend
Stipendien! – Das kann es doch nun wirklich nicht sein. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
So geht das nicht. [SPD])
Frau Schavan, Sie führen Rückzugsgefechte. Wir den-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ken nach vorne. Das ist der Unterschied.
DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
Wenn Sie schon keine eigenen Ideen haben, dann
sollten Sie zumindest die Ideen von anderen aufgreifen. (Beifall bei der SPD)
Die SPD hat eine ganze Menge vorgelegt: zum BAföG,
zum wissenschaftlichen Nachwuchs, zum Hochschulzu- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gang, zu Praktika, zu Ganztagsschulen, zum Föderalis- Das Wort hat nun Patrick Meinhardt für die FDP-
mus, zur beruflichen Bildung, zu Fachkräften und zu Fraktion.
vielem anderen mehr.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ich möchte ganz besonders auf den Hochschulpakt der CDU/CSU)
eingehen. Da stehen Sie, Frau Schavan, leider eher auf
der Bremse. Ich erinnere an die Diskussion über die
Patrick Meinhardt (FDP):
Aussetzung der Wehrpflicht. Wir von der SPD haben
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
von Anfang an gesagt: Da muss der Bund Verantwortung
übernehmen, weil durch die Aussetzung der Wehrpflicht und Kollegen! Kollege Schulz, leben Sie eigentlich in ei-
ner Parallelwelt?
mehr Interessenten an die Hochschulen wollen. Sie ha-
ben das noch bei den letzten Haushaltsberatungen hier (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sagt die FDP! –
vor einem Jahr abgelehnt. Sie wollten dazu nichts sagen, Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und
bis Frau Merkel den Ministerpräsidenten endlich zuge- der SPD)
sagt hat: Der Bund steht zu seiner Verantwortung.
Das, was ich von Ihnen hier gehört habe, stimmt nun
Es ist noch viel mehr notwendig. Es gibt fast flächen- wirklich nicht mit dem überein, was im vorgelegten
deckend NCs. Viele wollen studieren – Frau Schavan, Haushalt steht. Die Zahlen sind hier bereits genannt wor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14651
Patrick Meinhardt
(A) den, aber man muss sie immer und immer wieder her- Darin sieht auch diese Bundesregierung eine Aufgabe (C)
vorheben: Zusätzliche 12 Milliarden Euro werden inner- und Herausforderung.
halb von vier Jahren in Bildung und Forschung
investiert. Die Steigerung im Vergleich zum Ausgangs- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
haushalt des Jahres 2009 beträgt 25 Prozent. Die Steige- Aha! Vielleicht sollte man ja auch bei Ihnen
rung im Vergleich zum letzten Haushalt der rot-grünen mal anfangen, zu alphabetisieren!)
Koalition beträgt 70 Prozent. Das ist die höchste Steige- Deswegen investieren wir in Programme wie „Leselust“
rungsrate in ganz Europa. und „Lesestart“. Deswegen investieren wir in die Offen-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sive „Frühe Chancen“. Deswegen investieren wir in ar-
Was hat die FDP damit zu tun?) beitsplatzorientierte Grundbildung. Wir brauchen in der
Bundesrepublik Deutschland einen Grundbildungspakt.
Das muss man hier mit Stolz formulieren dürfen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass 7,5 Millionen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Menschen in diesem Land Probleme mit dem Lesen und
Schreiben haben. Unsere Aufgabe besteht darin, einen
Wenn es uns um Bildungsgerechtigkeit geht, wenn es Grundbildungspakt zu schließen. Bitte bringen auch Sie
uns um die einzelnen Kinder, die einzelnen Schüler geht, sich hierbei ein!
wenn es uns darum geht, die Anzahl der Schulabbreche-
rinnen und Schulabbrecher in diesem Land in einem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
partnerschaftlichen Miteinander zu reduzieren, dann hat Klaus Hagemann [SPD]: Und was machen
jeder dieser Partner seine Aufgabe wahrzunehmen. Ja, es Sie?)
ist gut, dass diese Bundesregierung die Zahl der Schul-
abbrecher durch massive Investitionen, auch im Bereich Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ich
der Bildungsketten, reduzieren konnte. Die Schulab- das, was Sie zum Thema BAföG sagen, höre, dann
brecherzahlen sind von 8,5 Prozent über 7,9 Prozent auf glaube ich wirklich, dass ich hier in der falschen Veran-
7,5 Prozent gesunken. staltung bin.

(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Aber (Lachen und Beifall bei der SPD sowie bei
nicht durch Bildungskürzungen! Da leben Sie Abgeordneten der LINKEN und des BÜND-
in einer Parallelwelt!) NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte
[DIE LINKE]: Das stimmt! Das sind Sie ja
Das ist immer noch zu viel. Wenn Sie sich die Einzelsta- auch!)
tistik ansehen, dann merken Sie, was das Problem in
Deutschland ist: Die Schulabbrecherzahlen stiegen in – Ja, in Ihrer falschen Veranstaltung, weil Sie Wahrneh-
(B) mungsprobleme in Bezug auf die Wirklichkeit haben. (D)
Berlin von 9,9 Prozent auf 11,5 Prozent. Sie erhöhten
sich in Brandenburg von 10,7 Prozent auf 13 Prozent.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ja! Mal CDU/CSU)
wieder!)
Durch die Erhöhung der Elternfreibeträge haben jetzt
Sie erhöhten sich in Sachsen-Anhalt von 11,3 Prozent 43 000 junge Studierende mehr die Möglichkeit, diese
auf 14,9 Prozent. Chance zu ergreifen. Es gibt 916 000 junge Menschen,
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da regiert aber die BAföG erhalten. Wir haben im letzten Jahr durchge-
doch die CDU!) setzt, 500 Millionen Euro mehr für das BAföG zur Ver-
fügung zu stellen.
Sie erhöhten sich in Mecklenburg-Vorpommern von
12,1 Prozent auf 16,8 Prozent. In all diesen Ländern sind (Beifall des Abg. Thomas Dörflinger [CDU/
Sozialdemokraten mit in der Verantwortung. CSU] – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie
wollten das doch abschaffen!)
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Das hat mit dem, was Sie in Ihrem komischen Argumen-
Es ist unglaublich, dass Sie Ihre Verantwortung in den
tationsgebäude vortragen, nichts zu tun. Das BAföG ist
Ländern nicht wahrnehmen wollen, sich aber hier hin-
eine wichtige Ausgangsvoraussetzung für Bildungsge-
stellen und so tun, als ob Sie damit nichts zu tun hätten.
rechtigkeit. Für diese Bildungsgerechtigkeit hat die Bun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- desregierung gesorgt.
derspruch bei der SPD – Kai Gehring [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die FDP redu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
ziert sich auf unter 3 Prozent!) Klaus Hagemann [SPD]: Oh! Eine neue Denke
bei der FDP! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/
Es ist für mich ein Unding, welche Theorien Sie hier DIE GRÜNEN]: Und was ist mit dem
vertreten, und das auch noch an einem so wichtigen Tag Deutschlandstipendium?)
wie heute, am Weltalphabetisierungstag. Es gibt 7,5 Mil-
lionen funktionale Analphabeten in der Bundesrepublik – Was das Deutschlandstipendium betrifft, muss ich sa-
Deutschland. gen: Es ist unglaublich, was Sie, Herr Hagemann, hier
für eine Argumentation vorgetragen haben.
(Klaus Hagemann [SPD]: Ja, ja! Und was tun
Sie?) (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
14652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Patrick Meinhardt
(A) – Passen Sie mal auf! Es gibt genug Universitäten, die den nächsten Jahren Steuermindereinnahmen von (C)
schon jetzt hervorragend dastehen und eine Quote von 30 Milliarden Euro zur Folge haben. Trotzdem haben
100 Prozent erzielen. wir bei den Steuern einen Aufwuchs zu verzeichnen.
Angesichts dessen haben wir bei Bildung und Forschung
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
10 Prozent draufgepackt und die Mittel um 1,2 Milliar-
Auch Hamburg?)
den Euro erhöht. Dass Ihnen diese ganze Richtung nicht
Bei den Universitäten in Aachen, Frankfurt am Main, passt, ist mir klar.
Frankfurt/Oder und Augsburg sowie bei der FH Ebers-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
walde ist schon jetzt Übererfüllung festzustellen.
Wenn Ihr einziges Thema, Herr Kollege Hagemann,
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ist, dass das Geld angeblich nicht abfließt, dann will ich
Was ist mit Hamburg?)
Sie fragen: Wie sieht es denn mit dem fachlichen Funda-
Aber zufälligerweise boykottieren die drei Universitäten ment bei Ihnen aus? Wenn Sie beklagen, dass beim
in Hamburg, die in sozialdemokratischer Verantwortung Hochschulbau 500 Millionen Euro liegenbleiben, dann
sind, das gesamte Deutschlandstipendien-Programm. muss ich Ihnen sagen, dass dies seit 2006 eine originäre
Aufgabe der Länder ist. Das ist im Bundeshaushalt nur
(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ach nein! So ein Durchlaufposten.
ein Zufall!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist unfair, das ist unseriös, und das ist der falsche
bildungspolitische Ansatz. Wenn Sie sich darüber beklagen wollen, dann müssen
Sie sich an die Länder wenden, die diese Mittel nicht ab-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
rufen. Sie dürfen aber nicht den Bund dafür kritisieren,
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nicht nur
dass er die Mittel zur Verfügung stellt.
das! Ein Skandal ist das! Die Regierung muss
man abwählen! – Florian Pronold [SPD]: Ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das hier eine Kabarettveranstaltung? – Weite-
rer Zuruf von der SPD: Haben Sie schon mal Zur zweiten Lesung werde ich die Länder heraussuchen,
etwas von Wissenschaftsfreiheit gehört?) die die wenigsten Mittel abgerufen haben. Wer ge-
schenktes Geld nicht nimmt, der ist einfach dumm.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Haus-
halt, den die Bundesregierung heute vorlegt, ist ein In- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
vestitionshaushalt, der darauf setzt, dass die Talente und Florian Pronold [SPD]: Dass Sie kein ge-
schenktes Geld annehmen, ist bekannt!)
(B) Fähigkeiten junger Menschen gefördert werden. Er ist (D)
ein Innovationshaushalt, er ist ein Haushalt der Bil- Ich komme zu dem Vorwurf an Frau Ministerin
dungsgerechtigkeit, und er ist eine klare Ansage für die Schavan, bei ihr bleibt besonders viel Geld liegen. Neh-
Bildungsrepublik Deutschland. men wir nur einmal die Minderabflüsse: Schauen wir
Vielen herzlichen Dank. doch einmal, welche Länder überregionale Forschungs-
fördermittel nicht abgerufen haben. Schauen wir ferner
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf die internationalen Probleme bei den Verhandlungen
zu XFEL und FAIR. Schließlich verweise ich auf
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schätzabweichungen bei gesetzlichen Leistungen, zum
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/ Beispiel beim BAföG.
CSU-Fraktion. Der Einzelplan 30 hat, seitdem Frau Schavan dafür
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verantwortung trägt, bei einem Gesamtvolumen von
46,2 Milliarden Euro Minderabflüsse von lediglich
800 Millionen Euro – das sind 1,7 Prozent – zu verzeich-
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
nen. Im Vergleich zu anderen Haushalten ist das einer
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und der niedrigsten Werte. Es bleibt also kein Geld liegen.
Herren! Man merkt an dieser Debatte, dass der Opposi-
tion unsere ganze politische Richtung nicht gefällt, weil Die SPD, Herr Kollege Hagemann, hat zugestimmt,
sie erfolgreich ist. eine halbe Milliarde Euro aus dem Einzelplan 30 in das
Bildungs- und Teilhabepaket, also in sozial wichtige Be-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist das! – reiche wie Berufsorientierung und Begabtenförder-
Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werke, umzuschichten. Das restliche Geld haben wir
Nein! Weil sie falsch ist!) übertragen. Es steht im Jahr 2011 zur Verfügung. Das ist
Wir haben bei diesem Haushalt 10 Prozent draufgepackt. die verantwortungsvolle Politik von CDU/CSU und
Wir haben die Mittel für diesen Einzelplan um 1,2 Mil- FDP.
liarden Euro erhöht, und das, obwohl wir für die nächs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten Jahre ein Konsolidierungsprogramm in Höhe von
80 Milliarden Euro beschlossen haben. Die steuerlichen Als Haushälter schaut man immer auch auf die Ren-
Entlastungen betrugen unter Rot-Schwarz 20 Milliarden dite des von uns eingesetzten Geldes. Beispielhaft will
Euro – das war die volle Jahreswirkung –, unter ich einmal auf die Zahl der Altbewerber eingehen. Als
Schwarz-Gelb sind es 10 Milliarden Euro. Das müsste in Rot-Grün im Jahr 2005 abgewählt worden ist, gab es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14653
Eckhardt Rehberg
(A) 341 000 Altbewerber. Im Jahr 2008 hatten wir die Zahl sellschaft. Pokern und Zocken sind an dieser Stelle fehl (C)
schon auf 263 000 reduziert. Laut Berufsbildungsbericht am Platze.
hatten wir im Jahr 2010 lediglich noch 185 000 Altbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
werber. Unter der politischen Verantwortung von Frau
Schavan im Bildungsministerium hat sich die Zahl der Sehen wir uns einmal Folgendes an: Was haben wir
Altbewerber also halbiert. bei betrieblichen Ausbildungsverträgen erreicht? Wie ist
die Wirtschaft ihrer Verantwortung in diesem Bereich
(Dagmar Ziegler [SPD]: Das glauben Sie jetzt nachgekommen? In einer schwierigen wirtschaftlichen
selber nicht! Das ist doch völlig aus dem Zu- Situation haben wir einen Aufwuchs an Ausbildungsver-
sammenhang gerissen!) trägen zu verzeichnen. Das ist unter anderem auf Pro-
Deshalb ist das Geld in den Bildungsketten, in der Be- gramme wie „Jobstarter“, „Jobstarter Connect“ usw. zu-
rufsfrühorientierung und in der Förderung von benach- rückzuführen.
teiligten Jugendlichen gut angelegt. Damit nehmen wir Einen weiteren Punkt will ich hier noch anreißen,
unsere soziale Verantwortung wahr. weil immer so getan wird, als ob sich die Wirtschaft
beim Thema Forschung und Entwicklung verflüchtigte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Durch die Anreize, die der Bund gesetzt hat, ist der An-
Dagmar Ziegler [SPD]: Das stimmt doch teil der Wirtschaft an den FuE-Gesamtausgaben von
vorne und hinten nicht, was Sie hier erzählen!) 37,7 Milliarden Euro auf 44,8 Milliarden Euro gestie-
Ein weiteres Beispiel ist die Erhöhung der Zahl der gen, also in drei Jahren um fast 20 Prozent. Angesichts
Studienanfänger. Als wir die Regierung übernommen der Zahlen aus der rot-grünen Regierungszeit muss man
haben, als Angela Merkel Bundeskanzlerin geworden sagen: Sie haben solche Steigerungsraten nicht einmal
ist, haben lediglich 37 Prozent eines Jahrganges ein Stu- ansatzweise erreicht. Deswegen ist es wichtig, als Haus-
dium begonnen. Heute sind es 46 Prozent. Deshalb ist es hälter zu sagen, dass der Steuer-Euro an dieser Stelle
falsch, Herr Gehring, wenn Sie sagen, der Hochschul- mehr als gut und richtig eingesetzt ist. Das ist eine er-
pakt 2020 sei nicht ausfinanziert. Wir haben da einen folgreiche Politik.
Aufwuchs um 60 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Schluss. Frau Ziegler, Sie haben, wenn ich mich
Es geht aber um die real existierenden Plätze! richtig erinnere, bei der Debatte zum Haushalt des Bun-
Es fehlen trotzdem 50 000 Plätze!) desinnenministeriums beklagt, dass die neuen Bundes-
länder zu kurz kommen. Ich will Ihnen einmal die Zah-
Der Bund finanziert die zusätzlichen Studienplätze, len nennen, die den Einzelplan 30 betreffen. In den (D)
(B) die aufgrund der doppelten Abiturjahrgänge und des
letzten zwei Jahren gab es für die neuen Bundesländer
Wegfalls der Wehrpflicht und des Zivildienstes benötigt einen Aufwuchs um weit über 160 Millionen Euro bei
werden. Angesichts erwarteter Steuermehreinnahmen der Projektförderung, bei der institutionellen Förderung
der Länder von 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2012 ge- und bei speziellen Förderarten. Auch das Programm
genüber 2011 haben aber auch die Länder eine politische „Innovationsförderung“ in den neuen Ländern, dessen
Verantwortung für die Bildung, insbesondere für die Mittel kontinuierlich gesteigert wurden, zeigt, dass diese
Schaffung von Studienplätzen. Stattdessen schachern sie ihren Anteil abbekommen.
beim Qualitätspakt Lehre und beim Hochschulpakt
2020. Wer so argumentiert, Frau Ziegler, wie Sie heute und
wie Sie das auch beim Haushalt des Bundesinnenminis-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) teriums getan haben, der baut Mauern in den Köpfen
nicht ab, sondern der baut Mauern in den Köpfen auf.
In der Tat hat es etwas länger gedauert, den Qualitäts-
pakt Lehre mit den Ländern auf den Weg zu bringen. Es Herzlichen Dank.
ist aufseiten der Länder eine Unkultur geworden, zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dagmar
pokern, um möglichst viel herauszuschlagen. Ziegler [SPD]: Das ist doch albern!)
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Na logisch! Sie
haben die Länder seit Jahren ausgehungert!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Ernst Dieter Rossmann für die
– Frau Kollegin Sitte, das ist nicht logisch, weil der
SPD-Fraktion.
Bund sich, um etwas voranzubringen, an der Finanzie-
rung von Aufgaben beteiligt, für die originär die Länder
zuständig sind. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie führen eine einer Halbzeitdiskussion ist es interessant, nachzuspü-
Schuldenbremse ein!) ren, was nicht angesprochen wird, aber bisher in allen
Haushaltsdebatten seitens der Regierung als das große
Der Bund sagt: Ich will, dass etwas vorankommt. – So Ziel der Bildungsrepublik reklamiert worden ist: 7 plus
wird seit 2006 ganz massiv Politik gemacht. Wenn wir 3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt für Bildung und For-
die Bildungsrepublik Deutschland werden wollen, dann schung.
ist das eine politische Gemeinschaftsaufgabe von Bund,
Ländern und Kommunen, letztendlich der gesamten Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
14654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) Davon hat heute niemand gesprochen. Wir wissen kann auch Ihr Auftrag sein. Es geht darum, Menschen (C)
auch, weshalb. Sie wissen nämlich genau, dass Sie zur zusammenzuführen, Politik zusammenzuführen, Bund
Erreichung dieses Ziels mit dem, was Sie jetzt vorlegen, und Länder zusammenzuführen. Weil Sie diese Möglich-
20 Milliarden Euro zu wenig bereitstellen. Das ist dabei keit nicht nutzen, fehlt uns in der Bildungspolitik etwas.
der Punkt. Sie erreichen eben nicht die 7 Prozent bei der Ich will das in Bezug auf Kooperation an drei Punkten
Bildung, und Sie erreichen auch nicht die 3 Prozent bei durchbuchstabieren.
der Forschung.
Erstens. Uns fehlt eine Kooperation für starke Bil-
Das Handelsblatt hat im Zusammenhang mit den dungsinstitutionen und starke Schulen. Die letzte große
Zahlen eine Frage aufgeworfen: Wieso ist Frau Schavan, Bildungsdebatte, die die Menschen auch bewegt hat, war
für deren Haushalt in dieser Legislaturperiode 12 Mil- die Debatte um die Teilhabe. Von wem ist sie eigentlich
liarden Euro vorgesehen sind, nicht der Star des Kabi- geführt worden? Von Frau Schavan? Oder von Frau von
netts? Über diese Frage darf man nachdenken. Weshalb der Leyen? War das nicht Fahnenflucht der Bildungs-
sind Sie nicht der Star des Kabinetts? ministerin, als es darum ging, sich für starke Schulen mit
Schulsozialarbeit und guter Infrastruktur einzusetzen?
Eine Antwort kann sein, dass Ihnen Souveränität Dazu ist kein Wort gefallen. Das geht nicht.
fehlt. Ihnen fehlt die Souveränität, anzuerkennen, dass
das, was Sie als Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Pakt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
für Forschung und Innovation sowie beim BAföG für der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
sich reklamieren, von Rot-Grün, Schwarz-Rot und in GRÜNEN)
Übereinstimmung mit dem ganzen Haus entstanden ist.
Man beweist keine Qualität als Star, wenn die Souverä- Wer gute, starke Bildungseinrichtungen in Deutschland
nität zur Anerkennung einer Leistung aller fehlt. will – und das ist die erste Aufgabe einer Bundesbil-
dungsministerin –, der darf in einer solchen Diskussion
Eine zweite Antwort kann sein: Sie sind auch deshalb nicht fahnenflüchtig werden.
kein Star, weil Sie in die falsche Richtung laufen. Jede
Wahlentscheidung der Menschen gegen Studiengebüh- Zweitens. Herr Meinhardt, Sie haben den heutigen
ren ist indirekt auch eine Entscheidung gegen Frau Weltalphabetisierungstag angesprochen. Forschung aus
Schavan gewesen. dem Bildungsministerium hat diese Problematik mit
7,5 Millionen Betroffenen in Deutschland beziffert.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn wir in den Haushalt schauen, finden wir dort nicht
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 7,5 Millionen Menschen, aber 7,5 Millionen als Geldbe-
trag. In welcher Relation steht das eigentlich zueinan-
Sie ist doch die Bannerträgerin für Studiengebühren ge-
(B) wesen, wofür Ihre Partei in einem Bundesland nach dem der? Ein Euro für jeden Betroffenen. Das kann es doch (D)
nicht sein. Schließlich wissen wir, dass ein Land wie
anderen abgewählt wird. Sogar in Baden-Württemberg
England Jahr für Jahr 900 Pfund dafür eingesetzt hat.
war das so, woran Sie nie glauben wollten.
Was Sie machen, ist doch keine Umsetzung. An dieser
(Ulla Burchardt [SPD]: In zwei Jahren in Stelle könnten Sie vorangehen und als Bildungsministe-
Bayern auch!) rin Grundbildung für alle in Deutschland in Bil-
dungskooperation mit gutem Vorbild durch den Bund
Andere kommen noch. Damit müssen Sie sich jetzt aus- voranbringen.
einandersetzen.
Drittens. Ich will ein weiteres Beispiel nennen, was
Sie haben – auch das macht keinen Star aus – Bil- Kooperation, angestoßen durch eine Bundesbildungs-
dungssparen angekündigt. Das war eine große Über- ministerin, bedeuten könnte. Heute Morgen hat Sigmar
schrift. Gekommen ist null. Eine weitere große Über- Gabriel, Parteivorsitzender der SPD, hier daran erinnert,
schrift betraf lokale Bildungsbündnisse. Dafür gibt es
aber kein Geld im Haushalt. Wer so agiert, wird nicht (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Eine schwache
zum Star. Rede! Eine populistische Rede!)
(Ulla Burchardt [SPD]: Wissenschafts- dass das Zusammengehörigkeitsgefühl bei jungen Leu-
freiheitsgesetz!) ten in Europa sich in der Erfahrung von Ausbildung, Ar-
beit und Studium abbilden muss. Weshalb macht der
Dabei gilt: Manches Gute, das Sie tun wollten, haben Parteivorsitzende der SPD diesen Vorschlag für eine sol-
Sie schlecht umgesetzt. Wir wollen aber anerkennen, che europäische Initiative? Haben wir in der Debatte um
dass Sie bei der Hochschullehre Gutes tun wollten, und Europa ein Wort seitens der Bundesbildungsministerin
manches Gute, das Sie tun wollen, wird bisher von den als Initiative gehört? Nein. – Das geht nicht.
Parteien, die Sie tragen sollen, nicht geteilt.
(Ulla Burchardt [SPD]: Die hat ja auch nichts
Deshalb machen wir in Sachen Kooperationsverbot getan!)
für die SPD-Fraktion hier das ausdrückliche Angebot:
Frau Schavan, werben Sie dafür, dass es jetzt eine aus Deshalb muss man Ihnen zum Schluss dieser Halb-
Bund und Ländern zusammengesetzte Kommission gibt, zeitbewertung zwei Sätze ins Stammbuch schreiben. Der
in der man, ohne vorher schon in den Schützengräben zu eine Satz ist folgende bemerkenswerte Überschrift von
sitzen, darüber redet, wie man Bildungskooperation in Frau Schmoll in Ihrem Zentralorgan, der Frankfurter
Deutschland auf ein neues Fundament stellen kann. Das Allgemeinen Zeitung:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14655
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) (Lachen bei der CDU/CSU – Eckhardt den Ländern und mit dem gesamten wissenschaftlichen (C)
Rehberg [CDU/CSU]: Herr Rossmann, das mit Sachverstand Verbraucherinnen und Verbraucher vorsor-
dem Zentralorgan war komplett daneben!) gend geschützt und die Lage aufgeklärt.
Wie oft will Frau Schavan sich denn noch irren? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das war der erste Satz. Die eingerichtete Taskforce hat sich bewährt. Im Hin-
blick auf die Verbraucherschutzministerkonferenz nächste
Der zweite Satz stammt von allerhöchster Stelle. Sie
Woche habe ich den Vorschlag gemacht, dass wir sie zu
haben bekanntlich eine Kanzlerin, die in sehr eigener
einem dauerhaften Instrument des Krisenmanagements
Weise charmant ist. Auf einem Parteitag, bei dem Frau
weiterentwickeln. Zugleich sind wir aber auch unseren
Schavan nicht einmal für ein Landesparteitagsmandat
Landwirten, die unverschuldet in Not geraten sind, zur
gewählt worden ist, hat die Bundeskanzlerin diese Qua-
Seite gestanden. Wir haben auch Geld aus Brüssel be-
lität einmal mehr bewiesen. Weil es dort so viel Kritik an
sorgt, und Geld aus Brüssel ist auch immer Geld aus
Frau Schavan gab, barmte Frau Merkel mit Blick auf
Deutschland. Deshalb haben wir unseren Landwirten zur
Frau Schavan an die Adresse der Delegierten: Aber nun
Seite gestanden.
spendet doch einmal Beifall; sie tut doch auch Gutes.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wenn eine Kanzlerin über eine Ministerin so etwas
der FDP)
sagt, dann muss sich die Ministerin fragen, mit welcher
Kraft sie in die zweite Halbzeit geht. All das zeigt: Selten standen Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz so im Mittelpunkt der
Frau Schavan, Sie brauchen neuen Elan; Sie brauchen
Aufmerksamkeit. Nie waren einer Bundesregierung Er-
neue Konzentration; Sie brauchen neue Ideen. Nur dann
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz so
kann es eine bessere zweite Halbzeit für Bildung in
wichtig wie heute.
Deutschland geben.
Wir haben Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Danke.
cherschutz eine größere Bedeutung gegeben, und zwar
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ohne Verbraucher und Landwirte gegeneinander auszu-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE spielen – und ohne ideologische Grabenkämpfe.
GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: In diesen Tagen wird wie heute Morgen viel über die
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen Zukunft des Euro und Europas gesprochen. Damit ver-
(B) nicht vor. bindet so mancher auch Unsicherheit über das, was (D)
Europa kann.
Damit kommen wir nun zu dem Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirt- Europa kann viel. Wir sehen es an der gemeinsamen
schaft und Verbraucherschutz, Einzelplan 10. Agrarpolitik. Durch sie ist Europa zusammengewachsen
und wächst noch weiter zusammen. Es ist auch mit na-
Ich erteile das Wort Bundesministerin Ilse Aigner. tionalen Interessen vereinbar, für die ich streite.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Außerdem wissen gerade unsere Landwirte sehr ge-
nau, was der Euro wert ist. 9 von 10 Euro werden inner-
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land- halb der Euro-Zone umgesetzt. Früher brauchten wir we-
wirtschaft und Verbraucherschutz: gen der Auswirkungen der Wechselkursschwankungen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und innerhalb der Europäischen Union ein sehr kompliziertes
Kollegen! Wir haben ein etwas turbulentes erstes Halb- Ausgleichssystem. Theo Waigel musste damals noch
jahr hinter uns gebracht – insbesondere auch in dem Be- dreistellige Millionenbeträge hin- und herschieben, um
reich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirt- manches auszugleichen.
schaft und Verbraucherschutz.
All das gehört der Vergangenheit an. In den vergange-
Zunächst haben wir zu Beginn des Jahres Dioxin im nen Jahren hat Europa gerade hier für Sicherheit gesorgt.
Futtermittel gefunden. Verbraucher und Landwirte wa-
Für die gemeinsame Agrarpolitik werden wir in den
ren in tiefer Sorge. Aber gemeinsam mit den Ländern
kommenden Monaten wichtige Weichenstellungen für
haben wir schnell und effektiv Konsequenzen gezogen.
die Förderperiode nach 2013 verhandeln. Es geht um die
Wir haben entschlossen und konsequent dafür gesorgt,
Sicherung der Ernährung. Es geht aber auch um die Ein-
dass Futtermittel und Lebensmittel in Deutschland für
kommensstabilisierung in der Landwirtschaft und um
ein Höchstmaß an Sicherheit stehen.
Umweltschutz und Biodiversität in der Agrarpolitik.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europa bleibt auch hier unsere Zukunft.
Unser Aktionsplan, den wir gemeinsam beschlossen ha- Wenden wir uns aber auch weiter der Zukunft zu.
ben, ist bereits zu weiten Teilen umgesetzt. Auch der Haushalt 2012 ist auf die Zukunft ausgerichtet.
Mit 5,28 Milliarden Euro steht er weiterhin als Garant
Dann hat uns und halb Europa Ehec in Atem gehalten.
für Stabilität.
Wir haben auch hier entschlossen und umsichtig ge-
meinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium, mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesministerin Ilse Aigner


(A) Wir haben zwar einen Rückgang zu verzeichnen, aber die Zukunft bestimmen; die Energiegewinnung gehört (C)
das ist keine Kürzung, sondern es zeigt, dass wir unser auch in die bäuerliche Hand.
Grünlandmilchprogramm mit Erfolg abgeschlossen ha-
ben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unsere Ziele bilden sich in den Förderschwerpunkten
(Lachen des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier
ab. Allein in den Jahren bis 2014 setzen wir 250 Millio-
[SPD])
nen Euro für die Bioenergieforschung ein. Das ist ein or-
Es zeigt, dass wir unseren Landwirten genau in der Zeit, dentlicher Schub für die Energieversorgung von morgen.
in der sie es brauchen, zur Seite stehen, und zwar effek-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
tiv und wirkungsvoll.
Vorgestern hat der Europäische Gerichtshof sein Ur-
Wir stehen verlässlich an der Seite unserer Bauern. teil zu gentechnisch veränderten Pollen in Honig gespro-
Dies gilt auch für die Gestaltung der landwirtschaftli- chen. Es ist ein Grundsatzurteil, das Klarheit schafft, und
chen Sozialpolitik. Wir wollen einen einheitlichen ich begrüße das; denn die Verbraucher haben einen An-
Bundesträger etablieren. Mit ihm wollen wir moderne spruch auf Klarheit und Transparenz. Wir, die christlich-
Strukturen schaffen, damit wir auch künftig ein eigen- liberale Koalition, haben uns in Brüssel immer dafür ein-
ständiges soziales Sicherungssystem für die Landwirt- gesetzt, dass alle Produkte, die auf einer Produktions-
schaft erhalten. stufe mit Gentechnik in Berührung gekommen sind, ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kennzeichnet werden. Ich hoffe, dass auch die Kommis-
sion jetzt Handlungsbedarf sieht.
Die Bundesregierung ist trotz knapper Kassen bereit,
150 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese Mittel sind zweckgebunden, und sie werden nur Unabhängig davon müssen wir die geltenden Koexis-
dann entsperrt, wenn es einen einheitlichen Bundesträ- tenzregeln überprüfen. Dabei geht es auch um die Si-
ger gibt. Ich meine, das ist eine sinnvolle Investition. Ich cherheitsabstände. Gentechnikrecht ist aber Gemein-
möchte heute schon allen danken, die dazu beigetragen schaftsrecht. Deshalb ist die Europäische Kommission
haben und beitragen, dass wir das Gesetzgebungsvorha- am Zug, für ein einheitliches Vorgehen in dieser Angele-
ben zügig beraten werden und somit die zusätzlichen genheit zu sorgen.
Bundesmittel rechtzeitig entsperren können.
Unsere Verbraucherpolitik basiert auf Schutz und
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, viele ländli- Transparenz. Hier haben wir in der jüngsten Vergangen-
che Räume stehen vor großen Herausforderungen. Unser heit wichtige Schritte nach vorne gemacht. Wir fördern
(B) Bundespräsident hat es vor kurzem „Unterjüngung“ ge- (D)
unter anderem das Internetportal lebensmittelklarheit.de
nannt. Demografischer Wandel, fehlende Jobperspekti- der Verbraucherzentralen. Millionen Zugriffe allein in
ven und Abwanderung der Jugend sind Zeichen dafür. den ersten Tagen und bislang über 2 000 Produktmeldun-
Mit vier Modellregionen will ich ab nächstem Jahr gen zeigen, dass es bei der Aufmachung und Kennzeich-
gezielt neue Instrumente in der Förderung erproben, die nung von Lebensmitteln Diskussionsbedarf gibt.
dagegenhalten und periphere ländliche Regionen unter- (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier
stützen, und zwar mit Zielvereinbarungen, Regional- [SPD])
budgets und Mikrofinanzierungen für kleine Unterneh-
men, unbürokratisch und mit viel Verantwortung für die Der Dialog zwischen den Verbrauchern und der Wirt-
Menschen vor Ort. Deutschland kann seine Stärke eben schaft läuft auf Hochtouren. Es ist ein Lernprozess für
nicht nur aus den Ballungszentren oder Clustern beziehen, beide Seiten. Hier geht es um Transparenz und Kenn-
sondern Deutschland muss auch in der Fläche und damit zeichnung, es geht nicht um Sicherheit. Bei gesundheitli-
in seiner Gesamtheit stark sein. chen Gefahren werden die Länder lebensmittelwar-
nung.de starten. Schnell und effektiv werden künftig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verbraucher informiert.
Die Bundesregierung geht den Umstieg auf erneuer- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau
bare Energien entschlossen an, und wir beschleunigen so ist es!)
das Tempo. Deshalb stärkt auch mein Haus die Ener-
gieforschung. Es ist eine erfreuliche Nachricht: Erstmals Auf europäischer Ebene haben wir einiges erreicht.
beziehen wir mehr als ein Fünftel der Stromerzeugung Es sei nur die Kennzeichnung von Analogkäse und Kle-
aus erneuerbaren Energien. Die Landwirtschaft steht hier befleisch genannt. In Zukunft wissen auch Allergiker,
für Leistung. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag bei wo Allergene drin sind. Für sie ist das eminent wichtig.
der Erzeugung von erneuerbaren Energien. Das heißt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Künftig ist es nicht der Strom, der in die Fläche geht,
sondern der Strom kommt aus der Fläche. Deshalb brau- Verbraucher wollen immer mehr regionale Produkte.
chen wir auch in diesem Bereich weitere Forschung. Wir Das ist auch eine Herausforderung für die Kennzeich-
brauchen Forschung für neue Energiepflanzen, und wir nung. Wo der Name einer Region draufsteht, müssen
brauchen Forschung zur Speicherfähigkeit und Effi- auch die Erzeugnisse der Region drin sein. Hier Verläss-
zienzsteigerung vor allem in dezentralen Versorgungs- lichkeit zu schaffen, liegt mir persönlich am Herzen.
strukturen. Nicht nur industrielle Großanlagen dürfen Deshalb wird es in der nächsten Woche ein Ausschrei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14657
Bundesministerin Ilse Aigner
(A) bungsverfahren geben, welches die Kriterien hierfür Wer über den Haushalt 2012 redet, darf natürlich (C)
festlegen wird. nicht die vergangenen Haushalte vergessen. Sie haben in
den letzten Haushaltsjahren insgesamt 750 Millionen
Wir haben einen Beipackzettel für Wertpapiere ver- Euro an zusätzlichen Subventionen für die Landwirt-
pflichtend gemacht. Kosten, Risiken und Ertragschancen schaft ausgegeben und in vielen Bereichen verbrannt.
sind nun im Produktinformationsblatt auf einen Blick zu Damit haben Sie den Spielraum für kommende Haus-
sehen. Bankberater müssen bei der BaFin gemeldet wer- halte, auch für den jetzigen Haushalt, in entscheidender
den. Auch der Graue Kapitalmarkt zieht in Kürze nach. Weise begrenzt, wenn nicht gar in einzelnen Teilen ver-
Wir wollen künftig die Honorarberater fest verankern, nichtet. Allein die Finanzierung der Agrardieselsub-
und wir haben die Transparenz und den Schutz vor ventionen kostet die Gemeinschaftsaufgabe zusätzlich
Falschberatung erhöht. Auch das sorgt für mehr Sicher- 85 Millionen Euro zur Gegenfinanzierung. Sie schreiben
heit. das im Haushalt 2012 fort. Wir als SPD stellen diese
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Subventionen grundsätzlich zur Disposition.

Für mehr Sicherheit haben wir auch bei Onlinege- (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Pfui! –
schäften gesorgt. Die Button-Lösung wird auf unsere Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist
Initiative hin nun EU-Recht. schlecht!)

(Lachen bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen, dass die Landwirtschaft auch hier einen Bei-
trag zum Klimaschutz leistet. Es kann doch nicht sein,
Die nationale Umsetzung sind wir bereits angegangen. dass fossiler Diesel günstiger ist als das Öl vom eigenen
Verbraucher müssen künftig auf Kosten hingewiesen Acker. Das müssen wir ändern; wir müssen dafür sorgen,
werden, bevor ein kostenpflichtiger Vertrag abgeschlos- dass auch dieser Bereich nachhaltiger wird.
sen wird. Das ist ein wichtiger Beitrag gegen Abzocke
im Internet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mit der Mittelausstattung der Gemeinschaftsaufgabe
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die christlich-libe- bleiben Sie auf dem Vorjahresniveau. Dabei ist gerade
rale Koalition steht für Verlässlichkeit gegenüber der die Gemeinschaftsaufgabe das zentrale Gestaltungsele-
Landwirtschaft. Die christlich-liberale Koalition steht ment der Politik im ländlichen Raum. Wir Sozialdemo-
bei den Verbrauchern für ein hohes Schutzniveau. Auf kraten bekennen uns zum ländlichen Raum und fordern
diesem Fundament stärken wir die Verbraucher in ihrer daher eine Umkehr dieser Politik. Wir fordern, dass zu-
(B) Selbstbestimmung durch mehr Transparenz und auch mindest das wieder aufgebaut wird, was in diesem Be- (D)
mehr Information. Wir übernehmen hier Verantwortung. reich abgebaut worden ist. Da reicht es nicht, Modellre-
Wir haben hier in den letzten beiden Jahren, also in der gionen zu fordern – auch wenn der Ansatz richtig ist –;
ersten Hälfte dieser Legislaturperiode, große Erfolge er- 6 Millionen Euro kompensieren nicht 86 Millionen Euro.
zielt, und das werden wir auch in den nächsten beiden Die Fortsetzung des eingeschlagenen Weges führt lang-
Jahren, also in der zweiten Hälfte dieser Legislaturpe- fristig zu einer strukturellen Schwächung des ländlichen
riode, tun. Raumes. Angesichts der vielfältigen Probleme, die wir
dort zu bewältigen haben – es ist von der Frau Ministerin
Vielen herzlichen Dank. eben angesprochen worden: die soziale Infrastruktur ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in vielen Bereichen infrage gestellt; junge Menschen
wandern ab; gut bezahlte Arbeitsplätze fehlen –, kann
man mit der Gemeinschaftsaufgabe und entsprechender
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Prioritätensetzung gegensteuern.
Das Wort hat nun Wilhelm Priesmeier für die SPD-
Fraktion. (Beifall bei der SPD – Marlene Mortler [CDU/
CSU]: Tolle Idee!)
(Beifall bei der SPD)
Ihre Prioritätensetzung ist dagegen eindeutig: auf der
einen Seite eine dauerhafte Subvention des Agrardiesels,
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): auf der anderen Seite weniger zukunftsgerichtete Inves-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zu- titionen und weniger Beschäftigung im ländlichen Raum.
hörer! Die Investitionsbereitschaft der deutschen Land- Das bedeutet konkret Ihre Politik in diesem Zusammen-
wirtschaft steigt. Die Exporte werden vermutlich auch hang.
dieses Jahr die 50-Milliarden-Euro-Grenze überschrei-
ten. Das alles sind durchaus positive Signale trotz einer (Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann
Ernte, die hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. [FDP])
Diese Entwicklung ist auf unternehmerisches Handeln – Sie haben das doch als großen Sieg für die Landwirt-
und auf den Fleiß der Landwirte zurückzuführen. schaft gefeiert, Herr Goldmann. Ich glaube, das muss
(Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Genau!) man einmal gründlich hinterfragen. Eine Partei, die sich
sonst dafür ausspricht, Subventionen abzubauen, ist an
Ob sie eine Folge der schwarz-gelben Agrarpolitik ist, dieser Stelle konsequent dafür, die Subventionen auszu-
das lasse ich jetzt einmal dahingestellt. bauen. Das Urteil darüber überlasse ich dem deutschen
14658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) Steuerbürger. Ich glaube, er wird ein gerechtes Urteil weiteren Ausgestaltung entsprechender wissenschaftli- (C)
über Ihre politische Strategie fällen. cher Grundlagen. In Ihrem Haushaltsentwurf findet man
aber keinen ambitionierten Ansatz für ein Tierschutzfor-
(Beifall bei der SPD)
schungsprogramm. Wir als Sozialdemokraten fordern
Die Feststellung, die die Bundesregierung im Agrar- daher ein Bundesprogramm Tierschutzforschung.
bericht trifft, nämlich GAK und GRW besser zu vernet-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zen und beide Aufgaben verstärkt und zielorientiert zur
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Unterstützung auch des ländlichen Raumes einzusetzen,
ist richtig. In Ihrem Haushaltsentwurf findet sich das Damit wollen wir die tierschutzrelevante Forschung auf
überhaupt nicht wieder. Ich glaube, da bedarf es einiger Bundesebene bündeln und für die Zukunft substanzielle
Nachbesserungen, um auch diesen Teil wieder auf den Verbesserungen für die Züchtung und Haltung von land-
richtigen Weg zu führen. wirtschaftlichen Nutztieren erreichen und unterstützen.
Ich spreche mich wie die gesamte SPD dafür aus, die Wir diskutieren gegenwärtig auf europäischer Ebene
Gemeinschaftsaufgabe weiterzuentwickeln, ihre Zielbe- auch intensiv über die Weiterentwicklung der Gemeinsa-
stimmung neu festzulegen men Agrarpolitik. Auch das ist eine Baustelle, Frau
Ministerin, auf der Sie nicht besonders aktiv agieren.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie unter Rot-
Grün!) (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Was?
Habt ihr Wahrnehmungsprobleme?)
und sie letztlich weiterzuentwickeln zu einer Gemein-
schaftsaufgabe für den ländlichen Raum, die insgesamt In der Debatte um die Weiterentwicklung des Greenings
auch den Anforderungen zukünftiger Politikgestaltung sind Sie weitestgehend abgetaucht. Von Ihnen und auch
entspricht und nicht auf dem Stand bleibt, den wir zum von der Koalition hat es bislang keine substanziellen
gegenwärtigen Zeitpunkt haben. Vorschläge gegeben.
(Beifall bei der SPD) (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Nein,
wir verhandeln!)
Frau Ministerin, Sie haben einen breiten Diskussions-
prozess über die Ziele und Prioritäten in der Land- und Die Devise lautet bei Ihnen offensichtlich noch immer:
Ernährungswirtschaft angeschoben. Das war an sich Weiter so wie bisher. Es war alles gut, und auch in Zu-
längst überfällig. Am Ende wollen Sie eine Charta für kunft wird alles gut sein. – Das ist aber keine zukunfts-
Landwirtschaft und Verbraucher vorlegen. Ich möchte gerichtete Politik. Diese Politik wird letztendlich keinen
Sie an dieser Stelle ausdrücklich für Ihr Engagement lo- Bestand haben; davon gehe ich aus, auch wenn ich auf
(B) ben. Wir brauchen diese gesellschaftliche Diskussion. das Jahr 2013 schaue. (D)
Dieses Vorhaben hat nicht die uneingeschränkte Zustim-
(Beifall bei der SPD)
mung der Koalition gefunden; das war ja sehr umstritten.
Unsere Gesellschaft stellt berechtigte Forderungen, bei
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das kann
denen es um die Legitimation auch der derzeitigen Prä-
man so nicht sagen!)
mienzahlungen in der Landwirtschaft geht. Aber Sie ge-
Sie können da gewiss sein: Von unserer Seite wird diese hen nicht darauf ein. Ich habe den Eindruck, dass Ihre
Diskussion natürlich kritisch begleitet; aber wir brau- Politik im Hause vielleicht doch noch vom Deutschen
chen diese Diskussion. Wir müssen heute darüber disku- Bauernverband mitgesteuert wird und eher Klientelpoli-
tieren, wie moderne Landwirtschaft morgen aussehen tik ist, während wir Agrarpolitik schon lange nicht mehr
soll. Wir müssen heute darüber diskutieren, welche als Klientelpolitik verstehen.
Strukturen wir zukünftig wollen.
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]:
(Iris Gleicke [SPD]: Richtig!) Wilhelm, das weißt du doch besser!)
Heute müssen die Entscheidungen über die Richtung ge- Wir brauchen – das ist unbestritten – ein konsequen-
troffen werden, in der wir die Landwirtschaft bei ihrer tes Greening der Agrarpolitik auf europäischer Ebene.
Entwicklung zu einer wettbewerbsfähigen Landwirt- Wir brauchen nach dem Grundsatz „öffentliches Geld
schaft in Europa begleiten wollen. für öffentliche Güter“ natürlich auch dort eine entspre-
chende Neuausrichtung. Wir sind dafür, gesellschaftlich
Wir müssen heute mit entscheiden, wie wir diese
geforderte Leistungen zu honorieren und nicht Selbst-
Strukturen fördern wollen. Das gilt auch für die Tierhal-
verständlichkeiten zu bezahlen. Für uns bedeutet das:
tung.
mehr Klimaschutz, mehr Bodenschutz, Erhalt der biolo-
(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann gischen Vielfalt und Einsatz erneuerbarer Energien auch
[FDP]: Das ist ja interessant!) im Agrarsektor.
Es kann doch nicht sein, dass bei jedem Stallneubau eine (Beifall bei der SPD)
ganze Region in Aufruhr gerät. Wir brauchen klare Rah-
Das heißt, wir brauchen ein konsequentes Umbruchver-
menbedingungen. Wir brauchen einen eindeutigen ge-
bot für Dauergrünland, die obligatorische Winterbegrü-
setzlichen Rahmen für unsere Veredelungswirtschaft.
nung, das Festschreiben einer dreijährigen Fruchtfolge
In diesem Zusammenhang darf natürlich der Tier- und Extensivierungsflächen auch für Umweltzwecke.
schutz nicht fehlen. Der Tierschutz bedarf auch in der Das muss Bestandteil des Greenings sein. Das muss um-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14659
Dr. Wilhelm Priesmeier
(A) gesetzt werden, und dafür bedarf es auch der Unterstüt- Bundessortenamt erhält rund 24 Millionen Euro, das (C)
zung in Brüssel. Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-
cherheit 38 Millionen Euro, das Julius-Kühn-Institut – es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist, vereinfacht gesagt, für die Kulturpflanzen zuständig –
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. 76 Millionen Euro, das Friedrich-Loeffler-Institut, für
Tiergesundheit zuständig, 106 Millionen Euro, das Max-
Rubner-Institut, das für Verbraucherschutz im erweiterte-
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): ten Sinne zuständig ist, 47 Millionen Euro und das
Setzen Sie das bitte auch bei der Weiterentwicklung Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut, das für den ländli-
der Politik im deutschen Interesse in Brüssel mit um. chen Raum, für Wald und Fischerei zuständig ist, 79 Mil-
Seien Sie vergewissert, Frau Ministerin: Auch bei den lionen Euro. Sie sehen also, auch in diesem Bereich wird
anstehenden Beratungen zum Haushalt werden wir Ih- konstant Geld bereitgestellt. Mein Dankeschön gilt die-
nen durch konstruktive Anträge den richtigen Weg wei- sen Instituten und Behörden für ihre gute Arbeit.
sen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vielen Dank.
Der Bauer, der Landwirt ist ja auch Unternehmer.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb muss man auch etwas tun, damit er in Europa
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und darüber hinaus wettbewerbsfähig bleibt. Ein Be-
reich, bei dem wir den Landwirten bislang immer gehol-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fen haben, ist die steuerliche Vergünstigung von Agrar-
Das Wort hat nun Heinz-Peter Haustein für die FDP- diesel. Als ich diese Woche das Programm der SPD vom
Fraktion. 5. September gelesen habe, habe ich gedacht, mein
Schwein pfeift. Die SPD will die Subventionierung des
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Agrardiesels abschaffen. Sie will unsere Bauern in den
Ruin treiben.
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Unglaub-
Damen und Herren! Also, Herr Priesmeier, was Sie hier lich! – Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE
so von sich gegeben haben, ist doch etwas realitätsfern; GRÜNEN]: Was? Das ist doch Blödsinn! Die
aber dazu kommen wir jetzt im Einzelnen. können doch Pflanzenöl tanken! – Friedrich
Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Dieser Einzelplan 10 ist der schönste, den es gibt, Lächerlich!)
(B) (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – – Das wollt ihr; denn wenn im übrigen Europa im
Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Es geht hier Durchschnitt 4 Cent und bei uns 26 Cent bezahlt werden
nicht um Schönheit, Herr Kollege!) müssen, würdet ihr einen weiteren Vorteil weghauen. Ich
nicht nur wegen des Ministeriums, sondern in seiner habe gedacht, ich verstehe die Welt nicht mehr. Was soll
Gänze: Es geht um Essen, es geht um Trinken, es geht um das denn, die Axt an die Existenzgrundlage der Bauern
die Grundlagen unseres Zusammenseins. Wenn man sich zu legen?
als Haushälter den Gesamtetat in Höhe von 5,28 Milliar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den Euro anschaut, stellt man fest, dass er angepasst
wurde. Er umfasst jetzt 211 Millionen Euro weniger, weil Die Bauern sind Unternehmer. Unsere Aufgabe ist es,
das Grünlandmilchprogramm ausläuft und weil der Zu- solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass ihre Pro-
schuss zur Erhöhung des Stiftungskapitals der Stiftung dukte wettbewerbsfähig in Europa bleiben. Deshalb,
Warentest auf 10 Millionen Euro angepasst wurde. liebe Landwirte, kann ich versichern: Mit uns ist eine
Kürzung der Agrardieselsubventionen nicht zu machen.
Wohin gehen nun diese 5,28 Milliarden Euro? Es ist Darauf könnt ihr euch verlassen.
so, wie bei all unseren Haushalten: Das meiste Geld geht
fürs Soziale drauf. So sind wir halt von der christlich-li- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
beralen Regierung – sehr sozial eingestellt. Zum Beritt des Ministeriums gehören 5 Millionen Be-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schäftigte. Das ist eine Erfolgszahl. Ich möchte auch ein-
Lachen bei der SPD) mal an die Fischerei, an den Garten- und Landschaftsbau
und an die Forstwirte erinnern. All diese leisten ihren
In diesem Fall sind für die Alterssicherung der Land- Beitrag.
wirte 2,17 Milliarden Euro, für die Krankenversicherung
der Landwirte 1,28 Milliarden Euro und für die landwirt- Bei unserem Haushalt wurde auch der Verbraucher-
schaftliche Unfallversicherung bislang 175 Millionen schutz nicht vergessen. Der entsprechende Ansatz ist
Euro vorgesehen, wobei es bei entsprechenden Reform- aufgestockt worden. Für die Titelgruppe „Nachwach-
prozessen auch noch zu einer Anpassung nach oben sende Rohstoffe“ sind 6 Millionen Euro mehr vorgese-
kommen kann. Wir werden sehen, mit welchem Betrag hen. Für den Ökolandbau sind nach wie vor 16 Millio-
wir hier aus den Verhandlungen herauskommen. nen Euro veranschlagt.
Wohin geht nun das übrige Geld? Ich möchte einmal Liebe Freunde, für uns ist es eine Herzenssache, das
die nachgelagerten Institute und Behörden nennen: Das ganze Team der Landwirte, der Fischer, der Forstwirte
14660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Heinz-Peter Haustein
(A) und der Gärtner zu unterstützen. Wie heißt es so schön Produzenten ein nachhaltiges und angstfreies Wirtschaf- (C)
– und dabei bleibt es auch –: Das schönste Wappen auf ten sichert.
der Welt ist der Pflug im Ackerfeld.
(Beifall bei der LINKEN)
(Heiterkeit im ganzen Hause)
Einige Fakten aus Ihrem Ressort zur Situation von
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz- Agrarbetrieben und Landwirten: Die Landwirtschaft und
gebirge. die Ernährungswirtschaft sind heute von Niedriglöhnen
und einem hohen Grad an Selbstausbeutung geprägt, im
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Westen und Süden dieser Republik noch mehr als im Os-
bei Abgeordneten der LINKEN und des ten; hier verhält es sich also anders als sonst. Nötig wä-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren für die Land- und Ernährungswirtschaft Mindest-
löhne, eine neue Art sozialer Sicherung, auch eine
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: bessere Infrastruktur, vor allem aber angemessene Er-
Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die zeugerpreise.
Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Wir setzen uns bekanntlich intensiv für die Landwirt-
schaftsbetriebe im Osten ein; denn die Strukturen sind
Roland Claus (DIE LINKE): sehr verschieden. Hier gilt nicht, dass man im Osten so
Durch meinen Vorredner werde ich ein bisschen an leben und produzieren will wie im Westen oder im Sü-
die Weisheit erinnert: Kunst ist Waffe, Volkskunst ist den. Gewissermaßen sind die Agrarbetriebe in den
Geheimwaffe. neuen Bundesländern, wenn man so will, der einzige le-
(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD) bendige Beweis dafür, dass es in der DDR wirtschaftli-
che Strukturen gab, die denen in der Bundesrepublik
Aber zum Etat. Mit Nahrungsgütern wird mehr denn überlegen waren.
je spekuliert. Ich nenne nur das Stichwort „Zucker-
markt“. Bodenverkäufe, besonders im Osten, werden (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der
staatlich gefördert. Die Selbstausbeutung von Landwir- FDP – Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Von
ten steigt. Auch in den Minuten, in denen wir hier über Claus lernen heißt Siegen lernen!)
den Etat der Verbraucherschutzministerin reden, gehen – Ich habe damit gerechnet, dass es etwas länger dauert,
ganz sicher irgendwelche dubiosen Finanzprodukte an bis das bei Ihnen angekommen ist. Ich werde es an ande-
Verbraucherinnen und Verbraucher über. Ihre Antwort rer Stelle wiederholen. – Der Agrarbericht der Bundesre-
(B) auf diese Situation, Frau Ministerin, heißt: Wir sind auf (D)
gierung kommt daher nicht zu Unrecht zu dem Schluss,
einem guten Weg und wollen den weiter gehen. – Es darf dass die Agrargenossenschaften und GmbHs besser
Sie nicht wundern, wenn wir dem nicht folgen und hier durch die Krise gekommen sind als die Kleinunterneh-
klar und deutlich Widerspruch anmelden. men. Deshalb brauchen auch diese Unternehmen Zu-
(Beifall bei der LINKEN) kunftsklarheit für die Zeit nach 2013.

Der Etat des Bundeshaushalts für Ernährung, Land- (Beifall bei der LINKEN)
wirtschaft und Verbraucherschutz ist bescheiden. Er ist Ein historischer Blick auf die Agrarunternehmen im
ja gerade vorgelesen worden. Osten zeigt, dass sie vor allem in den ersten zehn Jahren
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) nach der Wende erheblichen Gegenwind hatten. Sie wur-
den vor allem als LPG-Nachfolgeorganisationen diskri-
Wenn man einmal die EU-, Landes- und kommunalen miniert. In den folgenden zehn Jahren hat die Vernunft
Mittel zusammenrechnet, stellt man fest, dass wir in der Bauern gesiegt. Im Moment besteht eine Art Koexis-
Deutschland nur etwa 1 Prozent der Mittel der öffentli- tenz von verschiedenen Erzeugern und Produzenten im
chen Haushalte für die Landwirtschaft und unsere Er- Osten auf der einen Seite und im Westen und Süden auf
nährung ausgeben. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das der anderen Seite. Für die nächten zehn Jahre wünschte
funktioniert nur, weil wir auf Kosten anderer, darunter ich mir, dass aus dem Erfahrungsvorsprung der ostdeut-
der Ärmsten dieser Welt, leben. Auch das fordert Wider- schen Agrarproduzenten quasi eine Periode des Lernens
spruch heraus. einsetzt. Also: Mehr Genossenschaft wagen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Es hat auch nichts mehr mit Marktwirtschaft zu tun,
wenn der Milchpreis niedriger als der Preis für Mineral- Ich will mich dem Verbraucherschutz zuwenden. Wir
wasser ist. Man muss einmal darüber nachdenken, wie geben etwas weniger als 2 Euro pro Bürgerin und Bürger
man zu vernünftigen marktwirtschaftlichen Strukturen für dieses wichtige Thema aus, in Summe – es ist schon
zurückkehren kann. Es ist schlimm genug, dass Ihnen genannt worden – etwa 150 Millionen Euro.
das ein Sozialist erklären muss.
Verbraucherschutz geht bekanntlich alle an: am Kas-
Die Linke weiß, was sie will. Die Linke steht für eine senautomaten, an der Tankstelle, im Supermarkt und im
Agrar- und Verbraucherschutzpolitik, die den Konsu- Internet. Ich war erstaunt, als ich gelesen habe, dass in
menten eine gesunde und bezahlbare Ernährung und den den letzten zwei Jahren 8,5 Millionen Fälle von Internet-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14661
Roland Claus
(A) betrug registriert wurden – und das sind nur die regis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
trierten Fälle. Wir wissen, dass die Dunkelziffer noch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
viel höher ist. Das heißt, 10 Prozent der Bevölkerung LINKEN)
hatten in den letzten zwei Jahren mit dieser Form des
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Betrugs zu tun. Damit ist das Internet quasi zum größten
Kollegen, wenn wir über Landwirtschaft reden, müssen
Tatort geworden. Es ist wichtig, dass wir uns diesem
wir unbedingt über Europa reden. Angesichts einer ge-
Problem zuwenden.
meinsamen europäischen Agrarpolitik macht es wenig
Wir brauchen auch auf dem sogenannten Finanzmarkt Sinn, nur auf Deutschland zu blicken. Ein Blick in die
ein stärkeres Engagement für die Verbraucherinnen und ländlichen Räume der EU 27 mit ihrer vielfältigen, in
Verbraucher. Was heute als Finanzprodukt daherkommt weiten Teilen noch immer bäuerlich geprägten Struktur
und tatsächlich eine dubiose Abzocke bedeutet, das ha- einerseits und der fortschreitenden Industrialisierung an-
ben wir heute bereits an anderer Stelle besprochen. Ich dererseits macht klar, dass wir heute mehr denn je vor ei-
sage Ihnen, Frau Ministerin: Der beste Beitrag zum Ver- ner echten Richtungsentscheidung in der Agrarpolitik
braucherschutz, den Sie leisten können, besteht darin, stehen. Bauernhöfe oder Agrarfabriken – das ist die ge-
die Kasinos des unseriösen Finanzhandels zu schließen. sellschaftliche Frage, die gestellt wird.
Die kann man nicht reparieren; sie müssen geschlossen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
werden. und bei der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) Das ist die Schicksalsfrage der Landwirtschaft in Eu-
ropa. Der Kampf für die bäuerliche Landwirtschaft und
Die Linke steht für eine Stärkung des Verbraucher- gegen die Agrarindustrie ist von Anfang an Kern grüner
schutzes und seiner Institutionen. Wir wollen die Unter- Agrarpolitik gewesen.
finanzierung überwinden. Wir brauchen stabile Finan-
zierungen für die entsprechenden Stiftungen und Ich weiß, dass viele von Ihnen die bäuerliche Land-
Bundesämter. Es gibt Ideen, für deren Umsetzung gar wirtschaft als Nostalgie betrachten und die Agrarindus-
nicht so viel Geld benötigt würde. Die Verbraucher- trie als Zukunft. Wir Grünen sehen das ganz anders. Wir
schutzministerinnen der Linken in Berlin und Branden- sagen: Landwirtschaft der Zukunft ist die bäuerliche
burg haben den Lebensmittel-Smiley vorgeschlagen. Die Landwirtschaft, nachhaltig ausgerichtet. Dabei stellen
Idee liegt, weil zur Umsetzung ein Bundesgesetz zu än- wir uns bewusst in die bäuerliche Tradition, wie sie etwa
dern wäre, wie wir meinen, schon viel zu lange auf Eis. auch auf unserem Hof zu Hause in Westfalen seit
700 Jahren besteht. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun.
(B) Ein letztes Wort, Frau Ministerin: Ihr Etat ist über- Nostalgie ist das Festhalten an einem agrarindustriellen (D)
schaubar. Das macht es leichter, ihn zu ändern. Hier sind Modell, das uns in die gefährliche Sackgasse geführt hat,
wir mit Freude dabei. Ich will Sie schließlich daran erin- in der wir uns heute befinden. Nostalgie ist das Verhar-
nern, dass Sie noch immer einem geteilten Ministerium ren bei dem fossilen Agrarmodell, obwohl das postfos-
vorstehen – ein Teil in Berlin, ein Teil in Bonn. Sie ken- sile Zeitalter längst angebrochen ist.
nen die Position der Linken: Wir sind für die Wiederver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
einigung der Bundesregierung in Berlin. Die nächste Be-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
amtengeneration wird es Ihnen danken. Die sind nämlich
auch lieber hier. Wenn das geklappt hat, vergessen Sie Nostalgie ist das ideologische Festhalten an einer gen-
dann nicht, denen zu sagen, dass Sie damit eine Idee der technologischen Vision, die sich längst als Wahn heraus-
Linken umgesetzt haben. gestellt hat.
Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
Nostalgie ist, daran zu glauben, dass es Tieren in Käfi-
gen besser geht als auf der Weide. Nostalgie ist es, Tier-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fabriken mit vielen Tausenden Schweinen als Ausdruck
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak- des Fortschritts zu betrachten und die Überschwemmung
tion Bündnis 90/Die Grünen. der Welt mit deutschem Billigfleisch als Entwicklungs-
hilfe.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
NEN): des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])
Herr Präsident! Frau Ministerin, gestatten Sie: Ich Wir sind heute an einem Punkt angekommen, an dem
habe das Grundsatzurteil des EuGH zum Genhonig so wir uns diese Art von Nostalgie nicht mehr leisten kön-
verstanden, dass nicht, wie Sie es gesagt haben, beim nen. Die Klimakrise, der rasende Verlust der Artenviel-
Vorliegen gentechnischer Veränderungen eine Kenn- falt – auch der Allerweltsarten, gerade in der Agrarland-
zeichnung vorzunehmen ist, sondern dass dieser Honig schaft –, die Energiekrise, die Ernährungskrise zwingen
wegen der Kontamination als unerlaubte Zutat vom uns zum Umdenken. Dies wird weltweit so gesehen.
Markt zu nehmen ist. Das ist etwas anderes als das, was FAO-Generalsekretär Jacques Diouf hat völlig recht,
Sie gesagt haben. wenn er sagt, das heutige Paradigma einer intensiven
14662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Friedrich Ostendorff
(A) Pflanzenproduktion könne den Herausforderungen des die Förderung klima-, tier- und umweltgerechter Verfah- (C)
neuen Jahrtausends nicht gerecht werden. ren ausbauen.
Die Herausforderungen sind klar: Wir müssen uns Drittens müssen wir Missstände im Ordnungsrecht
von einer Landwirtschaft verabschieden, die vollständig abbauen. Die Zustände in der Massentierhaltung, die
von fossiler Energie abhängt, und müssen endlich begin- dieser Tage in der Öffentlichkeit zu Recht als unhaltbar
nen, in eine solare Landwirtschaft einzusteigen. kritisiert werden, sind in der Regel völlig legal. Damit
muss Schluss sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Wir müssen den Verlust der Artenvielfalt stoppen und des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])
die Landwirtschaft wieder zu dem machen, was sie ein-
mal war: Förderer der Artenvielfalt, nicht ihr Ende. Wir Viertens müssen wir die Forschungspolitik umbauen.
müssen die Landwirtschaft von einem CO2-Emittenten Der Einzelplan 10 sieht 391 Millionen Euro für For-
wieder zu einer -Senke machen. Wir müssen Bäuerinnen schung und Innovation vor; die Bio-Ökonomie-Strategie
und Bauern stärken, anstatt sie der Industrialisierung zu – nicht im Agraretat – umfasst sage und schreibe
opfern. Wir müssen überall auf der Welt eine stabile Er- 2,4 Milliarden Euro, aber davon fließt viel zu viel Geld
nährungsgrundlage für uns Menschen schaffen. Damit in die Entwicklung der Agrogentechnik und zu wenig in
müssen wir jetzt beginnen. die notwendige Zukunftsforschung in den Bereichen
Ökolandbau, Eiweißpflanzen, artgerechte Nutztierhal-
Daraus ergeben sich für uns folgende konkrete Aufga- tung, Klimaschutz, Artenschutz. Das müssen wir ändern.
ben:
Schließlich müssen wir dafür sorgen, dass Agrar-
Erstens müssen wir die Chancen nutzen, die die Re- märkte Regeln bekommen, die Bäuerinnen und Bauern
form der EU-Agrarpolitik bietet. Dabei geht es darum, mehr Marktmacht geben und ihnen erlauben, sich so zu
die Steuermittel in Höhe von 56 Milliarden Euro, die wir organisieren und ihr Angebot so zu bündeln, dass sie
für die Gemeinsame Agrarpolitik verwenden, zukünftig nicht von den Monopolisten, etwa bei den Molkereien,
so einzusetzen, dass auf den 80 Millionen Hektar land- an die Wand gedrückt werden.
wirtschaftlicher Nutzfläche in Europa nachhaltiger ge-
wirtschaftet wird, dass wir Biodiversität, Klimaschutz Das sind die Aufgaben, die wir jetzt in der Agrarpoli-
und ländliche Entwicklung endlich zu den Eckpfeilern tik anpacken müssen. Nichts davon erkennt man im
der Gemeinsamen Agrarpolitik machen, anstatt weiter Handeln der Bundesregierung. Nichts davon spiegelt der
immer nur davon zu reden, und dass wir endlich die sys- Einzelplan 10 wider, der nicht gestaltet, sondern ledig-
tematische Benachteiligung der bäuerlichen Landwirt- lich das Nichtstun verwaltet.
(B) schaft beseitigen, anstatt weiter den Strukturwandel zu (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
beklagen und gleichzeitig die Industrialisierung zu sub- des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])
ventionieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD]) Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
Die Vorschläge der EU-Kommission gehen hier in die
richtige Richtung. Deutschland blockiert jedoch bisher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
alle Reformbemühungen und überlässt damit die Füh-
rungsrolle in Europa wie so oft anderen. Das muss unbe- Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
dingt geändert werden; dafür werden wir streiten. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Deutschland muss endlich zum Motor einer ökologi- Kollegen! Eine Bemerkung: Biobetriebe sind häufig we-
schen und sozialen Reform der Gemeinsamen Agrarpoli- sentlich größer als konventionelle Betriebe. Ich glaube,
tik werden. das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Wo lebt denn Meine Damen und Herren, die Haushaltsdebatten eig-
der!) nen sich immer wieder sehr gut, um grundsätzliche Li-
– Ich lebe in Westfalen. Ich glaube, Frau Mortler, Sie nien deutlich zu machen. Das machen wir auch. Von
wussten das; Sie können es auch nachlesen. meinen Vorrednern wurde schon viel von Leitlinien ge-
redet. Ich sage an dieser Stelle ganz bewusst: Unsere
Zweitens müssen wir die Förderpolitik in Deutsch- Leitlinie ist die Weiterentwicklung der modernen Land-
land umgestalten. Allein über die Investitionsförderung wirtschaft, und zwar auf Basis der Schöpfung und der
wird die Massentierhaltung mit über 80 Millionen Euro Nachhaltigkeit, und nichts anderes. Das will ich deutlich
im Jahr subventioniert. sagen.
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
NEN]: Skandalös!) chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN)
Auch die über 13 Millionen Euro für Exportförderung
und Auslandsmessen, die für den Einzelplan 10 vorgese- Im Gegensatz zu vielen anderen haben wir keine Denk-
hen sind, dienen bekanntlich vor allem dem Fleisch- verbote. Wir sind vor allem keine Gegen-alles-Partei wie
export. Das müssen wir ändern. Stattdessen müssen wir die Linke und – immer häufiger – die Grünen. Wir sagen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14663
Franz-Josef Holzenkamp
(A) Ja zu einer mittelständischen und unternehmerischen braucherschutz. Dabei muss man auch die hohen Mittel (C)
Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft, die vielen für das BfR und das BVL berücksichtigen. Ich glaube,
Menschen Beschäftigung und Perspektive bieten. Wir dass jeder erkannt hat, dass dies insbesondere nach Ehec
sagen Ja zur Nutzung von Exportchancen mit unseren ein wirksamer Beitrag zum Verbraucherschutz ist.
hervorragenden Produkten; das sage ich deutlich. Wir Im Zusammenhang mit Ehec möchte ich eines beto-
sagen Ja zu Verbesserungen im Bereich des Verbraucher- nen: Ich fand es wirklich bemerkenswert, dass einige
schutzes, und wir sagen auch Ja zur Einhaltung und Wei- Protagonisten unter uns diese wirklich große und tragi-
terentwicklung der Standards im Bereich des Tier- und sche Krise zu Beginn der modernen Landwirtschaft an-
Naturschutzes. hängen wollten. Als dann genau das Gegenteil feststand,
Diesen Grundsätzen wird der Haushalt des BMELV war von all diesen Protagonisten nichts mehr zu hören.
gerecht. Er ist solide finanziert und leistet seinen Beitrag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zur Gesamtkonsolidierung unseres Bundeshaushalts. Die
Veränderungen im Zusammenhang mit dem Grünland- Frau Aigner, ich bin der Bundesregierung dankbar für
milchprogramm wurden bereits erwähnt und erklärt. das erfolgreiche Krisenmanagement in Zusammenarbeit
mit dem Bundesgesundheitsminister.
Zum Stichwort Agrardiesel: Lieber Kollege Wilhelm Wir sind nicht ideologisch verbohrt. Trotz Haushalts-
Priesmeier, danke für die Vorlage. Wir leisten unseren zwängen setzen wir die Förderung des Bundespro-
Beitrag zur Ausfinanzierung der Agrardieselvergünsti- gramms Ökologischer Landbau und andere Formen
gung. Wir entlasten damit unsere Betriebe und machen nachhaltiger Landwirtschaft fort. Wir wollen unabhän-
sie in Europa wettbewerbsfähiger. Wir können nicht so gig von der Produktionsausrichtung alle Marktchancen
tun, als wären wir auf einer Insel der Glückseligen. Ich nutzen. Ich plädiere einfach dafür – das ist in unserer
glaube, das solltet ihr zur Kenntnis nehmen. Wie ihr im mündigen Gesellschaft auch vernünftig –, dass der Ver-
Zusammenhang mit diesen Fragen zu landwirtschaftli- braucher selbst entscheiden soll, was er will. Das ist ein
chen Betrieben steht, wurde vorhin deutlich. Ich kann deutlicher Unterschied zwischen der rechten und der lin-
nur sagen: Mit uns geht das nicht. Ihr wollt schröpfen, ken Seite: Sie wollen Gängelung, wir schaffen die Vo-
wir schaffen Lösungen. Mit uns ist letztlich Verlässlich- raussetzungen dafür, dass die Menschen eigene Ent-
keit gewährleistet. scheidungen treffen können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von der Opposition, da dies
bei meinem Vorredner deutlich wurde, habe ich eine
Das nächste Stichwort ist die GAK: Bereits im lau- Bitte: Hören Sie endlich auf, die nachhaltig wirtschaf-
fenden Haushaltsjahr 2011 wurde die GAK auf 600 Mil- tenden, konventionellen Betriebe zu verunglimpfen!
(B) lionen Euro gekürzt. Diese Summe wird für den Haus- (D)
halt 2012 fortgeschrieben. Diese Kürzung war für uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ein schmerzlicher Schritt; das will ich überhaupt nicht Sie tun das nur, um einer Ihnen genehmen Betriebsform
verhehlen. Ich will aber an Folgendes erinnern. Denken einen gewissen Vorzug zu geben und letztendlich Ihre
Sie an die Zeit vor 2005. Unter Rot-Grün wurde die Klientel zu befriedigen. Das ist nicht in Ordnung. Ich
GAK regelrecht als Steinbruch genutzt, und zwar ohne mache das am Beispiel der Hennenhaltung deutlich. Wo-
Besserstellung der Betriebe. Diese Besserstellung haben hin führt einseitiger Tierschutz? Die Hennenhaltung in
wir schon allein durch den Agrardiesel erreicht. Deutschland wurde auf ein neues Verfahren umgestellt.
Jetzt kommen 50 Prozent der Eier aus Deutschland; vor-
Stichwort Sozialversicherung: Unter dem Gesichts- her waren es 75 Prozent.
punkt der Titelhöhe ist dies der wichtigste Bereich in
unserem Haushalt. Über die 100 Millionen Euro an (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
Bundeszuschüssen für die landwirtschaftliche Unfallver- GRÜNEN]: Das hat Gründe!)
sicherung hinaus sind weitere 75 Millionen Euro einge- Der Rest kommt aus Ländern mit einem niedrigeren
stellt, die mit einem klaren Arbeitsauftrag verbunden Tierschutzstandard. Arbeitsplätze und Produktion wur-
sind, nämlich der Schaffung eines Bundesträgers der den exportiert, der Tierschutz ist schlechter.
landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Hierzu gibt es
erfreulicherweise einen parteiübergreifenden Konsens. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE
Ich hoffe, wir bekommen dies im kommenden Halbjahr GRÜNEN]: Daran seid ihr schuld!)
gut über die Bühne. Wir stellen uns dieser Aufgabe und Dann habt ihr einen Antrag in den Bundesrat einge-
werden dafür sorgen, dass bei diesem Übergang insbe- bracht, dass ihr die Übergangszeit für die Kleingruppen-
sondere die bisherigen Leistungen der regionalen Träger haltungen verkürzen wolltet. 2010 sind die letzten Ställe
berücksichtigt werden. gebaut worden. 2020 soll für diese Ställe ein Verbot gel-
ten.
Stichwort Verbraucherpolitik: Wir folgen weiter unse-
rer Strategie, den eigenverantwortlich handelnden Ver- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
braucher zu stärken. Meine Kollegin Mechthild Heil Weil ihr die Zeit verschlafen habt!)
wird gleich detaillierter auf unsere Erfolge eingehen.
Das ist ein Angriff auf Eigentum. Kommen Sie zur Ver-
Herr Haustein hat vorhin gesagt, wie wir die Stiftung
nunft zurück! Bringen Sie diese Menschen und diese Be-
Warentest und auch die Deutsche Stiftung Verbraucher-
triebe nicht in Existenznöte!
schutz unterstützt haben. Damit machen wir die Verbrau-
cherberatung unabhängiger, und wir stärken den Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Franz-Josef Holzenkamp
(A) Eines möchte ich klarstellen: Dort, wo es problemati- Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): (C)
sche Bereiche gibt, sind wir natürlich unterwegs, um uns Ja. – In einer nie gekannten Vielfalt und in höchster
der Probleme anzunehmen und sie zu beseitigen. Das Qualität warten die Nahrungsmittel in den Supermarkt-
zeigt sich auch am hohen Haushaltsansatz für unsere regalen, allen Krisen zum Trotz. Damit das so bleibt, be-
Ressortforschung. Dass wir mehr Kommunikation be- darf es einer verlässlichen bürgerlichen Politik. Meine
treiben müssen, zeigt sich auch im Charta-Prozess. Wir Damen und Herren, Sie wissen: Das kann nur Schwarz-
müssen Dinge neu erklären. Wie geht Landwirtschaft? Gelb.
Viele Menschen wissen das nicht mehr. Zum Fleisches-
sen gehört auch, dass Tiere getötet werden. Man muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
manchen Menschen tatsächlich erklären, dass Wurst und chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
Fleisch nicht in der Kühltheke geboren werden. Wir wol- GRÜNEN)
len den Charta-Prozess deshalb zu einem besseren Dia-
log nutzen. Miteinander reden ist immer besser, als über- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
einander zu reden. Das Wort hat nun Rolf Schwanitz für die SPD-Frak-
tion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Agrarexporte wurden eben gerade angesprochen.
Ich lobe die Exportförderung des BMELV. Sie ist hoch- Rolf Schwanitz (SPD):
gradig erfolgreich mit unseren fantastischen deutschen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Produkten. Wir lassen uns das von euch, insbesondere Herren! Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf
von den Grünen, nicht vermiesen. des Einzelplans 10, den Entwurf des Haushalts für 2012
von Frau Ministerin Aigner.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zunächst einmal möchte ich feststellen: Er beinhaltet
Nennen Sie richtige Zahlen! 75 Prozent der Agrar- wenig Neues.
exporte werden innerhalb Europas gehandelt. Bei den
Drittländern spielen insbesondere die Länder Russland, (Mechthild Heil [CDU/CSU]: Kontinuität ist
Schweiz und USA eine Rolle. Es sind nicht die Entwick- gefragt!)
lungsländer, die Sie immer wieder nennen. Das ist ein- Es gibt wenige Überraschungen.
fach falsch. Bleiben Sie bei der Wahrheit!
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er ist
Auch wir Deutschen müssen unseren Beitrag zur Si- eben nachhaltig!)
(B) (D)
cherung der Welternährung leisten. Es ist einfach so,
dass nicht alle Produkte in allen Ländern wachsen. So Im Gegenteil, muss ich sagen. Er knüpft an schlechte
einfach ist das. Eigentlich müsste das jeder verstehen Traditionen der Vorjahre an.
können. (Beifall bei der SPD)
GAP wurde angesprochen. Ich habe ein Problem mit Das Markenzeichen Ihrer Landwirtschaftspolitik wird
dem Greening, so wie es ausgestaltet wird. Das will ich auch 2012 sein: Fehlanzeige, wenn es um echte Struktur-
überhaupt nicht verhehlen. Vor allen Dingen wird mit politik geht. Steuergelder werden für passive Gießkan-
diesen Ansätzen den globalen Herausforderungen nicht nensubventionen verpulvert. Das ist nach wie vor Ihr
Rechnung getragen. Man fällt zurück in Flächenstillle- Markenzeichen.
gungen und veraltete Instrumentarien. Das bringt so
nichts. Meine Damen und Herren von der Opposition, (Beifall bei der SPD)
ich unterstelle Ihnen: Sie wollen Umverteilungspolitik. Ich will noch einmal daran erinnern – Kollege
Das ist Klientelpolitik. Priesmeier hat das schon getan –: Unter dem Deckman-
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tel der Hilfe für die Milchbauern sind 2010 400 Milli-
DIE GRÜNEN) onen Euro ausgegeben worden. Für dieses Jahr sind da-
für noch einmal 300 Millionen Euro vorgesehen. Diese
Setzen Sie sich doch bitte für die gesamte Landwirt- Mittel werden mit der Gießkanne über die Fläche ver-
schaft ein! teilt. Ich nenne die Stichworte „Grünlandprämie“ und
„Kuhprämie“. Außerdem gibt es zusätzliche Zuschüsse
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung, mit denen
Ich halte fest: Wir haben eine Land- und Ernährungs- die Beiträge heruntersubventioniert werden. Die Agrar-
wirtschaft, die hochinnovativ, hochleistungsfähig und dieselsubvention – auch das ist angesprochen worden –
sehr erfolgreich ist. Daraus resultiert: Nahrungsmittel wird dauerhaft fortgesetzt. Das entspricht einem Ausfall
sind noch nie so günstig gewesen wie heute. Ja, wir ha- von Steuermitteln in Höhe von 260 Millionen Euro Jahr
ben auch eine soziale Verantwortung. für Jahr.
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Verlässlichkeit!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
All das ist nicht problembezogen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende Ihrer Rede
kommen. (Mechthild Heil [CDU/CSU]: Doch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14665
Rolf Schwanitz
(A) Das Geld wird nur in die Fläche ausgeschüttet, ohne dass Auch im Bereich der Verbraucherpolitik fehlt echte (C)
strukturelle Überlegungen dahinterstecken. Diese Aus- Reformpolitik. Ich weiß nicht, warum Sie sich bezüglich
gaben haben keine Investitionseffekte. Das sind rein der Stiftung Warentest auf die Schulter klopfen. Die Zu-
konsumtive Subventionen. Das zielt an den strukturellen schüsse werden überproportional gekürzt. Die Aktion,
Herausforderungen vorbei. die Sie bezüglich des Stiftungskapitals aufgelegt haben,
(Beifall bei der SPD) erweist sich schlicht und einfach als das, was wir immer
befürchtet haben, nämlich als eine Kürzung der Mittel
Natürlich war das nicht zum Nulltarif zu haben; inso- bei der Verbraucherpolitik.
fern blieb mein Vorredner redlich. Es sind Kürzungen
vorgenommen worden. Das musste gegenfinanziert wer- (Beifall bei der SPD – Heinz-Peter Haustein
den. Die Agrardieselsubvention schlug in der Größen- [FDP]: Stimmt doch gar nicht!)
ordnung von 170 Millionen Euro im wichtigen Bereich Auch bei der Deutschen Stiftung Verbraucherschutz
der Investitionsmittel negativ zu Buche. Die Gemein- fehlt der Ministerin jeder Wille zur Nachhaltigkeit. Er-
schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des höhung des Stiftungskapitals 2012? Fehlanzeige. Das
Küstenschutzes“ ist im Keller. Das Niveau von 2010 war eine einmalige Aktion. Gibt es im Haushalt 2012 ei-
wird um 110 Millionen Euro unterschritten. Vor allen nen Querverbund zu den Strafgeldern des Bundeskartell-
Dingen im wichtigen Sachgebiet „Verbesserung der amtes? Fehlanzeige. Davon ist nichts zu erkennen. Ich
ländlichen Strukturen“ ist richtig zugelangt worden. Das fordere Sie deshalb hier noch einmal auf: Gestalten Sie
ist die Situation. endlich eine verursachergerechte Verbraucherpolitik in
(Beifall bei der SPD) Ihrem Bundeshaushalt!
Wer gedacht hat, dass sich der Umstand, dass weniger (Beifall bei der SPD)
Mittel für Strukturpolitik und mehr Mittel für Gießkan- Schaffen Sie einen Querverbund zu den Strafgeldern des
nensubventionen ausgegeben werden, in 2012 ändert, Bundeskartellamtes! Das wäre ein innovatives Signal bei
muss bitter enttäuscht feststellen: Das ist nicht so. Bei der Finanzierung der Verbraucherarbeit, vor allen Din-
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar- gen ein Signal an die Sünder im industriellen Bereich.
struktur und des Küstenschutzes“ gibt es keine Verände-
rung. Die Haushaltsmittel bleiben auf dem abgesenkten (Beifall bei der SPD)
Niveau des Vorjahres: 0 Euro Veränderung in diesem
Beim Thema Fehlanzeige kann ich die dm-Anzeigen
Haushaltsentwurf gegenüber 2011.
nicht aussparen. Frau Ministerin, das wird Sie nicht
Bei den Gießkannensubventionen passiert das, was überraschen. Fangen wir einmal mit dem Positiven an.
Kritiker schon früher befürchtet haben: Obwohl das So- Dass Sie diese Anzeigenserie zurückgezogen haben, war
(B) (D)
fortprogramm ausgelaufen ist, obwohl in diesem Jahr eine richtige Entscheidung. Aber dass Staatssekretär
nach zwei Jahren Schluss ist, wird das Ganze nicht aus- Müller sich in diesen Anzeigen quasi zum Werbeträger
laufen, sondern die zusätzlichen Subventionen im Be- einer Drogeriekette macht, empfinde ich schlicht und
reich der Unfallversicherung werden beibehalten. Das einfach als Sauerei. Das ist mit dem Amtsverständnis ei-
süße Gift der zusätzlichen Zuschüsse: nes Regierungsmitgliedes nicht zu vereinbaren.
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Da spricht ein (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/
echter Theoretiker! – Johannes Singhammer CSU: Das ist doch Blödsinn!)
[CDU/CSU]: Sollen die Bauern alleingelassen
werden?) Genauso unerträglich empfinde ich es, dass da sogar
noch eine Agentur eingeschaltet worden ist und dies aus
75 Millionen Euro aus der Gießkanne in 2012, 50 Mil- dem Titel „Informationen für Verbraucherinnen und Ver-
lionen Euro in 2013 und noch einmal 25 Millionen Euro braucher“ finanziert wurde.
in 2014. Summa summarum sind das 150 Millionen
Euro, die in diesen Bereich hineingepumpt werden, ohne (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Hört! Hört!)
dass strukturpolitische Schwerpunkte gesetzt werden. Diese sogenannten Tipps,
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die sind
CSU: Versichertenschutz ist das!) alle richtig!)
Das ist klar rückwärtsgewandte Agrarpolitik. Die also mehr Obst und Gemüse zu essen und im Sommer
Mittel für Strukturwandel, für Innovationen, für ökologi- mehr zu trinken, sind an Trivialität nun wirklich nicht
sche Ausrichtungen in der Landwirtschaft und für Inves- mehr zu überbieten. Das hat mit Verbraucherinformatio-
titionen werden quasi ausgetrocknet. Gießkannensub- nen überhaupt nichts zu tun und auch nichts mit
ventionen hingegen werden aufgebläht, und die Dauer INFORM. Wenn dies wieder einigermaßen ins Lot kom-
wird verlängert bis zum Gehtnichtmehr. Das war das men soll, dann fordern Sie bitte Ihren Staatssekretär auf,
Markenzeichen Ihrer Politik in den letzten beiden Jah- er möge das aus seinen Dienstbezügen bezahlen, damit
ren. Das wird auch das Markenzeichen Ihrer Politik in wieder Ordnung herrscht.
2012 sein.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD –
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Mit Ihnen
garantieren wir!)
macht keiner eine solche Anzeige! Der pure
Das habe ich vermutet, Herr Schirmbeck. Neid!)
14666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Rolf Schwanitz
(A) Darüber und über viele andere Dinge mehr müssen Das ist nur ein Schritt zur Harmonisierung eines Faktor- (C)
wir reden, damit das Jahr 2012 nicht zu einem verlore- einsatzes. Das hat mit Subventionierung gar nichts zu
nen Jahr für die Verbraucher und für die Landwirte in tun. Wenn die französischen Bauern bisher noch nicht
Deutschland wird. 1 Cent Agrardieselsteuer gezahlt haben, der Steuersatz,
den die deutschen Bauern zu zahlen haben, aber bei
Herzlichen Dank. 45 Prozent liegt, dann war da etwas nicht in Ordnung.
(Beifall bei der SPD) Die Bauern bedanken sich ganz herzlich bei der jetzigen
christlich-liberalen Regierung. Vielen Dank, Frau Aigner!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Das Wort hat nun Edmund Geisen für die FDP-Frak- CDU/CSU – Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/
tion. DIE GRÜNEN]: Harmonisiert doch mal eure
Sozialpolitik!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wenn wir die unternehmerische Landwirtschaft im
der CDU/CSU)
Interesse der Gesellschaft unterstützen wollen, dann
muss die Politik dafür Sorge tragen, dass die Landwirt-
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): schaft von den Erträgen ihrer Arbeit auch existieren
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und kann.
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich meine,
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das kann
die Zukunft Deutschlands wird wesentlich von einer pro-
sie aber nicht!)
sperierenden und florierenden Landwirtschaft geprägt
sein. Die christlich-liberale Koalition, insbesondere wir Dann will die Landwirtschaft gar keine Subventionen.
von der FDP, setzen voll und ganz auf eine unternehme-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
rische, effiziente Landwirtschaft, die ihr Einkommen am
der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜND-
Markt verdienen kann.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn nun?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das ist im Sinne der betroffenen Landwirte und auch im
der CDU/CSU) Sinne der Gesellschaft.
Das heißt auch, dass wir eine standortangepasste nach- Lassen Sie mich betonen: Wettbewerbsgerechtigkeit
haltige Produktion mit exzellenten Produktqualitäten durch Harmonisierung staatlicher Vorgaben auf europäi-
wollen. scher Ebene, kostendeckende Preise und angemessene
(B)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Honorierung gesamtgesellschaftlicher Leistungen ma- (D)
chen jegliche Subventionen überflüssig und entlasten da-
Eine Landwirtschaft am Gängelband des Staates hat mit auch die Staatskasse.
noch nie funktioniert; dafür gibt es viele Beispiele. Ja,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
auch die speziellen deutschen Vorgaben der Vorgänger-
CDU/CSU – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]:
regierungen im vergangenen Jahrzehnt haben unsere
Na ja! Ganz so einfach ist das ja wohl nicht!)
Landwirtschaft eher geschwächt. Wichtige Branchen
wurden ins Ausland verlagert und die Produkte dann im- Die christlich-liberale Regierung hat anerkannt: Zur
portiert. Ein sehr anschauliches Beispiel ist – das wurde Harmonisierung gehört auch die Anpassung von Vor-
eben erwähnt – die Produktion von Eiern. Aber auch an- schriften, zum Beispiel in den Bereichen Pflanzenschutz,
dere Produktionslinien konnten den Sondervorschriften Tierschutz und Umweltschutz. Daran müssen wir arbei-
und politischen Sonderwegen Deutschlands nicht stand- ten. Auf rein nationaler Ebene werden jetzt endlich auch
halten. die Hausaufgaben gemacht, was früher nicht gemacht
wurde. Wir werden die landwirtschaftlichen Sozialkas-
Es muss, meinen wir, Schluss sein mit der ausnahms- sen endlich zukunftsfest machen. Die immer kleiner
losen Klientel-, Nischen- und Skandalpolitik in der werdende Solidargemeinschaft in der Landwirtschaft
Landwirtschaft. Die christlich-liberale Regierung hat er- kann ihre Eigenständigkeit auf Dauer nur mit einem
kannt, dass die Wettbewerbsverzerrungen abgebaut wer- Bundesträger sichern. Eine solche von uns in die Wege
den müssen, um unserer Landwirtschaft gerecht zu wer- geleitete landwirtschaftliche Sozialreform führt mittel-
den. Harmonisierung nationaler Vorgaben mit denen auf fristig zu Beitragsstabilität und zu Millioneneinsparun-
EU-Ebene, das ist unsere Devise. gen im Haushalt. Hier, denke ich, gibt es über die Par-
Wir waren schon erfolgreich. Von meiner FDP-Frak- teigrenzen hinweg Konsens.
tion erstmals vor vier Jahren eingefordert – das wissen Das noch in 2009 von der christlich-liberalen Koali-
viele hier im Haus –, hat die christlich-liberale Regie- tion beschlossene Konjunkturprogramm hat die Krise
rung mit Ministerin Aigner eine Angleichung der Agrar- der Landwirtschaft spürbar abgeschwächt. Lassen Sie
dieselbesteuerung durchgesetzt, ebenso deren Versteti- mich nur einige Worte zur Sonderstellung des Wirt-
gung. Das ist Geld, das den Bauern zusteht. Das ist keine schaftszweiges Landwirtschaft sagen.
Subventionierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der CDU/CSU) Aber nur wenige Worte, bitte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14667

(A) Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist (C)
Nur wenige Worte. – Die Landwirtschaft ist keine die prosperierende Landwirtschaft!)
Branche wie jede andere. Sie ist eine Werkstatt unter Schuld daran ist meiner Meinung nach Ihre export-
freiem Himmel. Was das bedeutet, haben wir dieses Jahr orientierte Politik. Sie zielen vor allem auf den Verkauf
gesehen. Deswegen müssen wir uns unbedingt daranma- von möglichst billigen Agrarrohstoffen ab.
chen, Risikoausgleichsmechanismen zu schaffen und zu
installieren. Auch das wird die christlich-liberale Koali- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
tion tun und die Landwirtschaft damit zukunftsfest ma-
chen. Sie ergreifen keinerlei Maßnahmen, um die Märkte im
Interesse der Erzeuger zu regulieren, damit diese endlich
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) faire Preise für ihre Produkte bekommen.
Wer heute den Agrarstandort Deutschland fit hält, sichert (Beifall bei der LINKEN)
morgen Ernährung und Energie. Das ist unser politischer
Der entscheidende Grund, weshalb wir fast 3,7 Milliar-
Kompass, und davon zeugt auch dieser Haushaltsent-
den Euro für die landwirtschaftliche Sozialpolitik ausge-
wurf.
ben müssen, ist folgender – hören Sie gut zu –: Die Bäu-
Herzlichen Dank. erinnen und Bauern haben schlicht und ergreifend kein
Geld, um sich selbst ausreichend sozial abzusichern. Das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist die Wahrheit über Ihre falsche Agrarpolitik.
(Beifall bei der LINKEN – Franz-Josef
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Holzenkamp [CDU/CSU]: Also Strukturen
Das Wort hat nun Alexander Süßmair für die Fraktion einfrieren?)
Die Linke.
Im Osten der Republik bereiten Sie den landwirt-
(Beifall bei der LINKEN) schaftlichen Betrieben zusätzliche Probleme. Dort ist die
BVVG, die Nachfolgerin der Treuhand, Motor der Preis-
Alexander Süßmair (DIE LINKE): treiberei beim Verkauf ehemaliger volkseigener Flächen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das geschieht im Auftrag des Finanzministeriums. Auch
Herren! Der Entwurf des Agrarhaushalts 2012 zeigt für durch die Fehlanreize im Rahmen der EEG-Förderung
mich, dass die Agrarpolitik der Bundesregierung weder großer Biogasanlagen haben Sie dazu beigetragen, dass
sozial gerecht noch ökologisch oder ökonomisch nach- die Pachtpreise steigen, und zwar in ganz Deutschland.
Diese Bodenpolitik ist sozial ungerecht und gefährdet
(B) haltig ist. die Existenz Tausender Familien in der Landwirtschaft. (D)
(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Haben Sie da
überhaupt hineingesehen? – Johannes (Beifall bei der LINKEN)
Singhammer [CDU/CSU]: Haben Sie den Wir von der Linken fordern: Erstens. Wir brauchen
überhaupt gelesen?) eine Förderung von regionalen Kreisläufen.
Das werde ich auch belegen. Zweitens. Wir brauchen eine Stärkung der Markt-
macht der Erzeuger.
Im Agrarsektor haben wir derzeit eigentlich mit ge-
nau denselben Problemen zu kämpfen wie – das haben Drittens. Die Förderung von Exporten muss gestri-
wir heute thematisiert – im Rahmen der Finanz- und chen werden, und wir brauchen eine Stärkung des Bin-
Wirtschaftskrise im Euro-Raum und weltweit. Die Ein- nenmarktes.
kommen der Bäuerinnen und Bauern sowie der Beschäf-
tigten in der Landwirtschaft sind viel zu gering. (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Wie?)

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wollen Viertens. Wir brauchen eine Regulierung der Märkte;
Sie auch beim Agrardiesel kürzen?) denn der totale Markt hat in der Landwirtschaft genauso
versagt wie in der sonstigen Wirtschaft und im Finanz-
Um 20 Prozent sind seit der Liberalisierung der Gemein- sektor.
samen Agrarpolitik die Erzeugerpreise gesunken. Das
(Beifall bei der LINKEN)
Durchschnittseinkommen pro Arbeitskraft lag im Ge-
schäftsjahr 2009/2010 um 34 Prozent unter dem durch- Fünftens. Wir brauchen ein Verbot der Spekulation
schnittlichen Vergleichsbruttolohn. mit Lebensmitteln.
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: (Beifall bei der LINKEN – Franz-Josef
Lösung?) Holzenkamp [CDU/CSU]: Wie? – Zuruf von
der CDU/CSU: Also keine Hamsterkäufe?)
Im besten Geschäftsjahr der letzten Jahre – das war
2007/2008 – lag das Einkommen immer noch 5 Prozent Wir von der Linken machen auch konkrete Vor-
unter dem gesellschaftlichen Durchschnittsbruttolohn. schläge. Wir fordern, den Ökolandbau zu stärken. Nur
Das alles können Sie im Agrarbericht der Bundesregie- 2,6 Prozent der Forschungsmittel in der Landwirtschaft
rung aus diesem Jahr nachlesen; damit Sie nicht glauben, gehen derzeit in die Forschung für den Ökolandbau. Das
das seien nur linke Parolen. ist ein Witz.
14668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Alexander Süßmair
(A) (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Soll das Agrarministerium das Bundesprogramm Ökologi- (C)
da alles rein?) scher Landbau und andere Formen nachhaltiger Land-
wirtschaft gemacht. Nun frage ich mich ganz besorgt:
Die Linke fordert die Erhöhung des Anteils auf 20 Pro- Was, wenn nicht der Ökolandbau, ist die Form der nach-
zent. Außerdem fordern wir, dass Sie den Zuschuss zum haltigen Landwirtschaft? Nur mit dem Ökolandbau wer-
Bundesprogramm Ökolandbau von 16 Millionen Euro den Böden, Gewässer, Klima und Biodiversität ge-
auf 25 Millionen Euro aufstocken. Das könnten Sie fi- schützt. Auch der Tierschutz spielt dabei eine ganz
nanzieren, indem Sie zum Beispiel die Exportförderung entscheidende Rolle. Das heißt, der Ökolandbau wird
in Höhe von 5 Millionen Euro streichen. den globalen Herausforderungen und den gesellschaftli-
(Beifall bei der LINKEN – Johannes chen Anforderungen gerecht und ist damit eine nachhal-
Singhammer [CDU/CSU]: Und die Arbeits- tige und zukunftsfähige Form der Landwirtschaft.
plätze im Export?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir fordern auch, dass Sie landwirtschaftliche Be-
triebe fördern, die ihre Maschinen auf reines Pflanzenöl Aus diesem Grunde ist der Ökolandbau auch das Leit-
umstellen. Dann könnten die landwirtschaftlichen Be- bild für eine Landwirtschaft der Zukunft weltweit. Das
triebe ihren Treibstoff selbst produzieren. Davon hätten hat schon seinerzeit Frau Künast erkannt.
sie deutlich mehr als von Ihrer Beimischungspolitik bei (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Wer? – Georg
E 10 oder der Steuerbefreiung des Agrardiesels. Das Schirmbeck [CDU/CSU]: Frau Künast? Wer
wäre nachhaltig und würde nicht nur den Mineralölkon- ist das?)
zernen nutzen.
(Beifall bei der LINKEN) Sie hat das Ziel gesetzt, einen Flächenanteil von 20 Pro-
zent für den Ökolandbau zu erreichen. Der Rat für Nach-
Wir von der Linken unterstützen auch die Forderung haltige Entwicklung hat das 2001 unterstrichen. Das In-
des Bauernverbandes nach einer steuerfreien Risiko- teressante ist, dass der Rat für Nachhaltige Entwicklung
rücklage für die Landwirtschaft. Damit könnten Ernte- gerade vor einem Monat erklärt hat: Wir müssen mehr
ausfälle und Verluste wie zum Beispiel in diesem Jahr tun, wenn wir einen Anteil des Ökolandbaus von 20 Pro-
durch Ehec aufgefangen werden. Dann müssten wir hier zent erreichen wollen; denn Ökolandbau ist der Gold-
nicht alle Jahre wieder Nothilfeprogramme beschließen. standard. Ökolandbau ist das Leitbild. Darüber hinaus
hat der Rat angeregt, 20 Prozent der Agrarforschungs-
(Beifall bei der LINKEN) mittel für den Ökolandbau einzusetzen.
Mein Fazit Ihrer Agrarpolitik lautet: Sie wendet sich
(B) (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Es gibt auch (D)
gegen die Bäuerinnen und Bauern, sie bringt nichts für
Leute, die haben nicht nur Gold im Geldbeu-
die Verbraucherinnen und Verbraucher, und sie hat inter-
tel!)
national katastrophale Auswirkungen für die Menschen
in den Entwicklungsländern. Wir brauchen eine sozial Angesichts des Agrarhaushalts der Bundesregierung
gerechte und ökologisch nachhaltige Agrarpolitik. Dafür sind wir davon Potenzen entfernt.
steht die Linke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck Nehmen Sie endlich die ideologischen Scheuklappen
[CDU/CSU]: Das ist doch alles Quatsch! Das ab!
ist doch Unsinn, was Sie da sagen!) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Folgen Sie den Empfehlungen des Rates für Nachhaltige
Cornelia Behm hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Entwicklung. Dafür gibt es eine haushaltsneutrale Lö-
Grünen das Wort. sung, nämlich die Neuausrichtung der BioÖkonomie-
Strategie. Darin stecken immerhin 2,4 Milliarden Euro,
verteilt über sechs Jahre. Der Großteil davon kommt
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht aus dem BMELV-Haushalt, sondern aus dem
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! BMBF-Haushalt.
Nachhaltigkeit ist jetzt in aller Munde. Wir haben das
gerade bei der Rede von Herrn Holzenkamp erlebt, der Eine weitere Empfehlung des Rates für Nachhaltige
Nachhaltigkeit zum Maßstab der christlich-liberalen Entwicklung ist eine Vermarktungsoffensive für den
Agrarpolitik erklärt hat. Die Bundesregierung hat einen ökologischen Landbau. Dafür haben wir ein hervorra-
Beirat für nachhaltige Entwicklung eingesetzt, wir haben gendes Instrument, nämlich das Bundesprogramm Öko-
im Bundestag einen Beirat für nachhaltige Entwicklung, logischer Landbau und andere Formen nachhaltiger
es gibt eine Nachhaltigkeitsstrategie, und in alle Geset- Landwirtschaft, BÖLN. Streichen Sie das N, machen Sie
zen schreiben wir etwas zur Nachhaltigkeit. Aber wie endlich wieder BÖL daraus. Stoppen Sie Ihre Irrfahrt!
sieht die politische Praxis aus? Reden Sie nicht nur nachhaltig, sondern handeln Sie
auch nachhaltig!
Es gab einmal ein Bundesprogramm Ökologischer
Landbau, finanziert vom Agrarministerium. Daraus hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14669

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: und Bürger, sondern auch deren Bereitschaft, freiwillig (C)
Die Kollegin Mechthild Heil hat für die Unionsfrakti- und aktiv an klareren und verständlicheren Lebensmit-
onen das Wort. telinformationen mitzuarbeiten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In der kurzen Zeit seit Bestehen dieser Seite haben
sich bereits viele Lebensmittelhersteller mit Produktbe-
schwerden auseinandergesetzt. Sie haben begonnen, ihre
Mechthild Heil (CDU/CSU): Verpackungen verständlicher zu gestalten oder auch
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und durch ihre eigene gute Argumentation mehr Verständnis
Kollegen! Die Opposition ist nun einmal so, wie sie ist: bei ihren Endkunden zu erzielen.
richtungslos und wirr im Vortrag,
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wer das
(Lachen bei der SPD) glaubt, wird selig!)
unpräzise und populistisch in der Sache. Mit Verlaub, Einmal mehr sehen wir, dass Kunden und Hersteller sich
was Sie hier heute Abend der Öffentlichkeit vormachen, eben nicht wie feindliche Brüder gegenüberstehen, wie
ist eine reine Mogelpackung: große Aufmachung und im uns die linke Seite des Hauses immer glauben machen
Kern mehr Luft als Ware! will.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Roland Claus [DIE LINKE]: Das heißt
neten der FDP) Schwestern und Brüder!)
Wären Sie ein Unternehmen in der Ernährungsbranche, Nein, Kunden und Hersteller sind auf ein vertrauensvol-
würde man Ihnen von der Verbraucherzentrale die rote les Miteinander angewiesen. Das Internetportal „Klar-
Karte zeigen und Ihnen eine Abmahnung zukommen las- heit und Wahrheit“ ist ein guter Schritt in diese Rich-
sen. tung.

(Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Sehr Vor allem unserer Verbraucherschutzministerin Ilse


witzig!) Aigner gebührt großer Dank, dieses Projekt unbeirrt von
Kritik zum Erfolg geführt zu haben. Danke sehr, sehr
Bei uns ist drin, was draufsteht: Wir haben im letzten verehrte Frau Aigner.
Haushalt die Ausgaben für den Verbraucherschutz um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
30 Prozent erhöht. Davon rücken wir auch heute nicht
ab. Nein, wir legen sogar noch etwas drauf, weil wir, die Ich danke Ihnen im Namen aller Verbraucher, die Klar-
CDU/CSU und die FDP, um die Bedeutung der Verbrau- heit suchen, aber auch im Namen aller Unternehmer, die
(B) cherpolitik wissen und uns für eine echte Zukunftsvor- an aufgeklärten Kunden Interesse haben. Dank sage ich (D)
sorge für die Verbraucherinnen und Verbraucher interes- aber auch für die mediale Begleitung dieses Prozesses.
sieren. Die nicht ganz unberechtigte Angst einiger Hersteller,
mit Produkten an den Pranger gestellt zu werden, die
Wir haben das Stiftungsvermögen der Stiftung Wa- zwar rechtlich einwandfrei sind, aber für den Kunden
rentest um insgesamt 50 Millionen Euro erhöht. Wir dennoch missverständlich sein könnten, hat sich zum
haben die Stiftung Deutscher Verbraucherschutz mit Glück bis heute nicht bewahrheitet.
10 Millionen Euro unterstützt. Rechnet man diese Ein-
zelzahlungen heraus – was Sie heute Abend nicht getan Ob Ernährung, Gesundheit, Finanzanlagen oder In-
haben –, dann stellt man fest, dass der Etat für die Ver- formationsrechte, Verbraucherschutz ist für uns von der
braucherpolitik 2012 um weitere 6 Prozent anwächst. CDU/CSU keine Nischenpolitik. Im Jahr 2010, dem ers-
Bei allen Sparanstrengungen im Zuge der Schulden- ten Jahr der Ministerin Aigner, wurde sehr vieles ange-
bremse setzen wir in der Verbraucherpolitik ein klares stoßen und auf den Weg gebracht. Es vergeht seitdem
Zeichen. kein Monat, in dem wir von der Union nicht eine ver-
braucherschutzpolitische Initiative auf den Weg gebracht
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: haben.
So ist es!) (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Angekündigt,
Wie moderner und zielgenauer Verbraucherschutz ja!)
aussieht und wie er bei uns funktioniert, sehen Sie am Das jetzt verschärfte Verbraucherinformationsgesetz ist
Beispiel eines Projektes, das nicht einmal 1 Million Euro die umfangreichste und ambitionierteste Verbraucher-
gekostet hat: Lebensmittelklarheit.de. Durchschnittlich schutzoffensive seit Jahren. Neben Informationen zu Le-
gehen jeden Tag etwa 100 000 Bürger auf diese Seite. bensmitteln und Kosmetika können Verbraucher künftig
Sie ist von unserem Bundesministerium finanziert. Die auch Auskunft über Spielzeug, Haushaltsgeräte oder an-
Verbraucherzentrale Hessen betreut die Seite. Es gibt In- dere technische Produkte erhalten.
formationen über die Aufmachung und die Etikettierung
von Lebensmitteln. Fragen können gestellt werden. Mit der Button-Lösung sind wir beim digitalen Ver-
Auch die eine oder andere Unklarheit kann dort beseitigt braucherschutz in Europa führend.
werden. Allein in den ersten Tagen gab es geradezu ei- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist ja nicht
nen Ansturm von 20 Millionen Zugriffen auf diese Seite. wahr! Die Franzosen haben das schon längst!)
Jeden Tag erreichten die Verbraucherschützer bis zu
300 Anfragen und Produktmeldungen. Das zeigt nicht Vermeintlich kostenlos ein Rezept heruntergeladen zu
nur das große Informationsinteresse der Bürgerinnen haben und in Wahrheit ein Jahresabonnement für eine
14670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Mechthild Heil
(A) Zeitschrift abgeschlossen zu haben, gehört nun der Ver- Denn angesichts der Verbraucherpolitik dieser Bundes- (C)
gangenheit an. regierung ergibt sich folgendes Bild: Die Verbraucher-
politik hat für die schwarz-gelbe Bundesregierung wenig
Beim Anlegerschutz geben wir mit den Produktinfor- Bedeutung.
mationsblättern den Kunden eine gute Möglichkeit an
die Hand, Angebote für ihre Geldanlage besser zu ver- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
stehen und die Angebote untereinander wirklich zu ver- NEN]: Das ist wohl wahr!)
gleichen. Die bisher nur für den Bankensektor geltende
Die Verbraucherpolitik der schwarz-gelben Bundesre-
Dokumentationspflicht werden wir auch auf den Grauen
gierung hat kein Konzept. Die Verbraucherpolitik der
Kapitalmarkt, also auf alle Anlageberater, ausweiten.
schwarz-gelben Bundesregierung besteht vor allen Din-
Die Weltwirtschaftskrise hat uns nachdrücklich ge- gen aus Worten und weniger aus Taten. Sie nutzt Worte
zeigt: Verbrauchervertrauen ist die Voraussetzung für und Bilder. Das dient weniger den Verbrauchern als der
eine gesunde Volkswirtschaft. Weil wir das wissen, stär- PR in eigener Sache.
ken wir die Verbraucher und damit unsere Wirtschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Mit dem neuen Telekommunikationsgesetz beenden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
wir endgültig die Beutelschneiderei mit teuren Warte- Verbraucherpolitik fällt bei dieser Bundesregierung nur
schleifen. „unter ferner liefen“. Denn im Haushaltsentwurf 2012
Wir wollen einen flächendeckenden Ausbau des sind ganze 3 Prozent des gesamten Etats für verbrau-
Breitbands. Menschen auf dem Land sind für mich keine cherpolitische Maßnahmen vorgesehen. Das im Einzel-
Verbraucher zweiter Klasse. plan 10 enthaltene Tortendiagramm weist für die Ver-
braucherpolitik gerade einmal 148,6 Millionen Euro aus;
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ist der kleinste Anteil. So viel gibt man für die Ver-
Wir setzen uns für weniger Preisschwankungen an braucherpolitik aus. Sogar für den Bereich „Weitere
den Zapfsäulen ein. Zu viele Kunden fühlen sich von Ausgaben“ sind 447,9 Millionen Euro vorgesehen. Das
den manchmal stündlich wechselnden Preisen an den ist dreimal so viel wie das, was für die Verbraucherpoli-
Tankstellen an der Nase herumgeführt. tik ausgegeben werden soll.

Ein besserer Schutz der persönlichen Daten im Netz Die Verbraucherpolitik der Bundesregierung hat kein
und vieles andere steht bei uns auf der Agenda. Konzept. Ihre Maßnahmen sind nicht an der Realität der
Verbraucher ausgerichtet. Wir von der SPD-Fraktion for-
Unserem Ziel – schnellere und zielgenauere Informa- dern deshalb den Ausbau einer verbraucherbezogenen
(B) tionen für den Verbraucher, keine staatliche Bevormun- Forschung. Wir fordern die Einführung eines wissen- (D)
dung, weniger Spielraum für die schwarzen Schafe auf schaftsbasierten Verbraucherchecks bei der Gesetzge-
dem Markt – sind wir in den letzten zwei Jahren ein bung. Bisher fehlen Daten über das tatsächliche Verhal-
deutliches Stück nähergekommen. ten von Verbrauchern, die Motive für die Produktwahl
und die Verarbeitung von Informationen. So weiß man
Vizepräsidentin Petra Pau: zum Beispiel auch zehn Jahre nach der Einführung der
Kollegin Heil, achten Sie bitte auf die Zeit. Riester-Produkte nicht, warum viele Menschen diese
Verträge nicht abschließen, warum sie die Zulage nicht
beantragen und warum sie nicht bis zur Rente „durch-
Mechthild Heil (CDU/CSU): sparen“. Wir fordern deshalb den Aufbau einer eigen-
Der vorliegende Haushaltsentwurf eröffnet uns die ständigen Forschungseinrichtung, die unter anderem
Möglichkeit, auf diesem Weg weiter voranzugehen. eine jährliche und repräsentative Verbrauchererhebung
durchführt. Sie soll die Grundlage für weitere Studien
Vielen Dank.
und einen Verbrauchercheck in der Gesetzgebung er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) möglichen.
Beim Verbraucherinformationsgesetz haben wir als
Vizepräsidentin Petra Pau: SPD in einem Entschließungsantrag erstmalig einen Ver-
Die Kollegin Drobinski-Weiß hat für die SPD-Frak- brauchercheck gefordert. Wir wollen, dass die sich in der
tion das Wort. Praxis offenbarenden Schwächen zum Anlass genom-
men werden, entsprechend nachzubessern. Obwohl seit
(Beifall bei der SPD)
Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2008 klar ist, dass die
Auskunftsmöglichkeiten für Verbraucher so stark einge-
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): schränkt sind, dass die Verbraucher sie kaum nutzen,
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- warten wir seit drei Jahren auf eine entsprechende No-
legen! Liebe Verbraucherinnen und Verbraucher auf den velle. Das, was uns bisher vonseiten der Bundesregie-
Rängen! Ich möchte gern ein bisschen Wasser in den rung bekannt ist, lässt leider befürchten, dass auch die
Wein gießen, den Frau Heil uns einzuschenken versucht Schwächen dieses Gesetzes wieder einmal nur unzurei-
hat. chend beseitigt werden sollen.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nach Auffassung der Bundesregierung soll der mün-
Oh nein!) dige Verbraucher allein die Verantwortung für ein nach-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14671
Elvira Drobinski-Weiß
(A) haltiges Konsumverhalten tragen. Dabei ist der Markt mit Die Verbraucherpolitik der schwarz-gelben Bundesre- (C)
der sogenannten Nachhaltigkeit für die Verbraucher un- gierung: wenige Taten, viele Worte und viel PR in eige-
durchschaubar geworden. Hinz und Kunz werben mit der ner Sache. Es wurde schon mehrfach darauf hingewie-
Nachhaltigkeit ihrer Produkte. Doch was steckt dahinter? sen. Viel wurde versprochen und nicht gehalten. Die
Wir fordern eine öffentlich zugängliche Datenbank, in der Seite www.lebensmittelwarnung.de ist immer noch im
Hersteller, die mit solchen Aussagen werben, ihre Krite- Aufbau. Das Verbrauchertelefon mit Lotsenfunktion
rien für soziale und ökologische Produktionsbedingun- existiert nach wie vor nicht. Ob Anlegerschutz oder
gen offenlegen. Spielzeugsicherheit, die Liste der leeren Versprechungen
ließe sich beliebig fortsetzen. Die PR des Ministeriums
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dagegen läuft auf Hochtouren. Einmal verkündet der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Parlamentarische Staatssekretär Allgemeinplätze, und
So werden nämlich die unterschiedlichen Nachhaltig- sein Konterfei lächelt freundlich von der gesponserten
keitsbegriffe für die Verbraucher vergleichbar. Das kann Anzeige.
zu einer einheitlichen Definition beitragen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Er macht
Wie Sie wissen, hat der Europäische Gerichtshof vor- einen guten Eindruck!)
gestern entschieden, dass nicht zugelassene Genkon- Ein anderes Mal lässt sich die Ministerin im Werbespot
strukte in Lebensmitteln nicht toleriert werden dürfen, auf der Internetseite einer Küchenfirma finden, oder es
egal ob absichtlich oder zufällig hineingelangt und unab- werden Projekte von Zuwendungsempfängern genutzt,
hängig vom Anteil. Im Klartext muss dies heißen: keine um die Arbeit des Ministeriums zu bewerben. Aus dieser
Aufhebung der Nulltoleranz für nicht zugelassene Kon- Ecke werden wir möglicherweise noch einiges hören.
strukte und kein Anbau von GVO-Pflanzen. Denn die Lieber wäre uns weniger PR, dafür mehr gute Politik für
Koexistenz ist ein Märchen. die Verbraucherinnen und Verbraucher.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Vielen Dank.
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Ausbreitung von GVO ist nicht kontrollierbar.
Doch stattdessen diskutiert man in der Bundesrepublik Vizepräsidentin Petra Pau:
über eine Kennzeichnungspflicht für die Produkte, die
Das Wort hat die Kollegin Dr. Happach-Kasan für die
irgendwie mit Gentechnik in Berührung gekommen
FDP-Fraktion.
(B) sind. Wir halten eine solche Kennzeichnung nur dann für (D)
sinnvoll, wenn der Verbraucher auf einen Blick erkennen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kann, ob gentechnisch veränderte Pflanzen genutzt wur-
den oder ob auf irgendeiner Produktionsstufe im Herstel- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
lungsprozess ein gentechnisch verändertes Enzym einge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
setzt wurde. Mehrheitsfähig – Frau Aigner, da muss ich Es sollte über diesem büttenreifen Beitrag der Kollegin
Ihnen leider widersprechen – ist diese Kennzeichnung Drobinski-Weiß nicht vergessen werden, dass wir hier
auf EU-Ebene sowieso nicht. Deshalb haben wir uns da- über das Feld Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
mals für die freiwillige Kennzeichnung „Ohne GenTech- cherschutz diskutieren. Ich danke dem Kollegen
nik“ auf nationaler Ebene starkgemacht. Die haben wir Priesmeier ausdrücklich, weil er festgestellt hat, dass es
von der SPD durchgesetzt. insgesamt in der Landwirtschaft gut läuft. Es läuft in der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Tat bemerkenswert gut.

Ich freue mich, dass Sie, Frau Aigner, uns dabei unter- Ich vermisse allerdings in den Beiträgen der Opposi-
stützt haben. Wir brauchen aber weiterhin Mittel für tion die Überlegung, dass eine Haushaltsdebatte nicht
diese Informationskampagne. nur darüber geführt werden sollte, wie die Gelder, die
von den Steuerzahlern erwirtschaftet werden, verteilt
Ob Lebensmittelkennzeichnung, Verbraucherrechte- werden. Es sollte auch darüber diskutiert werden, welche
richtlinie, Datenschutz oder Spielzeugsicherheit, wich- strukturellen Rahmenbedingungen wir schaffen. Die Op-
tige verbraucherpolitische Vorhaben – das wissen wir position ist etwas blass geworden. Wir haben Rahmen-
alle – werden in Brüssel verhandelt. Die Wirtschaft ist in bedingungen geschaffen, die es unserer Landwirtschaft
Brüssel bestens aufgestellt. Ihre Lobbyisten bauen ihre ermöglichen, ein gutes Einkommen zu erwirtschaften.
Präsenz in Brüssel massiv aus. Für die Zusammenarbeit Herr Priesmeier hat recht: Wir haben eine schlechte
der Verbraucherverbände auf EU-Ebene werden die Mit- Ernte. Deswegen werden wir darüber nachdenken, Di-
gliedsbeiträge der vzbv an die europäische Verbraucher- rektzahlungen schneller zu leisten, damit keine Liquidi-
organisation BEUC zwar aus dem Einzelplan 10 geför- tätsengpässe entstehen. Dies liegt im Interesse der Be-
dert, eine Vertretung für die spezifischen Interessen der triebe.
deutschen Verbraucher existiert jedoch nicht. Das, so
finden wir, muss sich schnellstens ändern. Ich vermisse bei der Kritik dessen, was gewesen ist
– Frau Drobinski-Weiß war offensichtlich nicht da, sonst
(Zuruf von der CDU/CSU: Das kann wohl hätte sie bemerkt, wie viel diese Bundesregierung be-
nicht wahr sein!) wegt hat –,
14672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Bundesregierung hat die Ehec-Krise sehr sachge- (C)
der CDU/CSU) recht bewältigt. Ich bin betroffen, dass wir 50 Tote zu
beklagen haben. Aber wir müssen auch feststellen, dass
dass man, wenn man gegen das Grünlandmilchpro- das Bundesgesundheitsministerium unter Herrn Bahr
gramm ist, sagt, wie den Landwirten in der Milchkrise und das Bundeslandwirtschaftsministerium unter Frau
hätte geholfen werden können. Dazu kam absolut nichts. Aigner mit der Taskforce ausgesprochen gut gehandelt
Der Haushalt dieser Bundesregierung folgt der Leitli- haben und dass wir diese Krise deswegen schnell been-
nie „Stabilität, Wachstum, Zukunftsfähigkeit“. Zukunfts- det haben.
fähigkeit ist das Thema. Das bedeutet im Bereich der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Landwirtschaft eine Steigerung von Effizienz. Wir müs-
sen das, was wir mit der GAP auf den Weg bringen, vor Im Bundesgesundheitsministerium sind bereits Konse-
dem Hintergrund der Steigerung der Effizienz der Land- quenzen für die Gesetzgebung daraus gezogen worden.
wirtschaft betrachten. An die Grünen gerichtet: Das gilt
Ich möchte noch auf die landwirtschaftliche Unfall-
auch für die Ökolandwirtschaft. Der Rat für Nachhaltige
versicherung eingehen. Dieses Thema wird uns in Zu-
Entwicklung hat ebenfalls gesagt: Bitte, liebe Ökobe-
kunft noch beschäftigen. Ich will einen Punkt ganz deut-
triebe, auch ihr müsst effizienter werden, als ihr es bisher
lich machen: Ich bin der Meinung, der Unfall, der nicht
wart. – Das ist eine Aufforderung an diese Betriebe. Es
geschieht, ist der beste Unfall. Deswegen müssen wir bei
reicht nicht, immerzu die bäuerliche Landwirtschaft
der landwirtschaftlichen Unfallversicherung darauf set-
hochzuhalten und Museumslandwirtschaft zu fordern.
zen, dass wir mehr Anreize zur Vermeidung von Unfäl-
Wenn wir die Welt ernähren wollen – dazu müssen auch
len, also zu Vorsorgemaßnahmen, schaffen, damit die
wir als Deutsche einen Beitrag leisten –, dann müssen
hohe Zahl der Unfälle im Bereich von Land- und Forst-
wir Effizienzsteigerungen auf den Weg bringen, dann
wirtschaft endlich effektiv gemindert wird.
darf es – das ist eine Forderung der FDP; ehrlich gesagt,
vermisse ich eine solche Forderung von der Linken – Danke schön.
auch keine Deckelung geben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wir sind
doch gegen eine Deckelung!) Vizepräsidentin Petra Pau:
– Das hat er leider nicht gesagt. Das hätte er sagen müs- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
sen. Schirmbeck für die Unionsfraktion.
(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das hat er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) (D)
auch gesagt!) neten der FDP)
– Nein, das hat er nicht.
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Wir müssen feststellen, dass wir in Deutschland un- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
terschiedliche Betriebsstrukturen in den verschiedenen Herren! Ich möchte zuerst das aufgreifen, was der Kol-
Landesteilen haben, und deswegen müssen wir für das lege Haustein schon getan hat: Er hat sich bei vielen
ganze Land und nicht nur für einige Teile Politik ma- Mitstreitern bedankt. Lieber Peter, ich darf dich korrigie-
chen. ren: Du hast unsere Ministerin vergessen. Ihr gilt natür-
lich dein und mein ganz besonderer Dank. Ich darf er-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gänzen: Ich möchte mich auch beim Finanzministerium,
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! besonders beim Staatssekretär Kampeter, bedanken;
Wir sind für alle da!) denn wenn dort nicht die nötigen Mittel zur Verfügung
Ich finde es außerordentlich bemerkenswert, dass es gestellt werden, können wir hier zwar über vieles reden,
dieser Bundesregierung – Frau Aigner gemeinsam mit aber nichts machen.
Herrn Niebel – erstmals gelungen ist, deutlich zu ma- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
chen: Wer Welternährung will, der muss auch Landwirt- der FDP)
schaft wollen.
Meine Damen und Herren, auch wenn wir eine fröhli-
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: che Runde sind, lassen Sie mich versuchen, Ihnen hier
Aber was für eine Landwirtschaft!) einen ganz ernsthaften Gedanken vorzutragen. Ich war
Nur über mehr Landwirtschaft werden wir in der Lage mit dem Kollegen Peter Bleser vor einigen Tagen auf der
sein, die Menschen auf der Erde zu ernähren; nur so wird sogenannten Armuts- oder Hungerkonferenz der Afrika-
es gehen. Wenn wir uns einfach einmal bewusst machen, nischen Union in Addis Abeba, also in über 2 300 Meter
dass sich die genutzte Ackerfläche pro Kopf von 1950 bis Höhe. In Ostafrika gibt es 12 Millionen Menschen, die
2025 auf ein Drittel reduzieren wird – von 5 000 Quadrat- dem Hunger ins Auge sehen. In Ostafrika hat man die
metern auf 1 700 Quadratmeter –, dann wird uns klar, besten Zuckerrübenböden. Man hat dort auch reichlich
welche Herausforderung die Steigerung der Effizienz be- Wasser. Politisch und agrarstrukturell herrschen dort
deutet. aber archaische Verhältnisse. Wäre dies nicht so und
hätte man dort unser landwirtschaftliches Können der
(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Richtig!) 1960er-Jahre, dann könnte man – das sagen unsere Fach-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14673
Georg Schirmbeck
(A) leute – nicht nur die Menschen in Somalia und in Äthio- Das sind keine Regionen, in denen Not herrscht. Ich (C)
pien, sondern auch die in Ägypten ernähren. kann nur sagen: Wenn es denn Regionen gibt, in denen
die Strukturen heute nicht zu halten sind und die sich
Wir hier haben die erfolgreichste, leistungsfähigste
entvölkern, dann möge man sich in diesen Räumen ein-
Landwirtschaft der Welt. Sie ist, wenn man das im inter-
mal Gedanken darüber machen, warum das bei ihnen so
nationalen Vergleich sieht, vergleichsweise kleinteilig.
ist, und dann möge man vielleicht das eine oder andere
Wir aber erwecken den Eindruck, als gäbe es hier Miss-
ändern.
stände ohne Ende. Ich sage Ihnen: Wenn wir nicht eine
so leistungsfähige Landwirtschaft hätten, könnten wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nicht dorthin fahren, um den Hungernden, den Sterben- der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]:
den dort so zu helfen, wie wir das tun. Italien kann es Unverschämt! Sie schreiben doch selber in Ih-
schon nicht mehr. rem eigenen Bericht, dass die Einkommen
nicht ausreichen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es! Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass im
Endlich sagt das mal einer!) ländlichen Raum gebaut wird. Es werden Windräder ge-
baut. Es werden Solaranlagen gebaut. Die Außenwände
Verehrter Herr Kollege Süßmair, ich hätte nicht ge-
von Stallgebäuden werden sogar verklinkert hochgezo-
dacht, dass wir das 21 Jahre nach der deutschen Einheit
gen. So kann man in anderen Regionen der Welt nicht
hier noch einmal diskutieren müssen. Aber der Kollege
einmal Häuser bauen. Es gibt richtig Innovationen im
Claus hat ausgeführt, die Landwirtschaft sei nun der Be-
ländlichen Raum. Es besteht dort lediglich das Problem,
reich gewesen, in dem die DDR der Bundesrepublik
dass es keinen Handwerker, keinen Fliesenleger gibt, der
überlegen gewesen sei.
zeitgerecht den einen oder anderen Auftrag ausführt.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Lassen Sie uns doch einmal ehrlich sein! Wir brau-
Ich war im Januar 1990 das erste Mal in Neustrelitz. chen natürlich Verbraucherschutz. Wir brauchen Lebens-
Damals funktionierte die DDR in ihren staatlichen mittelüberwachung. Jeder einzelne Fall, den wir in die-
Strukturen ja noch. Da war ich beim Rat des Kreises. Da sem Zusammenhang diskutieren, ist einer zu viel; da
war auch der Agrarkreisrat oder wie immer der sich da- sind wir uns völlig einig. Aber können wir nicht auch
mals nannte. Der hatte ein Problem. Der hatte 1 000 fette einmal feststellen, dass wir gesunde Lebensmittel in ei-
Schweine, die so fett waren, dass sie auf dem Hintern ner Vielfalt haben, die es in keiner Generation vor uns
sitzen mussten, weil sie nicht mehr stehen konnten. Das gab?
war leibhaftige Tierquälerei. Der hatte das Problem, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(B) diese fetten Schweine – dafür gab es auch gar keinen (D)
Markt mehr – geschlachtet werden mussten. Da mussten Auch darauf können wir stolz sein; auch das können
meine Freunde aus Südoldenburg kommen und das erle- wir erwähnen, statt immer nur den einen Fall so hochzu-
digen. Das ist die Überlegenheit gewesen! Ich sage es ziehen, als ginge bald die Welt unter.
einmal ein bisschen polemisch: Mit Ihrer Landwirtschaft
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da klat-
würde selbst in der Sahara der Sand knapp.
schen nicht einmal die eigenen Leute!)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Ein Thema, für das ich, wie der eine oder andere
der FDP)
weiß, eine besondere Leidenschaft habe, ist die Forst-
Lassen Sie mich etwas zu dem ländlichen Raum sa- wirtschaft. Wir haben das Internationale Jahr der Wäl-
gen, dem geprügelten ländlichen Raum, der sich total der. Wir dürfen feststellen, dass die deutsche Forstwirt-
entvölkert, der erbärmlich dasteht. Ich komme – zusam- schaft besonders leistungsfähig ist. Das sieht man auch
men mit dem Kollegen Holzenkamp – aus einer Region, daran, dass im Biodiversitätsbericht der Bundesregie-
in der vielleicht die moderne Landwirtschaft entwickelt rung festgestellt wird, dass die Biodiversitätskriterien
worden ist – das kann man vielleicht so behaupten –, in gerade in der Forstwirtschaft besonders erfolgreich ein-
der aber die Menschen vor zwei Generationen noch Sand gehalten werden.
gefressen haben, weil das leichte Böden sind. Die älteren
Deutsche Forstleute sind in der ganzen Welt tätig. Ich
Leute, die da leben, haben noch Hunger gekannt. Da ist
darf der Ministerin herzlich dafür danken, dass sie sich
heute moderne Landwirtschaft.
beispielsweise an großen Kooperationswerken in Viet-
Wenn ich dann höre, dass von einer Entvölkerung ge- nam, aber auch in China und in anderen Ländern betei-
sprochen wird, dann muss ich sagen: Der Landkreis Os- ligt.
nabrück hat in den letzten 20 Jahren 75 000 Einwohner
Wenn man über Forstentwicklung in der Welt redet,
zusätzlich gewonnen. Die Bevölkerung im Landkreis
so ist es natürlich richtig, dass es an manchen Stellen
Vechta ist erheblich gewachsen. Das gilt auch für den
Waldvernichtung gibt, bei der wir dagegenhalten müs-
Landkreis Cloppenburg oder das Emsland und die Graf-
sen. Aber nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass es
schaft Bentheim. Die Arbeitslosenzahlen sind unter
durch deutsche Forstleute, durch Mittel, die wir in die-
4 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit ist an der Nach-
sem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen, beispiels-
weisgrenze.
weise gelingt, in einem Zeitraum von zehn Jahren in
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Es muss auch Vietnam die Waldfläche wieder auf das Niveau von vor
andere Gegenden in Deutschland geben!) dem Vietnamkrieg zu bringen. Auch darauf können wir
14674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Georg Schirmbeck
(A) doch stolz sein. Das sollte man wissen; deshalb möchte Erstes Beispiel: 12 000 Menschen warten in Deutsch- (C)
ich das hier erwähnen. land derzeit auf ein geeignetes Spenderorgan. Mir per-
sönlich liegt das Thema Organtransplantation sehr am
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herzen. Deshalb sieht unser Etat auch für das Jahr 2012
Nachdem ich mir vorhin die Ausführungen zu For- wiederum 2,5 Millionen Euro für Aufklärungsarbeit zur
schung und Entwicklung angehört habe – ich finde es Organspende in der Bevölkerung vor.
toll, dass wir Exzellenzuniversitäten und Ähnliches ha-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ben –, sage ich durchaus ein bisschen kritisch: Es kann
der CDU/CSU)
doch nicht sein, dass wir an unseren Exzellenzuniversi-
täten junge Forstleute heranbilden, dann aber nicht in der Wir müssen es schaffen, meine Damen und Herren, dass
Lage sind, den Besten eines Jahrgangs einen Arbeits- sich möglichst viele Menschen mit diesem wichtigen
platz anzubieten – und das angesichts der Tatsache, dass Thema befassen. Wir werden mit der Novelle des Trans-
das derzeitige Forstpersonal im Schnitt über 50 Jahre alt plantationsgesetzes weitere Verbesserungen vornehmen,
ist. Dieses Verhalten ist kurzsichtig und überzeugt nicht. um die Zahl der Organspenden zu erhöhen und den Ab-
Ich hätte den Wunsch, dass sich die Länder an der einen lauf zu verbessern. Ich bin dankbar und begrüße aus-
oder anderen Stelle etwas mehr in die richtige Richtung drücklich, dass sich der Deutsche Bundestag in diesem
bewegen. Jahr um das Thema Organspendebereitschaft kümmern
möchte, dass eine Debatte hier im Deutschen Bundestag
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
über die Frage geführt werden soll, wie wir die Bereit-
der FDP)
schaft der Menschen noch erhöhen können, einen Organ-
Herr Kollege Schwanitz hat hier gesagt, im ländlichen spendeausweis auszufüllen.
Raum werde Geld verbrannt. Ich kann dem nur entge-
genhalten: Durch die Maßnahmen bei den Berufsgenos- Die Zahl derjenigen Menschen, die den Wunsch ha-
senschaften und beim Agrardiesel tragen wir dazu bei, ben, selbst ein Spenderorgan zu erhalten, wenn es nötig
dass auch im ländlichen Raum Kaufkraft vorhanden ist. ist, ist hoch. Die Bereitschaft zur Organspende in
Außerdem sorgen wir – das zeichnet diesen Einzelplan Deutschland ist hingegen noch zu gering ausgeprägt.
besonders aus – für soziale Sicherheit im ländlichen Wir wissen aber auch, dass jeder, der sich selbst nicht
Raum, indem wir für diesen Bereich fast 4 Milliarden mit dem Thema Organspende beschäftigt, die Entschei-
Euro zur Verfügung stellen. Das ist ein Beispiel für Kon- dung später einem Angehörigen aufbürdet. Deswegen
tinuität. Wir sind hier verlässliche Partner. Ich sage es werben wir für die Organspende und für das Ausfüllen
noch einmal: Der Kollege Haustein und ich werden si- eines Organspendeausweises. Wir sagen den Menschen:
Jeder Organspender ist ein Lebensretter. Ich sage in die-
(B) cherstellen, dass bei den Haushaltsplanberatungen die (D)
eine oder andere Änderung noch eingearbeitet wird, uns ser Debatte: Wir sollten im Deutschen Bundestag ge-
zugleich aber auch an dem Ziel orientieren, dass weiter- meinsam noch mehr dafür tun, dass sich die Menschen
hin kontinuierliche Politik für die Menschen in Deutsch- mit dem Thema Organspende persönlich beschäftigen
land und weit darüber hinaus gemacht wird. und sich dafür entscheiden, einen Organspendeausweis
auszufüllen.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei Abgeordneten der SPD)
Beispiel zwei: Wir dürfen beim Thema HIV/Aids
Vizepräsidentin Petra Pau: nicht nachlassen. Diese Erkrankung darf nicht in Verges-
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen senheit geraten; sie stellt nämlich für viele Menschen
nicht vor. immer noch eine lebensbedrohliche Situation dar. Wir
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- sehen deshalb 12 Millionen Euro für Präventionsmaß-
ministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15. nahmen in diesem Bereich vor.

Das Wort hat der Bundesminister Daniel Bahr. (Elke Ferner [SPD]: Warum weniger?)

(Beifall bei der FDP) Wir werden, wie schon im vergangenen Jahr, rund
1,6 Millionen Euro für die Aidsforschung bereitstellen.
Es zeigt sich, dass die Gefahren unterschätzt werden,
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
wenn wir nicht durch fortwährende und gezielte Öffent-
Guten Abend, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- lichkeitsarbeit stetig informieren. Auch hier setzen das
ginnen und Kollegen! Heute beraten wir erstmals den Bundesministerium für Gesundheit und die Koalition
Bundeshaushalt 2012 für den Geschäftsbereich des Bun- insgesamt eine klare Priorität und stellen für das Thema
desministeriums für Gesundheit. Der eigentliche Haus- HIV/Aids weiterhin die erforderlichen Mittel zur Verfü-
halt des Bundesgesundheitsministeriums ist auch im gung.
kommenden Jahr mit einem Umfang von knapp 483 Mil-
lionen Euro ein eher kleinerer Etat, aber es zeigt sich, Beispiel drei: Wir sind in vielen Bereichen unseres
dass man auch in diesem kleinen Etat schon richtige Pri- Gesundheitswesens dringend auf Innovation angewie-
oritäten setzen kann. Ich möchte Ihnen drei Beispiele sen: in der Pflege, der Kindergesundheit, der Arznei-
nennen: mittelsicherheit, aber auch bei Maßnahmen zur Quali-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14675
Bundesminister Daniel Bahr
(A) tätssicherung. Für den Bereich der Forschung sind (Elke Ferner [SPD]: Das glauben Sie ja selber (C)
deshalb im Etat 25 Millionen Euro veranschlagt. nicht!)
Neben dem Kernbereich des Haushalts macht den Die Erfolge, Frau Ferner, geben uns recht.
größten Batzen dessen, was wir heute beraten, der Bun- (Elke Ferner [SPD]: Welche Erfolge denn? –
deszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung Hilde Mattheis [SPD]: Na super!)
aus. Er beträgt 14 Milliarden Euro für versicherungs-
fremde Leistungen und seit dem letzten Jahr auch für ei- Unter der Führung der Sozialdemokraten im Gesund-
nen funktionierenden Sozialausgleich. heitsministerium wurde mehr Geld für Arzneimittel in
Deutschland ausgegeben als für die ambulante Versor-
(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) gung. Erst unter liberaler Führung im Gesundheitsminis-
Ich erinnere an die Ausgangssituation zu Beginn der Le- terium können wir verzeichnen, dass wieder mehr Geld
gislaturperiode. Insofern, Frau Ferner, wird Ihnen das für die ambulante Versorgung der Patienten ausgegeben
Lachen gleich im Halse stecken bleiben. wird als für Arzneimittel, wie es unter Ihrer Führung der
Fall war. Das ist die richtige Prioritätensetzung dieser
(Elke Ferner [SPD]: Das glaube ich kaum!) Koalition.
Denn das, was wir in dem zuvor sozialdemokratisch ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
führten Haus vorgefunden haben, war ein drohendes
Wir haben eine entscheidende Grundlage für ein ge-
Milliardendefizit, das durch den Gesundheitsfonds mit
rechtes, dauerhaft finanziertes, transparentes und wettbe-
den gedeckelten Zusatzbeiträgen nicht hätte geschultert
werbliches Finanzierungssystem in der gesetzlichen
werden können.
Krankenversicherung geschaffen. Bei anderen Vorgaben
(Elke Ferner [SPD]: Es wird nicht richtiger da- hätte die Regierung jedes Jahr einen Einheitsbeitragssatz
durch, dass Sie es ständig falsch wiederholen! für alle Krankenkassen gleich festlegen müssen
Sie lügen ganz bewusst!) (Elke Ferner [SPD]: Wir haben jetzt keinen
– Ihre Reaktion zeigt mir nur, dass Sie hier einen wun- Einheitsbeitrag?)
den Punkt haben, und hätte damit entschieden, wie viel Geld die Politik
(Elke Ferner [SPD]: Nein!) dem Gesundheitswesen zur Verfügung zu stellen bereit
ist. Aus dieser Planwirtschaft steigen wir aus; denn wir
dass Sie offensichtlich die Realität, die wir vorgefunden haben den Beitragssatz einmalig festgelegt, und dieser
haben, auch heute noch leugnen. – Es hätte bei den gilt bei guter wie bei schlechter Entwicklung. Damit ha-
(B) Krankenkassen zur Masseninsolvenz geführt. Das Fi- ben wir dafür gesorgt, dass steigende Gesundheitskosten (D)
nanzierungssystem, das Ihre sozialdemokratische Füh- nicht mehr automatisch die Arbeitskosten in Deutsch-
rung uns hinterlassen hat, land verteuern.
(Elke Ferner [SPD]: Da war Ihr Koalitions- (Elke Ferner [SPD]: Nur bei den Versicherten!
partner mit dabei, Herr Bahr!) Die können es sich ja leisten, Herr Bahr!)
war nicht in der Lage, ein solches Defizit im Sinne der Die Krankenkassen erhalten unter unserer Führung ihre
Versicherten und der Stabilität des Gesundheitswesens Beitragsautonomie zurück. Für die Versicherten wird
zu schultern. mehr Transparenz geschaffen. Sie können die Leistung
einer Krankenkasse transparent in Euro und Cent sehen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und vergleichen, was die Krankenkassen ihren Patienten
bieten.
Es war diese Koalition, meine Damen und Herren, die
für einen effizienten Einsatz der Versichertengelder ge- Das zeigt die andere Prioritätensetzung der christlich-
sorgt hat. Wir haben mit der Neuordnung des Arzneimit- liberalen Koalition in der Gesundheitspolitik.
telmarktes gezeigt, wie wir Wettbewerb auch im Arznei-
mittelbereich verstanden wissen wollen und wie wir ihn (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt allerdings!)
voranbringen wollen, und wir bringen die Interessen der Wir wollen keine Einheitskasse,
Patienten und Beitragszahler zusammen. Wir brechen
das Preismonopol der Pharmaindustrie. (Elke Ferner [SPD]: Nein, Sie wollen die ge-
setzlichen Kassen abschaffen, Herr Bahr! Das
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der wollen Sie!)
CDU/CSU – Lachen der Abg. Elke Ferner
weil wir wissen, dass die Patienten in einer Einheits-
[SPD])
kasse zum Bittsteller einer Einheitsversorgung werden.
Wir sorgen dafür, dass die Patienten weiterhin wirkliche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Innovationen im Arzneimittelbereich auch schnell in der
Versorgung spüren. Aber wir sorgen gleichzeitig dafür, Wir gehen vom mündigen Patienten und vom mündigen
dass das nicht zu einer einseitigen Preisfestsetzung durch Versicherten aus. Dieser steht für uns im Mittelpunkt. Er
die Pharmaindustrie zulasten der Beitragszahler führt. kann selbst entscheiden, wie er sich versichern möchte,
Wir sorgen für einen fairen Ausgleich der Interessen der und selbst auswählen, was eine Krankenkasse für ihn
Patienten und der Interessen der Beitragszahler. leisten soll, was sie ihm für seinen Beitrag bieten soll.
14676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bundesminister Daniel Bahr


(A) (Elke Ferner [SPD]: Sie träumen ja! Wovon Das ist eine Frage des Zusammenhalts in der Gesell- (C)
träumen Sie sonst noch?) schaft. Nicht jeder hat Kinder, aber jeder hat Eltern. Je-
der, der in seiner Familie einmal erlebt hat, wie ein An-
Deswegen sorgen wir mit dem anstehenden Versor- gehöriger pflegebedürftig wird, wird wissen, was für
gungsstrukturgesetz dafür, dass die Wahlfreiheit der Ver- eine Belastung das für den familiären Zusammenhalt be-
sicherten weiter gestärkt wird und der Versicherte Unter- deutet und was für eine Anforderung plötzlich an den
schiede bei den Krankenkassen feststellen kann, dass es Zusammenhalt in der Familie gestellt ist.
einen wohlverstandenen fairen Wettbewerb um die bes-
sere Versorgung gibt. Deswegen geht es uns als christlich-liberale Koalition
darum, mit der anstehenden Pflegereform Angehörige zu
Das ist die logische Konsequenz unserer Politik, aus- unterstützen und die Rahmenbedingungen für sie so zu
gerichtet an den Interessen der Versicherten und Patien- setzen, dass sie mit der persönlichen Situation in der Fa-
ten. milie umgehen können, wenn jemand pflegebedürftig
wird, und wissen, dass sie sich darauf verlassen können.
(Elke Ferner [SPD]: Nein, an Ihrer Klientel-
Wir werden nun den Beirat, der bereits einen ersten Vor-
politik ausgerichtet!)
schlag zur Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor-
Während Sie immer geleugnet haben, dass uns in gelegt hat, konkret mit der Umsetzung beauftragen.
Deutschland ein Ärztemangel droht – Sie haben gesagt, Weil ich ahne, dass Sie diesbezüglich gleich von Ver-
es gebe genügend Ärzte in Deutschland, sie müssten nur zögerung sprechen werden, darf ich Ihnen schon jetzt sa-
zwangsweise besser verteilt werden –, gen: Dieser Auftrag an den bisherigen Beirat wird von
(Elke Ferner [SPD]: Das ist Unsinn, was Sie allen in der Pflegeszene als der richtige und nötige
da erzählen!) Schritt erkannt. Es handelt sich nicht um Verzögerung,

befassen wir uns mit der Versorgungsrealität der Men- (Elke Ferner [SPD]: Nein, überhaupt nicht!)
schen in Deutschland. Wir sorgen dafür, dass die Men- sondern es ist Voraussetzung für eine Umsetzungsstrate-
schen sich auch in der Fläche künftig noch darauf verlas- gie. Der Beirat selber sagt, dass noch viele Fragen offen
sen können, dass sie eine ausreichende, gute medizi- sind, die beantwortet werden müssen. Das zeigt, dass
nische Versorgung vor Ort vorfinden. diese Koalition es ernst meint mit einer Pflegereform.
Wir werden das in den nächsten Monaten hier im Bun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke
destag noch ausreichend debattieren.
Ferner [SPD]: Was kostet das?)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) Denn wir setzen Anreize, damit junge Mediziner mit (D)
Lust, Motivation und Freude in den Beruf einsteigen und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auch in der Fläche die Versorgung der Patientinnen und
Patienten gewährleisten. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Elke Ferner [SPD]: Und Überversorgung Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner für die SPD-
hinnehmen!) Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Die Versorgungsrealität der Menschen wollen wir
auch im Bereich der Pflege angehen. Diese Koalition hat
sich ehrgeizig darum gekümmert, während zum Beispiel Elke Ferner (SPD):
Rot-Grün es in zwei Legislaturperioden nicht geschafft Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
hat, auch nur eine Reform der Pflege wirklich zukunfts- Herr Bahr, Ihre Rede gerade hat eines gezeigt: In der Ge-
fest auf den Weg zu bringen. sundheitspolitik hat Schwarz-Gelb wenigstens genauso
abgewirtschaftet wie in allen anderen Politikfeldern
(Elke Ferner [SPD]: Wir haben in der letzten auch, und das in Rekordzeit.
Wahlperiode eine Pflegereform gemacht! Zwei
Jahre haben Sie nichts gemacht! Null haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe
Sie gemacht! – Ewald Schurer [SPD]: Nicht von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Heinz
mal Eckpunkte! Keine Strategie!) Lanfermann [FDP]: So müde für den frühen
Abend!)
Deswegen haben wir uns vorgenommen, jetzt die
Pflege für die Menschen zukunftsfest zu machen. Unser Im ersten Jahr hat der damalige Gesundheitsminister
Ziel bei der Pflege ist – darum geht es mir; denn wir füh- Rösler den netten Onkel Doktor gegeben und hat ver-
ren auch eine gesellschaftliche Debatte –, den Zusam- sucht, die Probleme im Gesundheitswesen wegzulä-
menhalt in der Gesellschaft auch weiterhin zu gewähr- cheln. Bis Sie auf den Trichter gekommen sind, im Arz-
leisten; denn wir wissen, dass es künftig mehr neimittelbereich etwas zu machen,
pflegebedürftige Ältere geben wird und dass immer we- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Mit
niger junge Beitragszahler nachkommen. großem Erfolg!)
(Elke Ferner [SPD]: Warum lassen Sie sich sind schon Milliarden zu viel ausgegeben worden. Sie
dann zwei Jahre Zeit? – Hilde Mattheis [SPD]: hatten gedacht, Sie könnten sich über die Landtagswah-
Am 23. erwarten wir von Ihnen die Punkte!) len in NRW hinüberretten. Das Ergebnis ist bekannt: Es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14677
Elke Ferner
(A) ging schief. Sie haben sich dann nach einem öffentlichen Sorgen zu machen; denn wir werden dieses unsoziale (C)
Gewürge sondergleichen darauf verständigt, das Kopf- Gesetz nach 2013 zurücknehmen.
pauschalengesetz durch den Bundestag zu ziehen.
(Beifall bei der SPD)
Es ist nicht so, wie Sie es eben gesagt haben, dass je-
der frei entscheiden kann; vielmehr bedeutet Ihr Vorge- Herr Bahr, Sie haben eben wieder gesagt, Ulla
hen ganz klar eine Verschiebung der Lasten auf die Ver- Schmidt habe Ihnen kein geordnetes Haus hinterlassen.
sicherten, weil die Arbeitgeber in Zukunft keine (Mechthild Dyckmans [FDP]: Das kann man
Kostensteigerungen mehr schultern müssen, die Versi- wohl sagen!)
cherten das Ganze über eine Kopfpauschale schultern
müssen, die zudem noch einkommensunabhängig ist. Ich will daran erinnern – wenn Sie lesen und schreiben
Das ist Gesundheitspolitik à la Schwarz-Gelb. Das wer- können, können Sie das in den Statistiken der Kranken-
den die Menschen spätestens in zwei Jahren abwählen. versicherungen nachlesen –: Ende 2009 hat die gesetzli-
che Krankenversicherung mit einem Überschuss von,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn ich mich richtig erinnere, 1,4 Milliarden Euro ab-
der LINKEN) geschlossen. Das war kein Defizit, sondern ein Plus. Sie
sind im ersten Jahr Ihrer Regierung wieder ins Minus ge-
Herr Bahr, Sie haben in der Opposition proklamiert,
rutscht. Das ist die Wahrheit, Herr Bahr; da hilft Ihnen
dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung abschaf-
auch das Kopfschütteln nicht.
fen wollen. Ich muss gestehen, Sie sind diesem Ziel ei-
nen guten Schritt näher gekommen; Sie werden es aber (Beifall bei der SPD)
nicht schaffen, weil Sie in den maximal zwei verbleiben-
den Jahren – das ist ja jetzt der vorletzte Haushalt, den Herr Rösler hat versucht, sein negatives Image loszu-
Schwarz-Gelb in diesem Haus vorlegt – werden, und das Jahr der Pflege ausgerufen. Wir reden
von diesem Jahr 2011; wir haben jetzt schon September.
(Ewald Schurer [SPD]: Für immer!)
(Ewald Schurer [SPD]: Es hat ja noch gar
nicht dazu kommen werden, das Gesundheitssystem to- nicht begonnen! – Stefanie Vogelsang [CDU/
tal zu zerschlagen. Bei der FDP als Klientelpartei der CSU]: Wir haben das Jahr des Waldes!)
Besserverdienenden
Was ist bis jetzt passiert?
(Zurufe von der FDP: Oh!)
(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Nichts!)
und der Versicherungswirtschaft wundert das alles nicht.
Eine ganze Reihe von Gesprächen mit den Sozialverbän-
(B) Bei der CDU und CSU, die angeblich Volksparteien sein den; das ist sehr löblich. (D)
wollen, wundert das allerdings schon.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben die (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Doch,
Klientel der Leichtgläubigen!) durchaus!)
Ich glaube aber, in den Gesprächen sind keine großarti-
Es scheint Ihnen völlig egal zu sein, ob Versicherte
gen neuen Erkenntnisse gewonnen worden. Denn wir
wie Rentner und Rentnerinnen, Studierende, Geringver-
alle kennen die Probleme längst; dafür braucht man
dienende oder auch Normalverdienende in Zukunft ihren
keine Gespräche zu führen. Wir haben also kein Er-
Krankenkassenbeitrag überhaupt noch bezahlen kön-
kenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit.
nen. Sie haben einmal einen automatischen steuerfinan-
zierten Sozialausgleich versprochen. Was ist denn davon (Heinz Lanfermann [FDP]: Deshalb haben Sie
übrig geblieben? Den haben Sie jetzt erst einmal ver- die Probleme nicht gelöst: weil Sie sie alle
schoben. kennen!)
Sollte bis einschließlich 2014 ein Sozialausgleich not- – Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Lanfermann, haben wir
wendig sein, zahlen das die Beitragszahlerinnen und in der letzten Wahlperiode eine Pflegereform durchge-
Beitragszahler aus Beiträgen. Kommt er dann – da haben führt, die Sie, wenn ich mich recht erinnere, hier im
Sie 700 Millionen in der mittelfristigen Finanzplanung –, Deutschen Bundestag abgelehnt haben.
wird erst mal das abgezogen, was Ihr Versorgungsstruk-
turgesetz mehr kostet, als Sie selber hineingerechnet ha- (Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist mit dem
ben. Versprechen der Kapitalreserve? Das haben
Sie doch gebrochen!)
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Soll ich
Ihnen mal einen Rechenschieber leihen?) – Nein, nein. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr
Lanfermann!
Selbst der Finanzminister bestreitet, dass die Kosten
richtig ermittelt wurden, die Sie da angesetzt haben. (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben Ihren ei-
genen Koalitionsvertrag gebrochen, Frau
(Ewald Schurer [SPD]: So ist es!) Ferner!)
Das heißt, der Sozialausgleich würde, wenn er nötig Die Vorarbeiten für die Reform des Pflegebedürftig-
wäre, geringer ausfallen. Das ist eine klassische Milch- keitsbegriffs lagen bereits im Frühjahr 2009 vor. Leider
bubenrechnung. Ich glaube aber, es braucht sich keiner haben sich die Kollegen und Kolleginnen der Union da-
14678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Elke Ferner
(A) mals in der Großen Koalition geweigert, hier zum Tu-nix-Minister. Aber das wird nicht mehr lange anhal- (C)
Schluss der Wahlperiode noch etwas zu machen. ten; spätestens in zwei Jahren werden wir die Hausauf-
gaben machen. Wir haben die Konzepte und werden da-
(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Das ist für sorgen, dass die pflegebedürftigen Menschen und
unverschämt und unwahr!) ihre Angehörigen die Zeit, die Infrastruktur und die
– Das ist nicht unwahr. Ich war in den Runden dabei, Leistungen bekommen, die sie brauchen.
Herr Zylajew, Sie nicht. Sie können Ihren Kollegen Schönen Dank.
Zöller fragen, ob er und Frau Widmann-Mauz es damals
abgelehnt haben, etwas zu tun, weil es in der Fraktion (Beifall bei der SPD)
nicht durchsetzbar war. – Es rächt sich jetzt, dass Sie
nichts gemacht haben; denn Sie sind sich beim Thema Vizepräsidentin Petra Pau:
Pflegereform überhaupt nicht einig. Der Kollege Dr. Koschorrek hat für die Unionsfrak-
(Zuruf von der CDU/CSU: Gar nicht wahr!) tion das Wort.

Sie haben die Hälfte der Wahlperiode mit Nichtstun ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schenkt. Herr Rösler, der Erfinder des Jahres der Pflege,
ist nicht mehr zuständig; denn er muss sich jetzt um die Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU):
Richtlinien der Außenpolitik kümmern. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Gesundheitswirtschaft in
Was passiert jetzt? Jetzt übertragen Sie, Herr Bahr, Deutschland ist mit 4,5 Millionen Beschäftigten und ei-
dem Pflegebeirat die Aufgabe, die Details auszuarbeiten. nem Finanzvolumen von nahezu 3 Milliarden Euro so-
Eigentlich liegt alles vor. Der Pflegebeirat kann Ihnen wie einem erheblichen Wachstumspotenzial eine Kern-
doch nicht die politische Entscheidung darüber abneh- branche unserer Volkswirtschaft. Sie ist ebenso ein
men, welches Szenario Sie wählen wollen, zentraler Bereich der sozialen Absicherung in unserem
(Ewald Schurer [SPD]: So ist es! – Johannes Land. Wir haben eine sehr gute Versorgungssituation,
Singhammer [CDU/CSU]: Das soll er ja auch die aber permanent den aktuellen Bedürfnissen ange-
nicht!) passt werden muss.
welches Finanzbudget Sie zur Verfügung stellen wollen, In der laufenden Legislaturperiode haben diese Re-
welche weiteren Leistungsverbesserungen es geben soll. gierung und die sie tragenden Fraktionen – wie wir in
dieser Haushaltswoche bei jedem Punkt unserer Tages-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Das soll er auch ordnung ausführlich darlegen konnten – in allen Feldern
(B) gar nicht! Das hat doch niemand behauptet! der Politik sehr viel und sehr Gutes geleistet. Dies gilt (D)
Sie können doch nicht nur mit Fantasie arbei- insbesondere für den Bereich der Gesundheitspolitik un-
ten!) ter der Zuständigkeit des BMG, in dem auch mit einem
Was glauben Sie denn! Die Kollegen und Kolleginnen kleinen Etat Großes bewegt werden kann.
aus dem Pflegebeirat werden nächstes Jahr erwachen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Ihnen etwas vorlegen. Dann werden Sie sagen:
Sorry! Tut uns leid. Wir kriegen das in der Koalition Frau Ferner, eigentlich war Ihr Beitrag nicht des
nicht gewuppt. – Sie versuchen, sich über die Wahl hin- Kommentierens wert. Einen Satz möchte ich Ihnen trotz-
wegzuretten. Sie werden in dieser Wahlperiode nicht viel dem gönnen. Das hat mich schon erstaunt: Eigentlich
auf die Reihe kriegen. haben wir nach meiner Überzeugung eine Legislaturpe-
riode lang miteinander eine ganz ordentliche Gesund-
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist viel- heitspolitik gemacht.
leicht auch gut so!)
(Elke Ferner [SPD]: Das sieht Ihr Koalitions-
Zu dem Kapitalstock, den Sie jetzt ansparen wollen, partner gerade anders!)
sagt jeder etwas anderes: Die FDP möchte ihn individua-
Dass Sie die Errungenschaften, die wir in dieser Zeit eta-
lisiert, privat aufbauen lassen, Herr Spahn und andere
bliert haben, selbst derart kleinreden, ist schon ein erheb-
Neoliberale in der Union auch. Herr Kauder möchte im
liches Armutszeugnis. Ich kann das nicht ganz verste-
System, aber dann doch individualisiert einen Kapital-
hen, aber damit müssen Sie selbst zurechtkommen.
stock aufbauen, unter Einbindung der Versicherungs-
wirtschaft, damit Klientelpolitik betrieben werden kann. (Elke Ferner [SPD]: Ich kann das gerade auch
Herr Seehofer sagt, dass es überhaupt keine Beitrags- nicht verstehen! – Ewald Schurer [SPD]: Wo
satzanhebung geben darf. Werden Sie sich doch erst ein- wollen Sie hin?)
mal darüber einig, was Sie wollen!
Wir bringen den Mut zu strukturellen Änderungen auf
Sie produzieren das Problem, dass die Pflegebedürfti- und sorgen dafür, dass alle Beteiligten einen Beitrag
gen und ihre Angehörigen im Stich gelassen werden. dazu leisten, unser Gesundheitssystem in einer Gesell-
Wir haben vor der Sommerpause aus der Opposition he- schaft mit immer mehr älteren Menschen zukunftsfähig
raus ein sehr umfassendes Papier zur Pflege vorgelegt. zu machen. Wir machen eine zukunftsgerichtete Ge-
Wo ist denn Ihr Papier? Wo sind denn Ihre Vorstellun- sundheitspolitik mit soliden Finanzen und nachhaltigen
gen? Zwei Jahre Regierungszeit wurden hoffnungslos neuen Strukturen. Das von der christlich-liberalen Koali-
vertan; Sie haben nichts getan. Man könnte sagen: ein tion beschlossene Arzneimittelsparpaket – Stichwort
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14679
Dr. Rolf Koschorrek
(A) „AMNOG“ – hat nicht nur den Kostenanstieg aufgehal- des Verbrauchs von Antibiotika und Prävention gegen (C)
ten, sondern sogar einen deutlichen Kostenrückgang be- resistente Erreger eingeführt.
wirkt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl! – Zuruf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von der FDP: Sehr gut!)
der FDP)
Die Fortschritte und Innovationen der Transplanta-
Wir haben es durch vorausschauende Politik und die tionsmedizin müssen möglichst vielen Betroffenen, die
daraus resultierenden guten Konjunkturdaten geschafft, auf ein Spenderorgan warten, zugänglich gemacht wer-
das für 2011 in der GKV erwartete Defizit zu verhindern den. Mit der Änderung des Transplantationsgesetzes ver-
und sogar ein finanzielles Polster im Gesundheitsfonds bessern wir die Voraussetzungen hierfür, damit sich
zu schaffen. Bisher kannte die deutsche Öffentlichkeit mehr Menschen für eine Organspende entscheiden und
nur wiederkehrende Meldungen über Fehlbeträge bei sich die Wartezeiten durch bessere organisatorische
den gesetzlichen Krankenkassen, die nachträglich ausge- Strukturen verkürzen.
glichen werden mussten.
Wir modernisieren die veralteten und zum Teil jahr-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) zehntealten Verordnungen, nach denen Heilberufler,
Die Rücklagen erlauben es uns, jetzt auch zukunfts- Ärzte, Zahnärzte und Apotheker zurzeit noch arbeiten
weisende Projekte und Maßnahmen zu verfolgen, auf die müssen. Wir passen diese Grundlagen dem medizini-
wir zuvor aus Kostengründen verzichten mussten. Die schen Fortschritt und den neuen Methoden an. Diese Re-
Tatsache, dass einmal etwas mehr als unbedingt notwen- gelungen wurden über viele Jahre unter der SPD-Ägide
dig in der Kasse ist, ist allerdings kein Anlass dazu, um- im BMG verschleppt. Sie vermochten es nicht, die ent-
gehend nach der Senkung von Beiträgen und Ähnlichem sprechenden Verordnungen zu modernisieren. Wir
zu rufen. Nein, wir brauchen in der gesetzlichen Kran- beschließen jetzt Neufassungen für zentrale Bestimmun-
kenversicherung ein Polster, um eine konstruktive und gen, Novellierungen von GOZ und GOÄ, der Appro-
zukunftssichernde Politik machen zu können. bationsordnung, die Apothekenbetriebsordnung und des
Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische
(Elke Ferner [SPD]: Das würde noch schneller Einrichtungen.
in die Kopfpauschale reinlaufen! – Johannes
Singhammer [CDU/CSU]: Das ist nachhaltige Wir bringen außerdem das lang erwartete Patienten-
Politik!) rechtegesetz auf den Weg,
Wir haben die Einrichtung der unabhängigen Patien- (Elke Ferner [SPD]: Wann denn?)
tenberatung auf sichere Füße gestellt und sie als dauer-
(B)
hafte Institutionen der wohnortnahen Beratung in unse- das bei mehreren Anläufen in den letzten Jahren schon (D)
rem Gesundheitswesen installiert. Wir sorgen dafür, dass im Vorfeld an der Frage der Zuständigkeiten von BMJ
das weltweit anerkannte deutsche Gesundheitssystem in und BMG scheiterte. Es wird die Rechte der Patienten,
der älter werdenden Gesellschaft leistungsfähig bleibt, die zurzeit in vielen verschiedenen Gesetzen geregelt
und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass das hohe sind, für die Patienten und Ärzte übersichtlich machen
medizinische Niveau in Deutschland erhalten bleibt. und eine Hilfe für die Wahrnehmung ihrer Rechte bieten.

Kernpunkte sind in diesem Zusammenhang die Ver- Jedem Patienten und jedem, der in unserem Gesund-
besserung der wohnortnahen Versorgung, eine bessere heitssystem Verantwortung trägt, muss daran gelegen
Verzahnung von ambulanter und stationärer Behand- sein, bewährte Strukturen der zahnärztlichen und ärztli-
lung, ein schnellerer Zugang zu Innovationen und mehr chen Versorgung so weit wie möglich zu erhalten und
Wettbewerb, damit Versicherte aufgrund ihrer persönli- dem Ärztemangel entgegenzuwirken. Die ambulante
chen Prioritäten die Chance haben, zu wählen. Versorgung in unserem Gesundheitssystem basiert auf
hohem persönlichen Engagement der freiberuflichen
Jede realistische Betrachtung zeigt: Unsere finanziel- Heilberufler und auf ihrer Eigenverantwortung und Un-
len und personellen Ressourcen im Bereich der Pflege abhängigkeit, die ein besonderes Vertrauensverhältnis
sind begrenzt. Sie werden nicht ausreichen, um für alle zum Patienten begründen. Deshalb wollen wir mit dem
Bürger eine verlässliche Absicherung der Pflegekosten GKV-Versorgungsstrukturgesetz im kommenden Jahr
im Alter zu gewährleisten. Wir blicken den Tatsachen eine Reihe von Maßnahmen einführen, um junge Ärztin-
ins Auge und sorgen dafür, dass Rücklagen für den Zeit- nen und Ärzte verstärkt zur Niederlassung auf dem Land
rahmen von circa 2030 bis 2055 angelegt werden, damit und in strukturschwachen Regionen zu motivieren.
der Beitragssatz für die Arbeitnehmer auch in diesen
Jahren, die aus demografischer Sicht in Zukunft sicher Ziel von CDU und CSU in der Koalition ist es, die
die problematischsten Jahre sein werden, stabil und be- Rahmenbedingungen für die freiberuflichen Ärzte,
zahlbar bleibt. Zahnärzte und Apotheker ebenso wie für alle im Ge-
sundheitswesen Tätigen so zu gestalten, dass sie ihrer
Um die Patienten besser vor Infektionen in Kranken- besonderen persönlichen Verantwortung gegenüber den
häusern und bei medizinischen Behandlungen zu schüt- Patienten gerecht werden können. Unsere Prämisse lau-
zen, haben wir in das Infektionsschutzgesetz zusätzliche tet: Der Kostendruck im Gesundheitswesen, der sich in
Regelungen für die Hygienevorschriften und die Über- einer älter werdenden Gesellschaft zweifellos verstärken
prüfung ihrer Anwendung aufgenommen. Darüber hi- wird, darf nicht zu rein merkantil bedingten Patienten-
naus werden Maßnahmen zur besseren Überwachung steuerungen, Qualitätsverfall oder Billigversorgung füh-
14680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dr. Rolf Koschorrek


(A) ren. Um die freiberufliche und damit unabhängige Struk- Harald Weinberg (DIE LINKE): (C)
tur der Heilberufe zu erhalten, ist es unbedingt zu Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
vermeiden, unerwünschten Kartellbildungen oder Kon- legen! Sehr geehrte Damen und Herren! An dem Ent-
zentrationen auf lukrative Behandlungsbereiche Vor- wurf des Haushalts des Bundesministeriums für Gesund-
schub zu leisten. heit sind vor allem zwei Dinge bemerkenswert:
Diesem Grundsatz haben wir mit der Festlegung, dass Erstens ist die Veranschlagung eines hohen Aufkom-
Medizinische Versorgungszentren unabhängig bleiben mens an Sponsorengeldern bemerkenswert. Mit 61,2 Mil-
müssen, und mit der Novellierung der Gebührenordnung lionen Euro steht das Gesundheitsministerium in dieser
im Bereich der Zahnmedizin, die jetzt vor ihrem Ab- Hinsicht an der Spitze aller Ministerien. Darunter sind
schluss steht, Rechnung getragen. Mit dieser neuen Ge- fast 27 Millionen Euro vom Verband der privaten Kran-
bührenordnung ist es uns gelungen, die bewährten kenversicherung. Da bleibt das ungute Gefühl, daran
Grundprinzipien, bei denen die freie Arztwahl an obers-
könnten Gegenleistungen geknüpft werden. Zeitgleich
ter Stelle steht, in unserem Gesundheitswesen für alle
gab es tatsächlich folgende Zeitungsmeldung – Zitat –:
Beteiligten zu erhalten.
Die Zukunft der privaten Krankenversicherung sieht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nach Ansicht von fast zwei Dritteln der Versicherungs-
entscheider in den kommenden zwei Jahren gut aus. Es
Als Nächstes nehmen wir die Novellierung der GOÄ
seien deutliche Zuwächse zu erwarten. Sie stützen ihre
in Angriff. Diese ist, wie die GOZ auch, seit langem
Prognose auf den Wegfall des Dreijahresmoratoriums,
überfällig.
der den Wechsel von der gesetzlichen Krankenversiche-
Unsere Gesundheitspolitik geht zugleich auf gesell- rung in die PKV wieder erleichtert. Seitdem hätten mehr
schaftliche und demografische Veränderungen in der Be- als 10 000 gesetzlich Versicherte zusätzlich zur PKV ge-
völkerung sowie in der Ärzteschaft ein. Wir müssen uns wechselt. – Für eine solch rettende Bluttransfusion kann
der Herausforderung stellen, dass aufgrund einer altern- man sich schon einmal erkenntlich zeigen.
den Bevölkerung und einer Zunahme an Multimorbidität
in der Bevölkerung in Zukunft ein deutlich verändertes (Beifall bei der LINKEN)
Gesundheitswesen zur Verfügung stehen muss. Sämtli- Zweitens ist der deutlich über 70-prozentige Rück-
che Sektoren müssen daraufhin überprüft werden, ob die gang der Mittel für Präventionskampagnen bemerkens-
Sektorengeschlossenheit nach wie vor zu erhalten ist wert. Nun sind wir gegenüber solchen Kampagnen
oder ob es – das ist mein Petitum – zu einer deutlich ver-
durchaus kritisch eingestellt, da Kampagnen nicht die
besserten Zusammenarbeit über die Sektorengrenzen
Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit beseitigen.
hinweg kommen muss. Da darf es keine Besitzstände
Diese Kürzung vermittelt aber das Signal: Der Bund
(B) und keine Tabus geben. Da muss es einzig und allein da- zieht sich aus der Gesundheitsförderung zurück. Und das (D)
rum gehen, den Patienten eine wohnortnahe, qualitativ
hochgesicherte Versorgung zu gewährleisten. Das muss ist aus unserer Sicht das falsche Signal. Im Übrigen ent-
allerdings zu finanziell verantwortlichen Bedingungen spricht das nicht dem Koalitionsvertrag, der auf diesem
geschehen. Gebiet einen Ausbau vorsah.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist Zeit für die Halbzeitbilanz der schwarz-gelben
Koalition, obwohl man natürlich nicht genau weiß, ob
Die Dinge, die wir bereits in den ersten zwei Jahren diese bürgerliche Wunschkoalition, wie sie sich selbst
dieser Regierung auf den Weg gebracht haben, sind weg- genannt hat, die zweite Hälfte überhaupt übersteht. Der
weisende Absichten. Wie ich bereits erwähnt habe, ha- Koalitionsvertrag trägt den Titel: „Wachstum. Bildung.
ben wir die Finanzierung auf sehr stabile, nachhaltige Zusammenhalt“. Das ist ein hoher Anspruch, der mit der
Füße gestellt. Wir haben für Einsparungen und neue Realität der schwarz-gelben Gesetzgebung in den letzten
Prinzipien des Arzneimittelzugangs gesorgt. Wir werden zwei Jahren nichts zu tun hat; denn die Koalition gefähr-
im nächsten Anlauf die Situation hinsichtlich der flä- det den gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt
chendeckenden Versorgung regeln und uns den Proble- und beschleunigt die Spaltung der Gesellschaft in viele
men der Pflegeversicherung stellen. Ich bin sehr zuver- Arme und wenige Reiche und Superreiche.
sichtlich, dass wir das vor dem Hintergrund des jetzt zur
Beratung stehenden Haushalts in guter Zusammenarbeit Das gilt gerade auch für die Gesundheitspolitik. Statt
der Fraktionen mit dem BMG zum Wohle der Patienten die Solidarität zu stärken, hat die Koalition mit Einfüh-
und Versicherten in unserem Land leisten können. rung der Kopfpauschale einen Systemwechsel vollzo-
Herzlichen Dank. gen. Die Versicherten werden in Zukunft alleine für wei-
tere Ausgaben zur Kasse gebeten. Die Arbeitgeber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke werden geschont. Praxisgebühren und Zuzahlungen be-
Ferner [SPD]: Wovon träumen Sie denn lasten die Patientinnen und Patienten zusätzlich. Der
nachts? – Heinz Lanfermann [FDP]: Sehr ein- Ausstieg aus der Solidargemeinschaft und der Wechsel
drucksvolle Bilanz, Herr Kollege!) in die private Krankenversicherung wurden deutlich er-
leichtert. Mit dieser Koalition geht es auf dem Weg in
Vizepräsidentin Petra Pau: die Zweiklassenmedizin schleunig voran, und das ist ein
Das Wort hat der Kollege Harald Weinberg für die Skandal.
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14681
Harald Weinberg
(A) Obwohl bislang nur wenige Kassen Zusatzbeiträge Sozialstaat gegen Versuche der Aushöhlung und Zerstö- (C)
erhoben haben, wirken diese Kopfpauschalen bereits rung. Wir entwickeln Vorschläge, wie er solidarisch fort-
heute. Wir wissen, dass die DAK rund 20 Prozent ihrer entwickelt werden kann. Das gilt für die Alterssiche-
Mitglieder verloren hat. Die City BKK musste letztlich rung; das gilt aber auch für die Bereiche Gesundheit und
wegen der Abwanderung von Versicherten aufgrund von Pflege.
Zusatzbeiträgen Insolvenz anmelden. Die Bilder schlan-
Mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversi-
gestehender älterer Ex-City-BKK-Versicherter, die von
cherung haben wir ein Konzept erarbeitet, das in eine
anderen Kassen abgewimmelt wurden, sind uns allen
noch präsent. völlig andere Richtung weist als das der Wettbewerbs-
und Deregulierungsfetischisten von Schwarz-Gelb.
Diese Beispiele vor Augen ist bei den Krankenkassen
ein Wettbewerb zur Vermeidung von Zusatzbeiträgen (Heinz Lanfermann [FDP]: Armut für alle!)
ausgebrochen, der auf dem Rücken der Patientinnen und Das Konzept haben wir im Rahmen einer ökonometri-
Patienten ausgetragen wird. In ihrer Not nutzen die Kas- schen Studie durchrechnen lassen. Das Ergebnis kann
sen alle Möglichkeiten aus, um Leistungen einzuschrän- sich sehen lassen: Der Beitragssatz zur Krankenversi-
ken. In diesem Sommer habe ich mehrere Erfahrungsbe- cherung kann auf Jahre hinaus konstant niedrig gehalten
richte bekommen: Da wird der Krankentagegeldan- werden. Er kann bei sofortiger Umstellung von derzeit
spruch infrage gestellt, Rehamaßnahmen werden verzö- 15,5 Prozent auf 10,5 Prozent abgesenkt werden.
gert, Eltern-Kind-Kuren nicht genehmigt usw., usf.
(Beifall bei der LINKEN)
Im Kern läuft die Politik dieser Bundesregierung da-
rauf hinaus, die wesentlichen Bereiche des Sozialstaates Auf Löhne und Gehälter sowie Renten müssten die Ver-
den Finanzmärkten auszuliefern. Das gilt für die Alters- sicherten nur noch einen Anteil von 5,25 Prozent statt
vorsorge, das gilt für weite Teile der Gesundheit, und das derzeit 8,2 Prozent zahlen.
ist auch das Leitmotiv für die Einführung einer Kapital- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und die
deckung bei der Pflegeversicherung. Sie öffnen diese Griechen bezahlen alles!)
Felder für die Geschäfts- und Profitinteressen privater
Finanzinvestoren und liefern sie damit dem Finanz- Auch die Arbeitgeber würden einen Anteil von 5,25 Pro-
marktgeschehen aus. Das erhält natürlich vor dem Hin- zent statt bisher 7,3 Prozent zahlen. Das entlastet beson-
tergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise eine ganz be- ders personalintensive Unternehmen.
sondere Brisanz. (Beifall bei der LINKEN)
Ideologischer Wegbereiter für diese Politik der Ent-
Versicherte mit einem Einkommen oberhalb der Bei-
(B) solidarisierung, der Entkernung des Sozialstaates, der tragsbemessungsgrenze würden künftig gerecht in die (D)
Verherrlichung des Wettbewerbs und des Marktes, der
solidarische Finanzierung einbezogen. Durch den niedri-
Deregulierung in allen Bereichen, also genau der Politik,
geren Beitragssatz wären bis zu einem Einkommen von
die uns in diese Finanzmarktkrise hineingeführt hat, war
5 800 Euro im Monat noch Entlastungen spürbar, die
und ist die FDP.
deutlich über denen der geplanten Steuersenkung von
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der Wirtschaftsminister Rösler liegen.
FDP: Hui!)
In der sozialen Pflegeversicherung besteht dringender
Doch zum Glück gibt es – das ist ganz offensichtlich – Handlungsbedarf. Die Pflege muss teilhabeorientiert,
eine kollektive Weisheit in der Bevölkerung; denn dies selbstbestimmt und ganzheitlich werden und die Finan-
wird dort glasklar so erkannt. Deshalb steht „FDP“ heute zierung langfristig gesichert sein. Die von uns in Auftrag
als Abkürzung für „Fast drei Prozent“, und das ist gut so. gegebene Studie weist nach: Mit der solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung kann das geschehen
(Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]:
und der Beitragssatz unter 2 Prozent gehalten werden.
Mal was richtig Neues, Herr Kollege! – Ge-
Das schafft finanzielle Sicherheit und Spielraum für eine
genruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE
grundlegende Pflegereform.
LINKE]: Es trifft immer wieder!)
Durch die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung hät-
– Ja, es trifft offensichtlich immer wieder.
ten die meisten Menschen mehr Geld zur Verfügung,
(Zuruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) Geld, das vor allem bei den Beziehern von kleinen Ein-
kommen fast vollständig in den Konsum fließt. Durch
– Da sind wir bei weitem noch nicht, Herr Lanfermann.
die höhere Kaufkraft stiege die Binnennachfrage, und
(Heinz Lanfermann [FDP]: Noch drei Briefe über 500 000 Menschen zusätzlich kämen in Beschäfti-
nach Kuba, dann sind Sie unter 5 Prozent! – gung.
Otto Fricke [FDP]: Ja, in Kuba geht es den
Nun kommt häufig der Einwand – man kennt ihn ja –,
Leuten besser!)
die Abschaffung der privaten Krankenvollversicherung
Begleitet wurde und wird diese Politik von einigen sei verfassungswidrig. Dazu möchte ich Folgendes aus-
jungen Wilden in der Union, die in der Nachfolge von führen: In einer ganzen Reihe von Urteilen hat das Bun-
Friedrich Merz an den Glaubenssätzen des Neoliberalis- desverfassungsgericht klargestellt, die Finanzierbarkeit
mus immer noch festhalten, obwohl sich dieser weltweit des Sozialversicherungssystems stelle einen „überragend
völlig blamiert hat. Die Linke hingegen verteidigt den wichtigen Gemeinwohlbelang“ dar. Der Gesetzgeber sei
14682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Harald Weinberg
(A) unter der Prämisse des Gemeinwohls weitgehend frei, (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Sagen Sie (C)
wie er die Sozialversicherung ausgestalte, um das Ziel das auf Ihrem Parteitag und reden Sie hier zum
der Finanzierbarkeit zu erreichen. Um den Solidaraus- Haushalt!)
gleich zwischen Gesunden und Kranken, Gutverdienen-
Wer das nicht sehen will, ist in seiner neoliberalen Ideo-
den und Geringverdienenden, Alleinstehenden und Fa-
logie wohl so verblendet, dass er gar nichts mehr sehen
milien zu gewährleisten, könne der Gesetzgeber den
will, und gehört daher abgewählt.
Kreis der Pflichtversicherten so abgrenzen, wie er es für
eine leistungsfähige Solidargemeinschaft erforderlich Vielen Dank.
halte. Also, wenn die Abschaffung der privaten Kran-
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]:
kenvollversicherung nötig ist, um die finanzielle Stabili-
Das war ein linkes Perpetuum mobile!)
tät der solidarischen Krankenversicherung zu erhalten,
widerspricht das aus unserer Sicht nicht dem Grundge-
setz. Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg für
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
[FDP]: Mit der Meinung sind Sie aber ziem-
lich alleine in Deutschland! Lesen Sie einmal
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Entscheidungen des Bundesverfassungsge-
NEN):
richts zu diesem Thema!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
Bisherige Eingriffe, Herr Lanfermann, in das Ge- nen und Kollegen! Herr Minister, zur Gesundheit gehört
schäftsfeld der privaten Krankenversicherung – Basista- die Pflege; das haben Sie in Ihrer Rede ganz richtig er-
rif, Rückkehrrecht, allgemeine Versicherungspflicht, kannt. Aber wenn man sich die Pflegepolitik dieser
Einführung der verpflichtenden privaten Pflegeversiche- Koalition anschaut, dann sieht man eigentlich nichts,
rung – wurden allesamt durch das Bundesverfassungsge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
richt bestätigt. Doch jede Form der sozialpolitischen Re- sowie bei Abgeordneten der SPD)
gulierung stößt auf erbitterten Widerstand der
Interessenvertreter der privaten Krankenversicherung, nichts außer einer totalen Orientierungslosigkeit, nichts
die ihre Gewinne gefährdet sehen; das ist klar. Angebli- außer einer totalen Zerstrittenheit
che Grundrechtsverletzungen auszurufen, ist eine der
(Ewald Schurer [SPD]: So ist das!)
wesentlichen Verteidigungsstrategien der PKV-Lobby.
Die Privatversicherten selber sehen das oft anders. zweier ehemaliger Wunschpartner.
(B) (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie wollen die (Elke Ferner [SPD]: Zwangsheirat! So sieht (D)
Rücklagen einkassieren und die Bürger enteig- doch eine Zwangsehe aus!)
nen!) Ich muss wirklich sagen: Jegliche Substanz, mit der Sie
Viele haben genug von den immer höher steigenden Prä- vielleicht gestartet sind, ist von einem schwarz-gelben
mien und den Leistungsverweigerungen der privaten Loch aufgesogen worden.
Versicherungsunternehmen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nein!
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es geht Wir mögen uns weiterhin!)
nichts über ein klares Feindbild! – Heinz Weil da überhaupt nichts zusammenpasst – da wird
Lanfermann [FDP]: Genau! Kubanische Gold- im Übrigen niemals etwas zusammenpassen –, ver-
esel!) schleppen Union und FDP seit 2009 die notwendige
Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversiche- Pflegereform.
rung ist sicher auch deswegen attraktiv, weil sie im Ge- (Elke Ferner [SPD]: Genau!)
gensatz zu allen bisherigen Vorschlägen der FDP tat-
sächlich für eine große Mehrheit der Einkommens- Es sind nun zwei wertvolle Jahre voller leerer Ankündi-
bezieher – übrigens auch der Leistungsträger, Herr gungen, voller Pflegedialoge und voller Verzögerung
Spahn – deutlich mehr Netto vom Brutto lässt, weil sie verstrichen. Wir befinden uns im Jahr der Pflege. Das
Selbstständige sowie kleine und mittlere Unternehmen haben nicht wir erfunden; das wurde von Ihrem Ministe-
entlastet, weil sie eine deutliche Stärkung der Binnen- rium erfunden. In diesem Jahr der Pflege, das bald um
nachfrage bedeutet und weil sie positive Wirkungen auf ist, ist nichts passiert, außer dass Sie sich pausenlos ge-
die Sozialkassen und die Haushaltssituation hat. genseitig dementieren.

(Beifall bei der LINKEN) Sie verschleppen diese Reform lustig weiter. Sie, Herr
Minister, setzen jetzt – nicht vor zwei Jahren, sondern
Dies ist auch ein Beitrag gegen die augenblickliche erst jetzt – erneut den Wissenschaftlichen Beirat zur
Rezessionsgefahr. Jedes weitere Hineinsparen in die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes ein.
Krise, jeder weitere Rückgang der Einkommen wirkt Dieser Beirat wird nach Aussage seines Vorsitzenden
krisenverschärfend, während die solidarische Bürgerin- Jürgen Gohde ungefähr zehn Monate brauchen, um die
nen- und Bürgerversicherung die Einkommenssituation vielen offenen Fragen zu klären. Herr Bahr, Sie wussten
vieler Haushalte deutlich stärkt und damit die Binnen- doch ganz genau – wie Ihr Vorgänger Herr Rösler und
nachfrage ankurbelt sowie rezessionsdämpfend wirkt. wie wir alle hier im Raum –, dass es mindestens zehn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14683
Elisabeth Scharfenberg
(A) Monate dauern würde, diese Fragen zu klären. Trotzdem Oder soll da drinstehen, dass Sie sich auch weiter wie (C)
ist vorher nichts passiert. Sie wollen sich einfach über die Kesselflicker über ein Finanzierungskonzept streiten
die Zeit retten. und am Ende daran scheitern werden?
(Elke Ferner [SPD]: So ist es!) Das haben die Pflegebedürftigen und die Pflegenden
Aber, Herr Minister, Sie haben keine Zeit mehr. in diesem Land nicht verdient. Diese Menschen interes-
siert nicht, ob mindestens einer der Koalitionspartner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – übrigens sehr berechtigte – Existenzängste hat. Diese
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Menschen wollen nicht die Aufkündigung der solidari-
LINKEN) schen Pflegeversicherung. Die überragende Mehrheit
der Menschen will mehr Solidarität. Die Mehrheit will
Der Verzögerungsgrund ist natürlich, dass Sie sich bei
mehr Gerechtigkeit im System. Das erreichen Sie nur
der Finanzierung überhaupt nicht einig werden. Da spie-
mit einem klaren Konzept, zum Beispiel mit unserem
len Sie seit Monaten nur noch Koalitionsmikado:
grünen Konzept der Pflege-Bürgerversicherung.
(Heiterkeit des Abg. Harald Weinberg [DIE
LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer sich bewegt, verliert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Koalition ist
nicht mehr zu retten.
Im Koalitionsvertrag haben Sie noch einhellig den
Einstieg in den Ausstieg aus der Solidarität und den Be- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: War-
ginn der Privatisierung der Pflegeversicherung beschlos- ten Sie es mal ab! – Alois Karl [CDU/CSU]:
sen. Die FDP wünscht sich auch weiterhin nichts sehnli- Sie auch nicht!)
cher als das. Doch einige Kolleginnen und Kollegen in Dennoch: Schwarz-Gelb hat für die Menschen in diesem
CDU und CSU haben glücklicherweise bemerkt, dass sie Land eine politische Verantwortung übernommen. Die
das lieber doch nicht wollen. Ich wünsche Ihnen ganz Betroffenen erwarten genauso wie wir, dass Sie Ihrer
herzlich: Bleiben Sie stark! Verantwortung endlich gerecht werden.
So reiht sich jetzt eine absurde Idee an die nächste. Danke schön.
Die CSU träumt von einem steuerfinanzierten Leistungs-
gesetz, über das übrigens aus gutem Grund seit Jahren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keiner mehr spricht. Seit ein paar Tagen ist nun von ei- sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
nem superkomplizierten, superbürokratischen und su- Harald Weinberg [DIE LINKE])
perüberflüssigen Mischmodell die Rede, mit dem Sie ir-
(B) (D)
gendwie – ich betone: irgendwie – einen kollektiven und Vizepräsidentin Petra Pau:
individuellen Kapitalstock miteinander verbinden wol-
Das Wort hat Heinz Lanfermann für die FDP-Frak-
len. Kein Mensch, Sie selbst übrigens auch nicht, weiß,
tion.
wie das überhaupt funktionieren soll. Das wirft extrem
viele fachliche und auch extrem viele rechtliche Fragen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auf. Bitte ersparen Sie uns einen solch konzeptionslosen
Mischmasch. Sie wollen doch nur mit heiler Haut aus Heinz Lanfermann (FDP):
der Nummer herauskommen. Das hilft aber nicht, wenn
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten
das Ergebnis nichts taugt.
Damen und Herren! Frau Kollegin Scharfenberg, zuerst
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Sie gesagt, dass Sie nichts sehen. Ihre Rede hat
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. aber auch bewiesen, dass Sie nichts wissen.
Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Herr Bahr, Sie wollen noch in diesem September Eck- DIE GRÜNEN: Oh!)
punkte vorlegen. Ich weiß – Sie haben uns das vor der
Sommerpause gesagt –: Der Sommer ist noch lang, und Sonst hätten Sie nicht spekuliert und würden die Geduld
der September ist noch lange nicht zu Ende. aufbringen, abzuwarten.

(Elke Ferner [SPD]: Na ja! Zwei Wochen (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
noch!) NEN]: Ihr wisst doch selber nicht, wo es lang-
geht!)
Aber was soll denn bitte Ende September in diesen Eck-
punkten stehen? Es wurde doch angekündigt, dass wir noch im Sommer
die Eckpunkte zur Pflegeversicherung vorlegen werden.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Warten
Sie es ab!) (Elke Ferner [SPD]: In welchem Sommer?)
Dass Sie mit zwei Jahren Verspätung einen Beirat einge- So hat der Minister es versprochen, und das werden wir
setzt haben, dessen Ergebnisse diese Koalition dann auch halten.
nicht umsetzen wird?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
(Elke Ferner [SPD]: Das steht doch schon so CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Der ideologi-
ähnlich im Koalitionsvertrag!) sche Herbst hat schon angefangen!)
14684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Heinz Lanfermann
(A) Sie haben darauf hingewiesen, dass der Beirat in etwa Heinz Lanfermann (FDP): (C)
zehn Monaten Ergebnisse vorlegen soll. Wir danken Nein.
Herrn Gohde, dass er sich bereit erklärt hat, das, was
Sie haben auch noch andere abenteuerliche Dinge er-
nach dem Gutachten, das der Beirat erstellt hat, noch zu
zählt, zum Beispiel, dass wir den Sozialausgleich ver-
tun ist, zu liefern. Aber die Leitlinien muss natürlich die
schoben hätten.
Politik vorgeben. Das hängt wiederum mit den Eckpunk-
ten zusammen. (Elke Ferner [SPD]: Das habe ich überhaupt
nicht gesagt!)
(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wo sind denn die Eckpunkte?) Den kann man aber gar nicht verschieben. Der wird nach
dem Gesetz dann fällig, wenn ein durchschnittlicher Zu-
Deshalb tun Sie bitte nicht so, als würden Sie diesen Zu-
satzbeitrag entsteht. Ein solcher ist aber nicht entstan-
sammenhang nicht erkennen, und lassen Sie uns das den. Stattdessen liegen 2 Milliarden Euro auf der hohen
Stück für Stück abarbeiten. Kante, die der Bundesfinanzminister bereits zur Verfü-
Ich danke dem Kollegen Koschorrek ausdrücklich da- gung gestellt hat und die Sie zum Teil wieder ausgeben
für, dass er hier eine eindrucksvolle Liste dessen präsen- wollen.
tiert hat, was diese Koalition in zwei Jahren schon ge- (Elke Ferner [SPD]: Sie sollten mal zum Oh-
leistet hat. renarzt gehen, Herr Lanfermann!)
(Elke Ferner [SPD]: Nein, er hat gesagt, was Ich will Ihnen deutlich machen, welchen Zustand der
Sie noch machen wollen!) Finanzen wir vorgefunden haben, um auch Ihre diesbe-
Wenn Sie die magere Bilanz von sieben Jahren Rot-Grün züglich vorgetragene Unwahrheit ins rechte Licht zu rü-
damit vergleichen, sollten Sie sich nachträglich dafür cken: Es gab keinen Überschuss. Was bei Übergabe des
schämen. Hauses zählt, sind die Schätzungen für die nächsten
zwölf Monate. Diese lagen bei minus 9 Milliarden Euro
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bis minus 11 Milliarden Euro, je nach Berechnung.
In sieben Jahren Rot-Grün ist bei der Pflegeversicherung (Elke Ferner [SPD]: Was zählt, ist die
gar nichts getan worden. Abrechnung, was ist!)
Was die SPD angeht – Frau Ferner, es ist übrigens er- Wir haben diese Lücke beseitigt, und es war der lä-
staunlich, wie man in sieben Minuten so viel Unwahres chelnde Herr Rösler, den Sie diesbezüglich nicht unter-
erzählen kann –: Sie haben in der Großen Koalition Ih- schätzen sollten, der der Pharmaindustrie zu deren gro-
(B) ren eigenen Koalitionsvertrag vier Jahre lang liegen ßer Freude einige Milliarden Euro abgenommen hat; um (D)
gelassen, in dem Sie die Bildung einer Kapitalreserve es einmal ganz locker zu sagen.
versprochen hatten, um endlich für Generationengerech-
tigkeit zu sorgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Elke Ferner [SPD]: Die CDU hat verspro- Nachdem Ulla Schmidt es neun Jahre lang noch nicht
chen, den Ausgleich zwischen privater und ge- einmal gewagt hat, dieses Problem anzugehen, haben
setzlicher Pflegeversicherung zu organisie- wir mit dem Preisdiktat der Pharmaindustrie gebrochen
ren!) und haben für faire Verhandlungen gesorgt, wie sie in
der Marktwirtschaft in Deutschland seit Jahrzehnten of-
Sie haben das nicht getan, weil Sie eine völlig falsche fensichtlich funktionieren. Man kann sich nur an den
Vorstellung von den Privatversicherten haben. Stattdes- Kopf fassen, wenn man sich vor Augen führt, dass ein
sen haben Sie verlangt, dass die Privatversicherten Anbieter die Preise festgesetzt hat und die andere Seite,
900 Millionen Euro im Jahr an die soziale Pflegeversi- die soziale Krankenversicherung, diese zu zahlen hatte.
cherung überführen. Man kann Philipp Rösler nicht oft genug für seine Re-
form loben. Das war nicht nur ein Paradigmenwechsel,
(Elke Ferner [SPD]: Hat Ihr Koalitionspartner
unterschrieben!) sondern etwas ganz Großartiges.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Da die Gesamteinnahmen nur 2 Milliarden Euro betra-
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Sie haben
gen, kann man sich leicht ausrechnen, dass dies die Zer-
aber niedrige Ansprüche, Herr Lanfermann!)
störung dieses Versicherungszweiges bedeutet hätte.
Außerdem haben wir, ob es Ihnen gefällt oder nicht,
(Elke Ferner [SPD]: Also, Sie haben wirklich keine
die Finanzierung verbessert. Darüber sind Sie sehr trau-
Ahnung und davon eine ganze Menge!)
rig, weil Sie wissen, dass Sie das gar nicht so schnell än-
Aber das ist Ihnen ja sowieso vollkommen egal. dern könnten, wenn Sie eines fernen Tages einmal regie-
ren.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Nicht eines Tages! Das
geht ganz schnell!)
Vizepräsidentin Petra Pau: – Sie sollten übrigens nicht immer so viel Redezeit dafür
Kollege Lanfermann, gestatten Sie eine Zwischen- verschwenden, uns zu erzählen, dass Sie regieren wol-
frage des Kollegen Seifert? len. Das sehen wir Ihnen ja an. Aber damit erreichen Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14685
Heinz Lanfermann
(A) Ihr Ziel noch lange nicht. Abgerechnet wird in zwei Jah- Wenn das die Aufgabe der neuen Gohde-Kommission (C)
ren. ist, dann haben Sie eine gute Vorgabe gemacht. Dann
geht es nicht nur darum, ob Sie eine Spekulationsreserve
(Elke Ferner [SPD]: Genau!) einrichten, sondern auch darum, wie Solidarität organi-
Wenn wir weiter so gute Gesetze machen wie in den siert wird. Das wäre eine tolle Vorgabe.
ersten beiden Jahren unserer Regierungszeit, (Beifall bei der LINKEN)
(Lachen bei der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
zum Beispiel das Versorgungsstrukturgesetz, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist nicht der Rede
wert, das Gesetz!) Heinz Lanfermann (FDP):
Vielen Dank. – Herr Kollege, Sie haben einige Selbst-
auf das Sie schon neidisch sind, bevor es dieses Plenum
verständlichkeiten gesagt; darauf brauche ich nicht ein-
überhaupt erreicht hat – jedenfalls haben Sie nichts dazu
zugehen. Sie haben aber mit Ihrem Beitrag das Thema
gesagt, was Hand und Fuß hat –, dann habe ich gar keine
verfehlt, das vorhin Gegenstand war.
Sorge, dass der Bundesgesundheitsminister auch über
den nächsten Wahltag hinweg im Amt bleibt. Die ersten Der Vorsitzende, Herr Gohde, hat selber gesagt: Es
100 Tage im Amt hat er bravourös gemeistert: gibt einige Bereiche, die wir jetzt noch ausfüllen und
konkretisieren müssen.
(Elke Ferner [SPD]: Oh Gott, Ihre Ansprüche
sind wirklich niedrig!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Vorgaben!)
Ehec-Krise gelöst und alle Gesetzesvorhaben vorange- Das kann er tun. Sie wissen aber ganz genau, dass es in
trieben. diesem Gutachten zur Umsetzung dieses Pflege- bzw.
Pflegebedürftigkeitsbegriffes verschiedene Szenarien
Sie sind ja nicht dabei, wenn wir miteinander verhan- gibt, weil man das unterschiedlich machen kann, weil
deln. man auch sehen muss, wie viel Geld was kosten soll.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist Auch das müssen wir entscheiden. Deswegen gibt es na-
auch gut so!) türlich Arbeit bezüglich der Umsetzung und der Ausge-
staltung.
Deswegen geht Ihnen die Fantasie durch. Ich kann Sie
nur einladen, die Texte auch einmal zu lesen und dann Gleichzeitig müssen wir aber auch wissen, zwischen
(B) konstruktiv im Gesundheitsausschuss mitzuarbeiten. welchen Leitplanken wir uns bewegen sollen. Im Übri- (D)
gen ist das gar nicht unsere Idee gewesen, sondern die
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Beteiligten in der Pflegeszene – das gilt auch für die
Kranken- und Pflegekassen – haben selber gesagt: Wenn
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Pflegebedürftigkeitsbegriff neu definiert wird, dann
müssen bestimmte Dinge geändert werden, zum Beispiel
Vizepräsidentin Petra Pau: Regularien neu formuliert werden. Wir alle, die damit zu
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Seifert das tun haben, wissen: Das braucht seine Zeit.
Wort. Deswegen ist die Ankündigung, dass man in etwa
zehn Monaten diese Arbeit leisten will, sehr zu begrü-
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): ßen. Man muss sich schon jetzt für diese Bereitschaft be-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege danken. Dieser Beirat wird nicht einfach dieselbe Arbeit
Lanfermann, dass Sie uns zum x-ten Mal Ihre Spekula- weitermachen oder gar noch einmal machen, sondern
tionsreserve aufschwatzen wollen, ist wirklich nichts diese Experten sind bereit, wie bei einer Rakete eine
Neues. Darüber brauchen wir nicht lange zu diskutieren: weitere Stufe zu zünden, um damit die ganze Pflege wei-
Wir brauchen sie nicht. terzubringen.
Sie haben über die Pflege und die Gohde-Kommis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sion, die Sie wieder einsetzen wollen, gesprochen. Sie der CDU/CSU)
haben erklärt: Die Politik muss Vorgaben dazu machen,
was die Kommission an Ergebnissen liefern soll. Dann Vizepräsidentin Petra Pau:
machen Sie doch einmal eine Vorgabe. Diese könnte da- Das Wort hat der Kollege Ewald Schurer für die SPD-
rin bestehen, zu sagen: Wir brauchen einen neuen Pfle- Fraktion.
gebegriff – so wie ihn die Gohde-Kommission definiert
hat –, der die Teilhabe in den Mittelpunkt rückt und sich (Beifall bei der SPD)
nicht nur an „satt, sauber, trocken“ orientiert. Dieser
Pflegebegriff sollte Grundlage der zukünftigen Arbeit Ewald Schurer (SPD):
sein. Alles sollte daran ausgerichtet werden, wie er um- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
gesetzt wird, wie Menschen, die Pflege brauchen oder und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
vielleicht sogar inkontinent sind, am Leben teilhaben Zunächst einmal darf ich als Haushälter dem Herrn
können. Minister meine Glückwünsche aussprechen, dass er erst-
14686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Ewald Schurer
(A) mals als Minister den Haushalt einbringen kann. Sie wa- Bekämpfung von HIV/Aids in Osteuropa haben Sie ganz (C)
ren ja bereits in den vergangenen Jahren als Parlamenta- und gar eingestellt. Vor dem Hintergrund der Bedrohung
rischer Staatssekretär beteiligt. Ich darf mich auch beim durch die schwierige Infektionskrankheit Aids ist das ein
Ministerium dafür bedanken, dass die Unterlagen für die Skandal.
Haushaltsberatungen umfänglich und rechtzeitig zur
Verfügung gestellt wurden. Das ist immerhin schon eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Leistung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist die Wahrheit, Herr Minister. Wissen Sie, wenn
der FDP) man Minister ist, muss man auch eine Messe lesen kön-
nen und darf sich hier nicht wie ein Ministrant gerieren.
So weit, so gut. Nichts gegen Ministranten; aber man muss eine Messe
Ich darf dem Herrn Minister attestieren, dass er mit lesen können. Das sei Ihnen kurz vor dem Besuch des
einer Information richtig lag: Der für 2012 geplante Papstes in diesem Hohen Hause ins Stammbuch ge-
Steuerzuschuss von 14 Milliarden Euro erreicht eine schrieben.
Höchstgrenze. Dieser Prozess wurde 2006 und 2007 be- Beim Thema Alkohol- und Zigarettenmissbrauch
gonnen. Seit 2009 fließen Steuerzuschüsse in den Ge- zeigt sich das gleiche Bild. Sie kürzen bei den Program-
sundheitsfonds. Insoweit lagen Sie, fachlich gesehen, men zur Bekämpfung von Alkohol- und Zigarettenmiss-
richtig. brauch. Das ist wieder ein Bereich, bei dem man gestal-
Die Rechtsgrundlage dafür findet sich in § 221 ten könnte. Sie können hier nicht gestalten, weil Sie die
SGB V: Beteiligung des Bundes an Aufwendungen. Ge- notwendigen Mittel eindampfen.
meinhin sagt man dazu: pauschale Abgeltung für ge-
samtgesellschaftliche Aufgaben. Diese wurden dem Ge- Lassen Sie mich noch einmal über ein positives Mo-
sundheitswesen von der Politik übertragen. ment reden. Es ist positiv, dass aus dem Bundespro-
gramm für Bildung und Forschung immerhin 7 Millio-
Aber dann hört es mit dem Wahrheitsgehalt auf – das nen Euro an das BMG gehen. Das ist schön. Meine
tut weh –, weil Haushaltsberatungen nicht nur ein not- Angst ist aber, dass diese Gelder wieder mal an die In-
wendiges Übel sind, das man irgendwie abspulen muss, dustrie verhökert oder weitergeleitet werden, anstatt da-
Herr Bahr, sondern den Minister bei seinen inhaltlichen mit sinnvolle Programme für Kindergesundheit, für Arz-
Ausführungen zu Wahrheit und Klarheit verpflichten. neimittel- und Therapiesicherheit oder für die Pflege zu
(Elke Ferner [SPD]: Das wäre etwas Neues!) finanzieren. Ich bin gespannt, was Sie dort substanziell
zu leisten in der Lage sind. Allerdings habe ich kein gro-
(B) Das habe ich im fachlichen Kontext vermisst. Herr ßes Vertrauen. (D)
Lanfermann, Sie müssten als alter Hase schon wissen,
dass Haushaltsdebatten sich an der Richtschnur von Wie schon gesagt worden ist, hat Herr Rösler im
Wahrheit und Klarheit zu orientieren haben. Herbst letzten Jahres ein großes Programm für Pflege
angekündigt. Es gibt die Beiräte. Das ist ja gut und
Neben diesen 14 Milliarden Euro haben wir einen schön. Die Kollegin hat es ausführlich ausgeführt. Es
materiellen Kern. Das sind die verbleibenden 483 Mil- gibt aber keinerlei eigene Definition. Sie stochern mit
lionen Euro. Sie stellen nur 3,4 Prozent des Gesamthaus- der Stange im Nebel herum, was einen neuen und so
haltes dar, sind aber als materieller Kern sehr wichtig. wichtigen Pflegebegriff angeht.
Ich darf auch erwähnen, dass immerhin ein Fünftel von
diesen 483 Millionen Euro, nämlich 92,3 Millionen Wir wissen nur: Was kommen soll, wird die kapital-
Euro, durch Gebühren und Einnahmen gegenfinanziert gedeckte Zusatzversicherung sein, und es wird zulasten
sind, vor allen Dingen durch das BfArM. Weil wir in der der Versicherten gehen. – Das sind die Optionen, mit de-
Haushaltsdebatte sind, sei das noch angemerkt. nen Sie hier ins Spielfeld schreiten. Dies ist keine große
Leistung.
Aber jetzt kommt der für mich als Haushälter bittere
Moment. Dort, wo diese Bundesregierung inhaltlich ge- Die Eckpunkte sind zum 23. September angekündigt.
stalten könnte, tut sie es definitiv nicht. Das haben die Was für einen Kalender haben Sie in der FDP oder im
Kolleginnen und Kollegen teilweise bereits aufgearbeitet Ministerium? Für mich beginnt das Jahr am 1. Januar
und angerissen. Das gilt zum Beispiel bei der Präven- und nicht am 23. September. Auch das ist eine enorm
tion. Dort kürzen Sie bei den Titeln mit Programmcha- schwache Leistung.
rakter. Sie haben auch keine Präventionsstrategie vorge-
legt. Warum kürzen Sie bei dem wichtigen Feld der (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]:
Prävention? Das ist meine Frage. Darauf haben Sie in Ih- Es war vom Sommer die Rede!)
rer Rede keine Antwort gegeben. Dann versuchen Sie, sich da auf den Beirat herauszu-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) reden. Herr Lanfermann, wo sind wir denn? Beiräte gibt
es überall. Sie bräuchten auch einen Beirat; das weiß ich.
Des Weiteren darf ich das so wichtige Thema HIV/ Das würde Ihnen persönlich sehr guttun.
Aids nennen. Wir wissen, dass die Ansteckungsquoten
nach wie vor auf hohem Niveau stagnieren. Sie haben Nun komme ich zum Versorgungsstrukturgesetz. Es
hier nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben die Aufklä- gibt endlich eine Vorlage aus dem Kabinett – aus der
rungstitel um 1 Million Euro gekürzt. Das Programm zur Sommerpause, vom August 2011. Immerhin haben Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14687
Ewald Schurer
(A) das geschafft. Reden wir aber über das, was wir bei der Im Übrigen sind es nicht 3 Milliarden Euro, Herr (C)
Versorgungsstruktur und einer Gesetzgebung brauchen. Koschorrek, sondern 180 Milliarden Euro an GKV-Mit-
teln insgesamt und 250 Milliarden Euro im Jahr an Wert-
Erstens brauchen wir zunächst einmal eine Bedarfs- schöpfungsleistung in der Volkswirtschaft. Das ist eine
planung, die sich am Wohle der Patientinnen und Patien- Viertel Billion, und es sind 12 Prozent des volkswirt-
ten orientiert. schaftlichen Volumens. Mittel, die in die Gesundheits-
Zweitens brauchen wir einen Abbau von Unter- und wirtschaft fließen, bedeuten Wertschöpfung. Es sind
gleichzeitiger Überversorgung im Lande. nicht nur Kosten, sondern sie dienen der Gesundheit und
der Entwicklung von Arbeitsplätzen. Das ist richtig.
(Beifall bei der SPD)
Daran werden übrigens Geldgeschenke an Mediziner in Vizepräsidentin Petra Pau:
keiner Weise substanziell etwas verändern. Kollege Schurer, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Drittens brauchen wir mehr medizinische Versor- Ewald Schurer (SPD):


gungszentren – machen wir uns nichts vor; betrachten Die Erwartungen erfüllen Sie nicht. Das ist bitter. Das
wir es ganz unideologisch – und pragmatische Lösungen tut weh. Das ist, denke ich, beschämend.
für deren Trägerschaft. Unter anderem natürlich die
Ärzte, aber auch Kommunen, Gebietskörperschaften und Herzlichen Dank.
Krankenhäuser könnten mögliche Träger sein.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Viertens – daran kommen wir nicht vorbei – brauchen
wir gestärkte Hausärzte, die als Lotsen die Patientinnen Der Kollege Stephan Stracke hat nun für die Unions-
und Patienten im Gesundheitssystem leiten können. fraktion das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zum Schluss möchte ich noch eine Aussage treffen.
Was Sie im letzten Jahr abgeliefert haben, ist in der Tat
Stephan Stracke (CDU/CSU):
(Zuruf von der FDP: Eine ganze Menge!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nichts anderes als Verzögerung und Verschlimmbessern
Herr Schurer, an den Risiken und Nebenwirkungen und
der Situation, die wir bei Herrn Rösler vorgefunden ha-
vor allem an den bitteren Pillen, die die SPD in den letz-
(B) ben. Sie zeigen nirgends auf, dass Sie ein Kompetenz- ten Jahren verabreicht hat, vor allem was Ihre Verant- (D)
zentrum sind. Ich erwarte von einem Gesundheitsminis-
wortung für das BMG angeht, kauen die Versicherten
terium, dass es auch ein Kompetenzzentrum ist, das
und Patienten immer noch. Wir sind dabei, entspre-
inhaltliche Lösungen anbietet und sie selbst in die Ge-
chende Maßnahmen durchzuführen, damit sich das wie-
sellschaft hineinträgt. Es reicht nicht, zu sagen: Warten
der zum Positiven wendet.
wir ab, was der Beirat uns empfiehlt; dann haben wir
auch eine Meinung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
So kann es nicht gehen. Sie liegen weit unterhalb des
Niveaus, das man von einem Ministerium verlangen Diese Koalition leistet insofern eine hervorragende
kann. Arbeit. Sie erfüllt sämtliche Herausforderungen, die an
sie gestellt werden, auch in zeitlicher Hinsicht. Bleiben
Damit komme ich zu meiner abschließenden Aus- Sie gelassen! Wir kriegen das alles gut hin, insbesondere
sage: Die Risiken und Nebenwirkungen der FDP-Politik was die Pflege angeht.
tragen alleine die Versicherten. Das ist bitter genug. In
den nächsten zwei Jahren erwarte ich persönlich von Ih- Zu Beginn dieser Legislaturperiode drohte der gesetz-
nen keine Aufhellung des getrübten Himmels. Ich er- lichen Krankenversicherung ein Defizit von bis zu
warte, dass Sie versuchen, sich über die Zeit zu retten. 9 Milliarden Euro. Das war die Ausgangslage. Es ist uns
Diese Zeit bedeutet, dass im September 2013 eine neue gelungen, dieses gewaltige Defizit zu überwinden und
Ära beginnt: ohne Schwarz-Gelb wieder in Richtung So- das Blatt zu wenden.
lidargemeinschaft und Bürgerversicherung für Pflege (Elke Ferner [SPD]: Beitragssatzerhöhung!)
und Gesundheit.
Jetzt sprechen wir nicht mehr von Defiziten, sondern
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hoch- von einem Überschuss in der gesetzlichen Krankenver-
mut kommt vor dem Fall, Herr Schurer!) sicherung. Beispielsweise wurde im ersten Halbjahr
Das ist der programmatische Ansatz, mit dem wir das 2011 in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Über-
hohe Leistungsvermögen in dieser Volkswirtschaft si- schuss von 2,4 Milliarden Euro erzielt.
chern. (Elke Ferner [SPD]: Trotz dieser Regierung,
nicht wegen!)
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Man-
che haben die Arroganz der Macht, die die Diese positive Entwicklung ist alles andere als eine
Macht gar nicht haben!) Selbstverständlichkeit. Sie ist das Ergebnis harter Arbeit
14688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Stephan Stracke
(A) und richtiger Weichenstellungen vor allem dieser christ- (Elke Ferner [SPD]: Was erzählen Sie für (C)
lich-liberalen Koalition. einen Unsinn?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dies hat die Vergangenheit gezeigt. Wir betreiben seit
der FDP) 30 Jahren – insbesondere unter der Regentschaft von
Ulla Schmidt von der SPD war dem so – eine Ausgaben-
Nehmen Sie nur die Einnahmeseite bei der gesetzli- begrenzungspolitik.
chen Krankenversicherung. Sie profitiert selbstverständ-
lich von der positiven konjunkturellen Entwicklung. (Elke Ferner [SPD]: Seit 30 Jahren?)
Dass diese Entwicklung so positiv ist, ist vor allem da- – Das waren auf jeden Fall gefühlte 30 Jahre. – Trotz der
rauf zurückzuführen, dass wir eine kluge Wirtschafts- Begrenzung von Ausgaben, trotz Budgetierung und trotz
politik betreiben. Dafür steht diese Koalition mit ihren Leistungsverringerung sind die Beiträge immer weiter
Entlastungen der Bürger und Unternehmen. gestiegen. Dieser Weg kann daher nicht weiter beschrit-
(Elke Ferner [SPD]: Sie wissen gar nicht, was ten werden. Deshalb haben wir diesen Weg verlassen.
das ist! Mövenpick! – Ewald Schurer [SPD]: Wir brauchen keine Planwirtschaft und keine Staatsme-
Das ist die einzige spürbare Entlastung!) dizin, wie Sie es wollen, sondern wir brauchen mehr so-
ziale Marktwirtschaft. Kernelemente dieser sozialen
– Ja, ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen. Aber es Marktwirtschaft sind mehr Wettbewerb und Transpa-
ist nun einmal die Realität. renz; denn mehr Transparenz und Wettbewerb führen zu
höherer Effizienz und höherer Qualität. Das ist unser
Auch auf der Ausgabenseite hat sich vieles zum Posi- Ansatz. Diesen Ansatz machen wir in unserer gemeinsa-
tiven gewendet. Vor allem das Arzneimittelsparpaket men Politik deutlich.
wirkt sich entsprechend aus. Seit Jahren müssen wir ei-
nen ungebremsten Ausgabenanstieg im Arzneimittelbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
reich erleben. Uns ist es gelungen, zu Ausgabensenkun- Ewald Schurer [SPD]: Wo haben Sie Wettbe-
gen zu kommen. Erstmals ist ein Rückgang um werb?)
6,3 Prozent zu verzeichnen. Das bedeutet für die Kran- Nehmen wir das Arzneimittelneuordnungsgesetz. Ei-
kenkassen eine monatliche Entlastung von 100 Millio- nige Kollegen haben es angesprochen. Wir haben zum
nen Euro. Wer von Ihnen, werte Opposition, hat das je- ersten Mal das Preismonopol der Pharmaindustrie gebro-
mals hinbekommen? Außer in weinseligen Runden chen. Das bedeutet für die Versicherten eine Entlastung
zusammenzusitzen, kam wenig heraus. von jährlich rund 2 Milliarden Euro. Dafür können wir
(Ewald Schurer [SPD]: Sie wissen doch nicht, uns loben, und auch Sie dürfen uns dafür loben, weil das
(B) was wir trinken!) den Versicherten nützt. (D)

Wir machen das als christlich-liberale Koalition insbe- (Heinz Lanfermann [FDP]: Das kriegen die
sondere, indem wir den Pharmarabatt eingeführt haben. nicht über die Zunge!)
Die Pharmaindustrie leistet nun erstmals einen echten – Ich weiß, dass die das nicht hinbekommen, aber an-
Sparbeitrag. Das haben wir durchgesetzt. ständig wäre es auf jeden Fall. – Jetzt müssen die Her-
steller beweisen, dass ihre neuen Arzneimittel tatsäch-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
lich einen zusätzlichen Nutzen haben. Daran orientiert
Am Anfang der Legislaturperiode mussten wir notge- sich von nun an die Preisfindung; denn wir wollen tat-
drungen viele kurzfristige Maßnahmen durchsetzen. sächlichen Fortschritt bezahlen und nicht bloß verspro-
Diese hatten viel mit dem drohenden Milliardendefizit chenen. Das verstehen wir unter Transparenz und Wett-
zu tun. Es ist gelungen, dieses abzuwenden. Jetzt können bewerb. Aber zum Wettbewerb gehört auch Fairness.
wir uns Strukturfragen zuwenden. Deswegen erwarten wir, dass die Parteien bei der Nut-
zenbewertung fair miteinander umgehen. Dazu gehört,
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! dass der gesetzlich verankerte Beratungsanspruch der
So ist es!) Hersteller nicht ins Leere läuft, sondern in der Praxis ge-
Zur Skizzierung der Ausgangslage sei ganz kurz an- lebt wird.
gemerkt: Es ist eigentlich eine banale Erkenntnis, dass es (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Exakt!
die demografische Entwicklung und der medizinisch- Sehr richtig!)
technische Fortschritt sind, die die Strukturen und die
finanziellen Grundlagen unseres gesetzlichen Kranken- Beratung heißt Dialog, heißt Austausch und nicht Mono-
versicherungssystems maßgeblich prägen und auch wei- log auf dem Schriftwege. Ich erwarte, dass der Gemein-
terhin prägen werden. Deswegen gibt es in der Gesund- same Bundesausschuss diesem Gesetzeswillen Rech-
heitspolitik kein Weiter-so. Darüber besteht allgemeiner nung trägt und ihn nicht unterläuft.
Konsens in diesem Hohen Hause. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Darauf beschränkt sich aber auch der Konsens. Die Transparenz und Wettbewerb prägen in Zukunft nicht
Rezepte der Opposition – schauen Sie sich die Vor- nur den Arzneimittelmarkt, sondern auch die Finanzie-
schläge insgesamt an – bestehen in mehr Staat, mehr Re- rungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversiche-
gulierung und mehr Planwirtschaft. Das alles hat keine rung. Die Zusatzbeiträge entfalten erstmals ein echtes
Zukunft. Preissignal. Jetzt kann der Versicherte auf Euro und Cent
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14689
Stephan Stracke
(A) genau erkennen, was ihn die Krankenversicherung kos- achten, dass die Balance gewahrt bleibt. Es darf nicht so (C)
tet. Damit haben wir zusätzlich ein Wettbewerbselement sein, dass derjenige, der bestellt, ein anderer ist als derje-
eingefügt. Keiner, insbesondere keiner von der Opposi- nige, der die Rechnung bezahlt. Darauf, dass es hier
tion, hat für möglich gehalten, dass dieses Element eine nicht zu Disparitäten kommt, achten wir.
solche wettbewerbliche Wirkung entfaltet. Ich halte das
Junge Mediziner haben vor allem die Sorge, dass sie
insgesamt für gut, weil das dem Gesundheitswesen gut-
doppelt bestraft werden, gerade in unterversorgten Ge-
tut.
bieten. Zum einen haben sie dort mehr Arbeit, mehr Pa-
Zum Wettbewerb gehört aber auch die Möglichkeit tienten und einen höheren Aufwand, und zum anderen
des Scheiterns. Die Insolvenz der City BKK zeigt das. verdienen sie im Einzelfall weniger, weil unser Honorar-
Das muss man akzeptieren. Man muss allerdings auch system mehr Leistung eher bestraft als belohnt. Hinzu
die Rahmenbedingungen akzeptieren. Das heißt, dass die kommt die Angst vor Regressen. Das gehen wir an, in-
Versicherten zu Recht erwarten dürfen, dass sie das Soli- dem wir die Niederlassung attraktiver gestalten. Das
darsystem in einem solchen Fall auffängt. Das Schau- geht nicht mit planwirtschaftlichen Elementen, wie viele
spiel, das einzelne Krankenkassen aufgeführt haben, war es sich vorstellen. Eine Landverschickung per Gesetz
daher schlicht und ergreifend unwürdig. Das war unan- wird nicht funktionieren. Wir setzen auf Anreize: Men-
ständig. genabstaffelung, Abbau von Regressängsten und vor al-
lem Regionalisierung der Honorare.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Ko-
alition hat in den vergangenen beiden Jahren gute Arbeit
Deswegen werden wir diesbezüglich zu Veränderungen
geleistet. Wir haben jetzt einen guten, einen hervorra-
kommen und die Befugnisse der Aufsichtsbehörden er-
genden Minister. Daher werden wir all den Herausforde-
weitern. Wir werden dabei bis zum Mittel der Amtsent-
rungen voll und ganz gerecht werden. Seien Sie versi-
hebung von Vorstandsmitgliedern bei grober Pflichtver-
chert: Diese Koalition tut Deutschland gut. Das werden
letzung greifen.
wir tagtäglich zeigen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Herzlichen Dank.
Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das will ich
sehen, dass das kommt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Neben den strukturbestimmenden Merkmalen von
Wettbewerb und Transparenz geht es in Zukunft auch Vizepräsidentin Petra Pau:
darum, die Gesundheitspolitik immer wieder an der kon- Die Kollegin Birgitt Bender hat für die Fraktion
(B) kreten Versorgungssituation der Patienten zu messen. Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (D)
Maßstab muss die erlebte Versorgungsrealität der Patien-
ten mit ihren Bedürfnissen, Sorgen und Ängsten sein. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Genau das greifen wir auf. Ziel muss es sein, dass wir Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor-
weiterhin eine hervorragende Gesundheitsversorgung herige Gesundheitsminister sah eines Tages die Chance,
flächendeckend, wohnortnah und bedarfsgerecht ge- seine Partei zu retten, indem er ihren Vorsitz übernahm.
währleisten. Dazu verändern wir die Rahmenbedingun- Ob ihm das geholfen hat, sei dahingestellt. Dabei war
gen, auch die der Leistungserbringer. Das ist aber nie ihm das Gesundheitsressort offensichtlich lästig, und er
Selbstzweck, sondern dahinter steht immer das Ziel, eine hat es flugs hingeworfen. Angekündigt hat er dann: Ab
noch bessere Versorgungsqualität der Patienten zu errei- jetzt wird geliefert. Man sollte annehmen, das habe sich
chen. auch auf die Gesundheitspolitik bezogen und sei dem-
Viele Menschen haben einfach die Sorge, dass sich entsprechend Ihre Aufgabe, Herr Minister Bahr.
die medizinische Versorgung auf dem Land verschlech- (Jens Ackermann [FDP]: Aber er liefert doch!)
tert. Ich komme aus dem Allgäu, einem wunderschönen
Landstrich. Dort liegt der Versorgungsgrad bei 110 Pro- Nun haben wir schon gehört, dass jedenfalls in der
zent. Dazu würden Sie sagen: Alles wunderbar, alles Pflege gar nichts außer dem Modell „lange Bank“ gelie-
prima. Wenn man aber einmal genau hinschaut, etwa bei fert wird. Da ist also schon einmal nichts mit Lieferung.
den Hausärzten, stellt man fest, dass beispielsweise in ei- (Heinz Lanfermann [FDP]: Schon wieder
nem Landkreis meines Wahlkreises fast ein Drittel der jemand, der nicht zugehört hat!)
Hausärzte über 60 ist. Ich weiß, dass diese – wunder-
schöne – Region für Deutschland sicherlich nicht reprä- Es hat sich nämlich gezeigt, dass das, was die FDP so
sentativ ist; dennoch zeigt sie eine gewisse Entwicklung gerne als Lösung hätte – die private Zusatzzwangsversi-
auf. Deswegen ist es richtig, den Bedarf vom Patienten cherung als neuen Markt für die PKV –, auch bei CDU
her zu denken. Genau das tun wir, indem wir zum Aus- und CSU Stirnrunzeln hervorgerufen hat – zu Recht.
gangspunkt unseres Versorgungsstrukturgesetzes den Nun fällt Ihnen gar nichts mehr ein, und deswegen pas-
tatsächlichen Bedarf der Menschen machen. siert nichts.
Was heißt das? Wir geben mit unserem Versorgungs- In anderen Bereichen sieht es so aus, als ob Sie liefer-
strukturgesetz den Ländern mehr Mitwirkungsrechte. ten; aber in der Verpackung ist nicht das, was Sie ver-
Regionale Besonderheiten können künftig besser be- sprechen. Angeblich haben wir jetzt den Entwurf eines
rücksichtigt werden. Wir müssen hierbei auch darauf Landärzteförderungsgesetzes auf dem Tisch liegen. Was
14690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Birgitt Bender
(A) enthält es für die Landärzte? Es wird versprochen, dass den Zugang zum Facharzt für die GKV-Versicherten; die (C)
die Honorarregelung, die dazu führt, dass das Honorar kriegen schneller einen Termin. – Das hörte sich glatt so
desjenigen, der besonders viele Patienten behandelt, am an, als würden Sie einen Praxiskalenderüberwachungs-
Ende niedriger ausfällt, aufgehoben wird. inspektor hinter jeden Arzt setzen wollen; eine beson-
ders kluge Idee.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Sind Sie
dagegen?) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir heißen ja nicht
– Nein, ich bin nicht dagegen. – SPD! – Stephan Stracke [CDU/CSU]: So et-
was macht nur die SPD!)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Wunderbar!
Bravo!) Als Ihnen das aufgegangen ist, haben Sie den Vor-
schlag gleich wieder eingesammelt. Aber was Sie nicht
Aber wissen Sie, werter Herr Kollege Lanfermann, wie tun, ist, das Problem, das es ja gibt, nämlich dass die ge-
viele Ärztinnen und Ärzte das zurzeit betrifft? Es sind setzlich Versicherten je nach Region und je nach Fach-
exakt 37. arztgruppe deutlich länger auf einen Termin warten als
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Privatversicherten, von der Wurzel her anzugehen.
NEN]: Donnerwetter!) (Beifall bei der SPD)
37 Ärztinnen und Ärzte werden von dieser Regelung Es ist für Ärzte nun einmal ökonomisch rational, dass
profitieren. Das soll eine Förderung der Landärzte sein? sie diejenigen vorziehen, für deren Behandlung sie bes-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ser bezahlt werden. Deswegen muss man das ändern und
Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist doch die Ärztinnen und Ärzte gleichermaßen für die Behand-
Quatsch!) lung bezahlen. Die Kosten für die Behandlung dürfen
sich nicht nach dem Versicherungsstatus der Patienten
Was passiert stattdessen? Es ist ja nicht so, als würden richten, sondern nach der Krankheit, die diese haben.
Ärzte nicht profitieren. Schauen wir einmal einen Mo- Wir brauchen eine einheitliche Honorarordnung.
ment lang zurück: In der Zeit von 2007 bis 2010 ist das
ärztliche Honorarvolumen um rund 4,3 Milliarden Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gestiegen. bei der SPD und der LINKEN)
(Rolf Schwanitz [SPD]: Hört! Hört!) Wir brauchen auch gleiche Spielregeln. Das ist der
Weg zur Bürgerversicherung. Genau das wollen Sie
In diesem Jahr kommt noch einmal 1 Milliarde Euro
nicht.
hinzu. Wenn das Versorgungsgesetz tatsächlich so kommt,
(B) (D)
dann erhalten die Ärzte noch einmal 600 bis 800 Millio- (Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das ist der
nen Euro und die Zahnärzte noch einmal 400 Millionen. falsche Weg!)
Dass bei der spezialisierten fachärztlichen Versorgung
die Steuerungsinstrumente hinsichtlich Menge und Qua- Was wir auch brauchen, ist eine vernetzte Versorgung.
lität gleich vom Tisch gewischt werden, kostet noch ein- Da, wo nämlich Haus- und Fachärzte und möglichst
mal zusätzlich eine halbe Milliarde Euro. Das heißt, ab noch andere Gesundheitsberufe zusammenarbeiten, im
2013 haben wir dann wiederum Mehrkosten von 2 Mil- MVZ, bei den Hausarztverträgen, in der integrierten Ver-
liarden Euro, die bei der Ärzteschaft ankommen und dann sorgung, da klappt es auch mit der Terminvergabe. Da
die Startrampe für weitere Honorarverhandlungen für die braucht man nicht irgendwelche Sanktionsmechanismen.
nächsten Jahre bilden. Das nenne ich ein Ärztebeglü- Aber genau daran krankt es doch. Sie haben nur wieder
ckungsgesetz. die ärztliche Einzelpraxis im Blick und dass es so weiter-
gehen soll wie bisher. Sie denken nicht daran, dass eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gut strukturierte Versorgung eine vernetzte Versorgung
bei der SPD und der LINKEN) ist und auch eine Versorgung, bei der die Allzuständig-
Nur hat das mit der Förderung des ländlichen Raums keit der Ärzte aufgehoben wird und auch einmal anderen
und der gesundheitlichen Versorgung dort rein gar nichts Gesundheitsberufen mehr Verantwortung zugetraut und
zu tun. zugemutet wird, wodurch die Patienten bessergestellt
werden, so wie das in anderen Ländern auch der Fall ist.
(Ewald Schurer [SPD]: Exakt!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Bezahlen werden diesen Goldrausch die Versicherten. bei der SPD und der LINKEN)
(Elke Ferner [SPD]: Mit einer Kopf- Kurz gesagt: Hier wird nichts anderes abgeliefert als
pauschale!) die alte Klientelpflegepolitik, und damit hat dieser Ge-
Sie haben ja dafür gesorgt, dass jede weitere Kostenstei- sundheitsminister gar nichts abgeliefert.
gerung einseitig in Form von Zusatzbeiträgen bei den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versicherten abgeladen wird.
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Nun ist Ihnen offenbar auch aufgegangen, dass man Harald Weinberg [DIE LINKE] – Heinz
denen wenigstens versprechen müsste, dass die Versor- Lanfermann [FDP]: Schreiben Sie doch ein-
gung sich verbessert. Da haben Sie dieser Tage einen mal Kinderbücher! Bei der Fantasie ist das
Joker aus dem Ärmel gezogen, der hieß: Wir verbessern noch drin!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14691

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben die Arbeitgeberbeiträge festgeschrieben, (C)
Das Wort hat der Kollege Lothar Riebsamen für die um Arbeitsplätze zu erhalten. Wir haben die Beiträge in
CDU/CSU-Fraktion. der Krise reduziert.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Sie haben die Beiträge
erst einmal erhöht!)
Lothar Riebsamen (CDU/CSU): – Wir haben sie in der Krise reduziert.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vergleicht man den Bundeshaushalt mit ei- (Elke Ferner [SPD]: Die haben wir in der Gro-
nem Haus, dann ist das Ressort Gesundheit sicher nicht ßen Koalition abgesenkt! Das hat nichts mit
das Fundament oder das wichtigste Geschoss, sondern der FDP zu tun!)
das Ressort Gesundheit hat eine ganz andere, besonders
Von den 14,5 Milliarden Euro, die wir im Haushalt ver-
wichtige Funktion, nämlich dafür zu sorgen, dass es le-
anschlagt haben, investieren wir 14 Milliarden Euro in
benswert ist, in diesem Haus zu leben und in diesem
versicherungsfremde Leistungen und in eine angemes-
Haus gesund zu bleiben, vom Kind bis zum Greis.
sene Steuerbeteiligung zur sozialen Abfederung von Zu-
70 Millionen Versicherte in unserem Land: Das steht satzbeiträgen.
hinter diesem Haushalt. Diesem Anspruch werden wir
mit allen Maßnahmen gerecht, die wir für diesen Haus- Auch die Sofortmaßnahmen, die wir notwendiger-
halt vorbereitet haben und die wir in diesem Haushalt weise ergreifen mussten, weil ein Defizit von 11 Milliar-
umsetzen. den Euro zu erwarten war, haben Wirkung gezeigt. Die
Sparpakete im Arzneimittelbereich haben Wirkung ge-
Dadurch ist die Gesundheitswirtschaft natürlich auch zeigt. Wir haben schon wenige Monate nach Übernahme
ein bedeutender Wirtschaftszweig in unserem Land. der Regierungsverantwortung mit dem GKV-Ände-
4,3 Millionen Menschen erwirtschaften 10 Prozent des rungsgesetz die Zwangsrabatte erhöht. Dadurch spart die
Bruttoinlandsprodukts. GKV 1,5 Milliarden Euro pro Jahr ein. Hinzu kommen
seit dem 1. Januar 2011 durch das AMNOG weitere
(Ewald Schurer [SPD]: 12!)
2 Milliarden Euro im Jahr. Die Auswirkungen sind also
Wir lesen zurzeit in den Medien, dass sich die Ge- deutlich sichtbar. Die Medien, die das im vergangenen
sundheitswirtschaft weltweit verdreifachen wird. Zu Jahr noch kritisiert haben, müssen heute eingestehen
Recht haben der Bundesgesundheitsminister und der – sie tun dies teilweise auch –, dass wir sinnvolle und
Bundeswirtschaftsminister die Gesundheitswirtschaft für richtige Maßnahmen ergriffen haben.
die nächsten Jahre und Jahrzehnte als wichtiges Export-
(B) angebot erkannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)

Diese Entwicklung ist jedoch kein Selbstläufer. Sie ist Gegenüber dem ersten Halbjahr 2010 hat sich im Jahr
nicht zum Nulltarif zu haben. Es ist notwendig, an den 2011 die Gesamtsituation der GKV um 2,3 Milliarden
Konzepten und an der Richtung, die wir zur langfristigen Euro verbessert. Im ersten Quartal 2011 konnten allein
Finanzierung des Gesundheitssystems und zur kurzfristi- die Arzneimittelausgaben um 5 Prozent reduziert wer-
gen Sicherung der Haushalte eingeschlagen haben, fest- den. Der Schätzerkreis der gesetzlichen Krankenversi-
zuhalten. cherung erwartet, dass es zum Ende dieses Jahres eine
Liquiditätsreserve in Höhe von 6,9 Milliarden Euro im
Der Etat im Haushalt des Bundes ist von 1 Milliarde Gesundheitsfonds geben wird.
Euro im Jahr 2004 auf nunmehr über 14 Milliarden Euro
aufgewachsen. Er fällt 2012 allerdings um circa 2 Mil- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war
liarden Euro geringer aus als in den beiden vorhergehen- noch nie da! – Elke Ferner [SPD]: Sie haben
den Jahren, und zwar ganz einfach deshalb, weil in die- die Beiträge mehr als nötig erhöht!)
sem Jahr keine Stützung des Gesundheitsfonds Diese Liquiditätsreserve brauchen wir allerdings auch.
notwendig ist. Das liegt daran, dass wir einen hervorra-
gend florierenden Arbeitsmarkt haben und wir die Ar- Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat
beitslosigkeit deutlich reduzieren konnten. im Juni 2011 eingeräumt, dass das AMNOG keine nega-
tiven Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der Ge-
(Elke Ferner [SPD]: Sie doch nicht! – Gegen- sundheitsbranche hat. Das AMNOG war demnach nicht
ruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Nein, nur im Interesse der Beitragszahler, sondern stellte um-
das hat nur die Opposition gemacht, Frau gekehrt auch keinen Schaden für die Industrie in unse-
Ferner! Das wissen wir doch!) rem Land dar. Auch das GKV-Finanzierungsgesetz, das
Das haben wir unseren fleißigen Arbeitnehmerinnen und zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, hat die
Arbeitnehmern zu verdanken. Das haben wir unseren Einnahmen und die Ausgaben der GKV stabilisiert. Mit
Tarifpartnern zu verdanken, die vernünftig gehandelt ha- Beiträgen, die sich auf dem Niveau von vor der Krise be-
ben. Das haben wir einer vernünftigen Wirtschaftspoli- wegen, mit der Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge
tik, aber auch einer vernünftigen Gesundheitspolitik zu und mit einem steuerfinanzierten Sozialausgleich wird
verdanken. niemand überfordert,
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es! (Ewald Schurer [SPD]: Das hat doch der Herr
Genau!) Schäuble widerrufen! Was erzählen Sie? Das
14692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Lothar Riebsamen
(A) ist nicht gesichert! – Weiterer Zuruf der Abg. Weltgesundheitsorganisation bestätigt, dass in Deutsch- (C)
Elke Ferner [SPD]) land 16 psychisch Kranke im stationären Bereich auf
1 000 Einwohner fallen. In den Niederlanden ist es ein
und es entsteht eine Knautschzone für die gesetzlichen Patient pro 1 000 Einwohner. Da kann etwas nicht stim-
Krankenkassen. men. Es liegt mit Sicherheit daran, dass hier der ambu-
Kurzum: Wir haben langfristige und wir haben kurz- lante und der stationäre Bereich – ich habe es bereits er-
fristige Verbesserungen erzielt, ohne in den Leistungska- wähnt – nicht so verzahnt sind, wie es notwendig wäre.
talog einzugreifen und ohne Priorisierungen vorzuneh- Deswegen müssen wir, wenn wir das Psych-Entgeltsys-
men, wie dies in anderen Ländern teilweise üblich ist. tem einführen, darauf achten, mittelfristig die psychiatri-
schen Institutsambulanzen in die neuen Entgeltüberle-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gungen mit einzubeziehen und das Mittel der integrierten
Es zeigt sich allerdings auch, dass die Arbeit in diesem Versorgung, das es ja bereits gibt, noch intensiver zu nut-
Bereich nicht ausgehen wird. Weitere Vorhaben sind für zen, als es bisher der Fall ist.
2011/2012 in der Pipeline: Ich rede vom Versorgungs- Bemerkenswert an diesem Bundeshaushalt ist auch,
strukturgesetz. Ich rede von einer zielgenaueren ärztli- dass 26,4 Milliarden Euro – das sind gerade einmal
chen Versorgung im ländlichen Raum. Liebe Frau 8,4 Prozent – für Investitionen ausgegeben werden, In-
Bender, das soll nur 37 Ärzte betreffen? Dazu kann ich vestitionen in Straße, Schiene, Klimaschutz, Küsten-
nur sagen: Wenn die neu definierten statistischen Vorga- schutz und anderes, aber über 50 Prozent in Soziales in-
ben erst einmal gelten, dann werden diese 37 Ärzte al- klusive der Gesundheit. Deswegen kann keine Rede von
lein in meinem Wahlkreis sein. sozialer Kälte sein, wie es von der linken Seite ange-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- klungen ist. Vielmehr ist es notwendig, dafür zu sorgen,
NEN]: Die Illusion haben Sie? Ihr stellt euch dass wir diesen hohen Standard im sozialen Bereich hal-
das Leben immer so einfach vor!) ten können, indem wir investieren und dafür sorgen, dass
wir vernünftige Verkehrsinfrastrukturen und insgesamt
Das wird ein großer Wurf im Sinne einer Verbesserung eine vernünftige Infrastruktur in unserem Land halten
der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum werden. können.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Elke Ferner [SPD]: Diskutieren wir jetzt über den
der FDP) Gesundheits- oder den Verkehrshaushalt?)
Zudem werden wir mit diesem Gesetz eine bessere Dieser Haushalt ist ein gutes Fundament auf dem Weg
Verzahnung zwischen dem stationären und dem ambu- in eine generationengerechte Zukunft.
(B) lanten Bereich herbeiführen. Außerdem werden wir für (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) (D)
mehr Transparenz sowie für mehr Haushaltswahrheit
und Haushaltsklarheit sorgen, nicht im Bundeshaushalt Es ist ein gutes System, und wir werden den Mut haben,
– da sind diese gegeben –, sondern in den Abschlüssen den Sie sieben Jahre lang in der rot-grünen Koalition
der gesetzlichen Krankenversicherung ab 2014, damit nicht gehabt haben, weitere Verbesserungen anzustreben
die Versicherten die Zahlen ihrer Krankenversicherung und durchzuführen, damit wir auch in Zukunft sagen
einsehen können. können, dass das Gesundheitssystem in Deutschland ei-
nes der besten der Welt ist und bleibt.
Persönlich sehe ich Handlungsbedarf auch in dem
größten Bereich in der gesetzlichen Krankenversiche- Herzlichen Dank.
rung, nämlich im Krankenhausbereich. Auch dort sehe
ich die Notwendigkeit, nachzujustieren. Das DRG-Sys- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tem hat sich bewährt. Der Begleitbericht, den wir im
Frühjahr hier debattiert haben, bestätigt dies. Trotzdem Vizepräsident Eduard Oswald:
gibt es an der einen oder anderen Stelle Disparitäten, Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
weil der Preis nicht am Markt gebildet wird, was wir für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
auch nicht wollen. Aber deswegen ist es nötig, dass wir Bärbel Bas. Bitte schön, Frau Kollegin.
vonseiten der Politik eingreifen. (Beifall bei der SPD)
Wir haben, regional unterschiedlich, zu viele Kran-
kenhausbetten und zu viele Pflegetage. Hier hat die Lan- Bärbel Bas (SPD):
desplanung teilweise versagt. Deswegen werden wir die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Vorschläge, auch der Krankenkassen, die auf dem Tisch Herr Minister Bahr, es ist, glaube ich, hinlänglich be-
liegen, prüfen, um für mehr Qualität zu sorgen, auch kannt, dass Ihre Partei ein Lieferproblem hat. Allerdings
dort, wo Leistungen angeboten werden, die manchmal gilt das auch für Sie, und das ist heute bereits angeklun-
vielleicht auch deswegen angeboten werden, weil sie das gen. Damit meine ich nicht nur die Pflegereform, son-
meiste Geld einbringen. dern auch Ihre Präventionsstrategie bzw. das Präven-
(Elke Ferner [SPD]: Viel Spaß mit den tionsgesetz, das Sie einführen wollen, und das Patienten-
Ländern!) rechtegesetz. All das haben Sie uns vor der Sommer-
pause versprochen. Bei einem Blick in den Kalender
Ich sehe auch Handlungsbedarf, bei der Einführung stellt man fest: Die Frist ist in 14 Tagen vorbei. Wir wol-
der Psych-Entgelte in dieser Richtung vorzugehen. Die len sehen, was uns dann erwartet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14693
Bärbel Bas
(A) Das einzige, was Sie bisher geliefert haben, ist dieser gar nichts. Im Gegenteil: Die Vorschläge, die wir bisher (C)
Haushaltsentwurf. Wie der Kollege Schurer bereits ge- gehört haben, sind altbacken und überholt – und nicht
sagt hat, stehen in dem Entwurf 14 Milliarden Euro nur die Fachwelt reibt sich verwundert die Augen.
Steuerzuschuss, die bereits in der Großen Koalition be-
schlossen waren. Ihr Gestaltungsspielraum erschöpft Schlimmer noch: Seit 2009 – dem Jahr Ihrer Regie-
sich somit auf 7 Millionen Euro für Forschungsförde- rungsübernahme – haben die Krankenkassen jedes Jahr
rung. weniger Geld für Prävention und Gesundheitsförderung
ausgegeben. Diesem Trend setzen Sie nichts entgegen;
Zusammengekratzt haben Sie das Geld ausgerechnet stattdessen lassen Sie das Ganze einfach laufen und hö-
aus ganz wichtigen Bereichen, nämlich bei der Förde- ren nicht auf die Aufforderungen, diese Vorschläge und
rung der Prävention, bei der Aidsaufklärung und bei der Ansätze durchzusetzen. Alle Beteiligten warten darauf,
Kindergesundheit. Es ist sehr kurzsichtig, wenn dass endlich mehr für die Prävention getan wird. Das
Schwarz-Gelb gerade bei diesen wichtigen Bereichen wäre langfristig eine vernünftige Strategie.
kürzt.
(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Da-
(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Der rauf werden wir noch zwei Jahre warten müs-
kennt noch nicht mal seinen Haushalt!) sen!)
Ich will deshalb das Thema Kindergesundheit noch
einmal aufgreifen. Noch im Juni hat sich der Bundesge- Der eigentliche Sprengsatz für die Gesundheitspolitik
sundheitsminister mit den Erfolgen einer Strategie seiner findet sich aber nicht in diesem Haushalt: das Versor-
Vorgängerin Ulla Schmidt als seine eigenen gebrüstet. gungsstrukturgesetz. Darüber haben wir bereits vorhin
Sie erinnern sich an dieser Stelle vielleicht noch an die ausführlich diskutiert. Es bleibt festzustellen: Sie schla-
kleine Plagiatsaffäre. gen Irrwege ein, die kaum noch zu überbieten sind und
die Sie überdies von Ihrem eigenen Bundesfinanzminis-
(Elke Ferner [SPD]: Mit Plagiaten hat die FDP ter vor der Sommerpause bescheinigt bekommen haben.
ja Erfahrung!) Daran will ich noch einmal erinnern; denn das war wirk-
lich hervorragend. Der Bundesfinanzminister hat gesagt,
Möglicherweise wussten Sie schon damals, dass Sie
der Entwurf sei schlecht gemacht, die Wirksamkeit, die
den Haushaltsansatz für die Förderung der Kinderge-
Sie hier gerade gepriesen haben, sei zweifelhaft und die
sundheit sowieso kürzen wollten; denn der Etat für die
Abschätzung der Folgen genüge nicht einmal den ge-
dringend notwendige Förderung der Kindergesundheit
setzgeberischen Mindeststandards.
– das haben Sie als Minister gerade selber angesprochen –
lag 2011 bei 1,15 Millionen Euro, und im jetzigen Ent- (Elke Ferner [SPD]: Setzen! Sechs!)
(B) wurf ist er heruntergefahren auf 650 000 Euro. Wie Sie (D)
sich hier hinstellen und sagen können: „Wir tun mehr für Das hat er Ihnen in Ihr Stammbuch geschrieben, und ich
die Kindergesundheit“, kann ich persönlich nicht nach- finde, da hat er recht.
vollziehen.
Wer nun gedacht hätte, der Gesundheitsminister
(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Der hat würde sich dieser Kritik stellen, sie ernst nehmen, ent-
ein kindliches Gemüt, der Herr Minister!) sprechend nachbessern und – wie wir heute immer sagen –
Leider setzen Sie damit einen unseligen Trend der liefern, sieht sich getäuscht. Stattdessen kaufen Sie sich
vergangenen zwei Jahre fort. Seit zwei Jahren erzählen beim Finanzminister frei.
Sie uns das Gleiche. Sie wollen kein Präventionsgesetz. (Elke Ferner [SPD]: Verschachert den
(Elke Ferner [SPD]: Genau! Dann sagen Sie Sozialausgleich!)
uns das doch!)
Das muss man sich einmal genau anschauen: Die
Gut, dieser Meinung kann man sein. Dann sollten Sie Ausgabenrisiken bei der ambulanten Versorgung sollen
aber an Ihrer Präventionsstrategie arbeiten. Zu erkennen einfach durch den Beitragszahler gedeckt werden. Ge-
ist bislang überhaupt nichts, außer dass sie scheinbar so nauer gesagt: Absehbare Mehrausgaben für die Honorie-
gut sein wird, dass Sie kein Geld mehr dafür brauchen rung von Vertragsärzten und die finanziellen Folgen der
werden; denn Sie sparen ja jetzt Jahr für Jahr bei der Prä- Abschaffung von Kostensteuerungsinstrumenten werden
vention ein. 2014 mit dem Steuerzuschuss für die Liquiditätsreserve
des Gesundheitsfonds verrechnet. Eine ganz einfache
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD)
Rechnung.
Das ist auch eine Strategie. Warten wir mal ab, was da
kommt. Noch stehen 30 Millionen Euro für die Präven- Zur Liquiditätsreserve. Hatten Sie damit nicht etwas
tion zur Verfügung. Ein Blick ins Gesetz zeigt uns aber anderes vor? Ich erinnere an Ihren „Feigenblatt-Sozial-
auch, dass dort schon einmal 41 Millionen Euro gestan- ausgleich“ für Ihre Kopfpauschale. Ich übersetze das
den haben. einmal für die Versicherten, die mir hoffentlich auch zu
dieser späten Stunde noch zuhören: Liebe Versicherte,
Viele gute Programme und Kampagnen der Vorgän- der versprochene Sozialausgleich bei der Kopfpauschale
gerregierung laufen jetzt aus. Anstatt dort anzusetzen ist gar nicht steuerfinanziert. Sie müssen ihn mit Ihren
und die Ideen, die bei Ihnen auf dem Tisch liegen, aufzu- Beiträgen selbst bezahlen; denn das Geld hat Herr Bahr
greifen und mit der Umsetzung zu beginnen, liefern Sie schon den Ärzten versprochen. Der Sozialausgleich, den
14694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Bärbel Bas
(A) Sie bekommen würden, wird mit dem Versorgungsge- Ich muss schon sagen: Den Beginn der Rede habe ich (C)
setz schon verbraucht. schon wieder vergessen, den mittleren Teil habe ich
nicht ganz verstanden, das Ende habe ich, wenn ich ehr-
(Ewald Schurer [SPD]: Und nichts bleibt mehr lich bin, fast herbeigesehnt.
über!)
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
Man muss es deutlich sagen: Es wird nichts mehr für CDU/CSU und der FDP – Ewald Schurer
den ach so fairen steuerlich finanzierten Sozialausgleich [SPD]: Das sehe ich ganz anders!)
übrig bleiben. Damit kann man endgültig sagen: Unter
Ihren Sozialausgleich kann man einen Strich machen; Meine Damen und Herren, ich möchte daran erinnern,
das ist die Farce schlechthin und grenzt fast schon an dass Wolfgang Schäuble hier vor zwei Tagen den Bun-
Volksverdummung. deshaushalt in seiner Gesamtheit vorgestellt hat. Er hat
darauf verwiesen, dass wir uns in einer außerordentlich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stabilen Situation befinden: Die Ausgaben im Haushalt
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des steigen so gut wie gar nicht. Wir führen die Konsolidie-
Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE] – Zuruf rungsbemühungen fort. Wir stellen unseren Haushalt auf
des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]) wirtschaftlich gesunde Beine.
– Herr Lanfermann, ich hoffe, Sie haben das verstanden. Niemand hätte gedacht, dass wir die Situation nach
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ich fürchte, Sie ha- der Wirtschaftskrise vor zwei Jahren so schnell in den
ben die Systematik nicht so ganz verstanden! – Griff bekommen und wir schon 2011, nicht erst 2013,
Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Sie ver- unsere Arbeit erledigt haben.
stehen gar nichts, Herr Lanfermann! – Ewald (Ewald Schurer [SPD]: Welche Arbeit, Herr
Schurer [SPD]: Und da sage ich: Üben!) Kollege?)
– Herr Lanfermann, wir werden uns da noch auseinan- Die Nachrichten sind gut: In Deutschland haben mehr
dersetzen. Es wird genau so kommen, wie ich es ange- Menschen als jemals zuvor Arbeit. Wir haben die we-
deutet habe. nigsten Arbeitslosen seit der Wiedervereinigung.
Gerhard Schröder hatte 3 Millionen Arbeitslose verspro-
Herr Bahr, letztendlich kann man sagen: Egal, wo
chen; zum Schluss waren es 5 Millionen. Wir haben
man hinschaut, findet man nur offene Fragen und unge-
heute unter 3 Millionen Arbeitslose. Wir haben in der
löste Probleme. Sie entscheiden nicht, Sie schieben alles
Tat dort geliefert – so haben Sie das gesagt –, wo andere
vor sich her und – ich erinnere an die Wartezeiten – sor-
bloß leeres Stroh gedroschen haben.
(B) gen für Verwirrung. Sie haben die Gesundheitspolitik (D)
nicht im Griff, und nicht nur das. Mein Fazit für Sie, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Herr Minister: Sie brauchen nicht mehr zu liefern; Sie Ferner [SPD]: Sie dreschen gerade leeres
sind gesundheitspolitisch bereits geliefert. Stroh!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald Wir sind glücklich darüber, dass wir das Haushaltsde-
Weinberg [DIE LINKE]) fizit auf deutlich unter 3 Prozent herunterführen, dass
wir die veranschlagten Schuldenbeträge, von denen wir
Vizepräsident Eduard Oswald: zu Beginn der Legislaturperiode geglaubt haben, sie aus-
geben zu müssen, in jedem Jahr dramatisch unterschrit-
Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Nächster Redner
ten haben. Das sind hervorragende Zahlen.
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Alois
Karl. Bitte schön, Kollege Alois Karl. Es ist zum Greifen nah, dass wir in der mittelfristigen
Finanzplanung etwas erreichen, was es in Deutschland
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
seit 40 Jahren nicht mehr gegeben hat, nämlich einen
ausgeglichenen Haushalt.
Alois Karl (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wenn man in den letzten eineinhalb Stunden die Ich darf daran erinnern. Es war damals Willy Brandt
Diskussion verfolgt hat, so meint man doch, manchmal 1969 in der sozialliberalen Koalition, der die Haushalts-
herauszuhören, dass bei Ihnen ein gewisses Unverständ- disziplin verlassen hat. Seinerzeit hat man den Wohl-
nis für die Situation der letzten zwei Jahre herrscht. Wir fahrtsstaat zum Maß der Dinge erklärt. Diese Haus-
haben in der Tat für eine sehr gute Entwicklung der Si- haltsunethik hat ein Ende. Ich bin stolz darauf und froh
tuation gesorgt. Uns sind Dinge geglückt, die Ihnen nicht darüber, dass wir als Mitglieder des Haushaltsausschus-
geglückt sind. Ich meine, Sie sollten auch in den nächs- ses nicht erst 2016, sondern vielleicht schon im Verlauf
ten zwei Jahren gut aufpassen. Ich traue dem neuen Bun- des Jahres 2014 mit dem Haushaltsentwurf für das Jahr
desgesundheitsminister zu, dass er außerordentlich gute 2015 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können.
Ergebnisse abliefern wird.
(Ewald Schurer [SPD]: Das machen wir
Liebe Frau Bas, Ihre Rede hat nicht dazu beigetragen, dann!)
uns weiterzubringen.
Der Haushalt des Bundesgesundheitsministers fügt
(Bärbel Bas [SPD]: Ich finde schon!) sich in diese große Linie des Haushaltens, des Konsoli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14695
Alois Karl
(A) dierens und des Sparens ein und wird seinen Beitrag leis- Zigarettenindustrie, nicht mit bezahlen? Warum soll all (C)
ten. Wir sparen heute gegenüber dem letzten Jahr das immer den Steuerzahlern aufgebürdet werden, also
1,3 Milliarden Euro, das sind 8,2 Prozent des Haushalts. denjenigen, die das nicht verursacht haben?
Das kommt dadurch zustande, dass wir den Steuerzu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
schuss zum Gesundheitsfonds um 1,3 Milliarden Euro
der FDP)
senken können bzw. keinen Sonderzuschuss geben müs-
sen. Wir bezahlen die planmäßigen 14 Milliarden Euro
und müssen nicht – wie in den letzten Jahren – Sonder- Vizepräsident Eduard Oswald:
zuschüsse geben. Das freut den Haushälter schon. Herr Kollege, Sie wissen, warum hier die Lichter
leuchten?
Frau Ferner, Ihre Wortmeldung habe ich nicht ganz
verstanden.
Alois Karl (CDU/CSU):
(Elke Ferner [SPD]: Das wundert mich nicht!) Mit Ihrer Genehmigung komme ich fast zum Schluss.
– Ja, Sie drücken sich in Ihrer Argumentation manchmal (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
etwas undeutlich aus. – Man hat den Eindruck gehabt,
als wäre ein Überschuss für Sie so etwas wie Teufels- Ich darf Ihnen sagen, dass der Minister gerade ein
zeug. Ich bin der Meinung, dass wir dann, wenn wir Vierteljahr im Amt ist. Er ist Minister, er ist kein Hexer
sparsam und ordentlich wirtschaften, eigentlich gelobt und kein Zauberer. Er wird die Pflegereform vorlegen.
werden müssten. Ich bin auf den 23. September gespannt. Das ist der Tag
nach dem Papstbesuch.
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben die Beiträge zu
viel erhöht! Das Geld kommt nicht angeflo- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
gen!) Ich hoffe, das wirkt sich positiv aus.
Überschüsse sind etwas Besonderes und etwas Gutes. (Elke Ferner [SPD]: Da hat er die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erleuchtung!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
natürlich große Aufgaben vor uns. Die Fachpolitiker Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, noch ein Satz: –
werden das hier vortragen, und die Haushaltspolitiker
werden das begleiten. Die Pflegeversicherung ist ange- Vizepräsident Eduard Oswald:
sprochen worden. Frau Scharfenberg, Sie haben gesagt: Ich bitte dringend darum.
(B) „Man sieht nichts“. In der Tat waren Sie sieben Jahre (D)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
lang in der Regierung, und man hat nichts davon gese-
hen, dass die Pflegeversicherung irgendein Jota weiter-
gekommen wäre. Es war die CDU/CSU, die zusammen Alois Karl (CDU/CSU):
mit der FDP seinerzeit unter Norbert Blüm die Pflege- – In der Koalition mit Willy Brandt – um dieses Bei-
versicherung eingeführt hat. Es war die Große Koalition, spiel noch einmal zu bemühen – gab es bereits einen
die auch die Demenzkranken mit hineingenommen hat. Minister Bahr, nämlich Egon Bahr. Aufgrund seiner Bei-
träge zur Ostpolitik ist er seinerzeit als „Minister Son-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: derbahr“ bezeichnet worden. Herr Präsident, Sie können
So war es!) sich vielleicht erinnern?
Das waren großartige Leistungen, die an Ihnen, Frau
Scharfenberg, und an den Grünen insgesamt vorüberge- Vizepräsident Eduard Oswald:
gangen sind. Ja.
Natürlich muss etwas gespart werden, aber nicht in
fundamentalen Dingen. Alois Karl (CDU/CSU):
Herr Minister Bahr, wenn wir all das hinkriegen, was
(Elke Ferner [SPD]: Nur bei der Prävention!) wir heute zum Thema Pflegereform, Transplantationsge-
Wir sind weiterhin kampagnenfähig. Es ist in der Tat setz und Versorgungssicherheit angesprochen haben,
nichts Verderbliches und nichts Verwerfliches, wenn dann werden wir „wunderbahre“ Ergebnisse haben. Von
Kampagnen auch mit Sponsorengeldern gefahren wer- „sonderbahr“ zu „wunderbahr“; wenn das kein gutes Er-
den. gebnis ist!

(Heinz Lanfermann [FDP]: Sehr richtig!) Vielen herzlichen Dank. Ich freue mich auf die Haus-
haltsberatungen.
Wir haben zum Beispiel im Bundesgesundheitsministe-
rium eine Nichtraucherkampagne durchgeführt, die über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
20 Jahre hinweg von der Zigarettenindustrie gesponsert
wurde. Die Einstiegsrate der jungen Leute in das Rau- Vizepräsident Eduard Oswald:
chen ist von 28 Prozent auf 13 Prozent zurückgegangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Personalwech-
Ich frage Sie: Warum sollen diejenigen, die die Gesund- sel hier zeigt, dass wir zu einem anderen Geschäftsbe-
heitsschäden mit verursachen, also die Unternehmen der reich kommen.
14696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem (C)
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gend, Einzelplan 17.
Ich sage ausdrücklich: Der Staat und die Politik haben
Wenn wir wieder etwas Ruhe haben, würde ich gern den Menschen nicht vorzuschreiben, wie sie leben sol-
dem ersten Redner das Wort geben. – Das Wort hat der len. Sie müssen ihnen aber helfen, dass sie so leben kön-
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues für nen, wie sie leben wollen. An dieser Stelle setzen wir an.
die Bundesregierung. Bitte schön, Herr Parlamentari- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
scher Staatssekretär Dr. Kues.
Das Elterngeld bietet die Möglichkeit, Verantwortung
wahrzunehmen. Das Elterngeld festigt die Eltern-Kind-
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Beziehung. Es festigt auch die Aufgabenteilung zwi-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: schen Mann und Frau, zwischen Vater und Mutter. Es
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! verändert außerdem – auch das ist ein wichtiger Punkt –
Der Einzelplan 17 des Haushaltsentwurfs für 2012 zeigt, die Kultur in unserer Arbeitswelt. Es macht unsere Ar-
dass intelligente Haushaltspolitik zwei Komponenten beitswelt und unsere Gesellschaft insgesamt familien-
hat: Auf der einen Seite wird gespart, und auf der ande- freundlicher. Es beflügelt Fantasien. Man lässt sich in
ren Seite erfolgen gezielte Investitionen zur Bewältigung Bezug auf Dinge, von denen man lange meinte, sie wä-
der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels und ren nicht möglich, etwas einfallen und macht sie dadurch
in faire Zukunftschancen, gerade für die junge Genera- möglich. Das ist unsere Absicht, die hinter dem Eltern-
tion. Dies ist kein Gegensatz, sondern vielmehr eine He- geld und der Elternzeit steht.
rausforderung. Ich glaube, mit diesem Haushaltsentwurf
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir am gesell-
haben wir diese Herausforderung bewältigt. schaftlichen Wandel weiterarbeiten werden. Ministerin
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schröder wird noch in diesem Jahr ein Flexi-Quoten-Ge-
setz vorlegen.
Wir leisten einen Beitrag zum Abbau der Staatsver-
schuldung. Trotzdem investieren wir da, wo es notwen- (Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])
dig ist. In diesem Haushaltsjahr 2012 investieren wir Dieses Gesetz soll dazu beitragen, dass Frauen bessere
zum Beispiel insgesamt 6,48 Milliarden Euro im Bereich Chancen auf Führungspositionen in Unternehmen und
gesellschaftlicher Wandel. Für den gesellschaftlichen am Arbeitsplatz im Allgemeinen haben.
Wandel steht vor allem das Elterngeld. Wir sind fest da-
von überzeugt, dass die jungen Familien – das beweisen (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) alle Expertisen, die wir kennen – das Elterngeld wollen. Eine weitere Investition mit Blick auf den gesell- (D)
schaftlichen Wandel – das will ich auch ausdrücklich sa-
(Beifall bei der CDU/CSU) gen – ist die Familienpflegezeit. Das ist noch nicht die
Sie beweisen auch, dass sie das Elterngeld brauchen, um Antwort auf alle Fragen. Es ist aber ein ganz wichtiger
nach der Geburt eines Kindes wirtschaftlich stabil zu Schritt, da insbesondere Vollbeschäftigte die Möglich-
bleiben. Deswegen planen wir für 2012 rund 4,6 Milliar- keit bekommen, Pflege und Beruf miteinander zu verein-
den Euro ein. Das sind 215 Millionen mehr als 2011. baren. Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht
Diese Steigerung ist Ausdruck des Erfolges des Eltern- es zum einen um die Betreuung von Kleinkindern und
geldes. Deswegen legen wir Wert darauf. zum anderen um die Pflege von Angehörigen. Ich
glaube, an dieser Stelle haben wir einen ersten ganz
(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner wichtigen Akzent gesetzt, den wir jetzt gemeinsam mit
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das den Tarifparteien weiterentwickeln müssen.
mal der FDP!)
Ich möchte einen zweiten Punkt unserer Gesell-
Wir wissen auch, dass die Kostentreiber – im positi- schaftspolitik nennen: faire Chancen für Kinder und Ju-
ven Sinne – die Väter sind. Es nimmt heute schon jeder gendliche. Union und FDP sind davon überzeugt, dass es
vierte Vater Partnermonate, also eine Auszeit vom Beruf. für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit nicht entschei-
Die Väter wickeln, und die Väter füttern. Ich habe ge- dend ist, wo wie viel Geld ausgegeben wird, sondern
hört, dass die Väter das häufig genauso gut machen wie entscheidend ist, wie Bildungs- und Aufstiegschancen
die Mütter. verteilt sind. Die Frage ist, ob jeder einen Zugang zu ei-
ner fairen Chance hat. Es gibt einen schönen Leitgedan-
(Caren Marks [SPD]: Kommt vor! Alles ken, der in einer Werbekampagne des Zentralverbands
ausbaufähig!) des Deutschen Handwerks zum Ausdruck kommt. Er
lautet: Entscheidend ist nicht, woher jemand kommt;
Sie können es offenkundig. Es wird auch gesagt, dass entscheidend ist, wo jemand hin will. Dabei müssen wir
Väter aus der Elternzeit verändert zurückkommen. Das den jungen Leuten helfen.
sagen die Arbeitgeber. Die Väter haben nämlich in der
Zeit andere Verhaltensweisen gelernt. Das ist das, was (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
wir wollen. Elternzeit und Elterngeld tragen maßgeblich GRÜNEN]: Machen Sie aber nicht!)
dazu bei, dass sich etwas ändert und dass man beiden Das ist unser Ansatz.
Geschlechtern etwas zutraut. Ich finde, darauf sollten
wir stolz sein. Das ist gesellschaftlicher Wandel, wie wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
ihn uns wünschen. Miriam Gruß [FDP])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14697
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(A) Wir wissen, dass der Grundstein in der Kindheit ge- war uns sehr wichtig. Dahinter steht der Grundgedanke, (C)
legt wird und die erste und wichtigste Verantwortung die dass jeder eine Chance verdient hat, dass jeder aber auch
Eltern tragen; das ist völlig klar. Wir wollen aber auch in eine zweite und gegebenenfalls eine dritte Chance ver-
der Kindheit helfen. Deswegen war es uns wichtig, im dient hat, weil wir es uns nicht leisten können und wol-
Rahmen des neuen Kinderschutzgesetzes die Arbeit von len, dass junge Menschen mehr oder weniger aussortiert
Hebammen in Familien deutlich auszuweiten. Wir tun werden. Sie sollen die Möglichkeit haben, eine Qualifi-
dies, weil Hebammen das Vertrauen der jungen Mütter kation zu erhalten. 80 Millionen Euro stehen dafür bis
und Väter genießen und sie die Eltern zu einem frühen 2013 aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds zur Ver-
Zeitpunkt erreichen, an dem die Eltern ansprechbar und fügung.
für Hilfsangebote offen sind. Deswegen wollen wir, dass
Hebammen den Eltern nach der Geburt eines Kindes bis Mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, der Offensive
zu einem Jahr zur Seite stehen. Wir haben auch dafür „Frühe Chancen“ und einer Kinder- und Jugendpolitik
Geld lockergemacht. der fairen Chancen stellt die christlich-liberale Koalition
die Weichen in Richtung Zukunftsfähigkeit unseres Lan-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des. Wir sind stolz darauf, dass wir das hinbekommen
neten der FDP) haben.
Von 2012 bis 2015 werden dafür insgesamt 120 Millio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen Euro bereitgestellt. Das ist eine wirkliche gesell-
schaftspolitische Innovation. Wir setzen uns auch dafür ein, dass Kinder und Ju-
gendliche frühzeitig für Demokratie begeistert werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein wesentliches Element des Kinder- und Ju-
gendplans, in dessen Rahmen wir viel für die politische
Ein wichtiger Baustein für faire Chancen in unserem Bildung tun. 2012 unterstützen wir aber auch mit insge-
Land ist die Kinderbetreuung. Wir investieren nicht nur samt 27 Millionen Euro Initiativen zur Rechtsextremis-
in den Ausbau des Betreuungsangebots, also in die musprävention
Quantität, sondern auch in die Qualität. Trotz einer
schwierigen Haushaltslage haben wir die Investitionen (Caren Marks [SPD]: Da kürzen Sie auch!)
deutlich aufgestockt. Ich erinnere an die Offensive
„Frühe Chancen“: Bis 2014 investieren wir 400 Millio- sowie Initiativen zur Prävention gegen Linksextremis-
nen Euro. Allein in diesem Jahr sind 3 000 Schwer- mus und islamistischen Extremismus. Wir machen hier
punktkitas Sprache & Integration eingerichtet worden. keine Unterschiede. Wir halten Extremismus, gleich ob
von links oder rechts, für gefährlich für unsere Demo-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sehr positiv!) kratie. Wir werben für eine tolerante, pluralistische, de-
(B) mokratische Gesellschaft. (D)
Diese Kitas wurden mit einer zusätzlichen halben Erzie-
herstelle ausgestattet. Ich war gestern Abend auf einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren
Veranstaltung in einem Berliner Bezirk. Dort hat mir die Marks [SPD]: Warum kürzt ihr dann?)
Vertreterin einer bestimmten Partei gesagt, dass auf die-
sem Gebiet viel mehr getan werden müsse. Zuständig Lange Zeit bestand der Konsens, dass Extremismus,
dafür sind aber in erster Linie die kommunale und die egal von welcher Seite er kommt, bekämpft werden
Landesebene. muss.

(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!) Ich erinnere auch an die Diskussion über die Demo-
kratieerklärung. Das sind viele völlig überhitzte Diskus-
Diese Ebenen müssen Geld zur Verfügung stellen. Wenn sionen gewesen.
man sich die Haushalte von Kommunen und Ländern an-
schaut, stellt man fest, dass für diesen Bereich auch auf (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Echt? Das
diesen Ebenen mehr Geld eingesetzt werden kann. Wir hört man aber anders von den Leuten! – Caren
jedenfalls tun etwas. Marks [SPD]: Da haben Sie aber nicht mit den
Kirchen gesprochen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Florian Bernschneider [FDP]) Dort hat man Stimmung gemacht. Ich sage Ihnen ganz
ausdrücklich: Ich habe mir gestern in einem Bezirk in
Das sind 3 000 Schwerpunktkitas. Im nächsten Jahr wer- Berlin darüber berichten lassen. Dort haben sich die
den 1 000 weitere hinzukommen. Dafür werden Kommunalvertreter bedankt, dass sie diese Erklärung
102 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Noch nie hat abverlangen konnten; denn auf diese Art und Weise ist
der Bund auf diese Art und Weise unmittelbar die Kitas es gelungen, bei einer Initiative gegen rechts ein Mit-
unterstützt und etwas in den Bereichen Sprachförderung glied des Verbands der ehemaligen Stasioffiziere rauszu-
und Integration getan. Das ist eine sehr konkrete Unter- schmeißen. Solche Personen haben in diesen Initiativen
stützung. nichts zu suchen. Diese Erklärung hat ganz konkret dazu
beigetragen.
Ich freue mich auch darüber, dass es gelungen ist
– zugegebenermaßen nach einigen Diskussionen –, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
erfolgreichen Programme „Kompetenzagenturen“ und neten der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/
„Schulverweigerung – Die 2. Chance“ im Rahmen der DIE GRÜNEN]: Das ging auch vorher ohne
Initiative „Jugend stärken“ fortsetzen zu können. Das Klausel!)
14698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Vizepräsident Eduard Oswald: (C)


Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwi-
aus der Fraktion Die Linke? schenfrage des Kollegen Ilja Seifert?

Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Ja. Ich möchte jetzt gerne meine Rede fortführen. – Ich
glaube jedenfalls, dass es höchste Zeit war, dass wir
diese Dinge klargestellt haben. Wir sind gegen Extremis-
Vizepräsident Eduard Oswald:
mus jeglicher Art, egal von wem.
Bitte schön, Herr Kollege.
(Zurufe von der SPD: Wir auch! – Steffen
Bockhahn [DIE LINKE]: Wir auch!)
Steffen Bockhahn (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, habe ich Sie jetzt Das ist unsere Auffassung.
richtig verstanden, dass es Ihnen nicht egal ist, wer sich
Wir nehmen eine Menge Geld in die Hand für die
gegen Rechtsextremismus einsetzt? Ist es richtig, dass es
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. Wir ha-
für Sie inakzeptabel ist, wenn sich jemand, der vielleicht
ben es geschafft, nach der Aussetzung des Zivildienstes
sogar aus seinen Fehlern gelernt hat, die er in der Ver-
gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden und den Trä-
gangenheit in der DDR begangen hat, heute gegen
gern eine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland
Rechtsextremismus und für den Erhalt der Demokratie
zu etablieren. Dazu gehört, dass jeder, der es möchte,
engagiert? Habe ich das richtig verstanden?
egal, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt, einen Freiwil-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ligenplatz bekommt. Es ist noch nie so viel Geld dafür
eingesetzt worden. Immerhin stellen wir 350 Millionen
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Euro zur Förderung der Freiwilligendienste zur Verfü-
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: gung. Ich glaube, das ist ein klares Zeichen. Wir haben
noch nie so viel Geld für die Förderung des Freiwilligen
Wissen Sie, wenn sich jemand, der in der DDR einen Sozialen Jahres und des Freiwilligen Ökologischen Jah-
großen Fehler gemacht und zum Verband der ehemali- res eingesetzt.
gen Stasioffiziere gehört, für Demokratie und für Plura-
lismus, für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Wir können feststellen – jetzt möchte ich Ihnen eine
Meinungen einsetzt und in diesem Sinne gegen Rechts- schöne Zahl nennen –, dass wir beim Bundesfreiwilli-
(B) extremismus mitarbeitet, aber genauso ein klares Wort gendienst jetzt Gott sei Dank erfolgreich sind. (D)
gegen Linksextremismus findet, ist das in Ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf
In meinem Manuskript stand noch eine Zahl vom 1. Sep-
von der SPD: Herr, lass Hirn regnen!)
tember 2011: 8 114 eingegangene Verträge. Heute, am
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Dis- 8. September, sind bereits über 12 000 Verträge beim
kussion über die in Berlin in Brand gesetzten Autos er- Bundesfreiwilligendienst eingegangen. Ich finde, das ist
wähnen. Der sozialdemokratische Innensenator Körting eine tolle Entwicklung.
hat gesagt, in einigen Fällen gebe es ganz offensichtlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auch einen linksextremen Hintergrund.
Es deutet also alles darauf hin, dass wir es trotz aller
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Oh! Oh!) Schwierigkeiten schaffen. In meiner niedersächsischen
Ich kann das nur so zur Kenntnis nehmen. Es ist doch Heimat gibt es einen plattdeutschen Spruch. Ich nenne
absolut klar – man müsste ja Tomaten auf den Augen ha- ihn auf Hochdeutsch, damit alle ihn verstehen: Reden
ben, wenn man das nicht sieht –, dass es Linksextremis- können alle, tun ist ein Ding. Etwas hinzukriegen, zu
mus genauso gibt wie Islamismus. handeln, ist ein Ding. Das tut diese Bundesregierung.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Das streitet ja (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
niemand ab!) Wir fördern Zeit für Verantwortung. Wir investieren
Dagegen wenden wir uns, dagegen sollten wir uns ge- in faire Chancen für Kinder und Jugendliche, für Jung
meinsam wenden. Wenn Sie das gelernt haben, sollten und Alt. Wir stärken auch das gesellschaftliche Engage-
Sie dies auch tun. ment und damit das Miteinander in unserer Gesellschaft.
Die Mittel dafür stehen zur Verfügung. Ich finde, es ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sven- ein Haushalt, den auch die Opposition unterstützen kann.
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Pseudowissenschaftlicher Quatsch! – (Lachen der Abg. Caren Marks [SPD] – Zuruf
Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist ab- von der SPD: Das ist ein schlechter Scherz! –
surd! Sie vergleichen Dinge, die miteinander Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Aber Humor
nichts zu tun haben!) hat er schon! Das ist mir vorhin schon aufge-
fallen! Denn das kann er nicht ernst gemeint
– Das ist nicht absurd. haben!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14699
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
(A) Es ist ein Haushalt für die Zukunft unserer Gesellschaft. Oder gibt es da einen konkreten Ansatz, von dem wir (C)
Ich glaube im Übrigen – das möchte ich noch sagen –, heute nur nichts gehört haben? Sie haben kein wirkungs-
Familienpolitik und Politik für Kinder und Jugendliche volles Konzept, damit Frauen in den Chefetagen ankom-
und auch Politik für Demokratie, Herr Kollege, müssen men. Aber die Zeche für diesen Haushalt zahlen die
langfristig angelegt sein. Es muss Verlässlichkeit für die Frauen. Wir haben Lösungen auf den Tisch gelegt: für
Menschen geben. So ist das bei uns. die Durchsetzung der gleichen Bezahlung von Frauen
und Männern, für einen gesetzlichen Mindestlohn und
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. für eine 40-Prozent-Quote für Frauen in Führungsposi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionen. All das liegt vor, aber kein Handeln dieser Regie-
rung.
Vizepräsident Eduard Oswald: Zweitens. Es gibt keine Jugendpolitik der Regierung
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Dr. Hermann Kues. – Merkel und keine Jugendpolitik des Bundesjugend-
Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kol- ministeriums. Sie wollten das erfolgreiche Programm
legin Dagmar Ziegler. Bitte schön, Kollegin Dagmar „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ vor die Wand fah-
Ziegler. ren lassen; Sie haben zugegeben, dass Sie da gerade
noch die Kurve bekommen haben. Jetzt legen Sie uns ei-
(Beifall bei der SPD) nen Haushalt vor, in dem Sie ausgerechnet beim Kinder-
und Jugendplan kürzen. Ich verstehe gar nicht, sehr ver-
Dagmar Ziegler (SPD): ehrter Herr Kues, wie Sie sich noch lobend zu diesem
Plan äußern können, wenn Sie dort so viel Geld gestri-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
chen haben. Obendrein – das haben Sie einfach unter-
und Kollegen! „… für das große Projekt Europa ist diese
schlagen – haben Sie die Mittel für benachteiligte Ju-
Koalition zu klein“, schreibt heute der Tagesspiegel. Ich
gendliche drastisch gestrichen.
füge hinzu, sehr verehrter Herr Kues: Auch für die Poli-
tikfelder, über die wir heute gesprochen haben und über (Caren Marks [SPD]: Ja! Das hat er alles ver-
die wir insbesondere jetzt sprechen, ist diese Koalition drängt! – Florian Bernschneider [FDP]: Wo
zu klein. haben wir das denn gemacht? Wo denn?)
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja! Noch Man muss sich einmal vorstellen, dass Sie sich hier hin-
mehr Mandate für die Koalition! – Dorothee stellen und sagen: Wir machen etwas für Kinder und Ju-
Bär [CDU/CSU]: Oh! Sie wünscht uns noch gendliche. – Das trifft den Kern der Sache ja wohl nicht.
mehr Abgeordnete!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Andreas
(B) (D)
Ihnen fehlt es tatsächlich an Ideen und Konzepten, von Mattfeldt [CDU/CSU]: Nennen Sie mal ein-
einer Gesamtstrategie, wie Sie sie uns gerade weiszuma- zelne Maßnahmen!)
chen versucht haben, ganz zu schweigen. Drittens. Sie haben heute offensichtlich die aktuells-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Es ist immer ten Zahlen zum Bundesfreiwilligendienst genannt. Die-
schlecht, wenn man die Rede nur abliest und ses Thema sind Sie tatsächlich angegangen. Es hat aller-
nicht weiß, was der andere gesagt hat!) dings lange gedauert, bis Sie in die Pötte gekommen
sind.
Sie haben keine Vorstellung davon – Ihr Koalitions-
(Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär: Zwei
partner wahrscheinlich auch nicht –, wie Sie für die
Monate!)
Menschen in Deutschland bessere Lebensbedingungen
schaffen können. Das bisschen, das Sie machen – Sie ha- Ich weiß nicht, ob das Kindergeldproblem schon gesetz-
ben es vorgetragen; zum Teil haben Sie es noch nicht lich gelöst ist
einmal richtig vorgetragen –, machen Sie zaudernd, zö-
gernd und noch dazu handwerklich schlecht; (Caren Marks [SPD]: Nach wie vor nicht!)
oder ob es dazu einen Antrag Ihrerseits gibt.
(Erwin Rüddel [CDU/CSU]: Sie haben das
falsche Manuskript!) (Caren Marks [SPD]: Ach was! Wozu? –
Markus Grübel [CDU/CSU]: Beitreibungs-
ich komme noch ganz konkret auf die einzelnen Punkte richtlinie-Umsetzungsgesetz!)
zu sprechen.
– Ja, ich weiß. Aber die Eltern rufen bei uns an, schrei-
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was hat Ihnen ben uns Mails und fragen uns: Welche Regelung trifft
denn Ihr Büro da eingepackt?) diese Koalition?
Erstens. Es gibt keine wirkliche Gleichstellungspoli- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Frau Ziegler,
tik unter der Regierung Merkel. Sie haben keine Idee, dann sagt den Eltern, sie sollen bei mir anru-
wie Sie endlich für die gleiche Bezahlung von Frauen fen! Ich sage es ihnen und erkläre es ihnen! –
und Männern sorgen können. Sie verweigern einen Min- Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Die
destlohn, der gerade Frauen helfen würde. trauen sich nicht!)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Aha! Jetzt kommt – Ja, hoffentlich sagen Sie das noch, damit die Eltern das
der Mindestlohn! Endlich!) morgen nachlesen können.
14700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Dagmar Ziegler
(A) (Markus Grübel [CDU/CSU]: Ja, genau!) kann. Ab 2013 gibt es aber einen gesetzlichen Anspruch (C)
auf einen Kitaplatz.
Auf diese Aussage warten sie bis heute.
Wir haben immer wieder einen Krippengipfel gefor-
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das Finanz- dert: Holen Sie die verschiedenen Ebenen – Bund, Län-
ministerium hat dazu auch einen Erlass he- der und Kommunen – an einen Tisch und besprechen Sie
rausgebracht!) das Problem. Sie warten aber einfach nur ab und tun gar
nichts.
– Ja, okay; aber es dauert bei Ihnen. Das ist die hand-
werkliche Schwäche, die bei Ihnen leider festzustellen (Markus Grübel [CDU/CSU]: Die 4 Milliar-
ist und die auch den Bundesfreiwilligendienst zum Rohr- den Euro sind ja eine Hausnummer!)
krepierer gemacht hat.
– Ja, natürlich sind 4 Milliarden Euro eine Hausnummer.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Oh nein! Ein Rohr- Aber entweder hat man einen gesetzlichen Anspruch und
krepierer ist das nicht! Der startet durch!) verwirklicht diesen auch, oder man lässt alles schleifen
und hofft, dass sich das Problem von allein erledigt. Da
Ich hoffe, die Zahlen steigen. Wir hätten uns gewünscht, wir Letzteres gerade nicht denken, sind wir dafür, dass
dass die Freiwilligendienste, die es schon gab, gestärkt der Bund noch einmal Geld in die Hand nimmt. Auch
worden wären, sodass die Jugendlichen klare Ziele vor dazu wird es einen Antrag geben.
Augen gehabt hätten und das, was gut läuft, auch weiter-
hin hätte gut laufen können. Diese Chance haben Sie Gute Familienpolitik braucht Ideen und Konzepte. Es
vertan. bedarf einer gesellschaftspolitischen Idee, die auch fis-
kalisch fundiert ist. Beides vermissen wir bei Ihnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Norbert
Geis [CDU/CSU]: Wie gut, dass schon längst Vielen Dank.
keiner mehr zuhört!) (Beifall bei der SPD)
Auch den Kurs der schon beschlossenen und, wie ich
finde, modernen Familienpolitik, den es einmal gab, hal- Vizepräsident Eduard Oswald:
ten Sie nicht; ich spreche den Kitaausbau und das Eltern- Vielen Dank, Frau Kollegin Ziegler. – Bevor ich der
geld an. Sie haben heute sehr lange über das Elterngeld nächsten Rednerin das Wort gebe, erteile ich dem Kolle-
gesprochen; das hat mich gefreut. Ich hoffe, das Proto- gen Ilja Seifert zu einer Kurzintervention das Wort. Bitte
koll, in dem nachzulesen ist, dass Sie sich so positiv über schön, Kollege Seifert.
die Wirkung des Elterngeldes geäußert haben, wird auch
(B) Herrn Kauder zugänglich gemacht. Wie Sie wissen, hat Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): (D)
Herr Kauder das Elterngeld infrage gestellt. Er will es Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
abschaffen. Vielleicht können Sie ihm mitteilen, was Sie Sie haben in Ihrer Rede leider kein Wort dazu verloren,
heute dazu gesagt haben. Vielleicht weiß man bei Ihnen wie in Ihrem Ministerium die UN-Konvention über die
in der Frühe nicht, was abends gesagt wird. Rechte von Menschen mit Behinderungen umgesetzt
wird.
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ach! So ein
Blödsinn!) Uns liegt jetzt der Nationale Aktionsplan der Regie-
rung zur Umsetzung der UN-Konvention über die
Jeder 30. Vater hat wegen der Geburt eines Kindes Rechte von Menschen mit Behinderungen vor. Bisher
vor der Einführung des Elterngeldes tatsächlich eine be- wurde immer gesagt, man könne noch kein Geld in den
rufliche Auszeit genommen. Diese Situation hat sich Haushalt einstellen, weil der Aktionsplan noch nicht
stark verbessert. Jetzt tut es jeder vierte. Herr Kues hat vorliege. Jetzt liegt er vor. Bedauerlicherweise finde ich
richtigerweise darauf hingewiesen, dass das Elterngeld in Ihrem Haushalt aber nichts dazu, wie Sie diesen Ak-
wirkt und dass es eine bessere Aufteilung von elterlicher tionsplan umsetzen wollen.
Arbeit und Sorge ermöglicht. Aber wir stehen erst am
Anfang; auch das muss man deutlich sagen. Wir wün- Es geht in Ihrem Ressort um Kinder, Frauen, Senioren
schen uns noch mehr Partnerschaftlichkeit bei der Be- und Jugendliche. Menschen mit Behinderung dieser
treuung von Kindern. Hierzu werden wir auch einen ent- Gruppen sind in der UN-Konvention ausdrücklich ge-
sprechenden Antrag einbringen. nannt und müssen gefördert werden, damit sie so wie
alle anderen auch teilhaben können. Welche Gelder für
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Be- welche Programme gibt es diesbezüglich in Ihrem Res-
treuungsgeld haben Sie gar nichts gesagt. Ich bin ge- sort? Frau Ministerin von der Leyen hat vorhin vollmun-
spannt, ob die Koalition ihre Pläne in die Tat umsetzen dig verkündet, dies sei in jedem Ressort etatisiert. Kön-
wird. Hier haben Sie ein Gegenmodell zum Elterngeld nen Sie mich bitte darüber aufklären, wo das in Ihrem
entwickelt. Ich hoffe, diese 2 Millionen Euro sparen Sie Haushalt der Fall ist?
ein und setzen sie für sinnvolle Projekte ein. Sie könnten
das Geld zum Beispiel für den Kitaausbau einsetzen. Wir (Beifall bei der LINKEN)
wissen alle, dass der Bedarf an Kitaplätzen größer ist, als
wir damals gemeinsam veranschlagt haben. Wir wissen, Vizepräsident Eduard Oswald:
dass das 35-Prozent-Ziel aufgrund der klammen Haus- Zur Antwort der Herr Parlamentarische Staatssekre-
halte der Länder und Kommunen nicht erreicht werden tär. Bitte schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14701

(A) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun- tigste. Integration kann nur gelingen, wenn die Sprache (C)
desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: erlernt wird. Deswegen ist das genau die richtige Initia-
Ich will dazu gerne etwas sagen. Es handelt sich um tive mit Blick auf die aktuellen gesellschaftspolitischen
einen Haushaltsplanentwurf, ein erstes Konzept, das wir Fragestellungen.
in den Haushaltsberatungen noch diskutieren.
Auch das Bundeskinderschutzgesetz, ein Schutzge-
In bestimmten Bereichen, zum Beispiel beim Bundes- setz für die Kinder, ist auf den Weg gebracht. Demnächst
freiwilligendienst, gibt es sogar einen Zuschlag, wenn wird dazu die Anhörung stattfinden. Etwas ist schon er-
man Menschen mit Behinderung einstellt. Ähnliche An- wähnt worden, was mir persönlich sehr am Herzen liegt:
sätze verfolgen wir auch beim internationalen Jugend- die Familienhebammen. Die Familienhebammen werden
austausch. Wir legen ausdrücklich Wert darauf, dass die- von uns gefördert werden. Das ist eine Initiative mit Vor-
jenigen, die davon profitieren, sich Gedanken darüber bildcharakter, mit der man gerade jungen Familien früh-
machen, wie man diejenigen integrieren kann, die bis- zeitig hilft, bevor es zu spät ist. Genau diesen präventi-
lang nicht zum Zuge gekommen sind. Diese Programme ven Ansatz verfolgt die schwarz-gelbe Koalition. Das ist
waren über viele Jahre sehr stark – ich will es mal so sa- der richtige Ansatz.
gen – mittelschichtorientiert, sodass bestimmte Jugendli-
che gar nicht zum Zuge gekommen sind. Dazu zählen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auch Jugendliche mit Behinderungen.
Familien brauchen Zeit, Geld und Infrastruktur. Zum
Wir werden die unterschiedlichen Maßnahmen Stichwort Zeit: Ich habe das Familienpflegezeitgesetz
– Bundesfreiwilligendienst, Kinder- und Jugendplan angesprochen. Auch dazu wird es demnächst eine Anhö-
usw. – zusammenstellen, damit wir eine umfassende rung geben.
Antwort auf die Frage geben können, wo wir Angebote
in der von Ihnen angesprochenen Richtung machen. Wir (Caren Marks [SPD]: Die wird vernichtend!)
haben das sehr wohl im Blick. Mit diesem Gesetz werden sicherlich nicht alle Pflege-
(Beifall bei der CDU/CSU) probleme gelöst werden, aber es wird ein Mosaikstein
bei der Bewältigung von Pflege sein. Von daher ist es ein
richtiger Schritt auf dem Weg zu einer besseren Verein-
Vizepräsident Eduard Oswald:
barkeit von Pflege und Beruf. Deswegen ist auch das der
Wir fahren in unserer Rednerliste fort, und ich gebe
richtige Ansatz.
Frau Kollegin Miriam Gruß für die Fraktion der FDP das
Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Miriam Gruß. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Stichwort Geld: Das Elterngeld macht im Etat den (D)
größten Anteil aus. Der Aufwuchs von 215 Millionen
Miriam Gruß (FDP): Euro spricht dafür, dass es angenommen wird. Ganz be-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sonders freut es mich – das ist schon erwähnt worden –,
Kollegen! Im Familienhaushalt gibt es einen Aufwuchs dass auch mehr Väter Verantwortung übernehmen und
von 9,27 Millionen Euro, und wir geben insgesamt zu Hause bleiben. Dieser gesellschaftliche Wandel wird
6,48 Milliarden Euro aus. Ich muss der Opposition wi- von unserer Fraktion ausdrücklich begrüßt.
dersprechen: Wir setzen auf viele zukunftsweisende Pro-
jekte und investieren auch in diese Projekte. Auch das Thema Infrastruktur ist schon angesprochen
worden. Ich sehe nicht, dass wir hier Defizite haben. Von
(Caren Marks [SPD]: Da haben Sie wenig Bundesseite erfüllen wir die Vorgaben und lösen unsere
Ansprüche an die Zukunft!) Versprechungen ein. Man muss aber ganz klar auch als
Das betrifft zum Beispiel die Umgestaltung des Zivil- Appell an die Länder sagen: Von den Ländern werden
dienstes zum Bundesfreiwilligendienst; der Herr Staats- die Gelder zur Verbesserung der Infrastruktur ganz un-
sekretär hat das bereits erklärt, und mein Kollege Herr terschiedlich abgerufen. Manche Länder rufen das Geld
Bernschneider wird in seiner Rede noch ausführlich da- nur zu 60 Prozent ab, andere rufen zu 100 Prozent ab.
rauf eingehen. Auch die Familienhebammen sind bereits Die Gelder, die wir zur Verfügung stellen, sollten wirk-
genannt worden. Außerdem ist eine Familienpflegezeit lich angenommen werden. Hier müssen auch die Länder
geplant. und Kommunen ihren Anteil leisten und ihre Hausaufga-
ben machen.
Diese Dinge werden gesellschaftliche Veränderungen
hervorrufen und Antworten auf gesellschaftliche Frage- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stellungen geben.
Auch für die Mehrgenerationenhäuser haben wir Gel-
Ich will bei den Kindern beginnen. Kinder brauchen der zur Verfügung gestellt und ein Folgeprogramm auf-
Schutz und Chancen. Die Chancen sind im Zusammen- gelegt. Ich hoffe, dass das Folgeprogramm funktionieren
hang mit der Initiative „Offensive Frühe Chancen“ er- wird und dass sich hier Strukturen etablieren. Allerdings
wähnt worden. Damit machen wir genau das, was von – das muss ich an dieser Stelle sagen – muss das keine
allen immer gefordert wird, bei der Betreuung nicht nur Finanzierung für die Ewigkeit werden. Wenn sich die
auf die Quantität, sondern auch auf Qualität zu setzen. Häuser irgendwann einmal selbst tragen, dann ist das
Wir fördern den Spracherwerb benachteiligter Jugendli- umso besser. Dann können sie vor Ort entsprechend
cher. Das ist für eine erfolgreiche Integration das Wich- finanziert werden.
14702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Miriam Gruß
(A) Unterstützung und Perspektiven für Frauen sind ange- Nun gibt sich das Ministerium viel Mühe, mit diver- (C)
mahnt worden. Ich kann nur sagen: Ich begrüße es au- sen Programmen Männer in klassische Frauenberufe zu
ßerordentlich, dass wir beispielsweise ein Hilfetelefon bringen. Das kann man auch richtig finden. Eigentlich
bei Gewalt gegen Frauen einrichten werden. Auch das müsste der Ansatz aber doch sein, nicht Männer in
wird kommen. Dafür haben wir insgesamt 3,1 Millionen schlecht bezahlte Frauenberufe zu bringen, sondern
Euro eingestellt. Frauenberufe so attraktiv zu machen, dass auch Männer
sie für sich attraktiv finden. Das wäre doch einmal ein
Wir planen eine Initiative, um Frauen den Wiederein-
Ansatz, meine Damen und Herren.
stieg in den Beruf zu erleichtern, insbesondere Allein-
erziehenden. Wir machen hier unsere Hausaufgaben. Ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
bin der Meinung, es ist richtig, wie wir es machen. neten der SPD)
Vielen Dank. Im Übrigen ist ganz erstaunlich, dass nach wie vor
nicht wirklich, also richtig ernst gemeint, etwas unter-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nommen wird, um Frauen den Zugang in klassische
Männerberufe zu erleichtern. Aber es ist auch relativ
Vizepräsident Eduard Oswald: klar, warum das passiert; denn natürlich – ich weiß, wo-
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für von ich rede – blockieren Männer gerne, wenn andere
die Fraktion Die Linke unser Kollege Steffen Bockhahn. sich nähern und wenn es darum geht, den eigenen Platz,
Bitte schön, Kollege Steffen Bockhahn. das eigene Revier zu verteidigen, gerade dann, wenn es
(Beifall bei der LINKEN) um viel Geld geht.
Die Bundesregierung, die Bundesbehörden und die
Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Zusammensetzung der Fraktionen von Union und FDP
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sind abschreckende Beispiele dafür, wie es nicht laufen
Kollegen! Dieser Haushaltsentwurf ist nicht vom Minis- sollte. Die Frauenquote bei Ihnen ist abenteuerlich
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, son- schlecht.
dern eher einer gegen sie. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Rita Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
Pawelski [CDU/CSU]: Schlaumeier! – GRÜNEN])
Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nur weil es kurz Meine Damen und Herren, nach wie vor gibt es ein
vor 10 ist, muss das Niveau nicht so schlecht ganz großes Karrierehemmnis. An ihm konnten alle
(B) sein!) schönen Reden hier nichts verändern. Dieses Karriere- (D)
Dieses Ministerium ist unter anderem für Frauen- und hemmnis ist so ziemlich das Schönste, was einem pas-
Gleichstellungspolitik zuständig bzw. sollte es sein. Die sieren kann. Es sind Kinder. Ja, das Elterngeld ist ein
Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern in kleiner Erfolg. Aber Sie haben diesen kleinen Erfolg in
der Bundesrepublik Deutschland sind nach wie vor be- den Jahren, in denen Sie jetzt regieren, bereits noch klei-
schämend. Laut Statistischem Bundesamt sind es nach ner gemacht. Sie konzipieren eine vernünftige Maß-
wie vor 23 Prozent, die Frauen für die gleiche Arbeit wie nahme, fangen damit an und kündigen sogar an, sie aus-
Männer im Schnitt weniger verdienen. zubauen. Aber anstatt das zu tun, kürzen Sie.
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Nein!) Das Erste, was Sie getan haben, war die Umsetzung
der klugen Idee, Empfängern von Hartz IV diese Leis-
Das heißt, Frauen müssen 84 Tage länger arbeiten, um tung gleich erst mal zu streichen.
den gleichen Lohn zu bekommen.
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt doch GRÜNEN]: Unerhört!)
gar nicht!)
Das ist nach wie vor etwas ganz Unsoziales und etwas
Allerdings hat auch für Frauen das Jahr nur 365 Tage, Unanständiges, weil Sie damit Kinder von Geburt an un-
um korrekt zu sein: in Schaltjahren 366 Tage. terschiedlich machen.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Statistik (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
muss man richtig angucken, Herr Kollege BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bockhorn! Sie unterschreiten Ihre intellektuel-
len Fähigkeiten erheblich!) Die Kollegin Ziegler hat schon vorhin kurz das Be-
treuungsgeld, liebevoll auch Herdprämie genannt, ange-
– Mein Name ist Bockhahn, Herr Kollege Grübel. Wenn sprochen.
Sie mir zuhören, können Sie noch etwas lernen.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das wird nur von
Das heißt, dass Frauen beim Einkommen generell be- Leuten gemacht, die Familienpolitik kaputt
nachteiligt sind. Wenn wir uns das genauer anschauen, machen wollen, Herr Kollege! So ist es!)
stellen wir fest, dass dies nicht nur mit der Bezahlung am
konkreten Arbeitsplatz zu tun hat, sondern natürlich Das ist ja nicht etwa nur eine schöne Idee, um irgend-
auch mit den Berufsbildern und der Geschlechtervertei- wem zu helfen, sondern es ist eine gigantische Ausrede.
lung. Außerdem stecken dahinter ein Rollenbild und ein Fami-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14703
Steffen Bockhahn
(A) lienmodell, die, mit Verlaub, definitiv nicht in das richtung besser aufgehoben ist als zu Hause! (C)
21. Jahrhundert gehören. Das denken Sie!)
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Nun möchte ich Ihnen einmal einige Beispiele nen-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär nen, wie das laufen kann.
[CDU/CSU]: Es können auch Männer zu Ein schlechtes Beispiel kommt aus Mecklenburg-Vor-
Hause bleiben! Es heißt: Wahlfreiheit!) pommern, dem bekanntlich schönsten Bundesland der
Auf der einen Seite sorgen Sie damit nämlich dafür, Welt. Dort regiert die SPD noch zusammen mit der CDU.
dass gerade in strukturschwachen Regionen der Kitaaus- In Mecklenburg-Vorpommern beträgt das Durchschnitts-
bau gar nicht vorangetrieben werden muss, weil es die einkommen 1 500 Euro brutto, und ein Krippenplatz kos-
Inanspruchnahme nicht gibt. Damit können Sie dann be- tet 300 Euro im Monat – 300 Euro im Monat bei einem
gründen, dass es keine Bedarfe gebe und man deswegen Durchschnittsbruttoeinkommen von 1 500 Euro: Ich kann
gar nicht die Plätze für 35 Prozent der Kinder vorhalten mir nicht vorstellen, wer sich das leisten können soll.
müsse. (Zuruf von der CDU/CSU: Da habt ihr doch
Das alleine wäre schon schlimm genug. Das eigent- mal mitregiert!)
liche Drama ist aber – – Allerdings darf ich Ihnen auch sagen: In Berlin sieht
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: So eine perfide es ganz vorbildlich aus. Dort haben wir eine rot-rote
Denke!) Landesregierung. Die Krippenbeiträge in Berlin sind
erstens sozial gestaffelt und zweitens – –
– Über kranke Denke sollten wir beide uns besser nicht (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Da gibt es
unterhalten, Frau Bär. Das geht nämlich nicht zu Ihren die höchste Kinderarmut! – Weitere Zurufe
Gunsten aus. Aber davon abgesehen – – von der CDU/CSU)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: „Kranke“ habe – Wissen Sie, was ich wirklich abenteuerlich finde? Sie
ich nicht gesagt, sondern „perfide“! Schauen reden hier in einer ganz abwertenden Art und Weise über
Sie bitte einmal ins Protokoll!) soziale Leistungen. Das macht deutlich, dass Ihnen die
– Hören Sie doch einmal zu. Ich weiß, dass Sie ein lautes sozialen Belange dieses Landes einen Dreck wert sind.
Organ haben. Aber Sie sind ja nachher auch noch an der Dafür sollten Sie sich schämen, meine Damen und Her-
Reihe. Dann können Sie versuchen, sich verständlich zu ren. Das ist abenteuerlich.
machen. Das ist in Ordnung. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der
(B) (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sie hat höchstens CDU/CSU) (D)
eine laute Stimme! Ein lautes Organ hat sie Sie können sich das ruhig anhören. In Berlin sind die
nicht!) Kindergärten für die Eltern komplett kostenfrei, weil es
einen Anspruch gibt, dass frühkindliche Bildung umge-
Lassen Sie mich also noch einmal zu dem kommen,
setzt wird, dass frühkindliche Bildung für alle Kinder
was ich wirklich absurd finde, weil es eine soziale Aus-
gewährt wird, dass Chancengleichheit tatsächlich real
grenzung sondergleichen ist, nämlich zu dem, was Sie
ist.
mit dem Betreuungsgeld tun.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Weil Bayern das
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Reden wir jetzt ein- bezahlt! So sieht es nämlich aus! Haben Sie
mal über den Haushalt für nächstes Jahr!) schon einmal etwas vom Ausgleich gehört?
Sie stellen nämlich sozial benachteiligte Familien mit Bayern bezahlt!)
geringem Einkommen vor die Frage, 150 Euro zu neh- Das ist vernünftige Familienpolitik. Davon können Sie
men oder sich für einen Kitaplatz zu entscheiden, den sie noch eine Menge lernen.
sich nicht leisten können.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Diejenigen, die
sich das nicht leisten können, bekommen es Ich möchte etwas zum Thema Rechtsextremismus sa-
doch bezahlt!) gen. Ich komme, wie gesagt, aus Mecklenburg-Vorpom-
mern, wo letztes Wochenende Wahlen stattgefunden ha-
Vor diese Wahl stellen Sie sozial benachteiligte Fami- ben.
lien. Das hat aber weder etwas mit dem Anspruch auf
frühkindliche Bildung zu tun, noch ist es familienpoli- (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Elf Minuten! Das
tisch sinnvoll. Dies ist definitiv der falsche Weg. Der ist ein Witz!)
richtige Weg wäre, dass Sie überall in Deutschland be- – Sie sollten sich langsam wieder dämpfen. – 6 Prozent
zahlbare Kitas schaffen. der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die über-
haupt zur Wahl gegangen sind, haben sich für die rechts-
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
extreme NPD entschieden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär
[CDU/CSU]: Genau! Weil die Eltern sich nicht Herr Staatssekretär Kues, ich muss mit einigem Er-
um ihre Kinder kümmern können! Das ist Ihre schrecken noch einmal vor meinem geistigen Auge ab-
Denke! Sie glauben, dass das Kind in der Ein- laufen lassen, was Sie vorhin auf meine Zwischenfrage
14704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Steffen Bockhahn
(A) gesagt haben. Wenn es Ihnen nicht egal ist, wer sich ge- – auch das hat Kollegin Ziegler schon angesprochen – (C)
gen Rechtsextremismus engagiert, dann finde ich solche vermissen wir von der Bundesregierung ein integriertes
Äußerungen absurd, abenteuerlich und gemeingefähr- Konzept zur Jugendpolitik. Das gibt es einfach nicht.
lich. Fahren Sie nach Gnoien, Lassan, Lübtheen und La-
lendorf und fragen Sie die Menschen, die dort tagtäglich Wenn man sich fragt, was Sie im Bereich der Jugend-
unter Nazis leiden, ob es ihnen recht wäre, wenn jemand, politik machen, dann muss man feststellen, dass inzwi-
der sich heute für Demokratie und Toleranz und gegen schen ein Drittel Ihres Budgets für die Qualifizierungs-
Rechtsextremismus einsetzen will, das nicht tun darf, offensive aufgewendet wird. Ich habe selten etwas gegen
weil es Ihnen nicht genehm ist. Eine solche Ignoranz Qualifizierungsmaßnahmen. Die Schwierigkeit besteht
kann man nur haben, wenn man nicht oft genug nach aber darin, sich darüber zu informieren, was Sie darunter
draußen kommt. verstehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wenn Sie die Suchfunktion auf der Website Ihres ei-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE genen Ministeriums nutzen, Herr Kues, um zu erfahren,
GRÜNEN – Rita Pawelski [CDU/CSU]: Hat was Sie unter dem Begriff „Qualifizierungsoffensive“
denn jemand das Gegenteil gesagt?) angezeigt bekommen, dann ist das Ergebnis: null Treffer.
Das scheint mir eine sehr genaue Angabe zu sein. Denn
Ich verweise darauf, dass es besonders junge Männer die Qualifizierungsoffensive macht inzwischen ein Drit-
ohne Perspektive waren, die die neuen Nazis gewählt ha- tel aller Maßnahmen der Jugendpolitik aus.
ben. Bei den unter 30-Jährigen haben gerade die Männer
die NPD gewählt. Das Traurige daran ist, dass Sie genau Was aber wird konkret getan? Es wird nicht etwa et-
die Maßnahmen, die dazu geeignet sind, die Abwande- was dafür getan, die Träger von Programmen im Kinder-
rung und Perspektivlosigkeit junger Menschen in Ost- und Jugendplan weiter zu qualifizieren oder junge Men-
deutschland zu beenden, gestrichen und eingestellt ha- schen in den Bereichen Demokratie und Toleranz oder
ben. Organisationsarbeit auszubilden. Das alles findet nicht
statt. Vor allem findet etwas statt, das definitiv nicht in
Schöne Projekte in der Zivilgesellschaft sind in Ord- Ihr Ressort gehört, nämlich Erwachsenenförderung. Er-
nung. Wir brauchen aber endlich auch Projekte, die aus wachsenenförderung gehört aber aus meiner Sicht ins
Ihrem Haus zu finanzieren wären und sich mit guten BMAS und nicht in dieses Ministerium.
Strukturen, hochqualifiziertem Personal und anständigen
Sachmittelbudgets genau dieser Arbeit in den schwieri- Kurzum: Es ist eigentlich eine gute Nachricht, dass
gen Bereichen zuwenden, die wir als Zivilgesellschaft das Budget dieses Ministeriums gewachsen ist. Denn es
schon lange nicht mehr erreichen. Das ist eine Aufgabe, hat große gesellschaftliche Aufgaben. Aber es ist traurig,
(B) und das hat der letzte Sonntag einmal mehr deutlich ge- zu sehen, wie schlecht Sie die zur Verfügung stehenden (D)
macht. Mittel einsetzen und dass Sie mehr ideologische Scheu-
klappen haben, als Sie es mir jemals vorwerfen können.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Es gibt aber auch einige Bereiche, von denen man sa- Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wir haben über-
gen kann, dass es eine gute Idee war, zum Beispiel die haupt keine Ideologien! Wir haben Ideale! Das
Mehrgenerationenhäuser. Sie sind ein Beleg für eine gut ist der Unterschied!)
funktionierende Zivilgesellschaft. Sie sind ein Ort, an
dem sich verschiedene Generationen begegnen und viele
gute Projekte stattfinden. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Herr Kollege. – Wir fahren mit unserer
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wer hat es verlän- Rednerliste fort. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
gert? Wir! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: nen spricht unser Kollege Sven-Christian Kindler. Bitte
Eine Initiative der CDU/CSU!) schön, Kollege Sven-Christian Kindler.
– Das bestreite ich doch gar nicht. Sie können auch mal
etwas Gutes machen. Das habe ich nicht abgestritten. Ich Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
habe schließlich gesagt, dass Sie gut angefangen haben. NEN):
Warum Sie aber jetzt 6 Millionen Euro streichen und da- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
mit definitiv das Aus für viele Mehrgenerationenhäuser Kollegen! Diesen Haushalt, über den wir zu später
besiegeln, habe ich noch nicht richtig verstanden. Stunde sprechen, kann man zu Recht als Haushalt für die
Projekte wie die Mehrgenerationenhäuser sind eine Zivilgesellschaft beschreiben. Wir finden im Haushalt
Möglichkeit, um völlig ideologiefrei etwas für Demo- den Kinder- und Jugendplan, die Mehrgenerationenhäu-
kratie und Toleranz und damit auch gegen Rechtsextre- ser, die Freiwilligendienste und die Bundesprogramme
mismus zu tun. Das hätten Sie vorher bedenken müssen. gegen Rechtsextremismus. Ich will in meiner Rede auf
zwei Punkte zur Zivilgesellschaft eingehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zum Ersten zu den Freiwilligendiensten. Es war eine
Ich möchte noch auf die Mittel eingehen, die Sie für richtige, ganz wichtige und längst überfällige Entschei-
die Jugendpolitik zur Verfügung stellen. Nach wie vor dung, die ungerechte Wehrpflicht endlich auszusetzen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14705
Sven-Christian Kindler
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute geschrieben, dass ein afroamerikanischer Mitar- (C)
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der beiter der Botschaft bei einem Spiel von Hertha BSC
SPD) war und danach von einfachen Passanten rassistisch be-
leidigt, angepöbelt und mit Bier überschüttet wurde. Das
Dadurch musste auch der Zivildienst abgeschafft wer- zeigt, dass es auch um Rassismus in der Mitte der Ge-
den. Deswegen brauchen wir ein konsistentes Konzept, sellschaft geht.
wie man die vielen Zivis, die in den sozialen Einrichtun-
gen sind, sinnvoll ersetzen kann. Wir begrüßen, dass die (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das in
Koalition endlich unserer Forderung nachgekommen ist, Berlin!)
mehr Gelder für den Freiwilligendienst beim FSJ und
Murphy schreibt zum Ende des Briefes:
beim FÖJ einzustellen. Allerdings hätten Sie jetzt, da der
Zivildienst zu Ende ist, die Chance nutzen müssen, alte Rassismus gehört nicht der Vergangenheit an … Er
Strukturen zu überwinden und Neues zu gestalten. Sie bleibt ein Problem unserer Zeit. Wir müssen Rassis-
hätten eine Lösung aus einem Guss liefern müssen. mus entschieden entgegentreten …
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau so ist es; recht hat der Mann. Wir brauchen eine
sowie bei Abgeordneten der SPD) starke Zivilgesellschaft gegen Rassismus.
Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie schaffen ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
nen neuen Dienst, den sogenannten Bundesfreiwilligen- bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg.
dienst, von dem wir schon jetzt wissen, dass dieser Ewa Klamt [CDU/CSU])
Ersatzzivildienst nicht funktionieren wird. Der Bundes-
rechnungshof hat zu Recht scharf kritisiert, dass mit dem Jetzt schauen wir uns einmal an, was diese Bundes-
ehemaligen Bundesamt für Zivildienst überkommene regierung und diese Ministerin gegen Nazis, gegen Ras-
Strukturen beibehalten werden. Wir brauchen dringend sismus und Antisemitismus machen. Die Ministerin
mehr Engagement für den Freiwilligendienst. Was wir pflegt das Misstrauen. Heribert Prantl hat am Montag in
allerdings nicht brauchen, sind teure und ineffiziente der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar zum Wahl-
Doppelstrukturen und noch mehr Bürokratie. ausgang in Mecklenburg-Vorpommern und zum Wahler-
folg der NPD verfasst. In seinem Kommentar lobt er zu
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Recht die bewundernswerte Arbeit der Amadeu-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Antonio-Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
LINKEN) hier in Berlin. Er schreibt auch, wie sich die Ministerin
dafür bedankt. Ich zitiere Heribert Prantl:
Ich komme zum zweiten Teil meiner Rede zur Zivil-
(B) gesellschaft. Am Wochenende wurde uns wieder einmal Zum Dank traktiert die zuständige, aber ansonsten (D)
klar vor Augen geführt, dass wir ein Problem haben. Wir desinteressierte Bundesministerin Kristina Schröder
haben ein Problem mit Nazis in dieser Gesellschaft. In diese Arbeit mit Misstrauensklauseln.
Dortmund sind mehrere Hundert Nationalsozialisten auf
die Straße gegangen, und die Nazipartei NPD ist wieder Prantl hat recht. Einmal davon abgesehen, dass der
in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezo- Staatsrechtler Professor Battis und der Wissenschaftliche
gen. Zu Recht gab es große Empörung darüber, wenn Dienst dieses Hohen Hauses klargemacht haben, dass sie
man auch feststellen musste, dass diese Empörung zum die Extremismusklausel für verfassungswidrig halten,
Teil leider ritualisiert abläuft. Für uns muss klar sein, wissen wir, dass viele Initiativen darüber klagen, dass es
dass wir dieses Wahlergebnis niemals akzeptieren dür- Misstrauen gibt, dass sie ihre Partner überprüfen und
fen. Wir müssen alten und neuen Nationalsozialisten ent- ausspionieren müssen, obwohl eine vertrauensvolle Zu-
schlossen und konsequent entgegentreten. sammenarbeit zwischen den Partnern wichtig wäre. Das
zeigt: Das Arbeitsklima bei diesen Initiativen wird ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, giftet. Diese Extremismusklausel ist verfassungswidrig.
bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abge- Sie schafft Misstrauen und muss deswegen so schnell
ordneten der SPD) wie möglich weg.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass wir nicht nur ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Problem mit militanten Nazis, mit Gewalttaten und bei der SPD und der LINKEN)
Wahlerfolgen der NPD haben, sondern dass sich Rechts-
extremismus auch im alltäglichen Leben zeigt. Wir ken- Ich rate Ihnen: Reden Sie einmal mit den Initiativen
nen die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung und die von gegen Rechtsextremismus, und fragen Sie sie, was da los
Wilhelm Heitmeyer von der Uni Bielefeld. Wir wissen: ist. Viele sind schwer enttäuscht und frustriert. Sie kla-
Wir haben in unserer Gesellschaft menschenverach- gen über das Misstrauen und natürlich auch über die dra-
tende, demokratiefeindliche, rassistische und antisemiti- matische Unterfinanzierung. Als ob das alles nicht schon
sche Einstellungen. Diese reichen bis weit in die Mitte schlimm genug wäre, kürzen Sie auch noch 2 Millionen
der Gesellschaft. Auch darum müssen wir uns kümmern. Euro bei den Mitteln für den Kampf gegen den Rechts-
extremismus. Zugegeben: Diese Kürzung erfolgt vor al-
Ich war erstaunt, als ich heute in der Berliner Mor- len Dingen bei der Regiestelle und den Steuerungsmit-
genpost einen sehr interessanten, bemerkenswert offenen teln. Diese Kürzung zeigt aber auch, was Ihnen der
Brief gelesen habe. Der US-Botschafter Philip Murphy Kampf gegen den Rechtsextremismus wert ist; das ist
– einige von Ihnen werden ihn bestimmt kennen – hat ein Symbol: Es gibt nicht mehr Geld, sondern weniger.
14706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Sven-Christian Kindler
(A) Man könnte dieses Geld auch Antinazigruppen in Vor- Ein unschätzbarer Vorteil des Elterngeldes ist, dass (C)
pommern geben. Davon halten Sie aber nichts. Nach immer mehr Väter die Möglichkeit haben, sich den
zwei Jahren Schwarz-Gelb ist klar: Diese Regierung ar- Wunsch zu erfüllen, befristet aus dem Erwerbsleben aus-
beitet gegen die Zivilgesellschaft, gegen engagierte Bür- zusteigen, um sich partnerschaftlich an der Betreuung
gerinnen und Bürger. Ihr Extremismusansatz ist falsch der Kinder zu beteiligen. Ich freue mich außerordentlich,
und gefährlich. Damit muss Schluss sein. dass die Zahl der Väter, die die Partnermonate in An-
spruch nehmen, insbesondere in Bayern im Vergleich zu
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den anderen Bundesländern sehr hoch ist.
bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir brauchen endlich ein Bundesprogramm – ihm
muss mehr Geld zur Verfügung stehen –, das sich gezielt Dadurch wird sich natürlich nicht nur die Einstellung in-
gegen Menschenfeindlichkeit und gegen Rechtsextre- nerhalb der Familie ändern, sondern mittel- und langfris-
mismus wendet. Die Zivilgesellschaft braucht wieder tig hoffentlich auch die Einstellung der Arbeitgeber:
mehr Vertrauen, wieder mehr Unterstützung und keine Wenn junge Bewerber vor ihnen sitzen, wissen sie eben
schwarz-gelben Störaktionen. nicht, ob sie einmal Partnermonate nehmen werden, ob
Vielen Dank. die Mütter oder die Väter länger zu Hause bleiben. Es
hilft den Frauen gleichstellungspolitisch sehr, wenn ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, junger Mann eben nicht bevorzugt wird. Früher hatte
bei der SPD und der LINKEN) man Angst, dass eine eingestellte junge Frau einmal aus-
fallen könnte, wenn sie ein Kind bekommt. Mit einem
Vizepräsident Eduard Oswald: Arbeitsausfall muss man mittlerweile Gott sei Dank bei
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin für Bewerbern beider Geschlechter rechnen.
die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kollegin Dorothee
Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Dorothee Bär. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Ich möchte auch an dieser Stelle sagen, dass ich sehr
dankbar bin, dass die Bundeskanzlerin unbeirrt am El-
Dorothee Bär (CDU/CSU): terngeld festhält. Sie hat vor einigen Tagen nochmals be-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tont, dass diese familienpolitische Leistung nicht zur
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich Disposition steht.
(B) sehr, dass wir heute, auch wenn zu fortgeschrittener (Beifall bei der CDU/CSU) (D)
Stunde, über unseren Haushalt diskutieren. Vor allem
freue ich mich, weil wir trotz der angespannten Haus- Dass es richtig ist, dass wir daran festhalten, belegt
haltslage – die Kollegin Gruß hat es angesprochen – ei- eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für demo-
nen Aufwuchs von mehr als 9 Millionen Euro haben. grafische Forschung. Die Demografen haben herausge-
Das zeigt ganz deutlich, dass wir als christlich-liberale funden, dass die Geburtsjahrgänge ab 1970 jetzt die
Koalition diesen Politikbereich wertschätzen und dass Trendwende einläuten. Die Frauen und auch die jungen
wir den Themenfeldern Familie, Senioren, Frauen und Männer, die nach 1970 auf die Welt gekommen sind, sa-
Jugend Priorität einräumen. gen verstärkt Ja zu Kindern und setzen auch mehr Kin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der in die Welt. Neben dem Ausbau der Betreuungs-
plätze hat auch das Elterngeld dazu beigetragen, dass wir
Den größten Teil unseres Etats nimmt mit 4,6 Milliar- insgesamt ein kinderfreundlicheres Klima haben, sagen
den Euro unser Erfolgsmodell, das Elterngeld, ein. Wie die Forscher.
bereits dargestellt, wünschen wir uns natürlich, es noch
weiter auszubauen; das ist noch nicht von der Agenda Schauen wir uns einmal die Umfragen dazu an, was
genommen. Es ist haushalterischen Zwängen geschuldet, die Bevölkerung zu diesem Instrument sagt. Allensbach
dass wir es noch nicht so erweitern konnten, wie wir uns hat in dieser Woche herausgefunden, dass knapp 80 Pro-
das vorgestellt haben. Trotzdem möchte ich noch einmal zent der Befragten dem Elterngeld positiv gegenüberste-
ganz vehement dafür werben. Ich freue mich, wenn wir hen. Dies zeigt, dass es in der Bevölkerung angekommen
mehr Geld brauchen. Dass wir immer mehr Geld brau- ist und angenommen wird.
chen – das ist schon öfter angesprochen worden –, ist ein
positives Zeichen. Denn warum brauchen wir mehr (Beifall bei der CDU/CSU)
Geld? Weil die Zahl der Geburten steigt und das Eltern-
geld daher verstärkt in Anspruch genommen wird. Obwohl in der Studie festgestellt worden ist, dass
wieder mehr Kinder in die Welt gesetzt werden, möchte
(Beifall bei der CDU/CSU) ich an dieser Stelle eine kritische Anmerkung machen.
Das Elterngeld ist ein zentraler Baustein unserer Fa- Man kann sich überlegen, ob man da sofort etwas macht
milienpolitik. Es erleichtert das Ja zu Kindern. Unsere und ob man überhaupt über den Haushalt etwas errei-
Familienpolitik setzt sich aus vielen Bausteinen zusam- chen kann. Ich glaube nicht, dass wir alleine da etwas
men. Aber wenn wir den Baustein Elterngeld wegnäh- machen können. Das ist mehr eine gesamtgesellschaftli-
men, würde unser familienpolitisches Gebäude sehr in- che Diskussion. Aber ich möchte es trotzdem anspre-
stabil werden. chen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14707
Dorothee Bär
(A) Zwar ist die Geburtenrate jetzt höher; sie liegt bei 1,6, besondere da ansetzen, wo es am Notwendigsten ist, (C)
was allerdings immer noch nicht ausreichend ist. Nicht dass wir Familien, in denen es Schwierigkeiten gibt, be-
schön ist aber, dass das Durchschnittsalter der Erstgebä- gleiten, teilweise auch schon vor der Geburt. Ich weiß,
renden in Deutschland immer höher wird. Obwohl das dass es gerade seitens der Länder an dieser Stelle ent-
auch insgesamt im europäischen Vergleich so ist, ist das sprechende Kosteneinwände gibt. Ich sage es aber noch
eine Entwicklung, die nicht so positiv ist. Wünschens- einmal: Kinderschutz gibt es nicht zum Nulltarif, Kin-
wert wäre, wenn die Eltern bei der Geburt ihres ersten derschutz gibt es nicht umsonst. Deswegen ist es völlig
Kindes und hoffentlich auch der weiteren Kinder jünger richtig, dass wir als Bund jetzt einmal 120 Millionen
wären, und zwar aus verschiedenen Gründen. Leider Euro in die Hand nehmen und an die Länder appellieren,
reicht die Zeit heute nicht, um das auszudiskutieren. uns in diesem Bereich beizustehen.
Aber ich glaube, es wäre schon an uns, einmal zu überle-
gen, ob wir da nicht etwas Bewegung hineinbringen (Beifall bei der CDU/CSU)
können, ob wir es für junge Berufsanfänger, auch für In dieselbe Kategorie der Maßnahmen, die wir in den
Studentinnen und Studenten noch attraktiver machen letzten beiden Jahren nach Verabschiedung des Koali-
können, bereits in den 20ern und nicht erst in den 30ern tionsvertrages ergriffen haben – ich sage nur: versprochen,
oder gar in den 40ern an Familienplanung zu denken. gehalten –, fällt das Thema Mehrgenerationenhäuser. Wir
(Dagmar Ziegler [SPD]: Was hat das jetzt mit haben dieses Thema im Koalitionsvertrag aufgenommen
dem Haushalt zu tun?) und haben entsprechende Maßnahmen umgesetzt, wie
eben alles so wunderbar in dieser christlich-liberalen Ko-
Ein weiterer Haushaltsposten, der angesprochen alition funktioniert.
wurde, betrifft die Freiwilligendienste. Der Staatssekre-
tär konnte die Zahlen heute Gott sei dank weiter nach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
oben korrigieren; das ist sehr erfreulich. Wir hoffen, dass neten der FDP – Zurufe von der SPD)
dieses Modell – wie das Elterngeld – zu einem Erfolgs- Wir bringen jetzt das Nachfolgeprogramm „Mehrge-
modell wird. Wir haben damit etwas Einmaliges ge- nerationenhäuser II“ auf den Weg. Mehrgenerationen-
schaffen, indem nicht nur jüngere Menschen im Rahmen häuser stehen für mich wirklich exemplarisch für funk-
dieses Modells tätig werden können, sondern wirklich tionierendes Engagement im kommunalen Bereich. Es
alle gesellschaftlichen Schichten und auch alle Alters- war eine hervorragende Idee von der Vorgängerministe-
schichten. Der Anteil der Seniorinnen und Senioren ist rin Ursula von der Leyen, und diese wird jetzt auch mit
sehr hoch; es wird gut von ihnen angenommen. Ich bin Begeisterung von Ministerin Schröder weiter umgesetzt.
mir sicher: Je länger das Modell läuft, desto besser wird Wir haben es geschafft, dass die entsprechenden Häuser
es angenommen werden. nicht nur erhalten werden, sondern sogar noch weitere
(B)
Wer sich bundesweit umschaut und einmal mit den dazukommen. Die funktionierenden Strukturen haben (D)
Betreffenden in den Einrichtungen spricht, der stellt fest, wir übrigens gemeinsam mit den Kommunen, die wir
dass sie von den Bufdis noch wesentlich begeisterter dafür mit ins Boot geholt haben, ausgebaut. Der Erhalt
sind als von den Zivildienstleistenden. Zur Begründung der Mehrgenerationenhäuser ist uns also ein ganz beson-
wird angeführt: Wir wurden ganz gezielt ausgesucht, ders wichtiges Anliegen.
und wir werden im Vergleich zu vorher noch stärker an- Ein Letztes darf ich noch ansprechen, das wir schon
genommen. Die Zivildienstleistenden haben schon eine in die letzten Beratungen mit aufgenommen haben:
hervorragende Arbeit gemacht. Aber diejenigen, die das Auch im Haushalt 2012 wird die Bundesstiftung „Mutter
jetzt machen, tun dies absolut freiwillig. – Dies zeigt, und Kind – Schutz des ungeborenen Lebens“ wieder mit
dass es richtig war, diesen Ansatz zu wählen. Sicherlich mehr als 92 Millionen Euro unterstützt. Das Bundesfa-
gab es einige Anlaufschwierigkeiten. Aber das haben die milienministerium ist im Moment dabei, die Arbeit der
Träger, die Einsatzstellen und auch diejenigen, die die- Stiftung zu evaluieren. Es wird untersucht, in welcher
sen Bundesfreiwilligendienst angenommen haben, er- Weise durch die Mittel der Bundesstiftung auch langfris-
kannt. Künftig muss kein einziger Interessent, der eine tig positive Wirkungen für die Antragstellerinnen und
freiwillige Arbeit leisten will, mehr abgewiesen werden. ihre familiären und sozialen Netzwerke erzielt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns ganz beson-
neten der FDP) ders für das im Entstehen begriffene Leben einsetzen
und Geld in die Hand nehmen, um Frauen, die nicht wis-
Einen weiteren wichtigen Titel hat der Staatssekretär sen, wie sie mit Konfliktsituationen wie einer Schwan-
schon angesprochen. Aber ich glaube, man kann gute gerschaft umgehen sollen, zu vermitteln, dass sie auf uns
Nachrichten gar nicht oft genug wiederholen; denn sie bauen können, weil wir die Kinder schon schützen wol-
bleiben leider nicht so hängen wie negative Nachrichten. len, bevor sie auf die Welt kommen. Ich bin froh, dass
Für unsere Bundesinitiative Familienhebammen wurde dieser ganz wichtige Titel in den Bundeshaushalt einge-
eigens ein neuer Titel mit einem Ansatz von 30 Millio- stellt worden ist.
nen Euro geschaffen. Das ist der Kernbestandteil des
Bundeskinderschutzgesetzes, das am 1. Januar 2012 in Ansonsten freue ich mich jetzt auf die Beratungen
Kraft treten wird. Wir werden in der Zeit von 2012 bis und darüber, dass wir die Koalition sind, die wirklich et-
2015 120 Millionen Euro dafür in die Hand nehmen. Wir was für Familien in diesem Land tut.
haben uns über dieses Thema hier schon einmal geson- Vielen Dank.
dert unterhalten. Ich glaube, es ist ein ganz wichtiger und
richtiger Schritt, dass wir das in Angriff nehmen und ins- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: nausgehen werden. Die Bundesministerin verweigert (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der Nächste auf unse- eine realitätsbezogene Bedarfsermittlung. Sie schiebt
rer Rednerliste ist für die Fraktion der Sozialdemokraten quasi den Schwarzen Peter den Ländern und der kom-
unser Kollege Rolf Schwanitz. Bitte schön, Kollege Rolf munalen Ebene zu. Die Bundesministerin hat mindes-
Schwanitz. tens eine Mitverantwortung hinsichtlich der Erfüllung
dieses Auftrages, wenn nicht mehr.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Rolf Schwanitz (SPD): DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Stattdessen gefährdet diese Vogel-Strauß-Politik den
Herren! Die Möglichkeiten, kritische Anmerkungen zum Rechtsanspruch ab 2013. Ich sage ausdrücklich: Das
Einzelplan von Frau Ministerin Schröder zu machen, wird der zentrale Prüfstein werden, an dem wir die poli-
sind schier unerschöpflich. Ich will mich heute auf drei tische Leistung dieser Ministerin messen werden.
Anmerkungen beschränken.
(Beifall bei der SPD)
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie auch
einmal etwas Gutes!) Die dritte Bemerkung – die ich Ihnen nach all den an-
Als Allererstes ein paar Bemerkungen zur vorgeleg- derslautenden Einschätzungen aus der Koalition nicht
ten Finanzplanung 2012 bis 2015. Das, was hier abgebil- ersparen kann – bezieht sich darauf, was Sie beim Über-
det wird, würde man in der Wirtschaft einen Offenba- gang vom Zivildienst zum Bundesfreiwilligendienst an-
rungseid nennen. Der Etat für Familie, Senioren, Frauen gestellt haben. Wir als Sozialdemokraten – und auch an-
und Jugend gehört zu den Einzelplänen im Bundeshaus- dere – haben vor dem Weg, den Sie gegangen sind,
halt mit den geringsten Zuwächsen auf dieser Vierjahres- gewarnt. Wir haben davor gewarnt, Doppelstrukturen
leiste. aufzubauen, und die Chance deutlich gemacht, den be-
währten Freiwilligendienst der Länder zu stärken. Wir
(Caren Marks [SPD]: Wohl wahr!) haben empfohlen, diese Chance zu nutzen. Sie haben die
Gegenüber den Eckwerten, die im März verbindlich aus- Warnungen ignoriert. Sie haben Bürokratien in Ihrem
gegeben wurden – es gab ja dieses Jahr ein neues Haus- Zuständigkeitsbereich konserviert. Sie haben Doppel-
haltsaufstellungsverfahren –, ist der gesamte Plafond für strukturen geschaffen, und Sie haben den Bundesfreiwil-
2012 noch einmal um 30 Millionen Euro abgesenkt wor- ligendienst schlampig vorbereitet und eingeführt, übers
den. Obwohl der Gesamthaushalt mehr Steuereinnahmen Knie gebrochen. Zum Schluss haben Sie sogar vor ei-
vorsieht, obwohl die Nettokreditaufnahme noch einmal nem Angriff auf den Freiwilligendienst der Länder nicht
(B) gelockert worden ist, wird im Einzelplan 17 die Schraube zurückgeschreckt. (D)
noch einmal angezogen. Die jetzt vorgelegte Finanzpla-
(Caren Marks [SPD]: Ein Skandal war das!)
nung sieht gegenüber den im März vorgelegten Eckwer-
ten ein Minus von 30 Millionen Euro im Jahr 2012, ein Die Zwangsquote 2 : 3 bei der Förderung des Freiwilli-
Minus von 31 Millionen Euro im Jahr 2013, ein Minus gendienstes ist zunächst eine Erpressung der Träger des
von 32 Millionen Euro im Jahr 2014 und ein Minus von Freiwilligendienstes, nichts anderes.
33 Millionen Euro im Jahr 2015 vor. Die Gesamtausga-
ben des Bundeshaushaltes steigen in diesem Zeitraum, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
also von 2012 bis 2015, im Jahresdurchschnitt fünfmal so DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
stark wie die des Einzelplans 17. Der Einzelplan 17 ist LINKEN)
also ein Verliererhaushalt. Das zeigt, welchen Stellen-
wert dieses Thema bei Ihnen hat. Die Krönung ist meiner Meinung nach aber, dass das
Ministerium dann noch ein Muster für einen Änderungs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vertrag zur Verfügung gestellt hat, damit bereits abge-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlossene Freiwilligendienstverträge quasi in Bufdi-
Die zweite Bemerkung, die ich machen will, ist eine Verträge umgewandelt werden können. Das muss man
Kritik an der Passivität der Ministerin und des Ministe- sich noch einmal vergegenwärtigen: Hier haben sich
riums in Bezug auf das Thema Rechtsanspruch auf einen junge Leute freiwillig entschlossen, einen Freiwilligen-
Betreuungsplatz für Kinder. Das Kinderförderungsge- dienst zu machen, und sind dazu ein Vertragsverhältnis
setz hat klar den Anspruch formuliert, dass es ab 2013 eingegangen. Dann kommen Sie mit Anweisungen und
für Kinder ab einem Jahr einen Rechtsanspruch auf ei- Musterverträgen, mit denen die jungen Leute genötigt
nen Betreuungsplatz geben soll. Das ist eigentlich die werden,
wichtigste politische Aufgabe, die die Ministerin aus der
Zeit der Großen Koalition mitbekommen hat. (Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Wer nötigt
denn da jemanden?)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) einen Änderungsvertrag abzuschließen, weil Ihr Bundes-
freiwilligendienst sich als Flop entwickelt hat. Das ist
Wir wissen längst, dass die Angebotsquote von eine Sauerei,
35 Prozent in höchstem Maße gefährdet ist. Wir wissen,
dass die Bedarfssätze insbesondere in den städtischen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Bereichen mit hoher Wahrscheinlichkeit weit darüber hi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14709
Rolf Schwanitz
(A) und es widerspricht dem Grundgedanken des Freiwilli- Florian Toncar (FDP): (C)
gendienstes schlechthin. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Diese Koalition hat sich das Thema Haushaltssanierung
(Norbert Geis [CDU/CSU]: So ein Quatsch!
Sie haben nichts kapiert!) auf die Tagesordnung gesetzt. Wir wollen die Verschul-
dung reduzieren, und das tun wir in atemberaubendem
Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung zur Tempo.
Bürokratie beim Bundesfreiwilligendienst machen.
(Caren Marks [SPD]: Da kommen Sie aber
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Wissen Sie es schnell außer Atem!)
nicht, oder lügen Sie da?)
Wir sind vor zwei Jahren bei 86 Milliarden Euro Neu-
Wir haben im Haushaltsausschuss über alle Fraktionen verschuldung gestartet – übrigens ein Vorschlag, der von
hinweg beschlossen, dass Sie einen Bericht über die Ab- der SPD kam. In diesem Jahr werden wir es schaffen, bei
wicklung und Gestaltung des Bundesamtes vorlegen. Sie 27 Milliarden Euro zu landen. Dieses Tempo bei der Re-
haben drei Monate lang zunächst nicht geliefert, duzierung der Verschuldung ist, so glaube ich, beispiel-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das stimmt doch los. Das ist sicherlich die Klammer, die um diese Haus-
gar nicht, was Sie hier alles erzählen!) haltsberatungen zu ziehen ist.

dann haben Sie geliefert. Der Bundesrechnungshof hat (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
den Bericht kommentiert und faktisch in der Luft zerris- GRÜNEN]: Bei den Ärmsten sparen!)
sen. Warum machen wir das? Weil wir die Handlungsfä-
(Caren Marks [SPD]: Zu Recht!) higkeit des Staates auch in Zukunft sichern wollen, weil
die Verschuldung der letzten Jahre nicht dauerhaft funk-
Es ist nicht nur so, dass der Bundesfreiwilligendienst tionieren kann, weil ein Staat nicht über seine Verhält-
sich als Flop entwickelt hat. Darüber hinaus haben Sie nisse leben sollte.
dafür in Ihrem Ministerium und im Bundesamt für Fami-
lie und zivilgesellschaftliche Aufgaben – daran muss (Caren Marks [SPD]: Sie versprechen auch
man sich erst einmal gewöhnen – weiter Steuersenkungen! Alles klar!)
(Caren Marks [SPD]: Kräuteramt! Da wissen Das ist vor allem im Interesse der jungen Menschen, der
alle, was gemeint ist!) Kinder und Jugendlichen, die auch in 10, 20, 30 oder
40 Jahren einen handlungsfähigen und finanziell leis-
eine Bürokratie vorgesehen, die jeder Beschreibung tungsfähigen Staat brauchen.
spottet. Da werden Aufgaben künstlich aufgebläht und
(B) sachfremde Aufgaben zugeordnet. Über 50 Personen (Beifall bei der FDP) (D)
wissen bis heute nicht, was sie machen sollen. In diesem
Kräuteramt werden Dinge kreuz und quer, ohne dass da Trotz aller Sparbemühungen setzen wir aber einen
irgendein roter Faden zu erkennen wäre, organisiert. Da- Schwerpunkt im Bereich von Bildung und Forschung,
rüber werden wir im Haushaltsausschuss noch sehr kri- für den diese Koalition in vier Jahren die Rekordsumme
tisch zu reden haben. von zusätzlich 12 Milliarden Euro bereitstellt. Das ist
das zweite Element unserer Zukunftsvorsorge. Wir sa-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nieren den Staat auch für zukünftige Generationen. Wäh-
DIE GRÜNEN) rend der Haushalt konsolidiert wird, investieren wir aber
Der Name „Kräuteramt“ etabliert sich übrigens bei in Bildung und damit in Chancen für die Zukunft. Das ist
uns in der Fraktion langsam, nicht wegen des Namens im Interesse der Kinder und der Jugendlichen.
des Vorgesetzten, sondern weil die Aufgaben schlicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und einfach an Kraut und Rüben erinnern und keinerlei
roten Faden haben. Herr Kollege Schwanitz, deswegen verbietet sich, so
finde ich, eine rein ausgabenfixierte Betrachtung dieses
(Beifall bei der SPD) Haushalts, zumal man festhalten muss, dass die Sozial-
Der Gestaltungsauftrag ist völlig in den Sand gesetzt quote des Haushalts bei 52 Prozent liegt und damit – das
worden. Wir werden ihn in den nächsten Wochen kri- wissen Sie – deutlich höher als beispielsweise unter Rot-
tisch auseinandernehmen und mit Änderungsanträgen Grün, und das, obwohl unter Rot-Grün ein deutlich hö-
versehen. herer Betrag für den Arbeitsmarkt nötig war. Wenn Sie
schon rein quantitativ auf die Sozialquote schauen, dann
Herzlichen Dank. sollten Sie wirklich genau hinschauen. Wir geben dafür
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jedenfalls nicht weniger aus, als Sie zu Ihrer Regierungs-
DIE GRÜNEN) zeit ausgegeben haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ich denke, dass wir uns von einer solchen rein quanti-
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner auf
tativen Betrachtung lösen müssen. Stattdessen müssen
unserer Liste ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
wir uns heute fragen: Wo kann man sinnvoll Schwer-
Florian Toncar. Bitte schön, Herr Kollege.
punkte setzen? Wo kann man ansetzen, damit man zu ei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ner qualitativen Betrachtung kommt? Genau das tun wir
14710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Florian Toncar
(A) im Einzelplan 17. Die Gelder aus unserer Bildungsoffen- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
sive werden insbesondere für die Sprachförderung in Wie halten Sie es mit dem Bürokratieabbau?)
Kinderbetreuungseinrichtungen eingesetzt. Das werden
laut Ansatz im nächsten Jahr 102 Millionen Euro sein. Das zu erreichen, wird ein wenig Kreativität erfordern.
Ich glaube, es ist ein guter Schwerpunkt, zu sagen: Wir Da werden wir Übergangslösungen finden müssen. Wir
investieren nicht nur – was wir im Konsens beschlossen werden uns natürlich auch anschauen, wie realistisch der
haben – in den Ausbau der Kinderbetreuung, in die Ge- Personalbedarf berechnet ist. So sehr sich die Mitarbei-
bäude genauso wie in die Betriebskosten. Das machen ter darauf verlassen können, dass wir ein fürsorglicher
wir schon seit einigen Jahren. Wir prüfen darüber hi- und verantwortungsvoller Arbeitgeber bleiben werden,
naus, wo es Brennpunkte gibt, wo besondere Notlagen so deutlich sagen wir auch: Es ist weder im Sinne der
bestehen oder wo man mit speziell qualifiziertem Perso- Mitarbeiter noch der Steuerzahler, wenn wir eine Be-
nal Sprachförderung von Kindern betreiben muss. Diese hörde haben, in der die Menschen eigentlich nicht genug
102 Millionen Euro sind gut angelegt. Den Kindern wer- zu tun haben, um dort dauerhaft zu bleiben. Ich würde
den Chancen verschafft, die sie sonst nicht hätten. Damit als Gegenleistung dafür, dass wir unseren Verpflichtun-
tun wir auch im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und des gen als Arbeitgeber nachkommen, Einsatzbereitschaft
sozialen Zusammenhalts Gutes. und Flexibilität erwarten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In diesem Sinne glaube ich, dass wir für das Bundes-
amt eine vernünftige Lösung finden sollten. Wir müssen
Darüber hinaus möchte ich kurz auf das eingehen, uns überlegen, ob wir diese Menschen nicht in anderen
was insbesondere unsere Fraktion beim letzten Haushalt Bereichen, in denen wir Personalknappheit haben, sinn-
angeregt hat und was jetzt umgesetzt werden soll: das voller einsetzen können. Das können wir gerne gemein-
Hilfetelefon im Falle von Gewalt gegen Frauen. Es gibt sam machen. Ich denke jedenfalls, dass das eines der
regional sehr unterschiedliche Hilfsangebote. Wichtig ist Themen ist, um die wir uns bei den Haushaltsberatungen
aber, dass es bundesweit eine Anlaufstelle bzw. einen ernsthaft kümmern sollten.
Ansprechpartner gibt, wohin sich Frauen anonym wen-
den können. Dort bekommen sie entweder Hilfe oder Vielen Dank.
werden von dort an eine geeignete Beratungsstelle oder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ein geeignetes Hilfsprojekt in der Gegend vermittelt, in
der sie wohnen. Das werden wir sicherstellen. Dieses
Projekt werden wir dauerhaft betreiben, weil wir hier Vizepräsident Eduard Oswald:
eine Lücke schließen, die im Kampf gegen Gewalt in der Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die
Familie oder in Beziehungen wichtig ist. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau
(B) Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin Dörner. (D)
Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen
– Herr Kollege Schwanitz hat das schon angesprochen –:
die künftige Struktur des Bundesamts für Familie und Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zivilgesellschaftliche Aufgaben. Ich glaube, dass das Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Thema eine genaue und sensible Betrachtung verdient. Liebe Kollegen! Herr Bockhahn, Sie haben in Ihrer Rede
Das Amt ist vor große Herausforderungen gestellt, für zwar einiges Richtiges gesagt; aber es ist doch wohl ein
die die Mitarbeiter nichts können. Die Mitarbeiter haben Witz in Tüten, hier Berlin als Kitawunderland zu präsen-
in den letzten Jahren ihren Job gemacht und ihre Aufga- tieren.
ben erfüllt. Diese Aufgaben sind aber nunmehr wegge-
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ja! – Beifall
fallen. Sie wissen auch, Kollege Schwanitz, dass es dort
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nicht nur Beamte gibt, die nicht kündbar sind, sondern
dass auch viele Angestellte nicht kündbar sind. Im Übri- Diesen Hinweis kann ich Ihnen hier nicht ersparen.
gen bin ich der Meinung, dass ein fürsorglicher Arbeit-
geber auch nicht kündigen sollte. (Sönke Rix [SPD]: Sind demnächst Wahlen in
Berlin?)
(Sönke Rix [SPD]: Es hat ja keiner von Kündi-
gung gesprochen! – Caren Marks [SPD]: Es Die Zerrüttung der Regierungskoalition ist in allen
geht um sinnvolle Tätigkeit!) Bereichen sichtbar, leider auch in der Kinder- und Fami-
lienpolitik. Der Dauerstreit beim Elterngeld ist ein sehr
– Nein, Moment. Ich möchte nur für die Mitarbeiter des gutes Beispiel dafür.
Bundesamtes, die sich vielleicht anschauen, worüber wir
hier diskutieren, klarstellen, dass das jedenfalls für mich (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Wer streitet denn
keine Option ist. darüber?)
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Vor zwei Tagen haben wir die neuen Zahlen zum Eltern-
GRÜNEN]: Das muss man bei der FDP auch geld bekommen. Man kann ganz klar sagen: Diese Zah-
klarstellen!) len belegen, dass sich das Elterngeld als gleichstellungs-
und familienpolitisches Instrument sehr bewährt hat.
Gleichzeitig möchte ich aber auch sagen: Diese Be- Trotzdem ist das Elterngeld von der FDP sozusagen zum
hörde soll angemessen ausgestattet sein; aber die Perso- Abschuss freigegeben worden.
nalkapazität sollte nach Möglichkeit nicht größer sein,
als für die Erledigung der Aufgaben benötigt wird. (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Was?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14711
Katja Dörner
(A) Ich erinnere daran, dass Christian Lindner, der General- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
sekretär, sagte, das Elterngeld sei zum Besitzstand ge-
worden, und er die Abschaffung forderte; das ist wenige Dabei muss man sagen: In letzter Zeit haben sich
Monate her. Herr Solms sagte, das Elterngeld sei „eine viele vernünftige Leute zum Betreuungsgeld geäußert
und gesagt, dass sie es überhaupt nicht für sinnvoll hal-
Sozialleistung für Leute, die es nicht nötig haben“, wes-
ten. Ich möchte an die neue Ministerpräsidentin des
wegen man es, bitte schön, abschaffen könne.
Saarlands erinnern, die sich dazu sehr klug geäußert hat.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Ich kenne aber auch viele andere Kolleginnen und Kolle-
DIE GRÜNEN) gen, die unter der Hand sagen: Von diesem Betreuungs-
geld ist überhaupt nichts zu halten. Fakt ist, dass sich al-
Da können die Ministerin bzw. Ihr Staatssekretär und so- lein die CSU mit ihrem ewig gestrigen Familienbild an
gar die Kanzlerin das dementieren und, so lange sie wol- dieses Betreuungsgeld gekettet hat. Hier tanzt die CSU
len, sagen, es handele sich um eine gute Leistung: Es der Regierung leider auf der Nase herum. Ich wünsche
nützt nichts. mir, dass sich die Regierung dies nicht länger gefallen
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Es ist total un- lässt.
wichtig, was die Kanzlerin so gesagt hat, oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
was?) und der SPD)
Herr Kues, Sie haben heute Abend ein Drittel Ihrer Abschließend: Die Halbzeitbilanz von Schwarz-Gelb
Redezeit darauf verwandt, die FDP doch davon zu über- ist ein Trauerspiel. Es ist höchst unschön, dass wir es
zeugen; ich weiß nicht, ob es Ihnen gelungen ist. Frau eventuell noch zwei weitere Jahre erleben müssen.
Bär hat sehr lange und, wie ich finde, sehr gut zum El-
terngeld gesprochen. Ich wünsche Ihnen sehr gutes Ge- Ich möchte zum Schluss noch ganz kurz ein Thema
lingen beim Überzeugen der FDP-Fraktion. ansprechen, von dem ich glaube, dass es vielen von uns
am Herzen liegt. Das ist die Entschädigung für die
(Caren Marks [SPD]: Aber Herr Kauder war Heimkinder. Dieses Thema ist heute Abend noch gar
nicht da!) nicht angesprochen worden.
Man muss einfach sagen: Es gibt in dieser Regierungs-
Im Haushaltsentwurf sind die 40 Millionen Euro, die
koalition keine Verlässlichkeit für Familien. Das ist ein wir interfraktionell als Entschädigungsleistung für die
riesengroßes Problem. Heimkinder vereinbart haben, noch gar nicht etatisiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nach der unsäglichen Aktion von Schwarz-Gelb im
und bei der SPD) Haushaltsausschuss
(B) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (D)
Das Elterngeld ist aber nur eine Seite der Medaille;
nur mit einem garantierten und auch guten Kitaplatz GRÜNEN]: Das war wirklich schlimm!)
wird familienpolitisch ein Schuh daraus. Auch hier ver-
müssen wir Fachpolitiker jetzt gemeinsam sehen, dass
sagt die Regierung; sie steckt weiterhin den Kopf in den
das Familienministerium nicht auf den Kosten für diese
Sand und ist nicht bereit, beim Kitaausbau mehr zu in-
Entschädigungen sitzen bleibt. Die Entschädigungen für
vestieren, wenn absehbar ist – es ist absehbar –, dass ab
die ehemaligen Heimkinder sind eine gesamtgesell-
2013 mehr Eltern von unter Dreijährigen den Rechtsan- schaftliche Aufgabe. Ich glaube, hier sind wir alle einer
spruch wahrnehmen werden, als es ursprünglich geplant Meinung.
war. Die Regierung lässt die Kommunen und auch die
Länder bei der Aufgabe, Kitaplätze zu schaffen, im Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen stehen. Man muss nun wahrlich keine Prophetin und bei der SPD)
sein, um zu wissen, dass das am Ende zulasten der Kin-
der und Familien geht. Es kann nicht sein, dass die Heimkinderentschädi-
gung vollständig oder zu einem großen Teil aus dem Etat
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Darf ich nachfra- geleistet werden soll, mit dem heute die Maßnahmen für
gen, was Rot-Grün gemacht hat? Sie haben es Kinder und Familien finanziert werden. Ich hoffe auf
finanziert, aber nicht richtig!) eine gemeinsame Aktion, damit wir es hinbekommen,
dass die Heimkinder die Entschädigung bekommen, die
Die Diskussion, die wir über das Betreuungsgeld füh- ihnen zusteht, dass diese jedoch nicht auf Kosten der
ren, ist völlig bizarr. Im Ausschuss gab es unlängst eine heutigen Kinder und Familien geht.
Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, der darauf abzielt,
das Betreuungsgeld aus dem Gesetz zu streichen. Diese Vielen Dank.
Anhörung hat völlig klar gezeigt: Das Betreuungsgeld ist
eine bildungs- und gleichstellungspolitische Katastro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
phe. Es muss stark bezweifelt werden, ob es überhaupt und bei der SPD)
verfassungskonform umgesetzt werden kann. Zudem
würde es jährlich 2 Milliarden Euro kosten. Dieses Geld Vizepräsident Eduard Oswald:
würde in unserem Haushalt wirklich an allen Ecken und Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für
Enden für Kinder und Familien fehlen. Bizarr ist, dass die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Erwin
sich die Koalition einen Dauerstreit um die Abschaffung Rüddel. Bitte schön, Kollege Rüddel.
des Elterngelds leistet, gleichzeitig aber – zumindest of-
fiziell – am Betreuungsgeld festhält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
14712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

(A) Erwin Rüddel (CDU/CSU): folgsgeschichte entwickelt haben und deshalb auch im (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen nächsten Jahr mit gut 10 Millionen Euro unterstützt wer-
und Herren! Die Familienpolitik dieser Koalition war er- den. Die engagierte Arbeit der Ehrenamtlichen in den
folgreich, sie ist erfolgreich, und sie wird auch die Mehrgenerationenhäusern wird also weitergehen, wobei
nächsten zwei Jahre und darüber hinaus erfolgreich blei- Teilhabe, Pflege und Integration Schwerpunkte des
ben. neuen Förderprogramms sind.
(Beifall bei der CDU/CSU) Ich erwähne die Erhöhung der Ausgaben für die Frei-
willigendienste um rund 44 Millionen Euro gegenüber
Mit dem Haushalt 2012 und dem Finanzplan bis 2015
2011. Auf diese Weise werden die Freiwilligendienste
beweist die christlich-liberale Koalition, dass sie es ernst
nach der Aussetzung des Zivildienstes nachhaltig ge-
meint mit der Einhaltung der Schuldenbremse und mit
stärkt. Die Mittel für den neuen Bundesfreiwilligen-
einer nachhaltigen Haushalts- und Finanzpolitik, die sich dienst, der auch Frauen und älteren Menschen offen-
ihrer Verantwortung für kommende Generationen be- steht, belaufen sich auf fast 270 Millionen Euro. Damit
wusst ist. Dank unserer erfolgreichen Wirtschafts- und leisten wir einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung des
Arbeitsmarktpolitik hat sich der wirtschaftliche Auf- bürgerschaftlichen Engagements, und zwar nicht nur im
schwung zunehmend positiv auf den Bundeshaushalt sozialen Bereich, sondern auch in den Bereichen Sport,
ausgewirkt. Wir haben eben über Extremismus gespro- Kultur und Integration. Die bewährten Jugendfreiwilli-
chen. Ich denke, Menschen eine Perspektive zu geben, gendienste bleiben davon unberührt. Der Bund ist Rück-
ist das beste Modell gegen Extremismus jeder Art. halt für diese Freiwilligendienste. Er finanziert nicht nur
(Beifall bei der CDU/CSU) den Bundesfreiwilligendienst, sondern ist auch der
Hauptgeldgeber für das Freiwillige Soziale Jahr.
Steuermehreinnahmen auf der einen Seite und Fort-
schritte auf dem Arbeitsmarkt mit der Folge von Minder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgaben auf der anderen Seite helfen uns bei der Kon- Man sollte einmal nachschauen, was der Bund für die
solidierung der Staatsfinanzen. Wir sind entschlossen, Freiwilligen Sozialen Jahre leistet und was alle Länder
das strukturelle Defizit bis – ich betone – spätestens zusammen für ihre Programme leisten.
2016 auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts zu reduzieren. Gleichzeitig stellen wir die Weichen Das alles sind Bausteine zu der Zivilgesellschaft, die
für eine an Wachstum und Beschäftigung orientierte wir wollen, einer Gesellschaft, in der ehrenamtliche
Politik. Dienste und Freiwilligendienste dazu beitragen, die Fä-
higkeiten und Kenntnisse aller Altersgruppen für den
Ich schicke diese Bemerkungen mit Bedacht voraus, Zusammenhalt in unserem Land zu mobilisieren. Wir
(B) denn der Konsolidierungskurs der christlich-liberalen (D)
fördern damit die soziale Teilhabe, den Austausch von
Koalition ist zugleich die beste Familienpolitik im Sinne Erfahrungen und ein möglichst breites bürgerschaftli-
des Generationenvertrags. ches Engagement.
(Beifall bei der CDU/CSU – Sven-Christian Unser besonderes Augenmerk gilt dem Kinderschutz.
Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wel- Hier legen wir das neue Programm „Familienhebam-
cher Konsolidierungskurs?) men“ mit jährlich 30 Millionen Euro auf. Wir verstehen
Gleichwohl ist es uns gelungen, alle wichtigen Projekte diese Initiative vor allem als einen Beitrag zu den frühen
im Einzelplan 17 nahezu unverändert fortzuführen und Hilfen. Es geht uns dabei im Rahmen des Kinderschut-
sogar eine Reihe bedeutender neuer Vorhaben zu finan- zes um niederschwellige und frühe Hilfsangebote, die
zieren. Wir beweisen, dass Sparen und Gestalten sich sich gerade an Familien in prekären Lebensverhältnissen
richten, und zwar ausdrücklich sowohl während der
nicht ausschließen. Wir konsolidieren den Haushalt, und
Schwangerschaft als auch nach der Geburt. Wir wollen
wir investieren in die Zukunft unserer Gesellschaft.
die während der Schwangerschaft und Geburt aufgebau-
(Beifall bei der CDU/CSU) ten Vertrauensstrukturen auf diese Weise auch für die
Hilfe und Unterstützung in den ersten Lebensmonaten
Ich erwähne die Initiative „Frühe Chancen“ für die des Kindes nutzen. Davon versprechen wir uns eine
sprachliche Frühförderung in unseren Kitas. Das Ange- wirksame Stärkung des Kinderschutzes. Deshalb wollen
bot gilt vor allem für Kinder von Migranten, aber auch wir mit dieser Initiative eine Basis für den bundesweiten
für deutsche Kinder mit Sprachschwierigkeiten. Gerade Einsatz von Familienhebammen durch Länder und Kom-
auf die frühe Förderung kommt es an. Die Sprache ist munen schaffen.
die Grundlage für den späteren Bildungserfolg und für
eine gelungene Integration. Gestatten Sie mir abschließend noch ein Wort zur Fa-
milienpflegezeit. Unsere Gesellschaft wird immer älter.
Ich erwähne das Elterngeld, das unangetastet bleibt, Die Prognosen hinsichtlich des künftigen Pflegebedarfs
und die Zuschüsse zur Wohlfahrtspflege, an denen wir sind bekannt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege
ebenfalls nicht sparen. Ich erwähne den Aufbau des wird daher in den kommenden Jahren ein Thema von
neuen bundesweiten Hilfetelefons für Gewalt gegen stetiger Bedeutung sein. Nach dem Vorbild der Alters-
Frauen, für den im Haushalt gut 3 Millionen Euro zur teilzeit wird die künftige Familienpflegezeit es den Be-
Verfügung stehen. Ich erwähne das Folgeprogramm für schäftigten erlauben, ihre Arbeitszeit zwei Jahre lang zu
die Mehrgenerationenhäuser, die sich als Knotenpunkt reduzieren, um zu Hause Eltern, Großeltern, Ehepartner
für bürgerschaftliches Engagement zu einer großen Er- oder Kinder zu pflegen. Ich bin sicher, dass diese Initia-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14713
Erwin Rüddel
(A) tive, für die wir der Frau Ministerin sehr dankbar sind, gefördert werden. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme (C)
ein Erfolg werden wird. erschließt sich, glaube ich, nur wenigen. Deutlich wird,
dass diese Ministerin Gleichstellungspolitik überhaupt
(Beifall bei der CDU/CSU) nicht verstanden hat; denn Gleichstellungspolitik
Das wird nicht alle Probleme bei der Pflege lösen. Es schließt immer Frauen und Männer ein.
ist aber ein Meilenstein auf dem Weg, das große Thema
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der bedarfsgerechten Pflege in einer rasch alternden Ge-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sellschaft zu bewältigen. Deshalb fügt sich das Konzept
LINKEN)
der Familienpflegezeit in die vielfältigen Vorhaben ein,
die wir im Einzelplan 17 ansprechen und mit denen wir Natürlich sind Initiativen, mit denen beispielsweise
die Familie, die Generationen und das bürgerschaftliche der Männeranteil in Kitas erhöht werden soll, zu begrü-
Engagement in unserer Gesellschaft fördern. Wir sind ßen – das ist gar keine Frage –, doch die Tatsache, dass
mit diesem Haushaltsentwurf auf einem guten Weg für nur wenige Männer in Kitas oder Pflegeberufen arbeiten,
unser Land. hat nichts, aber auch rein gar nichts mit einer unzurei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chenden Männerpolitik oder gar einer Benachteiligung
von Männern zu tun. Männer wählen diese Berufe sehr
selten, weil sie erstens schlecht bezahlt und zweitens
Vizepräsident Eduard Oswald:
nicht ausreichend gesellschaftlich anerkannt werden.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Marks.
Das sind die Fakten, die Sie, die Ministerin und die Kol-
(Beifall bei der SPD) leginnen und Kollegen von der schwarz-gelben Regie-
rungskoalition, einfach ignorieren. Sie blenden die struk-
Caren Marks (SPD): turelle Benachteiligung von Frauen im Erwerbsleben
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine schlicht und ergreifend aus.
lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Etat des Bundes- (Beifall bei der SPD – Rita Pawelski [CDU/
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend CSU]: Darf ich einmal fragen, wie das vor fünf
bietet ebenso wie die Etats der anderen Ministerien, die oder sechs Jahren aussah? Sah das da anders
heute schon beraten wurden, keine Hinweise auf eine zu-
aus? Was erzählt ihr hier für ein Zeug!)
kunftsweisende oder gar soziale Politik.
– Liebe Rita, du weißt selbst, dass die strukturelle Be-
Wohin treibt die Politik für Familien? Wohin treibt
nachteiligung von Frauen im Erwerbsleben von deiner
(B) die Politik für junge Menschen oder für Seniorinnen und Regierung ausgeblendet wird. Da brauchst du dich jetzt
(D)
Senioren? Worauf können sich Familien bei dieser Bun-
desregierung überhaupt noch verlassen? Wie ernst meint gar nicht aufzuregen.
diese Bundesregierung es mit einer konsequenten Frauen verdienen im Durchschnitt etwa ein Viertel
Gleichstellungspolitik, die diesen Namen verdient hat, weniger als Männer. Das ist hinreichend belegt. Das ha-
Herr Staatssekretär? Wie ernst meint sie es mit einer ei- ben wir hier, im Plenum, oft genug miteinander festge-
genständigen Jugendpolitik? Immer deutlicher wird: stellt. Warum gibt das Ministerium trotzdem erneut Geld
Diese Bundesregierung gestaltet Gesellschaftspolitik für Studien, Datenerhebungen und Analysen zur Entgelt-
nicht. Nein, sie verwaltet sie allenfalls. Sie haben Fami- ungleichheit aus? Mit Ausnahme der Ministerin haben
lien verunsichert, indem Sie das Elterngeld gekürzt ha- wir, denke ich, kein Erkenntnis-, sondern ein Umset-
ben. Stimmen aus den Koalitionsfraktionen stellen das zungsproblem. Die Bundesregierung muss endlich han-
Elterngeld sogar immer wieder infrage; das haben wir deln, sage ich Ihnen.
auch heute des Öfteren gehört. Familien können sich auf
diese schwarz-gelbe Regierung nicht verlassen, weder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
beim Elterngeld noch beim Krippenausbau noch beim der LINKEN)
Kinderzuschlag noch beim Unterhaltsvorschuss. Das ist
Politik frei nach dem Motto: Was kümmern diese Minis- Die SPD hat bereits Vorschläge unterbreitet. Sie
terin ihre Ankündigungen von gestern? müssten diese einmal gründlich lesen. Es wäre schön,
wenn Sie sich unseren Vorschlägen anschließen würden;
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann würde es für die Frauen auch wieder bergauf ge-
der LINKEN) hen.
Die Zuschüsse für Maßnahmen der Familien- und (Beifall bei der SPD)
Gleichstellungspolitik sowie für Ältere werden mal eben
um 3,4 Millionen Euro gekürzt. Im Kinder- und Jugend- Kommen wir zur Jugendpolitik. Vor Monaten hat die
plan werden Mittel zur Förderung der Gleichstellung Ministerin ein langes Papier mit der Überschrift „Allianz
von Mädchen und Jungen komplett gestrichen. Maßnah- für die Jugend“ veröffentlicht; das klingt ja klasse. Pa-
men der Frauenpolitik – ich denke, das kann man so pier ist allerdings bekanntlich geduldig. Das Ministe-
deutlich sagen – fristen unter dieser Ministerin ein rium beschreibt sich darin als „Anwalt der Jugend“. Ich
Schattendasein. Demgegenüber wird eine eigenständige frage Sie: Wie glaubwürdig ist das Ministerium, Herr
Jungen- und Männerpolitik ausgebaut. So sollen zum Kues, wenn es im Kinder- und Jugendplan mehr als
Beispiel Maßnahmen wie „Generationsdialoge – Neue 3 Millionen Euro zur Förderung von Jugendlichen mit
Orte für Väter und Großväter“ mit fast 1 Million Euro Migrationshintergrund, mit Benachteiligungen und mit
14714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Caren Marks
(A) Behinderungen kürzt? So sieht für mich kein „Anwalt für eine zukunftsweisende und sozial gerechte Politik. (C)
der Jugend“ aus, und so erreichen wir keine Allianz für Davon werden Sie in den weiteren Haushaltsberatungen
die Jugend in unserem Land. noch hören. Wir werden entsprechende Änderungsan-
träge vorlegen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Vielen Dank.
LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ganz aktuell hat die Nationale Armutskonferenz an- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
gemahnt, dass wir dringend die Förderung von Kindern GRÜNEN)
mit Migrationshintergrund verbessern müssen. Stattdes-
sen kürzen sowohl Frau Schröder als auch ihre Kollegin Vizepräsident Eduard Oswald:
Frau von der Leyen drastisch Mittel, die im Kampf so- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht
wohl gegen Bildungsarmut als auch gegen Perspektivlo- für die Fraktion der FDP unser Kollege Florian
sigkeit dringend gebraucht werden. Bernschneider. Bitte schön, Kollege Florian
Bei der politischen Bildung, Herr Staatssekretär, be- Bernschneider.
dienen Sie sich wirklich Taschenspielertricks. Wenn wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
diesen Bereich im gesamten Haushalt gründlich betrach- der CDU/CSU)
ten, stellen wir fest, dass die Mittel unter dem Strich ge-
kürzt werden. Vielleicht haben Sie gedacht, dass wir es Florian Bernschneider (FDP):
nicht merken. In Ihrer Koalition ist es vielleicht durchge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gangen, aber wir haben es gemerkt. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bilder und
Auch bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus Nachrichten, die uns in den letzten Wochen in der parla-
setzen Sie erneut den Rotstift an. Macht nicht auch der mentarischen Sommerpause erreicht haben, machen,
Wiedereinzug der NPD in den Landtag von Mecklen- glaube ich, die große Herausforderung deutlich, vor der
burg-Vorpommern deutlich, dass wir alle gemeinsam in wir heute stehen, wenn wir über die Ausgaben für Ju-
diesem Hohen Hause nicht weniger, sondern mehr Enga- gendliche in unserem Land beraten. Die Aufstände in
gement für politische Bildung und mehr Engagement ge- Spanien und in England zeigen uns, dass wir uns eines
gen Rechtsextremismus in unserem Land brauchen? auf keinen Fall leisten dürfen, nämlich an den Chancen
für Jugendliche zu sparen. Deswegen sind die deutlichen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Aufwüchse im Bereich der Jugendpolitik und allein die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dorothee Bär 44 Millionen Euro mehr für die Jugendfreiwilligen-
(B) [CDU/CSU]: Wenn nur die Hälfte der Leute (D)
dienste ein gutes Zeichen und Beweis für unsere jugend-
zur Wahl geht!) freundliche Politik.
Wie sieht es bei dem Thema „Vereinbarkeit von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Pflege und Beruf“ aus? Richtig ist, wir brauchen mehr der CDU/CSU)
Angebote für Menschen, die sich um pflege- und hilfs-
bedürftige Angehörige kümmern. Doch das sogenannte Gleichermaßen waren diese Bilder auch Beweis, dass
Familienpflegezeitgesetz geht ganz klar, und zwar in je- wir genau den richtigen Weg eingeschlagen haben, näm-
dem Punkt – das werden wir bei der Anhörung, denke lich gemeinsam mit den Akteuren vor Ort eine eigen-
ich, mehr als deutlich hören –, an der Lebenswirklichkeit ständige Jugendpolitik mit Leben zu füllen. Auch dafür
der allermeisten Menschen vorbei. Es enthält keine ge- wurden Mittel in diesen Haushalt eingestellt.
schlechtergerechten Ansätze und es fehlen jegliche (Caren Marks [SPD]: Ja, ich habe gerade
Rechtsansprüche. Stattdessen enthält es nur eine private etwas dazu gesagt!)
Pflichtversicherung und – das ist mehr als interessant –
einen Bußgeldkatalog für pflegende Angehörige. So Die aktuelle Diskussion über die Stabilität unserer
droht eine Geldbuße bis zu 1 000 Euro, wenn Ände- Währung zeigt, dass es nicht nur darum geht, in die Zu-
rungsmitteilungen nicht rechtzeitig oder nicht vollstän- kunftschancen von jungen Menschen zu investieren,
dig an die Behörde weitergegeben werden. sondern vor allem darum, zu verhindern, dass Schulden
ihnen von vornherein den Weg verbauen.
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
(Caren Marks [SPD]: Steuern senken!)
Ich frage Sie: Was wollen Sie Angehörigen, die ohnehin
schon einen großen Spagat zwischen Berufsleben und Wenn man sich diesen Haushaltsentwurf anschaut, dann
Pflege zu meistern haben, eigentlich zumuten? Ich sieht man, glaube ich, dass wir bewiesen haben, dass wir
denke, über diesen Punkt werden wir noch ausreichend diesen Herausforderungen gerecht geworden sind, dass
zu reden haben. Das ist alles andere als hinnehmbar. es uns gelungen ist, Einsparungen dort zu leisten, wo sie
nicht auf Kosten Jugendlicher gehen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Ich will die Kürzungen von 1,8 Millionen Euro im
GRÜNEN) Kinder- und Jugendplan gar nicht wegreden. Aber ich
sage auch: Sie sind im Vergleich zu den Aufwüchsen
Im Gegensatz zu Ihnen, meine lieben Kolleginnen zum Beispiel bei den Jugendfreiwilligendiensten vertret-
und Kollegen von Union und FDP, haben wir Antworten bar. Vor allem muss man auch sagen: Wir haben unser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14715
Florian Bernschneider
(A) Versprechen an die im Rahmen des Kinder- und Jugend- Das zeigen die Bewerberzahlen, die Herr Kues heute (C)
planes handelnden Akteure gehalten, keine Strukturen vorgestellt hat.
kaputtzusparen und die gute Arbeit vor Ort nicht zu ge-
(Caren Marks [SPD]: Oh ja! 2,8 Prozent!)
fährden, sondern da zu sparen, wo es möglich ist. Die
Beispiele zeigen, dass das gelungen ist. Wir haben mit dem Bundesfreiwilligendienst auf das
richtige Pferd gesetzt, Sie auf das falsche. Das wird auch
Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, dass nicht nur in den nächsten zwei Jahren so bleiben.
die Entwicklungen in Spanien und England in unserem
politischen Handeln Niederschlag finden müssen, son- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
dern auch die schrecklichen Wahlergebnisse der NPD (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
vom vergangenen Wochenende in Mecklenburg-Vor-
pommern. Ich sage übrigens: Auch die schrecklichen
Bilder aus Oslo, die wir in der Sommerpause sehen Vizepräsident Eduard Oswald:
mussten, sollten uns als Jugendpolitiker Anlass zur Dis- Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der
kussion geben. Wir alle müssen mit den Programmen ge- CDU/CSU spricht jetzt unser Kollege Andreas
gen Rechtsextremismus verantwortlich umgehen. Mattfeldt. Bitte schön, Kollege Andreas Mattfeldt.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
NEN]: Na, dann tun Sie das doch!)
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU):
Was Sie machen, ist nicht verantwortlich. Sie sugge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
rieren schon wieder, wir würden bei diesen Programmen Kollegen! Es ist für mich ein Novum, um diese Zeit als
kürzen. Letzter sprechen zu dürfen. Das hat man nicht allzu häu-
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Stimmt ja! – fig.
Caren Marks [SPD]: Das stimmt ja auch!) Wir hatten heute bei den Beratungen zum Haushalt
Wir sparen bei der Verwaltung der Programme, wir spa- des Familienministeriums den Eindruck, dass für die
ren nicht 1 Cent bei der Umsetzung vor Ort. Ich kann Linke der wohl wichtigste Ausgabentitel die Bekämp-
Ihre Aufregung, ehrlich gesagt, gar nicht verstehen. fung des Extremismus – Herr Bockhahn, bei Ihnen na-
Auch zu rot-grünen Zeiten war die NPD in manchen türlich nur die des Rechtsextremismus – ist. Seit einem
Landtagen der Bundesrepublik. Auch zu rot-grünen Zei- Bericht in der Presse über die Selbstbedienungsmentali-
ten gab es rechtsextreme Straftaten, tät Ihrer Parteivorsitzenden im Hinblick auf diesen Titel
ist mir auch bewusst, wieso. Ich halte es für in keiner
(B) (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ja! Und Weise hinnehmbar, dass der laut Satzung angeblich par- (D)
auch da war es zu wenig! Dann lassen Sie uns teipolitisch unabhängige Verein „Gemeinsam in Lichten-
doch jetzt endlich mehr tun!) berg“ Gelder aus dem vom Ministerium geförderten Pro-
übrigens nicht viel weniger als heute. gramm „Vielfalt tut gut“ für die Erstellung einer
Kinderzeitung zum Thema „Vielfalt, Toleranz und De-
(Caren Marks [SPD]: Aber wir haben immer mokratie im Kindergarten“ erhält.
für eine Aufstockung gekämpft!)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Was für ein Ver-
Zu schwarz-gelben Zeiten investieren wir immer noch ein ist das denn?)
doppelt so viel in die Prävention von Rechtsextremismus Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei hieran an
wie Sie damals. sich nichts auszusetzen. Wenn man allerdings hört, dass
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist un- alle Posten in diesem Verein mit engsten Mitarbeitern
wahr!) von Frau Lötzsch besetzt sind
Deswegen kann ich Ihre Aufregung nicht verstehen. (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Hört! Hört! –
Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein! –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wirklich?)
Ich kann, ehrlich gesagt, auch Ihre Kritik am Bundes- und Frau Lötzsch nicht nur Vorsitzende des Vereins ist,
freiwilligendienst nicht verstehen. Es ist völlig klar, dass sondern auch die Telefonnummer ihres Wahlkreisbüros
es bei einem so großen Projekt immer zu Problemen bei
der Umsetzung kommt. Keinen ärgert es mehr als mich, (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ja! Das auch!)
dass wir zu lange gebraucht haben, um auch den Kinder- als Kontaktadresse des Vereins angegeben ist,
geldanspruch umzusetzen. Aber das alles ändert nichts
daran, dass wir als erste Koalition den Mut aufgebracht (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Skandal!)
haben, auf einen Pflichtdienst zu verzichten und stattdes- so hat das nicht nur einen bitteren Beigeschmack,
sen auf die Kraft von Freiwilligkeit zu setzen.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nein! Das ist
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) skandalös! – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist
ja roter Filz!)
Auch wenn Sie nach wie vor hoffen und sich wün-
schen, dass der Bundesfreiwilligendienst erfolglos sondern hört sich in meinen Ohren nach einer extrem
bleibt: Die Bürger haben sich längst anders entschieden. dreisten Form von Selbstbedienungsmentalität in Bezug
14716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011

Andreas Mattfeldt
(A) auf den Titel „Maßnahmen zur Extremismusbekämp- und ob das Geld wirklich eine Wirkung bei den Men- (C)
fung“ an. schen vor Ort entfaltet. Wichtig ist – und da unterschei-
den wir uns ganz massiv –, dass wir nicht eigene Leute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dorothee versorgen,
Bär [CDU/CSU]: Das ist typisch!)
(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das macht
Vizepräsident Eduard Oswald: Ihr nicht?)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus sondern Extremismus in jeder Form intensiv bekämpfen.
der Fraktion Die Linke, vom Kollegen Bockhahn?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Mit ihrem Verhalten hat Frau Lötzsch nicht nur sich
Sehr gerne. selbst einen Bärendienst erwiesen, sondern auch allen
anderen, die Geld aus diesem Titel erhalten. Wie sagte
Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Mark Twain so schön: Der Jammer mit den Weltverbes-
Sehr geehrter Herr Kollege Mattfeldt, ist Ihnen be- serern ist, dass sie nicht bei sich selber anfangen. – Das
kannt, dass die Junge Union im letzten Jahr im Rahmen gilt für Sie ganz besonders.
von Titeln aus diesem Programm Jugendbelustigungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
fahrten nach Berlin machen wollte,
(Lachen bei der CDU/CSU – Dorothee Bär Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
[CDU/CSU]: Das ist ja Wahnsinn! Die während Sie Ihr Hauptaugenmerk darauf legen, wie Sie
Lötzsch holt sich ihre Kohle ab und der sagt so sich gegenseitig Geld zuschustern können, machen wir
etwas! Das ist ja wirklich der absolute Ober- von der Regierungskoalition Politik, die bei den Men-
hammer!) schen ankommt.

und können Sie sich erinnern, dass Sie damals kein Pro- (Caren Marks [SPD]: Bei den Hoteliers zum
blem damit hatten? Beispiel!)

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Kristina Schröder und ihr Haus haben einen sehr guten
GRÜNEN]: Echt peinlich!) Haushaltsentwurf vorgelegt. Sie möchte im nächsten
Jahr 6,48 Milliarden Euro für Kinder, Jugendliche, Fa-
Ohne das gleichsetzen zu wollen: Ist Ihnen etwas zu der milien und Senioren ausgeben. Das sind 9,27 Millionen
inhaltlichen Arbeit dieses Vereins bekannt? Dies ist Euro mehr als im laufenden Jahr.
(B) nämlich ein deutlicher Unterschied, was das Niveau die- (D)
ser beiden Geschichten betrifft: Das eine war eine Spaß- Sie führt zum Beispiel für die Bundesinitiative Fami-
fahrt einer parteilichen Jugendorganisation, und das an- lienhebammen einen neuen Titel ein, für den 30 Millio-
dere ist ein Verein, in dem sich ehrenamtlich tatsächlich nen Euro bereitgestellt werden. Diese im noch zu verab-
auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Gesine schiedenden Bundeskinderschutzgesetz vorgesehene
Lötzsch engagieren. Initiative soll den Aus- und Aufbau der Arbeit der Fami-
lienhebammen so stärken, dass wir gefährdete Kinder
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das war ja wieder von Beginn an besser schützen können. Dabei wollen
typisch! Er bestätigt das ja!) wir sowohl bestehende Aktivitäten zu Familienhebam-
men als auch die Erprobung neuer Modelle fördern.
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU):
Es gilt aber nicht nur, die Kinder zu schützen, sondern
Herr Bockhahn, wir haben im letzten Jahr intensiv
wir wollen den Kindern gleiche Startchancen ins Leben
über diesen einen Titel sowie über die Junge Union Köln
ermöglichen. Um das zu erreichen, hat Kristina Schröder
– nicht die Junge Union im Allgemeinen – gesprochen.
bereits in diesem Jahr die Qualifizierungsoffensive zur
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Er bestätigt es ja!) Sprachförderung im Kindergarten erfolgreich gestartet.
Während 2011 immerhin schon 82 Millionen Euro dafür
Das Ganze ist damit ausgeräumt worden. Wir haben zur Verfügung gestellt wurden, werden es 2012 sogar
deutlich gemacht, dass auch das nicht hinnehmbar ist. 102 Millionen Euro sein, die in frühkindliche Bildung
Das hat die Junge Union akzeptiert, was ich in Ihrem und in die Bildung benachteiligter Schülerinnen und
Fall allerdings nicht sehe. Schüler investiert werden.
Wir haben hier keinerlei Selbstkritik von Frau
(Beifall bei der CDU/CSU)
Lötzsch gehört. Ich könnte weitere Punkte nennen, zum
Beispiel „Rechtshilfetipps bei Demos, Übergriffen und Ich freue mich sehr, dass in meinem Wahlkreis na-
Strafverfolgung“ von Bon Courage e. V. hezu Vollbeschäftigung herrscht. Mit Stolz sage ich, dass
es der christlich-liberalen Koalition durch die Verbesse-
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Entschuldigt er
rung der Rahmenbedingungen gelungen ist, die Arbeits-
sich jetzt für Frau Lötzsch oder nicht?)
losenzahlen derart in den Keller zu drücken, dass wir
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden uns alle nicht nur insgesamt weniger als 3 Millionen Arbeitslose
Programme, die aus dem Extremismustitel finanziert haben, sondern dass in vielen Teilen unseres Landes
werden, anschauen und prüfen, wer sich daraus bedient mittlerweile Vollbeschäftigung erreicht wurde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14717
Andreas Mattfeldt
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Prüfstand stellen und analysieren, ob jeder einzelne von (C)
René Röspel [SPD]: Das hat alles Herr den Bürgern hart erarbeitete Euro gut investiert ist oder
Schröder gemacht!) ob es sich um einen Verein wie den von Frau Lötzsch
handelt. Wir müssen gezielt ansetzen und dafür sorgen,
Das führt allerdings auch dazu, dass wir die wenigen dass das Geld wirklich bei den Menschen ankommt.
jungen Menschen gut qualifizieren müssen, damit wir Wenn ich sogar den Medien entnehme, dass auch FKK-
dem Fachkräftemangel nicht nur durch Zuwanderung Projekte mit Mitteln aus diesem Etat finanziert werden,
begegnen können. Bildung ist der beste Weg zu einem so muss ich mich doch sehr wundern und bin mir umso
guten Beruf und damit zur Bekämpfung von Armut. sicherer, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Uns ist
wichtig, dass wir durch kluge Entscheidungen dort in-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. vestieren, wo wir die Menschen erreichen, und nicht dort
Miriam Gruß [FDP]) Geld verplempern, wo ausschließlich parteipolitisch am-
Während Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kol- bitionierte Gruppen erreicht werden.
legen von der Opposition, sich hauptsächlich damit be- Meine Damen und Herren, ich freue mich auf sach-
schäftigen, den Titel für Extremismusbekämpfung auf- lich-konstruktive Haushaltsberatungen. Ich darf Ihnen
zustocken, und sich gleichzeitig immer als Retter der allen eine gute Nacht wünschen.
Armen aufspielen, legt Ministerin Schröder mit ihrem
Programm den Grundstein dafür, dass Armut gar nicht Danke schön.
erst entstehen kann. Das nenne ich konstruktive Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ein weiteres Thema, das unsere Ministerin tatkräftig Der Herr Kollege macht schon deutlich, dass er der
anpackt, ist die Hilfe für Frauen, die Opfer von Gewalt letzte Redner war. In der Tat stelle ich fest, dass es keine
geworden sind. Bereits im letzten Jahr haben wir in den weiteren Wortmeldungen mehr gibt. Es wird sich wohl
parlamentarischen Beratungen Geld zur Anschubfinan- auch keiner mehr trauen.
zierung für die Einrichtung eines bundesweiten Hilfetele-
fons „Gewalt gegen Frauen“ bereitgestellt. Dieses Tele- (Heiterkeit)
fon wird rund um die Uhr erreichbar sein: mehrsprachig,
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
anonym und barrierefrei. Gewaltopfer sollen so frühest-
ordnung.
möglich beraten und dorthin gelotst werden, wo sie Hilfe
bekommen. Ende 2012 soll diese Nummer freigeschaltet Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
werden. Dafür werden wir in diesem Jahr 3,1 Millionen destages auf morgen, Freitag, den 9. September 2011,
(B) Euro und in den kommenden Jahren 6 Millionen Euro zur 9 Uhr, ein. (D)
Verfügung stellen.
Damit ist die Sitzung geschlossen.
Auch dieses Mal werden wir – hier spreche ich als
Ich wünsche allen eine gute Nacht.
Haushälter aus tiefster Seele – in den parlamentarischen
Beratungen jeden einzelnen Ausgabeposten auf den (Schluss: 23.07 Uhr)

Berichtigung
123. Sitzung, Seite 14523 C, letzter Absatz, der
dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „Von gewissen Teilen
des Hauses wurde daraufhin skandalisiert, wir würden
uns noch um die Trinkwasserversorgung der Menschen
und um die Betreuung von Flüchtlingen aus Irak und Pa-
lästina kümmern.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 124. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. September 2011 14719

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Behrens, Herbert DIE LINKE 08.09.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 08.09.2011

Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 08.09.2011 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 08.09.2011
DIE GRÜNEN
Gerster, Martin SPD 08.09.2011
von der Marwitz, Hans- CDU/CSU 08.09.2011
Glos, Michael CDU/CSU 08.09.2011 Georg

Heveling, Ansgar CDU/CSU 08.09.2011 Nietan, Dietmar SPD 08.09.2011

Hunko, Andrej DIE LINKE 08.09.2011 Nink, Manfred SPD 08.09.2011

Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 08.09.2011 Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 08.09.2011

Kamp, Heiner FDP 08.09.2011 Schreiner, Ottmar SPD 08.09.2011

Krestel, Holger FDP 08.09.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 08.09.2011

Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ 08.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 08.09.2011
DIE GRÜNEN

Lambrecht, Christine SPD 08.09.2011


(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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