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Plenarprotokoll 17/111

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

111. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Inhalt:

Nachruf auf den ehemaligen Vizepräsidenten Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/


des Deutschen Bundestages Helmuth Becker 12603 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12623 C
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12624 B
neten Ruprecht Polenz, Dr. Martina Bunge
und Karl Schiewerling . . . . . . . . . . . . . . . . . 12603 D Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 12625 B

Begrüßung der neuen Abgeordneten Stefan


Rebmann und Harald Ebner . . . . . . . . . . . . 12604 A
Wahl der Abgeordneten Karin Maag als or- Tagesordnungspunkt 4:
dentliches Mitglied im Kuratorium der Stif- a) Erste Beratung des von der Fraktion der
tung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- SPD eingebrachten Entwurfs eines Neun-
kunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12604 A zehnten Gesetzes zur Änderung des
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Bundeswahlgesetzes
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12604 A (Drucksache 17/5895) . . . . . . . . . . . . . . . 12626 A
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr.
Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordne-
Tagesordnungspunkt 3: ten und der Fraktion DIE LINKE einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
Abgabe einer Regierungserklärung durch derung des Grundgesetzes und zur
die Bundeskanzlerin: zum G-8-Gipfel am Reformierung des Wahlrechts
26./27. Mai 2011 in Deauville . . . . . . . . . . . . 12605 A (Drucksache 17/5896) . . . . . . . . . . . . . . . 12626 B
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 12605 B Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12626 B
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 12609 B Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12628 D
Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12612 A Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . 12631 C
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12614 B Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . 12633 C
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12617 A Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12634 C
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12636 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12618 D
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12619 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12638 D
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12621 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 12640 A
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12622 B Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12642 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12643 B der Wirtschaftspolitiken


(Ratsdok. 14520/10)
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12644 D hier: Stellungnahme gegenüber der
Bundesregierung gemäß Artikel
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 12646 B 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
(Drucksache 17/5904) . . . . . . . . . . . . . . . 12647 C
e) Antrag der Abgeordneten Sahra
Tagesordnungspunkt 30: Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak-
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- tion DIE LINKE: zu dem Vorschlag
rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- einer Verordnung des Europäischen
ten Gesetzes zur Änderung der Bundes- Parlaments und des Rates über Durch-
Tierärzteordnung setzungsmaßnahmen zur Korrektur
(Drucksache 17/5804) . . . . . . . . . . . . . . . . 12647 B übermäßiger makroökonomischer Un-
gleichgewichte im Euro-Währungsge-
b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und biet
FDP: Einrichtung einer Interparlamen- (Ratsdok. 14512/10, KOM(2010) 525)
tarischen Konferenz zur Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- und
meinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik der Europäischen Union zu dem Vorschlag einer Verordnung des
(Drucksache 17/5903) . . . . . . . . . . . . . . . . 12647 C Europäischen Parlaments und des Ra-
tes über die Vermeidung und Korrektur
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten makroökonomischer Ungleichgewichte
Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara (Ratsdok. 14515/10; KOM(2010) 527)
Höll, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung desregierung gemäß Artikel 23 Ab-
des Grundgesetzes (Gesetz zur grund- satz 3 des Grundgesetzes
gesetzlichen Verankerung des Aus- (Drucksache 17/5905) . . . . . . . . . . . . . . . 12648 A
stiegs aus der Atomenergie)
(Drucksache 17/5474) . . . . . . . . . . . . . . . . 12647 C f) Antrag des Bundesministeriums der Fi-
nanzen: Entlastung der Bundesregierung
d) Antrag der Abgeordneten Roland Claus, für das Haushaltsjahr 2010
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, – Vorlage der Haushaltsrechnung des
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bundes für das Haushaltsjahr 2010 –
DIE LINKE: zu dem Vorschlag für eine (Drucksache 17/5648) . . . . . . . . . . . . . . . 12648 A
Verordnung (EU) Nr. …/… des Rates
zur Änderung der Verordnung (EG)
Nr. 1467/97 über die Beschleunigung
und Klärung des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit Zusatztagesordnungspunkt 2:
(Ratsdok. 14496/10)
a) Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt,
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter
des Rates über die Anforderungen an Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
die haushaltspolitischen Rahmen der Fraktion der SPD: Notfallplan für die
Mitgliedstaaten Hochschulzulassung zum Wintersemes-
(Ratsdok. 14497/10) ter 2011/12 jetzt starten
(Drucksache 17/5899) . . . . . . . . . . . . . . . 12648 B
zu dem Vorschlag für eine Verordnung
des Europäischen Parlaments und des b) Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Rates über die wirksame Durchsetzung Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weite-
der haushaltspolitischen Überwachung rer Abgeordneter und der Fraktion der
im Euro-Währungsgebiet SPD: Transparenz bei Rückstellungen
(Ratsdok. 14498/10) im Kernenergiebereich schaffen
(Drucksache 17/5901) . . . . . . . . . . . . . . . 12648 B
zu dem Vorschlag für eine Verordnung
des Europäischen Parlaments und des c) Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann,
Rates zur Änderung der Verordnung Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Ab-
(EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der geordneter und der Fraktion der SPD:
haushaltspolitischen Überwachung und Schnelles Internet für alle – Flächende-
der Überwachung und Koordinierung ckende Breitband-Grundversorgung si-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 III

cherstellen und Impulse für eine dyna- ligen jugoslawischen Republik Mazedo-
mische Entwicklung setzen nien im Rahmen von Artikel 4 und 5
(Drucksache 17/5902) . . . . . . . . . . . . . . . . 12648 C der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des
Rates als Beobachter an den Arbeiten
d) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, der Agentur der Europäischen Union
Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre- für Grundrechte und die entsprechen-
men), weiterer Abgeordneter und der den Modalitäten einschließlich Bestim-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: mungen über die Mitwirkung an den
Internet-Telefonie in Afghanistan von der Agentur eingeleiteten Initiati-
(Drucksache 17/5908) . . . . . . . . . . . . . . . . 12648 C ven, über finanzielle Beiträge und Per-
sonal
e) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs,
(Drucksachen 17/5710, 17/5954) . . . . . . . 12649 C
Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechtsausschusses: zu dem Arbeitsdoku-
Für die Unterstützung der humanitären ment der Kommissionsdienststellen Öf-
Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbe- fentliche Konsultation: Kollektiver
völkerung und der Flüchtlinge aus Li- Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten
byen und für eine menschenwürdige europäischen Ansatz
Behandlung und Aufnahme von Schutz- SEK(2011) 173 endg.
bedürftigen (Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956) 12650 A
(Drucksache 17/5909) . . . . . . . . . . . . . . . . 12648 D
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
f) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Rechtsausschusses: zu dem Streitverfahren
Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie vor dem Bundesverfassungsgericht
Wilms, weiterer Abgeordneter und der 2 BvC 3/11
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 17/5952) . . . . . . . . . . . . . . . 12650 A
Weißbuch Verkehr für Trendwende der
Verkehrspolitik in Deutschland und Eu- e) – k)
ropa nutzen Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
(Drucksache 17/5906) . . . . . . . . . . . . . . . . 12648 D schusses: Sammelübersichten 262, 263,
g) Antrag der Abgeordneten Viola von 264, 265, 266, 267 und 268 zu Petitionen
Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augs- (Drucksachen 17/5780, 17/5781, 17/5782,
burg), Monika Lazar, weiterer Abgeordne- 17/5783, 17/5784, 17/5785, 17/5786) . . . 12650 B
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Frauen- und Mädchenfuß-
ball stärken – Fußballweltmeister-
schaft der Frauen 2011 gesellschaftspo- Zusatztagesordnungspunkt 3:
litisch nutzen
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
(Drucksache 17/5907) . . . . . . . . . . . . . . . . 12649 A
DIE LINKE: Pleiten von gesetzlichen Kran-
kenkassen und die Folgen für Versicherte . 12651 A
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12651 A
Tagesordnungspunkt 31: Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 12652 A
a) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12652 D
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Anpassung der Vor- Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12654 A
schriften über den Wertersatz bei Wi- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
derruf von Fernabsatzverträgen und DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12655 B
über verbundene Verträge
(Drucksachen 17/5097, 17/5819) . . . . . . . 12649 A Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12656 C
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12658 A
des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vor- Daniel Bahr, Bundesminister
schlag der Europäischen Kommission BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12659 A
vom 14. Dezember 2010 für einen Be- Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12661 A
schluss des Rates zur Festlegung eines
Standpunkts der Union im Stabilitäts- Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12662 D
und Assoziationsrat EU-ehemalige Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12663 D
jugoslawische Republik Mazedonien im
Hinblick auf die Beteiligung der ehema- Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12664 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12665 D Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 12674 A


Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12675 B
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12677 A
Tagesordnungspunkt 5:
Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12678 A
a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Bundes-Immissions- Tagesordnungspunkt 6:
schutzgesetzes – Privilegierung des
von Kindertageseinrichtungen und a) Zweite und dritte Beratung des von den
Kinderspielplätzen ausgehenden Kin- Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W.
derlärms Birkwald, Diana Golze, weiteren Abge-
(Drucksachen 17/5709, 17/5957) . . . . 12666 D ordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Zweite und dritte Beratung des von zur Änderung des Sechsten Buches So-
den Fraktionen der CDU/CSU und zialgesetzbuch und anderer Gesetze
FDP eingebrachten Entwurfs eines (RV-Altersgrenzenanpassungs-Ausset-
Zehnten Gesetzes zur Änderung des zungsgesetz – RV-AgAG)
Bundes-Immissionsschutzgesetzes – (Drucksachen 17/3546, 17/5298) . . . . . . . 12679 A
Privilegierung des von Kindertages-
einrichtungen und Kinderspielplät- b) Beschlussempfehlung und Bericht des
zen ausgehenden Kinderlärms Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
(Drucksachen 17/4836, 17/5957) 12667 A dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dittrich, weiterer Abgeordneter und der
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Fraktion DIE LINKE: Rente ab 67 voll-
Reaktorsicherheit ständig zurücknehmen
(Drucksachen 17/2935, 17/5298) . . . . . . 12679 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Sören Bartol, weiterer Abgeordneter Ausschusses für Arbeit und Soziales
und der Fraktion der SPD: Kinder-
lärm – Kein Grund zur Klage – zu dem Antrag der Abgeordneten
Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ferner, weiterer Abgeordneter und der
Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Fraktion der SPD: Chancen für die
Barbara Höll, weiterer Abgeordneter Teilhabe am Arbeitsleben nutzen –
und der Fraktion DIE LINKE: Für Arbeitsbedingungen verbessern –
eine immissions- und baurechtliche Rentenzugang flexibilisieren
Privilegierung von Sportanlagen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Kerstin Andreae, weiterer Abgeordne-
Gehring, weiterer Abgeordneter und ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN: Voraussetzungen für
NEN: Vorrang für Kinder – Auch die Rente mit 67 schaffen
beim Lärmschutz
(Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297) . 12679 B
(Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925,
17/5957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12667 A Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12679 C

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12680 D


BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12667 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12682 A
Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12668 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 12683 A
Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12669 C Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 12684 C
Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12670 B
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 12685 D
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12671 A Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12687 B
Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12672 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 12687 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 V

Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12688 A Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Für eine gerechte Angleichung der Renten
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 12689 D in Ostdeutschland
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12690 D (Drucksachen 17/4192, 17/5962) . . . . . . . . . . 12703 A

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12691 C Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12703


0000 A
B

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 12692 A Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 12707 A
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12708 D
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12692 C
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 12709 D
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12693 C
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 12710 D
Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12712 A
Tagesordnungspunkt 7:
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 12713 B
Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12714 A
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 12714 D
des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes
(Drucksachen 17/5761, 17/5960) . . . . . . . . . . 12695 A
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12716 C
Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12695 B
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12696
0000 A
C
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12698 A Tagesordnungspunkt 9:
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12699 C Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher
Beate Müller-Gemmeke
Streitkräfte an der United Nations Interim
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 12700 C
Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12701 B der Resolution 1701 (2006) vom 11. August
2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
1937 (2010) vom 30. August 2010 des Si-
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 12702 D cherheitsrates der Vereinten Nationen
(Drucksache 17/5864) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12715 A
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12704 D Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12715 A
Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12718 B
Tagesordnungspunkt 8: Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12720 B
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12720 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12721 B
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleiches Ren- Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12722 B
tenrecht in Ost und West
(Drucksachen 17/5207, 17/5961) . . . . . . . . . . 12703 A

Tagesordnungspunkt 10:
in Verbindung mit
Antrag der Fraktion der SPD: Deutsche
UN-Millenniumkampagne erhalten
(Drucksache 17/5897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12723 B
Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12723 B
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 12725 A
schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12726 B
trag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12727 A
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12728 A GRÜNEN: Altschuldenhilfe für ostdeut-


sche Wohnungsunternehmen neu aus-
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ richten
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12729 A (Drucksachen 17/4698, 17/5124) . . . . . . . 12736 B
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 12736 C
Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . 12737 C
Tagesordnungspunkt 11:
Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 12739 C
Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung
der deutschen Beteiligung an der interna- Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12740 D
tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf
der Grundlage der Resolution 1244 (1999) Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/
des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12741 D
nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12742 D
Technischen Abkommens zwischen der in-
ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) Heidrun Bluhm (DIE LINKE)
und den Regierungen der Bundesrepublik (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . 12743 D
Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und
der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
(Drucksache 17/5706) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12729 D
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister Tagesordnungspunkt 13:
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12730 A a) Zweite und dritte Beratung des von der
Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12731 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Lebensmittel- und Futtermittelge-
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12732 B setzbuches sowie anderer Vorschriften
(Drucksachen 17/4984, 17/5392, 17/5953) 12744 B
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12733 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12734 A schaft und Verbraucherschutz zu dem An-
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12735 A trag der Abgeordneten Karin Binder, Dr.
Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: Lehren aus dem Dioxin-
Skandal ziehen – Ursachen bekämpfen
Tagesordnungspunkt 12:
(Drucksachen 17/5377, 17/5953) . . . . . . . 12744 C
a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12744 D
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12745 D
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 12747 B
Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol,
Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordne- Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12748 B
ter und der Fraktion der SPD: Alt- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
schuldenentlastung für Wohnungs- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12749 B
unternehmen in den neuen Ländern
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 12750 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abge- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12750 C
ordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Altschulden der ostdeutschen Woh- Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12751 B
nungsunternehmen streichen Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . 12752 A
(Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000) 12736 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Tagesordnungspunkt 14:
entwicklung zu dem Antrag der Abgeord-
neten Stephan Kühn, Daniela Wagner, a) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 VII

Fraktion DIE LINKE: Versorgung der trum deutscher Außenpolitik rücken


privat Versicherten im Basistarif si- (Drucksache 17/5910) . . . . . . . . . . . . . . . 12758 A
cherstellen
(Drucksache 17/5524) . . . . . . . . . . . . . . . . 12753 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für die Angelegenheiten der
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Europäischen Union zu dem Antrag der
Ausschusses für Gesundheit zu dem An- Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller
trag der Abgeordneten Harald Weinberg, (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abge-
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE DIE GRÜNEN: Den friedenspolitischen
LINKE: Gesetzliche Krankenversiche- und krisenpräventiven Auftrag des Eu-
rung für Solo-Selbstständige bezahlbar ropäischen Auswärtigen Dienstes jetzt
gestalten umsetzen
(Drucksachen 17/777, 17/5566) . . . . . . . . 12753 C (Drucksachen 17/4043, 17/5307) . . . . . . . 12758 B
c) Beschlussempfehlung und Bericht des Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
Ausschusses für Gesundheit zu dem An- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12758 C
trag der Abgeordneten Harald Weinberg,
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 12759 C
Abgeordneter und der Fraktion DIE Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12761 A
LINKE: Private Kranken- und Pflege-
versicherung – Existenzminimum zu- Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12762 C
künftig auch für Hilfebedürftige
(Drucksachen 17/780, 17/5630) . . . . . . . . 12753 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12763 C

d) Zweite und dritte Beratung des von den Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12764 C
Abgeordneten Birgitt Bender, Brigitte Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12765 D
Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12766 A
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Abschaffung
der Benachteiligung von privat versi-
cherten Bezieherinnen und Beziehern Tagesordnungspunkt 17:
von Arbeitslosengeld II
(Drucksachen 17/548, 17/5629) . . . . . . . . 12753 D Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl,
Tagesordnungspunkt 15: Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-
Dritten Gesetzes zur Änderung des Um- Murr), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, wei-
wandlungsgesetzes terer Abgeordneter und der Fraktion der
(Drucksachen 17/3122, 17/5930) . . . . . . . . . . 12754 B FDP: zu der Mitteilung der Kommission
an das Europäische Parlament und den
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . 12754 C Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten eu-
Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12755 B
ropäischen Katastrophenabwehr: die
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12756 A Rolle von Katastrophenschutz und hu-
manitärer Hilfe
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12756 D (KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ 15614/10)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12757 C hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Ab-
satz 2 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusam-
Tagesordnungspunkt 16: menarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in An-
a) Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller gelegenheiten der Europäischen
(Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Union
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Katastrophenabwehr in Europa effek-
NEN: Zivile Krisenprävention ins Zen- tiv gestalten
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Tagesordnungspunkt 20:


Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
DIE LINKE: zu der Mitteilung der schusses für Menschenrechte und Humanitäre
Kommission an das Europäische Parla- Hilfe
ment und den Rat – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die
Auf dem Weg zu einer verstärkten eu- Revision der OECD-Leitsätze für multi-
ropäischen Katastrophenabwehr: die nationale Unternehmen als Chance für
Rolle von Katastrophenschutz und hu- einen stärkeren Menschenrechtsschutz
manitärer Hilfe nutzen
(KOM(2010) 600 endg.; Ratsdok.
15614/10) – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz,
hier: Stellungnahme gegenüber der weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Bundesregierung gemäß Artikel 23 DIE LINKE: Verpflichtender Menschen-
Absatz 2 des Grundgesetzes rechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen
i. V. m. § 9 des Gesetzes über die für multinationale Unternehmen
Zusammenarbeit von Bundesre-
gierung und Deutschem Bundes- (Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756) . . 12777 B
tag in Angelegenheiten der Euro- Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12777 C
päischen Union
Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12779 C
(Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809) . . . . 12766 C
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12780 B
Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12767 A
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12781 A
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12768 C
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 12769 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12781 D
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12770 A
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12771 B Tagesordnungspunkt 21:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Kai
Tagesordnungspunkt 18: Gehring, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
Erste Beratung des von den Fraktionen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs NIS 90/DIE GRÜNEN: Schwule, lesbische
eines Achten Gesetzes zur Änderung des und transsexuelle Jugendliche stärken
Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Drucksachen 17/4546, 17/4954) . . . . . . . . . . 12782 D
(Drucksache 17/5894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12773 A Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12783 A
Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12773 A Elisabeth Winkelmeier-Becker
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12784 A
Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12774 D
Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12785 B
Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12775 C
Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12786 B
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 12776 B
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . 12787 B
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12788 B

Tagesordnungspunkt 19: Kai Gehring (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12789 A
Antrag der Abgeordneten Elke Ferner,
Monika Lazar, Cornelia Möhring und weite-
rer Abgeordneter: Erweiterung der Anzahl
der Sachverständigen in der Enquete-
Tagesordnungspunkt 22:
Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le-
bensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirt- a) Antrag der Abgeordneten Gerd Bollmann,
schaften und gesellschaftlichem Fort- Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Ab-
schritt in der sozialen Marktwirtschaft“ geordneter und der Fraktion der SPD:
(Drucksache 17/5885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12777 A Zeitnahe Information des Deutschen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 IX

Bundestages über die Ergebnisse des nale Unternehmen als Chance für einen stär-
Planspiels zur Fortentwicklung der keren Menschenrechtsschutz nutzen (Tages-
Verpackungsordnung ordnungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12799 C
(Drucksache 17/5898) . . . . . . . . . . . . . . . . 12790 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- Anlage 3
geordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD: Vorurteilsfreie – Antrag: Versorgung der privat Versicher-
Prüfung der Modelle zur Wertstoffer- ten im Basistarif sicherstellen
fassung im Rahmen des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsver- – Beschlussempfehlung und Bericht: Ge-
ordnung setzliche Krankenversicherung für Solo-
(Drucksachen 17/5484, 17/5886) . . . . . . . 12790 A Selbstständige bezahlbar gestalten

Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12790 B – Beschlussempfehlung und Bericht:


Private Kranken- und Pflegeversiche-
Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12791 A rung – Existenzminimum zukünftig
auch für Hilfebedürftige
Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12791 C
Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12792 B – Entwurf eines Gesetzes zur Abschaf-
fung der Benachteiligung von privat
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ versicherten Bezieherinnen und Bezie-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12793 A hern von Arbeitslosengeld II
(Tagesordnungspunkt 14 a bis d)
Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12800 A
Tagesordnungspunkt 23:
Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12801 A
Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12802 A
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12803 C
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Sy- Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12805 B
rischen Rückübernahmeabkommens
(Drucksache 17/5775) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12794 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12806 B
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12794 A
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 12795 A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 12795 C Anlage 4
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12796 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Än-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12796 D derung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Tages-
ordnungspunkt 18)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 12807 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12797 D
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 12808 A
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12809 A
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12799 A

Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Anlage 2
des Antrags: Erweiterung der Anzahl der
Erklärung der Abgeordneten Karin Binder Sachverständigen in der Enquete-Kommis-
(DIE LINKE) zur Beratung des Antrags: Die sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität –
Revision der OECD-Leitsätze für multinatio- Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und ge-
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

sellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12811 C


Marktwirtschaft“ (Tagesordnungspunkt 19)
Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 12812 C
Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12809 C
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12810 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12813 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12603

(A) (C)

Redetext

111. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Beginn: 8.30 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: schen Gesellschaft und in der Deutsch-Polnischen Parla-
Die Sitzung ist eröffnet. mentariergruppe – ein Engagement, für das er mit der
Ehrendoktorwürde der Universität Breslau ausgezeich-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich net wurde.
darf Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plät-
zen zu erheben. Wir alle, die wir mit ihm zusammenarbeiten durften,
kannten Helmuth Becker als einen Meister des politi-
(Die Anwesenden erheben sich) schen Pragmatismus. Er war über alle Parteigrenzen hin-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! weg sehr geschätzt. Ein waches Gerechtigkeitsempfin-
Am vergangenen Freitag ist unser früherer Kollege und den, verbunden mit der Fähigkeit zum Ausgleich und der
Vizepräsident des Deutschen Bundestages Helmuth Bereitschaft zum Kompromiss, Zuverlässigkeit und
Becker gestorben. Er wurde 81 Jahre alt. Hilfsbereitschaft zeichneten Helmuth Becker in beson-
derer Weise aus. Der Respekt und die Anerkennung, die
(B) Wer Helmuth Becker kennengelernt hat, traf auf eine ihm zuteil wurden, kamen besonders 1990 zum Aus- (D)
außerordentliche Parlamentarierpersönlichkeit. Becker druck: Damals wählte ihn der erste gesamtdeutsche Bun-
gehörte als Abgeordneter der SPD ein Vierteljahrhundert destag nahezu einstimmig – mit 97 Prozent der abgege-
dem Deutschen Bundestag an, dessen Arbeit er von 1969 benen Stimmen – zu seinem Vizepräsidenten. Die Wahl
bis 1994 in wichtigen und herausgehobenen Ämtern mit- bedeutete die Krönung einer bemerkenswerten Parla-
geprägt hat. Im Innen- und Sportausschuss sowie im mentarierkarriere.
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung hat er wichtige Akzente gesetzt. Insbesondere Dem Hohen Haus blieb Helmuth Becker auch nach
als langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer sei- seinem Ausscheiden aus dem Parlament eng verbunden,
ner Fraktion ist er im Gedächtnis vieler geblieben. nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung ehemaliger
„Münsterländische Gemütsruhe“ wurde ihm nicht nur Mitglieder des Deutschen Bundestages von 1995 bis in
von seiner Heimatpresse bescheinigt, und in der Tat das Jahr 2000.
zeichnete ihn eine wohltuend ausgleichende Art aus, wo-
mit er – nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners – Mit Helmuth Becker verlieren wir einen leidenschaft-
seinen langjährigen Chef Herbert Wehner in der Frak- lichen Parlamentarier, der sich bleibende Verdienste um
tionsleitung eindrucksvoll ergänzte. den Deutschen Bundestag, den Parlamentarismus und
die Demokratie in unserem Land erworben hat. Wir wer-
Von 1980 bis 1982 übernahm Helmuth Becker in der den sein Andenken in Dankbarkeit und Ehren bewahren.
Regierung Helmut Schmidt als Parlamentarischer Staats-
sekretär beim Bundesminister für das Post- und Fern- Ich danke Ihnen.
meldewesen auch Regierungsverantwortung – eine Auf- Bevor ich die Abgabe einer Regierungserklärung auf-
gabe, die ihn zurück zu seinen beruflichen Anfängen rufe, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen.
führte. Denn von 1951 bis zu seiner ersten Wahl in den
Bundestag 1969 war er als Elektroingenieur bei der Bun- Der Kollege Ruprecht Polenz feiert heute seinen
despost beschäftigt gewesen, wo er sich aktiv für die In- 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des gan-
teressen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte. zen Hauses besonders herzlich.
Besonders am Herzen lagen Helmuth Becker die Be- (Beifall)
ziehungen zu unserem östlichen Nachbarland. Über
Jahrzehnte setzte er sich in zahlreichen Initiativen und Bereits am vergangenen Mittwoch begingen die Kol-
bei ungezählten Reisen für die Versöhnung zwischen legin Dr. Martina Bunge und der Kollege Karl
Deutschen und Polen ein, etwa in der Deutsch-Polni- Schiewerling ihre 60. Geburtstage. Auch diesen beiden
12604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Jubilaren übermittle ich auf diesem Wege noch einmal c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin (C)
alle guten Wünsche. Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
(Beifall)
Schnelles Internet für alle – Flächendeckende
Der Kollege Peter Friedrich hat am 23. Mai 2011 auf
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich-
Impulse für eine dynamische Entwicklung set-
tet. Für ihn ist der Kollege Stefan Rebmann nachge-
zen
rückt. Für den am 25. Mai 2011ausgeschiedenen Kolle-
gen Alexander Bonde hat der Kollege Harald Ebner die – Drucksache 17/5902 –
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im Überweisungsvorschlag:
Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neuen Kolle- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
gen herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit. Innenausschuss
Rechtsausschuss
(Beifall) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Die CDU/CSU-Fraktion teilt mit, dass der Kollege Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ingo Wellenreuther aus dem Kuratorium der Stiftung Ausschuss für Tourismus
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausschei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
det. Als neues ordentliches Mitglied wird die Kollegin Haushaltsausschuss
Karin Maag vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kol- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
legin gewählt. Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre-
men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern: Internet-Telefonie in Afghanistan
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen – Drucksache 17/5908 –
der CDU/CSU und FDP: Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchun- Auswärtiger Ausschuss
gen zu möglichen antisemitischen und israel-
feindlichen Positionen und Verhaltensweisen e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
in der Partei DIE LINKE Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
(B) (siehe 110. Sitzung) Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak- (D)
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
Ergänzung zu TOP 30 zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst
Schutzbedürftigen
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD – Drucksache 17/5909 –
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Wintersemester 2011/12 jetzt starten Auswärtiger Ausschuss
– Drucksache 17/5899 – Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Technikfolgenabschätzung (f) Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haushaltsausschuss
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard kehrspolitik in Deutschland und Europa nut-
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, zen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/5906 –
Transparenz bei Rückstellungen im Kernener- Überweisungsvorschlag:
giebereich schaffen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
– Drucksache 17/5901 – Ausschuss für Tourismus
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Finanzausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg),
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12605
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der nerationen als Zeitenwende in der arabischen Welt be- (C)
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werten werden.
Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß- Auf den Straßen und Plätzen tunesischer und ägypti-
ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell- scher Städte nehmen Männer wie Frauen ihr Schicksal in
schaftspolitisch nutzen die eigene Hand. Die Menschen sind dabei, ihren Län-
dern und zunehmend der ganzen Region ein neues Ge-
– Drucksache 17/5907 –
sicht zu geben. In Tunesien und Ägypten haben die frü-
Überweisungsvorschlag: heren Regierungen das Vertrauen der Bevölkerung
Sportausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss verloren. In Libyen und in Syrien halten sich die Führun-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gen nur noch durch rohe Gewalt gegen die eigene Bevöl-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit kerung an der Macht. In der ganzen Region ist der Wille
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE zur Veränderung spürbar.
LINKE: Die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und kämpfen für Freiheit, für Menschenrechte und für bes-
die Folgen für Versicherte sere Lebensbedingungen. In solchen Zeiten – wir in Eu-
ropa wissen das seit 1989 durch eigene, wenn auch in
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- vielen Einzelheiten andersgeartete Veränderungen –
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales werden Partner gebraucht. Es ist deshalb eine historische
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in
ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu
Fraktion DIE LINKE stehen. Daher wird Deutschland beim G-8-Gipfel seinen
Für eine gerechte Angleichung der Renten in Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen
Ostdeutschland Stabilisierung der Länder in dieser Region leisten. Wir
wollen helfen, dass sie sich der Mehrparteiendemokratie,
– Drucksachen 17/4192, 17/5962 – dem Pluralismus und der Marktwirtschaft zuwenden.
Berichterstattung: Daher setze ich mich dafür ein, dass die G 8 ihre Unter-
Abgeordneter Frank Heinrich stützung mit der Einhaltung genau dieser Prinzipien ver-
bindet.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch Wir wissen alle, dass ein Wandel dieser Dimension
(B) hierfür Ihr Einverständnis feststellen? – Das ist der Fall. nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist. Mit einem (D)
Dann ist das so beschlossen. einzigen vermeintlich großen Wurf heute alle Probleme
lösen zu wollen, ist weder realistisch, noch ist es hilf-
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: reich. Nein, angesichts der Größe der Herausforderung
Abgabe einer Regierungserklärung durch die werden wir Geduld aufbringen und uns auch auf Rück-
Bundeskanzlerin schläge in den Reformprozessen einstellen müssen.
Denn es ist an den Völkern selbst, ihren Reformweg in
zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deau- eigener Verantwortung zu gestalten.
ville
Aber das, was wir zur Unterstützung des Wandels zu
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Freiheit und Selbstbestimmung leisten können, das kön-
Die Linke vor. nen und das werden wir leisten. Deshalb ist es richtig,
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dass beim G-8-Gipfel nicht etwa nur über die Menschen
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- in den betroffenen Ländern gesprochen wird, sondern
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offenkundig auch mit ihnen. Ich freue mich darauf, dass in Deauville
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. die Premierminister von Tunesien und Ägypten an den
Beratungen teilnehmen werden. So gibt uns das die Ge-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat legenheit zum Gespräch.
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Ich möchte mich auch bei allen Kolleginnen und Kol-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) legen aus dem Deutschen Bundestag herzlich bedanken,
die in diesen Tagen Kontakte suchen zu den betroffenen
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Menschen, beispielhaft bei Volker Kauder, dem Vorsit-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zenden der CDU/CSU-Fraktion, der gerade am Wochen-
Heute und morgen wird im französischen Deauville der ende mit einigen Kollegen in Ägypten war und sich dort
G-8-Gipfel stattfinden. Wir treffen uns dort, während ein Bild von der Lage gemacht hat. Herzlichen Dank da-
uns gleichzeitig aus Nordafrika und Teilen der arabi- für! Wir brauchen diese persönlichen Kontakte.
schen Welt aufrüttelnde Bilder und Nachrichten errei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen. Die Region befindet sich im Umbruch. Politische
und gesellschaftliche Verkrustungen werden aufgebro- Meine Damen und Herren, in diesen beiden Staaten,
chen. Wir werden Zeugen von Veränderungen in einer in Ägypten und Tunesien, hat der politische Umbruch
Dimension, die wahrscheinlich auch nachfolgende Ge- seinen Anfang genommen. Dort ist er mit ersten Refor-
12606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) men und Entscheidungen für Wahlen am weitesten fort- Wir wollen vor allen Dingen das Engagement der (C)
geschritten. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft – das
andere Staaten aus der Region auf unsere Unterstützung muss gemeinsam geschehen – im Ausbildungsbereich
zählen können, wenn sie sich für den Weg hin zu freien verstärken. Hierbei können wir auf frühere Initiativen
Gesellschaften entscheiden. der deutschen Wirtschaft in der Region bauen. Deutsch-
land verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über
Ich möchte dem Außenminister ganz herzlich danken, ein erfolgreiches und international anerkanntes Modell
der gerade in diesen Stunden im UN-Sicherheitsrat ge- der beruflichen Bildung. Wir streben daher gemeinsam
meinsam mit anderen an einer Resolution gegen die Ge- mit der deutschen Wirtschaft an – wir werden das natür-
walttaten in Syrien arbeitet. Syrien ist ein Riesenpro- lich mit unseren Partnern besprechen –, Ägypten bei der
blemfall. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die Schaffung von 5 000 neuen Arbeitsplätzen zu unterstüt-
Gewalt dort ganz eindeutig zu verurteilen. zen, die Ausbildungsstrukturen zu stärken mit dem Ziel,
dass in Ägypten jährlich bis zu 10 000 Jugendliche zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sätzlich ausgebildet werden können, Tunesien bei der
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und Qualifizierung und Vermittlung von arbeitslosen Akade-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mikern gezielt zu unterstützen und den Aufbau eines
Deutschland hat bereits im Rahmen der Transforma- wettbewerbsfähigen Sektors kleiner und mittlerer Unter-
tionspartnerschaft ganz konkrete Angebote gemacht. Die nehmen durch Beratung und Finanzierung voranzubrin-
Bundesregierung wird aus bestehenden Mitteln noch in gen.
diesem Jahr über 30 Millionen Euro speziell zur Unter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
stützung des demokratischen Wandels einsetzen. In den
nächsten Jahren sollen insgesamt 100 Millionen Euro Dies wird uns möglich, indem wir Schuldenumwand-
zusätzlich bereitgestellt werden. lung in Höhe von 300 Millionen Euro auf vier Jahre ge-
streckt ins Auge fassen. Dann haben wir für die Pro-
Wir müssen dazu beitragen, dass die ersten politi- gramme, die bei den Menschen ansetzen, Spielräume.
schen Fortschritte nicht durch wirtschaftliche Instabilität Ich glaube, genau das wird jetzt in der Region gebraucht:
gefährdet werden. Denn die Arbeitslosigkeit und der konkrete Hilfe für Menschen, die eine Perspektive brau-
Mangel an Perspektive gerade junger Menschen sind in chen.
diesen Ländern teilweise erschreckend hoch. Die Bevöl- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kerungszusammensetzung in diesen Ländern ist eine an-
dere als bei uns. Ein großer Teil der Menschen ist unter Dafür werden Bundesminister Niebel und auch der Bun-
desaußenminister gemeinsam mit der deutschen Wirt-
(B) 25 Jahre alt. Diese jungen Menschen suchen Hoffnung (D)
und wirtschaftliche Perspektiven. schaft die entsprechenden Gespräche in der Region füh-
ren. Wir werden dafür werben, dass diese Programme
Wir brauchen dabei das Rad nicht neu zu erfinden. schnell in Gang kommen; denn Zeit zählt in dieser Re-
Uns stehen schon heute mit den internationalen Fi- gion.
nanzinstitutionen und den multilateralen Entwicklungs-
banken alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung. Die Entwicklungen sind für alle eine historische
Mit den Spitzen von IWF und Weltbank werden wir in Chance, für die Menschen in Nordafrika und in der ara-
Deauville darüber sprechen, wie wir ein bedeutendes bischen Welt, aber auch für uns als Nachbarn dieser Re-
und wirkungsvolles Maßnahmepaket schnüren können. gion. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die
Chance, eine neue Partnerschaft für Demokratie und
Ansatzpunkte gibt es in Tunesien und Ägypten auch wirtschaftliche Entwicklung zu begründen, nicht ver-
für ein Engagement der Europäischen Bank für Wieder- streichen darf.
aufbau und Entwicklung; denn der Privatsektor ist in Wir sehen, dass der politische Umbruch in Nordafrika
beiden Ländern bereits relativ gut entwickelt. Die Bank und im Nahen Osten die geopolitische Tektonik einer
hat den Übergangsprozess in Osteuropa nach dem Fall ganzen Region in Bewegung bringt. Bewegung ist auch
des Eisernen Vorhangs erfolgreich unterstützt und für den Prozess zur Lösung des israelisch-palästinensi-
könnte an diese Erfahrung anknüpfen und in der nord- schen Konflikts erforderlich, und zwar eine Bewegung
afrikanischen Region unterstützend tätig werden. in die richtige Richtung. Einseitige Maßnahmen, von
Zu den drängendsten Herausforderungen in Ägypten welcher Seite auch immer, führen dagegen in eine Sack-
gasse. Das gilt für eine Fortsetzung des Siedlungsbaus
und Tunesien zählen die Arbeitslosigkeit und die wenig
Israels genauso wie für eine einseitige und unabge-
entwickelten Ausbildungsstrukturen. Die Arbeitslosig-
stimmte Ausrufung eines palästinensischen Staates. Ja,
keit in Ägypten beträgt offiziell 9 Prozent, in Tunesien
man muss es so sagen: Der gegenwärtige Zustand ist
sogar 14,4 Prozent. Deshalb setzen wir uns dafür ein,
völlig unbefriedigend. Der Stillstand muss überwunden
dass die G 8 mit den Reformstaaten der Region eine so-
werden. Auch wenn es noch so mühselig ist, auch wenn
genannte Partnerschaft für Beschäftigung schließt. Diese
es noch so viel Zeit und Geduld erfordert, am Ende führt
soll nach unserer Vorstellung aus Berufsbildung, be-
kein Weg daran vorbei, alles dafür zu tun, dass die Ver-
schäftigungsfördernden Maßnahmen und Investitionen
handlungen wieder aufgenommen werden.
bestehen. Dabei ist mir wichtig, nicht nur die Regierun-
gen, sondern auch die Unternehmen und Gewerkschaf- Das Ziel sind zwei Staaten: ein jüdischer und demo-
ten auf beiden Seiten einzubeziehen. kratischer Staat Israel und ein eigener Palästinenserstaat;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12607
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) zwei Staaten, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (C)
leben. Dazu muss – das gilt auch für die jetzt zu bildende DIE GRÜNEN])
neue Übergangsregierung in Ramallah – jede palästinen-
dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit – –
sische Regierung der Gewalt abschwören und das Exis-
tenzrecht Israels anerkennen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
NEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN]: Es ist aber gut, dass Sie Humor
GRÜNEN)
haben, Frau Bundeskanzlerin!)
Deshalb unterstützen wir den Vorschlag Präsident
– Ja, gut; es ist Ihnen unbenommen. Schauen Sie sich
Obamas, ohne weiteren Zeitverlust die Friedensverhand-
einmal die organisatorischen Neuordnungen an. Ich
lungen wieder aufzunehmen, und zwar zunächst über die
glaube, dass die Effizienz der Entwicklungshilfe in den
Schlüsselfragen Grenzen und Sicherheit. Mit der Rege-
vergangenen Monaten wirklich entschieden besser ge-
lung der Grenzfragen kann das Problem des Siedlungs-
worden ist.
baus gelöst werden; dies ist ein wichtiges Anliegen der
Palästinenser. Mit der Regelung der Sicherheitsfragen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kann der Hauptsorge Israels begegnet werden. Wir kön-
Herr Trittin, das findet übrigens auch international sehr
nen also das, worum es geht, in einem Satz zusammen-
viel Anerkennung. Ich meine zum Beispiel die Umstruk-
fassen – er ist auch schon von anderen gesagt worden –:
turierung der GTZ, all das, was dort in Gang gebracht
Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt, insbe-
wurde.
sondere den Palästinensern, das ist der beste Schutz Is-
raels. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Da müssen Sie mal genauer hinsehen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und Ich nenne gerne die fünf Leitprinzipien:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Erstens. Wir brauchen einen neuen Schwerpunkt der
Die internationale Gemeinschaft – ich sage das aus- Förderung von Entwicklung, statt bloß Hilfe zu leisten.
drücklich auch für Deutschland – ist bereit, alles in ihren In der Vergangenheit haben wir uns oft zu sehr auf die
Möglichkeiten Stehende zu tun, um Israel und den Paläs- Weiterentwicklung allein des Instrumentariums der Ent-
tinensern auf dem Weg zur Lösung ihres Konflikts zu wicklungshilfe konzentriert und anderen Rahmenbedin-
helfen. Dazu müssen aber die Verhandlungen beginnen gungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt.
und der gegenwärtige Stillstand überwunden werden.
(B) Zweitens. Die Entwicklung in Nordafrika zeigt uns, (D)
Meine Damen und Herren, dass Nordafrika und der dass eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Ent-
Nahe Osten derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerk- wicklung ohne Einhaltung der Menschenrechte und ohne
samkeit stehen, ist richtig und nachvollziehbar. Das darf politische Beteiligung nicht möglich sein wird. Die Ein-
aber nicht dazu führen, dass die G 8 ihr besonderes En- haltung der Menschenrechte ist deshalb eine unerlässli-
gagement für Subsahara-Afrika aus den Augen verliert. che Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung.
Es ist daher wichtig, dass wir uns in Deauville mit afri-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kanischen Staats- und Regierungschefs treffen, um über
zukünftige Entwicklungen in Afrika zu sprechen. Ich Drittens. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung der
halte die Partnerschaft mit Afrika für unerlässlich, um Regierungen der Entwicklungsländer. Dazu gehört für
die Beteiligung und Verantwortung der afrikanischen mich ausdrücklich auch die Mobilisierung eigener Ein-
Staaten im Hinblick auf die zahlreichen Krisen in Afrika nahmen. Die Geber wiederum müssen ihrerseits bereit
zu stärken. sein, mehr Raum für nationale Politiken und Programme
zuzulassen und die nationalen Institutionen zu stärken;
Die Entwicklungspolitik gehört zu den zentralen The-
das ist ganz wichtig. Wenn man sich die Eigeneinnahme-
men der G 8. Als bedeutendster Impulsgeber und durch
quoten, die einige Entwicklungsländer zu verzeichnen
wichtige finanzielle Unterstützung hat die G 8 ihren Bei-
haben, anschaut, muss man feststellen: Das ist absolut
trag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Dyna-
nicht befriedigend. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe
mik geleistet. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden von
sein, auch was die Tragfähigkeit staatlicher Institutionen
den weltweiten Entwicklungshilfeleistungen, den ODA-
in diesen Ländern anbelangt.
Leistungen, in Höhe von knapp 130 Milliarden US-Dol-
lar allein durch die G 8 über 89 Milliarden US-Dollar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
aufgebracht. Ich werde mich in Deauville dafür einset-
Viertens. In der Vergangenheit haben wir viel zu sehr
zen, dass die G 8 weiterhin eine treibende Kraft bei der
ausschließlich darüber geredet, wie viel Geld wir für
Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bleibt.
Entwicklung zur Verfügung stellen, und dabei den Blick
Das Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich jedoch auf die Ergebnisse manchmal vernachlässigt.
grundlegend verändert, nicht nur in den Empfängerlän-
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja, leider!)
dern, sondern auch in der internationalen Geberland-
schaft. Dem müssen wir Rechnung tragen, und dem Genau sie müssen aber im Mittelpunkt stehen. Denn für
trägt die Bundesregierung Rechnung. Deshalb ist es die Menschen zählen nur die Ergebnisse des Handelns.
wichtig – das macht Minister Niebel ganz eindrucksvoll –, Die Finanzierung muss stärker mit den Ergebnissen ver-
12608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) knüpft werden. Gleichzeitig wird so ein zusätzlicher An- tet, Strategien für das sogenannte Low Carbon Develop- (C)
reiz geschaffen, klare Ziele und Ergebnisse zu formulie- ment umzusetzen. Die Entwicklungsländer werden dazu
ren und sie tatsächlich zu erreichen. ermutigt. Wir gehen voran, damit andere unserem Bei-
spiel folgen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Die in Cancún beschlossene Vereinbarung gibt den
Klimaverhandlungen neue Dynamik. Sie legt das Funda-
Fünftens. Wirtschaftliches Wachstum ist die Grund-
ment für ein neues Klimaabkommen, wenngleich der
lage jedes Entwicklungsprozesses; dies hat die G 20 in
Weg dahin noch weit ist. Genauso klar ist aber auch: Um
Korea ausdrücklich anerkannt. Genau dieses Verständnis
das jetzt beschlossene 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen
müssen wir stärken.
wir weit konsequenter handeln, als das bis jetzt verein-
Meine Damen und Herren, Deauville bietet mir auch bart wurde.
die Gelegenheit, meinen japanischen Kollegen, den Mi-
Auf dem Weg zur nächsten Konferenz in Durban in
nisterpräsidenten Kan, zu treffen. Naoto Kan wird uns
Südafrika sind noch viele schwierige Fragen zu beant-
zum ersten Mal persönlich die Situation in Japan nach
worten. Der südafrikanische Staatspräsident Zuma wird
dem verheerenden Erdbeben, dem furchtbaren Tsunami
beim G-8-Gipfel über den Stand der Verhandlungen be-
und der unfassbaren Nuklearkatastrophe schildern. Die
richten. Es ist klar: Deutschland ist und bleibt Vorreiter
nukleare Bedrohung durch die Schäden am Kernkraft-
in der Klimapolitik. Wir halten an unserem Ziel fest, ein
werk Fukushima hält unvermindert an. Die Kette
neues, umfassendes UN-Klimaabkommen zu verab-
schlechter und besorgniserregender Nachrichten reißt
schieden. Das war schon ein wichtiges Anliegen unserer
nicht ab. Vom ersten Moment an haben wir gespürt: Die
G-8-Präsidentschaft in Heiligendamm. Man muss sagen:
Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima, in einem
Der Fortschritt ist hier an manchen Stellen wirklich eine
Hochtechnologieland, stellen einen Einschnitt von glo-
Schnecke; aber es gibt nur die Möglichkeit, auf diesem
baler Tragweite dar.
Weg weiterzugehen.
In Deutschland haben wir vor diesem Hintergrund be-
Meine Damen und Herren, wir werden in Deauville
schlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für drei
auch über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft beraten.
Monate vom Netz zu nehmen und in dieser Zeit eine Si-
Der G-8-Gipfel ist ja von Anfang immer ein Weltwirt-
cherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke
schaftsgipfel gewesen. Er ist dies auch unter französi-
vorzunehmen. Die ersten Ergebnisse der Reaktor-Sicher-
scher Präsidentschaft. Die französische Präsidentschaft
heitskommission liegen Ihnen vor. Die Ethikkommission
hat das Thema „Internet – Chancen und Risiken“ zu ei-
wird mir am 30. Mai 2011 ihren Bericht übergeben. We-
nem Schwerpunktthema gemacht. Sie hat dazu einen
nige Tage später werden wir die notwendigen Entschei-
(B) großen Vorgipfel durchgeführt, dessen Ergebnisse uns (D)
dungen in der Bundesregierung, im Deutschen Bundes-
auf dem G-8-Gipfel präsentiert werden. Auf der einen
tag und Anfang Juli schließlich im Bundesrat treffen.
Seite sehen wir die riesigen Chancen des Internets, ge-
Ich möchte hier nicht auf die derzeit laufenden Bera- rade wenn es um Demokratie, Transparenz und Informa-
tungen eingehen. Wohl aber müssen wir im Auge behal- tionsfreiheit geht. Auf der anderen Seite ist der Schutz
ten, dass die Sicherheit der Nutzung der Kernenergie von Eigentum, auch von geistigem Eigentum, und per-
nicht allein mit nationalen Entscheidungen sicherzustel- sönlichen Rechten natürlich ein Problem.
len ist. Wir brauchen eine Überprüfung der Sicherheits-
Die Weltwirtschaft insgesamt steht besser da, als wir
standards auch auf internationaler Ebene.
das noch vor einiger Zeit erwarten konnten. Der Auf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schwung festigt sich, und Deutschland leistet dazu einen
spürbaren Beitrag. Das heißt, wir können sagen: Mit all
Dazu besteht in der G 8 trotz aller Unterschiede bei der dem, was wir politisch unternommen haben, haben wir
Bewertung der Kernenergie ein breiter Konsens. Die G 8 einen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaftskrise
muss deshalb eine führende Rolle bei der Verbesserung
schnell zu überwinden.
der nuklearen Sicherheit einnehmen. Gerade darüber
werden wir heute und morgen beraten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dabei geht es um eine kritische Überprüfung beste- Unsere Wirtschaft wächst 2011 um mindestens
hender und in Planung befindlicher kerntechnischer An- 2,6 Prozent; die Zahlen gehen eigentlich nach oben. Die
lagen. Auf europäische Initiative hin soll auch auf inter- Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt auf un-
nationaler Ebene ein sogenannter Stresstest für ter 3 Millionen sinken. Was ganz interessant ist und was
kerntechnische Anlagen durchgeführt werden. Ich setze ich besonders den internationalen Partnern sagen werde:
mich im Kreis der G 8 dafür ein, bei den Sicherheits- Nachdem unser Aufschwung anfänglich sehr stark ex-
überprüfungen höchste Standards zugrunde zu legen. portgetrieben war, können wir heute feststellen, dass
zwei Drittel des gesamten Wachstums durch eine wach-
Gleichzeitig entwickeln wir die erneuerbaren Ener-
sende Binnennachfrage zustande kommen. Das ist auch
gien zu einer tragenden Säule unserer Energieversor-
an die Weltwirtschaft eine wichtige Mitteilung.
gung. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Ener-
gien beschleunigt erreichen. Damit leisten wir auch Wir haben aber natürlich von offenen Märkten und
einen Beitrag dazu, die beschlossenen ehrgeizigen Kli- von unserer Exportkraft profitiert. Es gehört zu den un-
maziele umzusetzen. Alle Industrieländer haben sich auf gelösten Problemen, dass wir bei der Doha-Runde der
der Klimakonferenz in Cancún im letzten Jahr verpflich- WTO bis jetzt nicht weitergekommen sind. Wir werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12609
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) das wieder besprechen. Ich kann nur sagen: Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
wird sich mit aller Kraft dafür einsetzen, gemeinsam ins- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
besondere mit Großbritannien, dass diese Doha-Runde GRÜNEN)
zum Ende gebracht wird. Freier Welthandel ist der beste
Marktmotor und Wachstumsmotor, den wir uns vorstel- Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen ha-
len können. Das ist unsere Überzeugung. ben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapoli-
tischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch
keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deau-
Wir werden auch über Konsolidierungsstrategien ville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem
sprechen. Deutschland hat mit der Schuldenbremse den französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den
richtigen Weg eingeschlagen; denn nachhaltiges Wachs- Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute
tum ohne solide Staatsfinanzen ist nicht möglich. Des- die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag
halb werden wir auch dies noch einmal deutlich machen. in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch,
Meine Damen und Herren, die Verantwortung für die meine Damen und Herren.
nationale Wirtschaftspolitik trägt jeder von uns allein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns sind des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
weltweit spürbar, nicht nur für uns jetzt, sondern auch
für kommende Generationen. Das müssen wir stets im Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Poli-
Blick haben, und das muss auch der Geist der Diskussio- tik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientie-
nen in Deauville sein. rungslosigkeit in Europa geworden.

In der G 8, aber genauso auch in der G 20 müssen wir Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch
alles daransetzen, gemeinsame Lösungen für die anste- nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, res-
henden Probleme und Krisen zu suchen. Dafür bitte ich pektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die
um Ihre Unterstützung, und dafür werde ich bei den Dis- Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Ba-
kussionen in den nächsten beiden Tagen werben. lance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer
Nation geworden, die an die europäische Peripherie ge-
Herzlichen Dank. raten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen
nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und
FDP)
Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei.
(B)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin. (D)
Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein
Ich eröffne die Aussprache.
ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis
Erster Redner ist der Kollege Frank-Walter zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich.
Steinmeier für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Re-
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): spekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung.
Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen, Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch
heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben. dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es
Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in ir-
Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Par- gendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben ha-
lament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Re- ben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie
chenschaftsbericht. wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und
Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gip-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
fel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unter-
GRÜNEN)
stützen, beitragen, begrüßen – das waren die meistge-
Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie, brauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber
aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der ara- genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland.
bische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA.
Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in al-
größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen ha- len Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat,
ben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren
mehr von uns. wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu
12610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es schen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initia- (C)
sehr verwundern tive Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt
eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da haben Sie al- kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstim-
len Grund, auf Amerika einzugehen!) mung über ein unabhängiges Palästina in der General-
– passen Sie auf! –, wenn in den letzten Tagen die versammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es
Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und noch nicht gewesen sein.
Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzwei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
felte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem GRÜNEN)
Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass
es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich:
die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja an-
heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann kündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht
aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb
deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen
Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejeni-
zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war gen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das
das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethar- falsch, meine Damen und Herren.
gisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen
dämmern dahin. Das ist der traurige Befund. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ GRÜNEN)
CSU]: Das wird der Vorwärts geschrieben ha-
ben, aber keine seriöse Zeitung! – Gegenruf In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Os-
des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]: Nichts gegen ten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng
den Vorwärts! Der ist älter als Ihre Partei!) zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene
diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika er-
Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen leben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in
wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße aus- der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das
drücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den
in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engs-
(B) noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im ten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist (D)
Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin, außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu
hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Moder- geben – Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von all-
nisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu gemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für
bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsi-
treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Rou- dent die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschrei-
tine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden ben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das
Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner
weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas
wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visa- Aufgabe gewesen.
thema – das steht im Grunde genommen jeder Entwick-
lung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Berei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen entgegen – mit einer gemeinsamen Initiative aus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden
Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief hal-
zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen
ten, man kann den Namen für falsch halten, aber natür-
zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben.
lich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Quali-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tät eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der
DIE GRÜNEN) Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der
Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort
Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere
gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die
Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demo-
der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann kratie braucht Demokraten – das weiß aufgrund seiner
ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutsch- Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen
land sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft
amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedens- haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber
lösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen. es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort
Da kämpft Herr Obama – Sie haben das in den letzten bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokra-
Tagen gesehen – mit der Autorität seines ganzen Amtes, tie dort weiter beschritten wird.
und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich
mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikani- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12611
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Lan- (C)
den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das des sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was
beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Ant- wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwar-
wort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartner- ten.
schaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der
Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung (Beifall bei der SPD)
über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungs- Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Au-
strukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das genblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der
betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick
werden, aber auch – auch das darf nicht tabuisiert wer- tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; da-
den – die Öffnung der europäischen Märkte für Waren rauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum
und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen An- letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und
kündigungen war davon nichts zu hören, und das ist ein- die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten
deutig zu wenig. Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Ener-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten giewende.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gelegenheit reden. Reden müssen wir – zum Beispiel Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das
darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie
in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein
das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit
im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wi- in diesem Land nicht durchgehen lassen.
der besseres Wissens schürt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi-
derspruch bei der CDU/CSU) Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaub-
würdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie
Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Vol-
anderer Aspekt eine Rolle. ten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen,
über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aus-
(B) wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der (D)
verkauf deutscher Interessen!)
Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich
– Das ist ein bisschen Ihr Problem. doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von
Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rah-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Ihres!) men der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass
– Ich glaube nicht. man dann eine glaubwürdige Initiative im internationa-
len Rahmen von G 8 startet. Wir werden – das weiß auch
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Deswegen ich, das wissen auch wir – nicht den Rest der Welt von
sind Sie jetzt auch still!) heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir
auf Atomkraft verzichten – trotz Fukushima. Aber was
– Warten Sie es ab. ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage
Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche
Land in der Außenpolitik erarbeitet – hören Sie bitte zu –, Initiative – hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert –
hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraft-
ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann werken weltweit.
zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Per- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sonal in internationalen oder europäischen Institutionen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gefragt ist.
Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen
(Beifall bei der SPD) Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu we-
In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit nig.
dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Erich G.
den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade Fritz [CDU/CSU]: Sehr billig!)
erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie
jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefge- Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen
hen würde, und präsentieren damit wir als größte Volks- erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außen-
wirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den politik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das ge-
IWF-Posten. nau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit
Sorge.
(Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, wir sollen
nicht nationalistisch vorgehen!) Herzlichen Dank.
12612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Europäischen Union. Wir müssen rasch Angebote für (C)
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE partnerschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg brin-
GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: gen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium und das
Mannomann!) Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getan
haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent-
Für die FDP-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege wicklung ist ein gutes Instrument. Sie hat beim Fall des
Rainer Brüderle. Eisernen Vorhangs und bei der Osterweiterung geholfen;
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sie kann jetzt in Nordafrika helfen. Deutschland und die
osteuropäischen Mitgliedstaaten haben besondere Erfah-
rungen mit Transformationsprozessen. Wir sollten des-
Rainer Brüderle (FDP): halb das Wissen früherer Manager und vielleicht auch
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- pensionierter und aktiver Beamter mit einbringen und
lege Steinmeier, Sie haben heftig die Regierung kriti- Projektteams bilden, die diesen Prozess vor Ort konkret
siert. Aber was Sie und die SPD anders machen wollen, unterstützen können, und zwar im Interesse dieser Län-
haben Sie nicht gesagt. der, aber auch im Interesse von Deutschland und Europa.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Gustav Herzog [SPD]: Sie haben nicht zuge- der CDU/CSU)
hört!)
Das Leitprojekt Desertec, das nicht nur eine Zusammen-
Ihre größte außenpolitische Anstrengung derzeit scheint arbeit im Energiesektor darstellt und eine Brücke zu un-
zu sein, Ihren Konkurrenten als Kanzlerkandidaten, seren Nachbarn in Nordafrika schlagen kann, ist ein Zei-
Herrn Steinbrück, wegzuloben, chen, dass wir es mit der Hilfe ernst meinen, zu
(Heiterkeit bei der FDP – Dr. Frank-Walter Marktstrukturen, zu Entwicklungsprozessen und zu
Steinmeier [SPD]: Wohin?) Chancen der Freiheit vor Ort zu kommen.
und nicht, konkrete Wege aufzuzeigen, wie anders ge- Freiheitsbewegungen brauchen eine Ergänzung durch
handelt werden kann. freien Handel. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht auf den
Doha-Prozess, auf die Welthandelsrunde, hingewiesen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Da müssen einige Gipfelteilnehmer auch in Kauf neh-
Meine Damen und Herren, der G-8-Gipfel in Deau- men, dass es im Agrarsektor und in der Textilindustrie
(B) ville steht im Zeichen des Kampfes für die Freiheit. Die vielleicht Probleme gibt, und sich dazu durchringen, (D)
G 8 muss sich als Wertegemeinschaft, als moralische dass die Welthandelsrunde noch ein Erfolg wird. Markt-
Autorität verstehen. Die Kraft der Freiheit bricht sich im zugang und Verbesserung des Welthandels sind eine
Norden Afrikas und im Nahen Osten Bahn. Menschen Chance, Armut zu bekämpfen. Freiheitsbewegungen
riskieren Leib und Leben für Freiheit und Selbstbestim- brauchen Ergänzung durch freien Handel.
mung. Wir müssen diese Freiheitsbewegung mit aller (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kraft unterstützen. der CDU/CSU)
Deshalb ist es richtig, den alten Machthabern ihre Die G 8 sollte den Generalsekretär der WTO, der Welt-
Grundlagen zu entziehen. Die EU hat zu Recht ein Ein- handelsorganisation, beauftragen, ein Kompromisspa-
reiseverbot und Vermögenssperren über den syrischen pier zu erarbeiten. Das ist die einzige Chance, den Pro-
Präsidenten verhängt. Die EU hat zu Recht starke Zei- zess noch zu retten. So hat man es auch bei der Uruguay-
chen gesetzt und in Bengasi ein Verbindungsbüro eröff- Runde mit Erfolg gemacht.
net, wie es Außenminister Westerwelle auch für
Deutschland getan hat. Die EU verschärft zu Recht die Inzwischen ist das Kraftzentrum der Weltwirtschaft
Sanktionen gegen den Iran und andere Unrechtsregime. die G 20; die G 8 ist das nicht mehr wie in der Vergan-
genheit. Zur G 20 gehören China, Indien und Brasilien.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Staatsterrorismus
Damit die G 8 nicht eines Tages zu einem Veteranentref-
Freiheiten mit Füßen tritt. Wer brutal seine eigene Be-
fen wird, muss Europa wieder mehr Power entfalten und
völkerung in Geiselhaft nimmt, muss mit harten Maß-
mehr Kraft einbringen. Nicht Europa aufzuhübschen,
nahmen rechnen. Da muss Deutschland stehen, da muss
sondern es aufzufrischen, ist die Aufgabe. Deshalb müs-
Europa stehen, da muss die G 8 stehen.
sen wir uns für den gemeinsamen Markt, offene Grenzen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und eine starke Währung in Europa einsetzen, auch
der CDU/CSU) wenn wir nicht für jede Maßnahme, die notwendig ist,
sofort den Beifall aller Nachbarn bekommen. Es gilt
In Tunesien und Ägypten können die Menschen die jetzt, das Richtige zu tun, damit Europa den richtigen
Kraft der Freiheit schon stärker spüren. Freiheit ohne Weg geht, wieder stärker wird und mehr Gewicht ein-
Marktwirtschaft ist nicht denkbar. Wir müssen und kön- bringen kann. Es geht nicht darum, kurzfristig den Bei-
nen helfen, die dortigen Kommandowirtschaftsstruktu- fall von einigen zu bekommen.
ren auf Marktwirtschaft umzustellen. Wenn wir dies
nicht schaffen, gibt es eine Abstimmung mit den Füßen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Eine ungesteuerte Migration ist nicht im Interesse der der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12613
Rainer Brüderle
(A) Das Aussetzen des Schengener Abkommens wäre ein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
Zeichen der Schwäche, kein Zeichen der Stärke. Europa Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sie haben
muss zu seinen Werten stehen und sie verteidigen; Eu- nicht zugehört!)
ropa darf nicht zur Festung werden. Offene Grenzen und
freier Verkehr sichern die Zukunftsfähigkeit Europas. Schwarz-Gelb macht das anders. Für uns ist Deutsch-
Ein starkes Europa ist deutsche Staatsräson, und auch land der Währungshüter in der Europäischen Union.
die Stabilität der Währung, des Euros, ist deutsche Hinsichtlich Griechenlands ist mittlerweile von der sanf-
Staatsräson. Die Menschen in Deutschland haben zwei- ten Umschuldung die Rede. Die griechischen Wirt-
mal Währungsschnitte erleben müssen. Deshalb sitzt das schaftszahlen sprechen für sich. Da braucht man nicht
Empfinden um Geldwertstabilität quasi im Gencode un- Pythagoras; da genügt Adam Riese.
seres Landes. Diese Stabilität ist ein tiefes Anliegen der Der Bundesfinanzminister hat Bedingungen für eine
Menschen, und sie ist auch notwendig, damit Europa sanfte Umschuldung genannt, etwa die Beteiligung pri-
sich richtig entwickeln kann. vater Gläubiger. Ich sage: Der Bundesfinanzminister hat
die FDP-Fraktion an seiner Seite, wenn er eine sanfte
In der Marktwirtschaft steuert man Produktion und
Entscheidungsprozesse über die Knappheitsgrade, die in Umschuldung hart, aber fair umsetzt.
Preisen widergespiegelt werden. Wenn die Preise nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
stimmig sind, steuern wir falsch. Deshalb ist der deut- der CDU/CSU)
sche Kampf um einen richtigen Rahmen beim ESM, bei
der Entwicklung des Euros so entscheidend, auch wenn Meine Damen und Herren, Deauville kann und muss
dies nicht sofort – ich wiederhole es – Beifall von jedem das Signal der Freiheit sein. Man kann sie nicht unter-
bringt. drücken. Man kann sie verzögern, aber nicht verhindern.
Wir haben in unserer Nachbarschaft, im Nahen Osten, in
Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Stabiler der arabischen Welt, eine Entwicklung, von der wir vor
Geldwert ist für die Gerechtigkeit notwendig; Inflation kurzem nicht zu träumen gewagt hätten. Deshalb gilt es
ist eine soziale Ungerechtigkeit. Deshalb muss Deutsch- jetzt, Farbe zu bekennen, Partnerschaft auszuüben, mit
land diesen klaren Kurs des ESM beibehalten. Der euro- dabei zu sein, klare Positionen zu beziehen, im Dialog
päische Stabilitätsmechanismus darf kein neokeynesia- die Möglichkeiten zu schaffen, damit die Wünsche und
nischer Weichmacher werden. Vorstellungen Realität werden. Dazu muss man aber
auch den Mut haben, in Europa selbst Fesseln abzulegen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten indem man hier die Behinderungen der europäischen
der CDU/CSU) Entwicklung beseitigt, indem man auf das Beispiel setzt,
(B) Ich erinnere an Folgendes: Es war Gerhard Schröder, dass eine Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische (D)
der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet Union ist, erfolgreich wirtschaftliche Kraft entfalten
hat. Das möchte ich all denen ins Stammbuch schreiben, kann und dass unser Weg, unser Modell in Europa über-
die uns Europopulismus vorwerfen. Herr Schröder hat in zeugend ist. Die Entwicklungen in Nordafrika und ande-
seiner Regierungszeit versucht, zu erreichen, dass sich ren Regionen der Welt, diese Freiheitsbewegungen, wä-
seine Prophezeiung erfüllt. Es war Rot-Grün, das die ren ohne das Beispiel des europäischen und auch des
Aufweichung der Maastricht-Kriterien möglich gemacht deutschen Weges, mit Freiheit Kraft zu entfalten und da-
hat, und es war Rot-Grün, das Griechenland in die Euro- durch Arbeit und Zukunft zu schaffen, nicht auf den Weg
Zone aufgenommen hat. Das ist die Wahrheit. gekommen. Wir haben mit unserem Beispiel die Kraft
der Freiheit freigesetzt. Deshalb sind wir aus Überzeu-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gung dabei, dies in die Realität umzusetzen.
der CDU/CSU)
Herr Kollege Steinmeier, dabei sollten alle mitma-
Die griechischen Berechnungen zur Erfüllung der chen. Das ist ein Thema, das sich nicht für Parteitags-
Maastricht-Kriterien beruhten nicht auf Pythagoras, son- oder Wahlkampfreden eignet, sondern hier muss das Par-
dern eher auf Alexis Sorbas. lament solidarisch hinter der Kanzlerin stehen. Sie hat
einen klaren Weg aufgezeigt. Die Regierungsfraktionen
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) unterstützen sie dabei. Ich bin sicher, sie wird auch mit
Rot-grüne Währungspolitik fasst man am besten folgen- guten Ergebnissen aus Deauville zurückkommen.
dermaßen zusammen: Note in Sparen: 4 bis 5; Note in Deauville bietet die Chance, dass wir in der Technologie,
Statistik: 5 bis 6. Schwarz-Gelb macht das anders. in der Freiheitsbewegung, in der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit vorankommen.
(Zuruf von der SPD: Oberlehrer!)
Ohne Armutsbekämpfung wird die Freiheitsbewe-
– Oberlehrer? Sie wollen doch dem deutschen Wesen gung auf Dauer keinen Erfolg haben. Deshalb ist es not-
Geltung verschaffen; das haben wir doch gerade gehört. wendig, das Richtige zu tun. Man kann nicht für jede
Alle Welt soll sich nach deutschen Kriterien entwickeln Maßnahme jeden Tag Beifall bekommen. Entscheidend
– das hat Herr Steinmeier doch vorgetragen –, sei es in ist, dass am Schluss eines Entscheidungsprozesses das
der Energiepolitik oder in der Wirtschaftspolitik. All das richtige Ergebnis steht, dass wir die richtige Einstellung
soll von Deutschland bestimmt werden. Er ist der deut- haben, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen, dass
sche Oberlehrer, der lehrt, dass am deutschen Wesen die wir für die richtigen Werte kämpfen und arbeiten. Nicht
Welt genesen soll. kurzfristiger Beifall, sondern klarer Kurs ist das, was wir
12614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Rainer Brüderle
(A) in Europa, was wir in der Welt brauchen. Dafür steht Wer hat eigentlich acht Regierungschefs und Präsidenten (C)
diese Regierung. berufen, Entscheidungen für die ganze Erde zu treffen?
Sie lassen die Schwellen- und Entwicklungsländer aus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Das hat sich bei der hervorragenden Wirtschaftsent-
wicklung Deutschlands gezeigt. Das ist der Markenkern Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen?
der schwarz-gelben Regierung. Mit der Lage der Weltwirtschaft und mit den demokrati-
schen Bewegungen in Tunesien, in Libyen, in Ägypten,
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Letzteres ist wirk-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich ein in jeder Hinsicht interessantes, aufwühlendes
– Ja, die ganze Welt beneidet uns um diese wirtschaftli- und spannendes Thema. Ich sage hier im Namen der
che Entwicklung. Linken, dass wir all den demokratischen Bewegungen in
diesen Ländern größte Sympathie und unsere Solidarität
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- entgegenbringen.
derspruch bei der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
Die Einzigen, die lachen, sind die, die nicht ertragen
können, dass eine deutsche Regierung erfolgreich ist. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ent-
Das sind Sie! schieden, in Libyen Krieg zu führen. Die NATO-Staaten
tun das. Diese Regierung hat vernünftigerweise dafür
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
gesorgt, dass sich Deutschland der Stimme enthalten hat.
rufe von der SPD)
Ich hätte mir gewünscht, dass sie sogar mit Nein ge-
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, erinnere ich noch stimmt hätte. Aber immerhin, sie hat sich der Stimme
einmal an den Überbau der Regierungspolitik der enthalten und damit nicht Ja gesagt und nimmt an die-
schwarz-gelben Koalition: Kurs halten, durchsetzen, sem Krieg auch nicht teil.
nicht irritieren lassen. Das setzt sich durch. Klare Orien-
tierung bringt Erfolg. Ich habe festgestellt, dass jetzt zwei Länder ständig
den Krieg kritisieren, nämlich China und Russland, die
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wie bei aber vergessen, zu erwähnen, dass sie Vetomächte sind.
der Kernenergie! – Weiterer Zuruf von der Wenn sie es nicht gewollt hätten, wäre der Beschluss des
SPD: Mit dem Kopf durch die Wand!) Sicherheitsrates überhaupt nicht zustande gekommen.
– Ach, die SPD hat ja so viele Probleme. Schreien Sie (Beifall bei der LINKEN)
mal nicht so laut. Sie sind ja froh, wenn Sie noch Junior-
(B)
partner der Grünen sind. Jetzt erleben wir, dass schwerste Luftangriffe geflo- (D)
gen werden. Dabei werden auch unschuldige Menschen
(Zurufe von der SPD und der LINKEN) getötet. Die Kriegslogik dominiert. Der Krieg wird im-
Also: Kopf hoch! Wir halten weiter Kurs. Freuen Sie mer härter. Von Anfang an haben wir bei diesem Krieg
sich, dass Sie in Deutschland dabei sein dürfen. wie auch bei den anderen Kriegen gesagt: Krieg löst
keine Probleme; er schafft nur neue Probleme. Das wird
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) jetzt täglich in Libyen bewiesen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN)


Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen: Die
tion Die Linke.
Grünen und die SPD hätten für den Krieg gestimmt.
(Beifall bei der LINKEN) Cem Özdemir hat mir bei Hart aber fair ganz klar ge-
sagt, er hätte im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Die fünf großen Friedensforschungsinstitute in
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Deutschland haben jetzt ein Friedensgutachten 2011 vor-
Brüderle, ich habe Ihnen wie immer gerne zugehört. gelegt. Darin sagen sie: Es gibt eine unkalkulierbare Es-
Zum Inhalt sage ich besser nichts. Ich habe aber eines kalation des Krieges. Sie fordern sofortige Verhandlun-
festgestellt: Nur in unserer Altersgruppe kommt wirklich gen ohne Vorbedingungen, um die Gewalt zu beenden.
Leidenschaft hoch.
Ich habe eine weitere Frage. Die Regierung in Libyen
(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)
hat viele unschuldige Demonstranten erschossen. Aber
Das war deshalb so angenehm, weil Ihre Rede, Frau das macht doch auch die Regierung in Syrien, das macht
Bundeskanzlerin, völlig leidenschaftslos war. Das hing auch die Regierung im Jemen, und das macht auch die
übrigens auch mit dem Inhalt zusammen. Regierung in Bahrain. Warum kommen Sie eigentlich
nur bei Libyen auf die Idee, Bomben zu werfen, aber bei
Das Problem beim G-8-Gipfel besteht ja schon darin,
den anderen Ländern nicht? Wenn Bomben den Demon-
dass Sie dort wesentliche Entscheidungen für die ganze
stranten angeblich helfen – das bezweifle ich energisch;
Erde treffen wollen. Ich frage mich immer: Mit welcher
aber das scheint Ihre Auffassung zu sein; Cem Özdemir
Legitimation?
hat klar gesagt, er sei für diesen Krieg gewesen –, warum
(Beifall bei der LINKEN) gilt das dann nicht für die anderen Länder?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12615
Dr. Gregor Gysi
(A) Hier kommen mir doch üble Gedanken, und zwar der- werden darüber namentlich abstimmen lassen, weil mich (C)
gestalt, dass Libyen viel Öl hat. Syrien und Jemen haben interessiert, ob wir immer noch keine Schlussfolgerun-
kein Öl. In Bahrain liegt ein strategisch wichtiger Mili- gen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben und tat-
tärstützpunkt der USA. Daraus erklärt sich die unter- sächlich noch Geschäfte mit Krieg machen wollen, an-
schiedliche Herangehensweise. Das ist höchst unglaub- statt endlich damit aufzuhören.
würdig. Krieg darf nie das Mittel unserer Politik werden.
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
(Beifall bei der LINKEN) [CDU/CSU]: Dummes Zeug!)
In Bahrain sind saudi-arabische Truppen einmar- Nun wollen Sie weiter über die Lage der Weltwirt-
schiert und schießen dort auf Demonstranten. Ich habe in schaft sprechen. Das ist übrigens ohne China sehr
diesem Zusammenhang eine Frage ans Fernsehen. Ich schwer; ich weiß gar nicht, wie Sie das machen wollen.
sehe Bilder aus dem Jemen, ich sehe Bilder aus Syrien, Außerdem gehören auch Länder wie Brasilien und In-
und ich sehe viele Bilder aus Libyen, aber nie Bilder aus dien dazu; aber das lasse ich einmal weg. Es gibt zwei
Bahrain. Warum eigentlich sollen unsere Fernsehzu- Themen, die Sie erörtern wollen, nämlich zum einen die
schauerinnen und -zuschauer nicht sehen und erfahren, weltweiten Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen
was dort passiert? und zum anderen die gigantische öffentliche Verschul-
dung von Staaten auch infolge der Finanz- und Banken-
Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine andere Politik auch
krise. Da sind wir wieder beim Thema Griechenland.
in Bezug auf Nordafrika und in Bezug auf die arabische
Welt. Die Unterstellung, die es früher immer gab, arabi- Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit,
sche Völker wollten keine Demokratie, ist jetzt wider- kurzum: am Rande der Pleite. Nun hatten Sie doch lauter
legt. Überall gibt es starke demokratische Bewegungen, Maßnahmen beschlossen und haben gesagt, sie seien alle
die wir unterstützen müssen. Ich sage noch etwas: Wer so genial und damit seien alle Probleme gelöst. Nun sind
endlich Frieden im Nahen Osten will, muss die Zwei- die Probleme aber nur verschärft worden. Wann nehmen
staatenlösung unterstützen. Wir brauchen einen lebens- Sie das denn einmal zur Kenntnis und korrigieren diese
fähigen Staat Palästina und einen sicheren Staat Israel. Politik?
Wer das eine oder das andere nicht will, will auch keinen
Frieden im Nahen Osten. Was wären denn die alternativen Wege, die wir dies-
bezüglich gehen könnten? Ich halte nichts davon, dass
(Beifall bei der LINKEN) Sie immer wieder versuchen, Griechenland – genauso
Hier hat Herr Steinmeier völlig recht, Frau Bundes- wie Spanien, Portugal, Irland und andere Länder – unter
kanzlerin: Es geht nicht, dass Sie sich bei dieser Frage Druck zu setzen, indem Sie sagen: Es muss Sozialabbau
(B) – Sie haben hier nur ganz beiläufig die Rede Obamas er- betrieben werden; die Löhne müssen gesenkt werden; (D)
wähnt – heraushalten. Nein, wir müssen sagen: Es ist das ganze öffentliche Eigentum muss verkauft werden.
richtig, der Staat Palästina muss in den Grenzen von Ich glaube, dass das nicht geht. Ich glaube auch, dass
1967 gegründet werden. Wenn es einen Gebietsaus- man einen Staat so gar nicht sanieren kann; denn Sie sor-
tausch gibt, dann muss er zwischen Israel und Palästina gen damit dafür, dass die Steuereinnahmen ständig zu-
vereinbart werden. Wer jetzt diesen Weg nicht gehen rückgehen. Das heißt, Griechenland wird dadurch nur
will, der schadet nicht nur den Palästinenserinnen und noch – wenn es eine Steigerung von „pleite“ gäbe –
den Palästinensern, der bringt auch den Israelis keinen „pleiter“.
Frieden. Deshalb brauchen wir für beide Völker diesen (Zuruf von der FDP: Nein!)
Weg.
Genau diesen falschen Weg gehen Sie bei all diesen
(Beifall bei der LINKEN) Staaten.
Wir müssen auch unsere Rüstungsexportpolitik neu (Zuruf von der FDP: Nochmals nein!)
durchdenken; ich komme wieder einmal darauf zurück.
Mit Genehmigung der Bundesregierung gab es Rüs- – Ja, was denn? Bei Griechenland ist es ganz einfach:
tungsexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Die sollen jetzt die Flughäfen, die Seehäfen, die Telefon-
Euro, an Ägypten im Wert von 144 Millionen Euro, an gesellschaften, die Post verkaufen.
Bahrain im Wert von 184 Millionen Euro und an Saudi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da können Sie
Arabien im Wert von 441 Millionen Euro, und zwar in mal Ihre veruntreuten Gelder anlegen!)
der Zeit von 2006 bis 2009. Der Spitzenreiter sind übri-
gens die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie bekamen Wenn man das alles privatisiert, dann gehört der öffentli-
Rüstungsexporte im Wert von 846 Millionen Euro. chen Hand gar nichts mehr. Glauben Sie ernsthaft, da-
durch die Probleme Griechenlands lösen zu können?
Ich sage es noch einmal ganz klar: Die libysche Ar- Ganz im Gegenteil: Sie verschärfen damit die Probleme.
mee hat gegen Demonstranten aus dem eigenen Volk
auch mit deutschen Waffen gekämpft. Die saudische Ar- (Beifall bei der LINKEN)
mee kämpft mit deutschen Waffen in Bahrain gegen De-
Es kommt aber etwas hinzu: Weder die Bevölkerung
monstrantinnen und Demonstranten.
Griechenlands noch die Bevölkerung Spaniens ist bereit,
Wir haben jetzt einen Antrag eingebracht, die Rüs- sich das bieten zu lassen. Werfen Sie doch einmal einen
tungsexporte in diese Länder zu verbieten. Ich bin sehr Blick nach Spanien! Wer von Ihnen will mir eigentlich
gespannt, wie Ihre Fraktionen darüber entscheiden. Wir sagen, was dabei herauskommt? Wer von Ihnen kann
12616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) überhaupt einschätzen, welche gesellschaftspolitischen Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Entwicklungen dort stattfinden? Wenn diese Länder aber Herr Kollege Gysi.
in immer tiefere Krisen geraten, dann doch auch
Deutschland. Wir müssen endlich einen anderen Weg für Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Europa und für unser Land finden; das will ich Ihnen Ich bin gleich fertig.
gerne sagen.
Ich sage nur noch: Im Übrigen gibt es in Griechen-
(Beifall bei der LINKEN) land auch Milliardäre und Millionäre. Sie werden steuer-
Ihr Weg ist klar. Sie sagen: Alles privatisieren, Löhne lich so herangezogen wie in Deutschland, nämlich so gut
runter, Renten runter, Sozialleistungen runter! Sie mei- wie gar nicht. Auch das ist ein falscher Weg. Sie denken
nen, dadurch würde Griechenland gesund werden. Was immer nur an die Beschäftigten. Die sollen zur Kasse ge-
Sie erzählen, ist albernes Zeug; das Gegenteil ist richtig. beten werden.
Wir müssen folgende Wege gehen: Sie selber wollen die Schulden, die in der Finanzkrise
Erstens. Es fängt damit an, dass wir einen riesigen angehäuft wurden, abbauen. Dazu wollten Sie eine Fi-
Exportüberschuss auch im Verhältnis zu Griechenland nanztransaktionsteuer einführen. Die hat Herr Schäuble
haben; wir sind Vizeweltmeister beim Export. Warum aber gerade beerdigt. Dann haben Sie noch gesagt: Die
sind wir Vizeweltmeister? Ich kann es Ihnen sagen: Weil Brennelementesteuer ist wichtig.
nur in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist es aber
Jahren um 4,5 Prozent gesenkt worden sind, weil nur in gut hier!)
Deutschland die Realrenten in den letzten zehn Jahren
um 8,5 Prozent gesenkt worden sind, weil hier so viel Die haben Sie aber auch beerdigt. Ich sage Ihnen, wer
privatisiert worden ist. Dadurch sind wir im Angebot bil- das Ganze bezahlt: die Arbeitslosen.
lig geworden. Das aber hat Griechenland mit ruiniert; (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Arbeitslo-
denn es kann sich nicht mehr mit der Abwertung seiner sen? Also Gregor!)
Währung wehren, weil wir gemeinsam mit Griechenland
den Euro haben. Wir müssen einmal begreifen, dass wir Mit dieser Politik kommen Sie nicht durch. Das werden
einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung haben. Da Sie auch bei den nächsten Wahlen erleben.
muss man anders miteinander umgehen, als Sie das ge-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
tan haben.
Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut! –
(Beifall bei der LINKEN) Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
(B) Zweitens. Wir brauchen einen Marshallplan. Ich sage – Natürlich. Sie haben das Elterngeld gestrichen. Sie ha- (D)
Ihnen einmal, was die EU hatte: Sie hatte einen Sozial- ben Mittel für weitere Maßnahmen gestrichen. Sie haben
und Strukturfonds für ärmere Regionen. Darüber bekom- in gigantischem Maße gekürzt.
men auch heute noch die ostdeutschen Bundesländer,
Berlin und Bremen Geld; aber dieser Fonds läuft im Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jahre 2013 aus. Frau Bundeskanzlerin, wo bleibt denn Lieber Herr Kollege Gysi.
Ihre Initiative, um klarzustellen, dass wir in der Europäi-
schen Union wieder einen Solidaritätsfonds benötigen,
und zwar einen Fonds, der noch größer ist und auch an- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
deren Ländern helfen kann. Im Übrigen sind auch die Die Kollegen reizen mich, Herr Präsident, immer
ostdeutschen Länder, Berlin und Bremen nach wie vor wieder zu erwidern.
darauf angewiesen. Es gibt aber keine Initiative dazu; da
wird einfach dichtgemacht. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das ist ja wahr.
Hier kann ich einen zweiten Schritt nennen. Die Euro-
päische Zentralbank darf Kredite nur an Privatbanken
vergeben, nicht an Staaten. Sie müssen sich doch einmal Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
überlegen, welch ein Gipfel der Unverschämtheit da Aber ich verstehe Sie, Herr Präsident. Sie wollen auf
stattfindet: Die Deutsche Bank erhält von der Europäi- die Zeit achten.
schen Zentralbank einen Kredit für 1,25 Prozent Zinsen,
kauft mit diesem Geld für die Dauer von zehn Jahren Präsident Dr. Norbert Lammert:
Staatsanleihen bei Griechenland und erhält dann Wenn die wechselseitige Begeisterung zwischen Ih-
17 Prozent Zinsen. Das ist ein Reibach, der von der Eu- nen und Volker Kauder nur von mir zu stoppen ist, dann
ropäischen Union organisiert und von der Bundesregie- muss ich das jetzt halt tun. Es ist vorbei.
rung genehmigt wird. Warum sagen Sie denn nicht:
„Gut, dann ändern wir den Vertrag; die EZB – meinet- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
wegen gründet man auch eine andere Bank – kann Di-
Sie haben recht, Herr Präsident, aber Sie müssen zu-
rektkredite zu günstigen Zinsen an Griechenland verge-
geben: Seine Begeisterung für mich nimmt ständig zu.
ben“? Das wäre eine Hilfe für das Land und nicht der
Weg, den Sie hier beschreiten. Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12617

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
Nun kann der Kollege Volker Kauder diese Begeiste-
Deswegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzle-
rung höchstselbst am Podium des Deutschen Bundesta-
rin sagt: Das wird ein Schwerpunkt sein.
ges zum Ausdruck bringen.
Ich möchte anregen, dass wir uns innerhalb der Bun-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
desregierung mit der Frage beschäftigen, was wir tun
neten der FDP)
können, um Auslandsschulen auszubauen und sie in die
Lage zu versetzen, mehr Menschen auszubilden. Im Üb-
Volker Kauder (CDU/CSU): rigen, lieber Herr Kollege Brüderle, sage ich zu dem
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Thema Fachkräfte, über das wir häufig diskutieren: Die
Der G-8-Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat ein jungen Leute, die in deutschen Auslandsschulen ausge-
Schwerpunktthema, Herr Gysi. Dazu haben Sie nichts bildet worden sind, sind die besten Fachkräfte, die wir
gesagt, weil Sie zu Menschenrechten und Religionsfrei- dann auch holen können.
heiten kein richtiges Verhältnis haben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Rainer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Brüderle [FDP]: Jawohl!)
Der Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat neben Schulen und Perspektiven sind zwei Punkte, die mitei-
Menschenrechten ein weiteres zentrales Thema, auf das nander verbunden werden müssen. Das brauchen wir
der Kollege Brüderle hingewiesen hat und zu dem Sie jetzt in Nordafrika.
auch nichts sagen können, nämlich Freiheitsbewegungen
von Menschen, die eine neue Perspektive wollen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind die Hauptthemen, um die es bei diesem Gipfel geht. Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass sie
Der Fraktionschef der SPD, Herr Steinmeier, hat morgen auch den ägyptischen Ministerpräsidenten trifft.
heute gesagt, die Bundesregierung habe keinen richtigen Wir haben uns in Ägypten mit jungen Muslimen, mit
Plan. Vertretern der Muslimbrüder und jungen koptischen
Christen getroffen. Dort ist man sich grundsätzlich da-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) rüber einig, dass an erster Stelle nicht eine bestimmte
Religionszugehörigkeit steht, sondern der Wunsch, dass
Ich wäre da ganz vorsichtig – ich weiß nicht, wo Herr
Ägypter Ägypten voranbringen.
Steinmeier sitzt; da hinten sitzt er –; denn die Bundes-
kanzlerin und der Bundesaußenminister haben schon Das hindert uns natürlich nicht daran, die Situation in
sehr früh, unmittelbar nach den Ereignissen in Nord- Ägypten genauer zu betrachten – dazu muss an den bei-
(B) afrika, in der EU die Transformationspartnerschaft auf den Tagen in Deauville ein klares Wort gesagt werden –: (D)
die Tagesordnung gesetzt. Es gibt in Ägypten ein Sicherheitsvakuum. Die kopti-
schen Christen machen sich zu Recht Sorgen um ihre Si-
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)
cherheit. Es hat erneut Angriffe auf koptische Christen
Noch bevor der amerikanische Präsident das Wort in den und Kirchen gegeben. Der jetzige Ministerpräsident darf
Mund genommen hat, hat diese Bundesregierung das in Deauville nicht nur sagen: Wir brauchen diese oder
Thema in Europa auf die Tagesordnung gesetzt. jene Hilfe. Er muss vielmehr bereit sein, koptische
Christen vor Übergriffen zu schützen. Das Sicherheits-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vakuum darf nicht zulasten der Christen in Ägypten ge-
Das Amt trübt zwar manchmal den Blick, Herr hen.
Steinmeier, aber trotzdem muss man fair bleiben und die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wahrheit sagen. Europa hat gleich den richtigen Weg
eingeschlagen. Wenn wir diese Transformationspartner- Natürlich nehmen wir die Entwicklung, die in Ägyp-
schaft jetzt angehen, werden wir sehen, was wirklich er- ten stattgefunden hat, wahr. Wir sollten dennoch nicht
forderlich ist. die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es ist völ-
lig klar, dass man sich dort noch viele Jahre auf dem
Der Kollege Polenz war vor einer Woche mit einer Weg zu einer Demokratie, wie wir sie uns vorstellen, be-
Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Ägypten; findet. Deswegen sind der Rechtsstaatsdialog und der
ich war am vergangenen Wochenende zu politischen Ge- Politikdialog mit Ländern wie Ägypten von großer Be-
sprächen in Kairo. Dort haben wir einen ganz anderen deutung.
Eindruck gewonnen als den, den Herr Steinmeier an die-
sem Rednerpult zum Ausdruck gebracht hat. Die Men- Wir werden feststellen, dass alle Muslime, auch die
schen setzen auf Europa, und sie setzen vor allem auf moderaten, als Grundsatz formulieren: Ägypten wird ein
Deutschland. Sie haben gesagt: Das Wichtigste, was wir Staat sein, in dem die Grundlagen der Scharia die
jetzt brauchen, ist Bildung, weil wir dadurch eine Per- Grundlagen des Rechts sind. Da sollten wir uns keiner
spektive bekommen. Mehr als 50 Prozent der jungen Täuschung hingeben; das wird auch in einer neuen Ver-
Menschen in Ägypten sind Analphabeten. Die Men- fassung genau so formuliert werden. Umso wichtiger ist
schen sagen: Wir haben ohne Bildung keine Perspektive. es, dass wir sagen: Eine solche Rechtssituation darf nicht
Im Zusammenhang mit Bildung fällt ihnen vor allem ein dazu führen, dass eine starke Minderheit – die Christen
Land ein, und das ist Deutschland mit seinem dualen machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung in Ägyp-
Ausbildungssystem, auf das sie setzen. ten aus – bei einer solchen Entwicklung unter die Räder
12618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Volker Kauder
(A) kommt. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
sen wir immer wieder ganz genau hinschauen.
Wir haben also allen Grund, die Entwicklung in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nordafrika mit Zuversicht zu betrachten, aber auch mit
dem klaren Bewusstsein, dass eine Begleitung der Ent-
In Deauville wird auch die Situation im Nahen Osten wicklung dort noch viele Jahre notwendig sein wird. Vor
ein wichtiges Thema sein. Auch hier muss ich sagen: allem haben wir, finde ich, die Aufgabe, deutlich zu ma-
Herr Kollege Steinmeier, Sie irren sich total, was die Zu- chen, dass wir darauf achten werden, dass die Christen in
sammenarbeit in Europa und mit den Amerikanern anbe- diesem Land ihren Glauben leben und ihre Perspektiven
langt. Aus Ihrer Zeit als Außenminister wissen Sie doch verwirklichen können. Wir dürfen, wenn wir die Men-
ganz genau, dass ohne Amerika eine Klärung der Situa- schenrechte ernst nehmen, nicht zulassen, dass starke
tion im Nahen Osten gar nicht möglich ist. Nach dem oder auch schwächere Minderheiten unter die Räder
Motto zu verfahren: „Die Bundesregierung soll das Pro- kommen; das müssen wir allen sagen. Wir akzeptieren
blem im Nahen Osten lösen“, ist Kinderträumerei und natürlich, dass ein Land, in dem 90 Prozent der Bevölke-
hat mit der Realität ganz und gar nichts zu tun. rung Muslime sind, dort einen Schwerpunkt seiner Poli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tik sieht, aber Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten
für Christen und Muslime. Wir werden dafür streiten,
Es bleibt dabei, dass wir unseren Einfluss ausüben und wir werden nicht schweigen, wenn Christen verfolgt
müssen. Eine gewisse Sorge bereitet es, wenn man die werden.
jungen Menschen in Nordafrika – Christen und Muslime –
über die Situation vor Ort reden hört. Diese jungen Men- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schen sagen: Das, was uns dazu gebracht hat, auf die neten der FDP)
Straße zu gehen – bessere Perspektiven im Leben zu ha- Ich bitte darum, dass dies an den kommenden Tagen in
ben, für Freiheit zu streiten –, das fühlen wir auch bei Deauville deutlich gemacht wird.
den jungen Palästinensern. Deswegen erwarten wir, dass
auch sie eine Perspektive erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich kann nur sagen: Die Sorgen Israels sind groß im
Hinblick auf die Situation in Nordafrika. Israel sollte da- Präsident Dr. Norbert Lammert:
rauf eine Antwort geben, und zwar dahin gehend, dass Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für
man nach einer Friedenslösung sucht. Sich abzuschotten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
macht überhaupt keinen Sinn. Das werden die neuen
jungen Bewegungen in Nordafrika nicht hinnehmen.
(B) Deswegen müssen wir als Deutsche den Transforma- Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
tionsprozess begleiten. Nur zu sagen, wie es Netanjahu NEN):
tut: „Wir machen weiter wie bisher“, wird diese junge, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
starke, nach Freiheit strebende Generation in Nordafrika Frau Bundeskanzlerin, die G-8-Treffen der letzten Jahre
nicht zufriedenstellen. haben regelmäßig mit großen Zusagen für Afrika geen-
det. Große Summen wurden jedes Mal versprochen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fünf Jahre nach Gleneagles, direkt vor Beginn des
nächsten Gipfels, hätte ich mir eine ehrliche Bilanz der
Weil wir die Sorgen Israels teilen, weil das Existenz-
Umsetzung gewünscht.
recht Israels eine feste Größe für uns in der deutschen
Politik ist, müssen wir mit unseren israelischen Freun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
den darüber sprechen, wie sich die Situation verändert
hat und wie wir zu Lösungen kommen, die eine Befrie- Sie haben hier leider um das Problem der fehlenden
dung dieser ganzen Region herbeiführen können. Eine Zahlungen herumgeredet. Die internationale Hilfsorga-
Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn Menschen, nisation ONE hat vor kurzem eine Umsetzungsbilanz
die jungen Leute in Nordafrika, das Gefühl haben, dass vorgelegt. Diese fällt nicht gut aus, für die G 8 nicht und
sich etwas für sie in ihrem Land tut. Im Augenblick rich- besonders für Deutschland nicht. Deutschland hat dem-
ten viele, die besonders stark sind, die eine gewisse nach seine Zusagen für Subsahara-Afrika nur zu 23 Pro-
Grundausbildung haben, den Blick nach Europa. Das ist zent erfüllt. Schlechter war nur noch Italien. Dass es
ein großes Problem in dieser Region; denn genau diese auch in schwierigen Zeiten anders geht, das zeigen die
Menschen werden in ihrem Land gebraucht. Deswegen USA, Kanada oder Japan. Diese Länder haben ihre Ziele
ist es richtig und notwendig, dass wir Hilfe anbieten. mehr als erfüllt. Ich kann nur sagen: Wer große Verspre-
chungen macht und sie dann nicht einhält, wird seiner
Ich glaube, wir müssen über die Ausgestaltung der internationalen Verantwortung nicht gerecht. Dieser Ver-
Strukturfonds in Europa reden. Wir haben in Griechen- trauensbruch schadet dem Ansehen und der Glaubwür-
land und auch in Portugal gesehen, dass es nicht immer digkeit Deutschlands.
sinnvoll ist, noch eine Autobahn und noch eine Brücke
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu bauen. Vielleicht müssen diese Strukturfonds in Bil-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
dungsfonds umgewandelt werden, um jungen Menschen
Perspektiven zu geben. Nicht nur in Brücken, sondern in Jetzt steht die Unterstützung für wichtige Länder in
die Köpfe muss investiert werden, auch durch Struktur- Nordafrika und der arabischen Welt auf der internationa-
fonds. len Tagesordnung. Den mutigen Menschen dort, die für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12619
Dr. Frithjof Schmidt
(A) die Freiheit aufgestanden sind, gehören unsere Hochach- in dieser Region. Leider scheint die Bundesregierung (C)
tung und Solidarität; da sind sich hier alle einig. Gerade hier als Treiber auszufallen.
die Staaten der G 8 haben hier eine Bringschuld, weil
Ich begrüße das Engagement der Bundesregierung
wir alle die autoritären Regime dort viel zu lange ge-
und der Bundeskanzlerin zur Lösung des israelisch-pa-
stützt haben, um vermeintliche Stabilität zu erreichen.
lästinensischen Konfliktes, das Eintreten für eine Zwei-
Jetzt, im Vorfeld, ist zu lesen, es werde eher ein Gip- Staaten-Lösung und die Forderung nach Friedensver-
fel der Signale; das heißt auf Deutsch: ein Gipfel der handlungen. Präsident Obama hat erklärt, dass eine Lö-
nicht ganz konkreten Versprechen. Ich frage Sie: Was sung in den Grenzen von 1967 in Verbindung mit einem
nützt all das Gerede über eine Art Marshallplan für Tu- vereinbarten Gebietsaustausch beruhen muss. Ich hätte
nesien und Ägypten, wenn noch nicht einmal klar ist, mir gewünscht, dass Sie diese Position heute ausdrück-
dass der EU-Markt für diese Länder weiter geöffnet lich und vor allem wörtlich unterstützt hätten, gerade an-
wird? Wenig. gesichts der Äußerungen von Ministerpräsident Netan-
jahu in Washington.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass sich die Bun-
desregierung ganz konkret für eine Marktöffnung in al- Auf der Tagesordnung des Gipfels steht auch das
len G-8-Ländern einsetzt. Wenn Sie das tun, dann haben Thema „nukleare Sicherheit“. Drei Viertel aller Atom-
Sie in diesem Punkt unsere volle Unterstützung. kraftwerke weltweit stehen in den Staaten der G 8. Es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liegt ganz wesentlich in den Händen dieser acht Staaten,
endlich die Konsequenzen aus der furchtbaren Katastro-
Auch eine Änderung der Flüchtlingspolitik gegenüber phe in Fukushima zu ziehen. Frau Merkel hat noch ein-
Nordafrika ist notwendig. Hier regiert in Europa gerade mal die Tragweite der Katastrophe von Fukushima be-
die blanke Schäbigkeit. 850 000 Menschen sind bisher tont. Sie sollte aber auch dementsprechend handeln.
allein aus Libyen in die Nachbarländer geflohen. Nur Steigen Sie schnellstmöglich und endgültig aus der
25 000 davon sind nach Italien, nach Europa geflohen; Atomkraft in Deutschland aus, und hören Sie auf, mit
das sind gerade einmal 3 Prozent. Anstatt nun zu überle- Hermesbürgschaften, also deutschen Steuergeldern, den
gen, wie man diesen Menschen helfen kann, wird über Export von Atomtechnologie zu unterstützen!
innereuropäische Grenzkontrollen diskutiert. Das ist
schlicht und einfach beschämend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B)
bei der SPD und der LINKEN) Wir erwarten, dass Sie in Deauville klare Worte an (D)
Ihre Kolleginnen und Kollegen richten, dass es die viel
Deutschland sollte hier mit großzügigen Aufnahmeange- beschworene nukleare Sicherheit nicht gibt und der Aus-
boten international voranschreiten. stieg aus der Atomkraft deswegen notwendig ist. Ihr
Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Die Verhalten in Deauville in dieser Frage ist für uns auch
Länder des demokratischen Aufbruchs in Nordafrika ein Test mit Blick auf Ihre Glaubwürdigkeit hier in
brauchen eine umfassende Unterstützung, die ihre wirt- Deutschland.
schaftliche Situation verbessert und nicht als westliche Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Bevormundung daherkommt. – Dazu gehört ein freier
Warenverkehr in die Europäische Union und in die ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ren G-8-Länder; das gilt insbesondere für landwirt- sowie bei Abgeordneten der SPD)
schaftliche Produkte aus Nordafrika. Dazu gehören
großzügige Möglichkeiten für die Menschen aus Nord- Präsident Dr. Norbert Lammert:
afrika, in der Europäischen Union zu lernen und, zumin- Nun freuen wir uns, dass der Vorsitzende des Auswär-
dest zeitweise, zu arbeiten. Sie müssen mit der Visaver- tigen Ausschusses seinen heutigen Geburtstag mit einer
weigerungspolitik, die Sie in diesem Zusammenhang Rede im Plenum des Deutschen Bundestages für die
betreiben, aufhören. CDU/CSU-Fraktion schmücken möchte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Dazu gehören auch gezielte finanzielle Hilfen durch NISSES 90/DIE GRÜNEN)
die G 8. Die USA haben Ägypten gerade einen Schul-
denerlass in Höhe von 1 Milliarde Dollar zugesagt. Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Gläubiger Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Ägyptens. Auch Sie sollten ganz konkret einen Schul- gen! Zunächst herzlichen Dank für die freundlichen
denerlass zusagen. Glückwünsche.
In eine solche Agenda gehört ebenso eine umfassende Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede
Energiepartnerschaft für erneuerbare Energien, die auch kritisiert, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs-
der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Ein solches Pa- erklärung so oft von Zuhören, von Beitragen und von
ket wäre eine angemessene Reaktion auf die Umbrüche Unterstützen gesprochen hat. Ich bin gerade aus Tunis
12620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Ruprecht Polenz
(A) und Kairo zurückgekommen, wo wir in der vergangenen machen. Ich möchte nur darauf hinweisen – das muss (C)
Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschus- auch auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein –: In Ägypten
ses gewesen sind. Die neuen Kräfte dort, die Menschen, gilt noch immer der Ausnahmezustand. In Ägypten ur-
die auf dem Tahrir-Platz so mutig demonstriert und Kopf teilen Militärgerichte über Demonstranten, und sie ver-
und Kragen riskiert haben und weiter riskieren, erwarten hängen Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren.
genau das von uns, nämlich, dass wir zuhören, dass wir
beitragen und dass wir unterstützen. Es gibt in Ägypten – das ist hier von fast niemandem
kommentiert worden – ein Parteiengesetz zur Registrie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rung neuer Parteien, wonach man nicht nur 5 000 Mit-
des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) glieder braucht – darüber lässt sich ja noch reden –, son-
dern diese Mitglieder müssen sich auch notariell
Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Revolution. Wir wol-
registrieren lassen, ihre Namen werden in den größten
len nicht länger bevormundet werden – weder von unse-
Tageszeitungen Ägyptens veröffentlicht, und sie müssen
rer Regierung noch vom Westen.
eine Geldsumme zahlen.
Deshalb war die Kritik, es sei hier zu wenig aktiv und
mit eigenen Vorschlägen vorgegangen worden, meines Welchen Mut es erfordert, sich in einem solchen Land
Erachtens völlig neben der Sache. Mit einer besserwisse- für eine neue Partei zu entscheiden und mit dem eigenen
rischen Hoppla-jetzt-komme-ich-Außenpolitik würden Namen dafür einzustehen, wenn man vielleicht noch die
wir den Erwartungen und Hoffnungen der arabischen Sorge haben muss, dass daraus die nächste Internie-
Freiheitsbewegung überhaupt nicht gerecht werden. rungsliste wird, wenn die Sache nicht so gut ausgeht, wie
man es sich erhofft, können diejenigen nachempfinden,
Freiheit, Würde, Arbeit: Dafür sind Jung und Alt, die sich öfter mit Systemen beschäftigen, die noch keine
Männer und Frauen überall in der arabischen Welt auf Demokratien sind. All das muss, finde ich, auch auf dem
die Straße gegangen, und sie tun das noch – oft, wie zum Gipfel angesprochen werden.
Beispiel jetzt in Syrien immer wieder, unter Einsatz ihres
Lebens. Wir bewundern diesen Mut, wir teilen diese Der Militärrat hält in Ägypten nach wie vor das Heft
Werte, wir hoffen und wollen helfen, soweit wir können, in der Hand und lässt sich nicht in die Karten schauen.
damit diese Bewegung auch Erfolg hat. Dem arabischen Hier ist Transparenz gefordert. Notwendig ist auch mehr
Frühling müssen ein Sommer und eine Ernte folgen, es Klarheit in der Frage, wie der Übergang organisiert wer-
darf keine neue Eiszeit geben. den soll. Es hat keinen Sinn, Geld in die alten ägypti-
schen Strukturen zu geben. Das will ich an dieser Stelle
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie festhalten.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
(B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (D)
bei Abgeordneten der LINKEN und des
Freiheit, Würde, Arbeit: Die Menschen in Tunesien BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und in Ägypten wollen frei und in Würde leben. Sie wol-
len eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem Das Besondere an der arabischen Revolution ist Ana-
die hohe Jugendarbeitslosigkeit drückt hier besonders. lysen zufolge: Es gibt keinen Führer. Es gibt keine Par-
Deshalb ist es genau der richtige Ansatz, dass jetzt auf tei. Es gibt kein Programm. – Das ist jetzt ein Problem.
dem G-8-Gipfel auch auf Vorschlag der Bundesregie- Man war sich einig in den Forderungen nach einem
rung hierauf ein Schwerpunkt gesetzt wird. Rücktritt von Ben Ali und Mubarak und darin, künftig in
Würde und Freiheit leben zu wollen. Das heißt, keine
Alle Gesprächspartner in Tunis und Kairo haben uns Repression, keine Korruption und kein Nepotismus
gesagt, dass für den Erfolg der arabischen Revolution mehr.
neben der Schaffung demokratischer Institutionen und
rechtsstaatlicher Strukturen vor allen Dingen die Wirt- Aber wie kommt man dahin? Hier setzt die Bera-
schaft entscheidend ist. Deshalb ist es auch gut, dass Tu- tungsaufgabe ein. Dabei leisten die Stiftungen hervorra-
nesien und Ägypten an dem G-8-Gipfel teilnehmen. Da- gende Arbeit. Davon haben wir uns überzeugt. Auch das
mit soll zum Ausdruck gebracht werden: Wir wollen das Goethe-Institut hat in beiden Ländern seine Programme
partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander bespre- so umgestellt, dass es für die Entwicklung in Richtung
chen. Demokratie und Rechtsstaat hilfreich ist.
Man darf aber nicht übersehen: Die beiden Minister- Die Frage ist nun: Was hilft wirtschaftlich? Man muss
präsidenten stehen einer Übergangsregierung vor. Es wissen, dass es in Ägypten einen gigantischen Wasser-
sind eher technokratische Regierungen, wobei die Legi- kopf gibt: Über 45 Prozent der Beschäftigten sind im öf-
timation in Tunesien sicherlich ein beträchtliches Stück fentlichen Dienst. Das bedeutet einen Wust an Bürokra-
höher ist als im Augenblick in Ägypten. Tunesien ist ins- tie und jede Menge Möglichkeiten zum Handaufhalten
gesamt auf einem guten Weg. Dort kann man die Hoff- und zur Korruption, etwa wenn es um Genehmigungen
nung haben, dass die Überleitung in demokratische Insti- geht. Man muss mit der Regierung auch darüber spre-
tutionen gelingt. Bei Ägypten muss man leider sagen: chen, wie man sich hier Änderungen vorstellt.
Das ist noch nicht ganz sicher.
Aber es gibt eine Möglichkeit, wie im Grunde jeder
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Mehr- dazu beitragen kann, dass es in Tunesien und Ägypten
parteiensystem, marktwirtschaftliche Strukturen und wirtschaftlich wenigstens wieder etwas aufwärtsgeht,
Rechtsstaat – davon wollen wir unsere Hilfe abhängig und zwar durch den Tourismus. Der Tourismus hat nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12621
Ruprecht Polenz
(A) nur den Vorteil, dass von dieser Branche ein Großteil der die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss (C)
Wirtschaft abhängt. Selbst wenn vielleicht das eine oder konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will.
andere Hotel in falschem Besitz ist, gibt es über die Be- Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen
schäftigung in der Tourismusbranche auch einen Trickle- Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dia-
down-Effekt, der allen Menschen in diesen Ländern zu- log sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt
gute kommt. – genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen –
begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regie-
Deshalb wäre es sehr wichtig, dass wir uns auch da- rungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundes-
rüber Gedanken machen – das richte ich auch an Ernst kanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht ein-
Hinsken –, wie wir zum Tourismus in Richtung Tunesien gegangen. Das ist schade.
und Ägypten ermutigen können, damit er wieder in die
Gänge kommt. Denn die Sicherheitsprobleme, die zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Zurückhaltung geführt haben, sind, glaube ich, gelöst. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Hier kann jeder, dem die arabische Revolution am Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwick-
Herzen liegt, einen eigenen Beitrag leisten. Er hat auch lungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstratio-
einen Vorteil: Es geht in schöne Länder. nen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten,
was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyp-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf ei-
SES 90/DIE GRÜNEN) nem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet wer-
den und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezo-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die
Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die SPD- Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf euro-
Fraktion. päischer Ebene unterstützend tätig werden.

(Beifall bei der SPD) Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur
die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu ma-
chen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den ver-
Dr. Rolf Mützenich (SPD): gangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind – ich
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus –,
Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozia-
(B) ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deut- lere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den (D)
schen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas Außengrenzen Europas aufgebaut werden.
von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrü-
che nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Um- (Beifall bei der SPD)
brüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Rat-
brauchen wir diese Debatte. schläge, sondern Zeit und Unterstützung.
In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr
Man kann über die Entscheidung der Bundesregie-
klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrü-
rung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolu-
chen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chan-
tion 1973 zu Libyen – das geht quer durch das Haus –
cen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das
unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt,
muss man von einer Regierungschefin erwarten können.
dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach
Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Prä- der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern
sident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum
ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren eu- ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal,
ropäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rück- dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat.
wirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik.
auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vor-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen
und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre loka- Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit ei-
len Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich nem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt.
finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungs- Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Fal-
chefin nicht tun. ken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen.
Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnis-
(Beifall bei der SPD)
partner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl
Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäu- und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde,
gig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken. würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu ei-
Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkri- ner ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche
tik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat ge- Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwalt-
sagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. – Das nur auf schaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht,
12622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Rolf Mützenich


(A) Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Miss- seit Beginn der Unruhen in der arabischen Welt. Es tref- (C)
achtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um die- fen sich acht der weltweit führenden Wirtschaftsnatio-
sen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt. nen. Sowohl der Kommissionspräsident als auch der
Ratspräsident sind dabei. Wir haben die Chance, dass
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
von diesem Gipfel ein starkes Signal ausgeht, dass die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Demokratiebewegungen, die Freiheitsbestrebungen in
Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien voll- den Ländern der arabischen Welt nachhaltig unterstützt
kommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass As- werden.
sad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der
Es ist aber bei weitem noch nicht absehbar, welche
an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit
Entwicklung diese Länder nehmen werden, denn wir ha-
unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich
ben es mit ganz unterschiedlichen Szenarien zu tun.
bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzun-
gen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es In Tunesien und Ägypten sind die früheren Machtha-
richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Euro- ber gestürzt. Es beginnt die Aufarbeitung dieser Vergan-
päischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien voran- genheit auch auf gerichtlichem Wege. Man versucht,
gegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen ent- demokratische Strukturen und rechtsstaatliche Verfah-
sprechenden Beschluss herbeizuführen. rensweisen zu etablieren. Es werden Fahrpläne für verfas-
sunggebende Versammlungen und Wahlen aufgestellt.
Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antwor-
Dies gibt Anlass zur Hoffnung, aber wir müssen noch
ten diskutiert. Ich glaube – das hat gestern der Kollege
eine Menge tun, damit diese Entwicklung unumkehrbar
Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht –,
wird.
dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern,
den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten kön- Daneben stellen wir in Ländern wie Libyen, Syrien,
nen. Gleichzeitig – auch das habe ich in der Rede der Jemen und Bahrain fest, dass die Machthaber mit roher
Bundeskanzlerin vermisst – brauchen wir ein klares Wort Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Das
zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu, sind untragbare Zustände.
dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den
Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an Darüber hinaus ist es bislang in einer Reihe von Län-
dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen, dern, zum Beispiel in Jordanien und Saudi-Arabien, mit
würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen politischen Zugeständnissen gelungen, Proteste zu ver-
in den Transformationsländern am besten unterstützen. meiden; eine Strategie, die erfolgversprechend erscheint.
Die dortigen Machthaber müssen wohl keinen unmittel-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten baren Sturz befürchten, aber der Handlungsbedarf ist
(B) (D)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gleichwohl hoch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass es in
gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen, diesen Staaten eine sehr heterogene Entwicklung gibt, je
welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur nachdem, wie legitim die Herrschaftsformen sind, wel-
Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen che Rolle das Militär spielt und Ähnliches. Es gibt aber
und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre
sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumen- auch übereinstimmende Aspekte, die diese Entwicklun-
tarien „Wandel durch Annäherung“, „gemeinsame Si- gen kennzeichnen: Es handelt sich um Volkswirtschaf-
cherheit“ und „Entspannungspolitik in Zeiten neuer ten, die international kaum wettbewerbsfähig sind. Bei-
Spannungen“ eine Menge beitragen. Ich plädiere für den spielsweise tätigt der Nahe Osten ohne die Ölexporte
Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transforma- Geschäfte mit dem Ausland in einem Umfang, der sich
tion setzen, sondern auch mit den Regierungen, die ver- in etwa auf dem Niveau der Exporte der Schweiz befin-
suchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation det. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, eine junge Bevöl-
her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und kerung, der es an wirtschaftlicher Perspektive mangelt,
Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg. sowie veraltete Bildungssysteme.
Vielen Dank. Diese länderübergreifenden Defizite müssen für uns
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ansatzpunkt sein, Hilfe zu leisten. Die USA und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch die Europäische Union haben erste Schritte unter-
nommen, die Vereinigten Staaten beispielsweise einen
Schuldenerlass für Ägypten in Höhe von etwa 1 Milliar-
Präsident Dr. Norbert Lammert: de Euro. Bei Schulden Ägyptens in Höhe von 190 Mil-
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn liarden Euro ist das zwar überschaubar, aber immerhin.
für die CDU/CSU-Fraktion. Es handelt sich ja nicht nur um eine finanzielle Unter-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stützung, sondern es ist auch eine Anerkennung für die
neten der FDP) Oppositionsbewegung, für die Jugendbewegung, die den
Wandel in diesem Land eingeleitet hat.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Wir als Europäische Union haben die Chance, die Eu-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ropäische Nachbarschaftspolitik endlich vom Kopf auf
Herren! Der nun bevorstehende G-8-Gipfel ist der erste die Füße zu stellen. Wir brauchen keine Funktionärstref-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12623
Thomas Silberhorn
(A) fen, in denen man keine Antenne für das entwickelt, was Bringschuld der Hamas, das Existenzrecht Israels anzu- (C)
sich in den Gesellschaften vor Ort tut, sondern wir müs- erkennen und sich von Radikalisierung und Extremis-
sen bilateral den Kontakt so pflegen, dass wir mitbekom- mus loszusagen.
men, welche Entwicklungen stattfinden, um wirklich
helfen zu können. Wir brauchen maßgeschneiderte Lö- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sungen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik und Herr Kollege Silberhorn.
nicht den Instrumentenkasten, den man über jedes dieser
Nachbarländer stülpt.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Wir leisten enorme finanzielle Hilfe, aber das allein Wenn uns das gelingt, dann in der Tat kann eine
wird nicht reichen; wir brauchen den direkten Kontakt zur Zwei-Staaten-Lösung auf dem Verhandlungsweg ein
Bevölkerung. Deswegen begrüße ich, dass es nun gelingt, Hoffnungsschimmer sein. Ich wünsche, dass auch der
dass wir unter dem Stichwort „Mobilitätspartnerschaft“ G-8-Gipfel jetzt ein Signal setzt, bei diesem Prozess vo-
Reiseerleichterungen gewähren, Zugang zum Arbeits- ranzukommen.
markt gewähren, Beschäftigungsförderung betreiben, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Berufsbildung nach unseren Erfahrungen exportieren.
Das alles kann dazu beitragen, dass eine selbsttragende (Beifall bei der CDU/CSU)
Entwicklung stattfindet, die am Ende auch demokratische
Strukturen fördert. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe,
Wir müssen sehr deutlich machen, dass wir jetzt auf
Bündnis 90/Die Grünen.
der Seite der Freiheitsbewegungen stehen, dass wir De-
mokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern wollen, aber
wir müssen auch zu sichtbaren Ergebnissen kommen; Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
denn Demokratie wird nach meiner Einschätzung nur Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
dann eine Chance haben, wenn sie sich als handlungsfä- Beginn kurz etwas Grundsätzliches: Die G 8 ist ein Aus-
hig erweist, wenn deutlich wird, dass mit den neuen laufmodell – zumindest müsste sie es sein –, weil die
Strukturen die Probleme des Landes tatsächlich besser Musik zunehmend in der G 20 spielt.
gelöst werden können, als das vorher der Fall war. Des- (Jörg van Essen [FDP]: Das hat der Vorsitzende
wegen müssen wir auch die Grundlage für den wirt- der FDP-Fraktion auch schon gesagt!)
schaftlichen Erfolg in diesen Ländern legen.
Doch auch die darf mit Skepsis betrachtet werden, weil
In der Nahostpolitik tut sich jetzt ein Fenster auf, das es nicht ausreicht, den Klub der Reichen um die Neurei- (D)
(B) wir tunlichst nutzen sollten. Ich glaube, dass die Ent-
chen zu erweitern. Auch der G 20 fehlt die Legitimation.
wicklung in der arabischen Welt jetzt nicht als Vorwand
für einen Stillstand im Friedensprozess genommen wer- Deshalb wünschen wir uns in der internationalen
den darf, sondern im Gegenteil jetzt ganz konkrete Er- Strukturpolitik, in der Global Governance einen Reform-
gebnisse angestrebt werden sollten. Präsident Obama hat prozess, der auch die Rolle der Vereinten Nationen
sich dazu bekannt, die Grenzen von 1967 als einen Aus- stärkt. Am Ende könnte dabei zum Beispiel eine G 25
gangspunkt für eine Friedenslösung zu nehmen. Er über- herauskommen, eng verzahnt mit den Vereinten Natio-
nimmt damit den Standpunkt, den die Europäische nen, in der es sowohl ständige als auch nichtständige
Union seit langem vertritt. Aber es ist klar, dass Rege- Mitglieder gibt, die von verschiedenen Ländergruppen
lungen zum Gebietsaustausch das Ergebnis von Ver- gewählt werden;
handlungen sein müssen, wie in anderen offenen Fragen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
auch: Sicherheitsgarantien für Israel, Rückkehrmöglich- der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])
keit für Flüchtlinge. Wir sollten jetzt darauf dringen,
dass ohne Vorbedingungen zügig Gespräche stattfinden denn auch die Repräsentanten der ärmeren Entwick-
und dass nicht durch einseitige Erklärungen mögliche lungsländer müssen beteiligt werden, wenn es darum
Verhandlungen belastet werden. Das gilt sowohl für die geht, die Weichen für die Weltwirtschaft zu stellen. Es
Ausrufung eines palästinensischen Staates wie für den ist unwürdig, sie nach Belieben des jeweiligen Gastge-
Ausbau der jüdischen Siedlungen. berlandes am Katzentisch Platz nehmen zu lassen.
Nach dieser Grundsatzkritik und der Zukunftsvision
Ich glaube, dass es jetzt nicht klug wäre, auf Zeit zu
ein paar Worte zum bevorstehenden Gipfeltreffen: Ich
spielen. Den Umbruch in der arabischen Welt, der Aus-
wünsche mir sehr, dass die G-8-Regierungschefs bei ih-
wirkungen haben wird, der die Gewichte in der Region
ren Beratungen zum Thema „Nordafrika und Mittel-
verändern wird, sollten wir nutzen, um auch zu einer ge-
meerraum“ die Kraft haben, mehr Selbstkritik zu üben.
meinsamen Friedenslösung zwischen Israel und den Pa-
Man feiert jetzt die Demokratiebewegung auf dem
lästinensern zu kommen. Die jüngste Zusammenarbeit,
Nachbarkontinent, hat aber allzu lange Bündnisse mit
das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas,
Despoten geschmiedet und ihnen sogar die Waffen gelie-
sollte kein Hindernis sein. Es sollte nicht als solches ver-
fert, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt wer-
standen werden, sondern als eine Chance; denn Israel hat
den.
bisher beklagt, dass es keinen Ansprechpartner gibt. Die
Hamas sollte nicht isoliert werden, aber es muss auch Hat man aus den Fehlern gelernt? Wenn man sich
klar sein, dass wir Erwartungen an sie richten. Es ist eine jetzt die Gästeliste anschaut, dann darf das bezweifelt
12624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Thilo Hoppe
(A) werden. Wir haben gerade gestern im Entwicklungsaus- Wenn es um Selbstkritik geht, dann sollten wir alle (C)
schuss intensiv über massive Menschenrechtsverletzun- einfach ein bisschen ruhig sein. Ich will gar nicht da-
gen und Landgrabbing in Äthiopien diskutiert. Doch rüber reden, wer mit wem in der großen weiten Welt gut
Premier Meles Zenawi wird nach wie vor von der G 8 Freund ist, wer mit wem in einem Zelt gesessen hat und
hofiert. Ähnliches. Ich glaube, da geben wir uns alle nichts. Es
ist jetzt der falsche Zeitpunkt, darüber lange zu diskutie-
Zu den vielen leeren Versprechungen bezüglich der ren.
Entwicklungsfinanzierung ist hier schon einiges gesagt
worden. Ich will das jetzt auch nicht weiter anprangern, Vor einiger Zeit haben wir hier schon einmal über die
sondern ich halte es für besser, gemeinsam in die Zu- Entwicklung in Tunesien und Nordafrika insgesamt ge-
kunft zu schauen und die Bundesregierung und den Fi- sprochen. Wir haben damals bewundert, was dort ge-
nanzminister zu ermutigen: Haben Sie eigentlich schon schah. Ich bin heute noch voll der Bewunderung und zolle
wahrgenommen, wie viel Unterstützung und Rücken- all den jungen Menschen meinen Respekt, die diese ge-
wind Sie aus diesem Parlament haben könnten, wenn Sie sellschaftlichen Umbrüche in Gang gesetzt haben. Aber
sich einen Ruck gäben und schon für den Haushalt 2012 mit einem kleinen bisschen Stolz sage ich, dass wir als
deutlich mehr finanzielle Mittel für Entwicklungszusam- großer entwicklungspolitischer Geber auch etwas dazu
menarbeit und humanitäre Hilfe bereitstellten? beigetragen haben. Wir haben rechtzeitig mit unseren
Partnerländern entsprechende Strukturen vor Ort aufge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) baut, sei es Verkehrsinfrastruktur, seien es Krankenhäuser
oder Schulen. All dies ist schon einmal die Basis für eine
Nach dem heutigen Stand haben 349 Parlamentarier freiheitliche gesellschaftliche Entwicklung. Insofern ist
aus allen fünf Bundestagsfraktionen einen Aufruf der Entwicklungspolitik nicht nur eine vorbeugende Maß-
Entwicklungspolitiker zu einem entwicklungspolitischen nahme, sondern sie kann auch im Nachhinein helfen. Vor-
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels unter- beugend ist die Entwicklungspolitik, weil sie – ich glaube,
schrieben. Es gibt also eine zumindest dokumentierte wir Entwicklungspolitiker sollten in diesem Punkt selbst-
klare Mehrheit hier im Parlament, den schönen Worten bewusst genug sein – Frieden und Sicherheit in der Welt
endlich Taten, das heißt auch ganz konkret, andere Haus- vielleicht nicht in vollem Umfang gewährleistet, aber zu-
haltszahlen folgen zu lassen. Das wäre ein starkes Si- mindest in Gang setzt.
gnal, wenn es wirklich klappen könnte, noch vor der
Sommerpause zu diesem fraktions- und parteiübergrei- Die deutsche Entwicklungspolitik ist hervorragend
fenden entwicklungspolitischen Konsens zu kommen, aufgestellt, zum einen durch ihre Durchführungsorgani-
und zwar auch gegenüber Afrika, dem Nachbarkonti- sationen, aber zum anderen durch ihre massive Unterstüt-
nent. Das würde unsere Glaubwürdigkeit stark steigern. zung der politischen Stiftungen und der Kirchen sowie
(B) (D)
der Vielzahl und Vielfalt der Nichtregierungsorganisatio-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen. Gerade die politischen Stiftungen, gerade die Kir-
sowie bei Abgeordneten der SPD) chen haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu unterrichten,
sie zu informieren und sie zu stärken, gesellschaftspoliti-
Präsident Dr. Norbert Lammert: sche Veränderungen zu unterstützen, sofern sie da sind,
oder sie vielleicht sogar in Gang zu setzen, um die Ent-
Sibylle Pfeiffer ist die nächste Rednerin für die CDU/
wicklungszusammenarbeit zum Erfolg zu führen.
CSU-Fraktion.
Der Kampf für Freiheit verdient immer unsere Unter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stützung. Deshalb ist die Frage: Wie richten wir unsere
Entwicklungszusammenarbeit aus, und wie kann die
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Neuausrichtung der jetzigen Bundesregierung zum Bei-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als spiel in den Ländern Nordafrikas wirksam sein? Ich
der G-8-Gipfel geplant wurde, hat noch niemand ge- setze sehr darauf, dass eine Erholung der gesellschaftli-
wusst, welche Veränderungen und gesellschaftlichen chen Strukturen, eine Stabilisierung der demokratischen
Umbrüche in Nordafrika stattfinden werden. Lieber Kol- Bewegung nur über den wirtschaftlichen Erfolg zu errei-
lege Hoppe, wenn zu diesem Zeitpunkt ein G 25 oder ein chen ist. Wenn wir den jungen Menschen durch Arbeits-
G 20 oder G 7 oder was auch immer geplant worden plätze und Ausbildung Perspektiven eröffnen, dann ist
wäre, wäre es nicht anders. Wichtig ist doch, dass wir das richtig und gut. Deshalb begrüße ich sehr, dass vor
über das Thema reden und eine Möglichkeit finden, die allen Dingen die DIHK und der BDI mit den vorhande-
Menschen vor Ort zu unterstützen. Wenn es darum geht, nen Unternehmen vor Ort Ausbildungs- und Arbeits-
Selbstkritik an der Zusammenarbeit mit wem auch im- plätze zur Verfügung stellen wollen.
mer zu üben, lieber Kollege Hoppe, dann sage ich Ihnen: Aber wir können in der Entwicklungszusammenarbeit
Wir können uns unsere Partner manchmal nicht aussu- noch mehr leisten: Wir können Unternehmensgründun-
chen. Manchmal müssen wir über Schatten springen, die gen vor Ort unterstützen. Das gelingt uns gut mit Start-
wir vielleicht auch als Schatten erkennen. Aber um den ups, wie wir es neudeutsch nennen, mit Unternehmens-
Menschen zu helfen, ist es manchmal vielleicht richtig, und Existenzgründungsdarlehen und Ähnlichem. Das al-
einfach etwas zu tun. les können wir unterstützen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir Entwicklungspolitiker wissen allerdings, dass wir
GRÜNEN]: Um Geschäfte zu machen!) ohne die Mitnahme der Gesellschaft vor Ort und ohne
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12625
Sibylle Pfeiffer
(A) die Kooperation mit den entsprechenden Regierungen Ich erinnere nur an Botsuana, das als eines der ersten (C)
kein Stück weiterkommen. Deshalb ist das, was jetzt in Länder seine Rohstoffe zertifiziert, damit den Haushalt in
Deauville geschieht – dabei hat die Frau Bundeskanzle- Ordnung gebracht und in Bildung, Gesundheit und Infra-
rin unsere volle Unterstützung –, ein ganz wichtiger struktur investiert hat und damit eigentlich kein Nehmer-
Schritt. Ein Kommuniqué der G 8 mit den Ländern Nord- land mehr ist. Ich erinnere an Ghana, wo die soziale
afrikas auf Augenhöhe, wobei deren Verantwortung ge- Marktwirtschaft in Teilbereichen unter Präsident Kufuor
nauso eingefordert wird, wie wir unsere Verpflichtungen eingeführt worden ist, wo es einen demokratischen Wech-
eingehen – seien es Zusagen, seien es die Mittelbereit- sel durch demokratische Wahlen gegeben hat. Diese Län-
stellung und Ähnliches –, das ist der richtige Weg. Nur der können sich andere afrikanische Länder zum Vorbild
in Kooperation werden wir erfolgreich sein. Wir alleine nehmen.
können es nicht schaffen, aber sie allein auch nicht. Des-
halb bieten wir unsere Unterstützung beim Aufbau von Eine besondere Herausforderung ist, dass wir versu-
industriellen, von ökonomischen Strukturen an, die die chen, den Begriff der wertgebundenen Politik in unsere
Freiheit unterstützen, die aber auch den jungen, zurzeit Verhandlungen mit den Regierungen aufzunehmen. Des-
perspektivlosen Menschen die Aussicht eröffnen, sich halb, lieber Kollege Hoppe, stimme ich in einem einzi-
und ihre Familien ernähren zu können. Damit unterstüt- gen Punkt nicht mit Ihnen überein. Sie haben eben das
zen wir sie für die Zukunft in ihren Ländern. Thema Äthiopien angesprochen und unseren Umgang
mit Meles Zenawi erwähnt. Ich und andere aus den Ko-
Das ist Aufgabe der Entwicklungspolitik. Deshalb un- alitionsfraktionen und der Regierung haben ihn nicht ho-
terstützen wir die G 8 in ihren Bemühungen, dies auch fiert. Auch Horst Köhler hat ihn nicht hofiert. Es ging
mittels Partnerschaften umzusetzen. Ich bin sicher, dass einzig und allein darum, auch mit solchen Staatschefs
wir erfolgreich sein werden. Gespräche zu führen.
Vielen Dank. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber welche!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das hat nichts mit Hofieren zu tun. Wir dürfen aber auch
nicht in Sprachlosigkeit verharren; denn nur durch Dia-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
log schaffen wir es, auch dort neue Wege aufzuzeigen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg
van Essen [FDP]: Genau so ist es!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere He-
(B)
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): rausforderung stellt die demografische Entwicklung dar. (D)
Schauen wir uns einmal die Bevölkerungszahlen an – ich
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen berufe mich dabei auf die Zahlen der Deutschen Stiftung
und Kollegen! Wenn man als letzter Redner spricht, Weltbevölkerung –: In Afrika leben zurzeit 1 030 Millio-
dann ist eigentlich alles gesagt worden, nur noch nicht nen Menschen. Es werden bereits 2025 1 412 Millionen
von jedem. Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin und im Jahr 2050 2 084 Millionen Menschen sein. Das
sowie beim Kollegen Niebel, der die Zeitenwende er- bringt Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Er-
kannt, sofort Gespräche geführt und Entscheidungen ge- nährung und damit der ländlichen Entwicklung sowie
troffen hat, gerade in Bezug auf berufliche Bildung und Energieversorgung mit sich.
auf Wirtschaftspartnerschaften. Ich danke in diesem Zu-
sammenhang in ganz besonderer Form den Stiftungen Lassen Sie mich bezüglich Wasser ein Beispiel heraus-
unserer Parteien, die sich dort vor Ort in diesen Monaten greifen – hier müssen wir auch unsere Bevölkerung mit-
außerordentlich engagiert haben, um die Demokratie- nehmen –: Eine Stadt wie Lagos hat eine Kläranlage für
bewegung mit zu unterstützen. 350 000 Einwohner, die 1950 gebaut wurde. Jetzt hat La-
gos 16 bis 18 Millionen Einwohner. Damit geht fast alles
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Abwasser in die Lagunen, dann in den Atlantik und
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE kommt irgendwann bei uns an. Wir müssen das unserer
GRÜNEN) Bevölkerung deutlich machen, damit sie bereit ist, Ent-
Ich habe eben gesagt, es ist noch nicht alles von allen wicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit Afrika
gesagt worden. Deshalb richte ich meinen Blick auf entsprechend zu unterstützen.
Afrika insgesamt. Der Ruf nach Freiheit und Demokra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tie, den wir in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern
in der Region erleben, kann Auswirkungen auf den ge- Meine Damen und Herren, diese christlich-liberale
samten Kontinent Afrika haben. Die Menschen wollen Koalition und Dirk Niebel haben ganz deutlich gesagt:
andere Lebensbedingungen. Sie wollen Teilhabe in ihren Schwerpunkte werden wir in den Bereichen Wasser,
Ländern. Diese Teilhabe wird ihnen in vielen Ländern ländliche Entwicklung und Bildung setzen. Je gebildeter
verwehrt. Wir haben die Verantwortung, dass wir Afrika die junge Generation ist – der Anteil der jungen Genera-
als Chancenkontinent in unseren Partnerschaften begrei- tion unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Afrika
fen. Chancenkontinent heißt, dass wir deutlich machen, beträgt zurzeit 40 Prozent –, desto mehr Teilhabe will sie
dass es auch afrikanische Länder gibt, die seit Jahren haben und desto eher wird sie nachhaltige Entwicklung
vorbildliche Entwicklungen durchmachen. als Chance für die eigene Heimat begreifen. Auch das ist
12626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Hartwig Fischer (Göttingen)


(A) eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stel- Es hat dem Gesetzgeber eine Bearbeitungsfrist von drei (C)
len müssen. Hierfür tragen wir Verantwortung. Hier Jahren eingeräumt. Diese läuft in sechs Wochen ab. Wir
müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union stellen fest:
Schwerpunkte setzen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
All dies bietet Entwicklungsmöglichkeiten für den GRÜNEN]: Nichts ist!)
Chancenkontinent Afrika. Ich bitte Sie einfach einmal,
Am Ende dieser drei Jahre stehen wir fast genau dort, wo
die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die die Deutsche
wir zu Beginn gestanden haben. Es gibt keine Mehrheit
Stiftung Weltbevölkerung ermittelt hat und die auch
im Deutschen Bundestag für ein verfassungskonformes
Auswirkungen auf uns hat, genauer anzusehen. Dann se-
Wahlrecht. Ich finde, das ist eine grobe Missachtung der
hen Sie, welche Herausforderungen sich für Afrika, aber
Rechtsprechung des Gerichtes durch die Mehrheit in die-
auch für uns als Nachbarkontinent stellen. Unterstützen
sem Hause.
Sie dabei diese christlich-liberale Koalition!
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Herzlichen Dank.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben eine Nachspielzeit von drei Jahren bekom-
men. Aber Sie haben die Uhr einfach ablaufen lassen
Präsident Dr. Norbert Lammert: und haben nichts gemacht. Ich finde, das ist eine un-
Ich schließe die Aussprache. glaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit, die
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Sie an den Tag legen.
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
17/5951. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt. Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht,
der Schönheitsfehler haben mag.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
(Jörg van Essen [FDP]: Gravierende
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- Schönheitsfehler!)
gebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Geset-
zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes Aber er würde uns helfen, ein verfassungskonformes
Wahlrecht zu schaffen. Die SPD legt heute einen Gesetz-
– Drucksache 17/5895 – entwurf für ein verfassungskonformes Wahlrecht vor.
Überweisungsvorschlag: Sogar die Fraktion Die Linke hat einen Gesetzentwurf
(B) (D)
Innenausschuss (f) eingebracht.
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Der gefällt
Rechtsausschuss Ihnen?)
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Dass Sie sich als Regierungskoalition ausgerechnet von
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina den Linken in Sachen Verfassung und Wahlrecht überho-
Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar len lassen,
Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Lesen Sie
nes Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes doch erst einmal den Gesetzentwurf!)
und zur Reformierung des Wahlrechts spricht eindeutig gegen Sie.
– Drucksache 17/5896 – (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Überweisungsvorschlag: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimm-
Geschäftsordnung gewicht beanstandet. Das ist in der Tat eine paradoxe Er-
Rechtsausschuss
scheinung in unserem Wahlrecht. Es hätte bei der Nach-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch wahl in Dresden dazu geführt, dass die CDU, wenn sie
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kräftig Zweitstimmen hinzugewonnen hätte, ein zusätz-
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. liches Listenmandat in Sachsen gewonnen hätte. Sie
hätte dann aber ein Mandat in Nordrhein-Westfalen ver-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst loren. Allerdings wäre dieses Mandat in Sachsen gar
der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. nicht zu Buche geschlagen; denn in Sachsen hatte die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) CDU sogenannte Überhangmandate. Deshalb wäre in
der Konsequenz ein Überhangmandat lediglich in ein
Listenmandat umgewandelt worden. Unter dem Strich
Thomas Oppermann (SPD):
hätte die Union ein Mandat, und zwar in Nordrhein-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
Westfalen, verloren.
vor der letzten Bundestagswahl hat das Bundesverfas-
sungsgericht das Bundeswahlgesetz überprüft und ist zu Das bedeutet: Ein Zuwachs an Zweitstimmen kann
dem Ergebnis gekommen, dass es verfassungswidrig ist. zum Verlust von einem Mandat führen. Das Bundesver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12627
Thomas Oppermann
(A) fassungsgericht sagt, dass das nicht sein darf. Wenn die politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg (C)
Wählerinnen und Wähler nicht mehr sicher sein können, hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württem-
ob sie mit ihrer Stimmabgabe ihrer Partei nützen oder berg hat jetzt zwar eine gute Regierung; aber das ist noch
schaden, dann ist das Vertrauen in das Wahlrecht in der lange kein Grund dafür, dass diese Region hier im Deut-
Tat beeinträchtigt und dann muss dieser Fehler korrigiert schen Bundestag mit zehn Mandaten überrepräsentiert
werden. sein sollte.
Das negative Stimmgewicht hat aber nur eine be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
grenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit DIE GRÜNEN)
ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr.
Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommuni- Drittens. Die Überhangmandate verletzen die Chan-
zierende Röhren, die das immer ausgleichen. cengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Die
SPD braucht für ein Bundestagsmandat 68 500 Stimmen,
Eine viel gravierendere Verzerrung der Wirkung von die CSU 62 000 Stimmen, die CDU nur 61 000 Stim-
Wählerstimmen kommt durch die Überhangmandate zu- men. Es ist kein faires Wahlrecht, wenn einzelne Par-
stande. Sie sind das eigentliche Problem. Wir kennen teien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen als an-
Überhangmandate seit Bestehen der Bundesrepublik dere.
Deutschland. Vor 1990 waren es allerdings nie mehr als
sechs Überhangmandate. Seit der Vereinigung ist ihre Der vierte Punkt ist im Hinblick auf die Verfassungs-
Zahl gewachsen. Heute haben wir bei einem Fünf-Par- widrigkeit der Überhangmandate am gravierendsten. Die
teien-System 24 Überhangmandate im Deutschen Bun- Überhangmandate können die Mehrheiten im Deutschen
destag, so viel wie noch nie zuvor. Diese 24 Überhang- Bundestag umdrehen. Das heißt, eine Minderheit der
mandate entfielen ausschließlich auf die Union. Das Stimmen kann zu einer Mehrheit der Mandate führen.
bedeutet: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen, Die Überhangmandate können hierfür den Ausschlag ge-
die man normalerweise braucht, um diese Anzahl der ben. Spätestens wenn das passiert – meine Damen und
Mandate zu gewinnen, musste sich die Union verdienen. Herren, da bin ich ganz sicher –, werden die Wählerin-
Sie hat sie extra obendrauf bekommen. nen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit
unserer Demokratie verlieren. Das kann dann eine
Das Bundesverfassungsgericht – das muss man natür- Staats- und Verfassungskrise auslösen, über die sich nie-
lich klar einräumen – hat bisher noch nicht eindeutig die mand freuen kann.
Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate festge-
stellt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ganz im DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE
(B) LINKE]) (D)
Gegenteil!)
aber schon in seiner ersten Entscheidung klar ausgeführt, Deshalb müssen wir dieses Problem ernst nehmen.
dass bei Überhangmandaten die Wähler der entsprechen- Alle Experten sagen, dass die Zahl der Überhangman-
den Kandidaten ausnahmsweise ihr Stimmgewicht ver- date im Fünf-Parteien-System weiter anwachsen wird,
doppeln können und dass das nur in engen Ausnahme- von 24 in Richtung 50 oder 60. Das ist eine ernstzuneh-
grenzen zulässig ist. In einer anderen Entscheidung hat mende Bedrohung.
es gesagt: Wenn sich der Anteil der Überhangmandate Wir müssen wissen: Das Wahlrecht ist nicht irgendein
allerdings der 5-Prozent-Marke nähert, dann wird es ver- Recht, das beliebig gestaltet werden kann. Das Wahl-
fassungsrechtlich kritisch. Genau dahin bewegen wir recht ist neben der Freiheit der Person und der Mei-
uns: 24 Mandate sind noch keine ganzen 5 Prozent, aber nungsfreiheit für die Demokratie schlechthin konstituie-
wir haben hier jetzt Überhangmandate fast in Fraktions- rend: In der Demokratie liegt die Macht beim Volk; der
stärke; das ist wie eine sechste Fraktion im Deutschen Wahlakt ist die Übertragung dieser Macht vom Volk auf
Bundestag. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das Parlament. Der Wahlakt muss deshalb klar, einfach
Überhangmandate in dieser Größenordnung aus vier und sauber sein; vor allen Dingen muss er manipula-
Gründen verfassungswidrig sind: tionsfrei gestaltet sein. Er ist verbunden mit dem glei-
Erstens. Sie verleihen manchem Wähler ein doppeltes chen Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; dieses
Stimmgewicht: Ein Teil der Wähler kann mehr Abgeord- gleiche Wahlrecht ist im Augenblick nicht mehr gewähr-
nete in den Deutschen Bundestag wählen als andere leistet.
Wähler. Das ist eine Wirkung, die wir schon einmal in
Wir sagen deshalb: Ein verfassungskonformes Wahl-
Deutschland hatten: beim vorkonstitutionellen Wahl-
recht muss nicht nur das negative Stimmgewicht beseiti-
recht in Preußen.
gen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren.
Zweitens. Die Überhangmandate führen zu einer mas- Hier gibt es mehrere Wege. Die Grünen wollen die Über-
siven regionalen Ungleichverteilung der Mandate und hangmandate nach ihrem Entwurf mit Mandaten auf den
damit zu unterschiedlichem politischem Einfluss der Landeslisten anderer Länder verrechnen. Das ist nicht
verschiedenen Regionen. Die CDU in Baden-Württem- unproblematisch, weil auch das zu einer regionalen Un-
berg hat bei der letzten Wahl mit rund 34 Prozent der gleichverteilung des politischen Einflusses führen
Zweitstimmen fast 50 Prozent der Mandate gewonnen, würde. Außerdem könnte man CSU-Mandate nicht ver-
davon zehn Überhangmandate. Das politische Gewicht rechnen, weil die CSU eine eigenständige Landesliste
der zehn Überhangmandate ist fast genauso groß wie das aufstellt.
12628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Thomas Oppermann
(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen alles tut, um der Union die Überhangmandate zu si- (C)
NEN]: Dafür haben wir auch eine Lösung!) chern. Die FDP hat zwar ein bisschen unter dem Image
gelitten, eine Partei der Egoisten zu sein, dass Sie jetzt
Man müsste dann der CSU direkt gewählte Mandate
aber so altruistisch sind, dass Sie sogar zur Machtabsi-
wieder abnehmen. Auch das ist problematisch. Die Lin-
cherung der Union beitragen wollen
ken legen einen Entwurf vor, in dem dieses Modell mit
dem SPD-Modell kombiniert wird. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Tief
gesunken, die FDP!)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie können
alle zustimmen!) und für ein Wahlrecht eintreten, das Ihrer Partei über-
haupt nicht hilft, wundert mich sehr. Dieses Wahlrecht
Unser Modell sieht vor, die Überhangmandate auszu-
hilft den kleinen Parteien gar nicht. Sie bekommen zwar
gleichen, sodass die Proportionalität des Zweitstimmen-
Ausgleichsmandate, aber keine Überhangmandate.
ergebnisses wiederhergestellt werden kann.
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wer redet
(Beifall bei der SPD) jetzt machtpolitisch? – Dr. Günter Krings
Ausgleichsmandate gewährleisten, dass die Stimm- [CDU/CSU]: Eine machtpolitische Rede hal-
abgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich ten Sie!)
nützt. Die Wählerinnen und Wähler können bei der Deshalb möchte ich Sie bitten: Kehren Sie zurück
Stimmabgabe dann wieder sicher sein, dass ihre Stimme
der Partei, die sie gewählt haben, im Endeffekt zugute (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Zur
kommt. Wir sehen natürlich ganz klar die Gefahr, dass Sache!)
der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate
an den Verhandlungstisch. Sie haben mit uns zwar Ge-
größer werden kann. Wir sehen aber nicht tatenlos zu.
spräche geführt, aber wir hatten den Eindruck, dass die
Dieser unerwünschte Effekt kann korrigiert werden.
Gespräche nur geführt wurden, um Zeit zu schinden. Da-
Deshalb sagen wir: Vor der übernächsten Bundestags-
für stehen wir nicht zur Verfügung. Wir haben jetzt einen
wahl kann man auswerten, wie sich die Ausgleichsman-
Entwurf auf den Tisch des Hauses gelegt. Dazu kann es
date ausgewirkt haben. Wir wären dann bereit, durch
jetzt eine Anhörung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie
eine maßvolle Reduzierung der Direktwahlkreise eine
noch vor Ablauf der Frist wenigstens einen Entwurf vor-
Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen. Auf die-
legen.
sem Weg würden wir gleichzeitig einen Umstand her-
stellen, der die Entstehung von Überhangmandaten ten- Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit vor einem Al-
denziell verhindern kann. leingang warnen. Ein Konsens im Wahlrecht ist für un-
(B) sere Demokatie wichtig. (D)
Die Koalition überlegt immer noch. Sie hat noch im-
mer keine Einigung gefunden. Das liegt natürlich daran, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dass sie das Wahlrecht in erster Linie als Instrument zur DIE GRÜNEN)
Machtabsicherung betrachtet.
Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihr Modell durchbringen
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nicht von wollen, dann können wir nicht ausschließen, dass wir
sich auf andere schließen!) uns in Karlsruhe wiedersehen. Dann wird das Bundes-
verfassungsgericht vielleicht final Gelegenheit bekom-
Die Union möchte um jeden Preis die Überhangmandate men, ein abschließendes Wort zur Verfassungswidrigkeit
behalten. Ich rufe Ihnen zu: Letztes Mal haben Sie zwar der Überhangmandate zu sagen.
reichlich Überhangmandate gehabt, wie das beim nächs-
ten Mal sein wird, wissen wir aber nicht. Vielen Dank.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eben!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In der Vergangenheit hat auch die SPD von Überhang-
mandaten profitiert.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Viel Vielen Dank, Kollege Thomas Oppermann. – Jetzt für
häufiger!) die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter
Immer haben aber nur CDU und SPD davon profitiert, Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Krings.
nie die Grünen, nie die FDP und nie die Linkspartei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb sagen wir: Wenn die Überhangmandate all diese
kritischen Wirkungen haben, dann wollen wir davon
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
nicht profitieren. Wir wollen auf diese Chance verzich-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-
ten, indem wir die Überhangmandate ausgleichen.
tieren heute auf Antrag von SPD und Linken über das
Ich kann verstehen, dass die Union sich angesichts ei- Wahlrecht. Ich will Ihnen, Herr Oppermann, und allen
ner laut demoskopischer Untersuchungen schrumpfen- anderen Kollegen eines vorweg sagen: So weit Sie kriti-
den Zustimmung und angesichts der schlechten Land- sieren, dass die Koalitionsfraktionen zu lange brauchen,
tagswahlergebnisse an diesen Überhangmandaten um einen ausformulierten Gesetzentwurf zu diesem
festklammern will. Was ich aber nicht verstehen kann, Thema vorzulegen, gebe ich Ihnen recht. Dieser Kritik
Herr Brüderle, ist, dass die FDP in diesen Verhandlun- kann und will ich nicht entgegentreten. Auch ich hätte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12629
Dr. Günter Krings
(A) mir gewünscht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt deutlich Kommen wir zunächst zum Vorschlag der Grünen, (C)
weiter wären. die ihn heute nicht zur Debatte stellen, die ihn vielmehr
vor einigen Wochen vorgelegt haben.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sehr gut!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Schon in der letzten Legislaturpe-
Aber ich möchte Ihnen auch Folgendes sagen: Sie
riode! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
sollten vermeiden – zum Schluss klang es ein wenig so,
DIE GRÜNEN]: Zahlreiche!)
als ob Sie das tun könnten –, bei diesem Thema in Oppo-
sitionsreflexe zu verfallen. Sie haben zu Recht darauf Übrigens legen Sie Vorschläge immer nur dann vor,
hingewiesen, dass man versuchen muss, mit allen Frak- wenn Sie in der Opposition sind; in Regierungszeiten ha-
tionen zu sprechen. Hierfür gab es durchaus schon An- ben Sie es nie geschafft, Ihren Koalitionspartner zu ei-
gebote. Hier sind eben nicht nur die Regierungsfraktio- nem Vorschlag zu überreden. Aber das sei dahingestellt.
nen, sondern alle Fraktionen in diesem Hause gefragt,
dieses schwierige Problem „negatives Stimmgewicht“ in Sie wollen Überhangmandate auf anderen Landeslis-
den Griff zu bekommen und Lösungsvorschläge zu ma- ten kompensieren, sie durch Verrechnungen ausgleichen.
chen. Nur: Es reicht eben nicht, irgendeinen Gesetzent- Im Klartext: Ihr Vorschlag geht dahin, dass an sich bereits
wurf vorzulegen, wie das inzwischen alle drei Fraktio- auf Landeslisten gewählte Abgeordnete ihr Mandat wie-
nen auf der linken Seite dieses Hauses gemacht haben, der verlieren, weil in einem anderen Bundesland Über-
sondern es muss etwas vorgelegt werden, was verfas- hangmandate eingetreten sind. Wie die anderen Fraktio-
sungskonform, transparent und fair ist. nen ignorieren Sie dabei, dass die Überhangmandate
überhaupt nicht das Problem sind, das das Bundesverfas-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sungsgericht uns zur Lösung aufgetragen hat.
NEN]: Wir sitzen in der Mitte! Sie sind wohl
einäugig, Herr Kollege!) (Gabriele Fograscher [SPD]: Und Ihr Vor-
schlag?)
Fair heißt: fair zwischen den verschiedenen Parteien und
fair zwischen den verschiedenen Regionen in Deutsch- Wir sind aber sehr dafür, nur die Probleme zu lösen, die
land. Ich kann es vorwegnehmen: Alle drei Gesetzent- uns von Karlsruhe zur Lösung aufgetragen wurden, und
würfe erfüllen diese Mindestvoraussetzungen für Wahl- nicht irgendwelche imaginären Probleme.
rechtsanträge eindeutig nicht.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – NEN]: Sie entstehen aber durch Überhang-
Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben den mandate!)
(B) Antrag nicht verstanden!) (D)
Eine weitere Verschlimmbesserung geht dahin – der
Insofern verstärkt das noch die von Ihnen geäußerte Kollege Mayer wird nachher dazu noch etwas ausführli-
Kritik – und auch meine Selbstkritik – daran, dass wir cher sprechen –, dass Sie dann, wenn dieser Ausgleich
als Regierungsfraktionen noch nicht geliefert haben: Wir nicht ausreicht, sogar den direkt in Wahlkreisen gewähl-
hätten Ihnen allen bei den Entwürfen, die Sie vorgelegt ten Abgeordneten ihr Mandat wieder abnehmen wollen.
haben, eine Blamage ersparen können. Wir hätten Sie
davor bewahren müssen, solchen Unsinn vorzulegen, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wie er von Ihnen kam. NEN]: Wir lassen sie erst gar nicht antreten!
Das ist was anderes!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, Versager! – Hans-Christian Ströbele Das ist ein Vorschlag, der an Demokratiefeindlichkeit
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eindeutig eine nicht zu überbieten ist. Ein solches Wahlrecht hat es
Flucht nach vorn!) nicht einmal – wir haben es eben erwähnt – im Preußi-
schen Landtag oder im Deutschen Reichstag gegeben.
Wir haben, das bekenne ich freimütig, unsere Fürsorge- Damit gehen Sie zurück in vordemokratische Zeiten. So
pflicht Ihnen gegenüber nicht erfüllt. etwas werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
(Thomas Oppermann [SPD]: Nichts auf der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Pfanne, aber andere heruntermachen! – Wolfgang neten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜND-
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schä- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es aber
men Sie sich und treten ab!) gut! Selber nichts gebacken bekommen und
Ich will Ihnen noch einmal die Probleme aufzeigen. dann von „vordemokratisch“ reden!)
Ich will kurz einen Entwurf nach dem anderen an-
Die Folgen dieser grünen Ideen sind, dass ganze
schauen, damit ich darlegen kann, warum diese drei Ent-
Wahlkreise eventuell ohne jeden Vertreter im Bundestag
würfe allesamt untauglich sind.
bleiben. Ein Land wie Brandenburg beispielsweise, in
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und dem 350 000 Menschen CDU wählen, stünde am Ende
wo ist Ihr Vorschlag?) eventuell ganz ohne einen CDU-Abgeordneten im Deut-
schen Bundestag da.
Meine Damen und Herren, gemeinsam können wir aus
diesen drei Entwürfen lernen, wie man es nicht macht. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da
Auch das ist schon ein gewisser Fortschritt. würde nichts passieren!)
12630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Günter Krings


(A) Das ist demokratie- und proporzfeindlich. Bei Ihrem Das hat ja in der DDR schon einmal gut funktioniert. (C)
Vorschlag kann so etwas durchaus passieren. Es wäre Wenn man mit dem Volk nicht einverstanden ist, löst
fast schon bei der letzten Bundestagswahl passiert, wenn man das alte Volk auf und wählt sich ein neues Volk.
Ihr Wahlrecht gegolten hätte. In Wahrheit geht es Ihnen
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Er hat selber
nicht um die Lösung des Problems des negativen Stimm-
keinen Plan und fängt hier an, abzulenken! So
gewichts. Es geht Ihnen darum, das Projekt „Abschaffen
eine Pfeife!)
der Überhangmandate“ – ein ganz anderes Projekt – zu
forcieren. In diesem Zusammenhang sind wohl Ihre Vorschläge
zum Ausländerwahlrecht zu sehen. Sie verlangen, dass
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausländer, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt ha-
NEN]: Das hängt zusammen!)
ben, ohne Weiteres das Wahlrecht erhalten.
Das ist, wenn man so will, ein Kapern der Gerichtsent-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
scheidung für Ihre eigennützigen Zwecke.
Das ist verfassungswidrig und offensichtlich ein Verstoß
Dass dieses Thema – Aberkennung von gewonnenen
gegen Art. 20 des Grundgesetzes. Für eine philologisch-
Mandaten – offenbar doch gefährlich ist und uns das
juristische Nachhilfestunde fehlt mir die Zeit.
durchaus drohen könnte, sieht man daran, dass eine
zweite Fraktion in diesem Hause, nämlich die Linksfrak- (Zurufe von der SPD: Oh!)
tion, einen ähnlichen Vorschlag vorlegt. Auch dieser
Vorschlag führt dazu, dass Länder doppelt bestraft wür- „Demokratie“ kommt von „Demos“, das heißt „Volk“,
den, indem sie – das hat Herr Oppermann durchaus rich- „Staatsvolk“. Das Staatsvolk sind die Bürger der Bun-
tig gesagt – zusätzlich benachteiligt würden, weil sie als desrepublik Deutschland. So steht es in Art. 20 unseres
Steinbruch für Länder mit Überhangmandaten dienen Grundgesetzes.
sollen. Das ist ein föderal ungerechtes System, das wir (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Mal einen ei-
nicht akzeptieren können. genen Vorschlag vorlegen! Ein bisschen mehr
Aber die Linken wären ja nicht die Linken, wenn sie Nachdenklichkeit!)
nicht diesem Unsinn noch einige absurdere Vorschläge Sie sollten zumindest einmal in diesen Grundartikel un-
hinzufügen würden. Sie wollen zum Beispiel das Wahl- serer Verfassung schauen. Auch ich bin sehr dafür, dass
alter auf 16 Jahre heruntersetzen. Zuwanderer bei der Bundestagswahl wählen können,
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. aber erst, nachdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beantragt und erhalten haben. Dazu haben wir geringe
(B) NEN]) Hürden. Wir haben immer noch eines der liberalsten (D)
Einbürgerungsrechte in ganz Europa.
Was das nun mit der Karlsruher Entscheidung zu tun hat,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mag jeder für sich beurteilen. Wir sind als Union und als
Koalition der Auffassung: In unserem Land gehören Bei einem dritten Vorschlag der Linken stockt einem
Rechte und Pflichten zusammen. wirklich der Atem. Der eigentliche Schwerpunkt Ihres
Gesetzentwurfs ist – das sieht man, wenn man die Zahl
(Beifall bei der CDU/CSU)
der zu ändernden Paragrafen betrachtet; Sie wollen über
Es ist schon bemerkenswert, dass eine Fraktion, die 20 Paragrafen ändern –, dass Sie ein flächendeckendes
ansonsten nicht einmal den Erwachsenen mündige Ent- aktives und passives Wahlrecht für alle verurteilten
scheidungen, etwa im Verbraucherrecht, zutraut, Straftäter in Deutschland erreichen wollen. Ihr Schwer-
punkt in der politischen Agenda beim Wahlrecht ist of-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bitte? fenbar, verurteilte Straftäter wählen zu lassen.
Wie kommen Sie denn darauf?)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist
auf einmal Jugendliche und Kinder entscheiden lassen eine juristische Folgeentscheidung!)
möchte.
Man kann jetzt darüber spekulieren, dass eine Partei, die
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: aus einem Staat hervorgegangen ist, der zum Teil von
Bravo!) Verbrechern geführt worden ist, es für besonders demo-
Hören Sie endlich damit auf, Erwachsene wie Kinder kratisch hält, dass verurteilte Straftäter gewählt werden
und Kinder wie Erwachsene zu behandeln! können und wählen dürfen. Dass beispielsweise ein ver-
urteilter Mörder bei einer Bundestagswahl Wahlrecht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – hat, scheint Ihnen wichtig zu sein. Auch dass ein verur-
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bil- teilter Sexualstraftäter bei der Bundestagswahl kandidie-
lig!) ren darf, scheint Ihnen wichtig zu sein. Ich will diese
Auch die Linken sind offensichtlich von sinkenden Spekulationen gar nicht weiterführen; ich glaube, das
Umfragewerten alarmiert. Daher wollen sie sich offen- hätten Sie auch gar nicht verdient. Ich möchte nur eines
bar ein neues Wahlvolk zusammenstellen. sagen: Mit dieser Fülle von Forderungen in Ihrem Ge-
setzentwurf ist klar geworden, wo verurteilte Straftäter
(Jan Korte [DIE LINKE]: Bei Ihnen läuft es in Deutschland ihre politische Heimat finden, nämlich
gut?) auf der ganz linken Seite des Hauses.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12631
Dr. Günter Krings
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des negativen Stimmgewichts vollkommen korrekt be- (C)
der FDP – Lachen bei der LINKEN – Swen schrieben. Es ist der Auftrag des Bundesverfassungsge-
Schulz [Spandau] [SPD]: Was ist denn dann richts, dieses Problem zu beseitigen. Genau das leistet
mit den ganzen Steuerleuten? Wo ist deren Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle. Er reduziert nicht
Heimat?) einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts. Sie be-
seitigen nicht das negative Stimmgewicht, sondern Sie
Daher ist es fast wohltuend, sich dem Gesetzentwurf
gleichen es nur aus.
der SPD zuzuwenden. Das mache ich nur kurz, da auch
der Gesetzentwurf sehr kurz ist. Er ist im wahrsten Sinne
des Wortes fadenscheinig; man kann, wenn man ihn ge- Vizepräsident Eduard Oswald:
gen das Licht hält, fast hindurchschauen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz?
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ist das alles?)
Ihr Gesetzentwurf ist sicherlich, Herr Oppermann, gut Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
gemeint. Aber wir alle wissen: Das Gegenteil von gut Sehr gerne.
gemeint ist gut. Er ist also nicht gut gemacht. Das
Hauptproblem ist – das haben Sie ja am Ende des Ge-
Vizepräsident Eduard Oswald:
setzentwurfes etwas schamhaft erwähnt –, dass eine Um-
Bitte schön.
setzung des Gesetzentwurfes zu einem massiven Aufbla-
sen des Deutschen Bundestages in einer Größenordnung
führen würde, die unberechenbar ist. Es können einmal Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
20 Abgeordnete mehr sein, es können auch leicht einmal Herr Kollege Krings, wenn wir rein fachlich diskutie-
120 Abgeordnete mehr sein. Man kann jetzt lange da- ren, ist, wie ich meine, Ihre Kritik an den Entwürfen, die
rüber philosophieren, zu welchen zusätzlichen Kosten vorliegen, zu respektieren.
für Mitarbeiter, Abgeordnetenentschädigung und ande- Wir vonseiten der SPD haben nicht den Anspruch, ei-
rem das führen würde, aber vor allem tut es, glaube ich, nen allein selig machenden Gesetzentwurf vorzulegen.
einer Demokratie nicht gut, wenn die Größe eines Parla- Ich will Ihnen freimütig sagen: Es treibt uns um – bitte
ments, also des Bundestages, von Wahl zu Wahl extrem nehmen Sie das ernst; ich sage das ohne jede Polemik –,
variiert. Von daher ist es aus politischen Gründen äußerst dass wir kurz vor Ablauf einer Frist, einer sehr großzü-
fragwürdig, einen solchen Antrag zu forcieren. gig bemessenen Frist, stehen, die uns das Bundesverfas-
(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch schon sungsgericht zur Vorlage eines verfassungsfesten Wahl-
heute so wegen der Überhangmandate!) rechts eingeräumt hat. Ich könnte Ihnen fast sagen – ich
(B) bin dazu jetzt allerdings nicht autorisiert –: Wir ziehen (D)
Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie meinen, Sie könnten alles zurück. – Das Entscheidende ist doch, dass Sie uns
das Problem mit einer Reduktion der Zahl der Wahl- endlich vor den Ohren und Augen der Öffentlichkeit ei-
kreise lösen, greifen Sie zu kurz. Das würde im Zwei- nen Vorschlag unterbreiten müssen. Wie geht es weiter?
felsfalle sehr viele Wahlkreise in Deutschland kosten.
Vielleicht sollten Sie in Ihrer eigenen Fraktion noch ein- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
mal in Ruhe darüber debattieren, ob das so gewollt ist. GRÜNEN]: Ja!)
Jedenfalls kann es leicht passieren, dass Sie damit der
Alle Fraktionen dieses Parlaments sind jederzeit, Tag
größten politischen Flurbereinigung in Deutschland das
und Nacht, bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Das hätten
Wort reden, die es seit dem Reichsdeputationshaupt-
wir schon früher machen können; aber sei es drum. Es ist
schluss gegeben hat.
noch nicht zu spät. Machen Sie uns bitte einen Vor-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlag, damit alle Fraktionen ihren Job machen und ihre
NEN]: Größer haben Sie es nicht?) Aufgabe erfüllen können.
– Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Wieland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
LINKEN)
NEN]: Ich sehe die Guillotine schon vor mir! –
Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn wir dieses Thema gemeinsam angehen, dann
sowie bei Abgeordneten der SPD) werden wir innerhalb von sechs, acht Wochen, nach der
Abwägung des Für und Wider, Lösungsvorschläge vor-
Das größere Problem ist allerdings, dass der Aus-
legen können. Dabei werden Ihre Argumente und unsere
gleich, den Sie vorschlagen, das Problem des negativen
Argumente eine Rolle spielen, sicherlich aber nicht die
Stimmgewichts überhaupt nicht löst. Ich zitiere wörtlich
Argumente, die sich auf Verbrecher beziehen. Ich bin
aus Ihrer Begründung. Im jetzigen Wahlrecht ist es so,
sehr zuversichtlich, dass uns gelingt, was uns in dieser
dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Ver- Frage immer gelungen ist, nämlich einen Konsens zu
lust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an finden.
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der
Das Wahlrecht – Herr Krings, das muss ich Ihnen
Landeslisten führen kann …
nicht sagen; da will ich Sie auch nicht belehren – ist von
So steht es in Ihrem Entwurf. Das stimmt. Genau das überragender Bedeutung. Das sind die Spielregeln unse-
bewirkt das geltende Wahlrecht. Sie haben das Problem rer Demokratie. Dass wir die Aufgaben, die uns gestellt
12632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Dieter Wiefelspütz


(A) worden sind, nicht erfüllen, bedeutet: Wir machen unse- ner der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen auf (C)
ren Job nicht. Sie und wir, wir alle machen unseren Job dieses Modell eingeht. Wir alle wissen, dass es im Hin-
nicht, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist blick auf Gesetzesbegründungen Rationalisierungsanfor-
der Auftrag des Parlamentes, ein verfassungskonformes derungen gibt; das hat das Bundesverfassungsgericht
Wahlrecht herzustellen; dies treibt uns um. Dieses Anlie- mehrfach festgestellt. Sie müssen sich in Ihren Gesetzent-
gen ist für mich zehnmal wichtiger als der Gesetzent- würfen aber zumindest mit diesem Thema beschäftigen.
wurf der SPD. Man kann natürlich auch über ihn hinaus- Dieses Lösungskonzept, das einfachste und sicherste,
gehen. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Geben wird aber in keinem der Gesetzentwürfe der Oppositions-
Sie uns die Gelegenheit, uns endlich gemeinsam an den fraktionen erwähnt.
Verhandlungstisch zu setzen!
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das bringt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des doch noch mehr negatives Stimmgewicht!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dieses Konzept ist allerdings das richtige.
Vizepräsident Eduard Oswald: Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösung besteht im We-
Das war die Zwischenfrage des Kollegen sentlichen in der Streichung eines einzelnen Paragrafen.
Wiefelspütz. Ich sage Ihnen aber auch – das ist ein Grund für das
langsame Verfahren –: Es gibt in diesem Bereich Unter-
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): varianten. Man könnte die Mandate beispielsweise nach
Das war eine sehr lange und mir sehr willkommene der aktuellen Wahlbeteiligung Landeslisten zuordnen;
Zwischenfrage, Herr Wiefelspütz. Ich hatte schon ge- das ist ein wunderbares Instrument, um echte Erfolgs-
hofft, dass ich die Grundzüge unseres Modells – nicht wertgleichheit herzustellen. Wenn man auch die dann
auf Kosten meiner Redezeit – erläutern kann. Das tue ich vielleicht immer noch vorhandenen inversen Effekte und
jetzt gerne und antworte Ihnen damit auf Ihre Frage. Restwirkungen des negativen Stimmgewichts ausglei-
chen will, müsste man die Mandate nach Bevölkerungs-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aha!) anteilen verteilen. Beide Varianten wären möglich.
Wir haben schon Gespräche geführt, zum Beispiel (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
zum Rechtsschutz, aber auch zu anderen Aspekten. GRÜNEN]: Das ist dem Wähler nicht zu er-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja! Und was klären!)
war Ihr Vorschlag zum Rechtsschutz?) Darüber hinaus gibt es ein, zwei weitere Untervarianten.
(B) Diese Gespräche fanden zwischen den Fraktionen statt, Das Konzept bzw. der Weg ist vorgezeichnet. Darüber (D)
auch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. können wir sofort in Gespräche eintreten;
Ich sage Ihnen ganz klar – das habe ich hier im Plenum
bereits mehrfach vorgetragen –: Die Lösung muss darin (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
bestehen, dass wir das Problem, das das Bundesverfas- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas
sungsgericht zur Lösung aufgegeben hat, nämlich das Oppermann [SPD]: Aha! Und was ist mit der
negative Stimmgewicht, erst einmal in der Sache ernst FDP? – Gabriele Fograscher [SPD]: Sie müs-
nehmen. sen sich mit der FDP einigen!)
(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Christine auch über dieses Thema haben wir schon gesprochen,
Lambrecht [SPD]: Dafür hatten Sie aber schon auch mit Ihrer Fraktion. Wir müssen überlegen, welche
ein bisschen Zeit! – Hans-Christian Ströbele Untervarianten wir anwenden. Ich sage Ihnen: Die Lö-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist kurz sung muss mit dem Problem zu tun haben. Ihre Lösun-
vor Toresschluss! – Thomas Oppermann [SPD]: gen haben nichts mit dem Problem zu tun. Das Problem
Das war drei Jahre nicht zu erkennen!) ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss
Wir müssen es begreifen und erkennen. in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten beste-
hen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das negative Stimmgewicht entsteht durch die Ver-
bindung von Landeslisten. Wie kann ein Problem, das Meine Damen und Herren, noch zwei Sätze zum
durch die Verbindung von Landeslisten entsteht, gelöst SPD-Modell.
werden? Durch die Trennung von Landeslisten.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Krings, NEN]: Auf die Frage haben Sie bis jetzt aber
wann verhandeln wir?) noch nicht geantwortet!)
– Jetzt rede ich. Sie haben gerade geredet. Wir jedenfalls nehmen das Bundesverfassungsgericht
sehr ernst und lösen das Problem des negativen Stimm-
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja! Wann ver-
gewichts. Bei der SPD bin ich mir nicht ganz sicher, ob
handeln wir?)
sie das Problem nicht lösen wollen oder es einfach igno-
Deshalb befürworten wir ein Modell zur Trennung von rieren. Ausgleich von Überhangmandaten heißt nicht
Landeslisten; das wissen Sie. Es ist erstaunlich, dass kei- Beseitigung des negativen Stimmgewichts.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12633
Dr. Günter Krings
(A) Ich will zum Schluss noch einige grundsätzliche Er- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
wägungen machen. NEN]: Nein! Er hat lange genug geredet!)
Bei aller berechtigten Kritik an der Dauer der Erörte-
rungen, auch innerhalb der Regierungsfraktionen – das Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
habe ich am Anfang gesagt und sage ich jetzt noch ein- Das war eigentlich schon mein Schlusssatz, aber bitte
mal; diese Kritik nehme ich an –, ist es wichtiger für uns schön, Herr Oppermann.
alle, dass wir ein gründlich durchdachtes und verfas-
sungskonformes Wahlrecht vorlegen und nicht eines, das Thomas Oppermann (SPD):
mit heißer Nadel gestrickt ist, untauglich ist oder unfaire
Elemente enthält. Herr Kollege, Sie sagen, die Opposition missachte
das Bundesverfassungsgericht. Das macht mich fast
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sprachlos. Wir legen hier Gesetzentwürfe vor, über die
GRÜNEN]: Na ja!) man inhaltlich in der Tat immer streiten kann, um Kon-
sequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsge-
Interessanterweise werfen Sie sich diese Punkte ja richts zu ziehen. Sie haben überhaupt keinen Entwurf
auch gegenseitig vor. Herr Oppermann, in Ihrem Vortrag vorgelegt. Deshalb entlarvt sich das, was Sie hier sagen,
haben Sie ganz deutlich gesagt, dass ein internes Kom- als eine blanke, dreiste Vorwärtsverteidigung. Sie wollen
pensationsmodell, wie es die Grünen und Linken vor- von dem eigenen Versagen ablenken und beschimpfen
schlagen, offenbar nicht tauglich ist und die Ungerech- deshalb die Opposition.
tigkeiten föderal noch vergrößern würde.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das gefällt Ihnen nicht!) Wenn Sie meinen, dass das die Verantwortung einer Re-
gierungsmehrheit ist, dann mögen Sie ein solches Ver-
Der eigentliche Skandal ist deshalb auch nicht, dass ständnis von Verantwortung haben. Ich teile es nicht.
wir diese Frist des Bundesverfassungsgerichts eventuell
versäumen werden – das ist ärgerlich genug –, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: „Eventuell“!) Ich habe eine Frage. Sie meinen, dass Ausgleichs-
mandate verfassungsrechtlich nicht vernünftig begründ-
der eigentliche Skandal ist hier, dass alle Fraktionen auf bar sind. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Ihnen be-
der linken Seite dieses Hauses die Entscheidung des kannt ist, dass unter anderem die CDU in Schleswig-
(B) Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens miss- Holstein gerade Ausgleichsmandate für Überhangman- (D)
brauchen, um nicht das Problem zu lösen, sondern ihre date ins schleswig-holsteinische Landeswahlrecht ein-
alte politische Agenda nach vorne zu bringen. gefügt hat, und zwar aus dem Grund, um das vom Bun-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- desverfassungsgericht beanstandete Wahlrecht zu
NEN]: Ist ja unglaublich! Sie tun gar nichts reparieren. Ist Ihnen das bekannt, und wie bewerten Sie
und beschimpfen die Opposition!) es, dass in fast allen Landeswahlgesetzen Ausgleichs-
mandate vorgesehen sind?
Sie kümmern sich um Straftäter und darum, Überhang-
mandate zu beseitigen. Das hat im Kern nichts mit dem
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu tun und ist
meines Erachtens auch eine Form von Missachtung des Ihre Wortmeldung wundert mich in mehrfacher Hin-
Bundesverfassungsgerichts. sicht, Herr Oppermann. Zunächst einmal hätte ich zu-
mindest erwartet, dass Sie meiner Rede zugehört hätten.
(Gabriele Fograscher [SPD]: Wir?) Ich habe am Anfang und gegen Ende meiner Rede deut-
lich gesagt, dass ich die Kritik an dem langsamen Ver-
Es ist schön, dass die Opposition mit ihren Vorlagen
fahren ernst nehme und auch annehme. Ich habe auch
in diesem Bereich die Messlatte für unseren Vorschlag
gesagt, dass es nicht reicht, irgendeinen Vorschlag vor-
nicht so hoch legt, aber wir versichern Ihnen: Wir wer-
zulegen, also irgendein Papier mit irgendwelchen Buch-
den nicht an diesen schwachen Gesetzentwürfen Maß
staben zu bedrucken, und zu meinen, dass sei jetzt ein
nehmen, sondern wir werden einen Gesetzentwurf vorle-
Beitrag zur Lösung des Problems.
gen, der transparent, gerecht und vor allem verfassungs-
konform ist. (Brigitte Zypries [SPD]: Das ist doch unver-
schämt!)
(Christine Lambrecht [SPD]: Wann? Wann?
Wann?) Ich habe Ihnen dargelegt und bewiesen, dass Ihr An-
satz in Bezug auf die Ausgleichsmandate nichts mit der
Das kann und muss dann eine solide Basis sein.
Lösung des Problems „negatives Stimmgewicht“ zu tun
hat. Es ist auch eine Missachtung des Bundesverfas-
Vizepräsident Eduard Oswald: sungsgerichts, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, der
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage nichts mit dem Problem und seiner Lösung zu tun hat,
des Kollegen Thomas Oppermann? Dadurch würde sich sondern nur mit der alten politischen Agenda, auf der die
auch Ihre Redezeit verlängern. Überhangmandate stehen.
12634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Günter Krings


(A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) (C)
GRÜNEN]: Unfug! Abtreten! Langsam reicht
es! Also ehrlich!) Jan Korte (DIE LINKE):
Ihr damaliger Kanzler Gerhard Schröder hat in die- Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts
sem Hause nur deshalb Vertrauensfragen gewonnen, vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu dis-
weil es Überhangmandate gab. Sie in persona und Ihre kutieren. Das ist die Wahrheit.
ganze Fraktion haben diese Überhangmandate massiv
verteidigt. Jetzt, auf einmal, da es Ihnen nicht mehr in Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden,
den Kram passt, sagen Sie: Das alles wollen wir nicht nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen,
mehr. geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man sel-
ber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie
Das ist eben nicht der Auftrag des Bundesverfas- könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und
sungsgerichts. Dabei geht es nur um das negative die Vorschläge sachlich zu diskutieren.
Stimmgewicht. Dieses Problem wollen wir lösen, zuge-
gebenermaßen zu langsam, aber wir beschäftigen uns (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
wenigstens mit dem Problem. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Man merkt es! – Abg. Thomas Oppermann Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf ei-
[SPD] nimmt Platz) nige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die
Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ih-
– Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer nen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus
Frage, ansonsten dürfte ich ja auch gar nicht mehr reden. den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstel-
len, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demo-
Eine weitere Anmerkung, und zwar zu Ihrer Frage
kratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Men-
zum Problem in Schleswig-Holstein. Das Bundesverfas-
schen an Partizipationsprozessen zu beteiligen.
sungsgericht hat in einer Entscheidung, auch zum hessi-
schen Wahlrecht, sehr deutlich gesagt, dass wir in Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen
Deutschland von sogenannten getrennten Wahlrechts- Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative
räumen ausgehen. Schauen Sie sich Art. 28 des Grund- Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und
gesetzes der Bundesrepublik Deutschland an. Alle ande- Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stim-
ren Artikel sagen nichts über das Wahlrecht der Länder men bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an
aus. Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder ver-
(B)
Wir müssen hier also von komplett und grundsätzlich stehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das (D)
getrennten Maßstäben ausgehen. Dies sagte das Bundes- Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben.
verfassungsgericht in seiner Entscheidung von vor weni- Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige
gen Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht,
zum Kummer aufgegeben – ich glaube, in diesem Kum- daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch,
mer waren wir alle uns damals einig –, das negative liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern
Stimmgewicht zu beseitigen. Wir haben damals in Karls- und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt.
ruhe dagegengehalten. Diese Aufgabe ist auf Bundes-
ebene zu lösen. Sie ist nur dem Deutschen Bundestag ge- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann
stellt. Was Sie aus Schleswig-Holstein und anderen [DIE LINKE]: So sind wir!)
Ländern beschreiben, ist ein Phänomen, das damit nichts Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim
zu tun hat. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen: Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht
Wir sind als Regierungsfraktionen gefordert. Die Oppo- im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
sition ist offenbar in diesen Fragen ratlos.
(Beifall bei der LINKEN)
(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist ja unver-
Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direkt-
schämt!)
und Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die
Sie haben zwar Papier bedruckt, aber keine Lösungsvor- dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebro-
schläge vorgelegt. Wir werden eine Lösung bieten als chen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten
Grundlage für solide gemeinsame Gespräche. dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Aus-
gleich erfolgen. So viel zum Thema „negatives Stimm-
Herzlichen Dank. gewicht“.
(Beifall bei der CDU/CSU) Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu
der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt
Vizepräsident Eduard Oswald: auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu
Vielen Dank, Kollege Dr. Günter Krings. – Nun für versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die
schön, Kollege Jan Korte. Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen Demo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12635
Jan Korte
(A) kratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen. NEN]: Das freut vor allem die FDP!)
Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In – Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegen-
Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über kommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem
die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland.
weit, so gut. Interessant ist dabei – an dieser Stelle sehen
Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird im-
wir Handlungsbedarf –, dass im Bundeswahlausschuss
mer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in
die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann
die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber
darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird
nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent be-
oder nicht.
kämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einfüh-
Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über ren? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung
„Die Partei“, deren Nichtzulassung seinerzeit die Me- mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus
dienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter ande- sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und
rem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen. darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Pro-
Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch an- zent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen
dere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei wir vor, sie zu streichen.
dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dage-
(Beifall bei der LINKEN)
gen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer
Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die be- Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde
troffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfas- insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir
sungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der
Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbar-
zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entschei- keit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Com-
dung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt putern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie
hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert. nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem her-
kömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie
Wir wollen – der Kollege Krings hat es angesprochen –
die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir
noch weiter gehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf
ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor.
16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch
mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und über- (Beifall bei der LINKEN)
nehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahl-
Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage,
(B) alter senken, analog zu den Kommunen, in denen über- (D)
mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren,
wiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in
auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu
Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein
reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube,
Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jäh-
dass das Vertrauen in die Demokratie – das besagen alle
rige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch
empirischen Befunde – schwindet. Das darf einen nicht
16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an
kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebe-
Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser.
schleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschluss von Lobbyisten aus Ministerien und die Be-
antwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und
Wir fordern des Weiteren – darauf wurde bereits hin-
ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst
gewiesen –, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in
vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage,
der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahl-
sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzu-
recht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbeson-
bringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn
dere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen
wir über Demokratie diskutieren.
nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit
Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen, NEN]: Hartz IV muss weg!)
von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts
ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier – Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt.
leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weiter- Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das
geht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbe- wäre ein schöner Erkenntnisgewinn.
kommen. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt ei-
nen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit
(Beifall bei der LINKEN)
in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es
Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde – das keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn
ist ein altes Thema – abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind
Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine – ich hoffe, dass das alle tun –, dann hören Sie oft: Es
Partei fast 1 Million Stimmen bekommt, verfallen nach ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in
geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. – Wir sollten
wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen. daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsre-
12636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Jan Korte
(A) form endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie GRÜNEN]: Wo ist der von der FDP?)
schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher
– Ich habe gesagt: der Vorschlag der Koalition.
vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober
eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzufüh- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ren, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für NEN]: Wo ist er denn?)
Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehr-
heit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan – Hören Sie doch einfach zu!
stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der Ich beginne mit der Begründung, warum die SPD kei-
Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre nen ernstzunehmenden Vorschlag unterbreitet hat. Stel-
ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung. len Sie sich vor, wir würden heute den Gesetzentwurf,
(Beifall bei der LINKEN) den uns die SPD nahelegt, beschließen
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie,
NEN]: Ja, machen! – Dr. Dieter Wiefelspütz
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE [SPD]: So etwas würden Sie machen?)
GRÜNEN]: Was ist mit den Straftätern?) und bezüglich der Frage, wie zukünftig gewählt wird, zu
eine Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität. 100 Prozent nach den Vorstellungen der SPD verfahren.
Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Oh Gott! –
Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber GRÜNEN]: Sofort abstimmen!)
zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin ge-
spannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu Meine naturwissenschaftliche Vorbildung sagt mir,
einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im dass man beim Versuchsaufbau den gleichen Ablauf, den
Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind. man hatte, noch einmal abbilden lassen sollte.
Schönen Dank. (Thomas Oppermann [SPD]: Simulieren!)
(Beifall bei der LINKEN) Das Verfassungsgericht hat uns gesagt: Lieber Deutscher
Bundestag, schaffen Sie das negative Stimmgewicht ab,
das bei der Bundestagswahl im Jahre 2005 durch die
Vizepräsident Eduard Oswald: Nachwahl in Dresden aufgetreten ist. – Lassen Sie uns
(B) Vielen Dank, Kollege Jan Korte. – Jetzt für die Frak- folgendes Gedankenexperiment einmal gemeinsam (D)
tion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte durchspielen: Wir veranstalten die Bundestagswahl 2005
schön, Kollege Dr. Stefan Ruppert. nach dem Wahlgesetz, das Sie uns heute vorschlagen.
(Beifall bei der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: 2005?)
Dr. Stefan Ruppert (FDP): – Weil 2005 die Entscheidung des Bundesverfassungs-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- gerichts zu den Wahlen ergangen ist. – Wir veranstalten
ren! Das Wahlrecht ist eine Angelegenheit, die dieses also nach dem Wahlvorschlag der SPD die Wahl von
Haus jenseits der Beteiligung von Ministerien in eigener 2005 und fragen uns: Wäre es zu dem negativen Stimm-
Verantwortung und im Dialog der Fraktionen miteinan- gewicht, das 2005 durch das Bundesverfassungsgericht
der diskutieren sollte. Insofern freue ich mich über die moniert wurde, nicht gekommen? Wäre eine Stimme ei-
Diskussion am heutigen Vormittag an so prominenter nes CDU-Wählers in Dresden für die CDU negativ ge-
Stelle. wesen, wenn er nach dem SPD-Wahlrecht abgestimmt
Leider verengt sich die Debatte ein wenig auf die Frage hätte? – Die Antwort ist leider: Ja. Es ist so, als würden
des eigentlichen Wahlvorgangs. Lediglich der Kollege Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um
Korte hat dankenswerterweise auch an andere Aspekte das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und
gedacht. Beispielsweise müssen wir das Problem der Ber- die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Schei-
liner Zweitstimme beseitigen, für subjektiven Rechts- benwischer am Fahrzeug anzubringen. Wenn wir die
schutz vor und nach der Wahl sorgen, Probleme bei der Wahl 2005 nach dem Wahlrecht der SPD durchgeführt
Zulassung durch den Bundeswahlausschuss beseitigen hätten, wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls er-
und Ähnliches mehr. folgreich gewesen,

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie müssen (Thomas Oppermann [SPD]: Nein, Irrtum!)
etwas leisten, Herr Ruppert!) weil nach wie vor ein CDU-Wähler seiner eigenen Partei
geschadet hätte – und das verkaufen Sie uns als ernsthaf-
– Regen Sie sich nicht künstlich auf, Herr Wiefelspütz;
ten Beitrag. Das ist doch lachhaft.
das tut Ihnen nicht gut.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es liegen drei Vorschläge vor, die ernsthaft diskutiert
werden können, nämlich der Vorschlag der Linken, der Einen solchen Anspruch können Sie hier nicht erhe-
Vorschlag der Grünen und der Vorschlag der Koalition. ben. Sie werfen ein in der Tat zu diskutierendes verfas-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12637
Dr. Stefan Ruppert
(A) sungsrechtliches Problem, nämlich das der Überhang- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
mandate, in den Raum und sagen, dass wir uns aus GRÜNEN]: Nein, der Grüne!)
politischem Kalkül, aber auch aus einer gewissen verfas-
ein Mann, den die Leute wirklich wollen. Dann sagen
sungsrechtlichen Überlegung heraus diesem Problem
Sie den Leuten: Der bleibt zu Hause, und in München
widmen müssen. Das, was Sie zur Lösung dieses Pro-
gibt es in Zukunft keinen direkt gewählten Abgeordne-
blems vorschlagen, ist jedoch, um es als Jurist zu sagen,
ten mehr für den Deutschen Bundestag. – Ich glaube,
keine Minus- oder Pluslösung des vorliegenden Pro-
solche Reformvorschläge können Sie hier nicht ernsthaft
blems, sondern ein Aliud, also etwas gänzlich anderes.
vertreten.
Das heißt, Sie kurieren hier etwas, was in dieser Form
nicht kuriert werden kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich war kurzzeitig etwas eifersüchtig, als sich die
GRÜNEN]: Dann müssen Sie dem Grünen- neuen Freunde der CSU in Konkurrenz zu einem alten
Vorschlag zustimmen!) Freund der CSU, nämlich mir, begeben wollten.
– Damit komme ich zu Ihnen, Herr Ströbele. (Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting]
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [CDU/CSU] – Jan Korte [DIE LINKE]: So
NEN]: Da freuen wir uns!) war das nicht gemeint!)

In der Tat ist Ihr Vorschlag tauglich, um das Problem Sie lösen dieses Problem, indem Sie festlegen: Wir glei-
des negativen Stimmgewichts zu lösen. chen das aus.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)
NEN]: Das ist doch gut!) Das ist nun wirklich eine etwas merkwürdige Misch-
Insofern sind Sie meiner Meinung nach einen Schritt form. Alle anderen Überhangmandate in Deutschland
weiter als die Kollegen von der SPD. Sie zeigen uns auf, werden verrechnet, aber die eines einzelnen Bundeslan-
wie man das Problem des negativen Stimmgewichts lö- des werden ausgeglichen. Das ist ein systematischer
sen kann. Sie kaufen sich dabei allerdings gravierende Bruch, den man aus meiner Sicht niemandem erklären
verfassungsrechtliche Nachteile ein. kann. Abgesehen davon, dass Sie gern eine Lösung hät-
ten – diesen Wunsch kann ich verstehen –, kann ich kei-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nerlei Grund dafür erkennen.
NEN]: Ach was! – Rainer Brüderle [FDP]:
Jetzt kommt es!) (Jan Korte [DIE LINKE]: Das hat aber nichts
(B) mit Freundschaft zu tun! Ich wollte das nur (D)
Es geht um den gleichen Erfolgswert der Stimme. noch mal klarstellen!)
In Brandenburg wählen 362 000 Menschen die CDU – Ich habe die Kollegen von der CSU auch schon vor ih-
– ich kann ihnen immer noch empfehlen: Wählt lieber ren neuen, falschen Freunden gewarnt. Aber, ich glaube,
FDP! – sie wussten es selbst.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jetzt komme ich, weil das immer wieder moniert
NEN]: Noch gibt es sie!) wird, zu der Frage, was wir denn wollen.
und erringen damit kein Mandat. In Baden-Württemberg (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wählen 61 000 Menschen die CDU und erringen damit NEN]: Das haben Sie geahnt!)
ein Mandat. Das sei jedem Baden-Württemberger Kolle-
gen von der CDU wirklich gegönnt; aber Sie können Vor dieser Frage will ich mich explizit nicht drücken.
doch nicht ernsthaft behaupten, dass bei 360 000:60 000 Wir haben in vielen Gesprächen mit Ihnen, mit der SPD,
– in Brandenburg braucht man also praktisch das Sechs- mit den Grünen, immer wieder gesagt, was wir wollen,
fache an Stimmen, um ein einziges Mandat zu erringen – und das war auch in der Presse zu lesen.
der gleiche Erfolgswert der Stimme – verfassungsrecht- Wir wollen das Problem dort angehen, wo es entsteht,
lich geboten – auch nur annähernd gegeben ist. nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten. Wenn wir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Günter Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem
Krings [CDU/CSU]: Skandal!) des negativen Stimmgewichts direkt – anders als die
SPD. Die SPD löst das Problem überhaupt nicht, ver-
Ihr Entwurf beinhaltet einen weiteren verfassungs- schärft es gegebenenfalls noch.
rechtlichen Kollateralschaden. Sie legen fest, dass ein-
zelne Wahlkreise in Zukunft keine direkt gewählten Ab- Jetzt gibt es drei Möglichkeiten für die Wahl in ge-
geordneten mehr haben. Sie behaupten einfach: Das tut trennten Wahlgebieten, die ich ernsthaft diskutieren
den Leuten in Bayern eh nicht gut; deswegen nehmen würde. Wir können 16 Wahlgebiete in Deutschland fest-
wir ihnen die Mandate von drei direkt gewählten Kandi- legen und ihnen Mandate nach ihrer Einwohnerzahl zu-
daten schlicht ab. – Man stelle sich vor: In München teilen:
wird ein attraktiver Wahlkampf zwischen dem Grünen-,
(Thomas Oppermann [SPD]: Das geht nicht!)
dem FDP-, dem CSU- und dem SPD-Bewerber geführt,
und der CSU-Bewerber setzt sich aufgrund eines hervor- Bremen hat soundso viele Einwohner, also bekommt es
ragenden Wahlkampfs gerade so durch, soundso viele Mandate. – Dann führen wir eine Bundes-
12638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Stefan Ruppert


(A) tagswahl durch. In Bremen werden die Stimmverhält- die die Überhangmandate erreichen, heraus. Auch das (C)
nisse entsprechend umgelegt und man sieht, wer welche wird von einigen Verfassungsrechtlern vertreten und im-
Mandatszahl erringt. mer wieder gefordert. Damit haben wir den minimal-
invasiven Eingriff; allerdings haben wir auch ein Restri-
Das ist das absolut puristische Modell, um dem Pro- siko für das negative Stimmgewicht.
blem des negativen Stimmgewichts zu begegnen. Damit
wird das Problem nämlich komplett beseitigt. Es ist das Mein Anliegen wäre jetzt, diese drei Vorschläge, die
einzige Modell, das zu diesem Ergebnis führt. Wir kau- das Problem ernsthaft angehen, ohne große verfassungs-
fen uns dabei allerdings wiederum erhebliche Kollate- rechtliche Kollateralschäden zu erzeugen, im Dialog mit
ralschäden ein, die wir dann gewichten müssen. Es ist der Opposition sorgsam gegeneinander abzuwägen, viel-
plötzlich irrelevant, wie viele Menschen in Bremen wäh- leicht auch zu sehen, ob man mit einem Teilausgleich an
len gehen. Die Bremer können sich sicher sein, immer dieser Stelle der SPD etwas entgegenkommen kann,
ihre vier oder fünf Mandate zu bekommen, selbst wenn wenn das ihr Anliegen ist, und auf dieser Grundlage
fast niemand wählen geht. Wenn sozusagen keiner zur dann ein Wahlrecht in Deutschland mit subjektivem
Wahl geht, ist der einzelne Bremer Bürger viel besser Wahlrechtsschutz, mit Lösung der Berliner Zweitstimme
vertreten, was seine Stimme angeht, als jemand in Nie- und einem ordentlichen, verfassungsrechtlich abgewo-
dersachsen, wo sehr viele Menschen zur Wahl gehen. genen Verfahren durch dieses Haus zu bringen.
Wir konterkarieren also eigentlich unser gemeinsames (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Interesse, die Wahlbeteiligung zu steigern und die Men- NEN]: Dann lassen wir aber die CSU drau-
schen dadurch zu motivieren, zur Wahl zu gehen, dass ßen!)
sie mehr Mandate erringen können, wie es im geltenden
Wahlrecht heute zum Glück auch der Fall ist. Aber wir Machen Sie mit, und diskutieren Sie fachlich und nicht
lösen das Problem des negativen Stimmengewichts. polemisch!
Das zweite Modell bei der Trennung wäre, die Wahl- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
beteiligung einzupreisen. Das heißt, wir wählen in den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
16 Wahlgebieten, stellen fest, wie viele Zweitstimmen
dort abgegeben wurden, teilen nach der Zahl der abgege-
benen Zweitstimmen die Mandate zu und verteilen da- Vizepräsident Eduard Oswald:
nach wieder die entsprechenden Sitze. Dadurch bleibt Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. – Nun
ein kleines Restrisiko für das negative Stimmgewicht; spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
aber wir erzielen auf der anderen Seite einen erheblichen Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.
(B) verfassungsrechtlichen Vorteil, indem wir einpreisen, (D)
dass die Menschen dort zur Wahl gegangen sind. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und
(Thomas Oppermann [SPD]: Für die FDP ent- Herren, ich muss es Ihnen noch einmal vorhalten: Im Ur-
fallen alle Stimmen!) teil vom 3. Juli 2008
Wir haben einen weiteren Nachteil: dass nämlich die (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Schön,
Stimmen, die auf Parteien abgegeben wurden, die kein dass Sie es gelesen haben!)
Mandat erringen, oder die Stimmen, die oberhalb der
Stimmen für ein Mandat liegen, schlicht wegfallen. Das steht der schöne Satz:
ist ein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem, weil Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum
es eine faktische Erhöhung der 5-Prozent-Hürde dar- 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu
stellt. Es kann plötzlich sein, dass 13, 14 Prozent der treffen.
Bremer die Grünen gewählt haben – –
(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das hat Herr
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Beck von dem Urteil verstanden!)
GRÜNEN]: Na ja, 22!)
Sie haben leider nicht gesagt, wann Sie Ihren Gesetzent-
– Sie sind natürlich auf dem permanenten Steigflug. – wurf vorlegen und wie Sie dieser Vorgabe des Bundes-
Aber angenommen, es wählen Sie 13 Prozent der Bre- verfassungsgerichts noch nachkommen wollen. Was ist
mer, und wir stellen dann fest, dass dies nicht für ein denn, wenn die Kanzlerin im September die Vertrauens-
Mandat reicht, dann kann man den Wählern der Grünen frage stellt, und Ihr Laden in seine Bestandteile zerfällt?
in Bremen vorwerfen: Eure Stimmen sind verfallen; es So, wie Sie auftreten, ist das ja kein rein theoretisches
war jenseits aller politischen Fragen sinnlos, die Grünen Szenario.
zu wählen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD)
NEN]: Niemals! Wenn eine Partei nur
2,5 Prozent bekommt, dann ist es sinnlos!) Dann stehen wir vor Neuwahlen und haben kein gelten-
des Bundeswahlgesetz, weil das Verfassungsgericht uns
Die dritte Lösung wäre, nur die überhängenden Listen nur für die letzte Bundestagswahl noch einmal die Er-
aus dem Wahlverbund herauszulösen, also nur in Sach- laubnis gegeben hat, nach diesem Recht zu wählen, nicht
sen oder in Baden-Württemberg. Dort, wo Überhang- aber ein zweites Mal. Dann wären wir in einer richtigen
mandate entstehen, trennen wir die Listen der Parteien, demokratischen Staatskrise und benähmen uns wie Län-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12639
Volker Beck (Köln)
(A) der, die keine richtigen Demokratien sind, weil wir ver- Nun kann man sagen: „Wir sind weniger radikal“, (C)
fassungswidriges Wahlrecht anwenden müssten. Das und Elemente des Vorschlags der SPD übernehmen, wie
wäre eine Katastrophe und würde das Vertrauen in dieses es die Linke macht. Das ist ebenfalls ein gangbarer Weg.
Parlament draußen im Lande erheblich erschüttern. Bei dem Vorschlag der SPD, der mir im Grundsatz poli-
tisch gefällt, habe ich noch die Frage, ob das negative
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stimmgewicht dadurch wirklich restlos beseitigt würde.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Das können wir in der Ausschussanhörung klären. Aber
KEN) dieser Vorschlag ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag
Herr Krings, wenn man keinen eigenen Vorschlag hat, zur Lösung des Problems.
sollte man nicht ganz so arrogant über die Vorschläge
Außerdem möchte ich Ihnen noch etwas anderes vor-
der anderen, die alle ihre Pros und Kontras haben, her-
tragen – auch zum Schutz der SPD –, weil Sie behauptet
ziehen.
haben, hier habe die SPD das Thema verfehlt. In seiner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entscheidung vom 26. Februar 2009 sagte das Bundes-
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Günter verfassungsgericht, dass es eine Wahlprüfungsbeschwerde
Krings [CDU/CSU]: Unsinn muss man Unsinn wegen der Überhangmandate deshalb nicht prüfe, weil
nennen dürfen, Herr Beck!) diese Problematik sich so nicht mehr stellen werde, wenn
der Gesetzgeber das Problem des negativen Stimmge-
Wenn Sie schon Lösungen kritisieren und behaupten wichts beseitigt habe. Damit geht das Bundesverfas-
– übrigens habe jetzt überwiegend ich das Wort; das ist sungsgericht selbst davon aus, dass das entscheidende
die Regel hier im Parlament –, Problem bei dem negativen Stimmgewicht die unausge-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Versuchen glichenen Überhangmandate sind. Angesichts dessen
Sie es doch mal! Reden Sie doch!) können Sie doch der SPD nicht vorhalten, sie habe das
Thema verfehlt und, statt den Motor zu reparieren, Schei-
man verfehle mit hier vorgelegten Entwürfen das Thema, benwischer angebracht.
dann lese ich Ihnen einmal aus dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Es ist ja
gut, dass Sie es wenigstens gelesen haben!) Wir müssen schauen, ob damit alle Probleme im Detail
gelöst sind; aber das Hauptproblem in den meisten Fäl-
Darin heißt es:
len löst dies, und das hängt nach den Worten des Bun-
Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der desverfassungsgerichts entscheidend mit dem Thema
(B) Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen des negativen Stimmgewichts zusammen. (D)
auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag haben. Nebenbei: Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil
zum negativen Stimmgewicht herausgestellt, entschei-
Es geht weiter: dendes Problem bei knappen Mehrheitsverhältnissen sei,
dass durch diesen Effekt, durch den Wechsel eines Sitzes
Je nachdem, für welche Alternative sich der Ge-
auf die andere Seite des Hauses, eine Verschiebung der
setzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen
Mehrheit erfolgen könne, und dies ein Problem der Stim-
auf das gesamte Wahlsystem.
menwertgleichheit und somit ein Problem in der Demo-
Dann folgt ein Satz, der unseren Vorschlag beschreibt, kratie sei. Wenn das ein Problem in der Demokratie ist,
den das Gericht ausdrücklich für zulässig und erwägens- dann wäre aber eine Überhangmandatsfraktion von 30 bis
wert hält, dessen Nachteile es aber auch benennt: 60 Abgeordneten, wie sie nach einer Studie des Wissen-
schaftlichen Dienstes aufgrund der aktuellen Umfragen
Eine landeslistenübergreifende Verrechnung von möglich wäre, ein noch entscheidenderes Problem, weil
Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten würde dann die Gefahr bestünde, dass die Bevölkerung Parteien
beispielsweise Überhangmandate und damit den wählt, von denen sie denkt, sie würden gemeinsam die
Effekt des negativen Stimmgewichts weitestgehend Regierung bilden. Damit erhielten diese zwei, drei oder
vermeiden, gleichzeitig aber dazu führen, vier Parteien die Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen,
– das bestreiten wir auch gar nicht – während andere Parteien zusammen die Mehrheit bei den
Mandaten erhielten. Dann sind wir in einer konstitutio-
dass für den Ausgleich fehlender Listenmandate auf nellen Krise. Dann wird sich jeder Bürger sagen: Es ist
einer Landesliste auf Mandate einer anderen Lan- wirklich egal, was ich wähle. Es kommt aufgrund wun-
desliste zurückgegriffen werden müsste. derbarer Regelungen im Wahlrecht ja trotzdem etwas an-
So beschreibt das Gericht einen der Lösungswege. Wir deres heraus.
haben ihn als Gesetzentwurf formuliert. Er ist zweifels-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es gibt hier
frei verfassungskonform.
keine Mandatsträger erster und zweiter
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!) Klasse!)
Er hat Nachteile politischer Art, die man nicht mögen Das zu verhindern, sind wir unseren Wählerinnen und
mag, aber er löst das Problem des negativen Stimmge- Wählern schuldig; denn in unserer Verfassung steht, dass
wichts und das Problem der Überhangmandate. alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Von Tricks im
12640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Volker Beck (Köln)


(A) Wahlgesetz steht da nichts drin. Deshalb sollten wir uns date sind unverdient. – Ich sage hier ohne Schaum vor (C)
jetzt auf den Hosenboden setzen und zusehen, dass wir dem Mund und ganz nüchtern: Sie diskreditieren mit die-
die Arbeit noch vor der Sommerpause so weit vorantrei- ser Aussage meines Erachtens das Wählervotum in einem
ben, dass wir uns vor dem Bundesverfassungsgericht Wahlkreis. Direkt gewählte Abgeordnete haben in unse-
und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht blamieren. rem personalisierten Verhältniswahlrecht eine enorme
Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Überhang-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mandate sind keine unverdienten Mandate, sie sind ver-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der diente Mandate. Der Wahlkreisbewerber, der direkt ge-
LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: wählt wird, wird nicht ohne Grund gewählt.
Nicht die Referenten schlechtmachen!)
Ich möchte durchaus zum Ausdruck bringen, dass ich
Vizepräsident Eduard Oswald: die drei Gesetzentwürfe der Opposition respektiere. Sie
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. – Nun für die sind mit Sicherheit eine Grundlage für die weitere De-
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer. batte.
Bitte schön, Kollege Stephan Mayer. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Da sind Sie der Erste von der Koali-
tion!)
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich persönlich habe allerdings den Eindruck, dass sie in-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- soweit keine taugliche Grundlage darstellen, da allen
nen! Sehr verehrte Kollegen! Wir debattieren heute nicht drei Gesetzentwürfen aus meiner Sicht die Verfassungs-
über irgendein Rechtsgebiet, nicht über irgendeinen widrigkeit quasi auf die Stirn geschrieben steht.
Politikbereich. Wir debattieren heute über den zentralen Zunächst einmal zum Gesetzentwurf der Grünen: Die
konstitutiven Bestandteil unserer freiheitlich-demokrati- Grünen favorisieren das Kompensationsmodell, benach-
schen Grundordnung, über das Wahlrecht. teiligen damit aber in eklatanter Weise die Länder, in de-
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) nen keine Überhangmandate anfallen,

Wir sollten uns alle davor hüten, dass wir diese Diskus- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sion nur durch die Brille aktueller Umfragewerte oder NEN]: Das ist aber nicht verfassungswidrig,
vor dem Hintergrund betrachten, wem was vermeintlich sondern genau so vom Verfassungsgericht als
wann wie nützen könnte. Lösungsweg beschrieben!)

Das Wahlrecht ist die Leitplanke unseres Staatswe- sprich: Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundeslän-
(B) (D)
sens. Das Wahlrecht legt, wie Kollege Wiefelspütz schon dern, in denen erfahrungsgemäß und auch in Zukunft
ausgeführt hat, die Spielregeln fest, unter denen unser keine Überhangmandate anfallen, werden im Deutschen
Staatswesen funktioniert. Wir sollten uns, wie ich Bundestag schlechter, also durch eine geringere Anzahl
glaube, davor hüten, diese Spielregeln allzu oft und allzu an Abgeordneten, vertreten als die Bürgerinnen und Bür-
weitgehend zur Disposition zu stellen. Dies ist wichtig, ger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß
damit Verlässlichkeit waltet. Dies ist aus meiner Sicht viele Überhangmandate anfallen. Das stellt aus meiner
aber auch wichtig, um entsprechende Akzeptanz in der Sicht einen eklatanten Verstoß gegen die Bundestreue
Bevölkerung zu finden. Wir alle haben, wie ich glaube, dar. Des Weiteren verletzen Sie in eklatanter Weise den
die Aufgabe, das Wahlrecht zu hegen und zu pflegen und Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes der Stimme.
es vor allem so transparent und verständlich zu gestalten Daraus konstruiere ich die von mir behauptete Verfas-
bzw. zu halten, dass es die Bevölkerung nachvollziehen sungswidrigkeit Ihres Gesetzentwurfes.
kann. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
Wir können durchaus stolz sein auf unser Wahlrecht. nen, Sie meinen es ja besonders gut mit der CSU. Ich
Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht ist Deutsch- finde es ja immer wieder schön, dass Sie der CSU beson-
land in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Das dere Aufmerksamkeit zuwenden.
sieht man meines Erachtens auch daran, dass andere Län- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der unser Wahlrecht kopieren, zum Beispiel Neuseeland. NEN]: Ja! Das ist ein wirkliches Problem für
uns!)
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom
3. Juli 2008 ist die Ursache für die heutige Debatte, und Besonders auffällig war für mich da schon die Formulie-
die Aufgabe, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat rung im Begründungsteil Ihres Gesetzentwurfes. Sie be-
– auch das ist kein Geheimnis –, ist alles andere als ein- haupten darin, die Unabhängigkeit der CSU werde nur
fach. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit festhalten, vorgespielt.
dass das Verfassungsgericht explizit nicht geurteilt hat,
dass Überhangmandate verfassungswidrig sind. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schön
wär’s!)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Es gibt durchaus den einen oder anderen CDU-Kollegen,
GRÜNEN]: Sie sind ein Problem!)
dem es vielleicht ganz recht wäre, wenn die Unabhän-
Ich sage dies auch, sehr geehrter Kollege Oppermann, an gigkeit der CSU tatsächlich nicht gegeben wäre. Ich
Ihre Adresse, weil Sie formuliert haben: Überhangman- kann Ihnen aber an dieser Stelle wirklich glaubhaft und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12641
Stephan Mayer (Altötting)
(A) nachdrücklich versichern: Die CSU ist eine vollkommen Er würde natürlich auch dazu führen, dass das Parlament (C)
unabhängige Partei und wird dies auch bleiben. unnötig aufgebläht werden würde, weil Überhangman-
date ausgeglichen würden. Es sollte in der Zukunft
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schon eine der Grundlinien unserer Debatte sein, dass
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir dafür Sorge tragen, dass unser Parlament, in dem
NEN]: Nur nicht hier im Hause! – Volker Beck jetzt 621 Abgeordnete vertreten sind, nicht übermäßig
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- mit zusätzlichen Mandaten aufgebläht wird. Man kommt
rum sind Sie dann keine Fraktion?) sehr schnell an eine Grenze, an der die Funktionsfähig-
Was aber schon absurd ist, ist, dass Sie sagen: Wenn keit des Parlaments nicht mehr gegeben ist.
in Bayern für die CSU Überhangmandate anfallen – das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
war bei der letzten Wahl im Jahr 2009 der Fall; es wird GRÜNEN]: Wie beim Chinesischen Volkskon-
hoffentlich nie mehr vorkommen –, dann verliert derje- gress zum Beispiel!)
nige direkt gewählte Abgeordnete sein Mandat, der den
geringsten Anteil an Erststimmen bekommen hat. Ich glaube, Gegenstand unserer weiteren Diskussionen
sollte sein, wie wir verhindern können, dass das Parla-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ment aufgrund von Ausgleichsmandaten übermäßig ver-
NEN]: Ja!) größert wird.
Ich stehe nicht in der Gefahr, von der Regelung, die Sie Wenn Ihr Vorschlag umgesetzt werden würde, würden
favorisieren, betroffen zu sein. Bei der letzten Wahl habe Sie auch die Bedeutung des direkt gewählten Abgeord-
ich über 60 Prozent der Erststimmen bekommen. neten minimieren; denn Ihr Vorschlag beinhaltet eine
Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise und damit na-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- türlich auch eine Reduzierung der Zahl der direkt ge-
NEN]: Wo ist dann das Problem? Aber der wählten Abgeordneten, um ein exorbitantes Aufblähen
Kollege Ruppert ist kein gestandener CSU- des Parlaments zu verhindern. Als direkt gewählter Ab-
Mann!) geordneter sage ich ganz offen: Es ist schon wichtig,
dass der Kreis der Wählerinnen und Wähler, für die man
Aber es gibt durchaus Kollegen – das sage ich ganz
verantwortlich ist, nicht übermäßig wächst. Die Nähe
ernsthaft –, die davon betroffen sein könnten.
zum Bürger, aber auch zu den Kommunen und Gemein-
Mit dieser Regelung missachten Sie aus meiner Sicht den würde abnehmen, wenn der Wahlkreis immer größer
das Wählervotum in eklatanter Weise. Man spricht bei würde und damit die Zahl der darin lebenden Bürgerin-
mir in der Gegend respektvoll vom sogenannten Heimat- nen und Bürger immer weiter anstiege. Wir müssen
(B) abgeordneten. Wir dürfen nicht den besonderen Wert un- peinlichst genau darauf achten, dass das Band zwischen (D)
terschätzen, wenn ein Kandidat in einer direkten Wahl dem direkt gewählten Abgeordneten und den Bürgern
die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigen kann. nicht zu locker wird.
Das bedeutet, dass abseits von der Parteizugehörigkeit (Thomas Oppermann [SPD]: Aber kümmern
dieser Person besonderes Vertrauen entgegengebracht sich Ihre Listenabgeordneten nicht um die
wird und ihr besondere Kompetenz und besondere Bürger?)
Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Ich finde es – mit
Verlaub – schäbig, Bei vielen Gelegenheiten diskutieren wir hier im Plenum
über die zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevöl-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kerung. Man würde dieser Verdrossenheit Vorschub leis-
NEN]: Schäbig?) ten, wenn man die Anzahl der direkt gewählten Abge-
ordneten und die Anzahl der Wahlkreise reduzieren
dass Sie einem solchen Kandidaten, der direkt in den
würde.
Deutschen Bundestag gewählt wird, die Möglichkeit
verweigern wollen, sein Mandat anzutreten. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich komme in aller Kürze noch zum Gesetzentwurf
der Linksfraktion. Es ist schon angedeutet worden, dass
Sie missachten mit dieser Regelung nicht nur die Bedeu- die Linke hinsichtlich der CSU mehr Milde walten lässt
tung des direkt gewählten Abgeordneten, sondern in ek- als hinsichtlich der Grünen.
latanter Weise auch das Wählervotum.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zum Gesetzentwurf der SPD. Herr Kollege NEN]: Darüber sollten Sie nachdenken!)
Oppermann, Ihr Entwurf beinhaltet meines Erachtens
nicht nur, wie Sie es behauptet haben, Schönheitsfehler; Ich bin aber für die Klarstellung des Kollegen Korte
das wäre etwas zu euphemistisch ausgedrückt. Er ist aus dankbar, dass wir beileibe keine Freunde sind. Man kann
meiner Sicht auch verfassungswidrig – das muss ich Ih- sich zwar nicht seine Verwandtschaft aussuchen, aber
nen so deutlich sagen –, weil er, wie Sie selbst im Be- seine Freunde schon. Deswegen möchte ich auf die Fest-
gründungsteil einräumen, den Fall des negativen Stimm- stellung Wert legen, dass uns hier noch sehr viel trennt.
gewichts nicht gänzlich ausschließt. (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich auch!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gar nicht Ich sage ganz offen: Die Reduzierung des Wahlalters auf
ausschließt!) 16 Jahre wäre ein großer Fehler. Die Landtagswahl in
12642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Stephan Mayer (Altötting)


(A) Bremen hat gezeigt, dass man damit die Jungwähler len zu können. Sie wollen die Listenverbindungen zwi- (C)
nicht an die Urne bringt. Ganz im Gegenteil: Die Wahl- schen den Bundesländern abschaffen; die 16 Bundeslän-
beteiligung in Bremen war so niedrig wie nie zuvor. der sollen zu 16 getrennten Wahlgebieten werden. Das
würde die kleinen Parteien benachteiligen. Deshalb
(Jan Korte [DIE LINKE]: Aber das kann ja
kommen Sie hier auch nicht zu einer Lösung innerhalb
kein Grund sein!)
der Koalitionsfraktionen. Im Übrigen löst es auch nicht
In diesem Sinne sollten wir die Diskussionen in Zu- das Problem: Wie das Gutachten des Wissenschaftlichen
kunft konstruktiv fortsetzen. Ich glaube, es sollte, egal Dienstes feststellt, kann das negative Stimmgewicht bei
welcher Fraktion man angehört, unser Bestreben sein, Ihrem Modell – Länder als getrennte Wahlgebiete, in der
beim künftigen Wahlrecht einen möglichst großen Kon- Variante mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung –
sens in diesem Haus zu finden. Wie gesagt: Es ist die weiterhin auftreten. Damit ist die Auflage des Bundes-
Leitplanke unseres Staatswesens. verfassungsgerichts nicht erfüllt. Nach diesem Gutach-
ten wären bei der letzten Bundestagswahl 16 hypotheti-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. sche Fälle des negativen Stimmgewichts aufgetreten. Ihr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Modell ist deshalb nicht geeignet, die bestehenden Pro-
bleme zu lösen. Deshalb ist es nicht mehrheitsfähig.
Vizepräsident Eduard Oswald: Sie wollten unter Hochdruck arbeiten. Aber wo bleibt
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. – Nun spricht das Ergebnis? Wir warten. Sie wollten mit uns reden;
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin auch da hat sich nichts getan. Herr Kollege Uhl hat in
Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin der Debatte im März erklärt, wir sollten uns zusammen-
Gabriele Fograscher. setzen; denn Sie hielten knappe Mehrheitsentscheidun-
(Beifall bei der SPD) gen beim Wahlrecht für schädlich. Das sehen wir auch
so. Bisher war es gute Tradition, dass wir bei Fragen des
Wahlrechts immer auf eine breite Zustimmung gesetzt
Gabriele Fograscher (SPD):
haben. Wir warten aber immer noch auf ein konkretes
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gesprächsangebot.
Was muss das Wahlrecht leisten? Es muss den Wähler-
willen so genau wie möglich in der Zusammensetzung Ich hatte Ihnen in der entsprechenden Debatte ange-
des Deutschen Bundestages abbilden. Das Wahlrecht ist boten, noch einmal Gespräche zu führen und externen
somit der Grundpfeiler unserer repräsentativen Demo- Sachverstand hinzuzuziehen. Auch darauf haben Sie
kratie. sich nicht eingelassen. Das ist bedauerlich und ärgerlich.
(B) Ich glaube, dass wir jetzt nicht mehr fristgerecht zu einer (D)
Verzerrungen – das haben wir schon gehört – können
Lösung kommen werden.
durch das sogenannte negative Stimmgewicht auftreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgefordert, das Für uns, für die SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Wir
zu ändern. Sie können aber auch durch die Überhang- wollen das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl
mandate auftreten. Obwohl Sie von den Koalitionsfrak- nicht verletzen. Wir wollen keine 16 Länderwahlen;
tionen und der Bundesregierung wissen, dass die Frist
des Bundesverfassungsgerichts in fünf Wochen abläuft, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wollen wir
gibt es von Ihnen keine beratungsfähige Vorlage. Auch auch nicht!)
wenn Sie von den Koalitionsfraktionen – Herr Ruppert, aber dazu würde es kommen, wenn die Landeslisten
Herr Krings, Herr Mayer – schon in der Debatte im nicht mehr miteinander verbunden wären.
März, als wir den Vorschlag der Grünen diskutiert ha-
ben, und auch heute die Vorschläge der Opposition in (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nein, kommt
der Luft zerreißen: Sie kritisieren zwar, sagen aber nicht, es nicht!)
was Sie wollen. Wir wollen die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Haben wir erhalten, aber die aufgetretenen Schwächen beseitigen.
doch gesagt! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das Wir wollen dabei beachten, dass es für die Bürgerinnen
habe ich doch gesagt!) und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist.
– Na ja. Durch Überhangmandate und das sich daraus mögli-
cherweise ergebende negative Stimmgewicht werden
Herr Krings, Sie haben bereits im März erklärt, dass
das Wahlergebnis und der Wählerwille verzerrt und die
die Reform des Wahlrechts eine komplizierte Sache sei.
Stimmengleichheit verletzt, die Mehrheit der Zweitstim-
Da gebe ich Ihnen recht. Herr Ruppert, Sie haben das
men ist nicht mehr gleichzeitig die Mehrheit der Man-
eindrucksvoll dargelegt. Deshalb hat das Bundesverfas-
date. Weil Überhangmandate nicht ersetzt werden, kann
sungsgericht uns als Gesetzgeber drei Jahre Zeit gege-
sich innerhalb einer Legislaturperiode das Mehrheitsver-
ben, um eine Neuregelung zu finden. Jedoch ist die Zeit
hältnis ändern. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, in einem
nun fast um, und es gibt nichts von Ihnen, weil Sie sich
ersten Schritt die Überhangmandate durch Ausgleichs-
nicht einmal innerhalb der Koalition einigen können.
mandate zu egalisieren, um die Mehrheitsverhältnisse
Es kursierte bereits ein Entwurf. Herr Krings, Sie ha- nach Zweitstimmen im Bundestag richtig abzubilden.
ben ihn heute nochmals skizziert. Aber Sie scheinen bei Falls die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundes-
diesem Modell nicht einmal mit der FDP Einigkeit erzie- tages in nicht vertretbarer Weise ansteigen sollte, ist in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12643
Gabriele Fograscher
(A) einem zweiten Schritt, nach der Wahl 2013, zu prüfen, niswahlrecht – darüber sind wir uns, glaube ich, in (C)
ob der Bundestag durch die Reduzierung der Anzahl der diesem Hause einig – ist ein guter und richtiger Weg.
Wahlkreise wieder verkleinert werden sollte. Mir ist be- Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht in der
wusst, dass die dann vorzunehmende Neuzuschneidung bereits zitierten Entscheidung vom 3. Juli 2008 beschei-
der Bundestagswahlkreise eine große Aufgabe und He- nigt, indem es sagt – ich zitiere –: Der Gesetzgeber „darf
rausforderung ist. Ich betreue dieses Thema seit vielen auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, etwa
Jahren und meine, dass ein verfassungskonformes und indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig
transparentes Wahlrecht der Mühe wert ist. Unser Vor- nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältnis-
schlag lautet: Lassen wir Ausgleichsmandate zu, und wahlprinzip zulässt“.
entscheiden wir über Veränderungen bei der Zahl der
Trotzdem hat des Bundesverfassungsgericht das
Wahlkreise nach der nächsten Bundestagswahl.
Wahlrecht insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein
Noch ein Satz zum Gesetzentwurf der Linken. Er ist Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen
ein Sammelsurium von Wahlrechtsänderungen – es sind führen kann, die über die Landesliste vergeben werden
auch Grundgesetzänderungen dabei –, die mit dem Ur- – das hat der Kollege Oppermann zu Anfang am Bei-
teil des Bundesverfassungsgerichts nur wenig zu tun ha- spiel NRW ausgeführt –, oder weil ein Verlust an Zweit-
ben. stimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führen kann, die
über die Landesliste vergeben werden.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Gar nicht!)
Das Bundesverfassungsgericht hat uns denkbare Lö-
Unter anderem fordern Sie die Abschaffung der 5-Pro-
sungswege aufgezeigt. Zum einen könnte man demzu-
zent-Hürde. Ich meine, die 5-Prozent-Hürde hat sich be-
folge beim Entstehen – ich betone: Entstehen – der
währt. Sie hat bislang verhindert, dass Splitterparteien
Überhangmandate ansetzen. Zum anderen wurde expli-
und rechtsextremistische Parteien in den Bundestag ein-
zit der Verzicht auf Listenverbindungen genannt. Zu-
gezogen sind. Die 5-Prozent-Regelung hat andererseits
gleich wurden aber auch die möglichen Auswirkungen
aber nicht verhindert, dass neue Parteien den Weg in die-
beider Denkansätze angedeutet, und es wurde nach-
ses Parlament gefunden haben.
drücklich auf die hohe Komplexität der möglichen Rege-
(Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ lungen hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat
CSU]) uns damit deutlich gemacht, dass eine Lösung in Rein-
form vielleicht gar nicht möglich ist, sondern wir mög-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
lichst nah an die Lösung des Problems des negativen
rungsfraktionen, Sie haben viel Zeit verstreichen lassen.
Stimmgewichts herankommen müssen. Wenn Sie Ent-
Nehmen Sie unsere Vorschläge ernsthaft auf, kehren Sie
würfe vorlegen, dann müssen Sie auch erlauben, dass
(B) an den Verhandlungstisch zurück, und lassen Sie uns die wir uns mit ihnen auseinandersetzen.
(D)
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen!
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Danke sehr.
NEN]: Das wollen wir sogar! Wir würden es
(Beifall bei der SPD) gern auch andersrum machen!)
– Das mache ich dann auch. Ich fange aber mit den Kol-
Vizepräsident Eduard Oswald: legen der SPD an und nicht mit Ihnen, Herr Kollege
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. – Wieland.
Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Patrick Sensburg
für die Fraktion der CDU/CSU. Der Vorschlag der SPD – das haben meine Vorredner,
besonders Herr Dr. Krings, deutlich gemacht – setzt
nicht am entscheidenden Problem an, sondern findet ei-
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
nen Ausgleich für Überhangmandate. Er sattelt also
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
drauf. Ich kann das verstehen: Wenn man die Besorgnis
Kollegen! Das Wahlrecht – das wurde durch die Ausfüh-
hat, keine direkten Wahlkreise zu holen, dann will man
rungen meiner Vorredner deutlich – ist eine staatsrechtli-
Überhangmandate ausgleichen. Im Jahre 2002 hatten Sie
che und verfassungsrechtliche Feinarbeit, bei der leider
diese Überlegungen übrigens nicht, als Sie nämlich
oft auch machtpolitische Erwägungen angesprochen
selbst von Überhangmandaten profitiert haben.
werden. Das haben wir in der Rede des Kollegen
Oppermann direkt am Anfang der Debatte gesehen. Erst (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
hieß es, dass Machtpolitik nicht betrieben werde, doch Wir sind geläutert!)
dann spielten machtpolitische Erwägungen in den Aus-
Es ist schon interessant, dass dieser Vorschlag gerade
führungen eine zentrale Rolle. Ich versuche, das bei der
jetzt kommt. Schauen wir uns einmal an, Herr Kollege
Bewertung der vorliegenden Vorschläge zu vermeiden.
Oppermann, zu welchen Auswirkungen das Ganze füh-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren würde! Legen wir die Wahl 2009 zugrunde, würde es
NEN]: Klappt nicht!) dazu führen, dass es 60 Mandate mehr in diesem Bun-
destag gäbe. Wenn wir – das haben wir eben angespro-
– Ich gebe mir Mühe, Herr Kollege Wieland.
chen – diese Idee weiterverfolgen, dann würde Ihr
Das deutsche Wahlrecht hat beide Extreme erlebt, so- Entwurf dazu führen, dass sich der Bundestag gegebe-
wohl das Mehrheitswahlrecht als auch das Verhältnis- nenfalls um über 100 Mandate aufblähen kann. Wir hät-
wahlrecht. Die Kombination im personalisierten Verhält- ten dann eine große Schwankung zwischen der Grund-
12644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) mandatszahl und der möglichen Mandatszahl durch Herr Kollege Korte, der Entwurf hat übrigens auch (C)
Überhangmandate und Ausgleichsmandate; denn beide sprachliche Mängel.
müssen nämlich berücksichtigt werden.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Ihre Rede auch!)
Ich glaube, das ist ein großes Problem und schafft Lesen Sie sich einmal den von Ihnen vorgeschlagenen
keine Sicherheit. Sie sollten noch einmal darüber nach- § 7 a Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes durch! Wenn Sie
denken, ob damit das System des negativen Stimmge- den verstehen, alle Achtung! – Nicht die Rede, Herr Kol-
wichts beseitigt wird oder ob wir nicht vielmehr eine lege Korte, die kann man, glaube ich, verstehen. –
hohe Ungleichgewichtigkeit schaffen. Das ist vorhin be-
reits angesprochen worden. (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Jetzt Ihr Vorschlag!)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Was wollen Sie?) Die Vorschläge sind von den Kollegen Dr. Krings und
Dr. Ruppert gekommen.
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen macht mir (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wirklich Sorgen, vor allem – der Kollege Mayer hat es DIE GRÜNEN)
vorhin angesprochen – als direkt gewählter Abgeordne-
ter. Wenn man die Nähe zu seinem Wahlkreis hat und er- Ich würde mir in diesem Haus wünschen, dass wir das
kennt, dass nach Ihrem Entwurf über die Listenverbin- Thema Wahlrecht – ich hatte es zu Anfang gesagt – frak-
dungen einige direkt gewählte Abgeordnete herausfallen tionsübergreifend debattieren und diskutieren,
können, dann bereitet das Sorgen. Das gilt insbesondere (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
im Hinblick auf die Wähler, die gesagt haben: „Ich Bis Ende Juni!)
wähle diesen Abgeordneten“, wenn dann aufgrund des
Länderproporzes dieser Abgeordnete herausfallen muss. dann aber auch fraktionsübergreifend eine Lösung fin-
Ich weiß nicht, was der Kollege Ströbele dazu sagt; mo- den. Es ist ausreichend Zeit, das gemeinsam zu tun. Wir
mentan sagt er gar nichts. müssen allerdings die Thematik seriös angehen. Sie ha-
ben mit Ihren drei Vorschlägen gezeigt, dass Sie nicht
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zur Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts
GRÜNEN]: Ich falle da nicht drunter!) beitragen. Sie haben Vorschläge vorgelegt, die uns im
Im Hinblick auf diese Problematik kann ich Ihren Vor- Kern nicht weiterbringen.
schlag nicht gutheißen. Er beseitigt das Problem des ne- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
gativen Stimmgewichts sowieso nicht; er lässt Direkt- Sie haben gar nichts vorgelegt!)
(B) mandate hinten herunterfallen. Ich glaube, auch dieser (D)
Ansatz ist im Ergebnis nicht gut. Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, sodass
wir es schaffen, gemeinsam über die Fraktionen Lösun-
Zum Gesetzentwurf der Linken ist schon einiges ge- gen zu finden und das Wahlrecht auf eine breite Basis zu
sagt worden. Er ist ein Sammelsurium, das weit über das stellen! Der Kollege Krings hat hierzu Vorschläge ge-
Bundesverfassungsgerichtsurteil hinausgeht – macht.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ja!) (Zuruf von der SPD: Wann?)
Setzen Sie sich mit uns gemeinsam an einen Tisch. Dis-
das ist bereits angesprochen worden –: das Auslän-
kutieren Sie diese Vorschläge. Die Einladungen sind er-
derwahlrecht, das Wahlrecht mit 16 Jahren, aber auch
folgt, anders als Sie es vorhin gesagt haben. Ich würde
die 5-Prozent-Klausel. Ich frage mich manchmal, welche
mir wünschen, dass wir dann ein Wahlrecht bekommen,
Sorgen Sie eigentlich haben, dass Sie gerade die 5-Pro-
das von einer breiten Mehrheit hier im Deutschen Bun-
zent-Klausel abschaffen wollen. Das zeigt, wo Sie Ihre
destag getragen ist.
Zukunft sehen. Es kann doch nicht der richtige Ansatz
sein, bei einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts Danke schön.
alles Mögliche machen zu wollen, nur nicht, dem Auf-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
trag Rechnung zu tragen.
(Jan Korte [DIE LINKE]: Legen Sie doch sel- Vizepräsident Eduard Oswald:
ber einmal etwas vor! Nichts vorlegen, aber Vielen Dank, Kollege Dr. Patrick Sensburg. – Nun hat
hier den Dicken machen!) das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege
Auch Sie schwächen übrigens den direkt gewählten Ab- Wolfgang Wieland.
geordneten. Herr Kollege Korte, Sie haben eben von
mehr Demokratie gesprochen. Warum schwächen Sie
dann die direkt gewählten Abgeordneten mit den Über- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hangmandaten? Das ist doch nicht mehr Demokratie, das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
ist weniger Demokratie. Das würden Sie erkennen, wenn lege Sensburg, man muss sich vorher ehrlich machen. In
Sie es einmal bis zum Schluss durchdenken würden. der Frage der Wahlgesetzgebung haben wir als Parteien
alle Eigeninteressen. Ich habe schon das letzte Mal, als
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: wir zu Ende der vergangenen Legislaturperiode hier über
Jetzt Ihr Vorschlag!) unseren Entwurf debattiert haben, gesagt: Wir sind eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12645
Wolfgang Wieland
(A) kleine Partei und von Überhangmandaten relativ weit (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!) (C)
entfernt. Daraufhin erntete ich wütenden Protest von
wütend gesagt: Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht
Claudia Roth, meiner Parteivorsitzenden. Deswegen
und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht da-
wiederhole ich dies heute nicht, auch weil das mit der
rum, was man machen kann, sondern darum, dass man
kleinen Partei möglicherweise nicht mehr richtig ist.
verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt
Aber wir bleiben bei unseren Überzeugungen. Unsere wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht
Überzeugungen entsprechen dem Arbeitsauftrag des mehr ist. – Er sagte weiter: Da sitzen Sie ein ganzes Jahr
Bundesverfassungsgerichtes, das negative Stimmge- herum und tun nichts. – Jetzt haben Sie weitere zwei
wicht zu beschneiden und dafür zu sorgen, dass es keine Jahre herumgesessen und nichts getan. Das ist ein Ar-
Verfälschung des Wählerinnen- und Wählerwillens mutszeugnis. Das muss hier gesagt werden.
durch Überhangmandate geben darf. Das ist zu erledi-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gen, und nicht das Risibisi der Linksfraktion oder die
und bei der SPD)
mündlichen Vorschläge, die Sie hier nun vorgelegt ha-
ben, Herr Kollege Krings. Durch diese Vorschläge Noch ein Wort zur Rechtsstaatspartei FDP. Kollege
würde genau das Gegenteil erreicht. Sie würden dazu Burgbacher hat, als er noch Parlamentarischer Ge-
führen, dass es sogar mehr negative Gewichtung und schäftsführer war und nicht unentwegt Akten studieren
mehr Überhangmandate geben könnte. Sie glauben doch musste, am Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe ge-
wohl nicht, dass wir da mitmachen werden. sagt: Jetzt muss der Gesetzgeber handeln. Es besteht
dringender Handlungsbedarf. – Daraus wurden bei Frau
Es ist nachgerade merkwürdig, dass ausgerechnet die Leutheusser-Schnarrenberger eine Warnung vor Aktio-
CSU, die Partei von „Kopf-ab-Jaeger“ und Franz Josef nismus und eine Forderung nach Augenmaß und Ruhe.
Strauß, nun sagt: Bitte, Grüne, mehr Milde mit der CSU. Inzwischen sind Sie offenbar eingeschlafen, meine Da-
(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Res- men und Herren von der FDP; denn von Ihnen kommt
pekt vor dem Wähler!) nichts mehr.
– Den haben wir immer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha! – KEN)
Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Of-
fensichtlich nicht!) Vor allem die SPD, aber auch die Linkspartei haben
hier brauchbare Vorschläge zu der Frage, wie man das
– Selbstverständlich. – Wir hatten das letzte Mal als negative Stimmgewicht verhindern und wie man zu ei-
(B) Einzige einen Vorschlag gemacht. Selbst Ihr Parla- nem korrekten Umgang mit Überhangmandaten kom- (D)
mentspräsident Lammert hat vor der letzten Bundes- men kann, vorgelegt. Das ist eine Diskussionsgrundlage.
tagswahl gesagt: Es wäre gut, wenn wir schon ein ver- Es gibt natürlich auch hier Haken; da sind wir uns doch
fassungsgemäßes Wahlrecht hätten. Da war Ihr einig. Das negative Stimmgewicht wird nicht ganz aus-
Hauptargument: Ihr habt das Problem der CSU nicht ge- geschlossen, und über die Frage, wie groß der Bundestag
löst. – Wir haben zugegeben, dass wir das Problem der werden soll, muss debattiert werden. Darüber kann auch
CSU nicht gelöst hatten. debattiert werden. Aber wir müssen doch zu einem Er-
gebnis kommen. Sie sagen hier so schön: Wir wollen den
Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, durch den
Konsens. Kollege Mayer sagt, er habe Respekt vor allen
das Problem der CSU klar und eindeutig gelöst wird.
Vorschlägen, um sie im nächsten Satz als schäbig und
Dazu sagen Sie nun wieder: So geht das aber ganz und
vordemokratisch zu bezeichnen. Respekt stelle ich mir
gar nicht. – Sie sind nicht nur eine Dagegen-Partei, son-
anders vor. Wir haben die Sonderrolle der CSU immer
dern auch – Sie sind beides in Kombination – eine Tu-
respektiert. Nur, wir sagen: Eine Partei, die eine solche
nix-Partei.
Sonderrolle beansprucht, kann sich nicht immer wie ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rosinenpicker das Beste aussuchen: hier nach der Ge-
und bei der SPD) schäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Frak-
tionsgemeinschaft bilden, aber dann, wenn es einmal,
Daher sollten Sie hier den Mund nicht so voll nehmen. wie sie glaubt, zu ihrem Nachteil ist, aber immer noch
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie mar- gerecht und dem Wählerwillen entsprechend, die belei-
schieren in eine Sackgasse!) digte Leberwurst spielen und sich als Opfer darstellen.
Das geht nicht.
Professor Meyer hat schon damals in der letzten Le-
gislaturperiode (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Stephan, Du
bist Professor geworden? Herzlichen Glück- Wir haben immer gesagt: Das Problem der Berliner
wunsch!) Zweitstimmen ist für uns ein geringes. Die SPD will es
jetzt lösen. Für uns ist klar: Der Linksparteiwähler aus
– nicht dieser Herr Mayer; hören Sie einmal zu – in der Lichtenberg oder Marzahn wählt seine Partei, wie auch
Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, über den im Übri- immer sie gerade heißt, wo auch immer er sie auf dem
gen alle Sachverständigen sagten, das wäre ein Weg, den Stimmzettel findet. Er wählt sie, ob die Vorsitzenden nun
man gehen könnte, Karl und Rosa oder Klaus und Gesine heißen.
12646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Wolfgang Wieland
(A) (Heiterkeit und Beifall des Abg. Dr. Frithjof (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Für Sie ganz offensichtlich!)
Dass gerade dieser Wähler seine Stimme splittet, ist am Der Vorschlag der Sozialdemokraten – das muss man
unwahrscheinlichsten. Das ist ein Scheinproblem. Aber, klar sagen – beseitigt das negative Stimmgewicht nicht,
bitte schön, von mir aus können wir auch Scheinpro- erfüllt also den verfassungsrechtlichen Auftrag jeden-
bleme lösen. falls nicht vollständig.
(Beifall des Abg. Dr. Frithjof Schmidt (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Überhaupt
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht!)
Schließlich und endlich meine letzte Bemerkung. Es Außerdem bläht er den Deutschen Bundestag auf. Hinter
wurde gesagt: Wir debattieren hier nicht unsere Rechte die Lösung, letztlich einfach die Zahl der Mitglieder des
als Parteien und Fraktionen. Wir debattieren das Recht Deutschen Bundestages zu vergrößern, sodass es also
des Souveräns. Wir diskutieren über das Recht der Bür- mehr Abgeordnete gibt, ist ein Fragezeichen zu setzen.
gerinnen und Bürger, dass ihre Stimmen bei Wahlen
wirksam werden. – Das muss mit Ernst geschehen, das Bei Grünen und Linken wird offenkundig, dass sie ein
muss im vorgegebenen Zeitrahmen geschehen, und das Problem mit den Überhangmandaten haben.
müsste endlich auch ergebnisorientiert geschehen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vielen Dank. NEN]: Ja!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist aber kein verfassungsrechtliches Problem,
und bei der SPD)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Eduard Oswald: NEN]: Doch!)
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. – Nun sondern ein politisches, Ihr politisches Problem.
spricht für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas
Strobl. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Er ist der (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE
letzte Redner in dieser Debatte. GRÜNEN]: Nein! Das verfälscht den Wähler-
willen! Also ist es auch ein verfassungsrecht-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liches Problem!)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): – Nein. Die Überhangmandate sind die Ursache des ne-
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gativen Stimmgewichts. Sie selbst sind aber nicht ver- (D)
Meine Damen und Herren! Als das Bundesverfassungs- fassungswidrig. Es gibt durchaus Möglichkeiten und
gericht in Karlsruhe am 3. Juli 2008 das negative Stimm- Wege, die Überhangmandate beizubehalten und trotz-
gewicht für verfassungswidrig erklärt hat, war allen Be- dem zu einer verfassungsmäßigen Lösung zu kommen.
teiligten klar, dass dem Gesetzgeber damit eine harte (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau!
Nuss aufgegeben wird. Deswegen hat das Bundesverfas- Selbst ein Mehrheitswahlrecht wäre verfas-
sungsgericht eine lange Frist, bis zum 30. Juni dieses sungsgemäß!)
Jahres, gesetzt.
Sie verkennen, dass Überhangmandate immer direkt
Klar ist in Karlsruhe bereits in der mündlichen Ver-
gewählten Abgeordneten zufallen. Diese Abgeordneten
handlung geworden, dass es beim Wahlrecht keinen Kö-
haben die höchste demokratische Legitimation, die es
nigsweg gibt. Die komplizierte Verschränkung von Ver-
überhaupt gibt. Wir wollen dieses Element des Mehr-
hältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht, wie wir sie in
heitswahlrechtes in unserem Wahlrecht nicht aufgeben,
unserem deutschen Wahlrecht kennen, bringt immer
sondern es im Zweifel eher etwas stärken. Außerdem ist
Brüche und Schwierigkeiten mit sich. Die Tatsache, dass
der Vorschlag der Grünen ein Vorschlag, der dem Prinzip
jede der Oppositionsfraktionen – Linke, Grüne, SPD –
der Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht in dem
einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, dass also un-
Maße gerecht wird, wie es nach dem jetzigen Wahlrecht
terschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen, bestätigt, dass
der Fall ist. Der Vorschlag wird auch unter föderalen Ge-
es den Königsweg offensichtlich nicht gibt.
sichtspunkten – das ist keine Verfassungsvorgabe – dem,
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE was wir uns in einem föderalen Bundesstaat vorstellen,
GRÜNEN]: Im Wahlrecht gibt es keinen Kö- eben nicht gerecht, und das möchten wir nicht akzeptie-
nig!) ren.
Ich räume ein, dass es kein Ruhmesblatt für die Koali- Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Noch ein-
tionsfraktionen ist, bisher keinen eigenen Gesetzentwurf mal: Karlsruhe hat nicht die Überhangmandate als sol-
vorgelegt zu haben. che für verfassungswidrig erklärt, sondern es geht um ei-
nen Mangel namens negatives Stimmgewicht, der für
(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler
verfassungswidrig erklärt worden ist und den wir zwei-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
fellos zu beseitigen haben. Ein Mangel! Diesen Mangel
Aber auch dies zeigt, dass die Materie eine außerordent- zu beseitigen, heißt aber nicht, dass wir jetzt zu einer Ge-
lich schwierige ist. neralüberholung unseres Wahlrechts kommen müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12647
Thomas Strobl (Heilbronn)
(A) (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das wäre b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ (C)
aber ein guter Anlass!) CSU und FDP
– Nein, das wollen Sie. Sie wollen dies jetzt zum Anlass Einrichtung einer Interparlamentarischen
nehmen, um das ganze Wahlrecht sozusagen wegzuspü- Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si-
len. cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik der Europäi-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Demokra- schen Union
tisch zu machen!)
– Drucksache 17/5903 –
Wir haben hier eine etwas andere Vorstellung. Überweisungsvorschlag:
Wir glauben und sind ganz überzeugt, dass wir mit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
dem Wahlrecht, welches wir haben, einer Symbiose zwi- Verteidigungsausschuss
schen dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrheitswahl-
recht, in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland gut c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
gefahren sind. Wir glauben im Übrigen auch, dass eine Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, wei-
ganz große Mehrheit in der Bevölkerung das Wahlrecht, teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
das wir haben, für gut und richtig hält. Deswegen müs- eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
sen wir einen Mangel beseitigen, den uns Karlsruhe zu Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur
beseitigen aufgegeben hat. grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs
aus der Atomenergie)
Es ist wirklich mein Wunsch, dass wir das gemeinsam
tun, auch gemeinsam mit der Opposition, also fraktions- – Drucksache 17/5474 –
übergreifend. Beim Wahlrecht haben wir im Deutschen Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Bundestag eine lange Tradition, über die Parteigrenzen Rechtsausschuss
hinweg die Kraft zu entwickeln, zu gemeinsamen Lö- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sungen zu kommen. Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann müssen Sie sich aber auch d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
einmal bewegen! Wir kommen nicht einfach Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
zu Ihnen ins Boot!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir diese Kraft
(B) erneut entwickeln und dass sich jeder auch einen Ruck zu dem Vorschlag für eine Verordnung (EU) (D)
gibt. Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verord-
nung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleuni-
Noch einmal: Den Königsweg beim Wahlrecht gibt es gung und Klärung des Verfahrens bei einem
nicht. Es wird immer nur einen Kompromiss geben. übermäßigen Defizit (Ratsdok. 14496/10)
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir alle an ei- zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
nem solchen Kompromiss mitwirken. über die Anforderungen an die haushaltspoli-
Danke schön. tischen Rahmen der Mitgliedstaaten (Ratsdok.
14497/10)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates über die
Vizepräsident Eduard Oswald: wirksame Durchsetzung der haushaltspoliti-
Vielen herzlichen Dank, Kollege Thomas Strobl. – schen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die (Ratsdok. 14498/10)
Aussprache.
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- ropäischen Parlaments und des Rates zur Än-
würfe auf den Drucksachen 17/5895 und 17/5896 an die derung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- den Ausbau der haushaltspolitischen Über-
schlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. – Das ist wachung und der Überwachung und Koordi-
somit so beschlossen. nierung der Wirtschaftspolitiken (Ratsdok.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f sowie 14520/10)
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- des Grundgesetzes
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Bundes-Tierärzteordnung – Drucksache 17/5904 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/5804 – Haushaltsausschuss (f)
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verbraucherschutz (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
12648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra Finanzausschuss (C)
Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
DIE LINKE Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- Abgeordneter und der Fraktion der SPD
päischen Parlaments und des Rates über Schnelles Internet für alle – Flächendeckende
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
übermäßiger makroökonomischer Ungleich- Impulse für eine dynamische Entwicklung set-
gewichte im Euro-Währungsgebiet (Ratsdok. zen
14512/10, KOM[2010] 525)
– Drucksache 17/5902 –
und
Überweisungsvorschlag:
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Euro- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
päischen Parlaments und des Rates über die Innenausschuss
Vermeidung und Korrektur makroökonomi- Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
scher Ungleichgewichte (Ratsdok. 14515/10; Verbraucherschutz
KOM[2010] 527) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 Ausschuss für Kultur und Medien
des Grundgesetzes Haushaltsausschuss

– Drucksache 17/5905 – d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom


Überweisungsvorschlag: Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bre-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Finanzausschuss BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss Internet-Telefonie in Afghanistan
f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums – Drucksache 17/5908 –
der Finanzen
Überweisungsvorschlag:
Entlastung der Bundesregierung für das Verteidigungsausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
(B) Haushaltsjahr 2010 (D)
– Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
für das Haushaltsjahr 2010 – Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
– Drucksache 17/5648 – tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
Burchardt, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Schutzbedürftigen
Fraktion der SPD
– Drucksache 17/5909 –
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum
Überweisungsvorschlag:
Wintersemester 2011/12 jetzt starten Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
– Drucksache 17/5899 – Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
Haushaltsausschuss der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver-
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, kehrspolitik in Deutschland und Europa nut-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zen
Transparenz bei Rückstellungen im Kernener- – Drucksache 17/5906 –
giebereich schaffen Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
– Drucksache 17/5901 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12649
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola (Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ (C)
von Cramon-Taubadel, Claudia Roth (Augsburg), DIE GRÜNEN]: Zustimmung! Wir stimmen
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der mit Ja! – Beifall bei der FDP)
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Zustimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
Frauen- und Mädchenfußball stärken – Fuß- zugestimmt. –
ballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesell-
schaftspolitisch nutzen Damit ist das protokollarisch erledigt. Jetzt atmen wir
kurz durch. Dann sind Sie in der Lage, die dritte Bera-
– Drucksache 17/5907 – tung und Schlussabstimmung durchzuführen.
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f) Dritte Beratung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü-
ten Verfahren ohne Debatte. nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Niemand. Stimmenthaltungen? – Das ist die Fraktion
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/5474 – Ta- Tagesordnungspunkt 31 b:
gesordnungspunkt 30 c – soll federführend beim Innen-
ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstan- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
beschlossen. eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäi-
schen Kommission vom 14. Dezember 2010 für
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 k auf. einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu Standpunkts der Union im Stabilitäts- und
denen keine Aussprache vorgesehen ist. Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische
Tagesordnungspunkt 31 a: Republik Mazedonien im Hinblick auf die Be-
teiligung der ehemaligen jugoslawischen Re-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- publik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und 5 der Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des (D)
(B) zur Anpassung der Vorschriften über den Rates als Beobachter an den Arbeiten der
Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzver- Agentur der Europäischen Union für Grund-
trägen und über verbundene Verträge rechte und die entsprechenden Modalitäten
– Drucksache 17/5097 – einschließlich Bestimmungen über die Mitwir-
kung an den von der Agentur eingeleiteten Ini-
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- tiativen, über finanzielle Beiträge und Perso-
schusses (6. Ausschuss) nal
– Drucksache 17/5819 – – Drucksache 17/5710 –
Berichterstattung:
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Sonja Steffen ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Stephan Thomae Union (21. Ausschuss)
Halina Wawzyniak – Drucksache 17/5954 –
Ingrid Hönlinger
Berichterstattung:
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Abgeordnete Thomas Dörflinger
empfehlung auf Drucksache 17/5819, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5097 in Michael Roth (Heringen)
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Oliver Luksic
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Thomas Nord
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Manuel Sarrazin
gen? – Enthaltungen? – Das Stimmverhalten der Grünen Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
war hier oben nicht sichtbar. Wir geben der Fraktion die
schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
Möglichkeit, dies zu korrigieren. – Wie ist Ihr Abstim-
auf Drucksache 17/5954, den Gesetzentwurf der Bun-
mungsverhalten? – Die Mehrheitsverhältnisse sind aber
desregierung auf Drucksache 17/5710 anzunehmen. Ich
auch so klar geworden. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen. bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Keine Gegen-
Der Kollege Volker Beck gibt noch einen Hinweis. stimmen. Enthaltungen? – Enthaltungen der Fraktion
Wie war das Stimmverhalten? Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
12650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Tagesordnungspunkt 31 c: Tagesordnungspunkt 31 f: (C)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss)

zu dem Arbeitsdokument der Kommissions- Sammelübersicht 263 zu Petitionen


dienststellen Öffentliche Konsultation: – Drucksache 17/5781 –
Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohä-
renten europäischen Ansatz Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
SEK(2011) 173 endg. nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Das ist die Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bünd-
– Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956 – nis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 263 ist somit
angenommen.
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Tagesordnungspunkt 31 g:
Dr. Eva Högl
Burkhard Lischka Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Marco Buschmann ausschusses (2. Ausschuss)
Raju Sharma Sammelübersicht 264 zu Petitionen
Ingrid Hönlinger
– Drucksache 17/5782 –
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da-
diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. gegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch niemand. So-
Gegenprobe! – Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen mit ist die Sammelübersicht 264 angenommen.
und Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Die Linksfrak- Tagesordnungspunkt 31 h:
tion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 31 d: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 265 zu Petitionen
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
– Drucksache 17/5783 –
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
(B) fassungsgericht 2 BvC 3/11 Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, (D)
Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
– Drucksache 17/5952 – stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Stimment-
haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
Berichterstattung: 265 angenommen.
Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-
Schwenningen) Tagesordnungspunkt 31 i:

Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Wahlprü- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
fungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungs- ausschusses (2. Ausschuss)
gericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsi- Sammelübersicht 266 zu Petitionen
denten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick
als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt – Drucksache 17/5784 –
dafür? – Das sind alle. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die
Enthaltungen? – Auch nicht. Die Beschlussempfehlung Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Die Links-
ist somit einstimmig angenommen. fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ent-
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des haltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
Petitionsausschusses. 266 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss)
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
– Drucksache 17/5785 –
– Drucksache 17/5780 –
Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die
Wer stimmt dafür? – Das sind alle Kolleginnen und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? –
Kollegen. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun- Die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Auch niemand. Damit ist die Sammelüber- gen? – Niemand. Sammelübersicht 267 ist somit ange-
sicht 262 angenommen. nommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12651
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Tagesordnungspunkt 31 k: rung gestimmt. Aber das haben Sie wohl nicht getan, (C)
weil Sie die Sorge um die Finanzstärke der gesetzlichen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Krankenkassen umtrieb oder Ihnen die Aufkündigung
ausschusses (2. Ausschuss)
der paritätischen Finanzierung durch die Arbeitgeber
Sammelübersicht 268 zu Petitionen den Schlaf geraubt hat. Nein, vielmehr hieß es in einer
Mitteilung des heutigen Gesundheitsministers bereits
– Drucksache 17/5786 – 2007 – ich zitiere –:
Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio- Die FDP bemängelt, dass die Reform an der Umla-
nen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen gefinanzierung des Gesundheitssystems festhält.
von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen so-
wie die Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Somit Aber genau in der schleichenden Aushebelung der pari-
ist die Sammelübersicht 268 angenommen. tätischen Finanzierung liegt eines der Probleme, das den
gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen macht und nun
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
die erste in die Insolvenz getrieben hat.
Aktuelle Stunde
Zur Erinnerung: Die Aushöhlung der paritätischen Fi-
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
nanzierung hat schon 2003 begonnen. Bereits damals
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und wurde die Arbeitgeberseite in großem Stil entlastet. Für
die Folgen für Versicherte die Verschiebung der Last auf die Schultern oder, besser
gesagt, die Geldbörsen der Versicherten durch die Pra-
Die erste Rednerin dieser Aktuellen Stunde kommt
xisgebühr, Zuzahlungserhöhungen und Leistungskür-
aus der Fraktion Die Linke und ist unsere Kollegin Frau
zungen ist – auch wenn Sie es jetzt nicht mehr hören
Diana Golze. Ich gebe ihr das Wort. Bitte schön, Frau
wollen – Rot-Grün verantwortlich. Schwarz-Rot hat
Kollegin Diana Golze.
über die Zusatzbeiträge genau diese Politik fortgesetzt.
(Beifall bei der LINKEN) Das zeigt: Es ging nicht um die heilige Kuh Beitrags-
satzstabilität, sondern von vornherein darum, den Bei-
Diana Golze (DIE LINKE): trag der Arbeitgeber zu senken. Die Linke sagt: Das ist
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- ungerecht und unsolidarisch und gehört geändert.
nen und Kollegen! Tatort Berlin-Weißensee, 12. Mai (Beifall bei der LINKEN)
2011, Charlottenburger Straße, 10 Uhr: Frau K., 76 Jahre
alt, und ihr Mann, 78 Jahre, stehen in einer Schlange von Das erklärte Ziel der vorangegangenen Bundesregie-
etwa 120 Menschen. Sie tun dies nicht, um Konzertkar- rungen war eine Beschleunigung des Wettbewerbs der
(B)
ten für eine Schlagerrevue zu ergattern oder um mit Krankenkassen. Es ging aber nicht etwa um einen Wett- (D)
Nachbarn zu plaudern. Nein, sie stehen hier vor der Ge- bewerb um bessere Leistungen oder mehr Vorsorgepro-
schäftsstelle der AOK, weil die Krankenkasse, bei der gramme; es ging um einen Wettbewerb um junge, ge-
sie seit Jahren versichert waren und für die sie sogar seit sunde und zahlungskräftige Versicherte.
einigen Monaten einen Zusatzbeitrag gezahlt haben, In- Der Zusammenbruch der City BKK zeigt, dass die
solvenz angemeldet hat. Aus, Ende. Zwar hat man Fami- Gesundheitsreformen vor allem zu einem geführt haben:
lie K. gesagt, sie habe nun das Recht, sich eine neue Versicherte werden zu Verunsicherten. Denn trotz ge-
Krankenkasse zu suchen, und diese habe die Pflicht, sie setzlichem Anspruch auf Aufnahme in eine Kranken-
aufzunehmen. Doch das, was das Ehepaar K. in den letz- kasse ihrer Wahl gab es für viele Versicherte der City
ten Tagen erlebt hat, war ein Skandal. BKK erst einmal nur Chaos. Das ist für die Betroffenen
(Beifall bei der LINKEN) entwürdigend, aber es war vorhersehbar. Denn alle
Krankenkassen mit hohem Bestand an alten und chro-
Bei anderen Kassen sind sie abgewimmelt worden mit nisch kranken Menschen sind gezwungen, auf Teufel
Aussagen wie „Dann gibt es aber keine Zusatzleistungen komm raus zu sparen, selbst bei gesetzlich garantierten
mehr“ oder einfach nur „Wir sind voll“. Familie K. ist Ansprüchen, zum Beispiel Eltern-Kind-Kuren. Durch
deshalb verunsichert und in großer Sorge. Wird die ge- eine solche Politik werden Versicherte, die jahrelang ih-
plante Hüft-OP für Frau K. noch stattfinden? Wird Herr ren Beitrag plus Zusatzbeiträge zahlen, zu Bittstellern
K. seine teuren Medikamente weiter verschrieben be- gemacht. Das ist ein Skandal.
kommen?
(Beifall bei der LINKEN)
Die FDP sagt nun – ich zitiere –:
Wir brauchen in der Krankenversicherung nicht mehr
Die demografische Entwicklung … hat Auswirkun- Wettbewerb nach dem Motto „Wer es länger schafft, Zu-
gen auf die gesamte Gesellschaft und kann nur im satzbeiträge zu verhindern, hat gewonnen“, sondern
Miteinander von Jung und Alt gelöst werden. mehr Solidarität.
Dies ist die Definition der FDP von Generationengerech- (Beifall bei der LINKEN)
tigkeit, die ganz offenkundig dann nicht gelten soll,
wenn es um die Gesundheitsversorgung von alten oder Wir brauchen die Wiederherstellung der paritätischen Fi-
chronisch kranken Menschen geht. Sicher, sehr geehrte nanzierung. Wer von einem Solidarsystem spricht, muss
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben 2007 die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite gleicherma-
gegen die Gesundheitsreform der schwarz-roten Regie- ßen zur Finanzierung heranziehen. Es ist doch klar im
12652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Diana Golze
(A) Interesse der Arbeitgeber, gesunde und motivierte Mitar- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Gesetze, die (C)
beiterinnen und Mitarbeiter zu haben. Sie gemacht haben!)
Abschließend gestatten Sie mir noch eine persönliche Die Gesetze sind eindeutig wie selten in einer solchen
Bemerkung. Ich gehöre im Deutschen Bundestag zur Situation:
Gruppe derer, die freiwillig gesetzlich versichert sind
Erstens. Jeder Versicherte der GKV hat die freie
und damit die Sozialkassen stärken. Die Einbeziehung
Wahl, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will,
der Selbstständigen, Beamten und auch Abgeordneten
wenn seine Krankenkasse – aktuell ist es die City BKK –
des Deutschen Bundestages ist deshalb für mich ein
pleitegeht.
Baustein für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürger-
versicherung. Dafür steht die Linke ohne Wenn und Zweitens. Jeder Versicherte der GKV muss von der
Aber! Krankenkasse aufgenommen werden, bei der er sich be-
wirbt.
Vielen Dank.
Drittens. Kein Versicherter der GKV ist ohne Versi-
(Beifall bei der LINKEN)
cherungsschutz, wenn seine Kasse insolvent wird.
Vizepräsident Eduard Oswald: Viertens. Wenn ein Versicherter sein Wahlrecht nicht
Vielen Dank, Frau Kollegin Diana Golze. – Jetzt hat ausübt oder keine Kasse findet, die ihn aufnimmt, so fällt
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes er nicht in ein Versicherungsloch, sondern er wird durch
Singhammer das Wort. Bitte schön, Kollege Johannes den Arbeitgeber, die Rentenversicherung oder die Ar-
Singhammer. beitsagentur einer Kasse zugewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dabei muss man darauf achten, dass die Kassen, die
sich diesen Versicherten gegenüber jetzt vorbildlich ver-
halten, entsprechend bewertet werden und dass die Kas-
Johannes Singhammer (CDU/CSU): sen, die sich in den letzten Tagen alles andere als vor-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- bildlich verhalten haben, da sie wenige Versicherte oder
ren! Wir lassen die Versicherten der City Betriebskran- gar keine Versicherten aufgenommen haben, bei den Zu-
kenkasse nicht allein. Die christlich-liberale Koalition weisungen entsprechend behandelt werden.
verhilft den 170 000 Versicherten der City BKK zu ih-
rem guten Recht. Vorstände von gesetzlichen Kranken- Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der So-
kassen, welche Versicherte der City BKK abwimmeln lidarität aller Beteiligten, von der Solidarität der Gesun-
oder unanständig behandeln, werden nicht ungeschoren den mit den Kranken, der Besserverdienenden mit den
(B) davonkommen. weniger gut Verdienenden, von der Solidarität der Kran- (D)
kenkassen mit günstiger Versichertenstruktur mit den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Krankenkassen mit etwas ungünstigerer Versicherten-
Die Rechtslage ist klar wie selten, und wir brauchen struktur. Damit die Solidarität nicht zum Nachteil für
keinerlei Nachhilfe der Linken, was zu tun ist. Die Ver- einzelne Kassen wird, haben wir im Gesetz Ausgleichs-
antwortlichen werden die Konsequenzen zu ziehen ha- und Sicherungssysteme vorgesehen, zum Beispiel den
ben. Was gesetzlich notwendig ist, werden wir tun, und Risikostrukturausgleich und die Haftungsverbünde der
zwar schnell, klar und konsequent. „Schnell, klar und Krankenkassen.
konsequent“ heißt, dass noch im Zusammenhang mit Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer als Vorstand
dem geplanten Versorgungsgesetz die notwendigen wei- einer gesetzlichen Krankenkasse das Solidaritätsgebot in
teren gesetzlichen Maßnahmen beschlossen werden. schlimmer und unangenehmer Weise verletzt, muss
Denjenigen Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen künftig im schlimmsten Fall damit rechnen, dass er ab-
Krankenkasse, die meinen, es sei besonders clever, gesetzt wird. Ich danke der Bundesregierung und insbe-
plötzlich die Geschäftsstelle ihrer Krankenkasse zu reno- sondere dem neuen Minister, dass sie hier so schnell und
vieren, wodurch der Publikumsverkehr verhindert wird, so konsequent handeln.
oder die meinen, es sei besonders klug, Rentner oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gehbehinderte Versicherte, die von der City BKK in eine Mechthild Rawert [SPD]: Er hat bis jetzt nur
neue Krankenkasse ihrer Wahl wechseln wollen, von ei- angedroht!)
nem Teil Berlins in einen ganz anderen Stadtteil, der nur
schwer zu erreichen ist, zu schicken, werden wir klarma-
chen, dass diese Art des Verhaltens nicht belohnt wird, Vizepräsident Eduard Oswald:
sondern dass sie Konsequenzen haben wird. Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. – Nun
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE Dr. Karl Lauterbach. Bitte schön, Kollege Dr. Karl
LINKE]: Ihr habt das doch eingebrockt!) Lauterbach.
Nicht die Mitarbeiter einer solchen gesetzlichen Kran-
kenkasse, sondern die Vorstände werden wir in Haftung Dr. Karl Lauterbach (SPD):
nehmen. Wir werden nicht zulassen, dass bestehende Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Gesetze vor aller Augen in der Öffentlichkeit nicht be- gen! Der Wettbewerb, den wir derzeit bei den gesetzli-
achtet, umgangen oder gar gebrochen werden. chen Krankenkassen beobachten, dreht sich nur noch um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12653
Dr. Karl Lauterbach
(A) drei Punkte: die Vermeidung eines Zusatzbeitrags, die aber die Versorgung liefe im Prinzip auf die Einheits- (C)
Vermeidung eines Zusatzbeitrags und die Vermeidung kasse hinaus. Somit schafft die FDP hier einen Wettbe-
eines Zusatzbeitrags. werb, der die Einheitskasse durch die Hintertür einführt.
Mehr ist dabei nicht herausgekommen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Tätä, tätä!)
Im Wesentlichen ist es so: Die Reform ist eine mor-
Alles andere spielt keine Rolle mehr. bide Reform. Ich bin übrigens nicht dagegen, dass wir
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sehr richtig! – weniger Kassen haben werden. Herr Rösler sagte, es
Jens Spahn [CDU/CSU]: Es war doch Ihre sollten Kassen in die Insolvenz gehen. Damit habe ich
Ministerin!) kein Problem. Ein Problem tritt aber auf, wenn diejeni-
gen Kassen in die Insolvenz gehen, die alte und kranke
– Ich komme gleich dazu, Herr Spahn. – Eine Kranken- Mitglieder haben oder deren Versicherte in der falschen
kasse, die gute Qualität aufweist und einen Zusatzbeitrag Stadt wohnen, beispielsweise in München, Hamburg
nehmen muss, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die um- oder Berlin. Was ist das für ein Wettbewerb? Bei dieser
fangreiche Kosten für Vorbeugemedizin trägt, verliert Art von Wettbewerb geht es nur darum, wo eine Kasse
Mitglieder. Eine Kasse, die einen guten Service bietet, zufällig ihren Sitz hat und welche Mitglieder sie hat. Es
verliert Mitglieder. Diejenigen, die gehen, sind die jun- geht überhaupt nicht mehr um die Qualität.
gen und die gesunden Mitglieder. Es sind diejenigen, die
Es wird darauf hinauslaufen, dass wir ein verheeren-
einkommensstark sind. Es sind diejenigen, die keine
des Signal an ältere und kranke Menschen geben: dass
Bindung zur Kasse haben – außer der, dass sie Beitrags- sie selbst in der gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr
zahler sind. Es gehen also die, die die Kasse braucht, um willkommen sind. Ein solches Signal müssen wir mit al-
die anderen – diejenigen, die alt und krank sind – mitzu- len Kräften vermeiden.
bezahlen. Das ist, wenn man so will, ein kranker Wettbe-
werb. (Beifall bei der CDU/CSU)
Jetzt ist das System selbst krank. Das System läuft da- Das ist das Signal, das in der privaten Krankenversiche-
rauf hinaus, dass jede Krankenkasse versuchen muss, rung übrigens zu jeder Zeit gegeben wird.
den Zusatzbeitrag zu vermeiden, egal was es kostet. Da (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, umso schlim-
kann man nicht überrascht sein, wenn die Kassen versu- mer!)
chen, die Mitgliedschaft derjenigen abzuwenden, die
Träger schlechter Risiken sind. Die private Krankenversicherung könnten Sie jeder-
zeit abschaffen, was Sie aber nicht wünschen. Das Sys-
Von der FDP wird das derzeit kritisiert. Aber man tem der privaten Krankenversicherung ist ja das Ideal-
(B) muss in Erinnerung rufen: Die FDP hatte in ihrem Wahl- bild der FDP: Privatversicherung für alle. In der privaten (D)
programm für die letzte Bundestagswahl noch den Vor- Krankenversicherung können sich behinderte und ältere
schlag, die gesamte gesetzliche Krankenversicherung zu Menschen gar nicht versichern. Jetzt haben Sie die ge-
privatisieren. Das wäre dann das System für alle gewe- setzlichen Krankenkassen dementsprechend ein wenig
sen. Was wir erleben, ist also im Prinzip nur ein Teil des- umgestaltet. Wir werden Leistungskürzungen erleben.
sen, was die FDP und auch Herr Bahr damals in Rein- Wir werden sehen, dass im Jahr 2012/13 die Kranken-
kultur wollten. Im Ernst: Was wir derzeit sehen, ist doch kassenzusatzbeiträge – das sind die einzigen Beiträge,
nichts anderes, als dass die FDP mit Krokodilstränen vor auf die es ankommt – zwischen 0 und 30 Euro liegen
den Folgen ihrer eigenen Reform warnt. werden. Die Zeit der Fusionen der Krankenkassen ist
vorbei. Dann wird es massenhaft Krankenkassenpleiten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geben.
der LINKEN)
Herr Bahr, meine Empfehlung an Sie – Sie werden
Herr Bahr hat selbst Gesundheitsökonomie studiert, auf absehbare Zeit wahrscheinlich einer der letzten Bun-
ein Stück weit. desminister der FDP sein –: Bleiben Sie nicht mit einer
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Der Herr Professor Reform in Erinnerung, die das Vertrauen in die gesetzli-
vergibt wieder Noten!) che Krankenkasse komplett ausgehöhlt hat. Der Wieder-
einstieg der FDP in Bundeskabinette darf nicht durch ein
– Es geht hier nicht um Noten. Ich versuche, etwas zu er- solches Signal belastet sein.
klären. Vielleicht ist das gerade auch für Sie interessant,
Herr Spahn. – Dann müssen Sie doch Folgendes wissen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Schön, dass Sie sich
Herr Bahr: Die Krankenkassen unterscheiden sich im Sorgen um die anderen machen!)
Angebot so gut wie nicht. Sie werden sich demnächst Sie arbeiten jetzt an der Nebenwirkung der Reform von
noch weniger unterscheiden, weil sie die paar Leistun- Herrn Rösler. Aber gehen Sie weiter und bekämpfen Sie
gen, mit denen sie sich noch unterscheiden, abstoßen die Ursache dieses falschen Wettbewerbs: Nehmen Sie
müssen, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das ist die Zusatzbeiträge zurück, dehnen Sie den Risikostruk-
doch kein Wettbewerb. turausgleich weiter aus, damit auch alte und kranke
Menschen wieder eine Chance haben, sich zu versichern,
Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Einheitsangebot,
und damit sich der Wettbewerb wieder um Vorbeugung
alle Kassen böten immer das Gleiche an, aber die Mit- und Qualität dreht, nicht aber um Risikoselektion und
glieder der Kassen wechselten im monatlichen Rhyth- um das Einkommen der Versicherten.
mus. Das wären hektische Wechselbewegungen, ein
ständiges Wechseln. Dann hätten wir nur Bürokratie; (Beifall bei der SPD)
12654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: wimmeln und sie nicht richtig oder nicht vollständig zu (C)
Vielen Dank, Kollege Dr. Karl Lauterbach. – Jetzt beraten, völlig falsch war und neben der Sache lag. Inso-
spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Heinz fern brauchen wir uns über diesen Fall gar nicht zu strei-
Lanfermann. ten. Vielmehr soll ganz anderes nach vorn gebracht wer-
den.
(Beifall bei der FDP)
Zu der eindeutigen Rechtslage hat der Kollege
Heinz Lanfermann (FDP): Singhammer hier bereits alles vorgetragen. Selbstver-
ständlich ist das Wichtigste das Wahlrecht der Versicher-
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
ten. Es darf über die Köpfe der Versicherten hinweg
sehr geehrten Damen und Herren! Ich versuche, zum
keine Maßnahmen geben, auch keine gemeinsamen
Thema zurückzukommen. An Ihrer Stelle, Herr Kollege
Maßnahmen von Kassen. Ebenso darf es keine Zuwei-
Lauterbach, würde ich mir mehr Gedanken darüber ma-
sungen statt des Wahlrechts geben. Erst dann, wenn je-
chen, wie Ihre Reden im Bewusstsein der Menschen
mand die Fristen selber nicht nutzt, wird er zugewiesen,
hängen bleiben.
damit er nicht ohne Versicherungsschutz bleibt.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Haben Sie nicht
In Wirklichkeit ging es um etwas anderes. Das Wort
zugehört? – Mechthild Rawert [SPD]: Vorsich-
„Einheitskasse“ ist gefallen. In der Tat gibt es Menschen,
tig! Sollen wir Ihnen einen Spiegel holen, Herr
die die Einheitskasse anstreben; aber das tut gewiss nicht
Lanfermann? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
diese Koalition.
DIE GRÜNEN]: Für 3 Prozent Wählerstim-
men ist das ein bisschen arrogant!) (Diana Golze [DIE LINKE]: Bisher haben nur
Sie davon gesprochen!)
Der Minister hat in der kurzen Zeit, die er im Amte ist,
schon einen sehr guten Eindruck gemacht. – Ja, Sie haben daran andere Erinnerungen, Frau Golze,
vielleicht solche an frühere Zeiten. Sie haben einmal auf
Die Linksfraktion hat hier eine Aktuelle Stunde bean-
einer Wahlkampfveranstaltung auf die Frage, woran Sie
tragt, die nicht wirklich aktuell ist, sondern sich auf das
denken, wenn von der DDR die Rede ist, geantwortet:
Fehlverhalten einiger Kassen in den vergangenen Wo-
Eigentlich denke ich nur an eine glückliche Kindheit.
chen bezieht, das nach dem energischen Eingreifen des
neuen Ministers Daniel Bahr bereits in der letzten Wo- (Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, weil ich zur
che – das war eine seiner ersten Amtshandlungen – ab- Wende 14 Jahre alt war! Ich bin ja nicht 70!)
gestellt wurde.
Diese unpolitische Linie haben Sie sich bis auf den heu-
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tigen Tag aufrechterhalten, wie ich an Ihrer Rede hier (D)
gehört habe.
Im Ergebnis wirken Sie wie jemand, der auf dem Bahn-
hof steht und hinter dem Zug herschaut. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Diana Golze [DIE LINKE]: Sie leiden nicht
an den Ursachen! Darüber habe ich schon ge- Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer
sprochen!) Krankenversicherung wirklich etwas Großartiges ge-
schaffen. Natürlich, Herr Kollege Lauterbach, können
Aber Sie wollten ja auch gar nicht über diesen Fall
Sie hier erzählen, was Sie wollen; da schützt Sie ja das
sprechen, sondern Sie wollten uns eigentlich einige abs-
Grundgesetz.
truse Vorstellungen über Ihre Ideen zur Gesundheitspoli-
tik nahebringen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Mechthild Rawert [SPD]: Das müssen Sie ja Aber Sie sollten nichts Falsches behaupten. Wenn Sie
sagen mit Ihren abstrusen Ideen!) die Wahlprogramme der FDP schon nicht lesen, dann
sollten Sie sie auch nicht falsch zitieren. Selbstverständ-
Der Titel dieser Aktuellen Stunde „Pleiten von gesetzli-
lich haben wir niemals die Abschaffung der gesetzlichen
chen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte“
Krankenversicherung gefordert. Wir meinen allerdings,
suggeriert, dass eine Reihe von Kassen betroffen sei. Na-
dass es in einem freiheitlichen System sehr wohl einen
türlich gibt es nur eine.
Wettbewerb geben kann, etwa einen Wettbewerb um den
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Im Moment!) Preis, weil die Signalwirkung des Preises – was be-
komme ich für das, was ich zahle? – immer ein wichti-
Im Augenblick haben wir es nur mit der City BKK zu ges Element ist, und ebenfalls einen Wettbewerb um die
tun. Was die Folgen für die Versicherten angeht, die Sie Leistungen. Auch dazu gibt es im Übrigen gesetzliche
auch noch angesprochen haben, haben wir hier den Ein- Bestimmungen. Wir werden sie sogar noch verbessern;
druck gewinnen müssen, dort passierten fürchterliche darüber beraten wir in diesen Tagen in der Koalition.
Dinge. Natürlich ist das nicht der Fall; das Gesetz hat da Ebenso gibt es einen Wettbewerb um Qualität, um Ser-
vorgesorgt. Allen Menschen wird geholfen, selbst wenn vice usw.
sie sich nicht rechtzeitig eine neue Kasse suchen. Inso-
fern bestehen da überhaupt keine Probleme. (Beifall bei der FDP)
Alle in diesem Hause waren sich einig, dass das, was Ich will Sie nur daran erinnern, dass es gewiss nicht
einige Kassen gemacht haben, nämlich Menschen abzu- die FDP war, die die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12655
Heinz Lanfermann
(A) haben nicht einmal den Gesundheitsfonds eingeführt. Drastik Sie hier etwas betont haben, was selbstverständ- (C)
Aber wir gehen als gute Demokraten von dem aus, was lich ist. Dahinter steckt wohl, dass Sie gern über die Fol-
uns überlassen worden ist, auch wenn es im Wesentli- gen, aber nicht so gern über die Ursachen reden. Wir
chen unter der Ägide Ihrer früheren Gesundheitsministe- müssen jetzt aber auch über die Ursachen reden. Ist denn
rin – sie hieß Ulla Schmidt – geschehen ist. die City BKK pleitegegangen, weil sie so schlecht wirt-
schaftete?
Wir bauen das, was wir vorfinden, entweder weiter
aus, wenn es gut ist, oder wir bauen es um, wenn es ver- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!)
besserungswürdig ist, und zur Not schaffen wir etwas
auch wieder ab. Oder ist sie nicht in erster Linie deswegen pleitegegan-
gen, weil in den Städten Hamburg und Berlin, in denen
(Mechthild Rawert [SPD]: Nach welcher Fas- sie hauptsächlich tätig war,
sung? FDP, CDU oder CSU?)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer ist denn
– Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wir tun dies un- Gesundheitssenator in Berlin?)
ter dem Gesichtspunkt: Der Bürger und seine Möglich-
keiten, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwäh- die Struktur von medizinischer Überversorgung und ei-
len, stehen im Mittelpunkt. nem besonderen Altersaufbau geprägt ist? War nicht der
Grund dafür, dass sie mit Kassen, die auch in anderen
Auch die Krankenkassen sind frei darin, unterschied- Regionen des Landes tätig sind, nicht mehr konkurrenz-
liche Angebote zu machen. Nicht alle Leistungen sind fähig war und zwangsläufig verlieren musste, der, dass
gleich. Der Zusatzbeitrag ist nicht das einzige Argument. der Wettbewerb hauptsächlich über den Zusatzbeitrag
Viele Bürger haben ihre Kasse verlassen, nachdem sie geht? Diese Frage müssen wir klären.
einen Zusatzbeitrag erhoben haben. Aber noch viel mehr
Bürger sind bei ihrer Kasse geblieben. Nun tun Sie doch Ich bin der Meinung, dass dieses System mit dem Ge-
nicht so, als hätten diese Bürger nicht bemerkt, dass sie sundheitsfonds, das ursprünglich nur die Möglichkeit
einen Zusatzbeitrag zahlen. Dafür gibt es Argumente; zur Erhebung eines begrenzten Zusatzbeitrags vorsah
mit denen geworben wird, und das dürfen die Kassen und dann durch die Entgrenzung des Zusatzbeitrags un-
schließlich auch. ter Schwarz-Gelb und das Einfrieren der Arbeitgeberbei-
träge völlig verschärft wurde, eine solche Tendenz
Lassen Sie das Ganze da, wo es hingehört: in der Ei- verschärft und auch dazu führen wird, dass noch mehr
genverantwortung, in der Entscheidungsfreiheit, in der Kassen pleitegehen werden mit den entsprechenden Fol-
Wahlfreiheit der Bürger, und versuchen Sie nicht dau- gen, über die wir hier heute diskutieren.
ernd, dieses ohnehin schon bürokratische und überregu-
(B) lierte System irgendwie noch mehr zu bürokratisieren. Im Vordergrund steht nicht ein Leistungswettbewerb, (D)
Versuchen Sie nicht, noch mehr über die Köpfe der Men- sondern ein Preiswettbewerb. Dieser Preiswettbewerb,
schen hinweg zu bestimmen. In diesem Sinne wollen wir den es seit Mitte der 90er-Jahre unter den Kassen über
jedenfalls nicht arbeiten. Wir werden die Verantwortung die Prozentsätze, die in voller Parität von Arbeitgebern
der Bürger auf diesem Gebiet stärken. und Arbeitnehmern zu tragen waren, gab, war ein ande-
rer Preiswettbewerb als der, der sich nun in den Euro-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Beträgen der Zusatzbeiträge manifestiert. Diese Form
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des Wettbewerbs führt natürlich schneller zum Verlassen
der CDU/CSU) der Kassen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, weil er mehr
Vizepräsident Eduard Oswald: Transparenz hat!)
Vielen Dank, Kollege Heinz Lanfermann. – Jetzt
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Darauf waren Sie noch stolz. Aber es findet eben kein
Kollege Fritz Kuhn. Bitte schön, Kollege Fritz Kuhn. Wettbewerb um die tatsächliche Leistung der Kranken-
versicherungen statt. Da wäre Wettbewerb angebracht;
diesen Wettbewerb wollen wir. Derzeit ist es vielmehr
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ein Wettbewerb, der allein über den Euro-Betrag des Zu-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! satzbeitrags läuft.
Dass eine Bundesregierung die Rechtslage umsetzt, in-
dem sie den Versicherten der City BKK die Möglichkeit (Heinz Lanfermann [FDP]: Im Verhältnis zum
gibt, sich woanders zu versichern, ist ja wohl das Min- Angebot!)
deste. Darüber braucht man sich eigentlich nicht lange Deswegen hat Karl Lauterbach recht. Es geht bei diesem
zu unterhalten. Wettbewerb kaum noch darum, wer den besten medizini-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ schen Service bietet, sondern hauptsächlich um die
DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) Frage, ob ein Zusatzbeitrag erhoben wird und, wenn ja,
wie hoch dieser ist.
Wir erwarten von der Regierung, dass sie dies umsetzt.
Wenn sich die Kassen sperren, ist es an der Exekutive, (Heinz Lanfermann [FDP]: Preis im Verhältnis
dem entgegenzuwirken. zum Angebot!)
Ich war ein bisschen erstaunt, Herr Singhammer, mit Herr Lanfermann, Sie kommen um eines nicht herum:
welcher Freude, mit welchem Eifer und mit welcher Die Veränderungen, die Schwarz-Gelb vorgenommen
12656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Fritz Kuhn
(A) hat, ausgehend vom Gesundheitsfonds der Großen Ko- sorgungsgesetz jetzt hoffentlich eine Antwort – auch (C)
alition, führen dazu, dass wir keinen solidarischen Wett- einmal eine Antwort auf die Überversorgung in den städ-
bewerb in einer sozialen Marktwirtschaft haben, tischen Ballungsgebieten geben.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Mehr (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Machen
Transparenz!) wir! – Heinz Lanfermann [FDP]: Machen
wir!)
sondern einen sehr einseitigen Wettbewerb um Preise,
aber leider nicht in dem Sinne, dass die Preise wohl- Wenn es im Land Berlin und in der Stadt München mehr
fahrtsorientierte, gesundheitspolitisch vernünftige Wahr- Röntgenpraxen als in Italien gibt, dann ist Voraussetzung
heiten abbilden. Deswegen handelt es sich an der Stelle für einen vernünftigen Wettbewerb, dass zunächst ein-
auch nicht um vernünftige Marktwirtschaft. mal diese Überversorgung abgebaut wird. Wir sind da-
rauf gespannt, welche Antworten Sie geben. Ich nehme
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an, dass Herr Bahr dazu nachher noch etwas sagen wird.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Fazit: Reden Sie nicht nur über die Folgen und da-
Aus dieser Geschichte kommen Sie nicht heraus. Sie rüber, was jetzt mit den Versicherten der pleitegegange-
müssen über die entscheidenden Punkte reden. Wir hal- nen Krankenversicherung geschieht! Reden Sie auch
ten es für falsch, dass Sie aus dem Zusatzbeitrag eine über die Ursachen und darüber, wie Sie so etwas in Zu-
kleine Kopfpauschale gemacht haben. Sie müssen uns kunft verhindern wollen!
auch einmal beantworten, was eigentlich passiert, wenn
die Zusatzbeiträge noch weiter steigen werden. Es sagen Vielen Dank.
viele Gutachten, dass der nicht auf dem jetzigen Niveau
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gehalten werden kann,
und bei der SPD)
(Mechthild Rawert [SPD]: Stimmt!)
und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Kostenstei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gerungen in Zukunft allein von den Versicherten über die Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-
Zusatzbeiträge aufgefangen werden müssen. tion.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, stimmt (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Klär ihn mal
doch nicht!) auf!)
Es ist jedenfalls so, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag ein-
Jens Spahn (CDU/CSU):
(B) gefroren haben. Darüber können Sie nicht hinwegtäu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (D)
schen.
bin schon etwas verwundert darüber, dass die Debatte
(Zurufe von der CDU/CSU) schon einige Zeit läuft, ohne dass insbesondere von den
– Haben Sie ihn eingefroren, oder haben Sie ihn nicht Rednern der Opposition der eigentliche Skandal, der ei-
eingefroren? gentliche Anlass dieser Debatte erwähnt wird.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Steuerausgleich! – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]: Hier wird rechtswidrig, böswillig und – ich behaupte so-
Wo denn?) gar – gefährlich für das Ganze gehandelt. Ich komme
Wie kommt es denn, dass der Kollege Max gleich noch darauf zurück.
Straubinger von der CSU, wenn ich richtig informiert Es ist erstens rechtswidrig, weil die Rechtslage ein-
bin, vorschlägt – das habe ich gelesen –, den Gesund- deutig ist. Jeder Versicherte hat unabhängig von Alter,
heitsfonds wieder abzuschaffen? Darüber müssen Sie Einkommen und anderen Merkmalen das Recht auf freie
doch in der CDU/CSU einmal ernsthaft diskutieren. Kassenwahl. Für Leistungserbringer wie Ärzte und
Krankenhäuser ist die Sache auch geklärt: Wenn eine
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er immer dage-
gen war! – Heinz Lanfermann [FDP]: Warum Krankenkasse in Insolvenz geht, haften die anderen Kas-
sen für die offenstehenden Kosten. Die Rechtslage ist
sollte er es besser verstehen als Sie, Herr Kol-
also eindeutig.
lege?)
Es ist zweitens böswillig, weil es Krankenkassen gibt,
– Wenn Sie laut werden, dann bin ich beim richtigen
Punkt. Da bin ich mir absolut sicher. die in Kenntnis dieser Rechtslage Menschen einmal quer
durch die Stadt jagen. Die AOK Berlin beispielsweise
Wir stellen fest, dass die systematischen Fehler, die suggerierte den betroffenen Menschen, sie müssten quer
Sie mit der Privatisierung und der Entsolidarisierung der durch die Stadt zu einer bestimmten Geschäftsstelle in
gesetzlichen Krankenversicherung gemacht haben, jetzt Weißensee, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat,
zur ersten Pleite geführt haben. Ich sage Ihnen voraus: fahren, um sich bei dieser Krankenkasse anmelden zu
Es wird weitere geben, weil das System insgesamt falsch können. Das ist unwürdig. Es ist eine Schande, wie die
ist. AOK Berlin hier gehandelt hat. Und Sie haben dazu in
dieser Debatte kein einziges Wort gesagt.
Sie müssten neben einer Reaktion auf die Unterver-
sorgung im ländlichen Raum – darauf geben Sie im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12657
Jens Spahn
(A) Es ist drittens gefährlich, weil die Krankenkassen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
so gehandelt haben – auf diesen Punkt haben Sie nur mit
Sie trauen sich nicht, entsprechende Entscheidungen zu
einem Satz hingewiesen –, einen immensen Imagescha-
treffen. Deswegen ist die ärztliche Versorgung in Berlin
den für das solidarische System der gesetzlichen Kran-
besonders teuer. Anschließend beschweren Sie sich aber
kenversicherung verursacht haben. Wir kennen die Bil-
darüber, dass die Berliner Krankenkassen Probleme ha-
der von verunsicherten Menschen – es handelte sich vor
ben. Das zeugt von Doppelmoral.
allen Dingen um Rentner und kranke Menschen –, die in
einer Schlange stehen und nicht wissen, was mit ihnen (Mechthild Rawert [SPD]: Wie man von
geschehen soll. Eine Kasse, die sich in Sonntagsreden Ahaus nach Münster fährt, fährt man von
immer „Patient der Anwälte“ nennt Brandenburg nach Berlin!)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann die Frage des Wettbewerbs. Wir haben uns in
Umgekehrt!) den 90er-Jahren – damals war ich noch nicht dabei, aber
viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen – in
und es zulässt, dass es zu solchen Bildern kommt, han-
großer Einigkeit für den Wettbewerb entschieden. Es
delt fahrlässig und stellt eine Gefahr für die Akzeptanz
wurde die freie Kassenwahl eingeführt, die ein hohes
unseres Solidarsystems dar. Manche Kasse wird sich
Gut ist. Zum Wettbewerb gehört – dieses Konzept haben
noch über die Folgen ihres Handelns wundern.
wir in der Großen Koalition weiterentwickelt –, dass
(Mechthild Rawert [SPD]: Was ist ein „Patient Kassen, die aufgrund ihrer Kostenstruktur, ihrer Verwal-
der Anwälte“?) tungskosten und falscher Angebote im Markt keinen Er-
folg haben, vom Markt verschwinden können. Es gibt im
Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie kochen hier
Moment über 150 Kassen. Da kann es also einmal sein,
Ihr Süppchen und versuchen, aus dieser Angelegenheit
dass eine Kasse geschlossen werden muss, wenn sie kei-
politisches Kapital zu schlagen. Es ist ein Skandal, dass
nen Fusionspartner findet.
Sie davon ablenken, dass hier rechtswidrig, böswillig
und gegen das Interesse des Ganzen auf gefährliche Wenn das zum Wettbewerb gehört, muss klar geregelt
Weise gehandelt worden ist. Dazu hätten Sie ein paar sein, was im Fall einer Insolvenz passieren muss. Das
Sätze sagen müssen. haben wir gemeinsam festgestellt. Man kann aber nicht
sagen, dass es bei dem Wettbewerb nur um Kosten, um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Geld und um die Höhe des Zusatzbeitrages geht. Der Zu-
Wir werden insofern reagieren, als wir gesetzlich klar satzbeitrag ist natürlich ein wesentlich konkreteres Si-
regeln werden, wie diejenigen, die Mitglied in einer gnal als das, was wir vorher hatten. Preisunterschiede
Kasse waren, die geschlossen wurde, besser informiert zwischen den Krankenkassen gab es schon vorher. Sie
(B) (D)
werden können. Idealerweise muss es ein Formular ge- betrugen zum Teil zwischen 60 und 70 Euro im Monat.
ben, in dem man ankreuzen kann, in welche Kranken- Weil der Beitrag aber vom Lohn abgezogen wurde und
kasse man eintreten will. Solche Informationen, wie man dann auch noch ein Dreisatz nötig war, um den Unter-
eine Kasse wechseln kann, sind wohl ohne eine gesetzli- schied zu einer anderen Kasse nachvollziehen zu kön-
che Regelung nicht zu bekommen. Zum Zweiten braucht nen, war kein Bewusstsein dafür vorhanden. Wer aber
es offensichtlich auch Sanktionen. Der Fisch stinkt am 8 Euro selber zahlen muss, merkt das sofort. So können
meisten vom Kopf her. sich die Kassen heute differenzieren. Sie können sich
aber nicht nur bei den Kosten differenzieren: Man kann
(Mechthild Rawert [SPD]: Das haben wir bei mit dem Zusatzbeitrag ein besonderes Angebot finanzie-
der Euro-Krise erlebt!) ren, zum Beispiel besonders gute Versorgungsstrukturen,
Nicht die Geschäftsstellenmitarbeiter in Weißensee tref- die man über Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und
fen die Entscheidungen, sondern sie werden weiter oben Apotheken erreicht. Es geht um ein besonders gutes An-
getroffen. Deswegen werden wir entsprechende Sanktio- gebot für die Versicherten,
nen gegen Vorstände einführen. Sie reichen von Zwangs- (Mechthild Rawert [SPD]: Für die Kranken
geldern bis hin zur Absetzung. oder für die Gesunden?)
Herr Kollege Kuhn, ich will noch einige grundsätzli- sodass Krankenkassen sagen können: „Bei uns kostet es
che Bemerkungen machen. Die City BKK ist nicht we- zwar 10 Euro mehr als bei den anderen, aber dafür bieten
gen des Gesundheitsfonds oder wegen der Zusatzbei- wir dir etwas Besonderes.“
träge in Schwierigkeiten gekommen. Sie hat seit Jahren,
wenn nicht seit Jahrzehnten, Probleme. Aus dem öffent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lichen Dienst kommend und mit einer entsprechenden
Das ist die Idee des Wettbewerbs: Es geht darum, bei der
Versichertenstruktur ausgestattet, war sie vor allem in
Qualität zu konkurrieren.
Hamburg und Berlin tätig.
Abschließend sage ich es noch einmal: Es ist ein
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie vergessen
Skandal, was öffentlich-rechtliche Körperschaften bei
Stuttgart!)
eindeutiger Rechtslage auf dem Rücken der Patienten
Wir können einmal die Frage stellen, wie sehr sich die machen. Zweitens ist es zumindest ein kleiner Skandal,
Gesundheitssenatorin in Berlin darum bemüht hat, die dass die Oppositionsredner hier nicht einen einzigen
angespannte Kostensituation aufgrund der vielen Kran- Satz darauf verschwenden, was da eigentlich passiert ist,
kenhausbetten in Berlin zu entschärfen. sondern nur versuchen, ihr Süppchen zu kochen, die
12658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Jens Spahn
(A) Menschen zu verunsichern und vom eigentlichen Skan- eine Insolvenz passiert nicht von heute auf morgen. Die (C)
dal abzulenken. Das ist das eigentliche Problem dieser Mitglieder waren vollkommen überrascht; ihnen wurde
Debatte. Vielleicht wird der eine oder andere Kollege die Insolvenz Anfang Mai schriftlich in einem Brief mit-
darauf noch zu sprechen kommen; denn das ist das ei- geteilt. Anderen – nicht nur den Fachleuten, sondern
gentliche Thema. auch der Exekutive, der Regierung – war bekannt, dass
hier möglicherweise eine Insolvenz ansteht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der CDU/CSU: In Berlin, Frau
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollegin, in Berlin! Was hat denn Ihre Regie-
Das Wort hat nun Kollegin Mechthild Rawert für die rung gemacht?)
SPD-Fraktion. Infolgedessen hätten hier schon längst Vorbereitungen
(Beifall bei der SPD) getroffen werden können. Sie sollten sich also nicht so
viel einbilden und nicht sagen, dass nur andere schuld
Mechthild Rawert (SPD):
sind; auch Ihre Regierung hat versagt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und (Rudolf Henke [CDU/CSU]: Wer ist denn die
Kollegen! Sehr geehrte Zuschauende und Zuhörende! Aufsichtsbehörde bei der AOK in Berlin?)
Herr Spahn, der eigentliche Skandal liegt darin, dass Sie
in den Medien haben verlautbaren lassen, es sei ein – Das Land Berlin hat keine eigene Kassenaufsicht
Skandal, dass sich die Politik überhaupt um diesen Zu- mehr, weil es keine eigenen Kassen mehr hat. Das soll-
stand kümmern müsse. ten Sie einmal überprüfen. Gleich wird aber noch eine
Berlinerin sprechen, die sich dazu äußern kann. Sie kön-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Weil er klar geregelt nen es selbstverständlich auch kollegial untereinander
ist!) klären.
Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, wie Sie das Wesen Zum Thema Fusionen. Ja, wir wollen, dass es weniger
von Politik begreifen. Für uns ist dieser Umgang mit Tau- Kassen gibt. Das muss aber geregelt ablaufen, damit sol-
senden Versicherten – ich will nicht vom „Tatort Weißen- che Zustände nicht mehr auftreten.
see“ sprechen, weil ich die Sendung Tatort durchaus liebe –
selbstverständlich ein empörender Skandal. Es ist auch Zum Thema Kassenbeiträge und vor allen Dingen Zu-
ein Skandal, dass Sie das Wesen von Politik so diskredi- satzbeiträge. Der Wettbewerb über den Preis, den Sie
tieren. Sie sollten in den Spiegel schauen, bevor Sie in einführen, wird auf den Schultern von Kranken, Älteren
dieser Sache weitere Bemerkungen vornehmen. und Behinderten stattfinden. Diese Form von Wettbe-
(B) werb über den Preis wollen Sie durch ihr neues Versor- (D)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist halt gungsgesetz sogar noch ausbauen. Das, was jetzt pas-
die Tut-nix-Partei!) siert, ist demnach nur der Vorbote eines Flächenbrandes,
Zum nächsten Punkt. Hier geht es um eine Fachfrage. den Sie in der Bundesrepublik Deutschland im Sommer
Vielleicht haben Sie sich versprochen. Was auch immer! verursachen werden. Wir werden sehen, ob Sie am Ende,
Wen meinten Sie eigentlich in Ihren Ausführungen mit wenn die Zusatzbeiträge 50 oder 70 Euro betragen, wo-
den „Patienten der Anwälte“? von viele Experten und Expertinnen längst ausgehen,
immer noch zu Ihren Zusatzbeiträgen stehen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Andersherum:
Anwalt der Patienten!) Die SPD Berlin war die einzige politische Institution
in Berlin, die ganz konkrete Hilfs- und Unterstützungs-
Ich denke, dass Ihre Freud’sche Fehlleistung wirklich angebote für die Versicherten der City BKK unterbreitet
deutlich gemacht hat, dass auf jeden Fall nicht Sie der hat. Das gilt insbesondere für den Kollegen Thomas
Anwalt der Patientinnen und Patienten sind, sondern die Isenberg, den gesundheitspolitischen Sprecher der SPD-
von Ihnen gescholtene Opposition, die Sozialdemokra- Fraktion im Abgeordnetenhaus, der ein Beschwerdetele-
ten und Sozialdemokratinnen. fon, eine Hotline eingerichtet hat, die rege genutzt wor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Stefanie den ist.
Vogelsang [CDU/CSU]: Oh, Frau Rawert!) (Lars Lindemann [FDP]: Er hätte nur die
Zum Thema AOK. Die AOK in Berlin – Frau Nummer Ihrer Sozialsenatorin aufschreiben
Vogelsang wird vielleicht darauf eingehen – hat fusio- müssen!)
niert. Die AOK Nordost gehört zu denen, die sich öffent- Somit hat er individuelle Unterstützung geboten. Das hat
lich entschuldigt haben. Zu Recht! Es ist empörend, wie sonst niemand gemacht. Wir haben also nicht nur dem
sich Kassen im Hinblick auf die Versicherten der Recht auf die Sprünge geholfen, sondern auch tatsächli-
City BKK verhalten haben; das geht weit über die che Unterstützung geleistet. Das danken uns die Bürger
Rechtsansprüche hinaus. und die Bürgerinnen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
Zu den Kassenvorständen: Ja, es ist gut, dass öffentli-
CSU und der LINKEN)
che Entschuldigungen erfolgt sind. Entschuldigen allein
Es ist aber auch empörend, dass die Bundesregierung reicht aber nicht. Wir wachen mit Argusaugen darüber,
und das Bundesversicherungsamt im Vorfeld offenbar ob den Worten jetzt auch Taten folgen. Das sei hier ein-
keine Sorgsamkeit haben walten lassen; denn eine Pleite, mal ganz deutlich gesagt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12659
Mechthild Rawert
(A) Zum Ende meiner Rede möchte ich auf die Beschäf- seninsolvenzen ohnegleichen geführt. Deswegen sage ich (C)
tigten der Kassen eingehen. Die Sachbearbeiterinnen Ihnen: Diese Koalition hat für ein stabiles, nachhaltiges
und Sachbearbeiter hatten es schwer, auch wenn ihre und sicheres Finanzierungskonzept der gesetzlichen
Kasse die Versicherten in eine missliche Lage gebracht Krankenversicherungen gesorgt.
hat. Ich bitte aber, zu bedenken, dass die Beschäftigten
der Kassen, die sich in Insolvenz befinden, nicht einfach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
entlassen und zu Schuldigen erklärt werden dürfen. Es Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
ist auch unsere Aufgabe, aufseiten der Beschäftigten zu GRÜNEN]: Schlechter Scherz!)
stehen. Infolgedessen sind wir Sozialdemokratinnen und Schauen wir uns doch einmal die City BKK an. Die
Sozialdemokraten der Anwalt der Patienten und Patien- City BKK hatte in der Zeit, in der es noch keinen Ge-
tinnen, der Anwalt der Versicherten und der Anwalt der sundheitsfonds und keinen einheitlichen Krankenkassen-
Beschäftigten. beitrag gab – dieser war gewollt –, den höchsten Bei-
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ tragssatz aller gesetzlichen Krankenkassen. Er betrug
CSU]: Wenn Sie die Anwälte sind, dann tun 17,4 Prozent, als der Beitragssatz durchschnittlich
Sie doch etwas!) 14 Prozent betrug. Da gab es für die Versicherten übri-
gens weniger Transparenz im Wettbewerb. Herr Kollege
Kuhn, Sie haben die prozentualen Beitragssätze so ge-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lobt. Hierzu sage ich Ihnen: Wir stellen fest, dass die Zu-
Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr. satzbeiträge für die Versicherten eine viel größere Trans-
parenz bedeuten, um ihre Krankenkasse in Euro und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Cent mit einer anderen vergleichen zu können. Das führt
der CDU/CSU)
zu einem Wettbewerb, bei dem sich die Versicherten für
eine Krankenkasse ihrer Wahl entscheiden.
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Mechthild Rawert [SPD]: Sie höhlen die
gen! Wer den Eindruck erweckt, dass der Grund für die Solidarität aus!)
Schließung der City BKK allein in der Entwicklung der Deswegen ist für die Versicherten der Zusatzbeitrag das
letzten Monaten liegt, der verkennt die Geschichte der überlegene Finanzierungsinstrument gegenüber dem al-
City BKK. ten, intransparenten System von Rot-Grün.
(Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich gesagt! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das hat einen Vorspann!)
(B) Zur Wahrheit gehört aber auch – das ist bereits ange- (D)
Die City BKK hat schon meinen Vorvorgängern im Amt sprochen worden –, dass die City BKK schon einige
des Gesundheitsministers viele Sorgen bereitet. Die City Male kurz vor der möglichen Schließung stand. Die
BKK gäbe es heute schon längst nicht mehr, wenn diese Große Koalition hat die gesetzgeberischen Vorausset-
Koalition im Rahmen der Finanzierungsreform nicht zungen zur Schließung von Kassen auf den Weg ge-
eine Entscheidung getroffen hätte, die der City BKK bracht. Die christlich-liberale Koalition hat das Ganze
eine zweite Chance eröffnete. umgesetzt, sodass im Fall der City BKK die Schließung
Erinnern wir uns doch einmal an die Situation zu Be- möglich war.
ginn dieser Legislaturperiode – es wurde ja der Eindruck Man darf aber bei aller Verunsicherung, die unter den
erweckt, dass die Zusatzbeiträge etwas Neues sind; es Versicherten herrschte und die mir als Gesundheitsmi-
wurde der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge die nister Sorgen gemacht hat, nicht unberücksichtigt lassen,
Ursache für das Problem sind –: Zu Beginn dieser Legis- dass die Versicherten zu keinem Zeitpunkt ihren Versi-
laturperiode drohte für das Jahr 2010 ein Milliardendefi- cherungsschutz verlieren. Die Versicherten erhielten ein
zit. Der Gesundheitsfonds mit gedeckelten Zusatzbeiträ- Schreiben, in dem steht: Sie verlieren Ihren Versiche-
gen wurde von SPD und Union eingeführt. Meine rungsschutz nicht. Bis zur Schließung der City BKK am
Vorvorgängerin, Frau Schmidt, hat mich gleich in meiner 30. Juni haben Sie weiterhin den vollen Versicherungs-
ersten Woche im Amt scharf kritisiert, wie ich der Presse schutz bei Ihrer Krankenkasse. Wenn Sie sich bis zu die-
entnehmen konnte. Sie hat gesagt, die SPD habe damals sem Zeitpunkt nicht für eine andere Krankenkasse ent-
ein viel klügeres Konzept auf den Weg gebracht, indem scheiden, werden Sie automatisch überführt und nahtlos
sie gedeckelte Zusatzbeiträge beschlossen habe. einer anderen Krankenkasse zugeordnet.
Hätten wir an diesem Finanzierungskonzept festgehal- Aufgrund der anfänglichen Unsicherheit mussten wir
ten – für das Jahr 2010 drohte ein Defizit von etwa natürlich öffentlich reagieren. Wir sind über Bürgerhot-
8 Milliarden Euro –, dann würden wir heute nicht über lines, Öffentlichkeitsarbeit, Anzeigenschaltungen und
die Schließung der City BKK diskutieren. Dann hätten weitere exekutive Maßnahmen tätig geworden, um den
wir massenweise Kasseninsolvenzen erlebt. Daher sage Versicherten die Unsicherheit zu nehmen. Sie behalten
ich: Von Ihnen, meine Damen und Herren Kollegen von ihren Versicherungsschutz. Sie können die Zeit nutzen,
der SPD, brauche ich keine Ratschläge, wie wir mit der um sich frei nach einer anderen Krankenkasse ihrer
Situation der Krankenkassen umzugehen haben. Das, was Wahl umzusehen.
Sie uns hinterlassen haben, hätte zu einer massiven Ver-
unsicherung der Versicherten geführt. Das hätte zu Kas- (Beifall bei der FDP)
12660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Bundesminister Daniel Bahr


(A) Einzelne Leistungserbringer in Berlin und in Ham- sie doch bitte schön davon profitieren können. Eine (C)
burg haben sich entschieden, Versicherte nicht zu behan- Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt und
deln. Dieses Verhalten ist ganz klar nicht in Ordnung. Es die ihre Verwaltungskosten nicht reduziert, soll nicht
gibt ganz klare gesetzliche Regelungen. An diese Rege- noch die Unterstützung der anderen bekommen.
lungen halten wir uns auch. Mit unserem aktiven Ein-
Wir sind für einen leistungsorientierten und fairen
greifen haben wir dazu beigetragen, die Verunsicherung
Wettbewerb, sodass sich das Sparen und der sorgsame
der Versicherten und Patienten abzubauen.
Umgang mit dem Geld der Versicherten auch für die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Versicherten der eigenen Krankenversicherung lohnt.
Deshalb braucht es diesen Ansatz.
Werfen wir einen Blick auf die Debatten zu diesem
Thema. Ein Vorschlag sieht vor, die Versicherten bei der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Schließung einer Krankenkasse sofort allen anderen
Die SPD hat vorgeschlagen, man solle einfach die Zu-
Krankenkassen zuzuordnen. Ich sage Ihnen: Das wäre
satzbeiträge abschaffen. Das ist ja ein schöner Vor-
der falsche Weg; denn die freie Wahl der Krankenversi-
schlag, lieber Herr Lauterbach. Sie haben auch nichts an-
cherung ist ein hohes Gut, um das uns im Übrigen an-
deres vorgeschlagen. Wenn wir die Zusatzbeiträge heute
dere Länder beneiden. Dieses hohe Gut, nämlich dass
abschaffen würden, dann würden wir nicht nur über die
die Versicherten ihre Krankenkasse selbst wählen kön-
Insolvenz der City BKK sprechen, sondern auch über die
nen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, son-
der DAK, der KKH und vieler anderer.
dern wir müssen es unbedingt erhalten.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber nicht nur! –
Wir wollen nicht, dass Patienten und Versicherte zu Mechthild Rawert [SPD]: Arbeitgeber weiter
Bittstellern einer Krankenkasse werden oder möglicher- einbeziehen!)
weise sogar gar keine Wahl mehr haben und einer Ein-
heitskasse beitreten müssen. Für uns ist die Kassenvielfalt – Sie haben hier vorgetragen, dass dies Ihr Vorschlag
und die freie Wahl der gesetzlichen Krankenversicherung ist. – Andere Krankenkassen, die Millionen von Versi-
ein so hohes Gut, dass wir alles daransetzen werden, die- cherten haben und im Moment einen Zusatzbeitrag ver-
ses zu erhalten. langen müssen, wären dann auch von einer Insolvenz be-
droht. Sie könnten die Versorgung ihrer Versicherten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht finanzieren, wenn sie keinen Zusatzbeitrag mehr
Damit ist aber auch klar: Das Abwimmeln und das verlangen dürften.
Verhalten, das wir erlebt haben, ist nicht nur rechtswid- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
rig, sondern auch unanständig gewesen. Wir wollen den GRÜNEN]: Bürgerversicherung!)
(B) Wettbewerb erhalten, und wir wollen, dass der Versi- (D)
cherte Recht und Anspruch darauf hat, von einer Kran- Deswegen löst dieser Vorschlag der SPD das Problem,
kenkasse genommen zu werden. Wenn aber gerade ältere vor dem wir stehen, nicht.
Versicherte, die häufig nicht mobil sind, zu einer Kran- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu-
kenkasse geschickt werden, die am anderen Ende der ruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])
Stadt Berlin liegt, wenn ältere Versicherte am Telefon
abgewimmelt werden, weil alle Leitungen besetzt sind, Sie haben vorgeschlagen – das ist typisch; das ma-
und Geschäftsstellen geschlossen werden, weil angeb- chen Sie jedes Jahr –, den Ausgleich auszuweiten. Das
lich wichtige Sitzungen der Mitarbeiter stattfinden, dann haben wir gemacht. Es war Ihr Vorschlag, den Kranken-
ist das ein Verhalten – da können wir, glaube ich, für das kassenausgleich auf die Krankheitsbilder auszuweiten.
ganze Haus sprechen –, das wir als Abgeordnete auf-
grund der Gesetzeslage nicht akzeptieren können und (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Genau!)
auch nicht akzeptieren wollen. Bisher waren es nur Alter, Geschlecht und einige wenige
andere Kriterien. Sie haben durchgesetzt, es auf 80 Krank-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
heitsbilder auszuweiten. Das heißt, schon heute werden
Deshalb müssen wir gemeinsam dagegen angehen. schlechte Risiken, Versicherte mit Krankheiten, stärker
berücksichtigt als früher. Aber das scheint das Problem
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie dieses Pro- immer noch nicht zu lösen. Ich sage Ihnen: Sie werden
blem gelöst werden kann. Die Linke hat vorgeschlagen, nie einen Ausgleich erreichen, der die unterschiedlichen
einfach darauf zu verzichten, dass Kassen geschlossen Risiken zu 100 Prozent abdecken kann.
werden. Ich habe in der Presse gelesen, dass die Insol-
venz einer Krankenkasse nicht möglich sein soll. Ich Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um dieses Pro-
glaube, dass das nicht im Interesse der Versicherten ist. blem komplett zu lösen, und das, lieber Herr Lauterbach
Was ist das denn für ein Anreiz für die Krankenkassen, – in Wahrheit wollen Sie von der SPD dies wohl –, ist
die solide wirtschaften und ihre Hausaufgaben machen? eine staatliche, zentralistisch gelenkte Einheitskasse.
Wir als Versicherte wollen doch, dass die Krankenversi-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
cherungen mit den Pflichtbeiträgen ihrer Beitragszahler
der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]:
sorgsam umgehen. Wenn eine Krankenkasse, die ihre
Nein! Wir wollen Wettbewerb und Qualität!)
Hausaufgaben macht, Verwaltungskosten reduziert, ih-
ren Service verbessert, ihre Leistungen verbessert und Aber dann wären die Patienten Bittsteller bei einer Ein-
die Arbeit für ihre Versicherten besser erledigt, dann soll heitskasse. Sie hätten dann nicht mehr die Möglichkeit,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12661
Bundesminister Daniel Bahr
(A) die Krankenversicherung selbst zu wählen. Dann hätten Gelegenheit: Das Wichtigste für die Versicherten ist eine (C)
wir keinen Wettbewerb mehr. Dann würde mit den Bei- sichere Versorgung und nicht die freie Wahl zwischen den
tragsgeldern nicht mehr sorgsam umgegangen werden. Kassen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie halten die Bür- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
ger wirklich für dumm!) Mechthild Rawert [SPD] – Heinz Lanfermann
[FDP]: Das hängt davon ab!)
Deswegen sage ich Ihnen, dass das keine Lösung ist.
Wir haben die Lösung auf den Weg gebracht. Wir ha- All dies hat zu einer weiteren großen Verunsicherung ge-
ben die Sanktionsmöglichkeiten für die Aufsichten ver- führt, zu einem großen Imageschaden. All dies ist – das
schärft. Das war notwendig, damit die Aufsichten besser sage ich in aller Deutlichkeit – rechtswidrig.
durchgreifen können. Wir haben einen unbürokratischen Jetzt drohen Sie mit Sanktionen gegen die Kassen und
Weg gefunden, damit die Versicherten eine freie Wahl deren Vorstände. Aber ist es nicht auch ein enormer
der Kassen haben und unbürokratisch durch das Ankreu- Imageschaden für die Gesundheitspolitik als Ganzes,
zen auf einem Formular selbst und schnell die Kranken- eine Gesundheitspolitik, die seit Jahren das Solidarprin-
kasse ihrer Wahl aussuchen können. Das ist notwendig, zip schwächt und auf Wettbewerb setzt? Wir erleben die
damit das hohe Gut der freien Wahl der Kassen und der Nebenwirkungen eines Denkens, das Jens Spahn kurz
sorgsame Umgang mit Beitragsgeldern weiterhin ge- nach dem Schließungsbeschluss in aller Klarheit auf den
währleistet bleiben. Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Wir wollen den Wett-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bewerb zwischen den Krankenkassen. Dazu gehört auch,
dass erfolglose Kassen vom Markt verschwinden.“
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen die Soli- Nur damit keine Unklarheit aufkommt: Auch wir sind
darität!) nicht für einen unbegrenzten Bestandsschutz für jede
Kasse, wenn sie schlecht wirtschaftet.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Aber es stünde auch der Weg der Fusion zur Verfügung.
Die Linke. Bei der Insolvenz sind die Folgen, zum Beispiel die
(Beifall bei der LINKEN) große Verunsicherung, die sie ausgelöst hat, wohl nicht
richtig bedacht worden.
Harald Weinberg (DIE LINKE): (Jens Spahn [CDU/CSU]: Also Zwangsfusio-
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nen?) (D)
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bahr, die Re-
duzierung der Lösungsvorschläge der Oppositionspar- Dass viele relativ gleichzeitig bei anderen Kassen anfra-
teien auf Details, um dann draufzuschlagen, ist kein gu- gen, was organisatorisch zu bewältigen ist, dass rund
ter politischer Stil. 50 000 City-BKK-Versicherte noch überhaupt nicht rea-
giert haben und dass sich die Frage stellt, in welche
(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE Kasse sie jetzt kommen, ist doch beim Beschluss der In-
LINKE]) solvenz absehbar gewesen. Wenn Herr Montgomery mit
Sie wissen ganz genau, dass unser Konzept beispiels- dem einfachen Vorschlag punkten kann – der Vorschlag
weise die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversiche- ist hier schon ein paar Mal genannt worden –, man möge
rung beinhaltet und nicht einfach nur die Zusatzbeiträge. den Versicherten ein Formular zuschicken, auf dem sie
die Kasse ihrer Wahl ankreuzen könnten, dann fragt man
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was hat das mit der sich, warum vorher niemand im Bundesministerium auf
City BKK zu tun?) diese Idee gekommen ist.
Insofern ist Ihr Verhalten, denke ich, politisch nicht ganz (Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann
korrekt. [FDP]: Weil wir die Kassen für intelligent ge-
(Beifall bei der LINKEN) nug gehalten haben!)
Erst einmal zu den Fakten. Wir haben erlebt, wie eine Stattdessen gefällt sich Gesundheitsminister Bahr in
Betriebskrankenkasse, die City BKK, pleitegegangen ist. der Pose des Rächers der Entrechteten und droht den
Wir haben große Verunsicherung bei den Versicherten er- Kassen mit Sanktionen.
lebt. Wir haben die Bilder gesehen, die Schlangen vor den (Mechthild Rawert [SPD]: Ach, der macht
Geschäftsstellen anderer Kassen gezeigt haben. Wir ha- nichts!)
ben erfahren, dass Versicherte von Pontius zu Pilatus ge-
schickt wurden. Wir haben das Einteilen der Versicherten Das ist ein wenig wie ein Einbrecher, der laut „Haltet
in gute Risiken und schlechte Risiken erlebt, also in Junge den Dieb!“ ruft.
und Gesunde sowie in Ältere und Kranke. Dieses Denken (Heiterkeit und Beifall der Abg. Kathrin
kannten wir bisher nur aus der privaten Versicherungs- Vogler [DIE LINKE])
wirtschaft. Es wurden einige Fälle bekannt, bei denen
Ärzte die medizinische Versorgung von City-BKK-Versi- Die Wurzeln dieser Vorkommnisse liegen in der ver-
cherten verweigert haben. Herr Lanfermann, bei dieser fehlten Gesundheitspolitik. Ist das Verhalten der Kran-
12662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Harald Weinberg
(A) kenkassen wirklich überraschend? Wettbewerb fördert die leider nicht nur Wettbewerbsrhetorik, sondern in der (C)
immer eigennütziges Verhalten. Wer gesetzliche Kran- Tat auch Wettbewerbspolitik ist.
kenkassen wie Unternehmen behandelt und behandeln
Zweitens. Die Mehrheit, 80 Prozent, und zwar unab-
will, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht im Interesse
hängig vom Einkommen – hohe Einkommen und nied-
der Patientinnen und Patienten handeln, sondern der
rige Einkommen – und unabhängig vom Alter – Junge
Marktlogik folgen.
und Alte –, gab an, dass die Solidarität als Kerngedanke
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: der Krankenversicherung erhalten bleiben müsse. Da-
Das ist bei Behörden nicht anders!) nach müssen wir unsere Politik in Zukunft ausrichten.

Menschen, die sich für die Kassen nicht rentieren, (Beifall bei der LINKEN)
bleiben nach dieser Logik auf der Strecke. Betroffen sind Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass die Ver-
vor allen Dingen alte und kranke Bürgerinnen und Bür- unsicherung aus der Wettbewerbsorientierung resultiert
ger. Der Druck auf die Krankenkassen ist durch Ihre und die Menschen eine andere, solidarisch ausgerichtete
Politik inzwischen so groß geworden, dass sie offenbar Gesundheitspolitik wünschen.
auch Rechtsverstöße – skandalöse Rechtsverstöße – in
Kauf nehmen, um nicht selbst in den Abwärtsstrudel aus Dies haben auch einige Unionspolitiker bereits ka-
Finanznot, Zusatzbeiträgen und Verlust von Versicherten piert. Max Straubinger zum Beispiel,
zu geraten. Noch einmal – damit das klar ist –: Dieses (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ach, der war doch
Verhalten ist rechtswidrig und durch nichts zu entschul- schon immer gegen den Fonds!)
digen. Es ist eindeutig ein Produkt von falschen Anrei-
zen und einer fatalen Marktgläubigkeit. der heute bezeichnenderweise nicht hier ist, hat dies, wie
ich denke, schon ein Stück weit gespürt. Er ist nämlich
(Beifall bei der LINKEN) ein bisschen näher bei den Menschen als beispielsweise
Sie, Herr Lanfermann.
Das Ganze hat eine lange Geschichte. Seit Jahren
wird das Solidaritätsprinzip systematisch aus der gesetz- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
lichen Krankenversicherung verdrängt. Der Wettbewerb LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]:
zwischen Krankenkassen wurde von der schwarz-gelben Max Straubinger war früher schon dagegen!)
Bundesregierung unter Kohl im Rahmen des Gesund-
heitsstrukturgesetzes 1992 eingeführt. Rot-Grün hat die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wettbewerbslogik beibehalten und den Finanzdruck auf Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
die Kassen noch erhöht. Gleichzeitig wurde durch einen
(B) Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, den die (D)
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Versicherten leisten müssen, und die Einführung und Er-
Ja. – Mein letzter Satz: Von dieser Bundesregierung
höhung von Zuzahlungen die paritätische Finanzierung
und einem FDP-dominierten Gesundheitsministerium ist
aufgekündigt.
keine Wende zum Besseren zu erwarten.
Die Möglichkeiten für Kasseninsolvenzen wurden (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
2007 unter Schwarz-Rot, also von der Großen Koalition,
im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen. Im Es wird Zeit für einen Politikwechsel. Es wird Zeit, die-
selben Gesetz wurden auch die allgemeinen Beitrags- ser Regierung die Rote Karte zu zeigen.
sätze vereinheitlicht und dafür gedeckelte Zusatzbeiträge Danke.
eingeführt. Schwarz-Gelb hat den Wettbewerb als we-
sentlichen Ordnungsfaktor für das Gesundheitswesen in (Beifall bei der LINKEN)
den Koalitionsvertrag geschrieben und mit ungedeckel-
ten Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale, ein Instrument Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
geschaffen, das den Preiswettbewerb zwischen den Kas- Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/
sen weiter anfacht, und das, obwohl klar ist, dass dies CSU-Fraktion.
eine Politik gegen die Interessen der Menschen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)
Das Sinus-Institut hat jüngst eine Studie durchge- Stefanie Vogelsang (CDU/CSU):
führt, in der die Einstellung der deutschen Bürgerinnen Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und
und Bürger zur medizinischen Versorgung untersucht Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zu die-
wurde, im Übrigen im Auftrag einer der Nähe zu uns mit sem Debattenpunkt ist alles Wesentliche gesagt.
Sicherheit völlig unverdächtigen Stiftung, nämlich der (Mechthild Rawert [SPD]: Dann wird es ja
Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Studie hat zwei we- eine kurze Rede!)
sentliche Ergebnisse hervorgebracht.
Ich möchte die beiden wesentlichen Facetten dieser
Erstens. Das Vertrauen in das deutsche Gesundheits- Diskussion aus meiner Sicht zusammenfassen. Ich
system schwindet schon jetzt; die Menschen sind verun- glaube, es ist ganz wichtig, dass wir mit dieser Diskus-
sichert. Diese Verunsicherung wird in einen Zusammen- sion an die Menschen vor dem Bildschirm folgendes Si-
hang mit einer radikalen Wettbewerbsrhetorik gebracht, gnal senden: Kein einziger der Menschen, die, wie wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12663
Stefanie Vogelsang
(A) im Fernsehen oder auf Fotos gesehen haben, bei der Hamburg und anderen Regionen, die immer mit diesem (C)
AOK-Außenstelle in Berlin-Weißensee Schlange gestan- hehren Bild der Solidarität aufgetreten sind – wir halten
den haben, ist ein Bittsteller. Nicht ein einziger der Men- zusammen –,
schen, die von der City BKK zu einer anderen Kranken-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit rot-roter
kasse wechseln müssen, muss darum bitten, in eine
Aussicht!)
andere Kasse wechseln zu dürfen, sondern die Menschen
haben darauf einen Rechtsanspruch. mit diesen Menschen umgegangen sind, dass sie sich
weggeduckt haben, Außenstellen am Stadtrand eröffnet
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
haben oder nicht ansprechbar waren.
Dr. Erwin Lotter [FDP])
Ich glaube, dass dieser Imageschaden für die gesetz-
Die gewählte Krankenkasse darf ihren Antrag auf Mit-
lichen Krankenkassen ganz wesentlich ist und dass mitt-
gliedschaft nicht abweisen. Ihr Alter, ihr Geschlecht und
lerweile alle erkannt haben – auch die Vertreter der
ihr Gesundheitszustand dürfen dabei keine Rolle spielen.
gesetzlichen Krankenversicherung –, dass es einen sol-
Außerdem können sich die Menschen ganz sicher chen Vorfall nie wieder geben darf.
sein, dass keine angefangene Behandlung in irgendeiner
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich
Art und Weise abgebrochen werden darf, sondern sie ha-
entschuldigt!)
ben einen Rechtsanspruch darauf, dass die gesamte Be-
handlung zu Ende geführt wird und die Kosten dafür von – Sie haben sich entschuldigt.
der neuen Kasse übernommen werden.
Ich möchte hier sagen – vielleicht auch für alle Ver-
Es gibt aber eine weitere Facette dieser Bilder aus treterinnen und Vertreter dieses Hauses –, dass ich nach
Berlin-Weißensee: Die Menschen in unserer Republik der Schließung einer Krankenkasse nicht noch ein einzi-
werden zunehmend verunsichert, und man hat das Ge- ges Mal solche Bilder in unseren Zeitungen sehen
fühl, sie würden zu Bittstellern. Deswegen finde ich es möchte. Ich gehe fest davon aus, dass es einen solchen
ganz besonders wichtig, dass auch die Vertreterinnen Vorgang wie den nach der Insolvenz der City BKK in
und Vertreter der Opposition, Frau Rawert, hier klar und Zukunft nicht mehr geben wird.
deutlich sagen, was Sache ist, und nicht für einen ver-
meintlichen Vorteil im Wahlkampf hier in Berlin eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Hotline der Fraktion schalten und das als anwaltliche Auf der einen Seite gibt es unsere gesetzlichen Rege-
Leistung verstehen. lungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass es
Tricksereien hin und her gegeben hat, um Menschen mit
(Mechthild Rawert [SPD]: Gesundheit ist ein
(B) existenzielles Gut, und wir haben den Leuten vermeintlich schlechteren Risiken – dass man so über (D)
Menschen reden kann, ist auch fragwürdig – hin und her
geholfen!)
schieben zu können. Wir müssen den Finger in die
– Selbstverständlich, aber Sie sind nicht die Einzigen, Wunde legen und gemeinsam darauf achten, dass wir die
die eine Hotline geschaltet haben; Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken gut in-
formieren, dass wir ihnen eine besondere Hilfestellung
(Mechthild Rawert [SPD]: Haben Sie es geben und dass diejenigen in den Vorständen, die hier
getan?) tricksen, dafür auch bestraft werden.
denn zum Beispiel auch die Kassenaufsicht in Branden- Danke schön.
burg, an die man hier in Berlin die Aufsicht abgetreten
hat, hat sofort eine Hotline geschaltet und versucht, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Menschen zu informieren.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Rot-rote Landes- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
regierung in Brandenburg!) Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Frak-
tion.
Wesentlicher Punkt ist aber: Wenn Sie sich die Versi-
chertenstruktur der City BKK anschauen, (Beifall bei der SPD)
(Mechthild Rawert [SPD]: Habe ich!)
Dr. Carola Reimann (SPD):
dann sehen Sie – das haben Sie vielleicht auch –, dass Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
von den Versicherten hier in Berlin über die Hälfte Rent- ren! Ich denke, in einem Punkt sind wir uns alle hier im
nerinnen und Rentner sind und dass von der anderen Hause einig: Das Verhalten einiger Krankenkassen nach
Hälfte 15 000 Menschen Leistungen nach dem SGB II der Pleite der City BKK ist inakzeptabel und skandalös.
oder Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Sie sehen
also, dass diese Menschen wahrscheinlich einer größe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
ren Hilfe bedürfen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Mechthild Rawert [SPD]: Wir haben Der Umfang und auch die Dreistigkeit, mit der gerade
geholfen!) ältere Menschen verunsichert und letztlich abgewimmelt
worden sind, sind erschreckend. Deshalb ist es auch
Ich finde es schon ein Stück skandalös, wie die ge- richtig und angemessen, dass dieses Verhalten im Deut-
setzlichen Krankenkassen im Land Berlin, aber auch in schen Bundestag mit deutlichen Worten verurteilt wird.
12664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Carola Reimann


(A) Ebenso richtig und nachvollziehbar ist der Ruf nach von den Koalitionsfraktionen etwas gehört. Ihr Koali- (C)
Sanktionen und auch nach Maßnahmen, die den Kassen- tionsvertrag fordert sogar, den Risikostrukturausgleich
wechsel im Falle einer Kassenschließung weiter verein- zurückzufahren.
fachen.
Auch Minister Bahr zieht seit Jahren gegen den Risi-
Herr Minister Bahr, das reicht aber nicht. kostrukturausgleich zu Felde. Es ist geradezu absurd: Sie
(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!) beklagen auf der einen Seite medienwirksam die Ableh-
nung Kranker und Alter, tun auf der anderen Seite aber
Ganz in der Tradition Ihres Vorgängers kündigen Sie rein gar nichts dafür, die Anreize zu dieser Ablehnung zu
jetzt mit markigen Worten große Taten an. Doch an die beseitigen. Auch heute haben wir nichts dazu gehört.
Grundprobleme des Systems wagen auch Sie sich nicht. Schlimmer noch: Sie verfolgen eine Gesundheitspolitik,
Dass an den gegenwärtigen Problemen nicht nur die ge- die diese Anreize sogar noch verstärkt.
setzlichen Kassen schuld sind, haben inzwischen auch
Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfrak- Herr Minister, Kolleginnen und Kollegen von der
tionen gemerkt. Der CSU-Kollege Straubinger, der heute Union und der FDP, der Kollaps der City BKK und das
nicht anwesend ist, scheint – das ist schon erwähnt wor- Chaos als Folge daraus sind ein ernstzunehmender
den – bei Fonds, Spitzenverband und Zusatzbeiträgen ei- Warnschuss. Das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und
niges durcheinandergebracht zu haben. die Abwälzung aller künftigen Kostensteigerungen auf
die Versicherten in Form unbegrenzter Zusatzbeiträge,
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Er war schon gegen verbunden mit einem unzureichenden Risikostrukturaus-
den Fonds, als ihr noch dafür ward!) gleich, werden zu einem verschärften schädlichen Wett-
Aber zumindest hat er gemerkt, dass das Problem tiefer bewerb führen.
liegt. Denn unabhängig von dem skandalösen Fehlver- (Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das
halten muss man sich fragen, wieso es nach wie vor für fürchte ich auch!)
einige Kassen erstrebenswert ist, ältere und kranke Ver-
sicherte gar nicht erst zu versichern. Junge, gesunde und flexible Versicherte werden bei
steigenden Zusatzbeiträgen flüchten. Die Alten und
Offensichtlich herrscht im System kein wohlverstan- Kranken bleiben zurück, weil sie sich mit einem Kassen-
dener Wettbewerb, sondern ein schädlicher Wettbewerb wechsel aus verschiedenen Gründen schwerer tun. In der
(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] und Folge geraten die betroffenen Kassen immer mehr in
Harald Weinberg [DIE LINKE]) eine finanzielle Schieflage bis hin zur Insolvenz mit den
Auswirkungen, die wir gerade bei der City BKK erlebt
um die jungen, gesunden Versicherten, während die Al- haben.
(B) (D)
ten und Kranken Steine in den Weg gelegt bekommen.
Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie diesen Warn-
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Ich denke,
schuss ernst! Es ist der Hinweis auf eine Fehlentwick-
der Wettbewerb herrscht zwischen Städtern
lung, die Sie nicht mit Strafen und Sanktionen für
und Landleuten!)
gesetzliche Kassen in den Griff bekommen werden, son-
Gerade deshalb haben wir unter Ministerin Schmidt den dern nur, indem Sie die gesundheitspolitischen Fehlent-
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einge- scheidungen Ihres Vorgängers zurücknehmen.
führt. Gesunden Wettbewerb im System der gesetzlichen
Krankenversicherung erreichen wir nämlich nur, wenn Danke.
Kassen mit vielen kranken und älteren Versicherten kei- (Beifall bei der SPD)
nen finanziellen Nachteil daraus haben.
Die seinerzeit von der Union durchgesetzte Beschrän- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
kung des Risikostrukturausgleichs auf 80 Erkrankungen Das Wort hat nun Lars Lindemann für die FDP-Frak-
belässt aber weiterhin Anreize zur Risikoselektion auf- tion.
seiten der Krankenkassen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU)
Genau das haben wir im Fall der City BKK noch einmal
deutlich vor Augen geführt bekommen. Wir fordern des- Lars Lindemann (FDP):
halb die Abschaffung der Begrenzung auf 80 Erkrankun- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
gen; denn nur so können wir die falschen Anreize für die ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde von den
Kassen unterbinden und für einen fairen Wettbewerb Vorrednern heute schon viel gesagt. Wir alle haben die
sorgen, von dem auch alle Versicherten profitieren kön- Bilder gesehen. Wir alle haben das Vorgehen einhellig
nen. verurteilt. Es ist die originäre Aufgabe der gesetzlichen
(Beifall bei der SPD) Krankenversicherung, Versicherungsschutz anzubieten.
Deren originäre Aufgabe ist es auch, im Fall einer Insol-
Der Fall City BKK zeigt, dass es höchste Zeit ist, mit venz die Versicherten der insolventen Krankenkasse auf-
falschen Anreizen im System Schluss zu machen und da- zunehmen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
für zu sorgen, dass der Risikostrukturausgleich weiter
ausgebaut wird. Dazu habe ich weder vom Minister noch (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12665
Lars Lindemann
(A) Es geht aber nicht nur um die Vorgehensweisen be- satzbeiträge eingeführt haben, und zwar – im Gegensatz (C)
stimmter Krankenkassen und ihrer Vorstände, die wir zu uns – ohne Sozialausgleich für die Versicherten.
schlicht als rechtswidrig bezeichnen müssen. Zur Wahr-
(Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert [SPD]:
heit gehört auch: Die Pleite der City BKK hat sich lange Wo ist denn der Sozialausgleich?)
angedeutet. Alle Beteiligten – ich betone: alle Beteilig-
ten – konnten sich darauf vorbereiten, sowohl die Kran- Wir haben den Sozialausgleich – dazu stehen wir weiter-
kenkassen als auch die Politik. Wir als politisch Verant- hin – mit der Überlegung gekoppelt, dass der Wettbe-
wortliche auf Bundesebene durften darauf vertrauen, werb darum, ob eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag
dass die gesetzlichen Krankenkassen die Regeln einhal- erhebt oder nicht, zu einer Veränderung der Krankenkas-
ten werden, die wir ihnen gegeben haben. Interessant ist senlandschaft führen kann. Wenn Sie, liebe Kollegen
aber, dass gesetzliche Krankenkassen, die bekannt dafür von der SPD, erklären, das sei nicht Ihr Ziel – das dürfen
sind, dass sie hohe moralische Ansprüche an alle Betei- Sie –, dann hält uns das nicht davon ab, das zu tun. Aber
ligten im System haben, hier die Ersten sind, die dies für es lässt sich eines festhalten: Der Zusatzbeitrag, den Sie
sich nicht mehr gelten lassen wollen. Insoweit stellt sich eingeführt haben, war nichts anderes als der schlichte
die Frage: Wie moralisch und wie solidarisch ist dieses Griff in die Tasche der Versicherten ohne Sozialaus-
Vorgehen in genau diesem Moment? gleich

(Mechthild Rawert [SPD]: Die PKV macht es (Zuruf von der LINKEN: Wo bleibt denn der
uns schon die ganze Zeit vor!) Sozialausgleich?)

– Liebe Kollegin Rawert, es geht um den Moment. und ohne Elemente, die die Erhaltung der Leistungsfä-
higkeit des Gesamtsystems im Blick haben. Dies aber ist
Wir von der Koalition jedenfalls werden das so nicht unser Ansatz. Insoweit kann ich Ihren Stellungnahmen
hinnehmen. Dieses Verhalten wird zu Konsequenzen etwas abgewinnen, wenn es um die Zielsetzungen geht.
führen, die wir gesetzlich implementieren werden. Wir
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
werden dabei auch darauf achten, dass die Konsequen-
zen diejenigen treffen werden, auf die es dabei an- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
kommt, nämlich die Vorstände der Krankenkassen und der CDU/CSU)
deren Verbände. Es soll sich niemand falsche Hoffnun-
gen machen: Die Koalition wird diese Sache ganz unauf- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
geregt besprechen. Es geht darum, dass sich die Men- Das Wort hat nun Kollege Rudolf Henke für die
schen in diesem Land auf die Wirkung der vom CDU/CSU-Fraktion.
Gesetzgeber für den Fall einer Insolvenz geschaffenen
(B) Regelungen verlassen können, gerade vor dem Hinter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
grund, dass diese auch wirken müssen, wenn in Zukunft neten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Der
andere Krankenkassen von einer Insolvenz betroffen ist zu den Grünen gegangen, bei der Kra-
sind, unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große watte!)
Krankenkassen handelt. Es geht darum, einen Mechanis-
mus, der zu einem funktionierenden System gehört Rudolf Henke (CDU/CSU):
– nach unserer Auffassung auch der Marktaustritt –, Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
funktionsfähig zu halten. Der Marktaustritt von Kran- Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Krawattenfarbe
kenkassen und auch – das füge ich hinzu – von Leis- entscheidend ist, dürfte ich nie eine rote tragen. Das tue
tungserbringern ich aber gelegentlich.
(Mechthild Rawert [SPD]: Was ist denn (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Marktaustritt?) Ich trage auch schon mal eine lilafarbene Krawatte. Die
muss zur positiv erlebbaren Realität in diesem Land ge- meisten meiner Krawatten sind gemustert. Die Krawatte,
hören. Es kann nicht sein, dass die Beteiligten dann, die ich gerade trage, weist auch etwas Blau auf.
wenn gesetzlich vorgesehene Fälle eintreten, versuchen, (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Aber der Anzug
Konflikte auszutragen, die nicht dorthin gehören. sitzt nicht!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Kann Da es für die Versicherten, die gerade zuschauen, ein
schon! Darf nicht!) bisschen durcheinandergeht: Das Formular, mit dem
Dazu gehört ganz ohne Zweifel, dass diejenigen, die man seinen Beitritt zu einer neuen Krankenkasse erklärt,
nicht in der Lage sind, unter Beachtung der gegebenen ist supersimpel. Dort steht: „An die Krankenkasse“, und
Regeln einen Beitrag zu leisten, ausscheiden müssen. dann muss die Adresse eingetragen werden. Es heißt
dort:
(Mechthild Rawert [SPD]: Marktaustritt ist In-
Antrag auf Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse.
solvenz!)
Sehr geehrte Damen und Herren,
Nun sprechen Sie, liebe Kollegen von der SPD, von hiermit beantrage ich die Mitgliedschaft in Ihrer
einem perversen Wettbewerb – so hat es Herr Kollege Krankenkasse ab
Lauterbach bezeichnet –, der durch die Erhebung oder – in diesem konkreten Fall –
die bewusste Vermeidung von Zusatzbeiträgen entsteht.
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, die Zu- 1. Juli 2011.
12666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Rudolf Henke
(A) Dann muss man seine Daten angeben: Name, Vorname, sind. Für ein solches Verhalten habe ich keinerlei Ver- (C)
Geburtsdatum, Straße, Postleitzahl und Ort. Man trägt ständnis. Es ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch
ein Datum ein, unterschreibt das Formular und schickt es inakzeptabel. Wir erwarten von jeder gesetzlichen Kran-
an die Krankenkasse. Wenn man glaubt, dass man dafür kenkasse, dass sie grundsätzlich jeden mit offenen Ar-
einen Beweis braucht, muss man es per Einschreiben men empfängt.
schicken oder es persönlich dort einwerfen. Der ent-
Kleine Korrektur zu der Ausrede, die da vagabundiert
scheidende Punkt ist: Mehr Aufwand bedarf es dazu
hat, also zu der Aussage der AOK Berlin-Brandenburg,
nicht. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, denjeni-
man habe ja hier so viele Krankenhausbetten: In Berlin
gen in diese Krankenkasse aufzunehmen. Sie, die Kran-
hatten wir Ende 2009 573 Betten auf 100 000 Einwoh-
kenkasse, hat kein Wahlrecht, sich den Versicherten aus-
ner, im Bund waren es 615 Betten und in dem Bundes-
zusuchen, sondern der Versicherte hat das Wahlrecht,
land Nordrhein-Westfalen beispielsweise, aus dem ich
sich die Krankenkasse auszusuchen. So einfach ist das.
stamme, 682 Betten. Es ist aber trotzdem so, dass die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) City BKK hier in Berlin in Probleme geraten ist. Auch
da wird zum Teil die Verantwortung auf andere Bereiche
Ich habe den Eindruck, dass die Krankenkassen die umgelenkt.
Philosophie, die dahintersteckt, dann, wenn es um an-
dere geht, gerne vor sich hertragen. Vor ein paar Tagen Ein zentraler Punkt in der politischen Debatte scheint
wurde der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts mir zu sein, dass wir in der Behandlung des Zusatzbei-
für Wirtschaftsforschung „Krankenhaus Rating Report trages – die ganze Diskussion zeigt das wieder einmal –
2011“ vorgelegt, wonach sich 12 Prozent der Kranken- geradezu eine Neurotisierung in der Bevölkerung för-
häuser im Insolvenzrisiko befinden. Das haben die Kran- dern, und zwar an allererster Stelle Sie, Herr Kollege
kenkassen natürlich kommentiert. Und wie haben sie es Lauterbach. Sie erklären zum einzigen Kriterium des
kommentiert? Ich zitiere Herrn von Stackelberg, den Krankenkassenwettbewerbs: Zusatzbeitrag vermeiden,
stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spit- Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden. Da-
zenverbandes: mit sorgen Sie für eine Haltung, die zum Beispiel der
Verbraucherzentrale Bundesverband ablehnt,
Verluste von Krankenhäusern sind kein Indiz für
eine unzureichende Finanzierungsausstattung, son- (Zuruf des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])
dern oft ein Zeichen von strukturellen Problemen. weil er seinen Verbrauchern und den Versicherten zuruft,
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) dass man nicht alleine auf den Zusatzbeitrag achten darf,
sondern dass man auf das Verhältnis von Leistung und
Darüber hinaus hat er gesagt: Preis achten muss.
(B) (D)
Verkrustete Strukturen dürfen nicht länger konser- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
viert, sondern müssen aufgebrochen werden. Wir
mahnen dringend eine strukturelle Bereinigung der Die Konzeption, die Sie hier vertreten, ist eine Kon-
Krankenhauslandschaft an. zeption, bei der so getan wird, als wären die Versicherten
so dumm,
So Herr von Stackelberg.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie stellen sich
Wer so über andere redet, die in wirtschaftliche dumm!)
Schwierigkeiten kommen, der hat keine Ausreden mehr,
wenn sich Krankenkassen so verhalten, wie sie es getan dass sie nicht in der Lage sind, das Verhältnis von Preis
haben, indem sie Versicherte abgewimmelt haben. und Leistung zu erkennen. Die wichtigste Leistung einer
Krankenkasse ist, dass sie in der Lage ist, das Leistungs-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – versprechen, das sie gegeben hat, einzuhalten. Wenn sie
Mechthild Rawert [SPD]: Was sind jetzt Ihre dafür einen etwas höheren Beitrag erheben muss,
Vorschläge?)
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber nur einseitig
Ich bin sehr dafür, dass auch die Leistungserbringer von den Versicherten!)
daran festhalten und wissen müssen, dass sie selbstver-
ständlich nach Recht und Gesetz und Fachlichkeit ge- dann ist dieses Geld richtig bezahlt und der Versicherte
bunden sind, jeden Versicherten zu versorgen. Die Kran- gut beraten, bei dieser Kasse zu bleiben.
kenkassen haben ja in der Verteidigung dieses Rechts Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
eine Rolle gespielt. Genau an dieser Stelle schießen sie
sich selbst ins Knie, wenn sie sich so verhalten, wie sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
es jetzt getan haben, weil sie damit ihrer eigenen Glaub-
würdigkeit schweren Schaden zufügen. Sie zeigen mit Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dem Finger auf andere, achten aber nicht darauf, dass Die Aktuelle Stunde ist beendet.
man sich auch selber daran halten muss.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
(Mechthild Rawert [SPD]: Sie haben sich ent-
schuldigt!) a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Es ist unentschuldbar, wenn Krankenkassen Versi- Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bun-
cherte abwimmeln, weil ihnen diese zu alt oder zu krank des-Immissionsschutzgesetzes – Privilegie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12667
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) rung des von Kindertageseinrichtungen und Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- (C)
Kinderspielplätzen ausgehenden Kinder- minister Norbert Röttgen das Wort.
lärms
(Beifall bei der CDU/CSU)
– Drucksache 17/5709 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Ände- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr – ich
Privilegierung des von Kindertageseinrich- hoffe und glaube, dass das für sehr viele hier im Hohen
tungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Hause gilt –, dass wir heute die zweite und dritte Lesung
Kinderlärms des Gesetzes zur Privilegierung von Kinderlärm beraten
und dann im Bundestag auch beschließen werden. Ich
– Drucksache 17/4836 – glaube, dass dieses Gesetzesvorhaben eine grundsätzli-
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- che gesellschaftspolitische Bedeutung, aber auch ganz
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- praktische Folgen hat.
torsicherheit (16. Ausschuss) Zur grundsätzlichen Bedeutung möchte ich erstens
– Drucksache 17/5957 – Folgendes hervorheben: Dieses Gesetz trägt dazu bei,
dass sich im einfachen Recht, in den einfachen Gesetzen,
Berichterstattung: die Wertordnung des Grundgesetzes verwirklicht. Ge-
Abgeordnete Dr. Michael Paul setze müssen sich orientieren an den Werten einer Ge-
Ute Vogt sellschaft und insbesondere an der Wertordnung, wie sie
Judith Skudelny in unserer Verfassung, im Grundgesetz, festgelegt ist.
Ralph Lenkert Darum möchte ich hier ganz ausdrücklich aussprechen,
Dorothea Steiner dass die bisherige Rechtslage, nach der das Toben, Spie-
len, ja natürlich auch das Lärmen von Kindern als schäd-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- liche Umwelteinwirkung aufgefasst werden kann, inak-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz zeptabel ist, gerade auch aus der Perspektive der
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Wertordnung des Grundgesetzes.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei
Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
(B) Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (D)
der SPD Kinder haben das Recht, in ihrem Kindsein akzeptiert
und toleriert zu werden.
Kinderlärm – Kein Grund zur Klage
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Es gibt keine geräuschfreien Kinder. Wir wollen auch
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE keine geräuschfreien Kinder, sondern wir wollen Kinder
LINKE so, wie sie sind: spielend, Lust am Leben und Freude ha-
bend, auch tobend und lärmend. Das mag manchmal für
Für eine immissions- und baurechtliche Pri- Erwachsene anstrengend sein – das will ich als Vater von
vilegierung von Sportanlagen drei Kindern gern einräumen; diese Erfahrung machen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, wir alle –, aber es geht darum, Kinder in ihrem Kindsein
Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeord- zu tolerieren, zu respektieren, ja zu mögen, zu lieben, zu
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE wollen. Das muss sich in Gesetz und Recht ausdrücken;
GRÜNEN sonst sind wir nicht ehrlich.

Vorrang für Kinder – Auch beim Lärm- (Beifall bei der CDU/CSU – Bernhard Kaster
schutz [CDU/CSU]: Er wäre ein guter Familienminis-
ter, oder?)
– Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925,
17/5957 – Darum ist diese Änderung auch im rechtspolitischen
Sinne eine wirklich überfällige Korrektur.
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul Ich glaube zweitens, dass dieses Gesetz ein wichtiges
Ute Vogt gesellschaftspolitisches Signal ist, ein Signal für eine kin-
Judith Skudelny derfreundliche Gesellschaft. Was sind die Trends in unse-
Ralph Lenkert rer Gesellschaft, über die Konsens besteht? Wir sind eine
Dorothea Steiner Gesellschaft, in der wir weniger werden. Wir sind eine
Gesellschaft, die älter wird. Ich glaube, wir sind eine Ge-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sellschaft, in der viele Menschen einsamer werden, nicht
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei- nur individueller; der Trend zur Vereinsamung hat inzwi-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schen eingesetzt. In unserer Gesellschaft werden wir we-
12668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) niger, älter und einsamer. Das sind drei große Trends in unserer Gesellschaft, die Toleranz und die Freude am (C)
unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach tatenlos hin- Zusammenleben zunehmen. Unsere Gesellschaft braucht
nehmen dürfen. Mit einer gezielten und entschlossenen dies, und darum bitte ich Sie sehr um Ihre Zustimmung
Familienpolitik müssen wir Akzente dagegen setzen; zu diesem Gesetz.
denn die Familie ist immer noch die wichtigste Lebens-
form, die sozialen Zusammenhalt bietet, ihn erzeugt. Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rum wollen wir alles tun, was Kinder und Familien stärkt.
Es ist ein Signal für eine kinder- und familienfreundliche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gesellschaft, das wir heute in Gesetzesform an die Ge- Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Vogt von der
sellschaft aussenden, ein Signal für den Zusammenhalt in SPD-Fraktion.
der Gesellschaft.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Drittens regeln wir ganz praktische Sachverhalte; Ute Vogt (SPD):
denn mit der Neuregelung im Bundes-Immissions- Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolle-
schutzgesetz wie auch im Baurecht, im Bauplanungs- ginnen und Kollegen! Dies ist sicherlich ein dankbares
recht sorgen wir dafür, dass der gerichtliche Streit um Thema für den Minister; denn wir sind uns bei diesem
die Zulässigkeit von Kinderlärm weniger wird, weil der Gesetzentwurf durchaus in den wichtigen Teilen, die uns
Gesetzgeber die Normentscheidung trifft, dass Kinder- heute vorliegen, parteiübergreifend einig.
lärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung
darstellt. Indem der Gesetzgeber Klarheit schafft, sorgen Ich beginne mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem
wir dafür, dass im Einzelfall weniger Streit vor den Ge- Zitat von Frank Patalong in Spiegel Online aus dem
richten ausgetragen wird und auch weniger Nachbar- April dieses Jahres: Eigentlich sollte uns dieses Gesetz
schaftsstreitigkeiten entstehen. zutiefst beschämen. Er führt aus, man könne sich durch-
aus Gedanken darüber machen, dass es bedauerlich ist,
(Gerd Bollmann [SPD]: Das Baurecht fehlt ja dass man ein solches Gesetz überhaupt braucht, und man
noch!) treffe diese Regelung in einem Gesetz, das eigentlich für
– Das Baurecht fehlt nicht – aber es ist richtig, dass Sie Immissionen von Abgasanlagen und Industrieanlagen
es anmerken –, da wir im Bauplanungsrecht eine Ände- zuständig ist. Daran ist durchaus etwas, wenn man die
rung vornehmen, die vorsieht, dass nun auch in reinen gesellschaftliche Situation betrachtet: Man kann bedau-
Wohngebieten Kindertageseinrichtungen generell zuläs- ern, dass wir dies überhaupt regeln müssen, weil sich zu
sig sind. Das ist eine ganz wichtige Flankierung dieser viele Menschen beklagen und sogar gerichtlich gegen
(B) Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten vorgehen. (D)
Gesetzesinitiative im Planungsrecht. Wir wollen Kinder-
tageseinrichtungen dort, wo auch andere Menschen sind, Aber entscheidend ist für uns, dass wir nicht darüber
in reinen Wohngebieten, und sie nicht zu Exklaven unse- trauern, dass es solche Zustände gibt, sondern dass wir
rer Städte und Gesellschaften machen. Auch das ist ein den Kindern mit diesem Gesetz Freiräume schaffen und
wichtiges Signal, eine wichtige Entscheidung. dass wir dies parteiübergreifend tun. Vor allem sorgen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir dafür, dass für Kinderlärm eine Privilegierung gilt
neten der FDP) und er daher dem Spielen und Sich-Entfalten nicht im
Wege steht.
Ich betone ausdrücklich, dass dies ein gesellschafts-
politisch wichtiges Anliegen ist. So klein es zu sein Ausdrücklich bedanke ich mich bei der Landesregie-
scheint, so wichtig ist es mit Blick auf die Ehrlichkeit rung von Rheinland-Pfalz, die mit ihrer Bundesratsini-
und Glaubwürdigkeit, aber auch das Bemühen von Poli- tiative im November 2009, also schon vor anderthalb
tik und Gesetzgeber, Maßnahmen zu ergreifen, die un- Jahren, die Grundlage dafür geschaffen hat, dem Ganzen
sere Gesellschaft freundlich machen, Zusammenhalt zusammen mit Anträgen der Opposition etwas Nach-
stiften, Kindern ganz real in Kindertageseinrichtungen, druck zu verleihen. Daher kommen wir heute wenigstens
aber auch zur Entfaltung ihres Kindseins Lebensraum in diesem einen Feld, was die Kinder betrifft, zu einer
geben. Obwohl es um wenige Veränderungen geht, hat Sicherheit, wenngleich die Rechtssicherheit, wie Sie ja
dies eine beachtliche Bedeutung für die gesellschaftliche selbst gesagt haben, Herr Minister, erst dann gegeben
Entwicklung. sein wird, wenn, wie im SPD-Antrag vermerkt, auch das
Baurecht und andere damit zusammenhängende Rechts-
Es geht auch darum, eine tolerante Gesellschaft zu be- vorschriften geändert werden.
fördern. Toleranz wird ganz sicherlich – das ist auch
wichtig bei einem Gesetz zugunsten von Kindern und ih- Trotzdem möchte ich mein Bedauern darüber ausdrü-
rer Entfaltung – wechselseitig geschuldet. Es geht hier cken, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf doch ein gan-
um die Toleranz älterer Erwachsener gegenüber Kin- zes Stück hinter dem zurückbleiben, was die Realität
dern, weil wir sie so haben möchten, wie sie sind. In heute erfordert. In unserer Anhörung vom 14. März 2011
gleicher Weise ist dies dann auch eine gute Grundlage, hat der Sachverständige Rainer Grund vom Bau-
dass Kinder, junge Menschen Toleranz und Respekt ge- rechtsamt Stuttgart dazu etwas Treffendes gesagt. Er be-
genüber älteren Menschen, gegenüber der älteren Gene- schreibt, wie er es nennt, die offene Flanke, die dieser
ration zeigen. Insofern versucht dieses Gesetz einen klei- Gesetzentwurf bietet. Ich zitiere aus dem Protokoll der
nen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zusammenhalt in Anhörung:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12669
Ute Vogt
(A) Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, beschäftigt der Opposition zu. Dazu zählt das Anliegen, eben auch (C)
sich eigentlich nur … mit dem Kinderlärm durch Bolzplätze, Baseballanlagen, Skateranlagen und auch
Kindertagesstätten oder durch klassische Spiel- wohnortnahe Sportplätze einzubeziehen und vor allem
plätze. Im praktischen Vollzug ist das der Bereich, gleichzustellen. Das alles ist in den Anträgen der Oppo-
der am wenigsten Probleme aufwirft. sition enthalten. Ich kann Sie nur bitten: Schieben Sie
das Ganze nicht auf die lange Bank. Die Kolleginnen
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für zu- und Kollegen der CDU/CSU und der FDP aus dem
tiefst bedauerlich. Auch Sie, Herr Minister, haben mit Sportausschuss – vielleicht sind diese manchmal ein bis-
keinem Wort erwähnt, dass die Kindheit eben nicht en- schen näher an der Realität – haben einen eigenen An-
det, wenn man den Kinderspielplatz verlässt. Sie endet trag eingebracht, in dem Sie ausdrücklich aufgefordert
auch nicht mit 14 Jahren; das ist meistens das Höchstal- werden, auch Rechtssicherheit bei der Beurteilung von
ter, bis zu dem man einen Kinderspielplatz nutzen darf. Lärm der Jugendeinrichtungen zu schaffen.
Vielmehr haben auch die Jugendlichen ein Recht darauf
und hätten es verdient, dass Sie als Bundesregierung ihr In diesem Sinne bitte ich Sie ganz dringend: Stimmen
Anliegen aufnehmen und sich zur Lobby auch von jun- Sie auch den Oppositionsanträgen zu. Damit würden wir
gen Menschen machen, nicht nur zu der für Kinder bis ein Gesetz verabschieden, das im Grunde genommen al-
zu 14 Jahren. len gerecht wird, Kindern und Jugendlichen. Wir hätten
auch ein Stück Geschichte geschrieben, weil wir einmal
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht nur hinsichtlich des Gesetzes einig sind, sondern
der LINKEN) auch bei den dazugehörenden Anträgen.
Wenn wir einerseits die Erkenntnisse aus den Anhö- Danke schön.
rungen – es war nicht nur der eine Sachverständige, der
solche Ausführungen gemacht hat – zugrunde legen und (Beifall bei der SPD)
andererseits sehen, was uns zum Beispiel eine FDP-Kol-
legin im Ausschuss erläutert hat, tut sich ein Wider- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
spruch auf. Sie sagte nämlich, der Kinderlärm bedürfe Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
einer Regelung, denn man könne den Kindern nicht so von der FDP-Fraktion.
gut sagen, dass sie still sein sollen, sie verstünden das
noch nicht; Jugendlichen hingegen könnte man solche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Hinweise durchaus geben. der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Nicole Bracht-Bendt (FDP):
(B) Stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Die Kollegin Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (D)
Skudelny rennt in Stuttgart von Bolzplatz zu Bolzplatz Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
und sagt den Jugendlichen, sie sollen aber bitte ein biss- Hamburger Landgericht hat 2005 per Gerichtsurteil die
chen leiser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist Schließung eines Kindergartens wegen Lärmbelästi-
weltfremd, und es ist auch ganz schön albern, welche gung der Nachbarn angeordnet. Das Urteil empfand ich
Vorstellungen Sie haben. Sie drücken sich davor, eine damals genauso wie heute als Skandal. Wie kann man
Lösung für ein Thema zu finden, das den eigentlichen den ganzen Tag den Lärm einer vierspurigen Straße er-
Konflikt vor Ort schafft. tragen, aber nicht für ein paar Stunden das Lachen und
(Patrick Döring [FDP]: Sie haben alle Anträge, Toben von Kindern? Rasenmäher machen Krach, wer-
die wir in der letzten Wahlperiode gestellt ha- den aber toleriert, Kindergeschrei nicht.
ben, abgelehnt!) Das Gerichtsurteil von Hamburg hat dennoch ein Gu-
Denn wenn Jugendliche ihrer Spielfreude Ausdruck ver- tes: Es hat eine Diskussion in Gang gebracht. Es han-
leihen wollen, macht dies viel mehr Probleme, aber für delte sich um einen Konflikt, der schwer nach Genera-
sie ist viel weniger Lobby vorhanden. Es wäre mutig und tionenkampf aussah. Lärm sei Lärm, egal, ob er von
richtig gewesen, wenn Sie auch bei diesem Gesetzent- Kindern oder Maschinen herrührt. Für zumutbaren Lärm
wurf nicht bei den Kindern geendet hätten. gebe es Obergrenzen und die müssten eingehalten wer-
den, sagen mache. Geräusche von Kindern waren immer
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wieder Gegenstand von nachbarschaftlichen Streitigkei-
der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Wo war ten. Tobende Kinder mit Maschinen zu vergleichen, ist
Ihr Mut?) absurd.
Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie die vorliegen- (Beifall bei der FDP)
den Anträge der Opposition nicht in gewohnter Art und
Weise beiseitelegen und nicht einfach sagen: Wir haben Als Regierungskoalition haben wir versprochen, eine
die Mehrheit, hurra, jetzt setzen wir uns einmal allein Änderung auf den Weg zu bringen. Dieses Versprechen
mit dem durch, was wir für richtig halten. lösen wir nun ein. Miriam Gruß von der FDP-Fraktion
hat dieses in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht.
Wir haben uns als Opposition parteiübergreifend ent- Jetzt wird es Gesetz. Außerdem ist es ein Signal an Fa-
schieden, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Man milien. Es schließt nahtlos an den Ausbau der Kinderbe-
könnte jetzt auch im Sinne einer guten demokratischen treuung durch die Bundesregierung an. Welchen Sinn
Kultur sagen: Im Gegenzug stimmen Sie den Anliegen würden neue Kitas in Wohngebieten machen, wenn die
12670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Nicole Bracht-Bendt
(A) Kinder nicht auch draußen spielen dürften? Kinderge- stätten sind Lärmklagen zukünftig unzulässig. Das fin- (C)
räusche stellen im Regelfall keine schädliche Umwelt- den wir gut.
einwirkung dar.
(Beifall bei der LINKEN)
Während des Gesetzgebungsverfahrens ist klar ge-
Aber leider gibt es ein Problem; denn nur bis zum
worden, dass auch in Bezug auf Jugendliche auf Bolz-
14. Geburtstag dürfen Kinder lärmen, weil nach dem
plätzen Handlungsbedarf besteht. Bolzplätze und Sport-
Gesetz da die Kindheit endet. Pech für die Jugendlichen,
stätten sind für Jugendliche Alternativen zum Computer,
Pech auch für Freizeitsportler: Sie müssen leise sein, die
eine Gelegenheit, draußen zu sein und Freunde zu tref-
Frösche dürfen quaken. Dass Sportfeste zwischen
fen. Jugendliche treffen sich allerdings zu anderen Zei-
13 und 15 Uhr untersagt werden, dass Jugend- und Frei-
ten. Deshalb können wir dies nicht genauso behandeln
zeitsport in enge Zeitfenster gezwungen wird, das lehnen
wie die durch Kinder entstehende Geräuschkulisse.
wir ab.
(Katrin Kunert [DIE LINKE]: So ein
(Beifall bei der LINKEN)
Blödsinn!)
Deshalb beantragt die Linke, dass für den Jugend- und
Die Koalition wird eine Lösung entwickeln, die die Si-
Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte um 5 Dezi-
tuation Jugendlicher angemessen berücksichtigt.
bel angehoben werden. Diesen Antrag haben Sie von
(Beifall bei der FDP) CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen jedoch im Ausschuss
abgelehnt – mit der Begründung, Jugendliche und Sport-
Ich bin auch Sprecherin für Senioren in meiner Frak- ler seien nicht wie Kinder, die für ihr Verhalten nichts
tion. Deshalb habe ich natürlich auch die Interessen der können. Sie fördern Sportler, die nicht hörbar sind.
Älteren vor Augen. Die neuen Regeln sollen ein Gewinn
für alle sein. Daher brauchen wir einen fairen Ausgleich (Ute Vogt [SPD]: Bei der SPD war es eine
zwischen den Interessen von Anwohnern und denen von andere Begründung!)
Kindern und Jugendlichen. Deshalb legen wir Wert auf
Prinzipiell unterstützt die Linke den Schutz vor Lärm.
die Formulierung, dass der von Kindergärten und Kin-
Aber erklären Sie mir und allen Bürgern: Weshalb lassen
derspielplätzen ausgehende Kinderlärm bei der Festle-
Sie per Gesetz einen Straßenlärm von 59 Dezibel in
gung des zumutbaren Geräuschpegels privilegiert sind
Wohngebieten zu, und warum darf ein Militärflugzeug
und er im Regelfall – ich wiederhole: im Regelfall –
nach Gesetz mit mehr als 90 Dezibel über ein Haus hin-
nicht als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf.
wegdonnern, wenn Sie gleichzeitig Sportgeräusche von
Ausnahmen kann es also geben.
nur 54 Dezibel verbieten?
Wir wollen wie Sie alle eine kinderfreundlichere Ge-
(B) Nach Ihrem Gesetz ist Folgendes zu erwarten: Auf ei- (D)
sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder möglichst wohnort-
nem Bolzplatz spielen Kinder im Alter von 13 Jahren;
nah draußen spielen und toben können. Das brauchen
gegen diese Geräusche kann man nicht klagen. Wenn
sie, körperlich wie seelisch.
aber ein 15-Jähriger mitspielt, könnte man dagegen kla-
Noch ein Gedanke zum Begriff Lärm. Lärm wird de- gen. Spielt das 8-jährige Mädchen mit ihrer Freundin
finiert als lästig empfundener Schall. Das Lachen und Basketball, dann ist das Scheppern erlaubt. Spielt Papa
Toben von Kindern ist dagegen vielmehr Ausdruck kind- mit, ist das Scheppern untersagt. Was für ein Schwach-
licher Lebensfreude, also kein Grund zur Klage. Im Ge- sinn!
genteil: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Danke. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wie sollen die Kommunen da mit Beschwerden von An-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wohnern umgehen? Sollen sie Schilder aufhängen mit
der Aufschrift „Spielen an Wochenenden für Kinder er-
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der laubt! Für Jugendliche, Eltern und Großeltern verbo-
Fraktion Die Linke. ten!“? Ehrlich: Was soll das?
(Beifall bei der LINKEN) Die von uns geforderte Änderung der 18. Bundesim-
missionsschutzverordnung mit um 5 Dezibel höheren
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Grenzwerten hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und
und Kollegen! Ich wundere mich schon, was Gerichte Freizeit zu organisieren. So könnten Opa, Paul und Lisa
auch beim Lärmschutz manchmal aus Gesetzen machen. auch sonntags gemeinsam Fußball spielen, und die 15-Jäh-
rigen werfen den Basketball aus Freude statt Flaschen
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) aus Frust.
Den Lärm von Fröschen müssen Anwohner dulden, aber (Beifall bei der LINKEN)
Kinderlärm wurde verboten. Mit der nun von der Bun-
desregierung geplanten Änderung der Lärmgesetzge- Um Ihnen die Angst zu nehmen: Auch mit der Ände-
bung dürfen nicht nur Frösche quaken, sondern auch rung darf der Sportler noch immer nicht so viel Lärm
Kinder laut spielen. Gegen Spielplätze und Kindertages- verursachen wie der Autofahrer. Deshalb fordere ich Sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12671
Ralph Lenkert
(A) auf: Stimmen Sie hier im Plenum neben dem Gesetzent- siedlung von Kitas in Wohngebieten erleichtert würde (C)
wurf auch unserem Antrag zu! Zeigen Sie endlich Herz – und die lieben Kleinen dann die Senioren stören. Mit
nicht nur für Kinder und Frösche, sondern auch für Ju- derartigen Äußerungen – das muss man einfach sagen –
gendliche und Sportler! war er in der Union nicht alleine. Ich bin froh – auch das
möchte ich hier sagen –, dass sich diese Haltung in der
Danke.
Union nicht durchgesetzt hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Gerade mit Blick auf den Ausbau der Kindertages-
neten der SPD – Dr. Michael Paul [CDU/
stätten – auch Frau Bracht-Bendt hat diesen Punkt ange-
CSU]: Ein Herz für Linke!)
sprochen –, der dringend notwendig ist, um bis 2013 den
Rechtsanspruch auf einen Platz erfüllen zu können,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wurde in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit verplem-
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner von den Grü- pert. Die Berichte darüber, dass die Errichtung von Kin-
nen. dertagesstätten verhindert oder zumindest massiv behin-
dert wurde, liegen uns allen vor.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nun würde ich gerne sagen: Was lange währt, ist end-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
lich gut. Richtig ist: Die Einrichtungen für Kinder wer-
Liebe Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute gemein-
den endlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz privile-
sam ein wichtiges Etappenziel erreichen und den Kin-
giert. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir diesem
derlärm endlich privilegieren.
Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen. Denn ein
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch wichtiges Etappenziel – ich habe es schon gesagt –
schon mal ein guter Einstieg!) wurde damit erreicht. Aber die notwendige Klarstellung
in der Baunutzungsverordnung, die auch schon vor zwei
Das ist nicht nur ein wichtiges Signal für mehr Kinder-
Jahren im Parlament beschlossen worden ist, steht im-
freundlichkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch ein
mer noch aus. Auch dafür gibt es eigentlich keinen nach-
Meilenstein für die Kinderrechte in unserem Land.
vollziehbaren Grund.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
geordneten der SPD) Judith Skudelny [FDP]: Doch! Bei meiner
letzten Rede habe ich es Ihnen erklärt!)
Fakt ist aber auch – das kann ich Ihnen nicht ersparen –:
Die Bundesregierung hat fast zwei Jahre gebraucht, um Die Koalition hat zudem eine große Chance verpasst.
(B) zwei kleine Sätze, konkret: 31 kleine Wörter, ins Bun- Sie hat die Gelegenheit nicht genutzt, eine Klarstellung (D)
des-Immissionsschutzgesetz aufzunehmen. auch für Bolzplätze, Skateranlagen und ähnliche Flächen
vorzunehmen. Die Anhörung im Umweltausschuss hat
(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Sie arbeitet deutlich gemacht, dass es nicht nur um Kinderlärm ge-
eben gründlich!) hen darf, sondern dass auch immer wieder Konflikte auf-
Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Zwei Jahre grund von Jugendlärm aufbrechen. Auch hierfür müssen
sind auch deswegen unbegreiflich, wir dringend eine Regelung finden.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Sonst beschwert ihr (Beifall der Abg. Ute Vogt [SPD])
euch immer, dass es zu schnell geht!) Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass
weil es seit vielen Jahren ein gemeinsames Anliegen al- man den Lärm, den Jugendliche machen, pauschal
ler im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, Klagen ge- ebenso wie die Geräusche, die von kleinen Kindern bzw.
gen Kinderlärm entgegenzuwirken. Der erste Beschluss Kindertagesstätten ausgehen, privilegieren sollte. Es gibt
dazu – nicht etwa die erste parlamentarische Initiative – aber auch keinerlei Grund, die Jugendlichen komplett zu
erfolgte im Deutschen Bundestag schon im Juli 2009. So vergessen, wie die Regierung und die Regierungsfraktio-
lange ist es schon her. Ich bin mir sicher: Wenn wir von nen das hier tun.
der Opposition mit Anträgen und mit der Anhörung im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltausschuss nicht so viel Druck gemacht hätten, sowie bei Abgeordneten der SPD)
würden wir heute keine Änderungen im Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz beschließen. Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest die Union ein
bisschen weiter ist. Ich habe das Protokoll vom letzten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN März gelesen und darf zitieren, was Herr Paul in seiner
sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] – Rede ausgeführt hat:
Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das steht
schon alles im Koalitionsvertrag!) Natürlich muss … den besonderen Bedürfnissen
der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung
Statt sich mit Gesetzentwürfen zu beschäftigen, getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten
musste die Union offensichtlich Parteifreunde wie den Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird.
Vorsitzenden der Senioren-Union in Nordrhein-Westfa-
len wieder einfangen, für den Kinderlärm gerade keine Wir haben im Umweltausschuss und anderen betei-
Zukunftsmusik ist. Stattdessen sah Herr Kuckart gleich ligten Ausschüssen einen Vorschlag gemacht, wie man
einen Generationenkonflikt ausbrechen, wenn die An- konkret auf Bolzplätze und Skaterbahnen bezogen Ver-
12672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Katja Dörner
(A) besserungen für die Jugendlichen und auch mehr Rechts- Zur Vollständigkeit gehört aber auch, festzuhalten, (C)
sicherheit für die Kommunen erreichen kann. Der An- dass Gerichtsentscheidungen gegen Kinder – wenn man
trag ist, aus meiner Sicht völlig unbegründet, abgelehnt die Rechtsprechung in Deutschland betrachtet – die Aus-
worden. Wo bleibt der von der CDU/CSU eingeforderte nahme bilden. Selbst in einer Stadt wie Köln, aus der ich
höhere Toleranzmaßstab für die Jugendlichen? Ich komme, wo es auf engem Raum viele Einrichtungen
möchte es mit den Worten der FDP ausdrücken: Da gibt, hat es bisher keine einzige Gerichtsentscheidung
müsste bald „geliefert“ werden. gegeben, die gegen Kinder ausgefallen ist. Auch in ande-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Bundesländern können wir eine solche Entwicklung
und bei der SPD) nicht beobachten.

Für Jugendliche gibt es wohnortnah, gerade inner- Trotzdem haben wir als Koalition von CDU/CSU und
städtisch, viel zu wenig Aufenthaltsorte und zu wenig FDP Handlungsbedarf gesehen; denn unsere Gesell-
Flächen wie Bolzplätze für die Freizeitgestaltung oder schaft wird zunehmend älter. Der Lärm von spielenden
auch den Freizeitsport. Hieran müssen wir dringend ar- Kindern gehört leider nicht mehr so zum Alltag, wie es
beiten; denn es ist wichtig, dass Jugendliche nicht an die vielleicht vor einigen Jahren der Fall war. Dementspre-
Stadtränder verdrängt werden. Kinder und Jugendliche chend sinkt die Bereitschaft, Kinderlärm zu tolerieren.
gehören in die Mitte der Städte und Gemeinden. Wir Deshalb werden Konflikte – Kinder auf der einen Seite,
brauchen dringend gerade für Jugendliche mehr Mög- Ruhesuchende auf der anderen Seite – in Zukunft ten-
lichkeiten der Beteiligung in den Planungsprozessen; denziell zunehmen, wenn wir unser Ziel verwirklichen,
denn die Beteiligung von Jugendlichen wie auch der An- dass Kinder in der Nähe ihrer Wohnung spielen dürfen
wohner im Bereich der Planung, also konkret: in den bzw. einen Kindergarten besuchen. Schließlich wollen
Planungsprozessen, ist letztlich der beste Lärmschutz wir Familie und Beruf miteinander vereinbar machen.
und die beste Grundlage, Prozesse wegen Lärmbelästi- Deshalb haben wir ein sehr umfangreiches und ehrgeizi-
gung wirklich vermeiden zu können. ges Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung auf den
Weg gebracht: Bis zum Jahre 2013 werden allein für die
Die heutige Änderung des Bundes-Immissionsschutz-
unter Dreijährigen 750 000 Plätze eingerichtet sein. Weil
gesetzes ist ein wichtiger Anfang. Die Baustelle Kinder-
wir eine wohnortnahe Betreuung auch in Wohngebieten
und Jugendlärm ist damit aber nicht erledigt, weder was
wollen, wird sich die Zahl der Konflikte tendenziell er-
das Umdenken in unseren Köpfen noch was die kom-
höhen. Deshalb handelt die Koalition. Wir haben im Ko-
menden Gesetzgebungsverfahren angeht.
alitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rechtslage ändern
Vielen Dank. werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen der Ko-
alitionsfraktionen und der Bundesregierung werden wir
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
im Lärmschutzrecht, im Bundes-Immissionsschutzge-
und bei der SPD sowie des Abg. Ralph
Lenkert [DIE LINKE]) setz, ein Toleranzgebot festschreiben, mit dem klarge-
stellt wird, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädli-
che Umwelteinwirkung ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
CDU/CSU-Fraktion. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, zur Lebenswirklichkeit
gehört allerdings auch, dass man den Kindern nicht in je-
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): dem Fall den Vorrang geben kann. Denn es ist völlig
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit die- klar: In Einzelfällen kann der gewählte Standort für eine
sem Medienecho haben die Richter in Hamburg sicher- Kindertagesstätte schlicht und ergreifend falsch sein,
lich nicht gerechnet, als sie vor sechs Jahren, also im zum Beispiel in der Nähe eines Krankenhauses. Deshalb
Jahre 2005, der Klage eines Nachbarn recht gegeben ha- haben wir uns dagegen entschieden, rigoros alle Klage-
ben, der gegen den Lärm aus dem Kindergarten „Ma- möglichkeiten abzuschneiden, wie es zum Teil hier vor-
rienkäfer“ geklagt hat. Es gab bundesweit und über alle getragen und vorgeschlagen wurde. Schließlich leben
Parteigrenzen hinweg einen Sturm der Entrüstung. Auch wir in einem Rechtsstaat, in dem auch der Rechtsschutz
heute haben wir gesehen, dass wir uns einig sind: Kinder ein hohes Gut ist.
sind nicht nur leise, Kinder machen auch Lärm, und Kin-
derlärm gehört zu unserer Gesellschaft, er gehört zu un- Es gehört aber auch zur Lebenswirklichkeit, dass es
serem Alltag. Gerade wenn wir eine kinderfreundliche sich hier – anders, als es die Diskussion der letzten Mo-
Gesellschaft sein wollen, müssen wir Kinderlärm hin- nate vielleicht vermuten lässt – gar nicht um einen Kon-
nehmen; denn schließlich garantieren Kinder den Fort- flikt „Alt gegen Jung“ handelt. Ich habe beim Besuch ei-
bestand unserer Gesellschaft. ner Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis erlebt, dass
die Kinder und die Senioren des benachbarten Senioren-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heims seit vielen Jahren friedlich miteinander auskom-
neten der FDP)
men. Es hat dort sogar gegenseitige Besuche gegeben.
Deshalb müssen der Lärm bzw. die Geräusche, die von Das sind Projekte, die wir brauchen. Es geht hier nicht
Kindern verursacht werden, anders behandelt werden als um „Alt gegen Jung“, sondern darum, einen fairen Inte-
die Geräusche von Maschinen oder Autos. ressenausgleich zu schaffen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12673
Dr. Michael Paul
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- spiel zu anderen Zeiten statt; auch das wurde hier schon (C)
neten der FDP) gesagt. Außerdem kann ich einem über 14-Jährigen si-
cherlich zumuten, eine gewisse Strecke zurückzulegen,
Meine Damen und Herren, es wurde die Frage ge- um einen Bolzplatz zu erreichen. Das ist bei einem
stellt, warum wir nicht früher gehandelt haben. Ich darf Kleinkind anders. Diese Tatsachen muss man berück-
diese Frage gerne an die Kolleginnen und Kollegen der sichtigen.
SPD zurückgeben. Wer war denn der für den Umwelt-
schutz und damit auch für den Lärmschutz verantwortli- Ich möchte noch kurz auf die Stellungnahme des
che Minister, als die Entscheidung zum Kindergarten Bundesrates und die Anträge der anderen Fraktionen, die
„Marienkäfer“ im Jahr 2005 fiel? Das war Sigmar uns vorliegen, eingehen. Der Bundesrat sagt aus meiner
Gabriel. Sicht zu Recht, dass man auch die Kindertagespflege be-
rücksichtigen muss. Das sehen wir auch so. Allerdings
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) muss man berücksichtigen, dass infolge der Föderalis-
Er hatte vier lange Jahre Zeit, um einzuschreiten. Ich musreform der Bund diesen verhaltensbedingten Lärm,
sage es Ihnen: Es wäre seine Pflicht, seine Aufgabe ge- wenn er in der eigenen Wohnung der Tagesmutter statt-
wesen, hier einzuschreiten, und er hat es nicht getan. findet, nicht regeln kann. Wir müssen schauen, ob die
Bitte sagen Sie mir nicht, die Union hätte ihn in der Gro- Dinge über die Ausstrahlungswirkung zum Besseren ge-
ßen Koalition daran gehindert, hier tätig zu werden. wendet werden können.
Nein, hier hat der Umweltminister seine Hausaufgaben Zum SPD-Antrag. Er hat sich zum Teil erledigt. Die
schlicht und ergreifend nicht gemacht. schädlichen Umwelteinwirkungen haben wir ausdrück-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich ausgenommen. Ein weiterer Teil erledigt sich durch
neten der FDP) die Bauplanungsrechtsnovelle. Er ist unnötig, soweit es
um die BGB-Änderungen geht. Die vorgeschlagene Re-
Wir werden unser Ziel, dass Kinder sowohl zu Hause gelung der städtebaulichen Planung ist zwar wünschens-
und in der Nähe der Wohnung als auch in einer Kinderta- wert, aber das ist eine ureigene Aufgabe der Kommunen.
gesstätte, die in der Nähe gelegen ist, spielen dürfen, mit
der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, Zu dem Antrag der Linken nur eine Bemerkung: Sie
mit der Einführung des Toleranzgebotes, festschreiben. fordern, dass auf Sportanlagen grundsätzlich 5 Dezibel
Wir werden auch regeln, dass Kindertagesstätten in rei- mehr Lärm gemacht werden darf. Das hört sich erst ein-
nen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sein werden. mal nach wenig an. Wenn Sie aber genau hinschauen,
Wir kehren damit den Grundsatz um: Bisher ist es im stellen Sie fest, dass die Erhöhung von 50 auf 55 Dezibel
– Sie wollen ja, dass diese höheren Werte nicht nur tags-
(B) Bauplanungsrecht so, dass Kindertagesstätten in reinen über, sondern auch nachts und am Wochenende, also in (D)
Wohngebieten grundsätzlich nicht zugelassen sind. Wir
werden das mit der Bauplanungsrechtsnovelle, die noch Ruhezeiten, gelten – im Ohr desjenigen, der neben einer
in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ändern, um solchen Anlage wohnt, wie eine Verdoppelung des
damit den Bau von Kindertagesstätten auch in reinen Lärms wirkt. Dieser Vorschlag löst keine Konflikte,
Wohngebieten zu ermöglichen. Wir wollen diese Rege- nein, er würde massive neue Konflikte in dieser Gesell-
lung auf bestehende Bebauungspläne, in denen reine schaft verursachen. Das wollen wir nicht.
Wohngebiete festgelegt sind, ausdehnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die nächste Frage ist: Müssen wir das Nachbar- Zu guter Letzt zum Vorschlag der Grünen: Auf ihn
schaftsrecht ändern, müssen wir an das Bürgerliche Ge- trifft vieles zu, was ich zu dem Antrag der SPD gesagt
setzbuch heran? Dazu ist zu sagen: Es gibt den Grund- habe. Teilweise ist er erledigt, teilweise wird er noch er-
satz der Einheit der Rechtsordnung. Wenn der ledigt, oder es ist nicht Aufgabe des Bundes, das zu re-
Gesetzgeber das Toleranzgebot an einer Stelle – nämlich geln.
im Bundes-Immissionsschutzgesetz – prominent regelt,
dann strahlt das auch auf die anderen Rechtsgebiete aus.
Wir müssen an dieser Stelle aufmerksam verfolgen, was Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
passiert. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zivilge- Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.
richte dem Anliegen der Kinder Rechnung tragen wer-
den. Dr. Michael Paul (CDU/CSU):
Wir sind nicht blind und wissen, dass die Probleme Ich komme zum Schluss. Wir wollen unseren Kindern
nicht mit dem Alter von 14 Jahren aufhören: Natürlich eine unbeschwerte Entwicklung ermöglichen. Dazu ge-
müssen wir etwas für Jugendliche und Heranwachsende hört, dass sie zu Hause und in einer Kindertagesstätte in
tun. Die Koalitionsfraktionen haben gestern einen An- der Nähe der Wohnung spielen können. Der Gesetzent-
trag in den Sport- und in den Verkehrsausschuss einge- wurf der Koalitionsfraktionen und der Gesetzentwurf der
bracht: Wir werden prüfen, ob wir die 18. BImSchV, also Bundesregierung leisten dazu einen wichtigen Beitrag,
die Sportanlagenlärmschutzverordnung, ändern müssen, gerade in einer älter werdenden Gesellschaft.
um Bolzplätze besser zu berücksichtigen. Ergebnis der Vielen Dank.
Sachverständigenanhörung war aber auch, dass es einen
Unterschied macht, ob es sich um Lärm von Kindern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
oder Lärm von Jugendlichen handelt. Er findet zum Bei- neten der FDP)
12674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden. In Deutschland unterscheiden wir: Der Begriff (C)
Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der des Kindes gilt bis zum 14. Lebensjahr und der des Ju-
SPD-Fraktion. gendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Nach der Konven-
tion müssen wir aber für die gesamte Gruppe Vorkehrun-
(Beifall bei der SPD) gen treffen. Ich kann gut damit leben, dass Sie noch
etwas Zeit benötigen, um diese Regelungen umzusetzen.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Ich hoffe, Sie schaffen das.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe die Protokolle der Kinderkommission einmal he- (Zuruf von der LINKEN: Na ja!)
rausgesucht. Ich bin bis 2006 zurückgegangen, um zu – Doch, Sie schaffen das. Ich bin ja Pädagogin von Be-
schauen, wann wir angefangen haben, uns mit diesem ruf, von daher habe ich die Hoffnung nie aufgegeben.
Thema zu beschäftigen. Mir war dabei egal, wer den Wir werden doch noch etwas zustande bringen. Ich bin
Vorsitz innehatte und wer Mitglied war. Im Jahr 2006 ganz zuversichtlich, dass das klappt.
beschäftigte sich die Kinderkommission mit diesem
Thema. Im Jahr 2007 beschäftigte sie sich mehrmals da- Wichtig ist folgender Punkt: Wir haben bereits ein
mit wie auch in den Jahren 2008 und 2009. Wir haben Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin steht, dass wir Ju-
eine große Anhörung dazu durchgeführt und auch das gendhilfeplanung machen müssen. Einer der Punkte der
Ministerium immer wieder eingeladen. Jugendhilfeplanung – das ist eine kommunale Aufgabe –
lautet, die Lebenswelt so zu gestalten, dass alle dort le-
Gerade ist gefragt worden: Warum habt ihr nichts ge- benden Menschen ihrem Ruhebedürfnis und ihrem Akti-
macht? Meine Kolleginnen aus der Kinderkommission vitätsbedürfnis nachkommen können.
werden bestätigen, dass uns vom Ministerium immer ge-
sagt wurde: Eigentlich steht alles schon im Gesetz. Es Leider wird weder die Planung noch die Umsetzung
gab auch entsprechende Urteile. Das Gericht in Bayreuth so vorgenommen, wie wir es uns wünschen. Das gilt
zum Beispiel hat eindeutig gesagt, dass Kinderlärm Le- auch noch 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getre-
bensäußerung ist und nicht unter die TA Lärm fällt. ten ist. Es gibt immer noch viele Gemeinden, die nach
wie vor nicht so planen, dass alle Menschen gemäß ihren
Manchmal haben wir in der Kinderkommission uns Bedürfnissen leben können. Ich will es einmal deutlich
gefragt – Frau Golze und die anderen Kolleginnen wer- machen. Ich bin Kinderbeauftragte, und ich kämpfe für
den das bestätigen –: Wenn es so eindeutig ist, warum Kinder. Wenn aber jemand, der in einer Wohnung wohnt,
funktioniert es dann nicht? Ich würde das darauf zurück- die genau zur Garagengasse hin liegt, von der Nacht-
führen, dass wir in der Bundesrepublik einen relativ ho- schicht kommt und schlafen möchte und dann ständig
hen Anteil an funktionalem Analphabetismus haben, ein Fußball gegen die Blechtore geschossen wird, dann (D)
(B)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) ist derjenige nicht mehr davon überzeugt, dass es sich
bei dem Lärm um Zukunftsmusik handelt, sondern er ist
das heißt, viele können das Gesetz einfach nicht lesen. furchtbar genervt, weil er nicht schlafen kann.
Sie formulieren das Gesetz jetzt so, dass auch diejeni-
gen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das Man muss daher die Stadt- und Siedlungsplanung so
Gesetz verstehen können. vornehmen, dass sich Kinder austoben und Menschen
ihrem Ruhebedürfnis nachgehen können. Das gilt so-
(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP]) wohl für Ältere als auch für Jüngere. Auch Kinder haben
Ich bin immer dafür, dass Gesetze so formuliert werden, manchmal ein Ruhebedürfnis, sie wollen schlafen und
dass jeder sie versteht und keine Möglichkeit der Inter- ihre Ruhe haben. Ich glaube, dass wir zu wenig darauf
pretation besteht, damit sie nicht so oder so ausgelegt achten, wie unsere Lebenswelt gestaltet wird. Hierzu
werden können. Wir hatten gedacht, Juristen seien gut brauchen wir aber nicht schon wieder ein neues Gesetz.
ausgebildet und könnten lesen. Dem war leider nicht so. Wichtig ist, dass die Gesetze, die bereits seit 20 Jahren in
Jetzt ist es endlich so weit, und das begrüße ich. Als ich Kraft sind, endlich umgesetzt werden. Katja Dörner hat
von der Presse danach gefragt wurde, habe ich gesagt: vorhin gesagt – und das finde ich wunderbar –: Diejeni-
Wunderbar, jetzt wird es klar, und zwar in jedem Bun- gen, die es betrifft, müssen beteiligt werden. Kinder sind
desland und vor jedem Gericht. nämlich nicht per se rücksichtlos, und ältere Menschen
sind nicht per se kinderfeindlich.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir nun
auch an die Umsetzung denken. Die UN-Kinderrechts- Wir sind vielmehr kinderentwöhnt. Wir brauchen aber
konvention regelt in Art. 31 das Recht des Kindes auf das Zusammenwirken beider Gruppen. Künftige Stadt-
Freizeit. Festgeschrieben ist das Recht des Kindes auf planung und Siedlungsplanung müssen so aussehen, dass
Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Er- die Interessen aller Gruppen gleichermaßen aufgenom-
holung. Diese Konvention haben wir unterzeichnet und men werden.
ratifiziert; damit gilt sie auch für uns.
Bisher – das sage ich als jemand, der lange hierfür zu-
Der Begriff des Kindes umfasst nach der UN-Kinder- ständig war – sah Siedlungsplanung so aus: Wie komme
rechtskonvention das Alter von 0 bis 18 Jahren. Der ich schnell aus meinem Viertel hin zur Arbeit? Das ist
Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr muss also geregelt pendler- und nicht familienorientiert gedacht. Wir brau-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12675
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(A) chen Fußläufigkeit, Freiräume, Räume der Begegnung, diese am Ende auch gewürdigt wird. So hat Frau Vogt (C)
Räume für kleinere Kinder. Ein kleineres Kind geht vorhin erwähnt, dass das, was im Gesetzentwurf zu den
nicht auf den Bolzplatz; denn dort wird es vom Ball um- Bolzplätzen geschrieben wurde, richtig gut ist. Frau
geschossen. Daher wird ein kleines Kind einen anderen Vogt, vielen Dank, das habe ich dort hineingeschrieben.
Spielbereich brauchen als ein großes.
(Zurufe von der SPD und der LINKEN: Ah! –
Wenn wir nicht von vornherein einplanen, hierfür Ute Vogt [SPD]: Ich schmelze dahin!)
Grundstücke freizuhalten, dann müssen wir uns nicht
wundern, wenn es zu Gerichtsverfahren und entspre- Die Frage ist: Ist dieser Konflikt neu, oder schwillt
chenden Urteilen kommt. Diese vermeiden wir jetzt ein bereits bestehender Konflikt gerade an? Wir müssen
zwar, ich glaube aber, viel besser wäre es, direkt bei der nach den Ursachen suchen. Wir haben auf der einen
Planung die Belange aller zu berücksichtigen. Das heißt, Seite den demografischen Wandel. Mehr ältere Men-
in den kommunalen Gremien müssen Männer und schen sind in Rente und somit zu Hause; die Rentenzeit
Frauen sitzen, die Familien haben, weil die an solche Be- verlängert sich, da wir alle älter werden. Wir haben auf
lange denken. Sie müssen diejenigen, die es betrifft, die der anderen Seite einen Wandel in den Familien. Frauen
dort leben und wohnen, mit einbeziehen. Das ist eine bzw. beide Elternteile sind oft berufstätig. Daher müssen
Grundvoraussetzung für eine gut funktionierende Ge- die Kinderbetreuungszeiten ausgebaut werden. Der Re-
sellschaft. Das sehe ich aber leider noch nicht. Der Bun- gelkindergarten, den es vor 15, 20 Jahren gab, war von
destag macht oft hervorragende Gesetze. Manchmal 9 bis 12 Uhr und von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Betreu-
frage ich aber: Warum haben wir diese Gesetze nur ge- ung in den Regelkindergärten heute fängt in den aller-
macht? Draußen interessiert sich doch keiner für diese meisten Städten schon morgens um 7 Uhr an, geht bis
Gesetze. Gelegentlich erklären mir Beamte vor Ort: Frau abends um 17, 18 Uhr und macht keine Mittagspause.
Rupprecht, was Sie in Berlin entscheiden, das interes- Das heißt, die Konfliktfelder nehmen zu.
siert mich gar nicht. – Ich kann Ihnen sagen, wer das Zudem haben wir ein anderes Umweltbewusstsein be-
war. Es war ein Beamter, der eigentlich in die Wüste ge- züglich des Flächenverbrauchs. Wir wollen unsere
schickt gehört. Städte nicht mehr nach außen wachsen lassen, sondern
Wir müssen darauf drängen, dass unsere Gesetze wie machen eine Verdichtung nach innen. Das heißt, Wohn-
Kinder behandelt werden. Die meisten sind keine Nest- gebiete rücken immer näher an Sportanlagen, an Kinder-
flüchter, sondern Nesthocker. Wir müssen auf sie aufpas- spielplätze und an Kindertageseinrichtungen. Die Span-
sen, bis sie allein wirken können. Wir müssen auf die nungsfelder werden schlicht und ergreifend mehr. Genau
Wirkung auch dieses Gesetzes achten. Das heißt, wir dieses Mehr an Spannungsfeldern haben wir in den letz-
müssen überprüfen, ob es Anwendung findet. Dazu ten Jahren an der Zahl der Klagen bemerkt. Das kommt
(B) brauchen wir eine Schulung derer, die das Gesetz umset- nicht von irgendwo. Ich glaube auch nicht, dass wir prin- (D)
zen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck: Es gibt zipiell kinderfeindlicher geworden sind. Ich glaube ein-
viele Bildungs- und Fortbildungswillige, aber in diesem fach, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist.
Bereich besteht immer noch Nachholbedarf. Weil wir sehen, dass die Zahl der Reibungspunkte ge-
Vielleicht schaffen wir es, dass das, was in diesem wachsen ist und dass der gesellschaftliche Wandel nicht
Gesetzentwurf steht, wirklich umgesetzt wird. In diesem aufhört, sondern weitergeht, sagen wir in der Koalition:
Sinne bin ich dankbar, dass er vorgelegt wurde und dass Kinder sind in der Gesellschaft erwünscht. Wir sehen die
die Situation jetzt klar ist. Ich hoffe, dass Sie die Vor- Probleme. Wir positionieren uns hier eindeutig, und wir
schläge der Oppositionsfraktionen mit aufnehmen und möchten ein Zeichen für Kinder und für Eltern setzen.
dass diese zu vernünftigen gemeinsamen Anträgen ent- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wickelt werden. Das ist mein Anliegen an dieser Stelle. der CDU/CSU)
Die Kraft, die wir für Auseinandersetzungen aufbringen,
brauchen wir dringender für die Lösung der Konflikte Es gibt einen Unterschied zwischen Kinder- und Ju-
und Probleme, die anstehen. gendlärm. Diesen kann ich, glaube ich, an einem kleinen
Beispiel deutlich machen. Ich fahre viel mit meinen bei-
In diesem Sinne: Danke schön. den Kindern Zug – beide sind unter fünf Jahre alt –, zum
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beispiel von Berlin nach Stuttgart. Als ich einmal nach
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit meinen beiden kleinen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kindern in Stuttgart zur Hauptbetriebszeit während einer
Stuttgart-21-Demo ausgestiegen bin, kam mir der Lärm
am Bahnhof vergleichsweise leise vor. Das lag wohl da-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ran, dass meine Tochter, wenn ich ihr zum Beispiel sage,
Das Wort hat jetzt die Kollegin Judith Skudelny von dass sie die gewünschte Schokolade nicht bekommt,
der FDP-Fraktion. nicht anfängt, mit mir zu diskutieren, sondern mich an-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten brüllt. Mein Sohn hat einmal versucht, den Passagieren
der CDU/CSU) in einem vorbeifahrenden Zug etwas zuzurufen.
Natürlich versuche ich, in so einer Situation zu inter-
Judith Skudelny (FDP): venieren, aber ganz im Ernst: Die Kinder kommen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch- schneller auf die Schnapsideen, als ich intervenieren
mal ist es richtig schön, wenn man Arbeit leistet und kann. Genau das ist der Unterschied zwischen Kinder-
12676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Judith Skudelny
(A) und Jugendlärm. Mit Jugendlichen kann ich diskutieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
Kinder kennen die Regeln nicht und können viele Re-
geln nicht einhalten. Frau Dörner, Sie haben die BauNVO angesprochen.
Ich habe schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema
(Iris Gleicke [SPD]: Das wächst sich aus, Frau deutlich gemacht, warum wir dieses Vorhaben 2012 in
Kollegin!) Angriff nehmen: weil jede Änderung in diesem Gesetz
aufbewahrt werden muss. Wenn, wie Sie so schön gesagt
Durch die Erziehung wollen wir die Kinder so weit brin-
haben, jedes Mal, wenn wir einzelne Sätze ändern, die
gen, dass sie die Regeln zumindest kennen. Jugendliche
komplette Auflage aufbewahrt werden muss, führt dies
wiederum suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Ich
zu einem unglaublichen Bürokratieaufwand, und das für
glaube, dass jeder Jugendliche weiß, was man darf und
einen Bereich, der, ehrlich gesagt, nicht das größte Pro-
was man nicht darf, aber ob er sich, ähnlich wie Erwach-
blem ist, wenn es um Kinderlärm geht. Wir werden die-
sene, daran hält, ist eine komplett andere Sache.
ses Thema im Rahmen der großen Novellierung 2012
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) mit behandeln. Das ist dafür der richtige Platz. Sie kön-
nen darauf warten. Das wird auf jeden Fall geschehen.
Sie müssen sich von den Erwachsenen ein Stück weit ab-
grenzen. Insofern ist es richtig, wenn sie sich zum Teil (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
anders verhalten. NEN]: Das Problem ist, dass man immer war-
ten muss! Man wartet und wartet und wartet!)
Die Gleichsetzung von Kinder- und Jugendlärm halte
ich für falsch. Wir müssen überlegen, wie wir mit dem Man sollte nicht denken, dass das Problem, das wir
Jugendlärm umgehen. Jugendliche brauchen einen ange- im Moment haben, mit Gesetzen zu lösen ist. Ganz im
messenen Platz in der Gesellschaft; dieser kann nicht am Ernst: Kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn es weiß,
Rand sein. Über Bolzplätze, Skate- und Basketballanla- dass die Nachbarn eines Jugendhauses, eines Kindergar-
gen haben wir schon gesprochen; aber auch Jugendhäu- tens oder eines Kinderspielplatzes, auch wenn sie nicht
ser können nicht am Rande der Gemeinden stehen. Auf mehr klagen können, die Einrichtung eigentlich nicht
diese Idee kommen leider viele Städte und Gemeinden. mehr wollen. Wir sind in einer funktionierenden Gesell-
Meine eigene Kommune hat ein Jugendhaus gebaut, das schaft darauf angewiesen, Toleranz zu üben. Die
außerhalb eines Gewerbegebiets lag. Man kann sich vor- wichtigste Grundlage ist ein respektvoller Umgang mit-
stellen, wie viele Jugendliche dort hingegangen sind. einander. „Respektvoll“ heißt, wir müssen erst einmal
Am Ende musste es „eingestampft“ werden. anerkennen, dass auch der andere Bedürfnisse hat.
Wir müssen überlegen: Wie sorgen wir für ein ange- Wir müssen verstehen, dass Kinder auch kreischen.
messenes Verhältnis? Da es immer wieder heißt: „Das ist Wir müssen verstehen, dass zum Kinderlärm nicht nur
(B) kein Problem“, möchte ich an dieser Stelle intervenieren. das Juchzen von Kindern, sondern auch der An- und Ab- (D)
Doch, das ist ein Problem. Der Umstand, dass es Ganz- fahrtsverkehr der Eltern, die ihre Kinder zum Kindergar-
tagsschulen gibt, führt dazu, dass sich die Freiräume der ten bringen, gehört – wenig romantisch, aber genauso
Jugendlichen in die Abendstunden verlagern. Dann, zwingend. Wir müssen verstehen, dass Kinder und Ju-
wenn die Erwachsenen nach ihrem Arbeitstag nach gendliche nicht nur akzeptiert werden müssen, wenn sie
Hause kommen und die Füße hochlegen wollen, fangen klein und niedlich sind, sondern auch dann, wenn sie
die Jugendlichen an, ihre Freizeit zu gestalten. Ich sage Punkmusik hören, rotgefärbte Haare haben und viel-
nicht, dass dieses Problem nur zulasten der Jugendlichen leicht sogar noch Ohrringe tragen und tätowiert sind.
gelöst werden kann. Ich sage nur, dass es sich um ein Wir müssen aber auch verstehen, dass manche Leute ein
Spannungsverhältnis handelt. Hier müssen wir gemein- erhöhtes Ruhebedürfnis haben. Erst mit diesem Ver-
sam nach Lösungen suchen. Diese Lösungen dürfen ständnis können wir ein Niveau der Toleranz erreichen,
keine generelle Privilegierung sein. Sie müssen von Fall das es uns auch dann, wenn die Gesetze nicht mehr grei-
zu Fall – je nachdem, ob es um eine Sportanlage, ein Ju- fen, ermöglicht, gelassen mit einer Situation umzugehen
gendhaus, eine Abendveranstaltung oder eine Musikver-
anstaltung geht – unterschiedlich ausgestaltet werden. Es (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ist unsere Aufgabe, diese unterschiedlichen Regelungen CDU/CSU)
unter einen Hut zu bringen.
und etwas zu tun, was in letzter Zeit vielleicht etwas au-
Das wird nicht leicht werden, übrigens auch deshalb, ßer Mode gekommen ist, nämlich miteinander reden.
weil die Länder an dieser Stelle ein Mitspracherecht ha- Wenn wir das schaffen, meine Damen und Herren, dann
ben. Ich möchte die Opposition ganz herzlich einladen, befindet sich nicht nur die Koalition mit den Opposi-
sich hier einzubringen. Wenn die Länder ein Mitsprache- tionsparteien, sondern auch die ganze Gesellschaft auf
recht haben, bedeutet dies, dass wir mit den Ländern einem guten Weg. Das würde ich uns allen für die Zu-
eine einvernehmliche Regelung treffen müssen. Nach al- kunft wünschen.
lem, was ich vonseiten der Länder gehört habe, wird das
nicht einfach so zu machen sein. Auch dies wird Diskus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sionen erfordern. Ich freue mich, dass Sie aufseiten der
Länder sicherlich gut mitarbeiten werden, damit wir zü- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gig zu einer Lösung kommen.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich!) tion Die Linke.
Das wünsche ich uns und den Jugendlichen. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12677

(A) Diana Golze (DIE LINKE): gehört, dass sie Orte und Plätze für sich haben. Das (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Deutsche Kinderhilfswerk fordert darum zu Recht – ich
nen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt worden: Über zitiere –:
Jahre hinweg galt es in Teilen der Öffentlichkeit als völ-
lig normal, dass Geräusche spielender Kinder als Lärm Mit der Bereitstellung von pädagogischen Orten
im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes behan- wie Spielplätzen oder Schulhöfen ist es allein nicht
delt wurden. In Hamburg und anderen Städten bedeutete getan. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung
dies, dass Kindertagesstätten aufgrund von Anwohner- der Städte und Gemeinden, in denen sich Kinder
klagen geschlossen werden konnten. In Wohngebieten und Jugendliche wohl fühlen und in denen genera-
ist es keine Seltenheit, dass das Spielen auf den Grünflä- tionenübergreifendes Leben stattfindet.
chen vor Häusern für Kinder verboten ist. Unsere Städte Für mich bedeutet das, dass es dringend gesellschaftli-
bieten Kindern immer weniger Platz und Möglichkeiten cher und rechtlicher Veränderungen im Status von Kin-
zum freien Spielen. Deshalb unterstützt meine Fraktion dern und Jugendlichen bedarf.
den Entwurf eines Gesetzes zur Veränderung des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes. Künftig wird also klar- Der Umweg über das Bundes-Immissionsschutzge-
gestellt sein, dass Geräusche von Kindern nicht mit setz hat nicht zuletzt deshalb so lange gedauert, weil sich
Maschinenlärm gleichzusetzen sind. Das ist nur zu be- die derzeitige Bundesregierung und die sie tragenden
grüßen. Fraktionen weiterhin massiv dagegen wehren, die Kin-
derrechte im Grundgesetz zu verankern. Durch das
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Marlene Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die
Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) Verpflichtung zur Schaffung von kindgerechten Lebens-
Das kann aber eben nur ein erster Schritt sein. Für bedingungen im Grundgesetz wäre diese Debatte deut-
mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin steht lich vereinfacht und verkürzt worden.
fest: Auch das Fußballspiel oder das Inlineskaten von Ju- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
gendlichen sollte und dürfte nicht mit Maschinen- oder bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Fluglärm gleichgestellt werden. Dass die Privilegierung GRÜNEN)
durch den vorliegenden Gesetzestext nur für Kinder bis
14 Jahre gelten soll, verstößt ein weiteres Mal – Frau Ich fordere Sie deshalb auf, auch in diesem Punkt end-
Rupprecht hat es gesagt – gegen die UN-Kinderrechts- lich einen Schritt nach vorne zu gehen und Mut zu be-
konvention, die ausdrücklich bei Menschen bis zu weisen.
18 Jahren von Kindern spricht.
Frau Skudelny, Sie haben es ja angesprochen: Auch
(B) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mir ist durchaus bewusst, dass die Länderkompetenzen (D)
beim Lärmschutz und bei der Umsetzung von Bau-
Demzufolge dürfte eine solche Unterscheidung gar nicht
nutzungsverordnungen berücksichtigt werden müssen.
gemacht werden; denn auch für 15-, 16- und 17-Jährige
Umso erfreulicher ist es, einmal ein gutes Beispiel nen-
gilt das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung.
nen zu können. In Berlin gilt seit dem Jahr 2010: Geräu-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sche, die von Kindern verursacht werden, sind auch ju-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu
GRÜNEN) beurteilen. Berlin war damit das erste Bundesland, in
dem eine solche Privilegierung auch gesetzlich verankert
Dieses offenkundige Ausklammern der Bedürfnisse wurde. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Berlin auch
von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren passt Kinderrechte in der Verfassung stehen.
aber zum Handlungsmuster der verschiedenen Ministe-
rien – leider auch dem des Familienministeriums. Das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Hauptaugenmerk liegt seit Jahren auf den kleinen Kin- neten der SPD)
dern, egal ob beim Kinderschutzgesetz, das wir hier ja
bald behandeln werden, bei familienfördernden Leistun- Ich komme zum Schluss. Das OVG Münster sagt
gen wie dem Elterngeld, das auch an kleine Kinder ge- – ich zitiere noch einmal –:
knüpft ist, oder beim dringend notwendigen Ausbau der Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine
Kindertagesbetreuung. falsche Einstellung zu Kindern …
Aber Jugendpolitik? Ich frage Sie: Was passiert denn Ich finde, dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir gehen ei-
hier noch? Jugendpolitik ist für Union und FDP nur noch nen ersten Schritt in die richtige Richtung – immerhin.
ein Bereich für minimale Projektförderung, aber noch
eher genau die Stelle, wo der Rotstift am stärksten ange- Vielen Dank.
setzt wird, und das darf nicht sein.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Iris BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gleicke [SPD])
Auch die Kinder, für deren Recht auf Spiel Sie heute Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
werben, werden in einigen Jahren als Jugendliche voll- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
kommen zu Recht ihr Recht auf Sport und Spiel und ei- erteile ich dem Kollegen Josef Göppel von der CDU/
nen Platz dafür einfordern; denn auch zu ihrer Entfaltung CSU-Fraktion das Wort.
12678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich möchte noch einmal auf meine vier Töchter zu (C)
der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] sprechen kommen und im Hinblick auf Ihre nachden-
[SPD]) kenswerte Rede, Frau Kollegin Rupprecht sagen: Der
Mobilitätsdruck, der mit unserem Wirtschaftssystem
Josef Göppel (CDU/CSU): verbunden ist, erschwert den tüchtigen jungen Leute in
vielen Fällen die Familiengründung und das Kinderkrie-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- gen. Damit sind Fragen verbunden, die weit über die
legin Golze, die Opposition würde glaubwürdiger, wenn Tolerierung von Lärm und die Planung von Kindertages-
sie dort angreifen würde, wo wirkliche Schwachpunkte einrichtungen und Kinderspielplätzen hinausgehen. Es
vorliegen. Nach dem ersten Urteil von vor sechs Jahren, ist eine bleibende Aufgabe, die Gesellschaft und Ar-
aus dem Jahr 2005, hat die schwarz-gelbe Koalition die beitswelt so zu gestalten, dass Kinderwunsch und Fami-
Sache jetzt geregelt. Ich fände es gut und auch angemes- liengründung weiter möglich sind. Diese Aufgabe sehe
sen, wenn Sie hier sagten: Das ist jetzt ein echter Fort- ich als weit wichtiger an als die bestehende gesetzliche
schritt. Regelung.
(Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich Wir sind aber auf einem guten Weg. Ich bedanke mich
doch gesagt!) schon jetzt für die Zustimmung der Opposition zu die-
– Das habe ich am Schluss leider nicht mehr gehört. sem Gesetzentwurf.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(Zuruf von der LINKEN: Das hat sie auch am
SPD und der FDP)
Anfang gesagt!)
– Gut, dann stimmen Sie doch sicher mit. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, natürlich!) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun-
– Wunderbar.
desregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU und
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ FDP eingebrachten Entwürfe eines Zehnten Gesetzes zur
CSU]) Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Pri-
vilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kin-
Frau Rupprecht, Ihre Rede hat mir gefallen, weil sie derspielplätzen ausgehenden Kinderlärms.
auf Gemeinsamkeit angelegt war. Übrigens habe ich
mich gefragt, Frau Rupprecht, was mich dazu befähigt, Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
(B) hier zum Thema Kinderlärm zu reden. Dann ist mir ein- sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- (D)
gefallen, dass ich vier Töchter und eine Enkeltochter schlussempfehlung auf Drucksache 17/5957, die ge-
habe und in froher Erwartung weiterer Enkelkinder bin. nannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf
Drucksache 17/5709 sowie der Fraktionen der CDU/
(Iris Gleicke [SPD]: Guter Hoffnung!) CSU und FDP auf Drucksache 17/4836 zusammenzu-
führen und unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni-
– Genau. – Es ist wichtig, diese Dinge aus der Praxis he- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
raus zu beurteilen. Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Es hat zwar lange genug gedauert, aber inzwischen Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
haben Minister Röttgen und das Ministerium für Umwelt nommen.
gehandelt und das Bundes-Immissionsschutzgesetz jetzt Dritte Beratung
so deutlich gefasst, dass kein Richter in Deutschland es
mehr falsch lesen und auslegen kann. Das ist der ent- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
scheidende Punkt. stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nommen.
SPD und der FDP)
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschluss-
Deswegen denke ich, dass wir für die Kinder einen ech- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
ten Fortschritt bewirken. und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5957 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
Die Beschränkung auf unter 14-Jährige ist eine juris-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tische Grenze, und Grenzen bergen immer Probleme.
tion der SPD auf Drucksache 17/881 mit dem Titel „Kin-
Man muss aber auch darauf hinweisen, dass zum Bei-
derlärm – Kein Grund zur Klage“. Wer stimmt für diese
spiel ein 17-jähriger Jugendlicher, der mit einem Moped
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
mit aufgebohrtem Auspuff herumfährt, von diesen neuen
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit
Vorschriften nicht Gebrauch machen kann, was sicher-
den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen ge-
lich auch in Ihrem Interesse ist. Deswegen ist eine be-
gen die Stimmen der SPD und der Linken bei Enthaltung
stimmte Differenzierung sehr wohl sachgerecht und
von Bündnis 90/Die Grünen.
richtig. Ich denke, dass dieses Gesetz insgesamt für die
Kinder und Familien in Deutschland einen echten Fort- Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
schritt bringen wird. lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12679
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) sache 17/1742 mit dem Titel „Für eine immissions- und Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaf- (C)
baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen“. Wer fen
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist – Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297 –
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen Berichterstattung:
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
che 17/2925 mit dem Titel „Vorrang für Kinder – Auch schlossen.
beim Lärmschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Ich eröffnet die Aussprache und erteile als erstem
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen Redner das Wort dem Kollegen Karl Schiewerling von
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- der CDU/CSU-Fraktion.
tionsfraktionen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Karl Schiewerling (CDU/CSU):
neten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Kolleginnen und Kollegen! Die umlagefinanzierte Rente
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset- in Deutschland ist für Millionen Menschen eine zuver-
zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- lässige Alterssicherung. Die umlagefinanzierte Rente
gesetzbuch und anderer Gesetze wurde von vielen Seiten angegriffen. Sie wurde totgere-
(RV-Altersgrenzenanpassungs-Aussetzungsge- det und als überflüssig angesehen. Man glaubte, sie
setz – RV-AgAG) durch andere Modelle ersetzen zu können. Spätestens
seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir – das
– Drucksache 17/3546 – hat hoffentlich auch der Letzte begriffen –, dass die um-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- lagefinanzierte Rente ein Stabilitätsfaktor in Deutsch-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) land ist und Millionen Menschen ein geregeltes Einkom-
men zum richtigen Zeitpunkt gewährt.
– Drucksache 17/5298 –
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
Berichterstattung: neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb
muss man sie stärken und nicht schwächen!)
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Das System der umlagefinanzierten Rente wird nur
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- funktionieren, wenn wir keinen der Partner, die daran
ten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun beteiligt sind, überfordern: die junge Generation nicht,
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion die in Zukunft auf die gesetzliche Rente angewiesen ist
DIE LINKE und in die Rentenkasse einzahlt, die jetzige Generation
nicht, die die Rente erwirtschaften muss, und die Gene-
Rente ab 67 vollständig zurücknehmen
ration der Rentnerinnen und Rentner nicht, die heute auf
– Drucksachen 17/2935, 17/5298 – die Rente angewiesen sind. Es ist deswegen notwendig,
die Rente stabil zu halten. Innerhalb der gesetzlichen
Berichterstattung: Rentenversicherung gibt es aber relativ wenige Stell-
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) schrauben, die wir nutzen können, um dies zu gewähr-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- leisten.
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Wir müssen zur Kenntnis nehmen – und zwar freudig –,
(11. Ausschuss) dass sich seit 1960 die Rentenlaufzeit von 9,9 Jahren auf
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anton nun 19 Jahre verlängert hat. Das heißt, Menschen, die
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer damals in Rente gingen, hatten gerade neun Jahre bzw.
Abgeordneter und der Fraktion der SPD maximal zehn Jahre etwas von ihrer Rente, während
Menschen, die heute in Rente gehen, 19 Jahre etwas von
Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben ihrer Rente haben. Die Rente ist nicht geringer gewor-
nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern – den; sie wird über einen längeren Zeitraum gezahlt. Es
Rentenzugang flexibilisieren ist aber notwendig, die gute Entwicklung der höheren
Lebenserwartung so zu berücksichtigen, dass sicherge-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang stellt ist, dass man im Alter zuverlässig eine Rente be-
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin kommt.
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU)
12680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Karl Schiewerling
(A) Wir haben nur wenige Möglichkeiten. Die erste Mög- müssen. Ich finde es notwendig, dies in dieser Klarheit (C)
lichkeit ist, den Rentenbeitrag zu erhöhen. Das heißt, die der Bevölkerung zu sagen und daran auch nicht zu deu-
Lohnnebenkosten steigen, und die Nettoeinkommen der teln; denn Rentenpolitik ist kein Bereich, in dem man
Arbeitnehmer werden belastet. Die zweite Möglichkeit sich parteipolitische Auseinandersetzungen beliebig lang
ist, das Rentenniveau abzusenken. Das lässt sich nicht erlauben kann, weil die Menschen wissen müssen, wo-
beliebig machen; denn es darf nicht passieren, dass man rauf sie sich einlassen,
am 30. eines jeden Monats so wenig Rente überwiesen
bekommt, dass man davon noch nicht einmal seine (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist ganz
Miete bezahlen kann. Die dritte Möglichkeit ist, die Ren- wichtig!)
tenlaufzeit zu verkürzen. Das heißt, dass die Menschen weil es um ihre Zukunft im Alter geht, weil es um ihre
– weil sie länger leben – länger arbeiten und auch länger Sicherheiten geht. Sie müssen Klarheit in dieser Angele-
in die Rentenkasse einzahlen müssen. Die vierte Mög- genheit haben.
lichkeit ist, den Bundeszuschuss zu erhöhen. Dieser be-
trägt heute schon 80 Milliarden Euro und ist der größte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Posten im Etat der Bundesarbeitsministerin. neten der FDP)

Ich glaube nicht, dass das alles weiterhin beliebig Dass wir in dieser Frage nicht auf dem falschen Weg
nach oben dehnbar ist. Deswegen gibt es aus unserer sind, stellt nicht zuletzt das Gutachten des Sozialbeirates
Sicht zu der Verkürzung der Rentenlaufzeit bzw. der fest, in dem sowohl die Arbeitgeber als auch die Ge-
Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine Alternative. werkschaftsvertreter und andere aus der Sozialwissen-
Die Entscheidung, die wir in der Großen Koalition ge- schaft kommende Persönlichkeiten deutlich sagen, dass
meinsam getroffen haben, war richtig. Wir sollten dazu dieser Weg gangbar, sinnvoll und notwendig ist, um den
stehen und keine Zweifel daran aufkommen lassen. Menschen Sicherheit und für die Rente Planbarkeit zu
geben und um die umlagefinanzierte Rente als genera-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionsübergreifendes Solidarprinzip in unserer Gesell-
schaft zu erhalten. Unsere Aufgabe besteht darin, den
Natürlich muss dann auch jemand bis 67 Jahre arbei-
Menschen zu sagen, dass es sich lohnt, sich dafür einzu-
ten können. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen
setzen, weil wir über diesen Weg Alterseinkünfte und
in der Wirtschaft und dort, wo die Menschen tätig sind,
Alterssicherung organisieren können.
entsprechend gestaltet werden. Es ist nicht so, als hätte
der Staat in dieser Frage keine Initiativen ergriffen und Das ist die Position unserer Fraktion. Daran lassen
die Wirtschaft noch nicht begriffen, dass sie selbst vor wir nicht deuteln. Ich würde mich sehr freuen, wenn
diesen Fragen steht und diese selbst beantworten muss. auch vonseiten des früheren Koalitionspartners, der
(B) Deswegen ist es gut, dass mittlerweile innerhalb der SPD, an dieser Frage nicht gedeutelt würde. Wir haben (D)
Wirtschaft ein Entwicklungsprozess eingetreten ist. Die- dies zusammen beschlossen, und das war der richtige
ser hat in vielen großen Betrieben begonnen, und auch Weg.
die kleinen und mittleren Betriebe sind dabei, sich da-
rauf einzustellen. Vor dem Hintergrund der demografi- Herzlichen Dank.
schen Entwicklung wissen sie, dass die Menschen länger (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
arbeiten müssen und dass sie als Betriebe immer mehr
auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sind. Wir müssen
ihnen helfen, dass das auch möglich ist. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der SPD)

Die Bundesregierung hat hierzu zahlreiche Initiativen er- Anton Schaaf (SPD):
griffen. Ich bin sicher, dass diese Initiativen greifen wer-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
den.
Lieber Karl Schiewerling, in der Tat können im nächsten
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Das, was vor kurzem der Jahr die Menschen erst mit 65 Jahren und einem Monat
Rat der Wirtschaftsweisen auf den Tisch gelegt hat, in Rente gehen, aber nur diejenigen, die es bis 65 Jahre
nämlich dass man ab 2060 bis 69 Jahre arbeiten soll, schaffen. Diejenigen, die es nicht bis 65 Jahre schaffen,
halte ich schlechterdings für Kaffeesatzleserei und in der
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
jetzigen Situation für völlig kontraproduktiv und für
Richtig!)
überhaupt nicht hilfreich; denn die Rente mit 67 Jahren
hat ja noch gar nicht begonnen. werden auch nicht einen Monat länger arbeiten, weil sie
arbeitslos sind, weil sie aus den Betrieben herausge-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie
drängt worden sind, weil sie keine Beschäftigungschan-
das mal dem Bundeswirtschaftsminister!)
cen haben.
Der erste Jahrgang hat damit noch gar nicht angefangen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
2012 werden die ersten Rentenjahrgänge einen Monat es!)
über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssen. Sie wer-
den also mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen. Nicht diejenigen, die mit 65 Jahren Arbeit haben, son-
Erst 2029 wird der erste Jahrgang bis 67 Jahre arbeiten dern diejenigen, die mit 65 Jahren keine Arbeit haben,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12681
Anton Schaaf
(A) sind das Problem. Das ist der entscheidende Punkt, der (Beifall bei der SPD – Johannes Vogel [Lüden- (C)
von dieser Koalition immer ignoriert wird. scheid] [FDP]: Das ist unfassbar!)
Karl Schiewerling, wir stehen zu diesem Gesetz, aber Wenn wir die Einführung der Rente mit 67 verschie-
in seiner Gänze. In dem Gesetz steht, dass die Regierung ben würden, wäre das sozusagen beitragsneutral, weil
im Jahre 2010 verpflichtet ist, zu überprüfen, wie die ar- wir maximal Vorfinanzierungskosten hätten. Aber was
beitsmarkt- und sozialpolitische Situation der Älteren ist machen Sie? Sie halten einfach stur daran fest – das ist
und ob es vor dem Hintergrund geboten ist, die Rente übrigens auch ein Problem bei dem Grünen-Antrag –, zu
mit 67 Jahren ab 2012 einzuführen. In Anbetracht der sagen: Wir machen es ab 2012. – Tatsächlich aber haben
Realitäten kommen wir zu einem anderen Schluss als die, die in Zwangsrente gehen müssen, keine Chance.
Sie: 27 Prozent der über 60-Jährigen sind in Beschäfti- Sie werden mehr Abschläge hinnehmen müssen. Das
gung. Das heißt im Klartext: Die übergroße Mehrheit der nehmen Sie mit Ihrem Antrag in Kauf.
Menschen über 60 Jahre ist nicht in Beschäftigung, und
sie kommt auch nicht bis 65 Jahre und einen Monat in (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das
Beschäftigung. Das ist die Realität. ist leider so!)
Wir sagen: Wir müssen das verschieben, um die Re-
Die Realität ist, Karl Schiewerling, dass das Ifo-Insti-
alitäten im Land auch tatsächlich zu verändern. Wir
tut eine Untersuchung bei 1 000 Betrieben gemacht und
brauchen eine höhere Beschäftigungsquote. Wir brau-
gefragt hat: Wie ist das denn mit der längeren Bindung
chen mehr Chancen. Wir brauchen vor allen Dingen end-
der Älteren an euer Unternehmen? – 72 Prozent der Un-
lich auch Ihrerseits eine Antwort darauf, was wir denn
ternehmen haben gesagt, dass sie grundsätzlich keine
mit denen machen, die schon heute nicht bis 65 arbeiten
längere Bindung der Älteren an ihr Unternehmen haben
können und später auch nicht bis 67, weil sie aufgrund
wollen. 72 Prozent!
ihrer Arbeit kaputt sind. Was machen wir mit diesen
Gestern hat der, wie ich fand, bemerkenswerterweise Menschen? Sie muten ihnen einfach mehr Rentenab-
sehr offen debattierende Chef der Bundesagentur uns schläge zu. Zur Erwerbsminderungsrente haben Sie
von einer Reise erzählt, die er zu Unternehmen in Ba- überhaupt keine Antwort und lassen die Menschen, die
den-Württemberg gemacht hat. Jetzt reden wir über ein aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind, schlichtweg im Stich.
Land, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. In den Das ist die Realität dieser Regierung und dieser Regie-
Unternehmen hat er die Unternehmer auf die Einstellung rungskoalition.
von über 60-Jährigen angesprochen. Fast alle Unter- Meine Damen und Herren, Sie haben angekündigt,
nehmen haben ihm geantwortet: Wir stellen keine über das Thema Altersarmut großartig in einer Regierungs-
(B) 60-Jährigen ein. – Das ist die Realität in diesem Land. kommission zu bearbeiten. Mittlerweile soll es keine Re- (D)
Sie wollen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen, gierungskommission mehr sein, sondern jetzt soll es eine
die Menschen länger zu beschäftigen, und die Realität Expertenrunde werden. Ich hoffe, Sie sind noch dabei,
ist: Der Druck wird schlicht an die Arbeitnehmerinnen wenn die Ministerin Experten zusammenruft, um zu un-
und Arbeitnehmer weitergegeben. Sie werden Renten- tersuchen, was man denn gegen Altersarmut machen
kürzungen hinnehmen müssen. kann.

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!) Wenn Sie so, wie es jetzt vorgesehen ist, an der Rente
mit 67 festhalten, werden Sie – das garantiere ich Ihnen
Das ist das, was Sie völlig ignorieren. – das Problem der Altersarmut für einen ganz großen
Teil der Beschäftigten in diesem Land noch verschärfen,
Wenn jemand, weil er in den sozialen Sicherungssys-
temen ist, zum Beispiel im Arbeitslosengeld-II-Bezug, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja! Das
vorzeitig die Rente beantragen muss – das muss er oder ist so! Richtig!)
sie mit 63 –, dann hat er oder sie im nächsten Jahr
vor allen Dingen für diejenigen, die erwerbsgemindert
0,3 Prozent Rentenabschläge zusätzlich hinzunehmen,
sind. Liefern Sie an der Stelle endlich Antworten! Wo
und zwar dauerhaft, für immer. Das nehmen Sie schlicht-
sind Ihre Initiativen, tatsächlich die Beschäftigungsquote
weg in Kauf.
Älterer dauerhaft zu erhöhen? Wo sind sie? Sie halten
Das hat nichts damit zu tun, ob man grundsätzlich der stur am höheren Renteneintrittsalter fest. Ich sage Ihnen:
Meinung ist, man müsse ein höheres Renteneintrittsalter Sie verlagern den Druck, den Sie eigentlich auf die
einführen. Wir sagen: Die Voraussetzungen dafür, es Unternehmen ausüben wollten, auf die, die ihre Le-
jetzt einzuführen, sind schlichtweg gesellschaftlich nicht benssituation nicht ändern können, und das sind die über
gegeben. – Das ist genau das, was Sie ignorieren. 60-Jährigen, die in diesem Land keine Arbeit haben.

Deswegen sagen wir auch nicht: „Wir machen die (Beifall bei der SPD)
Rente mit 67 gar nicht“, sondern wir sagen: Die Einfüh-
rung muss verschoben werden, weil die arbeitsmarkt- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
und sozialpolitische Situation – das zu überprüfen, ist ja Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die
ein Teil dessen, was im Gesetz verankert ist – es zurzeit FDP-Fraktion.
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlicht-
weg nicht hergibt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
12682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir ha-
Seit November des letzten Jahres liegt der Bericht der ben die Perspektive der Beschäftigten!)
Bundesregierung nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhe-
Ich gönne jedem seinen Ruhestand; das ist gar nicht
bung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vor. Mir ist
nicht bekannt, Herr Kollege Schaaf, dass die darin auf- der Punkt. Aber mir fällt ein Widerspruch auf: Wir So-
geführten Fakten – ich betone zunächst einmal: die Fak- zialpolitiker reden häufig von Teilhabe. Menschen mit
ten – zur demografischen Entwicklung, zur Entwicklung Behinderung sollen teilhaben, arme Menschen sollen
der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer von ir- teilhaben, junge Menschen, Migranten, all diese Grup-
gendwem ernsthaft infrage gestellt würden. Was mir auf- pen sollen mehr teilhaben. Aber bei der Diskussion über
fällt, ist, dass die Fakten unterschiedlich interpretiert ältere Menschen geht es meistens nur um die Finanzie-
und, wenn ich mir die Linke anschaue, teilweise sogar rung von Nichtteilhabe oder Nicht-mehr-Teilhabe, also
ignoriert werden. darum, wie man einen Ausstieg organisiert, wie man die
Menschen aus den Betrieben herausdrängt. Das ist ja oft
(Lachen bei der LINKEN) mit der Altersteilzeit passiert; verschließen wir doch
nicht davor die Augen, was in den Betrieben die Realität
– Sie sagen, Herr Kollege Birkwald, in Ihrem Antrag, war. Dies müssen wir überwinden, und deswegen brau-
die Lage am Arbeitsmarkt sei für ältere Arbeitnehmer chen wir den Perspektivwechsel. Ich sage noch einmal:
katastrophal. Das kann ich so nicht feststellen. Ich wi- Viele Menschen wollen länger arbeiten. Aber sie wollen
derspreche dem sogar nachdrücklich und sage für unsere – das ist aus unserer Sicht der entscheidende Knack-
Fraktion – ich denke, auch für die Koalition –: Die Ar- punkt – flexibel den Zeitpunkt ihres Ausstiegs selbst be-
beitsmarktsituation hat sich für ältere Menschen in den stimmen, gegebenenfalls auch schrittweise über Teilren-
letzten Jahren spürbar verbessert. tenlösungen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Viele Arbeitgeber – das ist die andere Seite des Ar-
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist beitsmarktes – erkennen zunehmend, dass ältere Arbeit-
eine relative Bestimmung! Wir reden von einer nehmer wichtig sind. Aber mich hat gestern genauso wie
absoluten Bestimmung!)
Sie, Herr Schaaf, der Bericht berührt und schockiert, den
Das ist ein Faktum, und das wird natürlich auch von der Herr Weise über seine Betriebsbesuche abgegeben hat,
positiven wirtschaftlichen Entwicklung getragen, die sich wonach sich Unternehmer beklagen, sie fänden keine
an 3,7 Prozent Wachstum im letzten Jahr und an 2,5 bis Facharbeiter, aber niemand im Kopf den Schalter umlegt
(B) 3,x Prozent auch in diesem Jahr ablesen lässt. Dies trägt und darüber nachdenkt, einen 55-jährigen oder 60-jähri- (D)
insgesamt dazu bei, dass auch für ältere Menschen Be- gen Arbeitnehmer noch einmal zu beschäftigen. Das
schäftigungschancen gehalten werden oder neu entstehen müssen wir erreichen.
und Perspektiven für diese Menschen begründet werden.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Machen
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der BA-Chef Sie das mal erst!)
hat ein positiveres Bild gezeichnet!)
Das ist in vielen Fällen – ich habe gestern die Bundes-
Was ich immer feststelle, wenn ich Ihre Anträge lese, arbeitsministerin auch in der Regierungsbefragung da-
Herr Kollege Schaaf, Herr Kollege Birkwald, also von nach befragt – gar nicht einmal eine Frage des Geldes,
SPD und Linken, ist: Diese Anträge beruhen aus unserer das man dafür in die Hand nehmen muss, sondern hier
Sicht auf einer falschen Sichtweise. Sie sind von der ist wirklich ein Mentalitätswechsel in den Köpfen, ein
Vorstellung geleitet, dass ein möglichst früher Renten- Paradigmenwechsel gefordert. In den letzten Jahren und
eintritt erstrebenswert und sinnvoll sei. Ich sage: Wir Jahrzehnten waren viele Unternehmer und leitende An-
brauchen da einen Mentalitätswandel. Hier müssen Sie gestellte in den Unternehmen stolz darauf, wenn sie eine
sich in eine andere Richtung drehen und feststellen, dass möglichst junge Belegschaft hatten. Wir müssen dahin
es auch noch andere Wahrheiten gibt. Ich empfehle Ih- kommen, dass es eine Auszeichnung für einen Betrieb
nen die Lektüre der Zeit von heute, in der Elisabeth Nie- ist, wenn sich in der Belegschaft auch noch viele ältere
jahr einen, wie ich finde, sehr lesenswerten Artikel mit Arbeitnehmer finden. Die Mischung aus Jungen und Al-
dem Titel „Lasst uns länger arbeiten“ geschrieben hat. ten, aus Erfahrung und Neugier und neuen Bestrebungen
im Arbeitsmarkt kann ein Erfolgsmodell für Unterneh-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das men sein. Ich wünsche mir, dass es Schule macht.
kann sie ja!)
In diesem Sinne empfinde ich Ihre Anträge als rück-
Darin beschreibt sie Beispiele von Arbeitnehmern, die wärtsgewandt. Denken Sie mit uns nach vorne! Flexible
an der Regelaltersgrenze stehen. Jeder fragt für sich indi- Übergänge und eigene Entscheidungen der Arbeitneh-
viduell: Warum eigentlich müssen wir aufhören zu arbei-
mer müssen das Gebot der Stunde sein. Dafür kämpfen
ten? Sie sagen: Wir definieren uns über unsere Arbeit,
und arbeiten wir.
die Altersgrenze bevormundet uns, wir wollen das nicht. –
Das ist die andere Möglichkeit, auf den gleichen Sach- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
verhalt zu schauen. Diese Perspektive sollte nach unse-
rer Auffassung in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12683

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – ja, ich weiß das –, einen neuen Job zu finden. Mit über (C)
Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die 60 ist das nahezu unmöglich.
Linke.
Die Fakten: 1 Million Arbeitslose sind älter als 50.
(Beifall bei der LINKEN) Das hat der Bundesagenturchef gestern noch einmal ge-
sagt. Bei den Erwerbslosen über 55 hat es keinen Rück-
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): gang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vorigen Jahr
gegeben; dies zum Stichwort „Mentalitätswechsel“. Nur
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
jeder Fünfte zwischen 60 und 65 schafft den Sprung aus
Herren! Die Perspektive der Linken ist die der Beschäf-
der Arbeitslosigkeit in einen Job. Bei den 64-Jährigen
tigten und der Betroffenen. Deswegen sage ich: Die
schaffen es nur 10 Prozent, und nur 9 Prozent der 64-jäh-
Rente erst ab 67 muss weg, ohne Wenn und Aber.
rigen Männer haben überhaupt noch einen sozialversi-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der cherten Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es nicht einmal
FDP: Die Linke muss weg!) magere 4 Prozent.
Das ist der Kern unseres Antrags, über den wir hier Gestern hat der Vorstandsvorsitzende der Bundes-
heute diskutieren, und das ist auch das Ziel des Gesetz- agentur für Arbeit, Herr Weise – das ist schon ein paar
entwurfs, den die Linke vorgelegt hat. Seit vergangener Mal gesagt worden –, im Ausschuss für Arbeit und So-
Woche redet die Bundesregierung nicht mehr nur über ziales wörtlich gesagt:
die Rente erst ab 67;
Niemand stellt 60-Jährige ein.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Bundesre-
Das ist leider die traurige Wahrheit, und darum ist die
gierung redet überhaupt nicht davon!)
Rente erst ab 67 eine riesige soziale Schweinerei sonder-
vielmehr diskutiert Schwarz-Gelb ernsthaft den völlig gleichen.
unsäglichen Vorschlag der sogenannten Wirtschaftswei-
(Beifall bei der LINKEN)
sen, die Rente erst ab 68 oder gar ab 69 einzuführen.
Doch ein höheres gesetzliches Rentenalter bedeutet für Meine Damen und Herren, die Bundesarbeitsministe-
die Friseurin oder den Gerüstbauer und die meisten Be- rin Frau von der Leyen behauptet immer, dass den Be-
schäftigten nicht mehr Lebensarbeitszeit oder gar mehr schäftigten ohne die Rente erst ab 67 eine drastische Bei-
Rente. Die Rente erst ab 67, von der Rente erst ab 69 tragserhöhung drohe. Das ist komplett falsch. Von
ganz zu schweigen, bedeutet für die Menschen deutlich drastischen Beitragserhöhungen kann überhaupt nicht
weniger Rente. Das ist die bittere Konsequenz, und ge- die Rede sein. Frau von der Leyen will durch die Rente
(B) nau das will die Linke verhindern. erst ab 67 verhindern, dass der Beitrag bis 2030 um ei- (D)
nen halben Prozentpunkt steigt. Das sind bei einem
(Beifall bei der LINKEN)
Durchschnittsverdienst nicht einmal 7 Euro.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzlerin
Drastisch ist etwas ganz anderes, dass nämlich den
Merkel hat auf der Pressekonferenz zum Demografiegut- Menschen die Rente gekürzt wird, weil sie sich nicht bis
achten des Sachverständigenrates die Frage aufgeworfen
65, geschweige denn bis 67 am Arbeitsmarkt halten kön-
– ich zitiere –, wie wir die reale Arbeitszeit dem gesetzli-
nen, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie
chen Renteneintrittsalter besser annähern und Chancen eben keine bezahlte Arbeit mehr haben. Jeder Monat,
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaf-
den sie vor dem gesetzlichen Rentenalter in Rente ge-
fen können. Zitat Ende. Das ist doch vollkommen ver-
hen, führt zu Rentenkürzungen. So sieht es aus. Diese
quer. Erst basteln Sie wirklichkeitsfremde Gesetze, und Kürzungen allerdings sind drastisch, und das ist der ab-
dann verlangen Sie unter Androhung drastischer Renten-
solut falsche Weg.
kürzungen von den Menschen, dass sie sich diesen welt-
fremden Gesetzen anpassen müssen. Umgekehrt wird (Beifall bei der LINKEN)
ein Schuh daraus: Die Gesetze müssen realitätstauglich
sein. Aber genau das ist die Rente erst mit 67 ganz und Von den Beschäftigten, die 2009 neu in Rente gingen,
gar nicht. Deswegen muss sie weg! müssen mehr als 55 Prozent Abschläge in Kauf nehmen,
im Schnitt 102 Euro, und dies bis zum Lebensende. Für
(Beifall bei der LINKEN) über 70 Prozent der Chemiearbeiterinnen, der Bergleute
und der Elektriker bedeutet das, dass ihnen die Rente ge-
Denn bereits heute klafft eine riesige Lücke zwischen kürzt wird, nur weil sie es nicht schaffen, bis 65 zu arbei-
dem tatsächlichen Rentenbeginn und dem gesetzlich ten. Hier werden also Leute für etwas bestraft, was sie
vorgeschriebenen Rentenalter. Heute halten sich die nicht verschuldet haben und was sie auch ganz und gar
Menschen im Durchschnitt bis gut 63 am Arbeitsmarkt. nicht selbst ändern können. Und dann soll die Rente erst
Sie schaffen es gar nicht bis zu ihrem 65. Geburtstag, ab 67 kommen? Nein!
wie vom Gesetz vorgesehen. Kollege Schaaf ist darauf
bereits eingegangen. (Beifall bei der LINKEN)
Die Wirklichkeit am Arbeitsmarkt sieht so aus: Wenn Das wird von den meisten als eine Riesensauerei emp-
Sie 55 sind, Herr Kolb, haben Sie es ausgesprochen funden, zu Recht.
schwer
Meine Damen und Herren, immer weniger Menschen
(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr. Das
12684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Matthias W. Birkwald
(A) wissen wir alle. Als Bismarck die Rentenversicherung 1949 und 1950 Geborenen vorbei. Die sollen nämlich (C)
einführte, brauchte es 13 Menschen im erwerbsfähigen schon bald und nicht erst 2029 länger arbeiten oder we-
Alter, um eine Rentnerin oder einen Rentner zu finanzie- niger Rente erhalten.
ren. Heute reichen gut drei, und in 20 Jahren werden es
Wenn Sie einmal dabei sind: Nehmen Sie die Beden-
etwas mehr als zwei sein. Also: Die steigende Arbeits-
ken der arbeitenden Menschen, der Sozialverbände und
produktivität und das Wirtschaftswachstum sind viel
aller Gewerkschaften ernst. Stimmen Sie auch unserem
wichtiger für die Finanzierbarkeit der Renten als der de-
Antrag zu! Sagen Sie Nein zur Rente erst ab 67!
mografische Wandel.
Vielen Dank.
(Otto Fricke [FDP]: Wie war denn der Unter-
schied beim Zuschuss?) (Beifall bei der LINKEN)
Ich sage Ihnen: Auch deshalb ist es möglich, auf die
Rente erst ab 67 zu verzichten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Wolfgang Strengmann-Kuhn für
(Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen.
Wer jedoch den Niedriglohnsektor fördert und for-
dert, wer einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
blockiert und wer demografische Entwicklungen als DIE GRÜNEN):
Drohkulisse sät – das wird ja häufig gemacht –, wird vor Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
allem eines ernten, nämlich weitere Rentenkürzungen, Zwei wichtige Vorbemerkungen:
und er wird die Altersarmut für Millionen zur sozialen
Realität machen. Wer das nicht will, muss heute gegen Erstens. Die Rente ab 67 wird es erst im Jahr 2031 ge-
die Rente erst ab 67 stimmen. ben. Wir fangen nächstes Jahr langsam damit an. Das zu
bedenken, ist wichtig.
(Beifall bei der LINKEN)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist ohne
Wenn und Aber gegen die Rente erst ab 67. Deswegen Zweite wichtige Vorbemerkung. Die Rente mit 67
fordern wir mit unserem Antrag, die Rente erst ab 67 stellt keine Rentenkürzung dar. Das Gegenteil ist der
vollständig zurückzunehmen. Hier im Parlament stehen Fall.
wir mit dieser Haltung allein da. In der Gesellschaft ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
hören wir jedoch zur großen Mehrheit all derer, die die DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)
(B) Rente erst ab 67 ablehnen. Es ist nämlich so, dass durch die Rente mit 67 nicht nur (D)
(Beifall bei der LINKEN) die Beiträge sinken, sondern – das hat die Rentenversi-
cherung vorgerechnet – auch der Rentenwert wird in-
Alle Gewerkschaften, Herr Schiewerling, und alle wich-
folge der Rente mit 67 steigen. Das heißt, die Rente mit
tigen Sozialverbände sind ebenso gegen die Rente erst
67 stellt keine Rentenkürzung dar, sondern eine Renten-
ab 67 wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es wird
erhöhung.
Zeit, dass diese demokratische Mehrheit auch hier in
diesem Hause endlich Gehör findet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Mehrheiten bilden Diejenigen, die sich gegen die Rente mit 67 wehren
sich nicht durch Umfragen, sondern durch und sie wieder abschaffen wollen, sind die eigentlichen
Wahlen!) Rentenkürzer. Sie sitzen insbesondere in der Fraktion
Die Linke.
Ich komme zum Schluss: CDU, CSU, FDP, SPD und
die Grünen kämpfen – mit Abweichungen – für die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das, Herr
Rente erst ab 67. Aber auch aus Ihren Reihen, liebe Kol- Birkwald! – Matthias W. Birkwald [DIE
leginnen und Kollegen, hat es die eine oder andere nach- LINKE]: Völlig verquer!)
denkliche Stimme gegeben, ohne jedoch völlig von dem
Ziel der Rente erst ab 67 abrücken zu wollen. Wenn Sie, Sie wollen eine Rentenkürzung, Sie wollen geringere
liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kritik und Ihre Be- Renten im Jahr 2030 als die anderen Fraktionen hier im
denken tatsächlich ernst meinen, dann nutzen Sie die Bundestag. Das ist die Wahrheit.
Chance, die Ihnen unser Gesetzentwurf bietet, und ver- Wenn Sie das richtig rechnen – ich habe das beim
schieben Sie wenigstens die Einführung um vier Jahre. letzten Mal schon anhand des Kuchenbeispiels erklärt,
In dieser Denkpause könnten Ihre Bedenken dann – ganz das ja auch Sie immer gerne heranziehen –, kommen Sie
im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung – ernsthaft dis- zu dem Ergebnis: Es ist insgesamt mehr Rente zur Verfü-
kutiert werden. Ich bitte Sie eindringlich, nachdrücklich gung. Wenn mehr Leute länger arbeiten und es weniger
und höflich: Nutzen Sie diese Chance! Rentner gibt, dann sind nämlich die Kuchenstücke im
(Beifall bei der LINKEN) Durchschnitt größer. Das heißt, es profitieren insbeson-
dere die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von der
Denn dann ginge der Kelch des Kürzungsprogramms na- Rente mit 67; sie werden eine höhere Rente haben, wenn
mens Rente erst ab 67 zumindest an den 1947, 1948, wir die Rente mit 67 einführen. Das fängt nächstes Jahr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12685
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) an und steigt dann langsam bis 2031 an. So ist die Situa- Zweiter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die (C)
tion. Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Auch
wenn es so ist, wie ich gesagt habe, dass auch Menschen
Alle Erwerbstätigen, die nach der vollständigen Ein- im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine höhere Rente bekom-
führung der Rente ab 67 im Jahr 2031 zwei Jahre länger men, ist es natürlich nicht in unserem Sinne, durch die
arbeiten können, profitieren gleich doppelt, und zwar Anhebung der Regelaltersgrenze die Dauer der Lebens-
von dem höheren Rentenwert und den zusätzlichen Ren- arbeitslosigkeit zu verlängern. Wir wollen vielmehr die
tenansprüchen, die sie durch ihre längere Erwerbstätig- Dauer der Lebenserwerbstätigkeit verlängern. Da reicht
keit erwerben. Bei am Ende zwei Jahre längerer Er- es übrigens nicht aus, wenn man nur alternsgerechte und
werbstätigkeit sind dies nach heutiger Rechnung 55 Euro altersgerechte Arbeitsplätze schafft. Man muss schon bei
mehr Rente im Monat. Selbst manche Arbeitslose, näm- den Jungen anfangen und dafür sorgen, dass ihre Ar-
lich die, die Arbeitslosengeld I bekommen, erhalten eine beitsplätze so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich län-
höhere Rente, weil auch im Rahmen des Bezuges von ger am Erwerbsleben teilhaben können. Auch das ist
Arbeitslosengeld I Rentenbeiträge gezahlt werden und eine wichtige Forderung von uns.
man damit entsprechend höhere Rentenansprüche erwirbt.
Dritter Punkt. Beteiligung am Erwerbsleben ist auch
Trotzdem ist nicht alles rosig. Es liegen noch viele Teilhabe. Da gebe ich Herrn Kolb ausnahmsweise ein-
Aufgaben vor uns. Wir sehen vor allen Dingen drei mal recht.
Großbaustellen. Es gibt durch die Rente mit 67 zwar ins- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sollten Sie
gesamt eine Verbesserung, aber in der Tat gibt es auch viel öfter tun!)
Menschen, die dadurch schlechter gestellt werden. Der
Kollege Schaaf hat dies vorhin schon erwähnt. Die Ar- Wir wollen es ermöglichen, dass die Menschen länger
beitslosengeld-II-Empfänger, die zwangsverrentet wer- am Erwerbsleben teilhaben können, ohne sich gesund-
den, werden einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müs- heitlich kaputtzumachen. Wir wollen außerdem, dass es
sen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Erwerbsmin- einen fließenden Übergang in den Ruhestand gibt, und
derung, für die sich die Altersgrenze für die abschlags- zwar möglichst selbstbestimmt und sozial abgesichert,
freie Rente im Rahmen der Einführung der Rente mit 67 damit sich den Ruhestand auch diejenigen leisten kön-
erhöhen wird. Für diese Gruppen kann man vor 2012 nen, die nur wenig verdient haben.
noch etwas tun. Handeln Sie von den Koalitionsfraktio-
Diese drei Punkte, also besserer Schutz gegen Alters-
nen, und verhindern Sie, dass es im nächsten Jahr für
armut durch eine Garantierente, bessere Arbeitsmarktbe-
diese Personenkreise eine Rentenkürzung gibt.
dingungen sowie die Ermöglichung eines fließenden
Wir fordern, dass die Altersgrenze für die abschlags- Übergangs in den Ruhestand, sind wichtige flankierende
(B)
freie Erwerbsminderungsrente nicht angehoben wird; Maßnahmen, die wir alle gemeinsam auf den Weg brin- (D)
denn niemand bezieht freiwillig eine Erwerbsminde- gen müssen.
rungsrente. Auch die Zwangsverrentung haben wir 2014 gibt es den nächsten Bericht zur Rente mit 67.
schon immer kritisiert. Wir wollen, dass sie rückgängig Wir müssen dann schauen, wie die tatsächliche Entwick-
gemacht wird. lung verläuft, wer von der Rente mit 67 profitiert hat und
wer benachteiligt worden ist. Gegebenenfalls müssen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir an den Stellschrauben drehen und nachbessern, um
sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Benachteiligungen zu beseitigen. Wir nehmen diese Be-
Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass richtspflicht ernst und werden nach dem Vorliegen des
ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft durch Berichts schauen, wie es weitergeht. Wir sind aber dage-
die Rente mit 67 Nachteile haben. Deswegen ist es für gen, die Rente mit 67 abzuschaffen; denn insgesamt ge-
uns besonders wichtig, dass wir mithilfe von flankieren- sehen wird damit die Rente auf eine sicherere Basis ge-
den Maßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinem höhe- stellt, und sie bleibt nachhaltig finanzierbar. Wir müssen
ren Grundsicherungsbezug durch die Rente mit 67 aber dafür sorgen, dass diejenigen, die durch die Rente
kommt. Dies erreichen wir, indem wir die Menschen mit 67 benachteiligt werden, davor geschützt werden.
durch eine Garantierente vor Altersarmut schützen. Da- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
durch ist sichergestellt, dass derjenige, der lange versi-
chert war, eine Rente über dem Grundsicherungsniveau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erhält. und bei der SPD)

Sie haben die Einrichtung einer Altersarmutskommis- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


sion versprochen. Das ist wieder verschoben worden. Es Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
gibt zum Thema „Bekämpfung der Altersarmut“ immer CSU-Fraktion.
noch keine Vorschläge von Ihnen. Wir schlagen, wie ge-
sagt, eine Garantierente vor. Sie ist für uns ein wichtiges (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Instrument, um Altersarmut zu verhindern. Durch die
Rente mit 67 würde die Altersarmut, wenn man nichts Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
unternehmen würde, für bestimmte Personengruppen Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
steigen. Die Garantierente ist also eine erste wichtige gen! Ich habe nachgeschaut, was in den letzten Tagen
Forderung von uns. und Wochen an Zeitungsüberschriften zu finden war. Ich
12686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) habe folgende gefunden: „Fachkräftemangel schon (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überwiegend je- (C)
heute“, „Globaler Arbeitsmarkt fast leergefegt“, „Uns denfalls! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
gehen die Arbeitskräfte aus“ oder „Fachkräfte verzwei- Da klatscht nicht einmal mehr die eigene Par-
felt gesucht“. Irgendwie passen die Anträge der Opposi- tei!)
tion nicht zu diesen Überschriften.
Ein weiterer Punkt. Erfreulicherweise steigt die Le-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das meinte ich! – benserwartung der Deutschen. Ein 60-jähriger Mann hat
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Mil- heute im Schnitt noch 20 Jahre vor sich, fünf Jahre mehr
lion Arbeitslose über 50!) als die 60-Jährigen im Jahr 1960.
Der wesentliche Punkt ist: Anton Schaaf und auch Herr (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Machen wir
Birkwald halten Reden, die man angesichts der Entwick- doch die Rente ab 80!)
lung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren hätte Bei den Frauen sind es sogar sechs Jahre mehr. Alle Pro-
halten können bzw. halten müssen. Sie passen aber nicht gnosen besagen: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ich
zu dem, was in den nächsten 20 Jahren passieren wird. möchte Sie Folgendes fragen: Bei der Rente geht es um
Derzeit gibt es in Deutschland 44 Millionen Männer ein Solidarsystem; es geht um Solidarität zwischen Jun-
und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird bis gen und Alten. Was ist daran zu kritisieren, wenn die
zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Man muss sich künftigen Rentnerinnen und Rentner, die die Chance ha-
fragen: Was machen wir dann? ben, deutlich länger Rente zu beziehen als die früheren
und heutigen Rentnerinnen und Rentner, länger in die
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zuwanderung Rentenversicherung einzahlen? Das derzeit geltende Ge-
fällt mir da spontan ein!) setz sieht eine Regelaltersgrenze ab 67 ab dem Jahr 2029
vor. Das heißt, dass diejenigen, die im Jahr 2029 und
Wie halten wir unseren Wohlstand? Wie erhalten wir die
2030 in Rente gehen und zwei Jahre länger gearbeitet
Produktion in Deutschland aufrecht? Natürlich gibt es
haben als die heutigen Rentnerinnen und Rentner, trotz-
die Möglichkeit, Menschen aus allen Ländern der Welt
dem noch länger Rente beziehen werden als die heutigen
nach Deutschland einzuladen, um hier zu arbeiten, und
Rentnerinnen und Rentner. Das System der gesetzlichen
unsere eigenen Arbeitnehmer mit 55 Jahren in den Vor-
Rentenversicherung beruht auf Solidarität, und es ist so-
ruhestand zu schicken. Aber das ist doch keine Lösung.
lidarisch, dass man länger einzahlt, wenn man länger
Das ist volkswirtschaftlich unverantwortlich, und das ist,
Rente beziehen kann.
wie ich finde, auch menschlich unverantwortlich. Wenn
die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, dann muss das zual- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lererst heißen: Für die Arbeitslosen und die Älteren in
(B) Deutschland muss es Chancen auf dem Arbeitsmarkt ge- Das längere Arbeiten bleibt nicht ohne Effekt. Herr (D)
ben. Sie sind unser eigentliches Fachkräftepotenzial. Strengmann-Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen:
Länger in die Rentenkasse einzuzahlen, bedeutet auch,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dass man höhere Rentenleistungen erhält; es handelt sich
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gibt nicht um eine Rentenkürzung. Noch einmal: Die Rente
es aber nicht! Deswegen muss man den Un- mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein
sinn jetzt lassen!) Rentenerhöhungsprogramm. Das ist die richtige Darstel-
lung.
Für die Wirtschaft bedeutet das, dass sie umlernen
muss. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein Unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 60 Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Für alle,
nicht mehr beschäftigt und gleichzeitig bei der Politik die keinen Job haben, stimmt das nicht! Fragen
anklopft und fordert, wir sollten die Türen öffnen, um Sie mal den Sozialverband! – Jörn Wunderlich
Fachkräfte von außen hereinzulassen. [DIE LINKE]: Gehen Sie mal in die Unterneh-
men!)
(Anton Schaaf [SPD]: Das ist aber die Reali-
tät!) Kürzlich haben uns die Wirtschaftsweisen in einem
Sondergutachten angesichts der Veränderungen im Al-
Nein, die Sache muss anders laufen. Es muss in deut- tersaufbau der Gesellschaft, die zwangsläufig auf uns
schen Betrieben möglich sein, bis 65 bzw. 67 Jahre zu zukommen, dringend dazu geraten, an der Erhöhung der
arbeiten, bevor Fachkräfte von außen hereingeholt wer- Regelaltersgrenze bei der Rente festzuhalten. Sie haben
den. gesagt, ohne die schrittweise Anhebung des Rentenein-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – trittsalters drohe ein dramatischer Anstieg der Staats-
Anton Schaaf [SPD]: So ist es aber doch nicht! schulden mit massiven Lasten für künftige Generatio-
Planlos an der Realität vorbeigequasselt!) nen. Um es also klar und deutlich zu sagen: Die
Rechnung, die zwei Oppositionsfraktionen hier aufma-
In den nächsten 20 Jahren geht es nicht um die Rente mit chen, wird letztendlich für die Arbeitnehmerinnen und
65 oder mit 67. Vielmehr geht es um die Frage: Wird es Arbeitnehmer in Deutschland teurer und schmerzhafter
die deutsche Wirtschaft verstehen, die Arbeitsbedingun- als all die Aspekte der Erhöhung der Regelaltersgrenze,
gen so zu gestalten, dass das Arbeiten bis 67 möglich ist, zu denen man Bedenken vortragen kann. Das ist die
und zwar so, dass es einem Freude macht? Darum muss Wahrheit, die Sie leider verschweigen und die uns die
es gehen. Wirtschaftsweisen ins Stammbuch geschrieben haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12687
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Allerdings haben die Wirtschaftsweisen noch etwas Ich will zunächst einmal auf ein paar Vorredner einge- (C)
anderes gemacht: Sie haben versucht, eine Prognose für hen. – Herr Kolb, Sie schauen so neugierig. Sie kommen
die weitere Zukunft aufzustellen, und in diesem Zusam- mit Sicherheit noch dran.
menhang eine weitere Erhöhung des Rentenalters vorge-
schlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
glaube, zu solider Politik gehört, dass wir mit den Zah- LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das
len rechnen, die uns vorliegen: mit den Zahlen der be- habe ich erwartet! Sonst hätte ich die falsche
reits geborenen Kinder. Wir sollten keine Berechnungen Rede gehalten!)
mit Zahlen zu Menschen durchführen, die es noch nicht Zunächst einmal zu Herrn Schiewerling. Sie haben
gibt, die noch gar nicht leben und in Zukunft geboren die verschiedenen Stellschrauben bei der Rente genannt.
werden könnten. Das war alles schön und gut; man könnte Ihre Beschrei-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da wa- bung der Stellschrauben unterschreiben. Dann haben Sie
ren die Weisen wohl doch nicht so weise!) gefragt: Wer wäre denn für Beitragssatzerhöhungen? –
Es ist völlig unstreitig, dass der Beitragssatz ohne die
Deswegen muss ich klar und deutlich sagen: Es ist gut, Rente mit 67 in der Endphase maximal 0,5 Prozent-
dass uns die Wirtschaftsweisen sagen, dass die Erhöhung punkte höher wäre; das wird von niemandem bestritten.
der Regelarbeitsgrenze notwendig und wichtig ist, um in
Zukunft den Wohlstand zu erhalten und die Kosten für (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 7 Euro
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch hö- pro Arbeitnehmer!)
her zu treiben; aber sie sollten die Finger von Weissa- Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Bevölkerung abstimmen
gungen lassen, die man – wenn man Weissagungen mag – ließen, ob sie bereit wäre, einen geringfügig höheren
vielleicht von Damen mit einer Glaskugel bekommt. So Beitrag zu zahlen, oder sie für die Rente mit 67 ist, dann
etwas sollte nicht in einem Gutachten der Wirtschafts- könnte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen, wie die
weisen stehen. Abstimmung ausgeht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Wieso hat es
wie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn die SPD dann gemacht? – Abg. Dr. Heinrich
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) L. Kolb [FDP] meldet sich zu einer Zwischen-
frage)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Weiß, Sie wären dann zum Ende ge- – Herr Kolb, jetzt machen Sie den ersten Fehler in der
kommen? Debatte.
(B) (Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN) (D)
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Jawohl, das tue ich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zulassen, Herr Schreiner? – Sie möchten das? Verstehe
Das ist gut. ich Sie da richtig?

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ottmar Schreiner (SPD):


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe kei- Ja, bitte. Er muss zwar nicht, aber er soll.
nerlei Ansatzpunkte dafür, dass wir von der positiven
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abgehen sollten. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vielmehr glaube ich, dass wir in 20 Jahren feststellen Danke, Herr Kollege Schreiner, für die Zulassung der
werden, dass wir das Richtige für mehr Wohlstand und Zwischenfrage. – Warum hat Franz Müntefering über-
mehr Rente der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in haupt den Vorschlag gemacht, dass die Regelalters-
Deutschland gemacht haben. grenze auf 67 erhöht werden soll, wenn das alles so easy
Vielen Dank. ist?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ottmar Schreiner (SPD):
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schlage vor, ihn das selbst zu fragen.
Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall bei der SPD) LINKEN)
Ich nehme an, es war ein Ergebnis der Koalitionsver-
Ottmar Schreiner (SPD): handlungen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das war es
Das Thema ist, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze nicht!)
ab 2012 vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerechtfer- Ich war nicht dabei. Deshalb kann ich Ihnen da nicht mit
tigt ist; das ist der Kern der Auseinandersetzung. Details dienen. Wenn Sie an Einzelheiten interessiert
12688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Ottmar Schreiner
(A) sind, würde ich Ihnen vorschlagen, sich an den Betref- nicht nur über die Arbeitgeber reden und sagen, dass wir (C)
fenden selbst zu wenden. Ich glaube, das wäre sinnvoll. die Wirtschaftskapitäne in die Pflicht nehmen wollen
– auch das wäre erforderlich –, sondern wir müssten
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Außer-
dann auch darüber reden, welche politischen Maßnah-
dem ist Dazulernen immer erlaubt!)
men in den nächsten Jahren notwendig oder sogar zwin-
gend sind, um dieses Problem zu lösen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich frage noch, ob eine Zwischenfrage von Herrn (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Da gibt es ja
Straubinger zugelassen wird. viele Maßnahmen!)
Wenn alle Beschäftigten in Deutschland aufgrund der
Ottmar Schreiner (SPD): Arbeitsbedingungen das 65. Lebensjahr gesund im Beruf
Auf eine Frage von Herrn Straubinger habe ich schon erreichen könnten, können Sie, glaube ich, mit jedem in
gewartet. Er wird schon ganz unruhig. diesem Haus über die Sinnhaftigkeit einer Arbeitszeit-
verlängerung reden. Solange wir diese Situation aber
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht haben und Millionen von Beschäftigten Angst vor
Bitte schön. Danach können wir fortfahren. einer Arbeitszeitverlängerung haben, geht das nicht.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist
Max Straubinger (CDU/CSU): es!)
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Beitragssatzer-
Herr Kolb hat Frau Niejahr zitiert, die einen Artikel in
höhung um 0,5 Prozentpunkte als unproblematisch be-
der Zeit mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten!“ ge-
trachten und sagen, dass das jeder hinnehmen würde,
schrieben hat.
frage ich mich, warum die SPD-Fraktion das mit der
vorgezogenen Abführung der Sozialversicherungsbei- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Artikel!)
träge zu rot-grüner Zeit anders gehandhabt hat. Das ist
schließlich nur zustande gekommen, weil der Rentenver- Sie schreibt im Übrigen viele Artikel in der Zeit. Bei ei-
sicherungsbeitragssatz ansonsten um 0,5 Prozentpunkte ner Redakteurin der Zeit kann ich mir vorstellen, dass sie
hätte angehoben werden müssen. Warum hat die SPD- länger arbeiten könnte. Das ist gut möglich. Ich kann mir
Fraktion seinerzeit nicht für eine Anhebung um 0,5 Pro- das auch bei Hochschulprofessoren vorstellen. Ich
zentpunkte gestimmt? nehme Sie einmal mit in meinen Wahlkreis. Fragen Sie
dort einmal Krankenschwestern, die Nacht- und Schicht-
(Anton Schaaf [SPD]: Das belastet aber nicht arbeit machen,
(B) die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (D)
sondern die Unternehmen! Deswegen war das (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist es! –
gerechtfertigt!) Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Erziehe-
rinnen!)
Ottmar Schreiner (SPD): oder Arbeiter in der Stahl-, der Automobil- oder der
Das war gerechtfertigt, weil es eine unterschiedliche Chemieindustrie, die Wechselschicht machen, ob sie die-
Handhabung bei Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmer- ser Idee etwas abgewinnen können. Fragen Sie die ein-
beitrag gab. mal!
(Beifall bei der SPD – Anton Schaaf [SPD]: (Beifall bei der SPD und der LINKEN –
So ist das!) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Einverstanden!
Im Übrigen war der Kern des Ganzen die Absenkung der Da muss man eine Lösung finden!)
Lohnnebenkosten. Das ist ein Thema, über das wir lange Die Menschen haben, je nach beruflichem Hintergrund,
diskutieren können. völlig verschiedene Sichtweisen. Wir haben eine Reihe
Zurück zu den Stellschrauben, die Herr Schiewerling von Berufen in Deutschland, bei denen ohne jedes Pro-
angesprochen hat. blem eine Arbeitszeitverlängerung möglich wäre. Im
Übrigen ist das auf freiwilliger Basis schon jetzt mög-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Dazu hätte man lich.
noch mehr sagen können!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!
– Man kann eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte Mit Zuschlägen!)
mich aber auf die Kernpunkte konzentrieren. – Herr
Schiewerling, Sie haben eine zentrale Stellschraube ver- Es gibt sogar Zuschläge.
schwiegen: Was müssten wir unternehmen, um denjeni-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 0,5 Pro-
gen, die heute mit 63 Lebensjahren aus dem Erwerbsle-
zent Zuschlag kriegt man dann!)
ben ausscheiden – das ist der Durchschnitt –, eine
Erwerbsarbeit bis zum 65. Lebensjahr zu ermöglichen? Ein weiterer Punkt von Herrn Schiewerling war, dass
eine lange parteipolitische Auseinandersetzung über das
(Anette Kramme [SPD]: Genau!)
Thema Rente nicht wünschenswert ist. Da stimme ich
Das ist die entscheidende Stellschraube, um die es ei- Ihnen ausdrücklich zu. Die Frage ist aber, warum die
gentlich geht. In diesem Zusammenhang müssten wir Koalitionsfraktionen den Gesetzesvorbehalt, die soge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12689
Ottmar Schreiner
(A) nannte Bestandsprüfungsklausel, nicht ernst nehmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
Das ist die entscheidende Frage. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Er hat auch gesagt: Die einzige Altersgruppe, bei der die
der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: Genau Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht gesunken ist,
das ist die Frage!) ist die der 55-Jährigen und Älteren. – Was wollen Sie ei-
gentlich noch mehr? Die Beschäftigungslage der älteren
Sie nehmen sie nicht ernst. Diese Vorbehaltsklausel be-
Männer und Frauen in Deutschland ist nach wie vor de-
sagt nichts anderes, als dass die Bundesregierung von
saströs. Vor diesem Hintergrund ist eine Anhebung der
2010 an alle vier Jahre darüber zu berichten hat, ob die
Regelaltersgrenze bei der Rente nichts anderes als eine
Beschäftigungsentwicklung und die Situation älterer Ar-
verkappte weitere Rentenkürzung.
beitnehmer am Arbeitsmarkt ein Festhalten an der Rente
mit 67 erlauben. (Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er wurde heute Dafür werden Sie zu Recht Ihre Quittung erhalten.
vorgelegt!)
Ich habe gesagt: Der Bericht der Bundesregierung ist
– Der Bericht ist so eindeutig und in Teilen manipulativ. manipulativ. Diesen Vorhalt will ich mit einem letzten
Beispiel belegen. Die Bundesregierung schreibt zur Be-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na! Die Fak- standsprüfungsklausel – wörtliches Zitat –:
ten sind unstrittig!)
Mit der durchschnittlichen Lebenszeit verlängert
Das will ich Ihnen an zwei Punkten kurz belegen, Herr sich vor allem die Zeit eines gesunden und leis-
Kolb, weil Sie von Fakten gesprochen haben. Sie können tungsfähigen Alters.
hier über die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation Äl-
terer reden, wie Sie wollen. Richtig ist, dass es teilweise Das ist eine sehr positive Darstellung. Die gleiche Bun-
eine geringfügige Verbesserung der Arbeitsmarktsitua- desregierung hat im letzten Jahr, also nur wenige Monate
tion gibt. Das ist nicht zu bestreiten. vorher, in Beantwortung einer Großen Anfrage Folgen-
des geschrieben:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin! Das
geben Sie zu!) Die körperlichen Anforderungen haben sich seit
Mitte der 1980er-Jahre kaum verändert. … Eine
Das hängt mit der demografischen Entwicklung und dem deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psy-
verschärften Druck, Arbeit anzunehmen, zusammen. Da- chischen Anforderungen.
für gibt es also verschiedene Gründe. Der entscheidende
Punkt ist aber, dass sich die Situation der älteren Beschäf- Das heißt, die Gesamtbelastung der Beschäftigten in
(B)
tigten in puncto Arbeitslosigkeit im Großen und Ganzen Deutschland ist in den letzten knapp 30 Jahren konstant (D)
nicht verbessert hat. geblieben; sie hat sich eher verschlechtert, jedenfalls
nicht verbessert. Wer vor dem Hintergrund einer nach
(Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD]) wie vor unzureichenden Situation auf dem Arbeits-
Dafür will ich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Bei markt –
den 63-Jährigen beträgt die Quote der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten 12 Prozent und bei den Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
64-Jährigen ganze 5,7 Prozent. Die Frage lautet: Was Herr Schreiner.
passiert mit den anderen? Wo landen die eigentlich?
Heute ist mehrfach Präsident Weise von der Bundes- Ottmar Schreiner (SPD):
agentur für Arbeit zitiert worden. Dieses Zitat will ich – und bei nach wie vor in weiten Teilen problemati-
ausdrücklich wiederholen, weil ich mir das mitgeschrie- schen Anforderungen in der Berufswelt das Rentenein-
ben habe. trittsalter erhöht, ist leicht von Sinnen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ich Schönen Dank.
auch! – Zuruf von der FDP: Guter Mann!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
– Das ist ein guter Mann, das unterschreiben wir. Er ist
jedweder Parteinahme unverdächtig. – Gestern hat Präsi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dent Weise ausgeführt – Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Er ist aber nicht Präsident, Herr der CDU/CSU)
Schreiner!)
– das ist egal; für mich ist er Präsident –: Ich bin viel in Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Betrieben unterwegs. Niemand stellt einen 60-Jährigen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ein. Das ist ausgeschlossen. – Wenn der Präsident der Herr Birkwald, Sie können so häufig, wie Sie wollen,
Bundesagentur für Arbeit sagt, niemand in Deutschland darum herumreden. Ich glaube aber, jedem Bürger ist es
stelle einen 60-Jährigen ein, wie stellt sich denn dann die angesichts einer durchschnittlich gestiegenen Lebenser-
Arbeitsmarktlage der älteren Menschen in Deutschland wartung von 30 Jahren seit Einführung des Regelrenten-
dar? eintrittsalters von 65 Jahren einsichtig, dass es gut und
12690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) vernünftig ist, zwei dieser geschenkten 30 Jahre im Er- gen. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiß, wie er ant- (C)
werbsleben zu verbringen. Alles andere leuchtet nieman- worten wird.
dem ein, Herr Kollege.
Lieber Kollege Toni Schaaf, Sie haben völlig recht:
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Leute müssen Jobs haben, und dafür müssen wir
politisch etwas tun. Ich kann Ihnen sagen: Wir tun etwas.
Sie von den Linken sind wenigstens konsequent; Sie Ich nenne Ihnen drei Punkte.
bleiben sich in Ihrer Ablehnung der Rente ab 67 treu. Ich
halte das zwar für völlig falsch, aber es ist zumindest Das Erste ist, dass die Politik das Signal aussendet,
konsequent. Interessanter finde ich eigentlich immer dass Ältere am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir
wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozial- wollen, dass Ältere in den Unternehmen mit ihrer Quali-
demokraten, was Sie hier veranstalten. Als Sie vorhin, fikation anerkannt werden.
Toni Schaaf, auf Ihren Positionswechsel hingewiesen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wurden – Sie führen das immer so mit Verve aus –, kam der CDU/CSU)
der Hinweis von den Linken, man könne ja dazulernen.
Ich glaube, Sie haben nicht dazugelernt, wenn Sie plötz- Dazu muss man zuallererst nicht nur die Frühverren-
lich gegen die Rente mit 67 sind. Interessant ist aber vor tungsanreize beenden – das haben wir getan –, sondern
allem, wie Sie dieses angebliche Dazulernen begründen. auch zur Verlängerung des Lebensalters stehen und sich
Sie sagen, die erforderlichen Bedingungen seien heute hier nicht aus der Verantwortung stehlen.
nicht gegeben. Man muss doch einmal an die Entwick- Kommen wir zum zweiten Punkt. Wir müssen natür-
lung auf dem Arbeitsmarkt für die Älteren erinnern, seit- lich auch etwas im Bereich Flexibilität tun; das ist völlig
dem – und das allein ist relevant – auf Initiative der SPD richtig. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Erwerbs-
in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt karrieren der Menschen unterschiedlich sind. In diesem
wurde. Zusammenhang geht es nicht um die Rente mit 65 oder
(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht!) mit 67, sondern darum, wie flexibel man sein Erwerbsle-
ben beenden und in Rente gehen kann. Herr Kollege
Damals hieß es, darauf könne man stolz sein. Heute zie- Schreiner, Sie haben als Beispiel die Chemiearbeiter an-
hen Sie sich zurück. geführt. Die IG BCE wirbt zum Beispiel für eine Teil-
rente. Wissen Sie, was ihrer Meinung nach das Wich-
Werfen wir einen Blick auf das, was sich in den letz-
tigste ist, was wir dafür tun müssen? Wir müssen die
ten zehn Jahren getan hat. Die Arbeitslosigkeit bei den
Zuverdienstgrenzen derjenigen, die früher in Rente ge-
Älteren hat sich halbiert. Es gibt über 1 Million mehr so-
hen, beseitigen.
zialversicherungspflichtige Stellen. In den letzten fünf
(B) Jahren – lieber Kollege Schaaf, das wissen Sie so gut (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Damit (D)
wie ich – ist gerade bei den Älteren, und zwar bei den es eine Kombirente gibt? Das wollen wir
55- bis 60-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen, die nicht!)
Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen, und zwar um
Das ist übrigens interessanterweise FDP-Programmatik.
35 bis 40 Prozent.
(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
(Anton Schaaf [SPD]: Wer schreibt Ihnen denn [FDP]: Das ist ja FDP pur!)
solche Zahlen auf?)
Es ist es richtig, dass diese Regierungskoalition in Ge-
Vor diesem Hintergrund behaupten Sie allen Ernstes, die sprächen ist, die Zuverdienstgrenzen fallen zu lassen, da-
Situation habe sich schlechter entwickelt, als Sie damals mit wir bei der Flexibilisierung vorankommen.
annehmen konnten. Das glaubt Ihnen niemand. Jeder
weiß: Sie wollen einfach nicht mehr zu dem stehen, was
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie gemacht haben. Dafür sind wir nicht zu haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lehrieder zulassen?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eines ist richtig: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
noch nicht so, dass wir uns ausruhen könnten. Es ist Vom Kollegen Lehrieder immer gerne.
nicht so, dass wir nichts dafür tun müssten, die Erwerbs-
quote von Älteren weiter zu erhöhen. Darauf hat der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in Bitte schön.
der Tat hingewiesen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er hat Paul Lehrieder (CDU/CSU):
gesagt, das sind die Fakten und wir müssen das Sehr geehrter Herr Kollege Vogel, Sie haben gerade
politisch bewerten! – Anton Schaaf [SPD]: Da ausgeführt, dass wir den Wert der Arbeit auch älterer
ignorieren Sie die Fakten!) Mitbürgerinnen und Mitbürger höher schätzen müssen.
Können Sie uns sagen, wann die sogenannte 58er-Rege-
Er wird sich aber, glaube ich, nicht gerne als Kronzeuge lung ausgelaufen ist, die gerade sehr vielen Mitbürgern
gegen die Rente ab 67 anführen lassen. Wir können ihn im Alter zwischen 58 und 65 signalisiert hat, dass wir sie
ja einmal bei seinem nächsten Besuch im Ausschuss fra- gar nicht mehr brauchen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12691

(A) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)


Sie meinen die geförderte Altersteilzeit, Herr Kol- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
lege?
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja! – Zurufe von Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
der SPD) Vielen Dank.
– Er meint die Frühverrentungsanreize? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Anette Kramme [SPD]: Die 58er-Regelung ist
etwas anderes! – Katja Mast [SPD]: Sie wissen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
plötzlich, was das ist!) Eine Kurzintervention des Kollegen Schaaf.

– Natürlich weiß ich das, Frau Kollegin Mast.


Anton Schaaf (SPD):
(Katja Mast [SPD]: Letztes Mal wussten Sie Herr Kollege Vogel, wenn man immer Unwahres be-
das noch nicht!) hauptet, wird es nicht wahrer. Ich weiß genau, dass die
Union damals im Wahlkampf die Rente mit 67 gefordert
Ich weiß, wann sie ausgelaufen ist und dass die SPD hat, bevor wir dann in der Großen Koalition darüber ver-
vor einigen Monaten gefordert hat, die Regelung zur ge- handelt haben. Es war eine Idee der Union, und wir hat-
forderten Altersteilzeit zu verlängern, dass gerade Sie ten einen Koalitionsvertrag. Selbstverständlich sind So-
die Frühverrentungsanreize weiterführen wollten und zialdemokraten gegenüber Verabredungen treu; das ist
wir in der Regierungskoalition uns entschieden haben, keine Frage. Franz Müntefering hat nur den Endpunkt
das nicht zu tun. der Rente mit 67 vorgezogen und das im Januar 2006 an-
(Anton Schaaf [SPD]: Jetzt reicht’s aber!) gekündigt, was große Wellen geschlagen hat. Aber der
Sozialdemokratie die Urheberschaft für die Rente mit 67
Ich möchte, da meine Redezeit abgelaufen ist, nur in die Schuhe zu schieben, ist gänzlich falsch. Das ist der
noch einen Punkt ausführen, und zwar das Dritte, das wir erste Punkt.
tun müssen. Wir müssen in die Qualifikation der Älteren
investieren, um denjenigen, die jetzt am Arbeitsmarkt (Beifall bei der SPD)
noch weniger nachgefragt werden, eine Chance zu ge- Der zweite Punkt: Frühverrentung. Manchmal scheint
ben. es mir, dass Sie die Realitäten absolut verweigern wol-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len. Wenn wir uns die insgesamt in Anspruch genom-
(B)
NEN]: Sie kürzen doch bei den Arbeitsmarkt- mene Altersteilzeit anschauen, sehen wir, dass zwei (D)
instrumenten!) Drittel davon nicht geförderte Altersteilzeit war und nur
ein Drittel gesetzlich geförderte Altersteilzeit.
– Nein, Herr Kollege Kurth. Wissen Sie, was wir im
Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instru- Ich sage Ihnen, was der Unterschied ist. Die nicht ge-
mente gemacht haben? Das könnten Sie einmal würdi- förderte Altersteilzeit ist nach wie vor sozialverträgliche
gen. Arbeitsplatzvernichtung. Die geförderte Altersteilzeit
war daran gekoppelt, dass der Arbeitsplatz erhalten
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bleibt; bei dieser Geschichte ist „Jung für Alt“ herausge-
NEN]: Sie kürzen die Mittel!) kommen.
Wir haben die Förderung der Qualifikation beschäftigter (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Nicht rich-
Arbeitnehmer – ich nenne das einmal prophylaktische tig!)
Arbeitsmarktpolitik – endlich dauerhaft auf eine Rechts-
grundlage gestellt. Die nicht geförderte Altersteilzeit wird nur von großen
Betrieben genutzt. Die geförderte Altersteilzeit wurde
(Katja Mast [SPD]: Ohne Geld ist dauerhaft auch von kleinen und mittelständischen Betrieben ge-
nichts wert!) nutzt, die sie jetzt nicht mehr nutzen können. Was das
mit der Abschaffung der Anreize zur Frühverrentung zu
So sieht es aus. Programme wie WeGebAU, die wir alle tun hat, erschließt sich mir nicht. Denn zwei Drittel der
kennen, sind eben nicht mehr befristet, sondern gehören Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird, macht
dauerhaft zur Politik der Bundesagentur für Arbeit. Das die nicht geförderte Altersteilzeit aus. Diese findet näm-
ist der Paradigmenwechsel, den wir in der Arbeitsmarkt- lich immer noch statt.
politik eingeleitet haben. Daran sollten Sie konstruktiv
mitarbeiten, anstatt immer nur zu meckern, Frau Kolle-
gin Pothmer, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie möchten antworten, Herr Vogel?
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dauerhaft ohne Geld!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Klar! Er muss!
Das muss ja korrigiert werden! Das muss rich-
und sich an der Förderung der Frühverrentungspolitik tiggestellt werden!)
und der Rückabwicklung von Errungenschaften zu betei-
ligen. – Bitte schön.
12692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Ja, ich möchte gerne antworten. – Lieber Kollege der CDU/CSU)
Toni Schaaf, erst einmal Folgendes: Ich will die Union, Genau dieses Signal wollen wir nicht senden. Es wäre
unseren geschätzten Koalitionspartner, gar nicht aus der schön, wenn Sie zu einer vernünftigen Politik zurück-
positiven Verantwortung für die Rente mit 67 entlassen. kehren und uns dabei unterstützen würden.
(Lachen des Abg. Anton Schaaf [SPD]) Vielen Dank.
Dass da kein falscher Eindruck aufkommt: Ich finde es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sehr gut, dass unser geschätzter Koalitionspartner an die- der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]: Im Le-
ser richtigen Entscheidung mitgewirkt hat. ben nicht!)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Leider nicht
die FDP!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU-
– Ja, Kollege Straubinger. Die FDP sagt: Wir müssen Fraktion.
auch flexibilisieren. – Das bleibt richtig. Das müssen wir
noch gemeinsam machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lieber Toni Schaaf, der Punkt ist: Es wurde eben ganz Max Straubinger (CDU/CSU):
bewusst von Ihnen so dargestellt, als sei es die Koali- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
tionstreue gewesen, die die Sozialdemokratie geradezu Wir diskutieren fast jede Woche über die Rente mit 67
gezwungen habe, der Rente mit 67 unter Schmerzen zu- bzw. die Bewältigung der demografischen Herausforde-
zustimmen. rung. Ich muss feststellen, dass die linke Opposition in
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! So war es diesem Hause offensichtlich nicht dazulernen will.
aber nicht!) (Anton Schaaf [SPD]: Ach! Quatsch! – La-
Ich war damals nicht dabei; das wissen Sie. Aber als in- chen des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
teressierter Zeitungsleser hat sich mir in der letzten Le- LINKE])
gislaturperiode der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht Natürlich ist es richtig, nicht die Tatsachen auszublen-
der Fall war. Nach allem, was mir die Kollegen erzählt den, dass die Lebenserwartung steigt und die Bürgerin-
haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt. Sie sollten sich nen und Bürger in Deutschland bis zum Jahr 2029
nicht davonstehlen, durchschnittlich drei Jahre länger leben werden. Dies
(B) wird für all unsere sozialen Sicherungssysteme eine He- (D)
(Anton Schaaf [SPD]: Ach! Das macht ja
rausforderung darstellen. Die linke Seite dieses Hauses,
auch niemand! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
aber auch die SPD meint, dass man dieses Problem nicht
Müntefering war sogar die treibende Kraft!)
beachten muss. Die SPD möchte die richtige Entschei-
wenn es um positive Errungenschaften in diesem Land dung, die Rente mit 67 einzuführen, und zwar schritt-
geht, zu denen Sie einen Beitrag geleistet haben. Der weise bis zum Jahr 2029, beginnend ab dem Jahr 2012,
Punkt ist: Sie kneifen, statt zu dem zu stehen, was Sie die sie seinerzeit in unserer gemeinsamen politischen
Gutes erreicht haben. Arbeit mit herbeigeführt hat, aussetzen. Die Linksfrak-
tion möchte die Rente mit 67 sogar ganz abzuschaffen.
Nun zum Thema Altersteilzeit, lieber Toni Schaaf.
Mit der geförderten Altersteilzeit senden wir das Signal, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rich-
dass wir wollen, dass die Leute früher aus dem Erwerbs- tig!)
leben ausscheiden. Man hätte darüber diskutieren kön- Das kann nicht der richtige Weg zur Bewältigung der de-
nen, ob das gut ist, wenn es sich um wirkliche Altersteil- mografischen Herausforderung sein.
zeitmodelle handelt. Ich habe eben gesagt, dass ich die
Teilrente und Ähnliches für vernünftig halte; das wün- Die Linken lehnen die Rente mit 67 grundsätzlich ab,
sche ich mir. Wenn aber auf Kosten der Solidargemein- und die SPD rückt von ihren früheren Erkenntnissen ab.
schaft, der Beitragszahler, 90 Prozent derjenigen, die die Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den damaligen
geförderte Altersteilzeit in Anspruch genommen haben, Bundesarbeitsminister Franz Müntefering würdigen. Er
das Blockmodell nutzen und früher aus dem Erwerbsle- hat damals richtig gehandelt, auch gegen den Zeitgeist.
ben ausscheiden und wenn diejenigen, die das tun, nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
etwa die schwer arbeitenden Metall- und Chemiearbei-
ter, sondern vor allem Personen, die Bürotätigkeiten aus- Natürlich ist es für die Menschen angenehmer, früh in
üben, sind, Rente zu gehen und eine möglichst hohe Rente zu bezie-
hen. Das geht aber zulasten der Jungen in unserer Ge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So war es näm- sellschaft. Sie haben letztendlich die Lasten zu tragen,
lich!) was eine Überforderung der Jungen ist. Von den Jungen
hat aus der linken Fraktion heute keiner gesprochen,
dann kann ich nur sagen: Diese Politik ist gescheitert.
aber man kann das ja auch nicht erwarten.
Sie hat das falsche Signal an die Gesellschaft gesendet,
nämlich das Signal, dass die Menschen früher aus dem Die Union und die FDP haben den demografischen
Erwerbsleben ausscheiden sollen. Faktor aufgrund der demografischen Entwicklung schon
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12693
Max Straubinger
(A) 1997 in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (C)
Die SPD unter Lafontaine hat in ihrer Verblendung dann
einen Wahlkampf dagegen geführt und damit sicherlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
auch einige Prozentpunkte hinzugewonnen. Danach neten der FDP)
wurde dieser demografische Faktor, obwohl er richtig
war, wieder abgeschafft. Gerhard Schröder hat später be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
kannt, dass dies sein größter Fehler in der Rentenpolitik Frank Heinrich hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
war. Zumindest die SPD-Fraktion sollte sich heute vor das Wort.
Augen führen, dass es ein Fehler ist, richtige Entschei-
dungen entweder immer wieder hinauszuzögern oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wieder zurückzunehmen.
Der Kollege Ottmar Schreiner hat versucht, darauf Frank Heinrich (CDU/CSU):
hinzuweisen, dass die Voraussetzungen angeblich nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
gegeben sind, weil die Beschäftigungslage für die älte- Kollegen! Nach dieser Stunde des Austauschs der ver-
ren Bürger nicht ausreichend ist. Jetzt gebe ich auch auf- schiedensten Argumente möchte ich kurz drei der
grund der gestrigen Ausschusssitzung zu, dass es eine Schlagworte rekapitulieren, die ich mir aufgeschrieben
Herausforderung ist, 1 Million Menschen über 55 Jahre, habe.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über Es sind viele Zahlen genannt worden. Eine der Zahlen
50!) ist mir besonders in Erinnerung. Sie betrifft mich und
die arbeitslos gemeldet sind, wieder in Arbeit zu brin- viele von Ihnen, Sie oben auf den Tribünen betrifft sie
gen. wahrscheinlich überdurchschnittlich mehr. Es geht um
die gestiegene Lebenserwartung – dies kam in den Zah-
Gleichermaßen möchte ich in dieser Debatte aber len vor, die Herr Schiewerling am Anfang genannt hat –
durchaus auch auf die Entwicklung der Beschäftigung und um die noch steigende Lebenserwartung. In der Ber-
von Älteren hinweisen. Wir können anhand der Statistik liner Morgenpost hieß es gestern, die durchschnittliche
der Bundesagentur für Arbeit feststellen, dass im Juni Lebenserwartung der Berliner Bevölkerung werde in den
1999 gut 548 000 Menschen im Alter von 60 bis 65 Jah- nächsten 20 Jahren gegenüber heute weiter deutlich stei-
ren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- gen, bei Männern im Schnitt um 6,1 Jahre und bei den
gungsverhältnis waren. Diese Zahl ist angestiegen. Im Damen um 4,8 Jahre. Das heißt, wenn man diese Mathe-
Juni letzten Jahres vermerkten wir, dass fast 1 124 000 matik noch weiter fortsetzt wie vorhin, dann werden wir
Menschen zwischen 60 und 65 Jahren in einem sozial- noch stärker profitieren und die Lebenserwartung wird
(B) versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind. (D)
noch weiter steigen. Wir werden aber nicht in demselben
Das zeigt sehr deutlich die Verbesserung, die bei der Be-
Maße mehr arbeiten müssen, wie unsere Lebenserwar-
schäftigung von älteren Bürgerinnen und Bürgern in un-
serem Land eingetreten ist. tung steigt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das hat auch, wie es der letzte Redner angesprochen
neten der FDP) hat, mit Solidarität zu tun. Denn dann müssen wir als
Politiker dieses Landes selbstverständlich die gesamte
Herr Kollege Schreiner, dies wird in besonderer Breite darstellen statt nur diejenigen, die möglicherweise
Weise durch diese Zahlen der Beschäftigungsstatistik länger arbeiten müssen. Mein Jahrgang ist der erste, der
belegt. Sie haben beklagt, dass die Bundesregierung hier davon betroffen ist. Dann geht es um einen Querschnitt
einen richtigen Bericht abgegeben hat, der durch das Ge- aller, die in Deutschland davon betroffen sind, auch die
setz auch gefordert wird. Sehr deutlich zeigt sich die Jugend.
Steigerung der Beschäftigung Älterer in den Zahlen: Im
März 2007 waren fast 800 000 Ältere beschäftigt. Im Es ist generell eine sehr gute Nachricht, dass wir län-
März 2008 waren gut 847 000 Ältere in sozialversiche- ger leben werden, aber sie treibt möglicherweise die
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Im März Kosten oder trägt Herausforderungen an uns heran, die
2009 waren es knapp 959 000, und im März des letzten wir nicht nur auf die Schultern anderer verteilen dürfen.
Jahres waren es 1 078 877.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Das zeigt sehr deutlich: Die Beschäftigung der älteren der FDP)
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nimmt zu. Des-
halb ist es auch verantwortbar, die Rente mit 67 in Gang Ich zitiere aus dem Antrag der Linken:
zu setzen.
In Verbindung mit der gesetzlich festgeschriebenen
Absenkung des Rentenniveaus wird die Rente erst
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ab 67 zu einer Welle von Altersarmut führen.
Herr Straubinger.
Das ist eine Mathematik, die wir so nicht mittragen kön-
nen. Erstens wird es keine Absenkung des Rentenni-
Max Straubinger (CDU/CSU): veaus geben. Das ist vorhin zweimal widerlegt worden.
Wir werden das tun und deshalb Ihre Anträge, die
mehr dem Populismus anstatt der Sache dienen, ableh- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Absen-
nen. kung des Rentenniveaus steht im Gesetz!)
12694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Frank Heinrich
(A) Zweitens gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass es eine Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten (C)
Herausforderung ist und wir möglicherweise dadurch ei- Jahre hat einen deutlichen Anstieg der Erwerbstä-
nen Rückgang des Wohlstands befürchten müssen, dann tigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem stei-
müssen wir dagegen vorgehen, aber nicht nur bei denen, genden durchschnittlichen Rentenzugangsalter aus-
die dann im Ruhestand sind oder in den Ruhestand ge- drückt …
hen sollen. Diese Herausforderung ist eine Folge des de-
Das ist der Status quo. Jetzt haben wir 20 Jahre Zeit,
mografischen Wandels. Die Rente mit 67 ist eine Ant-
diese Linie im Koordinatensystem fortzuführen.
wort darauf. Es ist nicht die Ursache, wie Sie es be-
schreiben. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
geht ab 1. Januar los!)
Herr Kolb, Sie haben den Begriff Mentalitätswandel
eingeführt, den ich bemerkenswert finde. Ich erinnere Wenn meine Altersgruppe ungefähr dann in den Ruhe-
mich an den Ruck, der durch Deutschland gehen sollte. stand geht, werden wir dieses Problem gelöst haben.
Tatsächlich geht es um einen Ruck oder Mentalitätswan-
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
del aller Beteiligten statt nur eines Teil des Parlaments
oder derjenigen, die möglicherweise dafür oder dagegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind.
Damit kommen wir zu dem Begriff der Teilhabe, den Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
sowohl Sie, Herr Kolb, als auch Sie, Herr Strengmann- Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Kuhn, genannt haben. Der Begriff war auch Gegenstand Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Geset-
einer Fachtagung 2008 zum Thema „Behinderung und zes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
Alter: Gesellschaftliche Teilhabe 2030“. Das ist das und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und So-
Stichdatum, ab dem die ersten von uns volle zwei Jahre ziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
länger arbeiten sollen. Wenn wir uns, gesund und jung fehlung auf Drucksache 17/5298, den Gesetzentwurf der
geblieben, 2030 fragen würden, wie die gesellschaftliche Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3546 abzulehnen.
Teilhabe aussieht, zu welchen Ergebnissen würden wir Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
dann kommen? Diese Umfrage würde mich interessie- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
ren. Mir hat gestern eine Person auf diese Frage geant- Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
wortet: „Ich würde sagen, Rente mit 67 frühestens.“ ratung abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende
Fraktion. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Damit
Bei mir war dieser Tage eine Besuchergruppe zu entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Bera-
Gast. Eine Frau antwortete mir auf diese Frage: „Natür- tung.
(B) lich möchte ich gerne länger arbeiten.“ Natürlich ist da- (D)
mit die Herausforderung verbunden, die notwendigen Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
Arbeitsplätze zu organisieren. Das haben wir bereits ge- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
hört. dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rente
ab 67 vollständig zurücknehmen“. Der Ausschuss emp-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Quod fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
erat demonstrandum!) Drucksache 17/5298, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/2935 abzulehnen. Wer stimmt für die
Aber wir haben die nötige Zeit, um das zu arrangieren, Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
mit Flexibilität und verschiedensten Maßnahmen, die haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
nicht nur, aber auch von der Politik ausgehen müssen.
bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bünd-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nis 90/Die Grünen. Die Linke hat dagegen gestimmt.
neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
LINKE]: Wo sind denn die Arbeitsplätze?) empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Wir reden immer von Teilhabe, sowohl was Behinde- Drucksache 17/5297. Der Ausschuss empfiehlt unter
rung als auch Alter angeht. Dann muss auch die Teilhabe Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
an Beschäftigung und Arbeit möglich sein. Das wollen des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
wir einleiten. Das ist uns wichtig. Erwerbsarbeit ist auch 17/3995 mit dem Titel „Chancen für die Teilhabe am Ar-
sinngebend und erfüllend. Das ist also ein sozialer und beitsleben nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern –
ökonomischer Grund. Rentenzugang flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Ein dritter Begriff – damit komme ich zum Schluss – tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
ist der Fachkräftebedarf, der übrigens nicht nur jetzt be- Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
vorsteht und den Menschen Angst macht, sondern bis Grünen. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Die
2030 noch kulminieren wird. Das Know-how der Alten Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
ist nicht verzichtbar. Wir können als Gesellschaft nicht
auf diesen Zuwachs an Know-how verzichten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Ich möchte als Entgegnung zu Ihnen, Herr Schaaf und nen auf Drucksache 17/4046 mit dem Titel „Vorausset-
Herr Schreiner, aus einem weiteren Antrag von Ihnen zu zungen für die Rente mit 67 schaffen“. Wer stimmt für
diesem Thema zitieren: diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12695
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Eigentlich sollte es heute nur um technische Fragen (C)
men. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP, SPD und gehen: Wer ist für die Kontrolle zuständig? Wie hoch
Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sind Bußgelder und Strafen? Was hat ein inländischer
sich niemand. Arbeitgeber nachzuweisen? Welche Meldepflichten
muss ein ausländischer Verleihbetrieb erfüllen? Wie
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf: viele neue Planstellen müssen geschaffen werden? Ei-
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- gentlich geht es also um reine Verwaltungsfragen. Aber
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten darüber sprechen wir eigentlich doch nicht; denn Sie,
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des meine Damen und Herren von der Opposition, nutzen
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des die Gelegenheit einmal mehr, um eine Generaldebatte
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes über die Zeitarbeit vom Zaun zu brechen, gewürzt nach
Ihrem Lieblingsrezept: ganz viel Emotion, eine Prise
– Drucksache 17/5761 – Ideologie und bloß keine Fakten.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine prekäre Beschäfti-
– Drucksache 17/5960 – gung. Tatsache ist, jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem
normalen Arbeitsverhältnis. Auch wenn er beim Kunden
Berichterstattung: arbeitet, ist er doch beim Zeitarbeitsunternehmen sozial-
Abgeordnete Gitta Connemann versicherungspflichtig beschäftigt, in der Regel übrigens
unbefristet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, Kündigungs-
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
schutz, Anspruch auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Krankheitsfall. Nur die Arbeitsorte wechseln häufiger,
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetz- wie übrigens auch bei Fernfahrern, Bauarbeitern und
entwurfs, über den wir später namentlich abstimmen vielen anderen.
werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die ab- Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine Sackgasse. Tatsache
solute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforderlich ist, die Zeitarbeit war und ist gerade für die Schwächsten
ist. am Arbeitsmarkt eine Brücke in den Arbeitsmarkt. Zwei
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. – Drittel der neu eingestellten Zeitarbeitnehmer waren da-
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. vor arbeitslos. Rund 15 Prozent wechseln übrigens spä-
ter zu den Kunden, mit steigender Tendenz. Das ist jetzt
(B) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der auch von dem neuen Präsidenten des Bundesarbeitgeber- (D)
Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion. verbandes der Personaldienstleister beklagt worden, der
wie folgt zitiert wird:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir verlieren viele Mitarbeiter, weil sie von den
Kundenunternehmen … abgeworben werden.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent- Auch dies ist eine Tatsache. Drei Viertel der Übernom-
lich müssten wir heute über Verwaltungsfragen spre- menen wären übrigens ohne den vorherigen Einsatz in
chen; denn die Entscheidung über die Sache haben wir der Zeitarbeit nicht eingestellt worden.
bereits im März getroffen. Die christlich-liberale Koali- Sie behaupten, Stammbelegschaften würden durch
tion hat damals den Weg für eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeitnehmer ersetzt. Fakt ist, nur 2 Prozent der
Zeitarbeit geebnet. Leider wurden wir damals nicht von Kunden bauen Personal ab und stellen Zeitarbeiter ein.
der Opposition unterstützt. Ich bedauere das nach wie Das ist ein reines Randphänomen. Alle diese Zahlen sind
vor sehr. Aber durch unseren Beschluss kann die Bun- übrigens belegt, sei es durch die Bundesagentur für Ar-
desregierung jetzt eine Lohnuntergrenze einführen. Vo- beit, sei es durch das IAB, sei es durch Berichte der Bun-
raussetzung ist nur ein Antrag der Tarifpartner. desregierung. Sie hingegen, liebe Frau Müller-Gem-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- meke, ignorieren diese Tatsachen. Das ist Politik à la
neten der FDP) Vogel Strauß: ab mit dem Kopf in den Sand, nur nichts
hören, nur nichts sehen.
Dann gilt übrigens ein tariflicher Mindestlohn für die ge-
samte Branche. Es wird zukünftig nicht mehr darauf an- Wenn Sie keinen Sand in den Augen hätten, hätten
kommen, ob der Betrieb seinen Sitz im Ausland oder im Sie die brandneue Studie der IW Consult lesen können
Inland hat, ob es sich um Verleihzeiten oder um verleih- und müssen. Darin wird der Zeitarbeit eines bescheinigt:
freie Zeiten handelt oder welchem Arbeitgeberverband Sie ist der Treiber für Flexibilität und Wachstum am Ar-
der Betrieb bzw. welcher Gewerkschaft der Arbeitneh- beitsmarkt und für die Wirtschaft. Die Zeitarbeiter waren
mer angehört. Nein, es gilt dann ein tariflicher Mindest- und sind eine Stütze des Aufschwungs. Obwohl weniger
lohn für alle. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. als 3 Prozent in der Branche arbeiten, erwirtschafteten
sie 15 Prozent des Wirtschaftswachstums, also überpro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta portional viel. Darüber hinaus retteten sie Stammbeleg-
Krellmann [DIE LINKE]: Es gibt zwei, Ost schaften; denn die Kunden konnten durch Stornierung
und West!) von Aufträgen an Zeitarbeitsunternehmen kurzfristig auf
12696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Gitta Connemann
(A) Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, wo es wieder auf- rauf zu reagieren. Wenn sie nicht reagieren, sind wir (C)
wärtsgeht, ist die Kernmannschaft noch da, und Auf- gefordert, übrigens deshalb gefordert, weil seinerzeit
tragsspitzen können wieder abgefedert werden. Deswe- Rot-Grün durch die damalige unbegrenzte Öffnung der
gen kommt die Studie auch zu dem Ergebnis – ich zitiere Höchstüberlassungsdauer genau diese Schein-Zeitarbeit
und bitte, zuzuhören –: erst provoziert hat. Es war Rot-Grün – ich betone das –
im Rahmen der Hartz-III-Gesetzgebung.
Die Zeitarbeit hat den Unternehmen geholfen, die
Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Massenentlas-
sungen zu meistern, und hat die für den nachfolgen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
den Aufschwung benötigten Personalressourcen Frau Connemann.
schnell bereitgestellt. Die Krise hätte ohne Zeitar-
beit wahrscheinlich schwerwiegendere Folgen für Gitta Connemann (CDU/CSU):
die deutsche Wirtschaft gehabt und länger angedau- Meine Damen und Herren von der Opposition, vor
ert. diesem Hintergrund können Sie natürlich noch weiter
den Kopf in den Sand stecken. Sie können sich aber auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
endlich die Augen reiben, handeln und unserem Gesetz-
Weiter heißt es: entwurf zustimmen. Dafür wären wir Ihnen sehr dank-
bar.
Gerade diejenigen Unternehmen, die den Auf-
schwung tragen, sind besonders stark auf die … Vielen Dank.
Zeitarbeit angewiesen. … Damit stärken die Unter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nehmen, die Zeitarbeit einsetzen, nachhaltig die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Damit steht fest – durch Studien belegt –: Gemeinsam Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
mit der Kurzarbeit hat erst die Zeitarbeit das deutsche tion.
Wunder am Arbeitsmarkt in der Krise möglich gemacht.
Bestätigt wird diese Wirkung auch durch die Bundes- (Beifall bei der SPD)
agentur für Arbeit. Nach den neuesten Zahlen sorgt die
Zeitarbeitsbranche derzeit für etwa jede dritte neue Anette Kramme (SPD):
Stelle am Arbeitsmarkt. Es stimmt also: Treiber für den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeitsmarkt. Deshalb war es mehr als gerecht, dass wir Frau Connemann, ich frage mich: In welchem Sonnen-
als Gesetzgeber uns der Branche besonders intensiv wid- system bewegen Sie sich? Sind Sie überhaupt in der
(B) meten. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, Milchstraße? (D)
schwarzen Schafen wie Schlecker das Handwerk zu le-
gen, übrigens wir in der christlich-liberalen Koalition. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Wir haben die EU-Zeitarbeitsrichtlinie in deutsches bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Recht umgesetzt, wir in der christlich-liberalen Koali- GRÜNEN)
tion. Wir haben den Weg für eine Lohnuntergrenze geeb- Auf jeden Fall befinden Sie sich nicht auf dem Boden
net. So sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Lohn- der Realität der Bundesrepublik Deutschland.
dumping aus dem Ausland gewappnet.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieso?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Frau Connemann, Sie sagen, Sie hätten die EU-Zeit-
Wir bereiten weitere Anträge vor. Wir wollen die Be- arbeitsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt. Hören
zeichnung „Leiharbeit“ ersetzen; denn damit werden die Sie sich Professor Düwell an! Er sagt: Das ist eindeutig
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich nicht der Fall. Sie hätten beispielsweise eine eindeutige
hart arbeiten, diskriminiert. Kein Begriff eignet sich we- Begrenzung bei der Dauer der Leiharbeit vornehmen
niger für die Beschreibung der Zeitarbeit; müssen. Das ist aber nicht geschehen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mietarbeit! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Meinung
Leihe ist unentgeltlich!) von einem!)
denn Leihe ist Überlassung von Sachen, Zeitarbeitneh- Sie heben die Arbeitsmarktfunktion der Leiharbeit
mer sind aber keine Sachen, sondern Menschen, die tag- hervor. Sie müssten an sich auch die Untersuchung des
täglich hart arbeiten. IAB kennen, in der es heißt, dass die Leiharbeit allen-
falls ein schmaler Steg in Arbeit ist.
Wir müssen auch auf ein aktuelles Urteil des Bundes-
arbeitsgerichts reagieren und das Arbeitnehmer-Entsen- Aber wir diskutieren heute über etwas anderes. Es
degesetz um eine Klausel für die Zeitarbeit ergänzen. gibt drei Kategorien von Gesetzentwürfen. Bei der ers-
Dort, wo ein allgemein verbindlicher Branchenmindest- ten Kategorie kann man sagen: Diese Gesetze sind groß-
lohn gilt, soll er auch für die Zeitarbeit gelten. artig. Es gibt eine Kategorie zwei. Da sagt man: besser
als nichts. Dann gibt es eine Kategorie drei. Da kann
Wir werden weiter dafür sorgen, dass die klassische
man nur sagen: einfach Humbug.
Zeitarbeit zukünftig nicht mehr durch Umgehung diskre-
ditiert wird. Wir haben diese Aufgabe den Tarifvertrags- Wir diskutieren heute wieder über Verbesserungen für
parteien ins Stammbuch geschrieben. Sie haben Zeit, da- Leiharbeitnehmer. Konkret geht es darum, Sanktions-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12697
Anette Kramme
(A) und Kontrollmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Ent- merinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland (C)
sendegesetz auch für die Leiharbeit tauglich zu machen. klagen und vollstrecken können?
Sie halten sich dabei – das müssen wir Ihnen zugestehen –
an die Verabredungen, die im Rahmen der Regelsatzver- (Beifall bei der SPD)
handlungen getroffen worden sind. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben einen
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Das ist ja weiteren Ansatzpunkt: Wir werden mehr ausländische
nicht unwesentlich!) Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in der
Bundesrepublik Deutschland haben. In Berlin gibt es
Aber Sie nehmen nur eine Umsetzung eins zu eins vor. eine Beratungsstelle, die uns im Übrigen in der Sachver-
Kein Jota mehr! ständigenanhörung Schauerliches berichtet hat. An sich
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das mit ist es doch legitim und in höchstem Maße nachvollzieh-
Verabredungen, Frau Kramme! – Gegenruf der bar, dass wir Menschen, die keine Kenntnisse vom deut-
Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ schen Rechtssystem haben, mit einer Beratung zur Ver-
DIE GRÜNEN]: Sie können auch mal selber fügung stehen. Auch da tut sich leider überhaupt nichts.
denken!) Ein zusätzliches Problem, liebe Kollegen und Kolle-
Es ist das absolute Minimum, was Sie uns hier vorlegen. ginnen, ist in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ange-
legt. Ich will nicht sagen, dass die Finanzkontrolle
Dabei gibt es Besonderheiten in der Leiharbeit, zumal Schwarzarbeit schlecht arbeitet. Im Gegenteil: Wir sind
die Leiharbeit jetzt grenzüberschreitend stattfindet. Da- angetan von dem, was dort in den letzten Jahren bewirkt
bei wissen wir: Leiharbeit ist Leidarbeit. Drei Viertel al- worden ist. Dort sind 6 500 Mitarbeiter und Mitarbeite-
ler Leiharbeitnehmer arbeiten unter der Niedriglohn- rinnen tätig.
schwelle. 60 Prozent der Leiharbeitnehmer haben eine
schlechtere Bezahlung als Stammarbeitnehmer auf exakt Aber wir müssen auch eines sehen: Wir haben dieser
dem gleichen Arbeitsplatz. Jeder achte Leiharbeitneh- Behörde dadurch immense zusätzliche Aufgaben über-
mer erhält Aufstockungsleistungen nach dem SGB II. tragen, dass es immer mehr Mindestlöhne in der Bundes-
republik Deutschland gibt. Allein wegen der Leiharbeit
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: 7 Prozent!) werden 900 000 Arbeitsverhältnisse zusätzlich über-
Natürlich begrüßen wir, dass es jetzt endlich zu einer wacht werden müssen. Angesichts dessen sage ich Ih-
Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nen, meine Damen und Herren von der Union: Es ist
kommt, wobei wir natürlich hoffen, dass es etwas mehr schäbig, dort in den nächsten zwei Jahren lediglich eine
Engagement der Arbeitsministerin gibt, damit diese Personalaufstockung von 100 Planstellen vorzunehmen.
(B) Lohnuntergrenze tatsächlich schnell greifen kann. Dies nützt nichts, wird aber dazu führen, dass Lohndum- (D)
ping keine Schranken gesetzt wird und dass es tatsäch-
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau! Haben lich stattfinden wird. Die IG BAU hat gesagt, dass wir
wir nämlich noch gar nicht!) tatsächlich etwa 4 800 zusätzliche Stellen brauchen, um
Selbstverständlich begrüßen wir, dass es Meldepflichten effektiv zu kontrollieren. Bereinigen wir das und sagen
für Entleiher gibt, die Leiharbeiter von ausländischen wir, dass eine ordentliche Portion dazukommen muss;
Verleihern beschäftigen. Wir sind natürlich auch dankbar dann werden wir stärker sein.
dafür, dass es Kontroll- und Sanktionsmechanismen (Beifall bei der SPD)
gibt. Aber es bleiben einige problematische Fallkonstel-
lationen. Ihrerseits ist leider nicht klar geregelt worden, was
geschieht, wenn ein Leiharbeitnehmer mit der neuen
Nehmen wir Folgendes an: Eine ausländische Leihar- Lohnuntergrenze in einem Betrieb arbeitet, für den ein
beitsfirma kommt in die Bundesrepublik Deutschland. anderer Mindestlohn gilt. Es wäre so einfach gewesen,
Das ist genau der Fall, für den wir jetzt – so Ihre Auffas- dafür eine Regelung in den Gesetzentwurf aufzunehmen,
sung – die Lohnuntergrenze gebildet haben. Die Finanz- die besagt, der Leiharbeitnehmer bekomme im Zweifel
kontrolle Schwarzarbeit stellt fest, dass der Mindestlohn den höheren Mindestlohn. Aber auch das ist Ihrerseits
dort nicht gezahlt wird. Es ist gut und richtig, dass diese unterblieben.
ausländische Leiharbeitsfirma ohne Weiteres eins auf
den Deckel bekommen wird. Aber der Mindestlohn für Liebe Kollegen und Kolleginnen, im Endergebnis
den individuellen Leiharbeitnehmer ist damit noch lange werden wir die Probleme in der Leiharbeit nur dann lö-
nicht durchgesetzt. Vielmehr muss der Mindestlohnan- sen, wenn einige essenzielle Sachen geregelt werden.
spruch im Ausland vollstreckt werden. Dazu gehört, dass wir endlich die gleiche Bezahlung für
die gleiche Arbeit durchsetzen. Anderenfalls werden
Nach dem, was wir bei den Prozessen gegen die Tarif- weiterhin sinnvolle Stammarbeitsplätze vernichtet und
gemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit in die Leiharbeit abgedrängt. Sie werden damit bewir-
festgestellt haben, bin ich mir ganz sicher: Es wird ins- ken, dass der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik
gesamt nicht sehr viele Prozesse geben; es wird eine weiter wächst – mit verheerenden volkswirtschaftlichen
Reihe von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerin- Folgen für die Zukunft.
nen geben, die leer ausgehen werden. Angesichts dessen
frage ich Sie: Warum haben Sie nicht ähnlich wie bei ei- Des Weiteren ist es sinnvoll, dass Leiharbeitsverhält-
nem anderen Rechtsgedanken eine Entleiherhaftung ein- nisse nicht mehr befristet durchgeführt werden können.
geführt, sodass die Leiharbeitnehmer und Leiharbeitneh- Ihre, die vorherige Regierung in Nordrhein-Westfalen
12698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Anette Kramme
(A) hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem festgestellt Kollegin Kramme, ich muss Ihnen sagen: Die Befürch- (C)
worden ist, dass eine Synchronisierung zwischen Ar- tung, am Ende einer Entwicklung würden alle Arbeits-
beitsverhältnissen und Auftragsdauer stattfindet. Das verhältnisse in deutschen Landen nur noch Zeitarbeits-
kann und darf in der Leiharbeit nicht sein. verhältnisse sein, ist wirklich unbegründet.
Ein allerletzter Punkt. Die Betriebsräte in den Entlei- Das können Sie auch aktuell sehen, wenn Sie sich ein-
herbetrieben brauchen endlich mehr Mitbestimmungs- mal anschauen, was im Bereich der Zeitarbeit passiert.
rechte. Betriebsräte müssen mit darüber entscheiden Da stellt man fest: Es gibt Grenzen des Wachstums. Die
können, ob Leiharbeiter im Betrieb sind, wie lange sie Zeitarbeitsbranche klagt plötzlich darüber, dass sie keine
im Betrieb sind, in welchen Abteilungen sie dort tätig Arbeitnehmer mehr findet. Warum ist das im zweiten
sind und welche Tätigkeiten sie dort konkret ausführen. Jahr eines mittlerweile erfreulicherweise länger andau-
Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden ernden Aufschwungs so? Weil die Unternehmen selbst
sich noch ein ganzes Stück bewegen müssen, damit die wieder Perspektiven sehen, weil sie in der Lage sind, in
Probleme der Leiharbeit, einem prekären Arbeitsverhält- der eigenen Stammbelegschaft neue Stellen zu begrün-
nis, gelöst werden. In diesem Sinne: Strengen Sie sich den, und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
an! die vorher in der Krise über eine Zeitarbeit versucht ha-
ben, die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu schaffen, jetzt
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Wahl haben. Sie können wieder zu denjenigen Unter-
der LINKEN) nehmen gehen, die vorher Zielunternehmen der Zeitar-
beit gewesen sind. Beim konjunkturellen Auf und Ab
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird es immer Phasen geben, in denen die Zeitarbeit be-
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für sondere Bedeutung hat, und andere Phasen, in denen die
die FDP-Fraktion. Beschäftigung in den Zieleinsatzbranchen Oberhand ge-
winnt. Ihre Sorgen sind also vollkommen unbegründet;
(Beifall bei der FDP) das sage ich hier deutlich.
(Beifall bei der FDP)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben seit Beginn dieser Regierungskoalition
Liebe Kollegin Kramme, es ist schade, dass Sie sehr oft, konsequent daran gearbeitet, dass Zeitarbeit auf der ei-
wenn Sie an dieses Rednerpult gehen, über das nörgeln nen Seite möglich ist, dass aber auf der anderen Seite
müssen, was die Regierungskoalition macht. Heute hät- Grenzüberschreitungen verhindert werden und wirksam
ten Sie Grund gehabt, uns zu loben; das kann ich hier bekämpft werden können.
(B) nicht anders sagen. Den drei Kategorien, die Sie genannt (D)
haben, müssten Sie eine vierte hinzufügen, nämlich die (Stephan Thomae [FDP]: So ist es!)
der Notwendigkeit eines Gesetzes. Das heute zu verab- Das war auch beim Fall Schlecker so. Dieser Fall war
schiedende Gesetz ist notwendig, damit wir die Verabre- der Auslöser dafür, dass wir die erste Änderung des Ar-
dungen umsetzen können, die wir mit Ihnen getroffen beitnehmerüberlassungsgesetzes auf den Weg gebracht
haben. haben. Wir haben dann nachgehalten und auf aktuelle
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Entwicklungen reagiert. Zeitweise wurden die Beratun-
CDU/CSU) gen zu diesem Gesetz durch die Verhandlungen im Ver-
mittlungsausschuss überlagert. Aber am Ende ist meines
Natürlich können Sie jetzt hier Krokodilstränen wei- Erachtens etwas herausgekommen, mit dem man sehr
nen und sagen, dass sei nur die Eins-zu-eins-Umsetzung zufrieden sein kann.
einer Verabredung. Für mich ist es schon wichtig, dass
man, wenn man etwas verabredet, wenn man sein Wort Wir haben zugestimmt – auch das bitte ich Sie einmal
gibt, dies hinterher eins zu eins umsetzt. anzuerkennen –, dass es eine Lohnuntergrenze in der
Zeitarbeit geben wird. Ob und in welchem Umfang sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) notwendig sein wird, muss man abwarten. Wir haben
Das ist wichtig für die Verlässlichkeit, für das Vertrauen gestern mit Herrn Weise darüber diskutiert. Er meinte, es
bei der Zusammenarbeit in der Politik, und zwar über die sei für eine Antwort noch ein bisschen zu früh. In der
Grenzen zwischen Regierungskoalition und Opposition Tendenz kann man feststellen: Ganz so groß wird der
hinweg. Das, was wir heute machen, ist also gut und not- Ansturm aus Osteuropa nicht sein, wie es manche mit
wendig. Diese Debatte ist vielleicht sachlicher als an- Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt angekündigt hat-
dere. Sie haben trotzdem versucht, ein paar Punkte auf- ten. Das alles wird man sehen.
zuzeigen, über die wir uns hier streiten können und
Heute werden Kontrollinstrumente in das AÜG ein-
sollen.
gebaut, damit die Verabredungen hinsichtlich der Lohn-
Nachdem die Kollegin Connemann Funktion und Be- untergrenze wirksam kontrolliert werden können. Ich
deutung der Zeitarbeit hier wirklich eindrucksvoll be- muss Ihnen sagen: Alles das halte ich für sinnvoll. Es ist
schrieben hat, will ich noch einmal sagen: Auch wir be- eine geordnete Entwicklung, die wir mit dem Ziel betrei-
kennen uns zu dem Instrument der Zeitarbeit. Auch nach ben, Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument Nummer eins
der Krise gilt: Keine andere Branche hat so viele Ar- oder vielleicht Nummer zwei – darüber kann man strei-
beitsplätze geschaffen wie die Zeitarbeitsbranche. Frau ten – neben der befristeten Beschäftigung für die Unter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12699
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) nehmen in Deutschland zu erhalten. Das wird für uns (Beifall bei der LINKEN) (C)
auch künftig wichtig sein.
Sie haben das Thema Equal Pay angesprochen. Ja- Jutta Krellmann (DIE LINKE):
wohl, das haben wir früh thematisiert, auch als FDP. Ich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
bin gespannt, wie die Unternehmen jetzt mit dem Auf- und Herren! Frau Connemann, wenn es Ihnen so wichtig
trag umgehen, den wir ihnen gegeben haben. Wir haben ist, wie etwas bezeichnet wird, dann möchte ich vor-
es ja in den Wochen, fast Monaten, in denen wir im Ver- schlagen, um zu einer präziseren Sprachregelung zu
mittlungsausschuss verhandelt haben, erlebt, wie die Un- kommen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einfach
ternehmen und hier vor allen Dingen die Zeitarbeitsbran- in Arbeitnehmermietgesetz umzubenennen und Leihar-
che immer wieder gesagt haben: Lasst uns das machen. beitnehmer nicht mehr Leiharbeitnehmer, sondern Miet-
Wir können das viel besser als ihr. – Jetzt sind umge- arbeitnehmer zu nennen. Damit hätten wir präzise Be-
kehrt die Unternehmerinnen und Unternehmer der Zeit- grifflichkeiten.
arbeitsbranche am Zuge. Jetzt wollen wir eine Lösung in (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
Form von Zeitkorridoren oder Ähnlichem sehen, wie der langen] [CDU/CSU]: Haben Sie noch mehr so
Lohn der Zeitarbeitnehmer hin zu Equal Pay entwickelt geistreiche Vorschläge?)
wird. Wir sind da gespannt und werden uns überraschen
lassen. Ansonsten ist zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf
nichts anderes ist als die zweite Beerdigung des Gleich-
Ich will noch sagen: Wir haben – auch das ist nicht heitsgrundsatzes bei der Entlohnung von Leiharbeitneh-
ganz unwesentlich – eine Verlängerung der Frist für die mern. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist jetzt gesetz-
Antragstellung für Hilfen aus dem Bildungspaket mit in lich passé. Leiharbeitnehmer können jetzt nur noch auf
dieses Paket aufgenommen. Wir unterstützen diesen ihre Gewerkschaften hoffen. Gesetzlichen Schutz und
Schritt nachdrücklich. Wir sind der festen Überzeugung, staatliche Unterstützung bekommen sie nicht. Ich habe
die Bildungschancen von Kindern sollten nicht an Fristen heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass meine Ge-
scheitern. Nachdem in der Arbeitsgruppe des Vermitt- werkschaft, die IG Metall, den Arbeitgebern ein Ultima-
lungsausschusses der Wunsch geäußert wurde – übrigens tum mit dem Ziel gestellt hat, endlich darüber zu verhan-
auch von der A-Seite und den kommunalen Spitzenver- deln, wie Lohnverbesserungen bei Zeitarbeitnehmern
bänden –, dass man die Kommunen das Ganze machen erreicht werden können. Ich persönlich bin stolz auf
lassen soll, haben wir ihnen das ermöglicht. So wird jetzt meine Gewerkschaft; denn sie ist wenigstens weiterhin
verfahren. an dem Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ dran.
Wir stellen fest, dass dieser Prozess ein wenig länger Genau das tut diese Bundesregierung nicht.
(B) dauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn das die BA (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate (D)
selbst gemacht hätte. Wir reagieren flexibel auf diesen Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Umstand und sind bereit, die entsprechenden Fristen zu NEN])
verlängern. Wichtig ist, dass am Ende jungen Menschen
aus Hartz-IV-Familien Bildungschancen eröffnet wer- Diese Bundesregierung weiß meines Erachtens über-
den. Auch das wollten wir ja mit dieser Reform errei- haupt nicht, was Gleichheit und Gerechtigkeit im Be-
chen. Wir wollen nämlich keine Verfestigung von trieb bedeuten. Eine dunkle Ahnung, was es vielleicht
Hartz IV, sondern wir wollen dafür sorgen, dass solche bedeuten könnte, bekommt man, wenn man sich vor Au-
Kreisläufe durchbrochen werden, dass junge Menschen gen führt, was im Rahmen der Diskussion über Equal
sich qualifizieren können und die gleichen Chancen ha- Pay am Equal-Pay-Tag gemacht wurde: Die Unterschrif-
ben, unabhängig von dem Haushalt, in den sie hineinge- tenlisten wurden ja gestern offiziell übergeben.
boren werden. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir In diesem Zusammenhang fragt man sich zunächst
auch diesen Punkt in das Gesetz aufgenommen. einmal, wieso die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
beitgeberverbände und der Verband deutscher Unterneh-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: merinnen hier als Mitunterstützer auftreten. Wer hat die
Herr Kollege. Mitglieder dieser Verbände gehindert, in ihren Betrieben
gleichen Lohn für Frauen bei gleicher Arbeit einzufüh-
ren? Wieso brauchen Arbeitgeber noch eine extra Auf-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): forderung? Sie können das doch einfach machen.
Insgesamt, Frau Kollegin Kramme, handelt es sich
um ein notwendiges, aber auch um ein gutes Gesetz. Sie (Beifall bei der LINKEN)
sollten zustimmen. Dafür werbe ich bei Ihnen. Die zweite Frage ist: Warum verabschieden wir in
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Deutschland Gleichstellungsgesetze und regeln gleich-
zeitig die Ungleichheit in allen anderen Fällen? Frauen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verdienen 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kol-
der CDU/CSU) legen. Leiharbeitnehmer verdienen bis zu 50 Prozent
weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Min-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: destlohn in der Leiharbeit beträgt im Westen 7,79 Euro
und im Osten 6,89 Euro. Das ist nicht akzeptabel.
Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
12700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Jutta Krellmann
(A) Wir diskutieren nachher über die Angleichung der Ren- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
ten in Ost und West. Sie zementieren in Ihrem Gesetz- NEN):
entwurf die Ungleichheit bei den Leiharbeitern. Ich habe Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
den Eindruck, Sie haben nicht wahrgenommen, was in nen und Kollegen! Kollegin Connemann, im Gegensatz
den Tarifverträgen steht. Diese Ungerechtigkeit wird zu Ihnen werde ich jetzt zu dem Gesetzentwurf reden.
nämlich auf Ihre Initiative hin per Gesetz festgeschrie- Wir begrüßen, dass die Kontrolle der Lohnunter-
ben. grenze in der Leiharbeitsbranche bei den Behörden der
Zollverwaltung angesiedelt wird. Das gewährleistet,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass die Lohnuntergrenze effektiv und vor allem profes-
sionell kontrolliert wird – zumindest theoretisch. Die Fi-
Die Kolleginnen und Kollegen könnten möglicher-
nanzkontrolle Schwarzarbeit muss aber immer mehr
weise wahrnehmen, dass wir jetzt inmitten der Debatte
Mindestlöhne kontrollieren, und auch die Zahl der Leih-
sind, und sie könnten ihre Nebengespräche vielleicht auf arbeitskräfte ist wesentlich höher als im Gesetzentwurf
später verschieben. angegeben. Wir fordern eine realistische Personalaufsto-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ckung, damit die Theorie auch zur Praxis wird.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn man den Schutz der Beschäftigten wirklich ernst
Jutta Krellmann (DIE LINKE): nimmt, dann erkennt man: Wirkungsvolle Kontrollen der
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe mich schon Lohnuntergrenze sind spätestens seit der Einführung der
immer gefragt, wie es ist, wenn man vor einer namentli- Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Lappalie, sondern ele-
chen Abstimmung spricht und das Gefühl hat, es interes- mentar wichtig.
siert niemanden. Überhaupt nicht einverstanden sind wir aber mit der
Ausgestaltung der Kontrollen hinsichtlich der sogenann-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jetzt ha-
ten Drehtürklausel. Nach dem großen Schlecker-Skandal
ben Sie wieder eine halbe Minute verloren!) haben Sie, die Regierungsfraktionen, mit großem media-
Zurück zum Thema Ungleichbehandlung von Men- len Aufwand diese Drehtürklausel auf den Weg ge-
schen im Betrieb. Ich rechne einmal hoch, was die Ent- bracht. Wenigstens die Leiharbeitskräfte, die zuvor beim
Entleihbetrieb regulär angestellt waren, sollen nun Equal
lohnung nach Tarif bedeutet: Ein Leiharbeitnehmer im
Pay erhalten. Das ist eh schon eine dürftige Regulierung.
Westen verdient nach Ihrem Vorschlag für einen Min-
(B) destlohn 1 181 Euro brutto, und ein Leiharbeitnehmer im Umso wichtiger wären wirkungsvolle Kontrollen. (D)
Osten verdient 1 045 Euro brutto. Angesichts dieser Zahl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ist die Gefahr groß, zum Aufstocker zu werden. Von die-
Mit diesem Gesetzentwurf übertragen Sie die Kon-
sem Einkommen auf nahezu Sozialhilfeniveau kann man trolle auf die Bundesagentur für Arbeit und eben nicht
nicht leben. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel. auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wie übrigens von
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der BA selbst angeregt wurde. Damit bleibt die Rege-
lung in der Praxis ein zahnloser Tiger. Die Bundesagen-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tur für Arbeit ist nicht gerade für besonders wirkungs-
Dieser Ungleichheit per Gesetz können wir im volle Kontrollen bekannt. Sie kann nicht gezielt
Grunde genommen nicht zustimmen. Wir als Linke wer- kontrollieren; es fehlen ihr auch Ermittlungsbefugnisse.
den uns in der namentlichen Abstimmung enthalten. Wir Anders sieht es bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
werden also nicht gegen Mindestlöhne stimmen; denn aus, die jederzeit Betriebsstätten betreten darf und auch
sie schützen in der Tat deutsche Arbeitnehmer und eben- Personen befragen kann. Der Schutz von Leiharbeits-
kräften und echte Regulierungsbemühungen sehen also
falls die Arbeitgeber in der Leiharbeit vor ausländischer
anders aus.
Unterbietungskonkurrenz. Die Linke steht aber weiter-
hin zu dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wo wir können, werden wir Gewerkschaften und andere sowie bei Abgeordneten der SPD)
in ihren Forderungen nach einer gleichen Entlohnung Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit einen
unterstützen. Zielkonflikt. Einerseits soll sie die Leiharbeit kontrollie-
(Beifall bei der LINKEN) ren. Andererseits ist sie wegen ihrer Vermittlungstätig-
keit auf ein gutes Verhältnis zu den Leiharbeitsunterneh-
men angewiesen. Das widerspricht sich. Wir finden das
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: äußerst problematisch.
Ich bitte noch einmal, der Freude über die bevorste- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
hende namentliche Abstimmung etwas stiller Ausdruck DIE GRÜNEN)
zu verleihen, als das bisher der Fall ist.
Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, dass
Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/ alle Kontrollen auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
Die Grünen. übertragen werden. Unter dem Strich werden durch den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12701
Beate Müller-Gemmeke
(A) Gesetzentwurf an manchen Stellen effektive Kontrollen (Katja Mast [SPD]: Neun Monate!) (C)
verhindert. Deswegen werden wir uns bei der Abstim-
mung enthalten. Wir werden die Entwicklungen ein Jahr lang beobach-
ten. Dann werden wir sehen, ob die Tarifvertragsparteien
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ zu einer Lösung kommen oder ob wir selber etwas tun
DIE GRÜNEN) müssen.
Ich vermute, dass die Regierungsfraktionen die Re- (Katja Mast [SPD]: Neun Monate haben Sie
form der Leiharbeit mit der heutigen Abstimmung als vorgeschlagen! – Gegenruf des Abg. Karl
abgeschlossen ansehen. Ich kann nur sagen: Sie, die Re- Schiewerling [CDU/CSU]: Das prüfen wir
gierungsfraktionen, haben sich lediglich von der öffentli- noch! – Gegenruf der Abg. Katja Mast [SPD]:
chen Empörung über den Schlecker-Skandal treiben las- Nein, du weißt genau, dass es stimmt!)
sen und kosmetische Korrekturen vorgenommen. Das
Ergebnis der sogenannten Reform ist deshalb halbherzig Heute, rund 14 Tage nach der ersten Beratung, befas-
und reicht bei weitem nicht aus. sen wir uns abschließend mit dem Gesetz zur Änderung
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarz-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeitsbekämpfungsgesetzes. Darin wird deutlich, dass
sowie bei Abgeordneten der SPD) unsere Politik, die Politik der christlich-liberalen Koali-
Wir Grüne bleiben nicht wie Sie auf halbem Wege tion, keine Politik der leeren Worte ist. Wir halten unser
stehen. Die Lohnuntergrenze ist uns zu wenig; denn ver- Wort. Wir setzen unsere Versprechen zügig um und han-
bessert wird nicht die Situation der Leiharbeitskräfte. deln dort, wo Handlungsbedarf besteht.
Wir fordern weiterhin gleichen Lohn für gleiche Arbeit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
einen Bonus in Höhe von 10 Prozent, die Wiedereinfüh- der FDP)
rung des Synchronisationsverbotes und mehr Rechte für
Betriebsräte. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden Ich möchte ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir
nicht lockerlassen; denn Leiharbeitskräfte haben ein im Bereich der Leiharbeit allein im Jahr 2011 über die
Recht auf faire Entlohnung und ein Mindestmaß an Si- Drehtürklausel, über die Einführung eines Mindestlohns
cherheit. und nunmehr mit dem heutigen Gesetz über die Überwa-
chung der Einhaltung des Mindestlohnes auch in der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leiharbeit richtige Gesetze, Arbeitnehmerschutzgesetze,
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- verabschiedet haben.
KEN)
Gerade habe ich mir meine Stimmkarten abgeholt. Ich
(B) Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die habe mir zwei blaue Karten geholt. Bei den Grünen sehe (D)
Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbes- ich ein paar weiße Karten. Im linken Block des Hauses
sern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert sehe ich etliche rote Karten. Liebe Kolleginnen und Kol-
sich grüne Politik. legen, die Sie immer die Arbeitnehmerrechte – völlig zu
Vielen Dank. Recht – hochhalten: Noch ist es Zeit, Ihre Karten zu tau-
schen. Gehen Sie an die Fächer! Holen Sie sich blaue
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Karten, wenn es Ihnen mit dem Arbeitnehmerschutz
ernst ist.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Kollege Paul Lehrieder spricht für die CDU/
CSU-Fraktion. Durch die Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jah-
res – vor nunmehr gut drei Wochen – bestand im Bereich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Leiharbeit Handlungsbedarf. Gerade in dieser Bran-
neten der FDP)
che galt es, Lohndumping zu verhindern. Deshalb haben
Einige Kollegen werden der Rede im Stehen folgen. wir am 24. März dieses Jahres auch einen branchenspe-
Das wird bestimmt eine Besonderheit sein. zifischen Mindestlohn für die Zeitarbeit eingeführt und
werden heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
Paul Lehrieder (CDU/CSU): einen wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanis-
mus stimmen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Schluss Die erwartete Einwanderungswelle europäischer Ar-
Ihrer Rede haben Sie die Vermutung geäußert, dass für beitnehmer blieb aus. Wir wurden nicht – wie von eini-
die Regierungskoalition nach Ihrer – leider irrigen – gen Kollegen in diesem Hause, gerade aus der Opposi-
Auffassung mit dem Thema Zeitarbeit Schluss sei. Dem tion, als Zerrbild an die Wand gemalt – von ganzen
ist nicht so. Wir haben noch ein Problem zu lösen, und Kohorten arbeitswilliger Mitbürger aus osteuropäischen
zwar Equal Pay. Ländern überrollt. Allerdings ist es den neuen Regelun-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: gen für die Leiharbeit zu verdanken, dass die Arbeitneh-
Richtig!) merfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mit-
tel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen
Wir stehen im Wort. Sie werden sehen, dass wir auch für die in vielen Handwerksbranchen bereits existierende
dieses Problem eine Lösung finden werden. Azubi-Lücke und als willkommenes Arbeitskräftepoten-
12702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Paul Lehrieder
(A) zial mit Blick auf derzeit immerhin über 1 Million of- Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C)
fene Stellen in Deutschland. Ich bin am Ende meiner Rede. – Ich bedanke mich für
Meine Damen und Herren, ich wünsche unserer Ar- Ihr geduldiges Zuwarten und wünsche Ihnen jetzt eine
beitsministerin, Frau von der Leyen, an dieser Stelle gute weise Entscheidung bei der namentlichen Abstimmung.
Besserung; ich hoffe, dass die Hand gut verheilt, damit
Danke schön.
sie tatkräftig, wie wir es von ihr kennen, weiterarbeiten
kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP sowie der Abg. Brigitte Zypries Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
[SPD])
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Frau von der Leyen stellt ganz deutlich heraus: Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
Frage ist nicht, ob wir es zulassen, dass Arbeitskräfte zu wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
uns kommen; vielmehr ist die Frage, ob sie trotz der überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp-
Sprachbarriere nach Deutschland kommen wollen, wenn fungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
sie noch fünf andere Angebote haben. Gehen Sie einmal empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
nach Warschau, Stettin oder Prag und schauen Sie, wel- sache 17/5960, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
che Sprachkurse dort angeboten werden, ob es mehr CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5761 anzuneh-
Deutsch- oder Englischkurse sind. Überlegen Sie sich men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
dann, ob wir tatsächlich die Chance haben, qualifiziertes stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
Personal – wir brauchen es sicherlich auch in Zukunft – gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
aus diesen Ländern zu bekommen. in zweiter Beratung angenommen. Gegenstimmen hat es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht gegeben. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und
SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
Wir müssen uns um Fachkräfte in unserem Land be- halten.
mühen. Nach Hochrechnungen des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung werden wir bereits im Jahr Dritte Beratung
2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben.
Bei der Lösung dieses Problems ist es wichtig, dass wir und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des
uns in erster Linie auf Potenziale im Inland konzentrie- Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
ren. Dazu gehört ein vernünftiges Ausschöpfen der Po- absolute Mehrheit – das sind 311 Stimmen – erforder-
(B) tenziale des Alters – wir haben beim vorherigen Tages- lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Im An- (D)
ordnungspunkt zur Rente mit 67 darüber geredet –, der schluss daran erfolgt eine einfache Abstimmung über ei-
Frauenerwerbstätigkeit – da haben wir in Deutschland nen Entschließungsantrag.
noch ein großes Arbeitskräftepotenzial –, der Arbeitslo-
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
sigkeit bzw. Langzeitarbeitslosigkeit, wo wir einiges tun
können, aber sicherlich auch der Zuwanderung. Jedoch rer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den
werden wir unseren Bedarf nicht vollständig über die Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
Potenziale im Inland decken können. Wir brauchen aus- stimmung.
ländische Fachkräfte in unserem Land, und zwar bereits
jetzt, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
1 Million offene Stellen verweisen können. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Kommen wir zurück zur Leiharbeit. Wir sind in einer Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? – Dann
Zeit angelangt, in der wir jede arbeitende Hand in der schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführer,
Bevölkerung brauchen, in der wir jeder Hand die Mög- mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
lichkeit geben müssen, zu arbeiten. Wir werden heute stimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1)
mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-
wurfs das Richtige zur Verbesserung der Kontrollmecha- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
nismen in der Leih- und Zeitarbeit auf den Weg bringen. wieder einzunehmen, damit ich bei der nächsten Abstim-
mung den Überblick behalten kann.
Mein Appell geht nochmals an die Opposition: Tau-
schen Sie ganz schnell Ihre Stimmkarten. Es ist ein gutes Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
Gesetz. Stimmen Sie dem Gesetz zu! Sie tun damit et- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
was Verantwortungsvolles für die Bevölkerung in unse- Drucksache 17/5963. Wer stimmt für diesen Entschlie-
rem Lande, für die Zuschauer auf der Tribüne und an den ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
Fernsehgeräten. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
deutschen Arbeitnehmer und für die zu uns kommenden der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak-
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr. tion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege. 1) Ergebnis Seite 12704 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12703
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatz- Derzeit besteht ein System, das sich in einem guten (C)
punkt 4 auf: Gleichgewicht befindet, zumindest ein sehr gutes Funda-
ment darstellt. Das geltende Rentenrecht und die umla-
8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gefinanzierte Rente sind durch die Einheit erst möglich
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales geworden. Der gegenwärtige Stand sieht so aus: Die
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den
ten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Löhnen. Der Rentenwert Ost nähert sich in dem Maße
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der dem Rentenwert West an, in dem sich die Verdienste der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschäftigten in Ost und West annähern. Der Durch-
Gleiches Rentenrecht in Ost und West schnittslohn Ost hat mittlerweile 85 Prozent des Durch-
schnittslohns West erreicht. In Klammern füge ich hinzu:
– Drucksachen 17/5207, 17/5961 – Daran gibt es zwar viel zu kritisieren, das ist heute aber
nicht Gegenstand der Debatte. Demgegenüber hat sich
Berichterstattung: der aktuelle Rentenwert Ost bereits bis auf 89 Prozent an
Abgeordnete Silvia Schmidt (Eisleben) den Rentenwert West angenähert. Das ist aber immer
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- noch zu wenig; deshalb machen wir uns auf den Weg.
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Die Entgeltberechnung im Osten war mit der Hoff-
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- nung auf konstantere Lohnsteigerungen verbunden. Ich
ten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, erinnere mich, dass ich um die Wendezeit mit Freunden
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der darüber diskutiert habe. Damals war ich der festen Über-
Fraktion DIE LINKE zeugung, dass wir 15 Jahre brauchen, bis wir die Lohn-
Für eine gerechte Angleichung der Renten in angleichung sowie als Folge davon die Rentenanglei-
Ostdeutschland chung erreicht haben. Die Lohnsteigerung ist jedoch ins
Stocken geraten. Die Angleichung wird daher notwen-
– Drucksachen 17/4192, 17/5962 – dig.
Berichterstattung: Die Gleichbehandlung von Ost und West steht für uns
Abgeordneter Frank Heinrich im Vordergrund. Darum wird der Wille, einheitliche
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Rentenwerte einzuführen, auch im Koalitionsvertrag er-
Fraktion Die Linke wird später namentlich abgestimmt. klärt. Auf dem Weg dahin wollen wir konsensorientiert
vorgehen. Ich möchte aus einer Regierungspressekonfe-
(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die renz zitieren, die vor kurzem zu diesem Thema stattge- (D)
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich funden hat. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Seibert:
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn man etwas gleich Gutes an diese Stelle setzen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- will, dann bedeutet dies, dass möglichst alle mit im
ner dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSU- Boot sein müssen, damit es für die eine oder andere
Fraktion das Wort. Seite nicht zu Nachteilen kommt. Diesen Konsens,
diese Kompromissbereitschaft, dieses gemeinsame
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vorgehen ins Werk zu setzen, ist ein größeres Vor-
der FDP) haben, an dem fortlaufend gearbeitet wird.

Frank Heinrich (CDU/CSU): Die Schlussfolgerung daraus ist – an dieser Stelle lese
ich weiter –:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir das Thema Vielmehr gilt es, mit ostdeutschen Ministerpräsi-
Rente aufgreifen. In zweiter und dritter Lesung behan- denten zu reden, aber auch die Mehrheitsverhält-
deln wir heute die Anträge der Grünen und der Linkspar- nisse im Bundesrat zu berücksichtigen. Es bedarf
tei. eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses und ei-
ner gesamtgesellschaftlichen Bereitschaft, da ge-
Ich möchte die Haltung der CDU/CSU-Fraktion und
meinsam voranzugehen.
der Koalition beschreiben: Wir befinden uns auf dem
Weg. Sie wollen zwar, dass wir schneller vorankommen, Das beschreibt, in welcher Breite und mit welcher
fest steht aber, dass wir auf dem Weg sind. Der Koali- Sensibilität wir dieses Thema angehen müssen, damit es
tionsvertrag ist an dieser Stelle eindeutig. Fraktionsüber- – nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in diesem
greifend wollen wir ein einheitliches Rentensystem ein- Land – akzeptiert wird.
führen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Jedoch ist dies – das habe ich bereits in den vorheri- der FDP)
gen Sitzungen gesagt – eine sehr komplexe, äußerst sen-
sible Materie. Es gilt, die Interessen von Jung und Alt Das Ziel ist die Angleichung des Rentenwertes, ohne die
– das hatten wir in der vorherigen Debatte –, Ost und Bestandsrenten zu mindern und ohne die bereits erarbei-
West, Stadt und Land zu berücksichtigen. Das lässt sich teten Anwartschaften zu verschlechtern. Deshalb ist das
nicht auf eine reine Ost-West-Thematik reduzieren. Anliegen berechtigt.
12704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Frank Heinrich
(A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der Grünen nicht zu. Wir haben ein Problem mit diesem (C)
DIE GRÜNEN) einen Begriff, der in Ihrem Vorschlag genannt wird. Da-
rüber haben wir diskutiert. Bezüglich der Garantierente
Danke, dass Sie für dieses einheitliche Recht Sorge tra- sind wir noch nicht ganz nah bei euch.
gen. Danke für dieses gerechtfertigte Anmahnen. Aber
wir sind auf dem Weg; deshalb nehme ich dazu Stellung. Ich möchte dazu Folgendes sagen: Wir sind für eine
Danke für einige der Vorschläge in Ihrem Antrag. Von gleiche Berechnung der Rentenwerte mit gleichen Ren-
diesen halten wir weit mehr als von den Vorschlägen und tenpunkten und möchten und werden ein eigenes Kon-
Anträgen, die wir von der linken Seite des Parlaments zept
bekommen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wann
Es geht dabei zum einen um die Anhebung des aktu- denn?)
ellen Rentenwerts Ost und der Beitragsbemessungs-
grenze Ost auf die Höhe der Westwerte und zum anderen inklusive Zeitplan in dieser Legislaturperiode vorlegen.
um die Reduzierung der Hochwertungsfaktoren für die Wir haben von der Mitte der Legislaturperiode gespro-
Ermittlung der in Ostdeutschland in der Vergangenheit chen; diese ist im September erreicht. Das heißt, dann
erworbenen Entgeltpunkte, aber so, dass sich die daraus werden Sie von uns hören.
resultierenden Rentenansprüche nicht ändern. Es darf (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Okay!)
am Schluss keine Benachteiligung entstehen, auch nicht
auf Westseite. Das Konzept wird ausgewogen, nah am Konsens und fi-
nanziell durchdacht sein. Wir werden heute die beiden
Wir wollen eine einheitliche Berechnung der Entgelt- vorliegenden Anträge aus den genannten Gründen ableh-
punkte für die Zukunft und den Wegfall der Hochwer- nen.
tung der Ostentgelte. Das, was Sie als Linke in Ihrem
Antrag vorschlagen, ist nicht mit uns zu machen. Sie for- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dern eine Angleichung des Rentenwertes Ost an den NEN]: Sie könnten sich doch wenigstens ent-
Rentenwert West und gleichzeitig die Beibehaltung der halten!)
Hochwertung. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
notwendig, sonst wird es ungerecht!)
Das würde zu neuen gravierenden Ungerechtigkeiten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und sehr weitreichenden Verwerfungen führen. Das kön- Ich darf die Aussprache kurz unterbrechen, um Ihnen
(B) nen wir nicht verantworten. das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit- (D)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum
kann ich nicht erkennen!) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp-
Ich möchte noch kurz ansprechen, dass wir baldmög- fungsgesetzes der Fraktionen von CDU/CSU und FDP,
lichst zu einem einheitlichen Rentensystem kommen Drucksachen 17/5761 und 17/5960, bekannt zu geben:
wollen. Wir denken, dass es schon aus politischen Grün- abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 450,
den – wir leben in einem vereinigten Land, in dem der Enthaltungen 124. Zur Annahme des Gesetzentwurfes
Grundsatz existiert, dass wir ein einheitliches Rechtssys- ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
tem haben – nicht bei der Regelung bleiben darf, die wir Mehrheit, das sind 311 Jastimmen, erforderlich. Der Ge-
im Moment haben. Deshalb stimmen wir dem Vorschlag setzentwurf hat die erforderliche Mehrheit erhalten.

Endgültiges Ergebnis Ernst-Reinhard Beck Helmut Brandt Dr. Maria Flachsbarth


Abgegebene Stimmen: 574; (Reutlingen) Dr. Ralf Brauksiepe Klaus-Peter Flosbach
Manfred Behrens (Börde) Dr. Helge Braun Herbert Frankenhauser
davon
Veronika Bellmann Heike Brehmer Dr. Hans-Peter Friedrich
ja: 450 Dr. Christoph Bergner Ralph Brinkhaus (Hof)
enthalten: 124 Peter Beyer Cajus Caesar Michael Frieser
Steffen Bilger Gitta Connemann Erich G. Fritz
Ja Clemens Binninger Alexander Dobrindt Dr. Michael Fuchs
Peter Bleser Thomas Dörflinger Hans-Joachim Fuchtel
CDU/CSU Dr. Maria Böhmer Marie-Luise Dött Alexander Funk
Wolfgang Börnsen Dr. Thomas Feist Ingo Gädechens
Ilse Aigner (Bönstrup) Enak Ferlemann Dr. Peter Gauweiler
Peter Altmaier Wolfgang Bosbach Ingrid Fischbach Dr. Thomas Gebhart
Peter Aumer Norbert Brackmann Hartwig Fischer (Göttingen) Norbert Geis
Thomas Bareiß Klaus Brähmig Dirk Fischer (Hamburg) Alois Gerig
Norbert Barthle Michael Brand Axel E. Fischer (Karlsruhe- Eberhard Gienger
Günter Baumann Dr. Reinhard Brandl Land) Michael Glos
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12705
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Josef Göppel Dr. Ursula von der Leyen Johannes Selle Sebastian Edathy (C)
Peter Götz Ingbert Liebing Reinhold Sendker Ingo Egloff
Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Dr. Patrick Sensburg Siegmund Ehrmann
Reinhard Grindel Dr. Carsten Linnemann Bernd Siebert Petra Ernstberger
Hermann Gröhe Patricia Lips Thomas Silberhorn Karin Evers-Meyer
Michael Grosse-Brömer Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Singhammer Elke Ferner
Markus Grübel Dr. Michael Luther Jens Spahn Gabriele Fograscher
Manfred Grund Karin Maag Carola Stauche Dr. Edgar Franke
Monika Grütters Dr. Thomas de Maizière Dr. Frank Steffel Dagmar Freitag
Olav Gutting Andreas Mattfeldt Erika Steinbach Sigmar Gabriel
Florian Hahn Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Michael Gerdes
Dr. Stephan Harbarth Dr. Michael Meister Dieter Stier Martin Gerster
Jürgen Hardt Maria Michalk Gero Storjohann Iris Gleicke
Gerda Hasselfeldt Dr. h. c. Hans Michelbach Stephan Stracke Günter Gloser
Dr. Matthias Heider Dr. Mathias Middelberg Max Straubinger Ulrike Gottschalck
Helmut Heiderich Philipp Mißfelder Karin Strenz Angelika Graf (Rosenheim)
Mechthild Heil Dietrich Monstadt Thomas Strobl (Heilbronn) Kerstin Griese
Ursula Heinen-Esser Marlene Mortler Lena Strothmann Michael Groschek
Frank Heinrich Dr. Gerd Müller Michael Stübgen Michael Groß
Rudolf Henke Stefan Müller (Erlangen) Dr. Peter Tauber Wolfgang Gunkel
Michael Hennrich Dr. Philipp Murmann Antje Tillmann Hans-Joachim Hacker
Jürgen Herrmann Bernd Neumann (Bremen) Dr. Hans-Peter Uhl Bettina Hagedorn
Ansgar Heveling Michaela Noll Arnold Vaatz Klaus Hagemann
Ernst Hinsken Dr. Georg Nüßlein Volkmar Vogel (Kleinsaara) Michael Hartmann
Peter Hintze Franz Obermeier Stefanie Vogelsang (Wackernheim)
Christian Hirte Eduard Oswald Andrea Astrid Voßhoff Hubertus Heil (Peine)
Robert Hochbaum Henning Otte Dr. Johann Wadephul Rolf Hempelmann
Karl Holmeier Dr. Michael Paul Marco Wanderwitz Gustav Herzog
Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski Kai Wegner Gabriele Hiller-Ohm
Joachim Hörster Ulrich Petzold Marcus Weinberg (Hamburg) Petra Hinz (Essen)
Anette Hübinger Dr. Joachim Pfeiffer Peter Weiß (Emmendingen) Frank Hofmann (Volkach)
Thomas Jarzombek Sibylle Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Eva Högl
Dieter Jasper Beatrix Philipp Karl-Georg Wellmann Christel Humme
Dr. Franz Josef Jung Ronald Pofalla Peter Wichtel Josip Juratovic
Andreas Jung (Konstanz) Christoph Poland Annette Widmann-Mauz Oliver Kaczmarek
(B) Dr. Egon Jüttner Ruprecht Polenz Klaus-Peter Willsch Johannes Kahrs (D)
Bartholomäus Kalb Eckhard Pols Elisabeth Winkelmeier- Dr. h. c. Susanne Kastner
Hans-Werner Kammer Thomas Rachel Becker Ulrich Kelber
Steffen Kampeter Dr. Peter Ramsauer Dagmar Wöhrl Lars Klingbeil
Alois Karl Eckhardt Rehberg Dr. Matthias Zimmer Hans-Ulrich Klose
Bernhard Kaster Katherina Reiche (Potsdam) Wolfgang Zöller Dr. Bärbel Kofler
Siegfried Kauder (Villingen- Lothar Riebsamen Willi Zylajew Daniela Kolbe (Leipzig)
Schwenningen) Josef Rief Fritz Rudolf Körper
Volker Kauder Klaus Riegert SPD Anette Kramme
Dr. Stefan Kaufmann Dr. Heinz Riesenhuber Nicolette Kressl
Roderich Kiesewetter Johannes Röring Ingrid Arndt-Brauer Angelika Krüger-Leißner
Eckart von Klaeden Dr. Norbert Röttgen Rainer Arnold Ute Kumpf
Ewa Klamt Dr. Christian Ruck Doris Barnett Christine Lambrecht
Volkmar Klein Erwin Rüddel Dr. Hans-Peter Bartels Christian Lange (Backnang)
Jürgen Klimke Albert Rupprecht (Weiden) Klaus Barthel Dr. Karl Lauterbach
Axel Knoerig Anita Schäfer (Saalstadt) Sören Bartol Steffen-Claudio Lemme
Jens Koeppen Dr. Wolfgang Schäuble Bärbel Bas Gabriele Lösekrug-Möller
Manfred Kolbe Dr. Annette Schavan Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kirsten Lühmann
Dr. Rolf Koschorrek Dr. Andreas Scheuer Dirk Becker Caren Marks
Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Uwe Beckmeyer Katja Mast
Thomas Kossendey Norbert Schindler Lothar Binding (Heidelberg) Petra Merkel (Berlin)
Michael Kretschmer Tankred Schipanski Gerd Bollmann Dr. Matthias Miersch
Gunther Krichbaum Georg Schirmbeck Klaus Brandner Dr. Rolf Mützenich
Dr. Günter Krings Christian Schmidt (Fürth) Willi Brase Andrea Nahles
Rüdiger Kruse Patrick Schnieder Bernhard Brinkmann Thomas Oppermann
Bettina Kudla Dr. Andreas Schockenhoff (Hildesheim) Holger Ortel
Dr. Hermann Kues Nadine Schön (St. Wendel) Edelgard Bulmahn Aydan Özoğuz
Günter Lach Dr. Kristina Schröder Marco Bülow Heinz Paula
Andreas G. Lämmel Dr. Ole Schröder Ulla Burchardt Johannes Pflug
Dr. Norbert Lammert Bernhard Schulte-Drüggelte Martin Burkert Joachim Poß
Katharina Landgraf Uwe Schummer Petra Crone Dr. Wilhelm Priesmeier
Ulrich Lange Armin Schuster (Weil am Martin Dörmann Florian Pronold
Dr. Max Lehmer Rhein) Elvira Drobinski-Weiß Dr. Sascha Raabe
Paul Lehrieder Detlef Seif Garrelt Duin Mechthild Rawert
12706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Stefan Rebmann Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Claudia Winterstein BÜNDNIS 90/ (C)
Dr. Carola Reimann Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Volker Wissing DIE GRÜNEN
Sönke Rix Hans-Michael Goldmann Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Marieluise Beck (Bremen)
René Röspel Heinz Golombeck
Miriam Gruß Volker Beck (Köln)
Dr. Ernst Dieter Rossmann Enthalten
Michael Roth (Heringen) Joachim Günther (Plauen) Cornelia Behm
Marlene Rupprecht Dr. Christel Happach-Kasan DIE LINKE Birgitt Bender
(Tuchenbach) Heinz-Peter Haustein Viola von Cramon-Taubadel
Agnes Alpers Ekin Deligöz
Anton Schaaf Manuel Höferlin
Dr. Dietmar Bartsch Katja Dörner
Axel Schäfer (Bochum) Elke Hoff
Herbert Behrens Hans-Josef Fell
Bernd Scheelen Birgit Homburger
Karin Binder Dr. Thomas Gambke
Marianne Schieder Dr. Werner Hoyer
Matthias W. Birkwald Kai Gehring
(Schwandorf) Heiner Kamp Heidrun Bluhm
Werner Schieder (Weiden) Michael Kauch Katrin Göring-Eckardt
Christine Buchholz
Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Lutz Knopek Britta Haßelmann
Eva Bulling-Schröter
Carsten Schneider (Erfurt) Pascal Kober Roland Claus Bettina Herlitzius
Ottmar Schreiner Dr. Heinrich L. Kolb Sevim Dağdelen Priska Hinz (Herborn)
Swen Schulz (Spandau) Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dr. Diether Dehm Dr. Anton Hofreiter
Ewald Schurer Sebastian Körber Heidrun Dittrich Bärbel Höhn
Frank Schwabe Holger Krestel Werner Dreibus Ingrid Hönlinger
Dr. Martin Schwanholz Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Dagmar Enkelmann Thilo Hoppe
Rolf Schwanitz Heinz Lanfermann Wolfgang Gehrcke Uwe Kekeritz
Stefan Schwartze Sibylle Laurischk Nicole Gohlke Katja Keul
Rita Schwarzelühr-Sutter Harald Leibrecht Diana Golze Memet Kilic
Dr. Carsten Sieling Sabine Leutheusser- Annette Groth Sven-Christian Kindler
Sonja Steffen Schnarrenberger Dr. Gregor Gysi Maria Klein-Schmeink
Christoph Strässer Lars Lindemann Heike Hänsel Ute Koczy
Kerstin Tack Christian Lindner Dr. Rosemarie Hein Tom Koenigs
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Martin Lindner (Berlin) Inge Höger Sylvia Kotting-Uhl
Franz Thönnes Michael Link (Heilbronn) Dr. Barbara Höll Oliver Krischer
Wolfgang Tiefensee Dr. Erwin Lotter Andrej Hunko
Oliver Luksic Agnes Krumwiede
Rüdiger Veit Ulla Jelpke Fritz Kuhn
Ute Vogt Horst Meierhofer Katja Kipping
Patrick Meinhardt Stephan Kühn
Dr. Marlies Volkmer Jan Korte Markus Kurth
Andrea Wicklein Gabriele Molitor Jutta Krellmann
(B) Jan Mücke Undine Kurth (Quedlinburg) (D)
Heidemarie Wieczorek-Zeul Katrin Kunert
Petra Müller (Aachen) Monika Lazar
Waltraud Wolff Caren Lay
Burkhardt Müller-Sönksen Nicole Maisch
(Wolmirstedt) Sabine Leidig
Uta Zapf Dr. Martin Neumann Ralph Lenkert Agnes Malczak
Dagmar Ziegler (Lausitz) Michael Leutert Jerzy Montag
Manfred Zöllmer Dirk Niebel Ulla Lötzer Kerstin Müller (Köln)
Brigitte Zypries Hans-Joachim Otto Thomas Lutze Beate Müller-Gemmeke
(Frankfurt) Ulrich Maurer Dr. Konstantin von Notz
FDP Gisela Piltz Dorothee Menzner Omid Nouripour
Dr. Christiane Ratjen- Cornelia Möhring Friedrich Ostendorff
Jens Ackermann Damerau Kornelia Möller Dr. Hermann Ott
Christian Ahrendt Dr. Birgit Reinemund Niema Movassat Lisa Paus
Christine Aschenberg- Dr. Peter Röhlinger Wolfgang Nešković Brigitte Pothmer
Dugnus Dr. Stefan Ruppert Thomas Nord Tabea Rößner
Daniel Bahr (Münster) Björn Sänger Jens Petermann Claudia Roth (Augsburg)
Florian Bernschneider Frank Schäffler Richard Pitterle Krista Sager
Sebastian Blumenthal Christoph Schnurr Yvonne Ploetz Manuel Sarrazin
Claudia Bögel Jimmy Schulz Ingrid Remmers Elisabeth Scharfenberg
Nicole Bracht-Bendt Marina Schuster Paul Schäfer (Köln) Christine Scheel
Klaus Breil Dr. Erik Schweickert Kathrin Senger-Schäfer Dr. Gerhard Schick
Rainer Brüderle Werner Simmling Raju Sharma
Angelika Brunkhorst Dr. Frithjof Schmidt
Judith Skudelny Dr. Petra Sitte
Ernst Burgbacher Dorothea Steiner
Dr. Hermann Otto Solms Kersten Steinke
Marco Buschmann Joachim Spatz Dr. Wolfgang Strengmann-
Sabine Stüber
Sylvia Canel Dr. Max Stadler Kuhn
Dr. Kirsten Tackmann
Helga Daub Torsten Staffeldt Hans-Christian Ströbele
Dr. Axel Troost
Reiner Deutschmann Dr. Rainer Stinner Alexander Ulrich Dr. Harald Terpe
Dr. Bijan Djir-Sarai Stephan Thomae Kathrin Vogler Markus Tressel
Patrick Döring Florian Toncar Johanna Voß Jürgen Trittin
Mechthild Dyckmans Serkan Tören Sahra Wagenknecht Daniela Wagner
Rainer Erdel Johannes Vogel Halina Wawzyniak Wolfgang Wieland
Jörg van Essen (Lüdenscheid) Harald Weinberg Dr. Valerie Wilms
Ulrike Flach Dr. Daniel Volk Katrin Werner Josef Philip Winkler
Otto Fricke Dr. Guido Westerwelle Jörn Wunderlich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12707
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frauen. Was kann schnell getan werden? Zum Beispiel (C)
der FDP) – ich habe es schon beim letzten Mal gesagt –: dieselbe
Anrechnung und Bewertung der Kindererziehungszei-
Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8
ten, der Pflege und des Wehr- und Zivildienstes. Ich
fort.
habe auch schon einmal gesagt: Niemandem kann heute
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der noch erklärt werden, warum die Versicherungszeiten un-
SPD-Fraktion. terschiedlich bewertet werden. Pflege ist in Ost und West
gleich, Kindererziehung ebenso. Damit wären wir mit
(Beifall bei der SPD) Sicherheit einen Schritt weiter.

Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten kann die Debatte zur Rentenangleichung nur auf der Ba-
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sis der Alterseinkommen führen; denn die Rente als
Die 5 Millionen ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen Säule der Alterssicherung ist in den alten Bundesländern
erkennen die unglaubliche, gewaltige Leistung der Her- völlig anders aufgestellt als im Osten.
stellung der Einheit durchaus an. Für diese unglaubliche (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
Leistung sind sie ausgesprochen dankbar. Aber es geht stimmt!)
auch um Gerechtigkeit. Es geht um die Vereinheitli-
chung der Lebensverhältnisse, um die Anerkennung der Zur Gruppe der westdeutschen Rentner, vor allem der
Lebensarbeitszeit. Das Angleichungsgebot des Art. 30 Männer, zählen auch Beamte und Selbstständige. Sie ha-
Abs. 5 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31. August ben zum Teil nur kurze Versicherungszeiten in der ge-
1990 zielt auf die Angleichung der Rente in den alten setzlichen Rentenversicherung und beziehen ihr wich-
und neuen Ländern und damit auf die Herstellung ein- tigstes Alterseinkommen aus anderen Systemen wie der
heitlicher Lebensverhältnisse für die Rentner und Rent- Beamtenversorgung, der berufsständischen Versorgung
nerinnen über die Angleichung der Löhne und Gehälter. und der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Über die
Hälfte der Männer in den alten Ländern mit einer monat-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist lichen Rente von unter 300 Euro bezieht gleichzeitig
es!) eine Beamtenpension. Betriebsrenten sind in der jetzigen
Gerade in den letzten Jahren ist die Angleichung der Rentnergeneration im Osten kaum vorhanden. In den al-
Löhne und Gehälter zum Stillstand gekommen. Der Un- ten Ländern haben nur 7 Prozent der Frauen und über
terschied im Lohnniveau zwischen Ost und West ist grö- 30 Prozent der Männer eine betriebliche Altersvorsorge;
ßer als der Unterschied im Lohnniveau in den alten Län- Tendenz steigend, auch im Osten. In den neuen Ländern
(B) dern zwischen Nord und Süd. Die fehlende Tarifbindung gibt es kaum Nebeneinnahmen, weder aus Vermietung (D)
im Osten verhindert, dass die Angleichung wie im oder Verpachtung noch aus Zinsen. Hier leben fast alle
öffentlichen Dienst und in einigen wenigen tarifgebun- Rentner und Rentnerinnen ausschließlich von der gesetz-
denen Branchen fortgesetzt wird. Im Osten arbeiten lichen Rentenversicherung. So viel zum aktuellen Stand.
immerhin noch 40 Prozent der Beschäftigten im Nie- Wir kennen natürlich die Vorwürfe, die nicht nur die
driglohnbereich und viele ohne Tarifbindung. Presse, sondern auch der Bundesrechnungshof erhebt. Es
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) heißt, dass Beschäftigte, die bereits jetzt 100 Prozent des
Westniveaus verdienen, durch die Höherwertung in Zu-
Die Höherwertung der ostdeutschen Durchschnittslöhne kunft profitieren. Das ist richtig. Würde man aber den
ist deshalb nach wie vor wichtig, Höherwertungsfaktor generell wegnehmen und nur eine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des rein formale Angleichung durchführen, würden sich alle
Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Rentner und Rentnerinnen dagegen wehren; denn dann
müssten sie generell auf 11 Prozent ihrer Rente verzich-
auch um dem Ziel des Einigungsvertrages gerecht zu ten. Das kann man, wenn man Gerechtigkeit will, nicht
werden. hinnehmen.
Unterschiedliche Rentenwerte sind nicht mehr ver- (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
mittelbar. Sie führen seit Jahren zu Ungerechtigkeiten. LINKE] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Den Ostdeutschen fehlen 11 Prozent ihrer Rente; für den [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 38 Cent!)
sogenannten Eckrentner Ost sind das 139 Euro im Mo-
nat. Es kann niemand erwarten, dass man auf dieses Herr Sellering, der Ministerpräsident von Mecklen-
Geld verzichtet. Eine Lösung dieses Problems ist burg-Vorpommern, sagte kürzlich in einem Interview
schwierig. Sie wird auch nicht über Nacht erfolgen. Aber mit der Schweriner Volkszeitung zu dem Vorschlag Ihrer
jedes weitere Jahr ohne Angleichung und ohne unterstüt- Partei:
zende Maßnahmen wie Mindestlohn und aktive Arbeits-
Das ist ein gefährlicher Vorschlag, der unter dem
marktpolitik im Osten kostet uns viel Geld. Deckmantel einer Angleichung die Benachteiligung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ostdeutschen bei der Rente dramatisch vergrö-
der LINKEN) ßern würde.
Es geht um die Lebensarbeitsleistung und die unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schiedlichen Lebensverläufe, ganz besonders um die der der LINKEN – Dr. Wolfgang Strengmann-
12708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Silvia Schmidt (Eisleben)


(A) Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ist nicht alles leicht. Das ist ein mühseliges Unterfangen, (C)
38 Cent!) und man kann den Vätern der Einheit nicht vorwerfen,
dass sie diese Rentenangleichung nicht gewollt haben.
Auch der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Herr
Haseloff, hat aufgezeigt, dass er zum Beispiel den Ver- Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist, dass wir
such der FDP in Baden-Württemberg in dieser Richtung endlich auch die Löhne in den neuen Bundesländern an-
verhindert hat. Er hat es so begründet: gleichen. Wir dürfen uns nicht noch einmal solche Fehl-
entwicklungen leisten wie zum Beispiel die, den Mitar-
Noch immer tragen die Ostdeutschen stärker die beitern in der Pflege in den neuen Bundesländern nur
Folgelasten aus der deutschen Geschichte. Sicher- 7,50 Euro und in den alten Bundesländern 8,50 Euro an-
lich müssen wir irgendwann dazu kommen, die zubieten. Dadurch haben wir hier im Voraus schon wie-
Rentenberechnungen in Ost und West anzugleichen der eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, was sich spä-
und die Systeme zu vereinheitlichen. ter natürlich auch in den Renten niederschlagen wird.
Beide sind kluge Männer. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Traurig,
Ich möchte Sie nur daran erinnern: Wir hatten den aber wahr!)
17. Juni 1953. Arbeiter in Ostdeutschland haben sich ge- Das darf nicht sein. Wir brauchen einen einheitlichen ge-
gen Panzer gestellt. Ich erinnere an die Opfer der Mauer, setzlichen Mindestlohn in Ost und West.
ich erinnere an die Opfer der Stasi, und ich erinnere Sie
an die friedliche Revolution. Wir können also nicht nur (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
jeden Jahrestag feiern und sagen, wie wichtig das für un- Die Rentenversicherung alleine wird dieses Problem
sere Geschichte war, nicht lösen. Wir wissen, das ist eine Frage der Gerechtig-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keit, wir wissen, das ist eine Frage der Einheit, und wir
NEN]: Wir bekommen einen Revolutionsbo- wissen, das ist auch eine Frage der Steuermittel. Wir bas-
nus!) teln Rettungsschirme für die einen, und natürlich haben
die Bürger und Bürgerinnen auch die Erwartung, dass
sondern die Bürger und Bürgerinnen, die Rentner und man auch Rettungsschirme für die anderen errichtet.
Rentnerinnen erwarten auch Respekt, Anerkennung, Ge-
rechtigkeit und vor allem Demokratie, für die sie einge- Ich danke Ihnen vielmals.
treten sind. (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ich gebe den Ministerpräsidenten völlig recht: Sie
können den Bestandsrentnern eine Angleichung nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) ohne Verbesserung anbieten. Es gab in der DDR eben Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP- (D)
keine Möglichkeit, die Renten aufzuwerten. Ich habe das Fraktion.
gerade erzählt: Wir hatten eine Diktatur. Es war ausge-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sprochen schwierig, hier noch etwas zu tun. Diese Men-
der CDU/CSU)
schen kann man also auch verstehen.
Für mich enthält der Antrag der Linken natürlich ein Pascal Kober (FDP):
sehr sympathisches Modell, das muss ich so sagen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es freut Diese Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsver-
mich, das zu hören, Frau Kollegin!) trag festgeschrieben, dass wir in dieser Legislaturpe-
riode, also bis zum Jahr 2013, ein einheitliches Renten-
aber das wird sehr viel kosten, und das muss man durch- system einführen werden.
rechnen.
(Beifall bei der FDP)
Ich möchte nur noch kurz anmerken, was unsere
Viele Menschen warten darauf, und es gibt auch viele
Ideen sind: Wir sind der Meinung, dass die Rentenan-
gleichung bis zum Auslaufen des Solidarpakts im Jahre Stimmen, die skeptisch sind, ob das gelingen kann. Ich
aber bin zuversichtlich und spreche für meine Kollegen
2019 abgeschlossen sein muss. Das ist eine lange Zeit;
der Bundestagsfraktion und auch für die Kollegen der
ich weiß. Wir müssen die Lebensarbeitsleistung der
Menschen in den neuen Bundesländern anerkennen, und Union, wenn ich sage, dass wir diese Skepsis durch un-
ser Handeln werden widerlegen können.
wir wollen auch die zukünftigen Rentner und Rentnerin-
nen nicht belasten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, wir werden Ihrem Antrag heute trotzdem nicht
Wir werden auf alle Fälle – auch das habe ich schon
zustimmen; denn darin sind einige Überlegungen enthal-
einmal gesagt – den Vorschlag eines Härtefallfonds ein-
ten, die wir nicht teilen. Darauf gehe ich am Ende meiner
bringen, und zwar bis zur Sommerpause. Gleichzeitig
Rede gerne noch ein.
wollen wir die Zeiten der Kindererziehung, der Pflege,
des Wehr- und Zivildienstes schnellstmöglich anpassen. Ich möchte daran erinnern, dass wir als FDP-Bundes-
Auch hierzu werden wir Anträge vorlegen. Daneben ar- tagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode einen
beitet die Alterssicherungskommission in unserem Par- Antrag vorgelegt haben, der eine Vereinheitlichung des
teivorstand. Ottmar Schreiner als Vorsitzender sucht hier deutschen Rentenrechts zum Ziel hatte. Inhalt war – das
mit nach Lösungen. Herr Heinrich, Sie haben recht: Es halten wir auch weiterhin für richtig –, dass in ganz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12709
Pascal Kober
(A) Deutschland ein einheitliches Rentenrecht eingeführt Solche Kleinstrenten gibt es in den neuen Bundeslän- (C)
wird: mit einem einheitlichen Rentenwert, einheitlichen dern jedoch bis heute kaum. Der Grund dafür ist, dass in
Entgeltpunkten und einer einheitlichen Beitragsbemes- der ehemaligen DDR alle Menschen im Angestelltensta-
sungsgrenze. Ausgehend von einem bestimmten Stichtag tus arbeiteten und daher auch komplett von der deut-
würden sich dann alle Renten, in Ost und West, entspre- schen Rentenversicherung erfasst werden.
chend der Entwicklung des einheitlichen Rentenwerts
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie
anpassen.
vorhin bereits erwähnt, liegt Ihr Antrag nicht allzu weit
Jeder Euro Rentenbeitrag würde ab diesem Stichtag von unseren Vorstellungen entfernt.
im ganzen Bundesgebiet den gleichen Rentenanspruch
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
bedeuten.
Dann können Sie sich doch enthalten!)
(Beifall bei der FDP)
Ihrem Vorschlag einer Garantierente werden wir aber
Bisherige Ansprüche und Regelungen würden selbstver- unsere Zustimmung nicht geben können.
ständlich unberührt bleiben. (Beifall bei der FDP)
Ich bin sehr froh, dass das Ziel der Schaffung eines Ihnen schwebt ein anderes Rentenrecht vor, als wir es
einheitlichen Rentenrechts Eingang in unseren Koali- seit Jahrzehnten sehr erfolgreich und mit hoher Anerken-
tionsvertrag gefunden hat und dass wir das Thema in nung seitens der Bevölkerung haben. Die Einführung ei-
dieser Legislaturperiode umsetzen werden; denn es be- ner Garantierente würde das Äquivalenzprinzip verlet-
steht, wie gesagt, in der Tat Handlungsbedarf. Über zen und zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das und
20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und damit auch Ihren Antrag lehnen wir als FDP-Bundes-
über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirt- tagsfraktion ab.
schafts- und Sozialunion ist es an der Zeit, dass wir die
deutsche Einheit auch im Rentenrecht verwirklichen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Die aktuelle Gesetzgebung führt dazu, dass sich Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
sicherte in Ost und West gleichermaßen benachteiligt Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Birkwald von
fühlen. Die Versicherten im Westen sind wegen der der Fraktion Die Linke.
Hochwertung der im Osten gezahlten Beiträge um über (Beifall bei der LINKEN)
18 Prozent unzufrieden und fühlen sich dadurch benach- (D)
(B)
teiligt. Die Versicherten im Osten fühlen sich durch den
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
niedrigeren Rentenwert benachteiligt. Zwar wurden die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Renten in den neuen Bundesländern durch die Wieder-
Meine Damen und Herren! Eines möchte und muss ich
vereinigung und das Rentenüberleitungsgesetz enorm
vorab klarstellen: Bei der Angleichung der ostdeutschen
aufgewertet; allerdings liegt auch heute noch der soge-
Renten an das Westniveau geht es um Gerechtigkeit –
nannte Rentenwert Ost rund 12 Prozent unter dem Ren-
und nicht um Almosen.
tenwert West. Das bedeutet, dass ein Jahr durchschnittli-
cher Rentenbeitrag im Westen noch über 12 Prozent (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
mehr Wert hat als in den neuen Bundesländern. [CDU/CSU]: Mit Almosen kennt ihr euch ja
aus!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
das Problem!) Es muss gelten: Gleiche Rente für gleiche Lebensleis-
tung.
Daraus ergibt sich, dass der sogenannte Eckrentner
– ein Versicherter, der 45 Jahre lang mit Durchschnitts- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
beiträgen in die Rentenversicherung eingezahlt hat – im wollen ein gleiches Rentenrecht für Ost und West ein-
Westen eine Standardrente bzw. eine Eckrente in Höhe führen und möchten damit Gerechtigkeit schaffen. Gut
von 1 224 Euro erhält, im Osten jedoch nur von gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht; denn Ihr
1 085,85 Euro. Vorschlag zur Umsetzung ist leider schlecht.
Diese Standardrente bzw. Eckrente ist aber nicht mit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
der Durchschnittsrente zu verwechseln. Die Durch-
In Wahrheit festigt Ihr Vorschlag das bestehende
schnittsrente – auch dazu möchte ich etwas sagen – ist
Zweiklassensystem des Rentenrechts, und das ist unge-
im Osten zwar um etwa 100 Euro höher als im Westen;
recht. Dem wird die Linke auf keinen Fall zustimmen.
das hat jedoch auch historische Gründe. In den alten
Bundesländern ist eine größere Zahl von Kleinstrenten (Beifall bei der LINKEN)
eingerechnet. Das sind Renten von Menschen, die nur
Nach Ihrem Vorschlag würden alle bisherigen ost-
kurze Zeit Mitglied der Rentenversicherung waren und
deutschen Rentenpunkte so in westdeutsche Renten-
danach beispielsweise selbstständig wurden oder in den
punkte heruntergerechnet, dass der tatsächliche Renten-
Beamtenstatus gekommen sind. Diese Menschen sorgen
anspruch um keinen Cent steigt.
für eine Reduzierung der Durchschnittsrente, sind aber
in der Regel im Alter gut versorgt. (Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)
12710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Matthias W. Birkwald
(A) Damit blieben die bisher erworbenen Rentenanwart- land und dem Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner (C)
schaften – auch bei der jungen Generation – bei gleicher und Hinterbliebenen entwickelt worden ist und überzeu-
Lebensleistung dauerhaft um 11 Prozent gekürzt. Was ist gend vertreten wird. Nach unserem Vorschlag muss eine
denn daran gerecht? Gar nichts! gerechte Angleichung erstens zu einer deutlichen Ver-
besserung für alle heutigen Rentnerinnen und Rentner
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
führen;
Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD])
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
Die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau war
DIE GRÜNEN]: Aber nur im Osten!)
ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Das
ignorieren Sie völlig, und das ist nicht akzeptabel. denn die Alterseinkünfte sind im Osten 18 Prozent ge-
Ihr Denkfehler liegt klar auf der Hand. Sie, lieber ringer als im Westen.
Kollege Strengmann-Kuhn, haben gegenüber der Bild- (Beifall bei der LINKEN)
Zeitung davon gesprochen, dass ja die Osteinkommen
denen im Westen nahezu angeglichen seien. Das ist Das liegt vor allem daran, dass die gesetzliche Rente bei
falsch; die Kollegin Schmidt hat darauf bereits hinge- den Ostdeutschen mehr als 90 Prozent ihres gesamten
wiesen. Die Friseurin in Dresden verdient noch immer Alterseinkommens ausmacht.
deutlich weniger als die Friseurin in Köln. Sie haben ge- Zweitens. Die Hochwertung der ostdeutschen Löhne
genüber diesem Blatt auch behauptet, es gebe ja auch und Gehälter muss – darauf wurde eben hingewiesen –
keinen Ausgleich zwischen Bayern und Schleswig-Hol- als pauschaler Nachteilsausgleich beibehalten werden,
stein. Mit Verlaub, das ist ignorant. Sie lassen dabei und das, obwohl sich die Tariflöhne angleichen. Warum?
nämlich schlicht außer Acht, dass selbst Brandenburg als Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Ostdeutschland
einkommensstärkstes ostdeutsches Bundesland bei den arbeitet nämlich ohne Tarifvertrag, und die durchschnitt-
Löhnen und Gehältern deutlich abgeschlagen hinter lichen Löhne und Gehälter liegen an der Saale und der
Schleswig-Holstein als dem einkommensschwächsten Oder nach wie vor ein Viertel unter denen am Rhein und
westdeutschen Bundesland zurückfällt. Das sind die Tat- an der Isar. Außerdem müssen Ostdeutsche für einen fast
sachen. Wenn Sie diese Tatsachen weiter verdrehen, hei- gleichen Lohn oft länger arbeiten und auf im Westen üb-
zen Sie die Neiddebatte zwischen Ost und West weiter liche Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder Weih-
an. Das können Sie doch nun wirklich nicht wollen. nachtsgeld verzichten. Die bloße Angleichung der Tarif-
(Beifall bei der LINKEN) löhne sagt also nichts über die tatsächliche Ungleich-
behandlung aus. Ohne eine Hochwertung würde der
Bleiben Sie also bitte bei den Tatsachen! Die Grünen Eckrentner Ost – dieser ist eben vom Kollegen Kober er-
(B) müssen endlich lernen, die Lebenswirklichkeit der Men- wähnt worden – heute nur knapp 700 Euro Rente erhal- (D)
schen in Ostdeutschland und ihr Empfinden ernst zu ten. Das geht nicht.
nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ein Unsinn!) Drittens. Die Angleichung soll bis 2016 abgeschlos-
sen sein. Die Linke, Verdi, die Volkssolidarität und an-
Die Ausgangslage ist ja bekannt. Wenn zum 1. Juli dere schlagen dafür einen steuerfinanzierten, stufen-
die Renten um 1 Prozent steigen, bleibt der aktuelle Ren- weise steigenden Zuschlag vor.
tenwert für Ostdeutsche mit 24,37 Euro weiterhin um
11 Prozent geringer als der Rentenwert für Westdeutsche Viertens. Die Angleichung der Renten im Osten an
mit 27,47 Euro. das Westniveau darf nicht gegen eine vernünftige Lohn-
und Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland ausgespielt
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
werden. Die Rentnerin in Cottbus ist nicht weniger wert
DIE GRÜNEN]: Das müssen wir ändern!)
als der Rentner in Kiel.
Das hat bittere Folgen: Nach 45 Jahren durchschnittli-
chem Verdienst erhalten Ostdeutsche 140 Euro weniger Herzlichen Dank.
Rente als Westdeutsche. Im Klartext heißt das: Die wirt- (Beifall bei der LINKEN)
schaftliche Lebensleistung der Ostdeutschen wird in der
Rentenversicherung schlechter bewertet als die der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Westdeutschen, und das schon seit über 20 Jahren. Doch
statt zu handeln, betreiben seit der Wiedervereinigung Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
alle Bundesregierungen Sankt-Nimmerleins-Politik. Er- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die
innern wir uns: Die Angleichung war ein zentrales eini- Grünen.
gungspolitisches Versprechen. Die Linke will, dass es
jetzt endlich eingelöst wird. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag eine Richtig, Herr Birkwald, der Rentenwert Ost liegt immer
Lösung auf, die von den Gewerkschaften Verdi, GEW, noch deutlich unter dem Rentenwert West, nämlich ab
Transnet, der Gewerkschaft der Polizei und den Sozial- 1. Juli bei 24,37 Euro im Vergleich zu 27,47 Euro. Die-
verbänden Volkssolidarität, dem Sozialverband Deutsch- ser Zustand muss so schnell wie möglich beseitigt wer-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12711
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) den, weil er ungerecht ist und von den Ostdeutschen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
Recht als diskriminierend empfunden wird.
Dies würde neue Ungerechtigkeiten hervorrufen. Wer im
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Westen wenig verdient, würde nicht einsehen, warum er
sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von bei gleichem Lohn nicht den gleichen Rentenanspruch
der LINKEN: Da sind wir uns ja einig!) hat. Wer im Westen viel, 4 000 Euro, verdient, würde
erst recht nicht einsehen, einen geringeren Rentenan-
Sie haben jedoch verschwiegen, dass Sie das nicht spruch zu haben als jemand, der im Osten 4 000 Euro
schnell beseitigen wollen, sondern sich fünf Jahre Zeit verdient.
lassen wollen, um diese Lücke zu schließen. Bei der
SPD ist das noch viel schwammiger. Da war davon die Deswegen sagen wir: Wenn wir den Rentenwert Ost
Rede, man müsse erst einmal abwarten, bis sich die auf den Rentenwert West anheben, dann kann man in der
Löhne angeglichen hätten. Das ist das Warten auf den Tat auf die Hochwertung der Entgeltpunkte in Ost-
Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei der CDU heißt es: Wir ha- deutschland verzichten, weil der Unterschied mittler-
ben uns auf den Weg gemacht. – Die Ministerin hat je- weile nur noch marginal ist. Wenn man die Zahlen
doch bisher noch nichts vorgelegt, und auch die Koali- nimmt, die ab dem 1. Juli 2011 gelten, dann beträgt der
tionsfraktionen haben noch nichts vorgelegt. Ich sehe Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit ei-
diesen Weg noch nicht. Wenn unser Antrag dazu führt, nem Einkommen von 30 000 Euro im Jahr 38 Cent. Das
dass sich die Prozesse bei Ihnen beschleunigen – das ist der Vorteil, den wir sozusagen den Ostdeutschen
fänden wir sehr richtig –, dann hat es sich gelohnt, die- wegnehmen wollen. Aber damit schaffen wir endlich
sen Antrag einzubringen. gleiche Verhältnisse in Ost und West.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für uns sind folgende Dinge wichtig: Erstens. Der Ich habe viele Zuschriften erhalten, in denen die ost-
Rentenwert Ost muss auf den Rentenwert West angeho- deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, dass sie
ben werden, und zwar so schnell wie möglich. es als diskriminierend empfinden, dass bei ihnen die
Entgeltpunkte so berechnet werden, dass dies zu einem
Zweitens. Wir wollen einen Vorschlag machen, der fi-
Aufschlag führt. Denn auch die Menschen in Ost-
nanzierbar und schnell umsetzbar ist, damit wir dieses
deutschland wollen endlich so behandelt werden wie die
Ziel erreichen.
im Westen und nicht als Erwerbstätige zweiter Klasse.
Drittens. Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
entstehen.
Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE
(B) LINKE]) (D)
Viertens. Mitbedacht werden muss, dass schon jetzt
die Altersarmutswelle anfängt zu rollen, und zwar insbe-
– Ich habe doch gerade gesagt, dass, was den Rentenan-
sondere im Osten Deutschlands. Vor kurzem wurde eine
spruch angeht, der Unterschied bei einem Durchschnitts-
neue Studie vorgelegt, die zeigt, dass die Rentenansprü-
verdiener mit einem Einkommen von ungefähr 30 000
che der Neurentnerinnen und -rentner seit ein paar Jah-
Euro im Jahr 38 Cent beträgt. Das steigt dann mit höhe-
ren sinken. Insbesondere im Osten wird das besonders
rem Einkommen an.
der Fall sein. Deswegen ist uns die Forderung nach Ein-
führung einer Garantierente sehr wichtig, weil dies ins- Sie machen einen Vorschlag, wonach alle Renten er-
besondere die Rentnerinnen und Rentner im Osten vor höht werden sollen, unabhängig von der Rentenhöhe.
Altersarmut schützt. Das heißt, Sie sehen mehr Rente auch für die Reichen
vor. Das finden wir nicht sinnvoll. Wir meinen nicht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dass jemand, der 4 000 Euro im Osten verdient, höhere
Zu unserem Vorschlag: Erstens. Wir schlagen vor, den Rentenansprüche haben sollte als jemand, der 4 000
Rentenwert Ost auf den Rentenwert West zum nächst- Euro im Westen verdient.
möglichen Zeitpunkt anzuheben. Das ist, wenn man die
(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Es geht um
Umsetzung bei der Rentenversicherung mit berücksich-
die Tarife und um die Branchen!)
tigt, wahrscheinlich zum 1. Juli 2012 möglich. Wir wol-
len nicht so lange warten wie die Linke. In diesem Einkommensbereich gibt es schon jetzt meis-
(Zuruf von der LINKEN: Das ist frech!) tens gleiches Geld für gleiche Arbeit.

Zweitens. Die derzeitigen Rentenansprüche sollen er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
halten bleiben. Hier gibt es einen Unterschied zu den Richtig ist, dass die Durchschnittseinkommen im Os-
Linken, den bereits Matthias Birkwald aufgezeigt hat. ten nach wie vor geringer sind. Aber da muss man an
Wir sind nicht der Meinung, dass man ausschließlich im den Ursachen ansetzen. Wir brauchen endlich einen ein-
Osten eine Schippe drauflegen kann heitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen
(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Wieso eine Branchentariflöhne. Wir brauchen mehr Allgemeinver-
Schippe? Das sind Ansprüche!) bindlichkeitserklärungen, damit endlich auch im Osten
tatsächlich genauso viel bezahlt wird wie im Westen.
und die dortigen Renten einseitig um 10 Prozent erhöhen Wir müssen die Gewerkschaften und Arbeitgeber auffor-
sollte. dern, endlich mit dem Unsinn aufzuhören, die Tarife für
12712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) Ost und West ungleich zu gestalten. Wir brauchen da nicht vergessen. Die betroffenen Rentner fragen sich zu (C)
endlich gleiches Recht für West und Ost. Recht, nicht nur in den neuen Bundesländern, warum es
nach 20 Jahren der deutschen Einheit noch immer unter-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schiedliche Rentenwerte gibt.
Das brauchen wir nicht nur bei den Löhnen, sondern
auch in der Rente. Ich kann Ihnen versichern: Wir wer- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
den weiter Druck machen für ein gleiches Rentenrecht in DIE GRÜNEN]: Genau!)
Ost und West. Wir werden auch weiter Druck machen Die Zusammenführung der Rentensysteme ist eine
für eine bessere Armutsbekämpfung – in Ost- und West- große sozialpolitische und solidarische Leistung gewe-
deutschland. Insbesondere die Ostdeutschen würden von sen. Allein im Jahr 2009 gab es über die Rentenversiche-
einer Garantierente, wie wir sie vorschlagen, profitieren. rungssysteme einen Transfer in Richtung Osten in Höhe
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. von 14,9 Milliarden Euro. Es wird oft kritisiert, dass die
Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern eine höhere
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anzahl an Entgeltpunkten sammeln. Man muss dabei
aber bedenken, dass der Rentenwert Ost um 12,1 Pro-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zent unter dem Rentenwert West liegt. Gleicht man den
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von Rentenwert nun aber an das westdeutsche Niveau an,
der CDU/CSU-Fraktion. würde die Höherbewertung der Entgeltpunkte wegfallen.
Die Folge: Zukünftige Rentner, die heute relativ wenig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verdienen, könnten das Nachsehen haben.

Heike Brehmer (CDU/CSU): Sicher hatten wir Anfang der 90er-Jahre angenom-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und men: Die Rentenwerte gleichen sich über die Jahre allein
Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Grünen zum durch die Lohnentwicklung an. Betrachten wir die Reali-
Rentenrecht in Ost und West. Wenn ich mir Ihren Antrag tät der Lohnentwicklung in Ost und West, sieht es natür-
so anschaue, dann sehe ich, wie krampfhaft versucht lich ganz anders aus. Ich möchte hier nur ein Beispiel
wird, Gerechtigkeit zu formulieren, eine Form von Ge- nennen – Frau Schmidt hat es schon erwähnt, und Herr
rechtigkeit, mit der wir uns hier seit Jahren beschäftigen, Strengmann-Kuhn hat auch darauf hingewiesen –: Die
eine Gerechtigkeit, die 3 Millionen ostdeutsche Rentner Tarifpartner haben in der Pflege einen Stundenlohn von
und 20 Millionen Rentner bundesweit betrifft. Betrachte 8,50 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten vereinbart.
ich mir Ihren Antrag, dann muss ich sagen: Er steht für Wir müssen darauf hinwirken, dass die Lohnentwick-
lung und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, die
(B) mich – sicher zu Recht – unter dem Motto „Schnelligkeit (D)
statt Qualität“. heute noch deutliche Unterschiede im Vergleich zu Ba-
den-Württemberg oder Bayern aufweisen, sich in den
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- nächsten Jahren verbessern.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch ver-
sprochen, dass es in dieser Legislaturperiode (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
sein soll!) der FDP)
– Dazu komme ich noch, keine Sorge. Je besser sich die Löhne in den neuen Bundesländern
entwickeln, desto schneller geschieht die Rentenanpas-
Im Koalitionsvertrag haben wir als christlich-liberale
sung.
Koalition vereinbart, noch in dieser Legislaturperiode
ein einheitliches Rentensystem in Ost und West einzu- Bei der Diskussion zur Rentenanpassung gehen die
führen. meisten Rentner davon aus, dass eine Rentenanglei-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ chung auch eine Rentenerhöhung bedeutet. Für einige
DIE GRÜNEN]: Dann aber hurtig!) Bürger wird dies zutreffen. Wird der Rentenwert ange-
glichen, wird es Gewinner und ebenso Verlierer geben.
Die christlich-liberale Koalition wird den Demografie- Das ist so.
bericht der Bundesregierung abwarten, der Ende des
Jahres vorliegen und uns die entscheidenden Zahlen zum Als ostdeutsche Christdemokratin wünsche ich mir
Sozial- und Rentensystem liefern wird. natürlich, dass es möglichst keine Verlierer gibt, auch
wenn die Zahl der Gewinner vergleichsweise kleiner
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- werden könnte. Deshalb müssen wir zum Ende des Jah-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der hat doch damit res den Bericht der Bundesregierung, der dann vorliegen
überhaupt nichts zu tun!) wird, genau prüfen und hier, wie im Koalitionsvertrag
Wir rechnen damit, dass wir gegen Ende des Jahres zu vereinbart, noch vor Ende der Wahlperiode Klarheit
einer Entscheidung kommen werden. schaffen.
Ich warne im Interesse der betroffenen Rentner vor Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für die Be-
undurchdachten Entscheidungen und Schnellschüssen. troffenen alles andere als befriedigend ist. Die christlich-
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundeslän- liberale Koalition hat sich ebenso gründlich wie ausgie-
dern haben genauso hart gearbeitet wie ihre Altersgenos- big Zeit genommen, die Verfassungsgerichtsurteile im
sen in den alten Bundesländern. Das sollten wir dabei SGB II und bei Hartz IV umzusetzen. Von daher die Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12713
Heike Brehmer
(A) ladung an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C)
den Grünen, sich zu beteiligen,
Ich erinnere Sie an die erbärmliche Rentenhöhe in der
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DDR: durchschnittlich 400 bis 500 DDR-Mark.
NEN]: Das machen wir doch!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was
wenn wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzent- kostete denn da ein Brötchen?)
wurf vorlegen werden, und sich nicht wie bei der Hartz-
IV-Gesetzgebung zum Bildungs- und Teilhabepaket ein- Zudem war es kaum jemandem möglich, Finanz- oder
fach aus der Verantwortung zu stehlen. Sachwerte für das Alter anzusparen. Nach der Wende
stiegen die Renten erheblich. Auch das ist ein Punkt, auf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den man ruhig einmal stolz sein kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Antrag fordern Sie die radikale Angleichung der Ost- an
die Westrente; Sie sind wieder ganz vorn mit dabei. Be- Nicht vergessen werden darf – auch das ist wichtig,
kanntlich haben Sie sich ja wie keine andere Partei das wenn wir über Rentner und Rente reden –: das bessere
Banner der sozialen Gerechtigkeit über den Kaminsims Sozialsystem, das bessere Gesundheitssystem, das bes-
gehängt. sere Rentensystem und eine bessere Versorgung im Pfle-
gefall. Dies hat konkrete Auswirkungen zum Beispiel
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, sa- auf die Lebenserwartung. Dass sich die Lebenserwar-
gen Sie mal!) tung der Ostdeutschen in den letzten 20 Jahren massiv
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kehren erhöht hat, ist auch eine Folge des Rentensystems.
Sie erst einmal Ihren eigenen Hof, bevor Sie dem klei- (Beifall bei der FDP – Manfred Grund [CDU/
nen Mann vermeintliche Gerechtigkeit versprechen. CSU]: Sehr gut!)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Na, Frau Kol- Das sind doch alles Erfolgsgeschichten, die an dieser
legin!) Stelle auch einmal erwähnt werden müssen. Dass es Er-
In der Rentenangleichung wären Ihnen die ehemaligen folgsgeschichten sind, wollen Sie nicht hören; das tut
DDR-Bürger dankbar dafür, wenn Sie einfach einen Teil mir leid. Trotzdem sind es Erfolgsgeschichten.
des Geldes aus dem SED-Parteivermögen für die Ren- Zur Vollendung der deutschen Einheit gehört nun
tenkasse zur Verfügung stellten. auch, dass wir überall in Deutschland das gleiche Ren-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jetzt tenrecht haben werden. Das ist eine Anstrengung, die
(B) reicht es aber! Das ist alles schon klar! Ganz auch diese Bundesregierung leisten wird. Aber keine (D)
tief in die Kiste! – Weitere Zurufe von der Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir im
LINKEN) Grundsatz diese Unterschiedlichkeit haben. Dies ist und
bleibt ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Län-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dern den Löhnen. Das heißt, die Renten sind auch davon
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth von der abhängig, wie die Verdienstmöglichkeiten der Beschäf-
FDP-Fraktion. tigten im Osten sind. Wenn 40 Jahre lang Großbetriebe
komplett kaputtgewirtschaftet wurden, wenn der Mittel-
(Beifall bei der FDP) stand zerschlagen wurde, wenn Kleinstbetrieben kaum
Luft gelassen wurde, was glauben Sie, was man 20 Jahre
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): später an Wirtschaftskraft und Entlohnung aufbauen
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- kann?
ren! Wir reden über das Rentenrecht Ost bzw. West. Ich (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann
halte hier fest: Nach der Wende stand Deutschland vor hätten Sie es nicht in den Einigungsvertrag hi-
der großen Herausforderung, zwei unterschiedliche So- neinschreiben dürfen!)
zialsysteme miteinander zusammenzuführen. Dazu ge-
hörten die Rentensysteme in beiden Teilen Deutsch- Sie haben eines der größten Verbrechen in diesem Teil
lands. Diesen Kraftakt haben wir innerhalb kurzer Zeit Deutschlands begangen und Schaden angerichtet. Jetzt
zumindest im Hinblick auf diese Thematik geschafft, beschweren Sie sich, dass diejenigen, die versuchen, Ihr
und darauf können wir auch stolz sein. Feuer zu löschen, das Feuer nicht schnell genug löschen.
So geht es auch nicht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
In der DDR gab es – Sie erinnern sich – ein völlig ma- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ein
rodes Sozialsystem; die Altersvorsorge war abgeschrie- Unsinn!)
ben. Dieses System wurde in einer riesigen Kraftanstren-
gung ersetzt. Die West- und Ostdeutschen haben Weil man in der DDR kaum vorsorgen konnte, weil
gemeinsam das marode Rentensystem der DDR über- man nur eine niedrige Rente in Aussicht hatte, weil es
wunden und in ein gesamtdeutsches überführt. übrigens auch keinen großen Unterschied zwischen Ar-
12714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Patrick Kurth (Kyffhäuser)


(A) beitern und Akademikern gab, wurden einst die Ost- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: (C)
rentenpunkte aufgewertet. Das ist eine Schwierigkeit, 20 Jahre! Das ist kein Schnellschuss!)
die wir ebenfalls ansprechen müssen. Es geht nicht nur
um Rentenauszahlung, sondern auch um die Bewertung – In diesen 20 Jahren – der Kollege hat es eben deutlich
der Punkte. Dies muss mit abgearbeitet werden. Dazu gemacht – ist sehr viel geleistet worden. Ich glaube, dass
bedarf es keiner überhasteten Arbeit, sondern dazu be- man darauf stolz sein kann und dies auch hier in aller
darf es der Genauigkeit. Deutlichkeit sagen darf.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Über- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hastet? Hallo, 20 Jahre! Nichts überhastet!) Deswegen ist es nicht redlich, hier von Ungerechtig-
Das wird diese Koalition in dieser Legislaturperiode keit zu reden; vielmehr geht es darum, in einem langfris-
leisten. tigen Prozess diese Gleichheit zu schaffen. Darum sind
wir mit unserer Ministerin bemüht. Wir sind sicher, dass
Sehr herzlichen Dank. wir hier zu einem richtigen, sinnvollen und ausgewoge-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen Ergebnis kommen, nämlich zu einer gerechten Lö-
der CDU/CSU) sung zwischen West und Ost, zwischen Ost und West,
innerhalb des Systems.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: In diesem Sinne herzlichen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich nun das Wort dem Kollegen Ulrich Lange von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Jetzt Ich schließe die Aussprache.
nicht die SED vergessen, Herr Kollege!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Ulrich Lange (CDU/CSU): Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glei-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ches Rentenrecht in Ost und West“. Der Ausschuss emp-
Zu Anfang halte ich ebenso wie der Kollege gerade eben fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
fest, dass sich das Rentensystem, wie wir es nach der sache 17/5961, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Wiedervereinigung für Deutschland geschaffen haben, Grünen auf Drucksache 17/5207 abzulehnen. Wer stimmt
(B) dem Grundsatz nach bewährt hat. Ich danke den Bürge- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (D)
rinnen und Bürgern für 20 Jahre Solidarität im Renten- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
system, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Das nommen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
war ein echter Kraftakt in unserem Land, und meines Er- Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
achtens muss das heute auch einmal gesagt werden.
Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4. Beschlussemp-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine
Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das
gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“.
Rentensystem in dieser Legislaturperiode anzugleichen.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
Aber dass diese Angleichung im Detail schwierig ist und
auf Drucksache 17/5962, den Antrag der Fraktion Die
dass es hierbei zwischen dem Vorschlag der Grünen oder
Linke auf Drucksache 17/4192 abzulehnen. Wir stim-
aber der vermeintlich großen Gerechtigkeit der Linken
men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen
große Differenzierungsprobleme gibt, haben die Vorred-
der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die
nerinnen und Vorredner schon sehr deutlich gemacht.
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Plätze einzunehmen.
„vermeintlich“ müssen Sie streichen!)
Sind die Schriftführer vollzählig an den Urnen? – Das
Wir haben eine Hochwertung der Entgeltpunkte im scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, abzustimmen. Die
Osten. Diese müssten wir dann im Sinne der Gerechtig- Abstimmung ist eröffnet.
keit abschaffen.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!) karten eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführerin-
Wir müssten den Umrechnungsfaktor angleichen. Es
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
gibt also viele Probleme und Punkte im Detail, die ich
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
jetzt nicht alle wiederholen möchte.
kannt gegeben.1)
Angesichts der Komplexität und angesichts der
Schwierigkeit dieser Materie dürfen wir das Problem der Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, wieder
zwischen Ost und West möglicherweise bestehenden die Plätze einzunehmen.
Ungerechtigkeit nicht in einer emotionalen Debatte an-
gehen. Wir dürfen auch keine Schnellschüsse machen. 1) Ergebnis Seite 12716 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12715
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: ten können. Unser Engagement bleibt eingebettet in un- (C)
sere Arbeit für dauerhaften Frieden und demokratische
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Stabilität in der ganzen Region. Glaubwürdigkeit, Wohl-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- wollen und Vertrauen werden uns entgegengebracht. Es
scher Streitkräfte an der United Nations kommt nicht von ungefähr, dass alle Parteien – Israel,
Interim Force in Lebanon (UNIFIL) auf der Libanon und insbesondere die Vereinten Nationen –
Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom um eine Fortsetzung unseres Beitrages zu UNIFIL gebe-
11. August 2006 und folgender Resolutionen, ten haben.
zuletzt 1937 (2010) vom 30. August 2010 des
Wir erleben, anknüpfend an die Regierungserklärung
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
der Bundeskanzlerin von heute Morgen, natürlich eine
– Drucksache 17/5864 – historische Zäsur in der arabischen Welt. Gerade in die-
Überweisungsvorschlag: sen Tagen und in diesen Monaten ist diese Zäsur natür-
Auswärtiger Ausschuss (f) lich der Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfindet.
Rechtsausschuss In dem Streben nach mehr Freiheit, mehr Demokratie
Verteidigungsausschuss und größerem persönlichen Wohlstand in der arabischen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Welt liegt auch eine große Chance für uns Europäer. Es
Entwicklung ist die Chance auf ein neues Kapitel der gesellschaftli-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union chen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ende
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO der Diktaturen in Tunesien und in Ägypten gibt Hoff-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nung.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu In anderen Teilen der Region überwiegt aber immer
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be- noch Besorgnis. Auch im Libanon – darum kann man
schlossen. nicht herumreden – ist die Lage in den letzten Monaten
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem nicht einfacher geworden. Seit Januar ist das Land ohne
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle. Regierung. Eine Regierungsbildung ist nicht in Sicht.
Die Situation der Menschen in den palästinensischen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Flüchtlingslagern bleibt angespannt. Bei der Grenzfest-
der CDU/CSU) legung mit Syrien herrscht Stillstand. Noch immer ver-
suchen die Regierungen in Syrien und im Iran, den Liba-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- non zu dominieren. Hinweise auf Waffenlieferungen an
wärtigen: die Hisbollah sind erdrückend eindeutig.
(B) (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme als Grund-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik
lage für die Entscheidung des Deutschen Bundestages
Deutschland unterstützt die UNIFIL-Mission zum
gehört also nicht nur das, was unsere Frauen und Männer
Schutz der libanesischen Küste. Dieser Schutz der liba-
an Erfolgen erreicht haben, sondern natürlich auch eine
nesischen Küste ist aus unserer Sicht aber keine Dauer-
kritische Würdigung der Umstände einschließlich der
aufgabe der Staatengemeinschaft und auch keine Dauer-
politischen Entwicklungen, die uns alle in diesem Hause
aufgabe für uns. Damit der Libanon diese Aufgabe
unzweifelhaft beunruhigen. Ich denke, man muss diesen
schultern kann, haben wir im vergangenen Jahr nach ei-
Punkt hier ausdrücklich ansprechen, weil man sonst
ner umfangreichen Debatte auch hier im Deutschen Bun-
nicht zu einer abgewogenen Entscheidung kommen
destag umgesteuert.
kann. Der Eindruck, das sei ein leichter Einsatz, der Ein-
Das geänderte Mandat setzt den Schwerpunkt auf die druck, alles sei in Ordnung und alles auf bestem Wege,
Ausbildung der libanesischen Marine. In diesem Jahr täuscht. Dies anzunehmen, wäre fahrlässig. Wir müssen
bleiben wir auf dem Kurs, den wir im letzten Jahr neu auch die Schwierigkeiten dieses Einsatzes, insbesondere
eingeschlagen haben. Heute ist der Libanon in der Lage, auch die politischen Schwierigkeiten dieses Einsatzes,
mit Radaranlagen die Küsten zu überwachen. Das ist ein sehen.
Erfolg unserer Unterstützung und wird auch die Sicher-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
heit für die Handelsmarine erhöhen und damit die
Versorgung der Menschen im Libanon verbessern. Des- Was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, ist nicht
wegen möchte ich vorab und zuallererst allen Frauen nur ein Drama und schrecklich für die Menschen, die für
und Männern, allen Soldatinnen und Soldaten danken, Freiheit auf die Straße gehen und Repression und Unter-
die bei UNIFIL so viel erreicht haben und die unter sehr drückung erleiden, sondern das, was wir in diesen Tagen
großer persönlicher Entbehrung diesen Einsatz als stabi- in Syrien erleben, hat auch viel Störpotenzial für den Li-
lisierenden Faktor in der Region tragen. banon. Anfang der Woche haben wir in Brüssel eine ent-
schlossene Antwort auf die fortgesetzte Repression der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
syrischen Führung gegen das eigene Volk gegeben. Die
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Sanktionen sind zweistufig beschlossen worden, übri-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
gens auch in Einklang mit unseren Partnern, den Verei-
Noch braucht der Libanon unsere Hilfe. Wir setzen nigten Staaten von Amerika. Auch die Erklärung der G 8
weiter auf Ausbildung und Training, weil wir uns damit in Deauville lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, was
eine Perspektive auf Beendigung des Einsatzes erarbei- die entsprechende Kritik an dem syrischen Präsidenten
12716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) und der syrischen Führung angeht. Die Sanktionen sind Schluss nur noch eine Ergänzung machen. Es ist ein (C)
beschlossen und werden dementsprechend auch wirken, Fenster der Gelegenheit, vielleicht ist es auch ein histori-
weil sie zielgerichtet beschlossen worden sind. sches Fenster der Gelegenheit, dass der arabische Früh-
ling neue Chancen für den Nahost-Friedensprozess för-
Die Unterdrückung des syrischen Volkes ist eine He-
dert. Es gilt aber auch umgekehrt: Der Nahost-
rausforderung der europäischen Wertegemeinschaft. Prä-
Friedensprozess ist entscheidend für den Erfolg des ara-
sident Assad und sein engerer Zirkel sind in der Europäi-
bischen Frühlings.
schen Union derzeit nicht willkommen. Ihre Konten
bleiben eingefroren. Wenn Menschen- und Bürgerrechte (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da hat er
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft verhöhnt wer- recht!)
den, dann muss die europäische Wertegemeinschaft eine
unmissverständliche Antwort geben. Europa hat in die- Dieser gegenseitige Zusammenhang muss gesehen wer-
ser Woche gezeigt, dass es ernst ist und dass wir es ernst den. Das ist die Nachricht, die wir an alle Beteiligten ge-
meinen, wenn es um den Einsatz für Freiheit und Men- ben. Einseitige Schritte, also weder der Siedlungsbau
schenrechte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft noch einseitige Ausrufungen, sind nicht der richtige
geht. Weg. Rückkehr zum Verhandlungstisch, direkte Gesprä-
che – das ist es, was wir jetzt brauchen, und das ist es,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was die Bundesregierung unterstützt.
Zum Schluss möchte ich allerdings auch sagen, dass Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
der Dreh- und Angelpunkt für die gesamte Region die
Fortschritte im Nahost-Friedensprozess sind. Dieser (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Konflikt überlagert seit Jahrzehnten sämtliche Beziehun-
gen in der Region. Die Ereignisse des vorletzten Wo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
chenendes haben gezeigt, wie schnell an der Grenze zwi-
Bevor wir mit der Aussprache fortfahren, möchte ich
schen Israel, Libanon und Syrien Konflikte in Gewalt
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
münden. Wir begrüßen, dass sich Präsident Barack
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
Obama wieder sehr persönlich in den Nahost-Friedens-
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ar-
prozess eingeschaltet hat. Wir sind uns in der Europäi-
beit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
schen Union mit den Vereinigten Staaten einig, dass eine
mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Ren-
Friedenslösung im Nahen Osten nur die Zwei-Staaten-
ten in Ostdeutschland“ geben: abgegebene Stimmen
Lösung sein kann.
566. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein 63, Enthaltun-
Ich will nicht wiederholen, was die Frau Bundeskanz- gen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- (D)
(B)
lerin heute Morgen dazu gesagt hat. Ich will zum nommen.

Endgültiges Ergebnis Wolfgang Bosbach Erich G. Fritz Ursula Heinen-Esser


Abgegebene Stimmen: 566; Norbert Brackmann Dr. Michael Fuchs Frank Heinrich
davon Klaus Brähmig Hans-Joachim Fuchtel Rudolf Henke
Michael Brand Alexander Funk Michael Hennrich
ja: 503
Dr. Reinhard Brandl Ingo Gädechens Jürgen Herrmann
nein: 63 Helmut Brandt Dr. Peter Gauweiler Ansgar Heveling
Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Thomas Gebhart Ernst Hinsken
Ja Dr. Helge Braun Norbert Geis Peter Hintze
Heike Brehmer Alois Gerig Christian Hirte
CDU/CSU Ralph Brinkhaus Eberhard Gienger Robert Hochbaum
Cajus Caesar Michael Glos Karl Holmeier
Ilse Aigner Gitta Connemann Josef Göppel Franz-Josef Holzenkamp
Peter Altmaier Alexander Dobrindt Peter Götz Joachim Hörster
Peter Aumer Thomas Dörflinger Dr. Wolfgang Götzer Anette Hübinger
Thomas Bareiß Marie-Luise Dött Reinhard Grindel Thomas Jarzombek
Norbert Barthle Dr. Thomas Feist Hermann Gröhe Dieter Jasper
Günter Baumann Enak Ferlemann Michael Grosse-Brömer Dr. Franz Josef Jung
Ernst-Reinhard Beck Ingrid Fischbach Markus Grübel Dr. Egon Jüttner
(Reutlingen) Hartwig Fischer (Göttingen) Manfred Grund Bartholomäus Kalb
Veronika Bellmann Dirk Fischer (Hamburg) Monika Grütters Hans-Werner Kammer
Dr. Christoph Bergner Axel E. Fischer (Karlsruhe- Olav Gutting Steffen Kampeter
Peter Beyer Land) Florian Hahn Alois Karl
Steffen Bilger Dr. Maria Flachsbarth Dr. Stephan Harbarth Bernhard Kaster
Clemens Binninger Klaus-Peter Flosbach Jürgen Hardt Siegfried Kauder (Villingen-
Peter Bleser Herbert Frankenhauser Gerda Hasselfeldt Schwenningen)
Dr. Maria Böhmer Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Matthias Heider Volker Kauder
Wolfgang Börnsen (Hof) Helmut Heiderich Dr. Stefan Kaufmann
(Bönstrup) Michael Frieser Mechthild Heil Roderich Kiesewetter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12717
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Eckart von Klaeden Erwin Rüddel Sören Bartol Dr. Karl Lauterbach (C)
Ewa Klamt Albert Rupprecht (Weiden) Bärbel Bas Steffen-Claudio Lemme
Volkmar Klein Anita Schäfer (Saalstadt) Sabine Bätzing-Lichtenthäler Gabriele Lösekrug-Möller
Jürgen Klimke Dr. Wolfgang Schäuble Dirk Becker Kirsten Lühmann
Axel Knoerig Dr. Annette Schavan Lothar Binding (Heidelberg) Caren Marks
Jens Koeppen Karl Schiewerling Gerd Bollmann Katja Mast
Manfred Kolbe Norbert Schindler Klaus Brandner Hilde Mattheis
Dr. Rolf Koschorrek Tankred Schipanski Willi Brase Petra Merkel (Berlin)
Hartmut Koschyk Georg Schirmbeck Bernhard Brinkmann Dr. Matthias Miersch
Thomas Kossendey Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Dr. Rolf Mützenich
Michael Kretschmer Patrick Schnieder Edelgard Bulmahn Andrea Nahles
Gunther Krichbaum Dr. Andreas Schockenhoff Marco Bülow Thomas Oppermann
Dr. Günter Krings Nadine Schön (St. Wendel) Ulla Burchardt Holger Ortel
Rüdiger Kruse Dr. Ole Schröder Martin Burkert Aydan Özoğuz
Bettina Kudla Bernhard Schulte-Drüggelte Petra Crone Heinz Paula
Dr. Hermann Kues Uwe Schummer Martin Dörmann Johannes Pflug
Andreas G. Lämmel Armin Schuster (Weil am Elvira Drobinski-Weiß Joachim Poß
Dr. Norbert Lammert Rhein) Garrelt Duin Dr. Wilhelm Priesmeier
Katharina Landgraf Detlef Seif Sebastian Edathy Florian Pronold
Ulrich Lange Johannes Selle Ingo Egloff Dr. Sascha Raabe
Dr. Max Lehmer Reinhold Sendker Siegmund Ehrmann Mechthild Rawert
Paul Lehrieder Dr. Patrick Sensburg Dr. h. c. Gernot Erler Stefan Rebmann
Dr. Ursula von der Leyen Bernd Siebert Petra Ernstberger Dr. Carola Reimann
Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Karin Evers-Meyer Sönke Rix
Matthias Lietz Johannes Singhammer Elke Ferner René Röspel
Dr. Carsten Linnemann Jens Spahn Gabriele Fograscher Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patricia Lips Carola Stauche Dr. Edgar Franke Michael Roth (Heringen)
Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Frank Steffel Dagmar Freitag Marlene Rupprecht
Dr. Michael Luther Erika Steinbach Sigmar Gabriel (Tuchenbach)
Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Michael Gerdes Anton Schaaf
Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier Martin Gerster Axel Schäfer (Bochum)
Andreas Mattfeldt Gero Storjohann Iris Gleicke Bernd Scheelen
Stephan Mayer (Altötting) Stephan Stracke Günter Gloser Marianne Schieder
Dr. Michael Meister Max Straubinger Ulrike Gottschalck (Schwandorf)
Maria Michalk Karin Strenz Angelika Graf (Rosenheim) Werner Schieder (Weiden)
(B) Thomas Strobl (Heilbronn) Silvia Schmidt (Eisleben)
(D)
Dr. h. c. Hans Michelbach Kerstin Griese
Dr. Mathias Middelberg Lena Strothmann Michael Groschek Carsten Schneider (Erfurt)
Philipp Mißfelder Michael Stübgen Michael Groß Ottmar Schreiner
Dietrich Monstadt Dr. Peter Tauber Wolfgang Gunkel Swen Schulz (Spandau)
Marlene Mortler Antje Tillmann Hans-Joachim Hacker Ewald Schurer
Dr. Gerd Müller Dr. Hans-Peter Uhl Bettina Hagedorn Frank Schwabe
Stefan Müller (Erlangen) Arnold Vaatz Klaus Hagemann Dr. Martin Schwanholz
Dr. Philipp Murmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Michael Hartmann Rolf Schwanitz
Michaela Noll Stefanie Vogelsang (Wackernheim) Stefan Schwartze
Dr. Georg Nüßlein Andrea Astrid Voßhoff Hubertus Heil (Peine) Rita Schwarzelühr-Sutter
Franz Obermeier Dr. Johann Wadephul Rolf Hempelmann Dr. Carsten Sieling
Eduard Oswald Marco Wanderwitz Gustav Herzog Sonja Steffen
Henning Otte Kai Wegner Gabriele Hiller-Ohm Christoph Strässer
Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg) Petra Hinz (Essen) Kerstin Tack
Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Eva Högl Franz Thönnes
Dr. Joachim Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Christel Humme Wolfgang Tiefensee
Sibylle Pfeiffer Peter Wichtel Josip Juratovic Rüdiger Veit
Beatrix Philipp Annette Widmann-Mauz Oliver Kaczmarek Ute Vogt
Ronald Pofalla Klaus-Peter Willsch Johannes Kahrs Dr. Marlies Volkmer
Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier- Dr. h. c. Susanne Kastner Andrea Wicklein
Ruprecht Polenz Becker Ulrich Kelber Waltraud Wolff
Eckhard Pols Dagmar Wöhrl Lars Klingbeil (Wolmirstedt)
Thomas Rachel Dr. Matthias Zimmer Hans-Ulrich Klose Uta Zapf
Eckhardt Rehberg Wolfgang Zöller Dr. Bärbel Kofler Dagmar Ziegler
Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew Daniela Kolbe (Leipzig) Manfred Zöllmer
Lothar Riebsamen Fritz Rudolf Körper Brigitte Zypries
SPD
Josef Rief Anette Kramme
FDP
Klaus Riegert Ingrid Arndt-Brauer Nicolette Kressl
Dr. Heinz Riesenhuber Rainer Arnold Angelika Krüger-Leißner Jens Ackermann
Johannes Röring Doris Barnett Ute Kumpf Christian Ahrendt
Dr. Norbert Röttgen Dr. Hans-Peter Bartels Christine Lambrecht Christine Aschenberg-
Dr. Christian Ruck Klaus Barthel Christian Lange (Backnang) Dugnus
12718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Daniel Bahr (Münster) Dr. Martin Neumann Memet Kilic Heidrun Dittrich (C)
Florian Bernschneider (Lausitz) Sven-Christian Kindler Werner Dreibus
Sebastian Blumenthal Dirk Niebel Maria Klein-Schmeink Dr. Dagmar Enkelmann
Claudia Bögel Hans-Joachim Otto Ute Koczy Wolfgang Gehrcke
Nicole Bracht-Bendt (Frankfurt) Tom Koenigs Nicole Gohlke
Klaus Breil Gisela Piltz Sylvia Kotting-Uhl Diana Golze
Rainer Brüderle Dr. Christiane Ratjen- Oliver Krischer Annette Groth
Angelika Brunkhorst Damerau Agnes Krumwiede Dr. Gregor Gysi
Ernst Burgbacher Dr. Birgit Reinemund Fritz Kuhn Heike Hänsel
Marco Buschmann Dr. Peter Röhlinger Stephan Kühn Dr. Rosemarie Hein
Sylvia Canel Dr. Stefan Ruppert Renate Künast Inge Höger
Helga Daub Björn Sänger Markus Kurth Dr. Barbara Höll
Reiner Deutschmann Frank Schäffler Undine Kurth (Quedlinburg) Andrej Hunko
Dr. Bijan Djir-Sarai Christoph Schnurr Monika Lazar Ulla Jelpke
Patrick Döring Jimmy Schulz Nicole Maisch Katja Kipping
Mechthild Dyckmans Marina Schuster Agnes Malczak Jan Korte
Rainer Erdel Dr. Erik Schweickert Beate Müller-Gemmeke Jutta Krellmann
Jörg van Essen Werner Simmling Dr. Konstantin von Notz Katrin Kunert
Ulrike Flach Judith Skudelny Omid Nouripour Caren Lay
Otto Fricke Dr. Hermann Otto Solms Friedrich Ostendorff Sabine Leidig
Dr. Edmund Peter Geisen Joachim Spatz Dr. Hermann Ott Ralph Lenkert
Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Max Stadler Lisa Paus Michael Leutert
Hans-Michael Goldmann Torsten Staffeldt Brigitte Pothmer Ulla Lötzer
Heinz Golombeck Dr. Rainer Stinner Tabea Rößner Thomas Lutze
Miriam Gruß Stephan Thomae Claudia Roth (Augsburg) Ulrich Maurer
Joachim Günther (Plauen) Florian Toncar Krista Sager Dorothee Menzner
Dr. Christel Happach-Kasan Serkan Tören Manuel Sarrazin Cornelia Möhring
Heinz-Peter Haustein Johannes Vogel Elisabeth Scharfenberg Kornelia Möller
(Lüdenscheid) Christine Scheel Niema Movassat
Manuel Höferlin
Dr. Daniel Volk Dr. Gerhard Schick Wolfgang Nešković
Elke Hoff
Dr. Guido Westerwelle Dr. Frithjof Schmidt Thomas Nord
Birgit Homburger
Dr. Claudia Winterstein Dorothea Steiner
Heiner Kamp Jens Petermann
Dr. Volker Wissing Dr. Wolfgang Strengmann-
Michael Kauch Richard Pitterle
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Kuhn
Dr. Lutz Knopek Yvonne Ploetz
Hans-Christian Ströbele
(B) Pascal Kober Ingrid Remmers (D)
BÜNDNIS 90/ Dr. Harald Terpe
Dr. Heinrich L. Kolb Paul Schäfer (Köln)
DIE GRÜNEN Markus Tressel
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Kathrin Senger-Schäfer
Jürgen Trittin
Sebastian Körber Marieluise Beck (Bremen) Raju Sharma
Daniela Wagner
Holger Krestel Volker Beck (Köln) Wolfgang Wieland Dr. Petra Sitte
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Cornelia Behm Dr. Valerie Wilms Kersten Steinke
Heinz Lanfermann Birgitt Bender Josef Philip Winkler Sabine Stüber
Sibylle Laurischk Viola von Cramon-Taubadel Dr. Kirsten Tackmann
Harald Leibrecht Ekin Deligöz Dr. Axel Troost
Sabine Leutheusser- Katja Dörner Nein Alexander Ulrich
Schnarrenberger Hans-Josef Fell Kathrin Vogler
Lars Lindemann Dr. Thomas Gambke DIE LINKE Johanna Voß
Christian Lindner Kai Gehring Agnes Alpers Sahra Wagenknecht
Dr. Martin Lindner (Berlin) Katrin Göring-Eckardt Dr. Dietmar Bartsch Halina Wawzyniak
Michael Link (Heilbronn) Britta Haßelmann Herbert Behrens Harald Weinberg
Dr. Erwin Lotter Bettina Herlitzius Karin Binder Katrin Werner
Oliver Luksic Priska Hinz (Herborn) Matthias W. Birkwald Jörn Wunderlich
Horst Meierhofer Dr. Anton Hofreiter Heidrun Bluhm
Patrick Meinhardt Bärbel Höhn Christine Buchholz BÜNDNIS 90/
Gabriele Molitor Ingrid Hönlinger Eva Bulling-Schröter DIE GRÜNEN
Jan Mücke Thilo Hoppe Roland Claus Kerstin Müller (Köln)
Petra Müller (Aachen) Uwe Kekeritz Sevim Dağdelen
Burkhardt Müller-Sönksen Katja Keul Dr. Diether Dehm

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das ist eindeutig!) ten und in Nordafrika haben sich tiefgreifend verändert.
Mit Sympathie und Begeisterung, aber auch mit ange-
Als nächstem Redner erteile ich jetzt das Wort dem haltenem Atem verfolgen wir, was in Ägypten und Tu-
Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion. nesien geschieht. Wir schauen aber auch mit großer
Sorge nach Libyen, Syrien und in den Jemen. Wir strei-
Günter Gloser (SPD): ten auch darüber, was die richtige Antwort auf das Ver-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und halten dieser gewalttätigen Regime ist.
Kollegen! Die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Os-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12719
Günter Gloser
(A) Wir verfolgen gespannt die Entwicklung im notwen- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier (C)
digen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästi- nicht immer auf das Schwanken und Herumeiern der
nensern. Herr Außenminister, wir unterstreichen, was FDP in der Opposition bis 2009 bei der Haltung zu
Sie zum Schluss gesagt haben: Jetzt öffnet sich zum wie- UNIFIL eingehen; das ist nach wie vor kein Ruhmesblatt
derholten Male ein Fenster der Gelegenheit, um endlich für die Liberalen. Ich frage Sie aber heute: Warum ist die
zu einer Lösung zu kommen. Bundesregierung, warum sind die FDP-Fraktion und die
Unionsfraktion im Falle Libanons für einen Einsatz der
Meine Forderung ist, neben diesen aktuellen Brenn- Marine zur Verhinderung von Waffenschmuggel, im
punkten nicht die Länder zu vergessen, die gerade nicht Falle Libyens aber dagegen? Wir erinnern uns schmerz-
im Fokus stehen. Dazu gehören zum Beispiel Marokko lich an den Abzug deutscher Marinekontingente und die
und Algerien, aber auch der Libanon. Insofern steht die bis dahin nie dagewesene Aufkündigung der Bündnis-
Verlängerung der UNIFIL-Mission in einem größeren solidarität im Falle Libyens. Ich frage noch einmal: Was
Zusammenhang. kann sinnvoller sein, als illegale Waffenlieferungen zu
UNIFIL ist ein Baustein der Stabilität im Libanon und unterbinden?
der regionalen Stabilität für die Nachbarn des Landes. (Beifall bei der SPD)
Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung
in der Region geleistet. Die Mission ist beispielhaft für In beiden Fällen, bei der Mission im Libanon und der
eine langfristige und präventive Friedenspolitik. Sie Mission in Libyen, gibt es ein eindeutiges Mandat des
vollzieht sich ohne große Schlagzeilen. So gilt auch UN-Sicherheitsrates. Es ist mit keinem Argument zu be-
heute mein Dank allen Soldatinnen und Soldaten der ge- gründen, dass sich die Bundeswehr an dem einen Einsatz
samten Mission, die sich seit 2006 an diesem Einsatz be- beteiligt, aber die Bundesregierung den anderen Einsatz
teiligt haben, aber sich auch auf die kommenden Ein- gegen Waffenlieferungen an das Regime Gaddafis ab-
sätze im Rahmen der UNIFIL-Mission vorbereiten. lehnt. Ich will hier gar nicht von der Enthaltung
Deutschlands im Sicherheitsrat in dieser Frage sprechen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Letztlich kann ich der Bundesregierung nur beschei-
GRÜNEN) nigen: Sie wenden doppelte Standards an. Genau dies,
Sie leisten eine wichtige Arbeit für den Frieden, die in liebe Kolleginnen und Kollegen, entspricht aber nicht
der Öffentlichkeit abseits der vielen Brennpunkte viel zu unserem langfristigen Ziel der Verrechtlichung von in-
wenig gewürdigt wird. ternationalen Beziehungen. Es schwächt die Rolle
Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Das ist nun wirk-
(B) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die lich kein ermutigendes Zeichen deutscher Außenpolitik. (D)
SPD-Fraktion hatte bei UNIFIL immer eine klare Linie:
Das politisch Machbare, aber auch das militärisch Mög- Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen
liche, was für die Sicherung des Friedens im Nahen und wurde die Debatte über die Nahostpolitik von zwei lang
Mittleren Osten geleistet werden kann, findet unsere Zu- erwarteten Reden geprägt: Zunächst hat US-Präsident
stimmung, unabhängig davon, ob wir an der Regierung Barack Obama eine, wie ich finde, richtungsweisende
sind oder in der Opposition. Der damalige Außenminis- Rede gehalten und eindringlich Verhandlungen als Weg
ter Frank-Walter Steinmeier hat 2006 keine Minute ge- zur Zwei-Staaten-Lösung gefordert. Als Grundlage emp-
zögert, eine positive Antwort auf die Anfrage von UN- fahl er die Grenzen von 1967, auf die auch VN-Resolu-
Generalsekretär Kofi Annan nach einer deutschen Betei- tionen Bezug nehmen. Der israelische Ministerpräsident
ligung an UNIFIL zu geben. hat dies wenige Tage später in seiner Rede vor dem Kon-
gress zurückgewiesen. Zwar sprach er von der Bereit-
Wir erinnern uns: Die zentrale Aufgabe der maritimen schaft zu großzügigen Zugeständnissen an die Palästi-
Komponente von UNIFIL ist es, Waffenschmuggel von nenser, blieb dabei aber vage und zugleich in allen
Seeseite zu unterbinden sowie die Streitkräfte des Lan- Kernpunkten möglicher Verhandlungen kompromisslos.
des in die Lage zu versetzen, diese Aufgabe bald selbst-
ständig zu übernehmen. Dies war dringlich und ist nun Worin besteht der Bezug dieser Vorgänge zu UNIFIL?
angesichts der instabilen innenpolitischen Lage im Liba- Erstens in der geografischen Nähe, zweitens in der gro-
non und der Schwächung der staatlichen Strukturen ßen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die seit Jahr-
durch den Krieg im Sommer 2006 umso dringlicher. zehnten im Libanon leben, drittens in dem Zwischenfall
an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon im Au-
Die Mission hat ihre Aufgabe von 2006 bis heute in gust des vergangenen Jahres, bei dem vier Menschen
vorbildlicher Weise erfüllt. Damit ist sie aber noch nicht starben, und schließlich in den ebenfalls tödlichen
am Ende; denn die eigenen Fähigkeiten der libanesi- Grenzzwischenfällen vor nur gut zehn Tagen, als es an
schen Armee sind noch nicht ausreichend, um ohne die verschiedenen Grenzen Israels zu Auseinandersetzungen
internationale Präsenz auszukommen. Auch wurde der mit Grenztruppen kam.
Waffenschmuggel, wie schon gesagt, nur an der Seeseite
unterbunden; der Schmuggel über die Landgrenze mit All diese Punkte zeigen, wie eng die Stabilität des
Syrien stellt in der Tat ein weiteres großes Problem dar. Libanons mit der Sicherheit Israels verbunden ist. Da
Schon unter der letzten Bundesregierung mit SPD-Betei- verwundert es nicht, dass Israel nach wie vor die Präsenz
ligung wurde deshalb unter anderem eine enge Zusam- auch deutscher Truppen in der Region ausdrücklich be-
menarbeit im Zollbereich begonnen. grüßt. Dies ist neben dem eigenen Interesse an der Stabi-
12720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Günter Gloser
(A) lität in der Region insgesamt ein gewichtiger Grund für Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): (C)
unsere Zustimmung zu diesem Antrag. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Respekt, Herr Verteidigungsminister. Ich weiß nicht, ob
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) das eine besondere Variante war, ob das eine besondere
Vor kurzem hat der Sonderbeauftragte des Generalse- Finte war oder ob das künftig Ihr Stil sein wird.
kretärs der Vereinten Nationen, Michael Williams, (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das
Deutschland und auch Berlin besucht. Er hat auch mit war Stil!)
Parlamentariern gesprochen. Diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die an diesen Gesprächen teilgenommen Ich finde es spannend, das herauszubekommen. Das war
haben, wissen, dass Michael Williams ausdrücklich un- eine überraschende Wendung. Allen Respekt! Das hat
terstrichen hat, wie wichtig diese UNIFIL-Mission ist. mir Spaß gemacht.
Sie ist nämlich auch ein sichtbares Zeichen dafür, dass (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Na,
die Vereinten Nationen in der sich stark verändernden und uns erst!)
Region weiter präsent sind. Es ist wichtig, dass in dieser
veränderten Umgebung die Fahnen der Vereinten Natio- – Und Ihnen erst einmal.
nen wehen und weiterhin ein deutscher Beitrag geleistet Jetzt zur Sache. Ich hoffe, dass das, was ich jetzt aus-
wird. Dieser Beitrag ist, wie ich finde, viel wichtiger, als führen werde, Ihnen nicht so viel Spaß macht. Das wird
die relativ kleine Zahl von 300 deutschen Soldatinnen man dann ja sehen.
und Soldaten das vielleicht vermuten lässt.
(Beifall bei der LINKEN)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich möchte daran erinnern, dass bei den Debatten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten über das UNIFIL-Mandat Gregor Gysi, Norman Paech,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des der damals hier Abgeordneter war, und ich selbst immer
Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ wieder betont haben, dass das UNIFIL-Mandat notwen-
CSU]) dig war, um den Waffenstillstand hinzubekommen.
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ohne das Mandat hätte es den Waffenstillstand nicht ge-
Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister, geben.
Dr. Thomas de Maizière.
Ich war während des Krieges in Beirut. Ich habe gese-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen, wie die Raketen dort eingeschlagen sind. Ich habe (D)
gesehen, dass man nicht aus der Stadt herauskam. Ich
habe gesehen, dass sich die Reichen nach Syrien abset-
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- zen konnten und insbesondere die Situation in den paläs-
teidigung: tinensischen Flüchtlingslagern katastrophal war. Viele
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Menschen hatten überhaupt keine Chance, die Stadt zu
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kol- verlassen. All das hat mir die Notwendigkeit vor Augen
lege Gloser, über Libyen diskutieren wir ein anderes geführt, dass das abgeschlossen wird. Ich will hinzufü-
Mal. Heute diskutieren wir über Libanon und Israel. gen: Ich bin froh, dass der Waffenstillstand bis heute ge-
halten hat. Er ist zwar fragil und wurde immer wieder
In der Sache ist nur noch zu ergänzen, dass das Man- gebrochen, im Wesentlichen hat er aber gehalten. Die Si-
dat hinsichtlich der Höhe im Vergleich zum laufenden tuation im Libanon, in Syrien und dem gesamten Raum
Jahr unverändert bleibt. ist schwieriger geworden. Keiner kann eine Garantie ab-
Ich schließe mich dem hier allseits ausgesprochenen geben, dass es beim Waffenstillstand bleiben wird.
Dank an die Soldatinnen und Soldaten an, beziehe mich Ich bin entsetzt über die Auseinandersetzungen in Sy-
auf die Ausführungen unseres Außenministers, die ich rien und darüber, wie die Regierung unter Präsident
inhaltlich voll teile, und bitte um Ihre Zustimmung. Assad mit den Demonstranten umgeht. Wer gegen das
eigene Volk mit Waffen vorgeht, verwirkt den Anspruch,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für das Volk sprechen zu dürfen. Das muss unbedingt be-
tont werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Was die Dauer der Rede angeht, sollten Sie sich das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zum Beispiel nehmen, Kollege Gehrcke. – Das Wort hat
der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Ich will jetzt keine Libyen-Debatte starten, sehr ge-
Linke. ehrte Herren Minister. Sie wissen aber ganz genau, dass
eine solche Resolution im Weltsicherheitsrat heute nicht
(Beifall bei der LINKEN – Markus Grübel noch einmal verabschiedet würde. Die Erklärungen
[CDU/CSU]: Die Opposition ist ratlos! – Russlands, Chinas, Brasiliens und anderer Staaten besa-
Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gen eindeutig, dass sich diese Länder getäuscht fühlen.
GRÜNEN]: Wenn die Regierung nicht mehr Sie wissen, dass es derzeit keine Chance gibt, aus einem
zu sagen hat!) Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, irgendwie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12721
Wolfgang Gehrcke
(A) herauszukommen. Es hat sich erneut bestätigt: Krieg ist Ich möchte mich selbstverständlich nicht nur dem (C)
kein Mittel, um politische Probleme zu lösen. Dank an die Soldatinnen und Soldaten anschließen, son-
dern auch deren Angehörigen danken, die monatelang
(Beifall bei der LINKEN) von ihren Geliebten getrennt werden. Herzlichen Dank
Jetzt komme ich zum Mandat selber. Zunächst habe für diese Toleranz.
ich begründet, warum das Mandat überhaupt erteilt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
wurde. Jetzt will ich Ihnen erklären, warum wir nicht zu- bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
gestimmt haben. Für mich gibt es drei sehr ernsthafte
Argumente dagegen. Ein Argument ist streckenweise Wir haben die UNIFIL-Mission immer unterstützt,
von der FDP, sogar bis in die Regierung vertreten wor- auch deswegen, weil sie tatsächlich geholfen hat, den
den. Das macht es nicht besser, aber auch nicht schlech- Krieg zu beenden. Ohne den Beschluss der Vereinten
ter. Nationen als die rechtliche Grundlage für diesen Einsatz
und ohne den Einsatz selbst, den wir mit beschlossen ha-
Erstes Argument. Es war nicht notwendig, ein Kapi-
ben, wäre dieser Krieg nicht zu Ende gegangen, und es
tel-VII-Mandat zu erteilen. Es gab die grundsätzliche
hätte den Waffenstillstand nicht gegeben.
Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich auf das Man-
dat einzulassen. Man hätte in der klassischen Form von Noch einmal zum Mandat: Man kann natürlich Kritik
Blauhelm-Einsätzen auf Grundlage eines Kapitel-VI- am Mandat äußern, das werde ich auch gleich tun. Die
Mandates vorgehen können. Das ist leider ausgeschlagen Zielsetzung des Mandates aber ist für mich und die
worden. Das habe ich immer für einen großen Fehler ge- Mehrheit meiner Fraktion immer wieder Grund gewe-
halten, und ich halte es heute noch für einen großen Feh- sen, dem zuzustimmen.
ler.
Die Situation in der Region, auch im Libanon, verän-
Zweites Argument. Wir hatten vorgeschlagen, auf der dert sich jedoch. Sinn der Außenpolitik ist es, diese Dy-
Landseite die Truppen auf beiden Seiten der Grenzen zu namik zu begreifen und mitzugestalten. Wir bekommen
stationieren. Das hätte die Neutralität der Vereinten Na- aber ein Mandat vorgelegt, das die Veränderungen in der
tionen stärker unterstrichen. Region nicht berücksichtigt. Das ist enttäuschend. Dabei
Drittes Argument. Ich möchte nicht, dass deutsche hat sich so vieles verändert – Herr Außenminister, Sie
Soldaten in dieser Region eingesetzt werden. Das richtet haben es eingangs selbst gesagt –: die Situation an den
sich nicht gegen die Soldaten. Ich kann mir verschiedene Grenzen – vor wenigen Tagen haben wir es erlebt –, die
Szenarien vorstellen, wie deutsche Soldaten in diese Debatte in den USA, die Reden der vergangenen Tage,
Auseinandersetzung einbezogen werden. Ich möchte der Waffenschmuggel, der zwischen dem Libanon und
(B) nicht, dass solche Szenarien Realität werden. Das war Syrien weiterläuft. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass (D)
für mich das wichtigste Argument dagegen. der UN-Generalsekretär alle Staaten auffordert, sich ver-
stärkt im Süden Libanons zu engagieren. Ein weiteres
Andere hingegen waren bereit, hier zuzustimmen. Es Beispiel: Der Generalsekretär sagt, man brauche min-
gibt eine ganz bestimmte deutsche Geschichte. Diese ist destens neun Schiffe, um eine Mission erfolgreich aus-
gestern hier in eigenartiger Art und Weise debattiert zuführen. Derzeit gibt es nur acht Schiffe. Das ist auch
worden. Ich ziehe aus der deutschen Geschichte die auf die von Deutschland ausgehende Reduktion zurück-
Lehre, dass deutsche Soldaten in dieser Region nicht zuführen. All diesen Veränderungen gehen Sie nicht
mehr tätig werden sollen. nach. Sie werden dem nicht gerecht.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ich gebe zu: Man braucht dafür Energie. In der deut-
Herr Kollege, Sie sind doch an keiner Stelle schen Außenpolitik erkenne ich zurzeit wenig Energie.
bereit, etwas zu machen! Sie sagen doch über- Das sieht man zum Beispiel daran, dass man bei Libyen
all Nein!) für große Verwirrung gesorgt hat. Man hat gesagt, dass
man eine humanitäre Aktion durchführen will, und am
Ich bitte Sie, zumindest das zu akzeptieren. Ende stellte sich heraus, dass niemand diese verlangt
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. hatte. Das ist Kompensationsaußenpolitik. Diese macht
keinen Sinn und wird der großen Veränderung, die wir
(Beifall bei der LINKEN) zurzeit in der Welt erleben, nicht gerecht.
Es ist enttäuschend, wenn die Deutschen die Lead-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Funktion, die wir innehatten, wie eine heiße Kartoffel
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour vom behandeln und am Ende Brasilien die Lead-Funktion
Bündnis 90/Die Grünen. von den Italienern übernimmt, unter anderem auch des-
wegen, weil die Deutschen sich dermaßen aus der Ver-
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): antwortung gezogen haben. Das ist besonders pikant,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UNIFIL Herr Verteidigungsminister, weil Sie sich in der letzten
– das ist gerade auch vom Kollegen Gehrcke gesagt wor- Woche in Ihrer großen Rede auf die Brasilianer als Bei-
den – ist vom ersten Tage an ein Erfolg gewesen. Die spiel für diejenigen Länder bezogen haben, die Aus-
Mission hat den Frieden gesichert und mitgeholfen, vor landseinsätze aus globaler Perspektive betrachten. Sie
allem den Süden Libanons zu stabilisieren, wenn wir haben gesagt, aus unserem Wohlstand entstehe Verant-
auch von einer echten Stabilität noch weit entfernt sind. wortung. Wie kann es dann sein, dass die Brasilianer da,
12722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Omid Nouripour
(A) wo wir uns aus der Verantwortung stehlen, die Verant- Die Sicherheit vor der Küste Libanons muss gewähr- (C)
wortung übernehmen müssen? leistet werden. Dabei geht es darum, den Waffen-
schmuggel einzugrenzen, aber auch darum, die Fach-
Es ist auch pikant, wenn im Zusammenhang mit der leute der libanesischen Armee und Marine auszubilden,
Ausbildung gesagt wird – das hat der Außenminister damit sie einen eigenen Beitrag zur Sicherheit leisten
heute wieder getan –, dass die Deutschen sich jetzt ver- können. Diese zwei Punkte nehmen wir ernst und setzen
stärkt um die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte wir in dieser Legislaturperiode um; so steht es auch im
kümmern wollen, damit dieser Einsatz am Ende des Ta- Koalitionsvertrag. Wir haben vereinbart, dass wir auf
ges überflüssig wird, und wenn gleichzeitig die militäri- eine schrittweise Reduzierung des deutschen Beitrages
sche Ausbildungshilfe für den Libanon von 2009 auf zur Maritime Task Force hinwirken wollen. Mit dem
2010 von der Priorität 1 in die Priorität 2 herabgestuft Mandat haben wir die Zahl der maximal einzusetzenden
wird. Das kann man begründen; Sie tun es aber nicht. Soldaten von 800 auf 300, also um über 60 Prozent, ge-
Das alles ist von vorne bis hinten nicht kohärent; das ist senkt. Der Auftrag aus dem August 2006 zur Ausbildung
sehr bedauerlich. ist bei weitem noch nicht erfüllt und muss deshalb weiter
Das alles ist Dienst nach Vorschrift. Wenn man sich ausgeführt werden.
anschaut, wie sich die Welt verändert, wie diese Region
Das UNIFIL-Mandat – selbst wenn es in seinem Ent-
gerade auf dem Kopf steht und welch eine Dynamik
stehen, auch hier in Deutschland, sehr umstritten war –
– diese birgt auch große Risiken in sich – in der gesam-
leistet, wie ich schon sagte, einen wichtigen Beitrag zur
ten Region derzeit besteht, dann wissen wir, dass wir
Steigerung des Ansehens der Bundeswehr und natürlich
eine Außenpolitik brauchen, die gestaltet und die nicht
auch zur Handlungsfähigkeit der internationalen Ge-
das tut, was Sie tun, nämlich Dienst nach Vorschrift.
meinschaft. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Man-
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dat gerade auch innerhalb der Europäischen Union sehr
positiv begleitet wird. Allein schon die Vielzahl derjeni-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen, die sich an dieser Mission beteiligen, zeigt, dass es
sowie bei Abgeordneten der SPD) ein funktionierendes Mandat ist.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Seit 2006 leisten 15 Länder entweder größere oder
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat kleinere Beiträge zur UNIFIL Maritime Task Force, von
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der Belgien bis Bangladesch, von Italien bis Indonesien. Ich
CDU/CSU-Fraktion. glaube, dies ist nicht nur im Hinblick auf das Ansinnen
von UNIFIL wichtig, sondern auch ein wichtiger Beitrag
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu den operativen Fähigkeiten, die die Bundeswehr und (D)
neten der FDP) die internationale Gemeinschaft brauchen.
Die Lage im Libanon und in der Region insgesamt ist
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): keineswegs so positiv, wie ich das UNIFIL-Mandat ge-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi- rade dargestellt habe; es ist nur ein sehr kleiner Beitrag
dent! Viele Besucherinnen und Besucher, unter anderem zur Stabilisierung und zur Sicherheit. Im Libanon ist die
auch eine Schülergruppe, haben mich am heutigen Tag Situation sehr schwierig. Dort werden Christen bedroht.
gefragt, wie der Parlamentsalltag gestaltet ist. Als ich Dies wollen wir ändern; das ist ein besonderes Anliegen
dann berichtet habe, dass wir hier auch Bundeswehr- unserer Fraktion. Ich möchte deshalb die Gelegenheit
mandate verlängern und wie wir über Mandate diskutie- nutzen, nicht nur über den maritimen Teil der Sicherheit
ren, hat mich eine Schülerin gefragt, wieso wir das nicht im Libanon zu reden, sondern auch über das, was sonst
einfacher oder besser organisieren, da dies wie ein Rou- noch im Land passiert.
tinevorgang wirkt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich
großen Wert darauf lege, dass wir den Parlamentsvorbe- Am 27. März dieses Jahres explodierte in Zahle, im
halt hier im Deutschen Bundestag, selbst wenn es sich Osten des Libanon, vor einer Syrisch-Orthodoxen Kir-
um ein Mandat handelt, das weitestgehend unstrittig ist, che eine Bombe. Es war nur Glück, dass die 2 Kilo TNT
natürlich nicht in einem Ritual abhandeln, sondern die- an diesem Sonntag nur einen Sachschaden angerichtet
sen tatsächlich ernst nehmen. Das zeigen wir zum Bei- haben. Aber dieser Vorfall zeigt, auch wenn er bei wei-
spiel bei dem Afghanistan-Mandat, das wesentlich um- tem nicht so spektakulär wie andere Vorfälle in der Re-
strittener ist, indem wir den Fortschrittsbericht und gion ist, dass die Situation im Libanon gerade für be-
andere Unterlagen hinzuziehen, um unsere Entschei- drohte Minderheiten nach wie vor problematisch ist.
dungsfindung abzusichern. Daran wird deutlich, dass auch über das UNIFIL-Man-
dat hinaus die Sicherheit und Stabilität im Libanon so-
Ich möchte all denjenigen, die ihren Dienst leisten, wie der Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere vor
und vor allen Dingen ihren Angehörigen sagen, dass ich unmenschlichem Kalkül und brutalen Methoden, wich-
ihnen sehr dankbar bin – das ist auch schon von den vor- tige Anliegen des Deutschen Bundestags und damit un-
herigen Rednern gesagt worden –, dass sie diesen wich- serer Verantwortungsträger sein sollten.
tigen Beitrag leisten und damit dazu beitragen, dass un-
ser Land ein hohes Ansehen genießt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir können bei solchen Geschehnissen nicht tatenlos
neten der FDP) zusehen. Hier ist aber nicht in erster Linie militärisches,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12723
Philipp Mißfelder
(A) sondern vor allem politisches Engagement gefragt. Die Das erste Ziel: Die Vereinten Nationen wollen Hun- (C)
Bundesregierung bemüht sich sehr, in dieser Region ger und Armut bekämpfen; bis zum Jahr 2015 streben
Pflöcke einzuschlagen. Der Deutsche Bundestag hat sie eine Halbierung der Armut an.
mehrere Reisen in die Region durchgeführt und ist an
Das zweite Ziel besteht darin, bis zum Jahr 2015 allen
exponierter Stelle tätig. Die Bundeskanzlerin beispiels-
Kinder auf der Erde eine Grundschulbildung zu ermögli-
weise hat heute die Reise unseres Fraktionsvorsitzenden
chen.
nach Ägypten erwähnt.
Das dritte Ziel ist die Gleichstellung der Geschlechter
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch eine und die Stärkung der Rolle der Frauen.
größere Delegation des Auswärtigen Ausschusses Tune-
sien und Ägypten besucht hat. Damit haben wir verdeut- Das vierte Ziel ist die Senkung der Kindersterblich-
licht, dass wir auch in der derzeitigen unruhigen Phase in keit um zwei Drittel bis zum Jahr 2015.
der arabischen Welt versuchen, enge Bande zu knüpfen
Das fünfte Ziel ist die Verbesserung der Gesundheits-
und eine wichtige Rolle zu spielen, wenngleich dies im
versorgung der Mütter und die Senkung der Müttersterb-
Spannungsverhältnis zwischen der Staatsräson der Siche-
lichkeit um 75 Prozent bis 2015.
rung des Existenzrechts Israels einerseits und der Erwar-
tungshaltung vieler junger Menschen in der arabischen Das sechste Ziel ist die Bekämpfung von HIV/Aids,
Welt andererseits ein sehr schwieriges Unterfangen ist. Malaria und anderen schweren Krankheiten.
Ich glaube, dass Sie alle, meine lieben Kolleginnen Das siebte Ziel ist die ökologische Nachhaltigkeit.
und Kollegen, mit Ihrer politischen Arbeit wichtige Bei- Das achte Ziel sind der Aufbau einer globalen Part-
träge zu dem, was wir im militärischen Bereich erfolg- nerschaft für Entwicklung und faire und gerechte Welt-
reich tun, leisten. Wir müssen deutlich machen, dass wirtschaftsstrukturen.
diese Region für uns sehr wichtig ist. Der Deutsche Bun-
destag muss sich insgesamt viel stärker um diese Region Ich habe diese Ziele ganz bewusst am Anfang hier
bemühen, als es noch vor längerer Zeit der Fall war. Wir noch einmal genannt, weil ich glaube, dass nicht alle, die
dürfen dieses Thema nicht alleine den Mittelmeer-Anrai- uns heute zuschauen, diese acht Ziele kennen. Deswegen
nerstaaten überlassen. ist es richtig und gut gewesen, dass die damalige
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2005 in
Herzlichen Dank. Deutschland eine deutsche Millenniumkampagne mit ins
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leben gerufen hat, die es auf UN-Ebene schon gab und
durch die hier in Deutschland gemeinsam mit vielen
Nichtregierungsorganisationen in der Bevölkerung dafür (D)
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geworben wurde, diese Ziele bekannt zu machen; denn
Ich schließe die Aussprache. wir können in der Entwicklungszusammenarbeit nichts
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf erreichen, wenn nur wir als Fachleute wissen, worum es
Drucksache 17/5864 an die in der Tagesordnung aufge- geht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, bei den Bürgerin-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nen und Bürgern Verständnis dafür zu wecken und sie
verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die mitzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen ist dann auch
Überweisung so beschlossen. bereit, Steuergelder dafür auszugeben, dass Menschen
aus Hunger und Armut befreit werden.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Die Kampagne hat erfolgreich gearbeitet. Seit 2005
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD hat sie etliche Aktionsbündnisse initiiert und unterstützt.
Ich nenne einmal beispielhaft das Aktionsbündnis
Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten Rheinland-Pfalz, länderübergreifende Aktionsbündnisse
– Drucksache 17/5897– in Hessen und Thüringen, die Klimaschutz+ Stiftung
und die Jugendinitiative „Chasing the Dream“. Ein Er-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die folg der Kampagne ist auch, dass mittlerweile über
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- 80 Städte und Kreise in Deutschland die Millenniumser-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das klärung der Städte und Gemeinden in Deutschland unter-
so beschlossen. zeichnet haben, darunter auch Hanau in meinem Wahl-
kreis.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Frak- Es war eine wichtige Aktion der Kampagne, eine
tion das Wort. Städtetour durchzuführen. Herr Hoppe, Sie erinnern
sich: Als Sie Vorsitzender des Ausschusses waren, stan-
Dr. Sascha Raabe (SPD): den Millenniumstore vor dem Reichstag, durch die wir
die Bedeutung dieser acht Ziele auch noch einmal sicht-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
bar machen konnten.
Herren! Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtau-
sendwende richtige, wichtige und ehrgeizige Ziele ge- Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesell-
setzt, die acht sogenannten Millenniumsziele bzw., ins schaft, mit VENRO, mit der Kampagne „Deine Stimme
Deutsche übersetzt, die Jahrtausendentwicklungsziele gegen Armut“ und mit Oxfam, um nur einige zu nennen,
der Vereinten Nationen. die sich dort eingebracht haben. Wir konnten viele pro-
12724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Sascha Raabe


(A) minente Unterstützer gewinnen, auch Fußballspieler, mit viel Zeit, Energie und großem persönlichen (C)
zum Beispiel Philipp Lahm und eine ganze Reihe mehr. Einsatz für eine gerechtere Welt und die Umsetzung
Viele Bürgerinnen und Bürger haben unzählige Stunden der Millenniumsziele ihren Beitrag leisten.
in Eine-Welt-Läden und in Bürgergesprächen über diese
Ziele diskutiert und eine ganz hervorragende Arbeit ge- Das konterkariert ihre oft betonte Wertschätzung des
leistet. An dieser Stelle möchte ich all denen, die diese bürgerlichen Engagement ins Gegenteil.
Kampagne geführt haben, auch Renée Ernst, ein herz- (Michael Brand [CDU/CSU]: Zur Sache bitte
liches Dankeschön für ihre Arbeit aussprechen. und nicht nur persönlich diffamieren!)
(Beifall im ganzen Hause) Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister: Kehren Sie
Wenn so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger um!
eine so erfolgreiche Arbeit machen, dann könnte man ja Liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, egal
meinen, dass der Bundesentwicklungsminister voran- welcher Fraktion Sie angehören, stimmen Sie unserem
schreitet, diesen Menschen dankt und sagt: Es sind jetzt Antrag zu! Denn es kann nicht sein, dass Strukturen, die
noch ein paar Jahre bis zum Jahr 2015, eure tolle Arbeit seit 2005 geschaffen wurden, jetzt auf einmal kaputtge-
führe ich fort. – Das wäre eigentlich das Logischste der hen, weil die Finanzierung ausbleibt. Denn wir haben die
Welt. Was aber macht dieser Entwicklungsminister? Was Ziele noch längst nicht erreicht.
macht Herr Niebel? Herr Niebel sagt: Eure Arbeit ist
schön und gut, aber Geld gibt es nicht mehr dafür. Ende Die Begründung des Ministeriums ist ein Hohn. Das
Juni 2011 stelle ich die Finanzierung ein, und ihr könnt Ministerium hat geschrieben, die Finanzierung der Kam-
sehen, wo ihr bleibt. pagne werde jetzt eingestellt, weil das Ziel erreicht sei.
Jeder, auch die Besucherinnen und Besucher auf der Tri-
Herr Minister, deshalb wundert es mich schon sehr, büne, sollte sich ehrlich fragen, ob er über die acht Ziele
dass Sie heute Vormittag erstmals zur Verleihung des Bescheid gewusst hat. Denn das war das Ziel der Kam-
Walter-Scheel-Preises für Engagement in der Entwick- pagne.
lungszusammenarbeit eingeladen haben.
Der Minister behauptet, alle Bürger in Deutschland
(Michael Brand [CDU/CSU]: Hoch auf dem kennen die acht Entwicklungsziele der Vereinten Natio-
gelben Wagen!) nen, sodass er kein Geld mehr für entsprechende Wer-
Es ist sehr sinnvoll, so einen Preis zu stiften; das will ich bung ausgeben muss. Das glauben Sie doch selbst nicht.
gar nicht Abrede stellen. Sie haben heute unter anderem Es gibt noch sehr viel zu tun. Denn wir sind leider
Prominente ausgezeichnet, die alle eine gute Arbeit ge- noch weit davon entfernt, bis zum Jahr 2015 diese wich- (D)
(B) leistet haben, wie Ulrich Wickert und Nia Künzer, die
tigen Ziele zu erreichen. Dafür wird selbstverständlich
Weltmeisterin im Fußball. auch Geld gebraucht.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Auch deswegen war es richtig, dass die Initiatoren
Nur den Raabe hat er vergessen!) und Mitstreiter der Kampagne Ihnen, Herr Minister, kri-
– Herr Kollege, andere haben die Auszeichnung viel tisch gesagt haben, dass Ihre Politik in die falsche Rich-
eher verdient. – Es wurden dort auch prominente Unter- tung geht. Denn Sie können nicht die Mittel für Entwick-
nehmer wie Dr. Michael Otto ausgezeichnet. lungszusammenarbeit stagnieren lassen und in der
mittelfristigen Finanzplanung sogar kürzen wollen und
Wie kann man aber so einen Preis ins Leben rufen gleichzeitig behaupten, Sie hielten sich an diese Verspre-
und gleichzeitig Tausenden Ehrenamtlichen in Deutsch- chen.
land im Prinzip die Tür verschließen und sagen: Ihr be-
kommt nichts, aber Prominente zeichne ich aus? Herr Ich glaube nicht, dass Sie das, was als Grund für die
Niebel, das ist schäbig. Deswegen fordern wir in unse- Einstellung der Kampagne genannt wurde, nämlich dass
rem Antrag, dass Sie diese Kampagne weiter finanzie- alle Menschen in Deutschland diese Ziele kennen, ernst-
ren. Sie sollten auch den vielen Tausenden ehrenamt- haft glauben. Das sind vielleicht 10 bis 20 Prozent, wie
lichen Bürgerinnen und Bürgern endlich Anerkennung wir aus Untersuchungen wissen. Sie wollten vielmehr
aussprechen, statt sie im Regen stehen zu lassen. eine kritische Kampagne mundtot machen, die den Fin-
ger in die Wunde gelegt hat, nämlich dass Sie das Minis-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten terium letztlich nur noch als Einrichtung zur Außenwirt-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftsförderung verstehen, statt sich im Interesse der
ärmsten Menschen an die Versprechen zu halten, die
Ich möchte aus dem Offenen Brief der Arbeitsge- Deutschland bei den Vereinten Nationen und in Europa
meinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutsch- gegeben hat.
land zitieren, der uns heute erreicht hat. In dem Schrei-
ben an Sie, Herr Niebel, heißt es: Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustim-
men. Die Millenniumkampagne darf nicht sterben. Sie
Die Eine Welt Landesnetzwerke haben diese Ent- muss weitergehen und bis zum Jahr 2015 dafür sorgen,
scheidung bei ihrem gestrigen Treffen diskutiert dass Menschen auf der ganzen Welt Chancen haben und
und können sie überhaupt nicht nachvollziehen. aus Hunger und Armut herauskommen.
Wir halten sie für ein falsches politisches Signal
und eine schwere Enttäuschung für diejenigen, die Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12725
Dr. Sascha Raabe
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Durch ihren hartnäckigen Einsatz haben die Kampa- (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gnen die Aufmerksamkeit auf das, wie ich finde, drin-
gendste Problem in unserer Welt, nämlich die weltweite
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Armut, gerichtet. Sie haben dafür gesorgt, dass das
Das Wort hat die Kollegin Sabine Weiss von der Elend des Hungers, fehlende Bildung und die Geiselhaft,
CDU/CSU-Fraktion. in die Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria ganze
Länder genommen haben, bei uns eben nicht in Verges-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senheit geraten. Sie haben aber auch uns Politikerinnen
neten der FDP) und Politiker immer wieder an unsere Versprechen und
unsere Verantwortung erinnert sowie konsequentes Han-
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): deln angemahnt. Dafür bin ich dankbar; denn der öffent-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen liche Druck, die Anstrengungen im Kampf gegen die
und Herren! Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf weltweite Armut weiter zu verstärken, ist eine wichtige
man es nicht weiter festhalten wollen. Es geht heute in Unterstützung für uns Entwicklungspolitiker. So können
dem SPD-Antrag um die Forderung, die deutsche UN- wir das Thema in den Fraktionen, im Bundestag und im
Millenniumkampagne zu erhalten. Herr Raabe hat das Wahlkreis immer wieder ganz oben auf der Agenda plat-
bereits ausgeführt. zieren.
Die UN-Millenniumkampagne gliedert sich in eine Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat gemein-
nationale und eine internationale Kampagne. Die natio- sam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kampagnen die
nale deutsche Kampagne sollte das Bewusstsein für die Menschen in Deutschland erreicht und berührt. Sie ha-
Millenniumsziele in Deutschland schärfen, die interna- ben wichtige Aufklärungsarbeit geleistet über die Mil-
tionale Kampagne das Bewusstsein in den Entwick- lenniumsentwicklungsziele und damit über das Verspre-
lungsländern. chen, dass eine bessere und gerechtere Welt auch
tatsächlich möglich ist. Fast könnte man jetzt sagen:
Die Förderung für die deutsche UN-Millenniumkam-
Mission erfolgreich erfüllt. – Aber so einfach können
pagne läuft nun aus. Für die internationale Kampagne
wir es uns natürlich nicht machen. Zu groß sind noch die
wird derzeit eine Fortsetzung der Förderung geprüft.
Herausforderungen bei der Erreichung der Millenniums-
Entwicklungspolitische Themen standen bisher bei entwicklungsziele, trotz aller Erfolge. Solange nach wie
uns nicht immer vordergründig in dem Verdacht, die vor fast 9 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich an
Menschen auf die Straße zu locken. Viel zu weit weg zumeist vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen
vom alltäglichen Leben hier, in immerhin einem der sterben, solange 72 Millionen Kindern im Grundschulal-
(B) reichsten Industrieländer der Welt, schienen Themen wie ter ihr Recht auf Bildung verwehrt bleibt und solange (D)
die Bekämpfung des Hungers und der Malaria. Dieses schätzungsweise 1 Milliarde Menschen unterernährt
alte Klischee ist gottlob heute falsch. sind, so lange sollte und muss ein Aufschrei der Empö-
rung angesichts dieses Skandals durch uns und die ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
samte Bevölkerung gehen.
Wie falsch es ist, haben die erfolgreichen Aktionen
und Kampagnen der deutschen UN-Millenniumkampa- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
gne, aber auch der Kampagne von VENRO „Deine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Stimme gegen Armut“ und Kampagnen anderer Ak- geordneten der SPD und der LINKEN)
tionsgruppen gezeigt. Da Empörung allein aber noch keinen Hungernden
Mehr als 100 000 Menschen sind schon deutschland- satt macht, keinem Kind eine Zukunft gibt und keine
weit an einem Wochenende für ein entwicklungspoliti- werdende Mutter vor einem vermeidbaren Tod bei der
sches Thema wie beim „Stand Up“-Wochenende im Jahr Geburt bewahrt, ist es damit natürlich nicht getan. Un-
2008 auf die Straße gegangen. Laut VENRO haben mehr sere Empörung muss einhergehen mit rationalen Überle-
als 740 000 Menschen in Deutschland bereits ihre gungen, was wir, die Entwicklungs- und Schwellenlän-
Stimme gegen die weltweite Armut erhoben. Die deut- der sowie die Zivilgesellschaft besser machen können
schen Kampagnen haben damit etwas geschafft, wovon und besser machen müssen. Um die Millenniumsziele zu
viele andere Veranstalter und Organisatoren von Kam- erreichen, müssen alle Akteure ihre Bemühungen weiter
pagnen nur träumen können. konsequent verstärken. Die Zeit drängt, und wir müssen
besser werden. Um die Millenniumsziele zu erreichen,
Die deutsche Bevölkerung macht mit – so haben wir brauchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit in den In-
es jetzt gesehen – im Kampf gegen die weltweite Armut dustrienationen, aber auch besonders in den Entwick-
und für mehr globale Gerechtigkeit. Sie beteiligt sich ak- lungs- und Schwellenländern. Nur wer die Millenniums-
tiv, prangert die weltweite Ungerechtigkeit an und leistet entwicklungsziele kennt und über die einzelnen Ziele
ihren Beitrag, um das Problem der weltweiten Armut zu Bescheid weiß, kann Druck auf alle Beteiligten ausüben,
bekämpfen. Dies ist sicherlich auch der deutschen UN- die Anstrengungen für die Erreichung der Ziele zu ver-
Millenniumkampagne zu verdanken. Gemeinsam mit stärken.
der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und vielen
anderen zivilgesellschaftlichen Aktionsgruppen hat sie Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat die deut-
in den vergangenen sechs Jahren immer wieder den Fin- sche Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft über die
ger tief in die Wunde gelegt. Millenniumsziele informiert und mobilisiert. Die För-
12726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Sabine Weiss (Wesel I)


(A) dervereinbarung läuft nun – das wissen wir seit sechs ganisationen weltweit für die Bekämpfung von Hunger (C)
Jahren – zum 30. Juni dieses Jahres aus und wird auch und Armut einsetzen?
nicht verlängert werden. Auch wenn es nie genug öffent-
(Zuruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen]
liche Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse und öffent- [CDU/CSU])
lichen Druck für die Millenniumsziele geben kann, so
finde ich es dennoch konsequent, dass diese Förderung
nun ausläuft. Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU):
Herr Dr. Raabe, sicherlich ist der Titel für die Öffent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichkeitsarbeit nicht ausschließlich für den Minister,
sondern auch für das Ministerium und für die Entwick-
Die deutsche Kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. lungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland
Mittlerweile gibt es viele zivilgesellschaftliche Aktions- gedacht.
gruppen, die diese Lücke bestens füllen können, weil sie,
um es plastisch zu sagen, schon lange das gleiche Feld (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
beackern. Beispielsweise schafft es die Kampagne von Gerade die Tatsache, dass die Mittel um 300 000 Euro
VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ höchst erfolg- aufgestockt werden, zeigt doch, wie viel Wert im BMZ
reich und in beeindruckender Art und Weise, die Öffent- weiterhin auf Kampagnen, auf die Entwicklungszusam-
lichkeit, Prominente und auch Politiker im Kampf gegen menarbeit und damit auf die Menschen in den Entwick-
die Armut zu mobilisieren. Wir reden doch immer alle lungsländern gelegt wird.
davon, dass wir Doppelstrukturen und Ineffizienzen ver-
meiden wollen. Wenn wir das wirklich ernst meinen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dann sollten wir das, was wir in den Partnerländern for- Ich hoffe, dass die deutsche Förderung der internatio-
dern, auch gefälligst hier in Deutschland tun. Denn wie nalen UN-Millenniumkampagne weitergeführt werden
heißt es so schön? – Kehre immer erst vor deiner eigenen kann; denn der Schlüssel zur Erreichung der Millenni-
Tür. umsentwicklungsziele liegt in den Entwicklungsländern
selbst. Dort müssen die Weichen richtig gestellt werden.
Die deutsche Millenniumkampagne hat gute Arbeit
geleistet, ihre Aufgaben erfüllt. Das BMZ hat die Kam- Nur durch gemeinsames Handeln von Regierungen,
pagne mit insgesamt 3,3 Millionen Euro unterstützt. Nun Zivilgesellschaften und dem Privatsektor wird eine
aber haben sich andere Kampagnen und Aktionsgruppen nachhaltige Entwicklung und Verbesserung möglich
etabliert, die die Aufgaben erfolgreich weiterführen und sein. Aber gerade in den Entwicklungsländern gibt es
ausbauen werden. Die Mittel, die bisher in die deutsche teilweise große Informationsdefizite über die Millen-
niumsziele an sich, über den aktuellen Umsetzungsstand
(B) UN-Millenniumkampagne geflossen sind, können nun und über die Anstrengungen der nationalen und interna- (D)
an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Mangelnde
Effizienz und nicht optimaler Mitteleinsatz sind doch tionalen Akteure zu deren Erreichung. Bedauerlicher-
nach wie vor das Problem in der Entwicklungszusam- weise – das wissen wir alle – ist es auch noch nicht in
menarbeit. An dieser Stelle macht das BMZ wieder ein- alle Winkel dieser Welt vorgedrungen, dass die Millenni-
umsentwicklungsziele Grundrechte widerspiegeln, die
mal ernst mit den Forderungen nach mehr Effizienz und
jedem Menschen zustehen müssen. Daher ist es von ent-
eben weniger Doppelstrukturen, und das ist richtig so.
scheidender Bedeutung, das zivilgesellschaftliche Enga-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gement in den Entwicklungsländern zu mobilisieren und
zu unterstützen. Hier leistet die internationale UN-Mil-
lenniumkampagne wichtige Aufklärungsarbeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Frau Kollegin Weiss, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Sascha Raabe? Es ist aber auch an uns Politikern, die Bedeutung der
Millenniumsentwicklungsziele und der Entwicklungszu-
sammenarbeit immer wieder in den Wahlkreisen und
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): hier in Berlin zu thematisieren. Wir Entwicklungspoliti-
Gerne. ker müssen unsere eigene Kampagne gegen die welt-
weite Armut ins Leben rufen.
Dr. Sascha Raabe (SPD): Zusammengefasst: Die deutsche UN-Millennium-
Frau Kollegin Weiss, Sie haben darauf hingewiesen, kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Zivilgesellschaftli-
dass man die Mittel effizient verwenden und darauf hin- che Kampagnen werden weiter für den Kampf gegen die
wirken muss, dass es bei der Öffentlichkeitsarbeit keine weltweite Armut trommeln, hier in Deutschland und mit
Doppelstrukturen gibt. Das war Ihr Kernargument dafür, unserer Unterstützung in den Entwicklungsländern. Ein
dass die finanzielle Förderung der Kampagne eingestellt Auslaufen der Förderung ist folgerichtig, und daher leh-
wird. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass in diesem nen wir den Antrag „Deutsche UN-Millenniumkampa-
Jahr der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministe- gne erhalten“ ab. Wie ich eingangs sagte: Wenn ein Kind
riums um mehr als 300 000 Euro erhöht wurde, man aber laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhal-
den Ehrenamtlichen die Gelder für ihre Öffentlichkeits- ten wollen.
arbeit streicht? Ist die Öffentlichkeitsarbeit eines Minis- Herzlichen Dank.
ters mehr wert als die von Tausenden Ehrenamtlichen,
die sich Tag für Tag in Kirchen und Nichtregierungsor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12727

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie drehen den Spieß jetzt um. Die Verantwortung für (C)
Frau Kollegin Weiss, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Hunger, für Armut, für Unterentwicklung wird nun ein-
heutigen Geburtstag. seitig den Ländern des Südens zugeschoben, und Stück
für Stück wird die Verantwortung der westlichen Indus-
(Beifall – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: triestaaten dadurch zurückgenommen, sowohl finanziell
Herzlichen Dank!) als auch politisch. So geht es nicht.
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike (Beifall bei der LINKEN)
Hänsel von der Fraktion Die Linke.
Die Kanzlerin hat es heute Morgen in ihrer Regie-
(Beifall bei der LINKEN) rungserklärung genauso gesagt: mehr Eigenverantwor-
tung der Regierungen in den Entwicklungsländern. Vor
Heike Hänsel (DIE LINKE): allem hat sie eigene Einnahmen der Entwicklungsländer
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gefordert. Sehr interessant finde ich das. Gleichzeitig
gen! Der Bundestag reagiert heute auf die Tatsache, dass fordert nämlich die Bundesregierung in ihrer Roh-
die Bundesregierung die Gelder für die deutsche stoffstrategie systematisch den Abbau zum Beispiel von
UN-Millenniumkampagne – das wurde hier schon mehr- Schutzzöllen in den Rohstoffländern. Das sind aber ganz
mals erwähnt – gestrichen hat. So kurz nach dem Bilanz- große Einnahmequellen. Diese wollen Sie systematisch
gipfel, der letztes Jahr bei den Vereinten Nationen statt- abbauen. Das zeigt, dass hier eine Logik vorherrscht, die
gefunden hat – Bilanz: zehn Jahre Millenniumserklärung –, von Doppelmoral geprägt ist.
auf dem es wieder viele Versprechungen von der Bun-
desregierung gab, ist das, finde ich, ein Affront und eine (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben es
Geringschätzung der Arbeit von vielen Initiativen und nicht verstanden! – Sabine Weiss [Wesel I]
vielen Menschen. Das ist inakzeptabel. [CDU/CSU]: Quatsch!)

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie wollen schlichtweg die Verantwortung den Entwick-
neten der SPD) lungsländern zuschieben und sich selbst Stück für Stück
zurücknehmen.
Ich frage mich: Warum wurden die Gelder gestri-
chen? Um wie viel Geld geht es? Es geht um jährlich (Michael Brand [CDU/CSU]: Das glauben Sie
500 000 Euro. Hier gab es schon verschiedene Verglei- selbst nicht!).
che, etwa mit Imagekampagnen, die die Bundesregie- Dies betrifft auch die Handelsstrukturen der Europäi-
rung veranlasst. Zum Beispiel wurden letztes Jahr schen Union und Deutschlands, die nach wie vor verhin-
3 Millionen Euro für eine Anzeigenkampagne für einen dern, dass endlich gerechte Preise für Produkte aus den (D)
(B)
neuen Gesetzentwurf ausgegeben. Im Verhältnis dazu ist Ländern des Südens gezahlt werden können, und die
es völlig unverständlich, dass diese 500 000 Euro gestri- auch systematisch verhindern, dass Konzerne nicht mehr
chen werden. Deshalb halte ich die Begründung, die das auf Kosten von billigen Arbeitskräften und unter Aus-
Ministerium gegeben hat, die hier wiederholt wurde, nutzung von miesesten Arbeitsbedingungen ihre Profite
auch von der Kollegin Weiss, die Ziele bei der Aufklä- machen können. Dies verhindern Sie durch Ihre Han-
rung seien erreicht, schlichtweg für vorgeschoben. delspolitik. Da sind wir in der Verantwortung. Die west-
Wir wissen, dass die Kampagne kritisch gearbeitet lichen Industriestaaten haben hier Verantwortung für Ar-
und überprüft hat, was die Zusagen der Bundesregierung mut, für Hunger, für Unterentwicklung. Da können Sie
angeht, was internationale Versprechen angeht, die gege- sich nicht davonstehlen.
ben wurden. Da ist die Bilanz zur Erfüllung schlecht. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
Erst die Hälfte der bis 2015 zugesagten Mittel wurde zur [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind doch viel zu
Verfügung gestellt. Da liegt die Bundesregierung weit intelligent, um zu glauben, was Sie hier sa-
zurück. Das hat die Kampagne kritisiert. Ich glaube, gen!)
Herr Niebel, das ging Ihnen schlichtweg gegen den
Strich. Deswegen schaffen Sie hier einen Präzedenzfall Genau diese Ausbeutungsstrukturen müssen wir be-
und zeigen, dass solche Kampagnen nicht mehr unter- kämpfen. Wir müssen sie aber eben auch hier bewusst
stützt werden. Das ist nicht demokratisch. machen. Was sind die Ursachen von Armut? Wir tragen
mit unserem Lebensstil zur Armut bei. Der Reichtum
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- hier basiert zum großen Teil auf der Armut der Men-
neten der SPD) schen weltweit, und dafür brauchen wir umfassende
Ich möchte noch auf einen anderen Satz zurückkom- Aufklärung.
men, den Sie in der Begründung gegeben haben. Den (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie vielleicht!)
halte ich für viel entscheidender. Das Ministerium hat
nämlich geschrieben: Der Schlüssel für das Erreichen der Dafür müsste in meinen Augen die Millenniumkam-
Millenniumsziele liegt in den Entwicklungsländern pagne kritischer und politischer werden.
selbst. – Darauf möchte ich schon noch mit ein paar Sät- (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist linker
zen eingehen. Das ist für mich nämlich ein bezeichnender Lebensstil!)
Satz, der die politische Ausrichtung der Bundesregierung
in der Entwicklungszusammenarbeit sehr deutlich be- Um dieses Bewusstsein hier weiter zu fördern, brauchen
schreibt. wir auch Geld.
12728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Heike Hänsel
(A) Das sind die grundsätzlichen Fragen, und deshalb un- gierungsorganisationen, in Schulen, bei den Kirchen und (C)
terstützen wir auch den Antrag. Wir brauchen viel mehr den politischen Stiftungen. Fristete die Entwicklungszu-
Aufklärung über diese weltweiten Zusammenhänge. So, sammenarbeit früher eher ein Mauerblümchendasein
wie Sie es machen, Herr Niebel, geht es nicht. und wurde über diese Jahrtausendentwicklungsziele we-
nig berichtet, so sind diese Themen heute sehr viel tiefer
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
im Bewusstsein der Menschen hier im Lande verankert.
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Indem Entwicklungspolitik nicht mehr quasi hinter
verschlossenen Türen stattfindet, sondern immer trans-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: parenter wird, nimmt sie die Öffentlichkeit auch mit. Wir
Das Wort hat nun Harald Leibrecht für die FDP-Frak- haben gestern zum Beispiel im Ausschuss über den Ent-
tion. wurf der Entwicklungskampagne des BMZ gesprochen.
Dabei legte Dirk Niebel kein vorab beschlossenes Papier
(Beifall bei der FDP) vor, sondern ganz bewusst ein Konzept, das als Diskus-
sionsgrundlage für die kommenden Monate dient. Jetzt
Harald Leibrecht (FDP): hat jeder die Chance, sich bis November konstruktiv ein-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zubringen. Schon jetzt gibt es viele öffentliche Veran-
Auch wenn die deutsche UN-Millenniumkampagne über staltungen zu diesem Thema. Es sind gerade solche Ver-
sechs Jahre hinweg durchaus wertvolle Arbeit geleistet anstaltungen von Nichtregierungsorganisationen und
hat, um die deutsche Öffentlichkeit mit kreativen Aktio- anderen Akteuren, die weitaus besser als teure Öffent-
nen über die UN-Millenniumsziele zu informieren und lichkeitskampagnen über die Fortschritte bei diesen
Unterstützung für die Erreichung dieser Ziele zu gewin- MDGs informieren.
nen – wir brauchen heute ganz andere Wege, um die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Menschen im Land für dieses wichtige Thema zu gewin-
nen. Die deutsche UN-Millenniumkampagne war von An-
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Welche?) fang an zeitlich bis zum 30. Juni 2011 begrenzt. Ich halte
es für gut und sinnvoll, dass wir diese Ausgaben in Zu-
Die FDP-Fraktion wird dem Antrag der SPD zum Er- kunft sparen und das Geld in die Projektarbeit in Ent-
halt dieser Millenniumkampagne nicht zustimmen, und wicklungsländern stecken. Dort wird es sehr viel drin-
ich erkläre Ihnen auch gerne, warum das so ist: Das gender benötigt.
BMZ hat die deutsche UN-Millenniumkampagne seit
2005 mit insgesamt 3,3 Millionen Euro gefördert. Diese In den vergangenen Jahren haben sich rund um die
(B) Ausgaben hatten in der Vergangenheit durchaus ihre Be- deutsche UN-Millenniumkampagne viele Initiativen ge- (D)
rechtigung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei gründet, die sich für die Erreichung dieser Ziele aktiv
vielen Bürgern im Land jedoch kein unumstrittenes Poli- einsetzen. Diese Initiativen finden seit dem Regierungs-
tikfeld und braucht gerade darum auch mehr Öffentlich- wechsel im BMZ einen Ansprechpartner, der das ent-
keit. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Ziele und unser wicklungspolitische Engagement der Zivilgesellschaft
Handeln gegenüber den Bürgern immer wieder erklären wesentlich unterstützt.
und sie für Fragen der Entwicklungspolitik sensibilisie- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
ren. CDU/CSU)
Sicherlich hat die deutsche UN-Millenniumkampagne Damit haben wir genau das erreicht, was wir immer
mit dazu beigetragen, dass das Thema der Jahrtausend- wollten: dass sich auch aus der Gesellschaft heraus Pro-
entwicklungsziele in der deutschen Öffentlichkeit mitt- jekte und Initiativen entwickeln, die sich für die Errei-
lerweile stärker verankert ist. Dass heute in der deutschen chung dieser Jahrtausendentwicklungsziele in Deutsch-
Öffentlichkeit über diese wichtigen Entwicklungsziele land engagieren.
gesprochen und diskutiert wird, liegt aber weniger an
Werbekampagnen, sondern vielmehr an der erfolgrei- Damit keine Missverständnisse entstehen, meine Da-
chen Arbeit des BMZ und an Minister Niebel. men und Herren: Die Millenniumserklärung und deren
Ziele sind Richtschnur für die deutsche Entwicklungszu-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sammenarbeit. Eine verantwortungsvolle Politik muss
Lachen bei der SPD) auf den effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden
– Ja, früher hat doch kein Mensch außerhalb der deut- Finanzmittel achten, vor allem in Zeiten knapper Kas-
schen Entwicklungscommunity trotz solcher teuren sen. Ich bin sehr froh, dass sich das BMZ diesem Grund-
Kampagnen etwas von den Jahrtausendentwicklungszie- satz verpflichtet sieht und auf gute Arbeit, nicht aber auf
len gewusst, geschweige denn, dass man etwas darüber teure Werbekampagnen setzt.
erfahren hat, was das BMZ aktiv getan hat, um diese
Ich danke Ihnen.
Ziele zu erreichen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben heute, was die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit anbetrifft, eine viel breitere und wesent-
lich besser informierte und vor allem interessierte Öf- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
fentlichkeit. Das Thema MDGs findet in den Medien Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion
statt, aber auch bei vielen Veranstaltungen von Nichtre- Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12729

(A) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): leine machen? – Wir würden den Briten also in den Rü- (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! cken fallen, wenn wir uns jetzt keinen Ruck gäben und
Völlig klar, der Antrag der SPD findet unsere Zustim- weitere Schritte in diese Richtung unternehmen würden.
mung, voll und ganz. Gar nicht klar ist, was die Bundes- (Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] –
regierung bewogen hat, ausgerechnet beim deutschen Zustimmung des Abg. Dr. Sascha Raabe
Zweig der UN-Millenniumkampagne den Rotstift anzu- [SPD])
setzen. Ich habe den Reden heute aufmerksam zugehört;
es waren eigentlich gute Reden, die eher Argumente für Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregie-
die Fortsetzung der Unterstützung gebracht haben. rung, die Streichung dieser Gelder wäre ein Eigentor. Es
ist jetzt schon ein Imageschaden entstanden. Diese Kam-
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, genau!) pagne steht auch nicht in Konkurrenz zu VENRO oder
Die Schlussfolgerung ist für mich nicht nachvollzieh- zu anderen Kampagnen. Hier findet vielmehr eine Soli-
bar. Man sagt: Die Kampagne hat gut gearbeitet. – Viele darisierung statt, und es werden von allen Seiten Briefe
von uns haben an Aktionen mitgewirkt. Sascha Raabe des Inhaltes verschickt: Tut das bitte nicht!
hat hier bereits die acht Millenniumstore, die vor dem Wir brauchen überall, von Flensburg bis Passau, viele
Reichstag aufgestellt wurden, noch einmal in Erinnerung Kampagnen und Aktionen, die die Notwendigkeit des
gerufen. Viele haben Veranstaltungen in den Wahlkrei- Erreichens der Millenniumsziele deutlich machen. Neh-
sen gemacht. Es ist immer und immer wieder neu not- men Sie diese unsinnige Kürzung zurück! Lassen Sie
wendig, auf die globalen Herausforderungen hinzuwei- uns gemeinsam einen Konsens für die Entwicklungs-
sen, für die Erreichung der Millenniumsziele zu werben. finanzierung finden!
Das ist doch nicht erreicht. Man kann doch nicht sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auftrag erfüllt, das Kind kann laufen, jetzt brauchen wir und bei der SPD)
das nicht mehr zu unterstützen.
Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die Mil- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
lenniumsziele zu erreichen. Gerade bei der Bekämpfung Ich schließe die Aussprache.
des Hungers geht die Entwicklung in die falsche Rich-
tung; die Zahl der Hungernden steigt wieder. Auch bei Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
der Bekämpfung von Müttersterblichkeit und Kinder- Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5897 mit dem Titel
sterblichkeit gibt es eben nicht die Erfolge, die notwen- „Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“. Wer
dig wären. Dafür gibt es viele Gründe. stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/
Deshalb erschließt es sich mir nicht, dass wir nicht CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Oppositions- (D)
(B) auch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit enga-
fraktionen abgelehnt.
giert und couragiert fortsetzen und die erfolgreiche Mil-
lenniumkampagne weiterhin unterstützen. Ist es etwa die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
unliebsame Kritik der Millenniumkampagne an der Bun- Beratung des Antrags der Bundesregierung
desregierung und an uns allen? Das wäre nicht in Ord-
nung; denn wir brauchen diese mahnenden Worte. Ich Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
erinnere daran, dass die Millenniumkampagne nicht nur internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
diese Bundesregierung für die Nichterfüllung der Ver- auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)
sprechen kritisiert hat, sondern auch die Vorgängerregie- des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
rung. Dieser Kritik müssen wir uns stellen. Sie wissen, vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
jeder von uns weiß, dass zwischen dem Anspruch und schen Abkommens zwischen der internationa-
der Wirklichkeit noch eine große Lücke klafft. Deshalb len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
sollten wir uns auch weiter von der Millenniumkam- gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
pagne anspornen lassen. (jetzt: Republik Serbien) und der Republik
Ich wünsche mir sehr – das habe ich auch heute Mor- Serbien vom 9. Juni 1999
gen schon im Rahmen der G-8-Debatte gesagt –, dass – Drucksache 17/5706 –
die Initiative, die aus allen fünf Fraktionen des Parla- Überweisungsvorschlag:
ments heraus entstanden ist, endlich die Versprechen zu Auswärtiger Ausschuss (f)
erfüllen und schon in den nächsten Haushaltsberatungen Rechtsausschuss
genügend Mittel für Entwicklungsfinanzierung und hu- Verteidigungsausschuss
manitäre Hilfe bereitzustellen, Ergebnisse zeitigt, dass Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
diese Kampagne vielleicht sogar noch vor der Sommer- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
pause tatsächlich zu einem entwicklungspolitischen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels hier in
diesem Parlament führt, so wie die Briten es uns vorge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
macht haben. Sie bitten uns inzwischen ja, nicht nachzu- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
lassen; denn sie werden jetzt durch die Boulevardpresse keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
unter Druck gesetzt. Weil Großbritannien dabei ist, das Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, während andere ver- ter Guido Westerwelle das Wort.
gleichbare Industrienationen in Europa nicht mitziehen,
fragt die dortige Presse: Warum sollen wir Briten es al- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
12730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- ren Wahlen. Für den Süden sind die Wahlen ein Beispiel (C)
wärtigen: dafür, dass die Trennlinien zwischen den Ethnien porö-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ser und durchlässiger werden, als radikale Kräfte immer
ren! Bitte erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich die Ein- wieder behaupten.
bringung des Mandates begründe, anlässlich eines be-
Die Verfassung der Republik Kosovo reserviert von
sonderen Ereignisses eine Bemerkung vorab mache:
120 Sitzen zehn Sitze für die serbische Minderheit;
Ratko Mladic wird des Völkermordes und der Verbre-
13 serbische Kandidaten wurden gewählt. Für andere
chen gegen die Menschlichkeit beschuldigt und seit fast
Minderheiten reserviert die Verfassung ebenfalls zehn
16 Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Seine Fest-
Sitze; zwölf Minderheitenvertreter wurden gewählt.
nahme ist eine sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit
Heutzutage wird im Kosovo eben nicht nur nach ethni-
in Europa.
schen, sondern zunehmend auch nach politischen Ge-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD sichtspunkten entschieden. Wenn man bedenkt, dass sich
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie im Februar erst zum dritten Mal der Tag der Unabhän-
des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) gigkeitserklärung Kosovos gejährt hat, dann muss man
sagen, dass dies bemerkenswerte Fortschritte sind, die in
Ich habe soeben dem serbischen Präsidenten Tadic zu dem politischen Zusammenhang unseres Mandats heute
dem Erfolg gratuliert und auch dazu, dass jetzt die Auf- nicht unberücksichtigt bleiben sollten.
arbeitung des Unrechts der Balkankriege erfolgen kann,
weil die Voraussetzungen dafür nunmehr gegeben sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Serbien löst mit der Verhaftung von Ratko Mladic eine
Richtig ist, dass seit der letzten KFOR-Debatte zwei
langjährige Forderung der Europäischen Union und auch
Staatspräsidenten zurücktreten mussten. Richtig ist aber
des Chefanklägers des Internationalen Jugoslawien-Tri-
auch, dass das politische Vakuum nicht zu Unfrieden
bunals ein.
und Gewalt führte. Die Verfassung wurde eingehalten.
Aber so groß der Erfolg ist, wir müssen jetzt in dieser Alle politischen Akteure haben die Entscheidung des
Stunde auch an die Opfer und an die Familien der Opfer Verfassungsgerichts respektiert. Es ist ein Zeichen für
des Massakers von Srebrenica denken. Ihr mutmaßlicher eine positive Entwicklung im Land, dass die Selbsthei-
Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden. lungskräfte der Institutionen funktionieren.
Die Festnahme von Mladic schafft eine weitere Noch sind viele Konflikte ungelöst; auch das festzu-
Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Bal- stellen, gehört zu einer angemessenen und umfassenden
kanregion. Ich möchte noch einmal mit Nachdruck un- Lagebeurteilung dazu. Diejenigen, die dort gewesen sind
(B) terstreichen: Aus Sicht der Bundesregierung haben alle und Gespräche geführt haben, können aus diesen Ge- (D)
Länder des westlichen Balkans eine europäische Per- sprächen von vielen Ängsten und Unsicherheiten berich-
spektive. ten. Die Lage im Norden Kosovos bleibt angespannt.
Das Problem der Parallelstrukturen ist nicht gelöst. Der
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Schutz der serbisch-orthodoxen Klöster bleibt eine hoch-
SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sensible Sicherheitsfrage. Das erfordert auch weiterhin
SES 90/DIE GRÜNEN) den Rückhalt durch KFOR.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Status Die kosovarischen Sicherheitskräfte übernehmen
des Kosovo ist geklärt. Die Grenzen im westlichen Bal- schrittweise mehr Verantwortung. Schon jetzt garantiert
kan sind gezogen. Im Juli des vergangenen Jahres, also die lokale Polizei die Sicherheit von sechs der neun be-
nach der letztmaligen Mandatierung durch den Deut- sonders schutzwürdigen serbischen Kulturdenkmäler.
schen Bundestag, hat der Internationale Gerichtshof be-
stätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter sta-
im Einklang mit internationalem Recht erfolgte. bilisiert. Eine Reduzierung der internationalen Militär-
präsenz und damit auch der Kräfte der Bundeswehr ist
Kosovo hat im vergangenen Jahr sicherlich Fort- möglich. Es ist die zweite Reduzierung seit Antritt dieser
schritte gemacht. Wer sagt: „Politisch ist im letzten Jahr Bundesregierung. Im letzten Jahr sank die Mandatsober-
viel passiert, aber verändert hat sich wenig“, der sagt aus grenze von 3 500 Soldatinnen und Soldaten auf 2 500.
unserer Sicht nur die halbe Wahrheit. Zwar mussten im Jetzt reduzieren wir in dem Antrag, den wir Ihnen vorle-
vergangenen Jahr die Parlamentswahlen in einigen gen, erneut, und zwar auf 1 850 Kräfte.
Wahlkreisen wiederholt werden. Entscheidend ist aber,
dass die Wahlen insgesamt friedlich und geordnet ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
laufen sind. Entscheidend ist, dass Unregelmäßigkeiten der CDU/CSU)
in rechtsstaatlicher Weise aus der Welt geschafft werden
konnten. Auch die Reaktion auf das, was dort festgestellt Es soll aber auch hinzugefügt werden: Kosovo wird
worden ist, ist wichtig und bedeutsam. noch viele Jahre auf Unterstützung auch durch die Euro-
päische Union angewiesen sein. Das hat auch der Fort-
Die Bürgerinnen und Bürger im Norden Kosovos ha- schrittsbericht der Europäischen Kommission im De-
ben sich mit ihrem Wahlboykott vor allem selbst gescha- zember 2010 deutlich gemacht. Die Kommission hat
det. Sie berauben sich der Chance, die Politik Kosovos auch Fortschritte in der Justiz und beim Kampf gegen or-
mitzugestalten. Die Serben im Süden des Landes sind ganisierte Kriminalität angemahnt. Noch häufen sich
viel weiter. Ihre Wahlbeteiligung lag höher als bei frühe- Klagen über die politische Beeinflussung der Gerichte.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12731
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) Noch ist Kosovo von europäischen Standards weit ent- satzgebiet langweilen, sind allemal besser dran als dieje- (C)
fernt. nigen, die um Leib und Leben fürchten müssen. Auch
deshalb ist der Einsatz der KFOR eine Erfolgsgeschichte
Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten der EU- der Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam in unter-
Rechtsstaatsmission EULEX, die Ermittlungen im Zu- schiedlichen Regierungskonstellationen verantwortet ha-
sammenhang mit den Vorwürfen, die die Berichterstatter ben.
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates er-
hoben haben, zu führen. Die Führung Kosovos hat ihre Ja, wir ziehen uns Stück um Stück zurück. Wir redu-
Unterstützung bei der Aufklärung angekündigt. Wir wer- zieren das Mandat von ursprünglich 6 000 Bundeswehr-
den sie natürlich an ihren Taten messen. soldaten auf maximal 1 850 Soldaten. Unsere Zustim-
mung zu dem Mandat ist gewiss, weil auch wir sehen,
Dies ist ein langjähriges Engagement, auch ein lang-
dass die KFOR und unsere Streitkräfte im Grunde nur
jähriges militärisches Engagement. Aber wir sehen, dass
noch die Überlebensversicherung im Hintergrund bilden.
es gut war, Ausdauer zu haben und sich der Verantwor-
Im Vordergrund stehen die nationale Polizei, die para-
tung zu stellen. Wir wollen nie vergessen, wie die Lage
militärische Miliz und das, was EULEX als internatio-
Mitte und auch noch Ende der 90er-Jahre gewesen ist.
nale Polizeimacht bieten kann. Die schrittweise Über-
Manche fragen: Was geht uns das an? Spätestens dann,
gabe der Verantwortung an die kosovarische Seite kann
wenn man sich daran erinnert, wie viele Hunderttau-
man nur begrüßen. Die Republik Kosovo sagt selbst:
sende von Flüchtlingen aus der Region seinerzeit nach
Bitte bleibt, ein Restrisiko wollen wir mit eurer Hilfe ab-
Deutschland gekommen sind, weiß man, dass Kosovo
decken, weil unsere eigene Kraft und Staatlichkeit noch
nicht irgendwo ist und dass nicht irgendwelche anderen
nicht ausreichen. – Trotzdem ist es für uns eine grundle-
betroffen sind. Das sind wir selbst; das ist Europa. Des-
gende Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nicht durch
wegen ist es richtig, dass dieser Einsatz auch unter den
das Militär gesichert werden kann, sondern nur durch
veränderten Umständen mit den veränderten Rahmenda-
Demokratie und Wohlstand.
ten fortgesetzt wird. Wir bitten um Ihre Zustimmung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Wenn man Demokratie und Wohlstand als Grundlage
bei Abgeordneten der SPD) nimmt, dann weiß man, dass nur Europa die Alternative
zu Vertreibung und Zerstörung ist. Bei diesem langen
Marsch des Kosovo und Serbiens nach Europa haben
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: auch Sozialdemokraten Blutzoll gezahlt. Es war ein so-
Das Wort hat nun Michael Groschek für die SPD- zialdemokratischer Ministerpräsident, der von wirren
Fraktion. Nationalisten in Serbien ermordet wurde, weil er seine
(B) Nation mutig nach Europa führen wollte. Solche Männer (D)
Michael Groschek (SPD): und diesen Geist wollen wir stärken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, Wir würden uns gerade heute von der Bundesregie-
Herr Außenminister: KFOR ist seit 1999 zu einer Er- rung, Herr Außenminister – nicht in Ihrer Rede, aber in
folgsgeschichte vernetzter Sicherheitspolitik geworden. der Rede, die die Bundeskanzlerin heute Morgen gehal-
Anders als das bei anderen Mandaten der Fall ist, ist das ten hat –, mehr Mut zu Europa wünschen, mehr Be-
wirklich überprüfbar, nachvollziehbar und im Ergebnis kenntnis zu und Aktivität für Europa. In dieser Hinsicht
unzweifelhaft. Deshalb gebührt unser Dank den Solda- haben wir heute vieles vermisst. Wir hatten das Gefühl,
tinnen und Soldaten, aber auch allen anderen Einsatz- dass Teile der Regierung und der Regierungskoalition
kräften; denn hier gibt es ein vorbildliches Zusammen- nicht bestrebt sind, die Stammtische zu überzeugen, son-
wirken aller. dern sich nach wie vor von ebendiesen über den Tisch
Man muss daran erinnern, was am Beginn des Einsat- ziehen lassen. Das ist sehr bedauerlich.
zes stand: Der Versuch von Staatenbildung – was ange-
(Beifall bei der SPD)
sichts grausamer Kriegsverbrechen und Vertreibung im-
mer wichtiger wird – und ethnische Konflikte, die wir in Mut macht dagegen die private Initiative in vielen Be-
Europa für unmöglich gehalten hätten. Wenn wir heute reichen, unter anderem die Investitionsabsicht des an-
in die Region blicken, finden wir einen befriedeten Sü- sonsten viel gescholtenen RWE: 350 Millionen Euro sol-
den und einen Norden, der halbwegs sicher ist und nur len in den nächsten Jahren in Wasserkraft in Serbien
noch relativ wenig Eskalationspotenzial birgt. Deshalb investiert werden. Das ist eine sehr sinnvolle Investition,
noch einmal: Allen Beteiligten ein herzlicher Dank für die wir ausdrücklich begrüßen, weil sie die nachhaltige
diesen Jahrzehnte dauernden Einsatz im Kosovo und in Entwicklung in der Region fördert. Investitionsbereit-
Serbien. schaft setzt aber auch Investitionssicherheit voraus. Da
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP hapert es noch an manchem. Ich darf daran erinnern,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass beispielsweise der WAZ-Konzern in einer Kumpa-
nei von Politik und Wirtschaft auf dem Feld der Medien-
Wir haben am Wochenende vernehmen können, bei- wirtschaft übelst ausgebootet werden sollte. Das ist das
spielsweise im NDR, dass sich ein Teil unserer Soldatin- Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Da muss in Serbien
nen und Soldaten über Langeweile im Einsatz beklagt. und der Region noch nachgearbeitet werden, wenn wir
Wenn das den Tatsachen entspricht, dann ist auch das ein die Investitionen mobilisieren wollen, die wir brauchen,
Erfolgsindiz. Soldatinnen und Soldaten, die sich im Ein- um die Region nach vorne zu bringen.
12732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Michael Groschek
(A) Für uns endet die Verantwortung eben nicht mit dem Sicherheitsbehörden übergeben, als sechstes von insge- (C)
Abzug der letzten Soldatin oder des letzten Soldaten. samt neun serbischen Kulturgütern. Diese Übergabe
Vielmehr bekennen wir uns zu dem Prinzip, die Ent- hatte für das deutsche Kontingent eine ganz besondere,
wicklung weiter zu fördern. Da muss die Politik – gerade auch emotionale Bedeutung, war es doch die Bundes-
wir, für die die Perspektive Europa alternativlos ist – ei- wehr, die dieses Kloster über viele Jahre zu schützen
nen Beitrag dazu leisten, beiden Seiten zu helfen, sich hatte.
aus ihrer Opferrolle zu emanzipieren. Wer immer nur mit
dem Blick des Opfers auf den Nachbarn schaut, hat nicht Bei den schweren Unruhen im März 2004 mussten
die Kraft und die Fähigkeit, nach vorne zu blicken, über unsere Soldaten nämlich die wenigen dort ansässigen
den Horizont zu schauen und mutig in Richtung Europa serbischen Mönche evakuieren, um sie so vor Schlim-
zu gehen. Ich finde schon, dass gerade heute, wo Mladic merem zu bewahren. Das Kloster selbst erlitt schwerste
in Haft genommen wurde, ein Tag ist, um sich zur Euro- Schäden. Der Wiederaufbau ist zwischenzeitlich abge-
päisierung und zu einer Teilhabe beider Staaten im Rah- schlossen, auch mithilfe der Bundeswehr. Die kleine Ge-
men der Europäischen Union zu bekennen. Der Weg schichte über das Kloster erzählt eigentlich die ganze
dorthin ist lang; das wissen wir. Geschichte dieses Einsatzes.

Ich will diese Gelegenheit nutzen, um einen sicher- Seit diesen Unruhen ist es auch dank der Präsenz von
heitspolitischen Punkt anzusprechen, der uns in dieser KFOR nie wieder zu Ausschreitungen solchen Ausma-
Woche im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskon- ßes gekommen. Es gibt sie noch, die gelegentlichen Zwi-
trolle und Nichtverbreitung“ beschäftigt hat: die Streu- schenfälle; Sie haben darauf hingewiesen. Die Lage im
bombenverminung Serbiens. Ein serbisches Opfer hat Norden des Kosovo bleibt gespannt. Aber insgesamt hat
sehr eindrucksvoll geschildert, wie es als Bombenent- sich die Sicherheitslage im Kosovo nachhaltig stabili-
schärfer mit der Streubombenmunition in Kontakt ge- siert.
kommen ist und körperlich versehrt wurde. Wir konnten
in der Zeit nachlesen, auf wie skandalöse Weise bei- Zur Stunde versehen im Kosovo noch rund
spielsweise unsere staatlichen Zuschüsse zur Riester- 1 000 deutsche Soldaten ihren Dienst bei KFOR. Wir
Rente missbraucht werden, um in die Produktion von werden dieses Kontingent zeitnah auf 900 Soldatinnen
verbotener und geächteter Streubombenmunition zu in- und Soldaten reduzieren. Da fragt man sich: Warum er-
vestieren. Hier beginnt unsere Verantwortung für eine bitten wir ein Mandat von höchstens 1 850, wenn es
nachhaltige Entwicklung: Wir müssen gemeinsam nicht doch nur 900 sind? Die Antwort besteht darin, dass wir
nur fordern, das Streubombenverbot juristisch durchzu- 500 in Deutschland in Reserve stehende Soldaten eines
setzen und abzusichern, sondern wir müssen die Produk- Operational-Reserve-Force-Bataillons bereithalten – das
(B) tion von Streubomben dadurch auch praktisch verun- ist mit den Kosovaren abgestimmt –, damit man, wenn (D)
möglichen, dass wir ein Verbot von Investitionen in die es zu Unruhen käme, schnell eingreifen könnte. Der Rest
Produktion dieser grässlichen Waffen erwirken. Das bezieht sich auf Personalüberhänge bei Kontingentwech-
wäre ein Ausrufezeichen, welches wir uns von dieser seln und Ähnliches. Die Reduzierung von derzeit mögli-
Bundesregierung wünschen würden. chen 2 500 auf mögliche 1 850 Soldatinnen und Solda-
ten steht in vollem Einklang mit der laufenden
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Absenkung der Gesamtstärke von KFOR.
DIE GRÜNEN)
Es ist schon gesagt worden – ich unterstreiche das –:
In diesem Sinne: Jede Unterstützung für das Mandat. Die Strategie ist erfolgreich. Sie mündet zunehmend in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ politische Aktivitäten. Natürlich – der Außenminister
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der hat darauf hingewiesen – müssen die kosovarische Re-
CDU/CSU) gierung und auch die serbische Regierung einen Beitrag
dazu leisten, insbesondere mit Blick auf die Grenz- und
Statusfragen, die sie haben. Aber wir wünschen uns na-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: türlich auch – ich sage das heute aufgrund der netten
Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de Stimmung, in der wir sind, ganz zurückhaltend – mehr
Maizière. rechtsstaatliche Fortschritte, gerade im Kosovo. Das ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hört dazu.
An diesem Erfolg der internationalen Gemeinschaft
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- – daran will ich heute einmal erinnern – haben insgesamt
teidigung: 110 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 im
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Einsatz mitgewirkt. Manche Doppelzählung ist dabei,
Kollegen! Geschichtliche Entwicklungen vollziehen sich weil manche mehrfach im Einsatz waren; das weiß ich
in Geschichten und Namen: Der Außenminister hat an durchaus. Auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Aber
Mladic, seine Verbrechen und seine Verhaftung erinnert. diese Zahl macht deutlich, um welche Dimension es
Herr Groschek hat an Herrn Djindjic erinnert, der ermor- geht: In zehn Jahren haben dort weit über 100 000 ver-
det worden ist. Auch ich will mit einer Geschichte be- schiedene deutsche Soldaten ihren Einsatz geleistet. Ih-
ginnen, aber mit einer schönen: Vor rund zwei Wochen, nen sowie den zivilen Mitarbeitern bei UNMIK und
am 10. Mai, wurde das Erzengelkloster im Bistrica-Tal EULEX sei auch von mir an dieser Stelle ganz herzlich
bei Prizren von der Kosovo Force an die kosovarischen gedankt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12733
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière der Verteidigung
Bundesminister
(A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Was hat das (C)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit der Bundeswehr zu tun?)
Unsere Soldaten leisten eine gute Arbeit. Ich war im und beinahe 20 Prozent leben in extremer Armut. Diese
März vor Ort und habe mich selbst davon überzeugt. Wir Menschen müssen von weniger als 94 Cent pro Tag le-
sind dort hochgeschätzt bei unseren Partnern, bei der ko- ben.
sovarischen Regierung und der Opposition, also auf al-
len Seiten. Deshalb wird Deutschland nun zum dritten (Kathrin Vogler [DIE LINKE], an die CDU/
Mal in Folge und zum sechsten Mal insgesamt den CSU gewandt: Das können Sie sich ruhig ein-
Kommandanten, den COMKFOR, also den Chef von mal anhören! – Gegenruf von der CDU/CSU:
KFOR insgesamt, für ein weiteres Jahr stellen. Ich Aber man muss nicht jeden Unsinn verkraf-
glaube, das ist eine Auszeichnung. ten!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie können ja versuchen, mit 94 Cent pro Tag auszu-
kommen.
Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich über
die Unterstützung dieses Hohen Hauses und bitte in der Angesichts dessen ist klar, dass die im Mandatsantrag
zweiten Lesung um Zustimmung zur Mandatsverlänge- erwähnte „weitestgehende“ Ruhe bestenfalls oberfläch-
rung. lich ist. Hier zeigt sich überdeutlich: Das Mantra der
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Bundesregierung, Sicherheit sei die Voraussetzung für
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Entwicklung, funktioniert nicht. Umgekehrt wird ein
SES 90/DIE GRÜNEN) Schuh daraus: Wenn die Menschen eine Entwicklungs-
perspektive haben, dann wird auch die Sicherheitslage
besser.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat Inge Höger für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Doch genau hier haben die Besatzer auf ganzer Linie
versagt. Die ethnische Spaltung des Landes hat sich in
Inge Höger (DIE LINKE): den letzten zwölf Jahren verfestigt. Es sind zwar nahezu
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als alle kosovo-albanischen Flüchtlinge in das Land zurück-
zwölf Jahre ist die NATO schon im Kosovo präsent. In gekehrt, von den 230 000 serbischen Flüchtlingen aber
vielen Bereichen des Landes ist die Lage heute verhee- gerade einmal 15 000. Davon mussten 4 000 bei den Un-
(B) render als vor Beginn des NATO-Krieges. ruhen 2004 erneut fliehen. Für Roma sieht die Lage noch (D)
schlechter aus. Sie werden im Kosovo verfolgt. Für diese
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Bevölkerungsgruppe ist die Lebenssituation ziemlich
Was? – Elke Hoff [FDP]: Das kann ja nicht aussichtslos. Trotzdem finden nach wie vor Sammelab-
wahr sein! – Michael Brand [CDU/CSU]: Gut, schiebungen aus Deutschland statt. Eine humane Politik
wenn man Feindbilder pflegt!) sieht anders aus.
Die verschiedenen internationalen Akteure, besonders (Beifall bei der LINKEN)
die NATO und die EU, haben neben militärischen Aktio-
nen auch in zivilen, polizeilichen und wirtschaftlichen Institutionen, die mit westlicher Hilfe im Kosovo auf-
Bereichen in das Land eingegriffen. Die Situation in die- gebaut wurden, haben wenig zur Demokratisierung bei-
ser Balkanregion hat sich dadurch grundlegend verän- getragen. Für die Privatisierungen ist beispielsweise die
dert. Verbessert hat sie sich nicht, im Gegenteil. Kosovo Trust Agency zuständig. Sie hat mit zur Aus-
breitung von Korruption beigetragen. Der Sonderermitt-
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist zynisch,
ler des Europarates, Dick Marty, gibt der KFOR und
was Sie hier sagen!)
auch der Bundeswehr wesentliche Mitschuld an der Aus-
Vor der NATO-Intervention war es vor allem die breitung von organisierter Kriminalität, von Menschen-
schlechte ökonomische Situation, die neben dem serbi- handel und illegalen Organtransplantationen.
schen und albanischen Nationalismus die Lage im
Kosovo destabilisiert hat. Obwohl es im ehemaligen (Zuruf von der FDP: Das ist unglaublich! –
Jugoslawien eine Art Länderfinanzausgleich zur Unter- Michael Brand [CDU/CSU]: Bei der Rede
stützung des Kosovo gab, lag das Einkommen dort pro kann man nur mit Valium auskommen! – Ge-
Kopf nur bei etwa der Hälfte dessen, was im Rest Jugo- genruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]:
slawiens erzielt wurde. Nach zwölf Jahren Besatzung Das müssen Sie einfach mal aushalten!)
liegt das Einkommen im Kosovo nun bei weniger als ei- Eine solche Mitschuld ist in Untersuchungen und Be-
nem Viertel dessen, was in Serbien verdient wird, richten nachgewiesen worden. Die internationale zivile
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das stimmt und militärische Präsenz ist mit dafür verantwortlich,
doch gar nicht, Frau Höger!) dass Bordelle mit Zwangsprostituierten gute Geschäfte
machen.
und die Schere geht zunehmend weiter auseinander.
Etwa die Hälfte der Menschen im Kosovo ist arbeitslos. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie
Mehr als ein Drittel lebt in Armut, sind doch verblendet!)
12734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Inge Höger
(A) Das sieht auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung durch das Land springt einem sofort die unerklärlich (C)
so. Diese Studie berichtet übrigens auch davon, dass die große Zahl von Baustellen ins Auge. Man fragt sich, wa-
kosovarische Bevölkerung in der internationalen Präsenz rum all die Hotels und Tankstellen nie fertig werden und
„überhebliche Protektoratsherren“ sieht. als Bauruinen die Landschaft verschandeln. Die Ant-
wort: Drogenhandel und Geldwäsche sind die vorherr-
Die Linke fordert ein Ende der NATO-Besatzung. Die schenden Einnahmequellen.
frei werdenden Gelder könnten dann zur Verbesserung
der Situation der Menschen vor Ort eingesetzt werden. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE], an die
Koalition gewandt: Zuhören!)
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] –
Michael Brand [CDU/CSU]: Da klatscht nur Besorgniserregend ist darüber hinaus der Ausbau der
noch einer bei Ihnen!) Kosovo Security Force zu einer milizartigen Streitkraft,
obwohl diese ursprünglich allein für Evakuierung,
Vor allem aber ist die Einsicht nötig, dass die bisherige Brandbekämpfung und Minenräumung eingerichtet
Kosovo-Politik ein grundlegender Fehler war. Das vor- wurde. Eine solche bewaffnete Miliz kann leicht zur
liegende Mandat führt nur weiter in die politische Sack- Keimzelle neuer bewaffneter ethnischer Auseinanderset-
gasse. Die Linke lehnt die Mandatsverlängerung ab. zungen werden. Umso bedauerlicher ist es, dass diese
(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand 2 000 Kräfte gerade erst mit 900 deutschen G-36-Ge-
[CDU/CSU]: Gut, dass der Außenminister wehren von Heckler & Koch beliefert worden sind.
über die Opfer gesprochen hat! – Weiterer Zu-
Der verständliche Wunsch nach Ruhe und Frieden im
ruf von der CDU/CSU: Mit der Sackgasse
Land darf nicht dazu führen, dass die organisierte Krimi-
kennen Sie sich ja aus!)
nalität, die bis in die Regierung hineinreicht, verschont
bleibt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion (Inge Höger [DIE LINKE]: Das ist aber so!)
Bündnis 90/Die Grünen. Die europäische Rechtsstaatsmission EULEX muss da-
für alle erforderliche Unterstützung bekommen, auch
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wenn Ermittlungserfolge bei der Korruptionsbekämp-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- fung gelegentlich Demonstrationen und Widerstand her-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die vorrufen. EULEX ist die größte zivile Mission der EU
Präsenz deutscher Soldaten im Kosovo beruht auf der mit 1 400 Polizisten, 50 Richtern, 30 Staatsanwälten und
UN-Sicherheitsresolution 1244 aus dem Jahr 1999. 76 Zollbeamten. Von dem Erfolg dieser Arbeit wird ab-
(B) Nicht nur Russland, auch Serbien hat seinerzeit der Sta- hängen, ob sich das Kosovo eines Tages in die EU inte- (D)
tionierung der internationalen Truppen zugestimmt. Die grieren lassen wird.
völkerrechtliche Legitimität ist damit im Gegensatz zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
vorangegangenen nicht UN-mandatierten NATO-Inter- sowie bei Abgeordneten der SPD)
vention unstreitig.
Auch müssen Kosovo und Serbien Wege einer prag-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN matischen Annäherung finden, wenn sich für beide eine
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) europäische Perspektive auftun soll. Hoffnung macht die
Das Überzeugendste an diesem Einsatz aber ist, dass er von Serbien mitgetragene UN-Resolution vom Oktober
sich konsequent selbst überflüssig macht. Erfreulich ist letzten Jahres, in der genau dies gefordert wird. Hoff-
die Reduzierung der Truppen von ursprünglich 50 000 nung macht natürlich auch die heutige Verhaftung des
Soldaten auf jetzt 5 500, davon noch 900 deutsche. Die gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic.
weitere Reduzierung ist geplant. Die Multinational Schließen möchte ich mit einem Appell an die Bun-
Battle Groups wurden aufgelöst und durch Monitoring desregierung, die Abschiebung der Roma in das Kosovo
Teams ersetzt. Der Flugbetrieb der Bundeswehr wurde zu beenden.
eingestellt, und die Hubschrauber wurden zurückverlegt.
Die größten Herausforderungen für die 2 Millionen Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wohner des Kosovo sind nicht militärischer, sondern sowie bei Abgeordneten der SPD)
polizeilicher und rechtsstaatlicher Natur. Dieser Tatsache
Der Menschenrechtskommissar des Europarates,
tragen der schrittweise Abzug der Truppen und die
Thomas Hammarberg, hat die Lebensbedingungen der
Übertragung der Aufgaben auf die Kosovo Police Force
abgeschobenen Roma im Kosovo als humanitäre Kata-
Rechnung.
strophe bezeichnet. Die Hälfte der 12 000 ausreisepflich-
Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Trotz ei- tigen Roma ist jünger als 18. Zwei Drittel von ihnen sind
nes gewissen Wirtschaftswachstums liegt die Jugendar- in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele von
beitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei über ihnen sprechen weder serbisch noch albanisch, und nur
60 Prozent. Die ethnische Teilung verursacht nach wie die wenigsten haben die Chance, im Kosovo eine Schule
vor Spannungen. Die meisten der 200 000 Kosovo-Ser- zu besuchen. Ein Drittel dieser Kinder in den Lagern ha-
ben leben in der Region um Mitrovica mit eigenen Ver- ben laut Grundrechte-Report nicht genug zu essen. Erin-
waltungsstrukturen. Korruption und mafiose Strukturen nern wir uns an die Rede von Zoni Weisz am 27. Januar
prägen das Machtgefüge im Kosovo. Bei einer Fahrt dieses Jahres hier im Bundestag und an unsere Verant-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12735
Katja Keul
(A) wortung und Verpflichtung gegenüber den Roma und Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebro- (C)
Sinti Europas. chen: Mehr und mehr Serben nehmen am politi-
schen Leben teil, profitieren von den Minderheiten-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechten und -quoten und spielen eine zunehmend
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten wichtige Rolle in der Politik in Kosovo.
der SPD)
Dies ist letztendlich ein Verdienst unserer politischen
Beenden Sie die Abschiebung der Roma in das Kosovo! Initiativen, insbesondere der Initiativen, die unser Au-
ßenminister in den vergangenen zwei Jahren gestartet
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
hat. Diesen Erfolg möchte ich hier nicht unerwähnt las-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
KEN)
Wie steht es um die Sicherheit? Generalmajor Erhard
Bühler, der deutsche Kommandeur der KFOR-Truppen,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hat am 22. April dieses Jahres die Aufgabe so beschrie-
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die Fraktion ben – ich zitiere erneut –: „Für mich ist es wichtig, Auf-
der CDU/CSU. gaben der KFOR auf die Behörden des Kosovo zu über-
tragen, insbesondere an die Kosovo Police. Es ist kein
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Geheimnis, dass ich eine hohe Meinung von der Kosovo
neten der FDP)
Police habe.“ – Dies ist tatsächlich ein großer Erfolg und
zeigt, dass wir – nach der kosovarischen Polizei und den
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Polizisten von EUPOL – nur noch die dritte Linie der Si-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und cherheit garantieren. Wir leisten einen wichtigen Beitrag
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Si- als Absicherung für den Fall, dass es wieder zu größeren
cherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. Juni 1999 die Problemen kommt.
Resolution 1244 verabschiedete, sprach das Generalse- Minister de Maizière hat vorhin das sehr anschauliche
kretariat der Vereinten Nationen von einer Tragödie im Beispiel des Schutzes der Mönche und Schwestern in
Kosovo. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit ent- den Klöstern genannt. Dies zeigt, wie wichtig dieser Ein-
fernt. Deshalb fand ich es unmöglich, dass hier gerade satz war und welch hohen symbolischen Stellenwert ein-
diejenigen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser Stabili- zelne Maßnahmen der Bundeswehr im Kosovo hatten.
sierung geleistet haben, als Besatzer bezeichnet worden Dies ist aus meiner Sicht ein historisch ganz wichtiger
(B) sind. Ich glaube, das war ein Missgriff, der in dieser De- (D)
Punkt. Ich weise noch einmal darauf hin, dass in der Ge-
batte nichts verloren hatte. schichte sehr dramatische und schlimme Dinge auf dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Balkan geschehen sind, für die Deutschland verantwort-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- lich war, dass Deutschland an dieser Stelle aber eine gute
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Spur hinterlassen hat. Dafür bin ich den deutschen Sol-
datinnen und Soldaten außerordentlich dankbar.
Es ging damals für die Kosovaren um ihr Überleben.
Elf Jahre später hat sich viel zum Guten gewendet. Vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
elf Jahren haben die Vereinten Nationen uns angesichts Ich möchte diese Debatte nutzen, um unser Engage-
einer humanitären Tragödie den Auftrag gegeben, ein si- ment in der gesamten Region des Balkans auch über die-
cheres Umfeld für alle Menschen im Kosovo zu schaf- ses Mandat hinaus deutlich zu machen. Die Fortschritte
fen. Wir erinnern uns: Deutschland hat es sich nicht sind bereits angesprochen worden. Natürlich wird es
leicht gemacht, bei diesem Einsatz mitzumachen und weiterhin wichtige Themen geben, mit denen wir uns be-
Verantwortung zu übernehmen. Vor elf Jahren beschloss schäftigen müssen. Die Zukunft der Region insgesamt
der Deutsche Bundestag ein Mandat mit einer Ober- liegt unserer Meinung nach innerhalb der Europäischen
grenze von 8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem Union. Dies betrachte ich auch als eine Vision für die
Mandat mit 8 500 Mann vom 12. Juni 1999 und dem Europäische Union; nicht kurzfristig, aber langfristig ist
Mandat mit 1 850 Mann, das heute zur Rede steht, ist er- dies ein wichtiger Schritt. Auch Serbien sieht seine Zu-
sichtlich. Der zivil-militärische Friedenseinsatz hat Er- kunft, wie wir aus vielen Gesprächen wissen, in der EU
folg gezeigt. Deshalb dürfen wir heute davon ausgehen, und hat am 22. Dezember 2009 einen Beitrittsantrag ge-
dass KFOR mit maximal 1 800 deutschen Soldatinnen stellt. Dafür bedarf es natürlich einer echten EU-Per-
und Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Vor diesem spektive. Die Voraussetzung dafür ist die Klärung des
Hintergrund kann niemand behaupten, die Männer und Verhältnisses zwischen dem Kosovo und Serbien.
Frauen der Kosovo Force hätten in den elf Jahren nicht
viel erreicht. Serbien hat sein Anliegen im Hinblick auf eine recht-
liche Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Ko-
Die internationale Gemeinschaft musste diese Tragö- sovo mit gutem Recht vor dem Internationalen Gerichts-
die stoppen. Die Präsenz ist weiterhin notwendig. Wir hof in Den Haag vorgetragen; das steht Serbien frei. Der
investieren damit auch in die Zukunft Europas. Den Er- verantwortungsvolle Umgang der Serben mit der Ant-
folg stellte kürzlich auch die Neue Zürcher Zeitung fest, wort des IGH hat uns die Hoffnung gegeben, dass allen
die schrieb: klar ist: Es geht ernsthaft darum, dass Serbien und das
12736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Philipp Mißfelder
(A) Kosovo ihre Konflikte friedlich lösen und letztlich als Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag (C)
gute Nachbarn zusammenleben. Dazu bedarf es aller- der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela
dings weiterer Schritte, und bis dahin ist es noch ein lan- Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordne-
ger Weg. ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Gestern mussten wir leider die Meldung lesen, dass
Serbiens Präsident Tadic das Gipfeltreffen zwischen Prä- Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungs-
sident Obama und den Staatschefs aus Ost- und Süd- unternehmen neu ausrichten
europa in Warschau boykottieren möchte. Der Grund sei,
– Drucksachen 17/4698, 17/5124 –
dass auch die Präsidentin des Kosovo eingeladen ist.
Wenn das stimmt, muss man sagen: Das ist der falsche Berichterstattung:
Weg. Dies bedarf zwar keiner Geißelung, aber des Hin- Abgeordneter Peter Götz
weises, dass wir uns das so nicht vorstellen. Wir halten
es für den richtigen Weg, sich gemeinsam an einen Tisch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
zu setzen und die Gemeinsamkeiten zu betonen. Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir in den ver- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
gangenen Monaten sehr gute Gespräche mit serbischen Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Politikern geführt haben. Insofern hat mich die gestrige Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Meldung überrascht und gleichzeitig enttäuscht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und neten der FDP)
der FDP)
Unsere Fraktion wirbt für die Verlängerung dieses Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU):
Mandats. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema
Herzlichen Dank. „Altschuldenentlastung für die Wohnungsunternehmen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in den neuen Bundesländern“ begleitet uns schon seit der
Wiedervereinigung. Die Altschulden sind eine Last aus
der DDR-Zeit, die es gemeinsam zu schultern galt und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
die wir zurzeit gemeinsam schultern. Die Umstellung
Ich schließe die Aussprache. von einer staatlich zentral gesteuerten Planwirtschaft auf
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf die Erfordernisse der sozialen Marktwirtschaft hat viele
(B) Drucksache 17/5706 an die in der Tagesordnung aufge- Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vor enorme (D)
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Herausforderungen gestellt. Ohne die Städtebauförde-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist rung im Allgemeinen und die Altschuldenregelungen im
die Überweisung so beschlossen. Besonderen wären viele Wohnungsunternehmen seiner-
zeit nicht überlebensfähig gewesen. Die Unionsfraktion
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b will an der bewährten Struktur des Wohnungsmarktes,
auf: bestehend aus kommunalen, genossenschaftlichen und
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- privaten Wohnungsunternehmen, festhalten.
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
Die Altschuldenhilfe trägt Sorge dafür, dass dies, zumin-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- dest für Teile, auch möglich ist.
Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Das empirica-Gutachten, auf das sich insbesondere
Fraktion der SPD die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezieht, zeigt, dass
die Maßnahmen zur Altschuldenregelung gewirkt haben
Altschuldenentlastung für Wohnungsunter- und noch immer wirken. Bisher haben über 300 Unter-
nehmen in den neuen Ländern nehmen eine Bewilligung für zusätzliche Altschulden-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun hilfe erhalten. Von den 1,1 Milliarden Euro, die dafür be-
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar reitgestellt worden sind, stehen bis 2013 noch circa
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak- 180 Millionen Euro zur Verfügung.
tion DIE LINKE Mit Blick auf die Zeit nach 2013 wollen wir von der
Altschulden der ostdeutschen Wohnungs- christlich-liberalen Koalition nach Lösungen suchen, da-
unternehmen streichen mit der Prozess des Stadtumbaus nicht ins Stocken gerät.
Dazu wollen wir den vorgesehenen Bericht aus dem
– Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000 – BMVBS zum Stadtumbau Ost, die Evaluierung des
Berichterstattung: Stadtumbaus Ost, im nächsten Jahr, im Jahre 2012, ab-
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) warten. Dann werden wir die aktuelle Situation prüfen
und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen auch
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- für die Altschuldenhilfe ziehen, aber weniger mit Blick
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und auf die wirtschaftliche Situation der Wohnungsunterneh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12737
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
(A) men, sondern mehr mit Blick auf die wohnungspoliti- ten und auch in den Dörfern bedrohlich wachsen wird. (C)
sche Situation der Akteure und Unternehmen, die sich Hier werden wir nach Lösungen suchen müssen, die je-
aktiv in die Stadtentwicklung in den Kommunen einbrin- nen Hausbesitzern helfen, die Investitionen vorgenom-
gen. men und so zu einer erheblichen Aufwertung ostdeut-
scher Städte und auch Gemeinden beigetragen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dass wir auch in diesem Bereich eine Lösung finden,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jah- ist mir persönlich wichtig; denn ich möchte nicht, dass
ren hat sich die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen sich am Ende, wie in der DDR, nur der Staat um die Ge-
Wohnungsunternehmen stetig und merklich verbessert staltung des Lebens- und Wohnumfeldes in den Städten
mit der Folge, dass die Altschulden keine wesentlichen und Dörfern kümmert.
Auswirkungen mehr auf die ostdeutsche Wohnungswirt-
schaft haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist ja ei- Privates Engagement im Bereich des Wohnens muss un-
genartig! Da gibt es doch ganz andere Meldun- terstützt und gefördert werden. Nur so werden wir dafür
gen!) Sorge tragen, dass wir langfristig einen ausgewogenen
und attraktiven Wohnungsmarkt in Deutschland behal-
– Ich komme dazu, Herr Hacker. – Dabei ist Folgendes ten.
zu sehen: Die allermeisten Unternehmen im Osten haben
nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das verdient Vielen Dank.
unsere Anerkennung. Sie haben ihre eigene Verwaltung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
konsolidiert, durch Sanierung attraktiven Wohnraum ge-
schaffen, der auch nachgefragt wird, angemessene Miet-
preiserhöhungen durchgeführt, was nicht immer leicht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
war, und natürlich auch Wohnungsbestand verkauft. Die Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPD-
allermeisten Wohnungsunternehmen sind diesen schwie- Fraktion.
rigen Weg gegangen und haben es aus eigener Kraft ge- (Beifall bei der SPD)
schafft, nicht mehr durch Altschulden in ihrem Fortbe-
stand gefährdet zu sein.
Hans-Joachim Hacker (SPD):
Im Koalitionsvertrag haben Christdemokraten und Li- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
berale vereinbart, Investitionen in den Innenstädten zu Lieber Kollege Vogel, Sie haben hier ein Lied gesungen,
fördern. So sollen durch den Stadtumbau Ost die Innen- das zum Teil mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung
(B) städte aufgewertet und die Sanierung der Altbausubstanz steht. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass in den (D)
gestärkt werden. Durch das empirica-Gutachten, das uns letzten zwei Jahrzehnten viel geleistet worden ist. Aber
vorliegt und das wir sehr intensiv ausgewertet haben, es geht heute um die Problematik Altschuldenentlastung.
wird diese Idee bestätigt. Allerdings ist zu beachten, dass
Investitionen in die Innenstädte nicht in direktem Zu- Ich stelle nicht infrage, dass wir die Vielgestaltigkeit
sammenhang mit der Altschuldenregelung im Osten ste- des Wohneigentums in den neuen Ländern erhalten und
hen, sondern ein Thema der Städtebauförderung insge- weiterentwickeln wollen und dass private Grundstücks-
samt sind. Mein Kollege Peter Götz wird nachfolgend eigentümer an den staatlichen Fördermaßnahmen betei-
nähere Ausführungen dazu machen. ligt werden sollen. Das ist alles unbestritten. Heute geht
es konkret um die Altschuldenproblematik,
Da uns als Union die bewährte Struktur aus kommu-
nalem, genossenschaftlichem und privatem Wohnungs- (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
eigentum wichtig ist, möchte ich erwähnen, dass Das ist doch schon mal eine Aussage!)
insbesondere in den Innenstädten viele private Immobi- und es geht um die Städtebauförderpolitik dieser Bun-
lienbesitzer vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie desregierung im Allgemeinen.
die kommunale Wohnungswirtschaft.
(Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul-
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr den nichts zu tun!)
richtig!)
– Darum geht es im Allgemeinen, Herr Döring; denn die
Auch sie sind seit 1990 hohe Verbindlichkeiten einge- Politik der Bundesregierung ist nicht von nachhaltigen
gangen und haben mit ihrem Engagement zu einer er- Anstrengungen bei der Lösung stadtentwicklungspoliti-
heblichen Aufwertung und Verbesserung der Situation scher Themen in den neuen Ländern geprägt.
der Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern bei-
getragen. (Patrick Döring [FDP]: Unsere Haushalts-
politik ist auch nachhaltig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das kann man weder von der Bundesregierung noch von
Ich selber komme aus Ostthüringen. Der größte Teil der schwarz-gelben Koalition in diesem Hause sagen.
meines Wahlkreises ist ländlich geprägt. Da die Einwoh- Damit geben Sie, wie ich finde, ein sehr wichtiges Pfund
nerzahl insgesamt sinkt, wird insbesondere auch der auf, das in der Städtebauförderung in Deutschland viele
ländliche Teil meines Wahlkreises betroffen sein. So Jahre prägend war. Daraus konnten wir die guten Ergeb-
zeichnet sich ab, dass der Leerstand in den kleinen Städ- nisse erzielen.
12738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Hans-Joachim Hacker
(A) Ich erinnere nur daran, dass Sie die Programme (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das gilt aber (C)
„Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ abgewertet ha- nicht nur für den Osten!)
ben. Das weiß jeder. Das sagen Ihnen alle Wohnungs-
unternehmen. Dafür werden Sie kritisiert. – Damit komme ich zu Ihnen, Frau Müller. Wir machen
doch in der SPD keine nach Ost und West sortierte Woh-
(Patrick Döring [FDP]: Das hat aber mit Alt- nungspolitik. Es gibt eine andere Fraktion, die das viel-
schuldenhilfe nichts zu tun!) leicht in der Vergangenheit konnte; aber heute kann sie
– Jetzt komme ich zur Altschuldenhilfe, Herr Döring. das auch nicht mehr.

Bei der Altschuldenhilfe zeigen Sie nicht einen einzi- (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Genau! – Heidrun
gen Ansatz. Sie haben selber ein Gutachten in Auftrag Bluhm [DIE LINKE]: Uns?)
gegeben, das Ihnen konkrete Hinweise zur Entwicklung
– Ja, Frau Bluhm, genau Sie. Sie konnten in der Vergan-
einer Politik gibt. Dieses Gutachten negieren Sie. Damit
genheit Ost und West schön differenziert darstellen. Das
ist beides in Verbindung zu bringen; denn wir müssen
gelingt Ihnen heute nicht mehr. Sie haben nun auch Kol-
Abriss und Sanierung als Einheit sehen.
leginnen und Kollegen aus dem alten Bundesgebiet. Ich
(Patrick Döring [FDP]: Das ist ja das bin sehr gespannt, wie die Kollegen zu einem solchen
Problem!) Ost-West-Denken stehen, das uns eigentlich im 21. Jahr
der deutschen Einheit fremd werden sollte.
Abriss und Sanierung sind zwei Seiten einer Medaille.
Diese beiden Seiten nehmen Sie nicht wahr. Aber bleiben wir bei den Altschulden.
Wir sind dafür, dass wir weiter Abriss und Aufwer- Wie gesagt, 2010 war jede zwölfte Wohnung unbe-
tung vornehmen. Für uns sind neben den Innenstädten, wohnt. Hier ist ein enormer Anstieg zu befürchten. Jede
die in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende leerstehende Wohnung belastet die Wohnungsunterneh-
Rolle spielen werden, auch die Plattenbaugebiete weiter- men jedes Jahr mit 3 500 Euro für Tilgung und Zinsen.
hin wichtig, weil wir wohnungspolitisch betrachtet noch Das ist ein Strick, der die Unternehmen einschnürt. Das
Jahrzehnte weiter mit ihnen leben müssen. ist die eine Seite. Die andere Seite ist die starke Abwan-
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Es hat auch derung aus den neuen Ländern. Insbesondere mobile
niemand gesagt, dass die nicht wichtig sind! junge Menschen wandern ab. Das können wir nur be-
Das ist alles nicht verboten! Die sind wichtig!) dingt beeinflussen, Stichwort „demografische Entwick-
lung“. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Darauf
– Das ist auch nicht das Thema, Frau Müller. Das Thema müssen sich die Unternehmen mittel- und langfristig ein-
ist, dass wir dort helfen müssen, wo noch mehr getan stellen. Sie müssen sanieren, attraktive Wohnungen (D)
(B)
werden muss. Wir haben aus der DDR-Zeit die schon er- schaffen und vor allen Dingen – ich will den Fokus auch
wähnten Altschulden übernommen. auf die alten Menschen in den neuen Ländern richten –
(Patrick Döring [FDP]: Wir haben sie nicht für altersgerechte Wohnsubstanz sorgen. Das alles geht
übernommen!) nur, wenn wir bei der Altschuldenhilfe vorankommen.

Derzeit liegen immer noch 7,6 Milliarden Euro Altschul- Wir weisen mit unserem Antrag konkret den Weg,
den auf den ostdeutschen Wohnungsunternehmen. wie man das Problem lösen kann. Diesen können Bund
und Länder gemeinsam gehen. Frau Kollegin Bluhm,
Es gab sicherlich unterschiedliche Aktivitäten. Damit unser Weg sieht ein bisschen anders aus als Ihrer. Wir
haben Sie recht, Herr Vogel. Dass das Altschuldenhilfe- streichen nicht einfach die Altschulden. Das war auch
Gesetz enorm geholfen hat, bestreitet die SPD auch nicht Politik der letzten 20 Jahre. Wir können heute eine
nicht. Ich sage nur: Gerade vor dem Hintergrund, dass lange Diskussion über das Zustandekommen der Alt-
letzte Woche die Berlin-Brandenburger Wohnungsunter- schulden – das hatte etwas mit der Währungsumstellung,
nehmen einen Hilferuf an die Bundesregierung gerichtet den Sparguthaben und dem Einsatz dieser Sparguthaben
haben, müssen wir jetzt aktive Politik machen, Herr in der DDR zu tun – führen. Aber das würde keinem
Mücke. Haben Sie den mitbekommen? – Sie haben sich Wohnungsunternehmen und auch keinem Mieter in den
in den Haushaltsberatungen dankenswerterweise kräftig neuen Ländern helfen. Wir müssen vielmehr Lösungen
ins Zeug gelegt und wollten die Städtebaufördermittel suchen und finden und dann Beschlüsse fassen, die kon-
ein bisschen aufstocken. Aber leider ist nicht viel dabei kret helfen.
herausgekommen. – Noch einmal zurück zu dem Appell
aus Berlin-Brandenburg, lieber Herr Staatssekretär Unsere Lösung sieht wie folgt aus: Wir fordern in un-
Mücke. serem Antrag den Bund auf, jetzt Gespräche mit den
Ländern aufzunehmen. Herr Mücke, dieser Appell rich-
(Patrick Döring [FDP]: Es wäre schön, wenn
tet sich an die Bundesregierung. Wir fordern, dass die
beide Länder ihre Mittel richtig verwenden
Regierung dem Deutschen Bundestag eine abschlie-
würden!)
ßende Regelung zur Beschlussfassung vorlegt, die eine
Der Hilferuf aus Berlin-Brandenburg, der von den Mi- bessere Finanzausstattung der Städtebauförderung sowie
nistern anderer Länder und auch von den Wohnungs- eine bessere Förderung der energetischen Sanierung und
unternehmen unterstützt wird, Herr Döring, lautet im des altersgerechten Umbaus vorsieht. Herr Götz, wir ha-
Wesentlichen: Im Jahr 2016 könnte jede siebte Wohnung ben vielleicht in den nächsten Wochen noch Gelegen-
in Berlin-Brandenburg unbewohnt sein. heit, darüber intensive Gespräche zu führen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12739
Hans-Joachim Hacker
(A) (Peter Götz [CDU/CSU]: Das werden wir Petra Müller (Aachen) (FDP): (C)
tun!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Vogel, Sie haben an Ihren Koalitionsvertrag er- Beim „Stadtumbau Ost“ soll die Aufwertung von
innert. Aus diesem will ich jetzt nicht zitieren. Aber ich Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
erinnere Sie daran, dass Sie dort die konkrete Verpflich- gestärkt und der Rückbau der technischen und so-
tung eingegangen sind, eine Lösung zu finden, die dafür zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
sorgt, dass die Wohnungsunternehmen nicht durch den Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge-
Leerstand gefährdet werden. Das, was Sie hierzu im Ko- löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun-
alitionsvertrag festgeschrieben haben, ist richtig. ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge-
(Patrick Döring [FDP]: Ein guter Koalitions- fährdet werden.
vertrag!) Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag der christ-
Dieses Versprechen sollten Sie jetzt einlösen, Herr lich-liberalen Koalition.
Döring; denn ansonsten werden die Folgekosten die Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende des letzten
Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern – das ha- Jahres gab es insgesamt 780 000 Wohnungen in
ben wir nach 1990 gesehen – überrollen. Wir sind bei Deutschland, die leer standen, Tendenz steigend. Das
ungefähr 30 Milliarden Euro gestartet. 1994 waren es heißt, 3,7 Prozent, also fast 4 Prozent des deutschen
bereits 50 Milliarden Euro. Die Hilfe war zwar richtig, Wohnraums waren nicht vermietet. Das ist marktökono-
kam aber zu spät. misch ein Problem, volkswirtschaftlich und vor allem
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sozial. Aber dieser Leerstand muss differenziert betrach-
Sie haben in dieser Woche gezeigt, dass Sie lernfähig tet werden, um am Ende zu einer differenzierten Lösung
sind. Dafür möchte ich Ihnen ein Kompliment ausspre- zu gelangen.
chen. Die Analysen der Marktforschung sagen uns natürlich
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: mehr: Von den 780 000 Wohnungen sind 380 000 Woh-
Das ist schon länger so! Aber das ist Ihnen erst nungen in Ostdeutschland leer. Das sind 6,6 Prozent im
in dieser Woche aufgefallen!) Vergleich zu 2,7 Prozent im Westen. Damit scheint das
Sorgenkind ausgemacht: Betroffen sind vor allem die so-
– Herr Vogel, das ist mir schon öfter aufgefallen. Aber zialistischen Plattenbausiedlungen, betroffen sind die
Sie sollten das hier auch vertreten. Rechtsnachfolger der DDR-volkseigenen Wohnungs-
Herr Götz, Sie haben sich bei der Privilegierung von baugesellschaften. Diese Unternehmen leiden erstens am
(B) Kinderlärm in Kitas bewegt. Leerstand, an einer unattraktiven Wohnsubstanz und (D)
zweitens an der Kreditlast der Planwirtschaft. Aber auch
(Patrick Döring [FDP]: Was Sie in der letzten das ist wieder nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig zei-
Legislaturperiode abgelehnt haben!) gen Studien, dass sich die Leerstandsquoten Ost und
West seit 2001 annähern. Das ist die Sach- und Fakten-
Obwohl Sie unseren ersten Antrag zu diesem Thema im
lage.
Bundestag in dieser Legislaturperiode abgelehnt haben,
haben Sie nun eine Regelung vorgelegt, der wir zustim- In dem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag des
men konnten. Die kleinen Differenzen, die es gab – diese BMVBS – das ist schon mehrfach hier angeklungen –
waren für uns nicht ganz unwichtig –, will ich noch ein- wurde der Wohnungsmarkt untersucht. Es kommt zu ei-
mal in Erinnerung rufen. Aber das hat am Ende das Er- nem Ergebnis. Das Ergebnis ist unter anderem begrü-
reichen des großen Ziels nicht beeinträchtigt. ßenswert: Die Ertragslage der ostdeutschen Wohnungs-
Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Kehrtwende unternehmen hat sich im Wesentlichen verbessert. Diese
in Ihrer Energiepolitik vollzogen und befürworten nun Gutachten wurden übrigens vom GdW und von Haus &
den Atomausstieg, ohne dass sich die technischen Be- Grund begleitet. Das Gutachten besagt weiter: Noch nie
dingungen in den deutschen Atomkraftwerken verändert ging es der ostdeutschen Wohnungswirtschaft so gut.
haben. Ich traue Ihnen Kraft und Mut zu, bei der Alt- (Zuruf von der FDP: So ist das!)
schuldenproblematik ebenso zu agieren. Ich rufe Ihnen
zu: Bringen Sie den Mut auf, den letzten notwendigen Für 200 Wohnungsunternehmen stehen bis 2013 noch
Schritt bei der Entlastung der ostdeutschen Wohnungs- rund 170 Millionen Euro bereits bewilligte Mittel zum
unternehmen von Altschulden zu gehen! Lösen Sie jetzt Abruf bereit. Die Frage ist nun: Soll die Altschuldenhilfe
Ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag ein! Sie über das Jahr 2013 hinaus fortgeführt werden?
haben jetzt die Chance, unserem Antrag zuzustimmen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: 2012!)
Meine Damen und Herren von der Koalition, bitte stei-
gen Sie in das Boot! – 2013 gibt es ja noch Mittel. Man muss erst einmal ab-
rufen. Aber darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr
(Beifall bei der SPD) Kollege Hacker.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kolleginnen und Kollegen, seriös kann ich Ihnen da-
rauf heute, vor dem Sommer des Jahres 2011, keine ver-
Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.
bindliche Antwort geben. Vielmehr vertrete ich die Auf-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fassung, dass wir uns in 2012 die Situation in den
12740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Petra Müller (Aachen)


(A) ostdeutschen Ländern erneut ansehen müssen, den Abru- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja, das unter- (C)
fungsstand der Mittel betrachten und danach seriöse Ent- stützen wir auch!)
scheidungen treffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ab-
Fakt ist: Die Altschulden machen heute gut schließend ganz schnell noch eine Bemerkung machen.
20 Prozent der langfristigen Verbindlichkeiten der Woh- Alles will finanziert werden, auch die Altschuldenhilfe.
nungsunternehmen in Ostdeutschland aus. Damit gefähr- Angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung
den die Altschulden diese Unternehmen nicht. Dement- räumen wir der Städtebauförderung und damit dem
sprechend ist es für eine Fortführung des Stadtumbaus „Stadtumbau Ost“ absolute Priorität ein.
nicht zwingend notwendig, die Altschuldenhilfe nach (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das zeigt sich
2013 weiter fortzuführen; denn sie werden bis dahin ab- nicht in den Zahlen!)
nehmen. Zudem erfolgen zurzeit in Ost und in West wei-
tere Abrisse, ganz einfach aus betriebswirtschaftlichen Der „Stadtumbau Ost“ erreicht einen großen Adressaten-
Gründen, weil damit die Leerstandskosten reduziert wer- kreis,
den. Es werden auch sanierte Gebäude abgerissen. Das (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Der Haushalt
sind ganz normale Vorgänge. sieht anders aus!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich wirkt spezifisch und punktgenau und erhält den Kommu-
an dieser Stelle nicht falsch. Als fast einzige Rednerin zu nen und Regionen heimatbezogene Gestaltungshoheit.
diesem Thema komme ich nicht aus dem Osten. Die
Problematik der Altschuldenhilfe habe ich sehr wohl (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Frau Müller,
verstanden. Aber ich möchte Sie darum bitten, das der Haushalt! Schauen Sie doch einmal in den
empirica-Gutachten ohne Vorbehalte und ohne Vorur- Haushalt hinein!)
teile zu lesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die
Anträge lehnt die FDP-Bundestagsfraktion ab.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
sich zu bemühen, die Altschuldenhilfe fortzuführen. Sie Vielen Dank.
können sicher sein: Bemühen werden wir uns. Die
christlich-liberale Koalition wird mit dem Programm (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
„Stadtumbau Ost“ weiterhin erfolgreich und kontinuier-
lich die Probleme der Städte und Gemeinden lösen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fraktion Die Linke.
(B) der CDU/CSU) (D)
(Beifall bei der LINKEN)
Kurz ist es eben bei meinen Vorrednern schon ange-
klungen: Diese Probleme resultieren nicht aus den Alt- Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
schulden; sie resultieren aus den momentanen Wand- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lungsprozessen. Sehr geehrte Frau Müller, früher habe ich immer Herz-
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aus beidem!) klopfen bekommen, wenn ich hierher musste, weil ich so
aufgeregt war, hier zu reden. Heute habe ich Herzklop-
Diese sind in ganz Deutschland zu beobachten. Ich rede fen bekommen, als ich Ihrer Rede folgen musste, aber
von Schrumpfungsprozessen im Osten genauso wie im nicht deshalb, weil sie so gut war, sondern deshalb, weil
Westen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Schrump- sie mich beschämt. Ich verzeihe Ihnen das aber, weil Sie
fungsprozesse in den nächsten Jahren durch die ganze eben nicht aus den neuen Bundesländern kommen.
Republik fortsetzen werden. Das hat etwas mit der Be- (Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ich bin der
völkerungsentwicklung und mit dem demografischen größte anzunehmende Wessi! Ich weiß!)
Wandel zu tun. Diese Tatsache müssen wir für ganz
Deutschland akzeptieren. Städtebaulich und politisch ist Mehr als ein Jahr ist es schon her, dass wir uns hier im
das selbstverständlich zu begleiten, aber es ist 20 Jahre Plenum mit dem Thema Altschulden befasst haben. Seit-
nach der deutschen Einheit einfach Normalität. dem hat es eine Reihe von Debatten, Expertengesprä-
chen, Anhörungen und neuen Anträgen gegeben, zuletzt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gut-
achten, das hier mehrfach angesprochen wurde, dazu
Stärkung der Innenstädte, Nahverdichtung, Rückbau
wieder Stellungnahmen und noch eine Anhörung. Im
von Splittersiedlungen, das ist langfristig der einzig
Ergebnis sind wir bisher keinen Millimeter weiterge-
gangbare Weg. Deshalb sollten wir in puncto Altschul-
kommen. Dabei haben Sie selbst in den Koalitionsver-
den auch über eine Kopplungsregelung nachdenken: Es
trag geschrieben, dass der Stadtumbau in den neuen
wird eine Altschuldenhilfeentlastung gewährt, wenn ein
Bundesländern nicht durch ungelöste Altschuldenpro-
Unternehmen Wohngebäude ab dem Baujahr 1949 oder
bleme gefährdet werden soll.
1950 abreißt und den Entlastungsbetrag in die Sanierung
von Wohngebäuden in den Innenstädten, die nämlich ge- Aber genau das tun Sie. Entgegen allen im vergange-
stärkt werden müssen, investiert. Auch das ist übrigens nen Jahr eingeholten Expertenmeinungen, entgegen den
ein Ergebnis des Gutachtens. Stellungnahmen aus der Wohnungs- und Immobilien-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12741
Heidrun Bluhm
(A) wirtschaft, entgegen den Forderungen der ostdeutschen (Patrick Döring [FDP]: Ja, da sprechen wir (C)
Bauminister, vieler Kommunalpolitiker, des Deutschen mal über Ihre persönlichen wirtschaftlichen
Städtetages, entgegen auch den Schlussfolgerungen Ih- Interessen!)
res eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens „Altschul-
Wie bei der Städtebauförderung würde die so gewon-
denhilfe und Stadtumbau“ ignoriert diese Bundesregie- nene Investitionskraft der Wohnungsunternehmen ein
rung hartnäckig die Realität in vielen ostdeutschen Vielfaches an Investitionsvolumen mobilisieren und
Städten, nicht nur den Stadtumbau schlechthin am Leben erhal-
(Patrick Döring [FDP]: Sie haben das Gutach- ten,
ten nicht verstanden! Sie haben noch über (Beifall bei der LINKEN)
100 Millionen zur Verfügung!)
sondern zugleich ein Grundstock an Eigenkapital für den
die ohne Altschuldenentlastung der Wohnungsunterneh- dringend notwendigen ökologischen und barrierefreien
men den notwendigen Stadtumbauprozess zukünftig Umbau des Wohnungsbestandes und für die ebenso not-
nicht mehr werden schultern können und deswegen in wendige Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus
eine neue Abwärtsspirale kommen, nachdem sie die sein.
erste so halbwegs überlebt haben.
(Sebastian Körber [FDP]: Was hat das denn
(Patrick Döring [FDP]: Erst einmal die Mittel mit den Altschulden zu tun?)
abrufen, die da sind!) Die Begründung, warum eine Streichung der Alt-
Sie feiern heute auch noch, dass es ihnen heute etwas schulden angeblich nicht möglich sein soll, ist wirklich
besser geht, aber Sie sorgen dafür, dass es ihnen morgen abenteuerlich. Ich zitiere hier den Minister Ramsauer
wieder schlechter geht. aus der Leipziger Volkszeitung vom Februar dieses Jah-
res:
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring
[FDP]: Es sind doch Mittel nicht abgerufen! Angesichts der Haushaltskonsolidierungsvorgaben
sieht die Bundesregierung gegenwärtig die Priorität
Wir können über Ihre persönlichen Interessen
bei der Finanzierung der Städtebauförderung.
bei der Frage sprechen!)
Ich habe das dreimal gelesen und mir dann überlegt,
Die demografische Entwicklung, speziell in Ost- doch zu lachen. Eigentlich müsste man über so viel Ver-
deutschland, produziert dort eine neue Leerstandswelle. logenheit des Fachministers weinen.
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Meine Damen und Herren, den Antrag der SPD leh-
(B) Stadtumbau und Altschuldenhilfe sind zwei nen wir ebenfalls ab, und bei dem der Bündnisgrünen (D)
verschiedene Dinge!) werden wir uns enthalten, weil beide die Bundesregie-
rung beauftragen wollen, eine neue bzw. andere Fortfüh-
Wachsender Leerstand verschärft die wirtschaftliche Si-
rung für die Altschuldenentlastung zu finden. Dieses
tuation vieler Wohnungsunternehmen und schwächt ihre Grundvertrauen haben wir nicht. Dafür bietet die Linke
Kreditwürdigkeit, und auch das wissen Sie. Leerste- eine Lösung: Streichen Sie die Altschulden!
hende Häuser, selbst in besten Innenstadtlagen, suchen
heute Investoren und halten die Mieter nicht vom Weg- (Patrick Döring [FDP]: Woher nehmen wir die
zug ab. 6 Milliarden?)
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das hat aber Die Bundesregierung hat bisher nichts vorgelegt und
doch mit der Altschuldenhilfe nichts zu tun! wird es auch nicht tun. Der Fachminister kann es einfach
Das ist der demografische Wandel! – Patrick nicht.
Döring [FDP]: Das ist der blanke Lobbyis- Danke schön.
mus!)
(Beifall bei der LINKEN)
Dass ein CSU-Politiker aus Traunstein das nicht verste-
hen kann oder will, ist vielleicht noch verständlich, aber
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wenn ein CDU-Politiker aus dem Wahlkreis Greiz – Al-
tenburger Land oder Politiker aus der FDP aus den Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
neuen Bundesländern das nicht sehen können, sind sie
blind oder für die Probleme ihres Wahlkreises nicht of-
fen. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – ren! Die Altschuldenhilfe war lange ein wohnungswirt-
Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Natürlich schaftliches Instrument. Es ging also darum, bestimmten
sehen wir das! – Volkmar Vogel [Kleinsaara] Wohnungsunternehmen das Überleben zu sichern. Ich
[CDU/CSU]: Wir werden Lösungen finden!) sehe die Altschuldenhilfe heute aber als städtebauliches
Instrument. Wer will, dass das Programm „Stadtumbau
Das Streichen der noch verbliebenen 7,6 Milliarden Ost“ erfolgreich sein soll, der muss die Altschuldenhilfe
Euro Altschulden – so beziffert sie das Gutachten des über das Jahr 2013 hinaus verlängern.
Bauministeriums – könnte ein eigenes Konjunkturpro-
gramm sein. (Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)
12742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Stephan Kühn
(A) Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ziele des wolle das Geld nicht in den Schuldendienst stecken, son- (C)
Programms „Stadtumbau Ost“: Die Sanierung der Alt- dern investieren. Dies wollen wir natürlich auch. Wenn
bausubstanz soll verstärkt werden und eine Aufwertung man sich die volkswirtschaftlichen Aspekte anguckt, er-
der Innenstadtbereiche stattfinden. Gleichzeitig – das ist reichen wir damit natürlich auch eine Hebelwirkung, wie
auch ein Beschluss des Bundestages – sollen weitere es bei der Städtebauförderung der Fall ist.
200 000 bis 250 000 Wohnungen vom Markt genommen
Zu den Kosten: Uns ist auch klar – ich sitze im Haus-
werden.
haltsausschuss –, 7,6 Milliarden Euro wird man ange-
Wenden wir uns dem empirica-Gutachten zu: Dort sichts der Haushaltsrahmenbedingungen nicht berappen
wird deutlich, dass Unternehmen, die abgerissen haben, können. Für eine Verlängerung der Altschuldenhilfe
solche Unternehmen waren, die die Altschuldenhilfe in steht in Rede, dass sie bis 2016 zu neuen Kosten von
Anspruch nehmen konnten. 90 Prozent der Abrisse wa- 600 Millionen Euro führt. Das bedeutet, dass alle Rück-
ren Abrisse von Unternehmen, die Altschuldenhilfe in baumaßnahmen mit Altschuldenhilfe erfolgen und dass
Anspruch genommen haben. Rückbaupotenziale – so es innerhalb von fünf Jahren möglich ist, dieses Volu-
steht es auch in dem Gutachten – haben aber im Wesent- men von 200 000 bis 250 000 Wohneinheiten zurückzu-
lichen nur noch die Unternehmen, die bisher keine Alt- bauen. Das halte ich für nicht mehr realistisch, auch an-
schuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten. gesichts der momentanen Rückbauzahlen. Es wird also
ein wesentlich längerer Zeitraum in Anspruch genom-
(Patrick Döring [FDP]: Aber die machen heute men werden müssen. Entsprechend ist dann auch die Be-
Gewinne! Anders als vor zehn Jahren!) lastung durch die Gewährung einer Altschuldenhilfe ge-
Das sind rund zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungs- ringer. 79 Millionen Euro stehen in diesem Haushalts-
unternehmen. Wenn sie nicht von Altschulden entlastet jahr für die Altenschuldenhilfe bereit. Wenn man davon
werden, werden sie nicht zurückbauen; denn sie bleiben ausgeht, dass man den weiteren Rückbau über einen län-
schließlich auf diesen Schulden sitzen. geren Zeitraum als bis 2016 strecken muss, dann wird
deutlich, dass keine neuen Haushaltsbelastungen existie-
Dies erklärt auch die rückläufigen Abrisszahlen und ren, sondern dass man sozusagen das Niveau der bisher
berührt damit natürlich auch die Frage, ob das Ziel des gezahlten Altschuldenhilfe in dieser Höhe wird fort-
Stadtumbaus Ost an dieser Stelle erreicht werden kann. schreiben können.
Waren 2005 noch 60 000 Wohnungseinheiten rückge-
baut worden, waren es im vergangenen Jahr gerade noch Im Koalitionsvertrag – das ist schon zitiert worden –
13 000. wird klar gesagt: Der Erfolg des Stadtumbaus Ost soll
nicht durch die ungelöste Altschuldenproblematik ge-
Es ist klar, dass angesichts des demografischen Wan- fährdet werden. Aber genau das droht unserer Ansicht
(B) dels in Ostdeutschland weiterer Rückbau notwendig ist. nach. Ich frage mich, wozu wir ein Gutachten machen (D)
(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Den demogra- lassen, wenn die darin formulierten Empfehlungen nicht
fischen Wandel gibt es überall!) aufgegriffen werden. Ich habe auch kein Verständnis,
wenn Lösungen auf dem Tisch liegen, dass wir das wei-
Insbesondere in den Schrumpfungsregionen Ostdeutsch- ter beobachten und noch einmal evaluieren. Das ist nicht
lands befinden sich die Wohnungsunternehmen, die be- die Schlussfolgerung, die man aus dem Gutachten zie-
sonders stark von den Altschulden betroffen sind. Dies hen kann. Zudem brauchen die Unternehmen langfris-
sollten wir bei der Debatte beachten. Hier liegt eine dop- tige Planungssicherheit. Sie ist unter der Bedingung der
pelte Belastung vor: einerseits angesichts schrumpfender ungeklärten Frage, wie es mit der Altschuldenhilfe wei-
Märkte geringere Mieterlöse und andererseits drückende tergeht, nicht gegeben.
Altschulden, die summa summarum zu einer Investiti-
Die Ostministerpräsidenten haben sich klar geäußert.
onsbremse führen. Wir wollen aber, dass sich alle Unter-
Sie treten für die Fortführung der Altschuldenhilfe ein,
nehmen an der energetischen Sanierung und an dem
also für eine Anschlussregelung. Das können wir heute
Thema barrierefreies und altengerechtes Wohnen beteili-
gen. beschließen, meine Damen und Herren, denn dazu liegt
ein Antrag von uns vor. Ich freue mich, wenn Sie diesem
(Patrick Döring [FDP]: Das hat mit Altschul- Antrag zustimmen.
denhilfe nichts zu tun!)
Herzlichen Dank.
Dies gelingt ihnen nicht, wenn sie keine wirtschaftlichen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rahmenbedingungen dafür vorfinden.
und bei der SPD)
Das empirica-Gutachten macht meines Erachtens ei-
nen sehr intelligenten Vorschlag. Es sagt nämlich, alle Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Unternehmen könnten künftig Altschuldenhilfe in An- Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Frak-
spruch nehmen, und der Entlastungsbeitrag wird eins zu tion.
eins in die Altbaubestände in den Innenstädten inves-
tiert. Wir schlagen zusätzlich vor: oder auch in Quar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tiere, die gemäß entsprechender integrierter Stadtent-
wicklungskonzepte dauerhaft für die Wohnraum- Peter Götz (CDU/CSU):
versorgung notwendig sind. Ein solcher Vorschlag wird Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
in der Wohnungswirtschaft begrüßt. Dort sagt man, man Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstrit-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12743
Peter Götz
(A) tig: Zahlreiche Städte und Gemeinden sind von einem schuldenentlastung für den Erfolg des Programms „Stad- (C)
nachwirkenden demografischen und wirtschaftlichen tumbau Ost“ nicht zwingend erforderlich ist. Für uns in
Strukturwandel betroffen. Das gilt vor allem im Osten der Union geht es in Zukunft primär um städtebauliche
unseres Landes. Kriterien und weniger um Kriterien für Unternehmen;
denn sonst müssten wir zu Recht auch der Frage nachge-
Mit dem 2002 aufgelegten Programm „Stadtumbau
hen, was mit den vielen privaten Eigentümern geschieht,
Ost“ konnte viel zur Stabilisierung, Rückgewinnung und
die keine Altschuldenentlastung erhalten haben.
Sicherung des Lebensumfeldes der Menschen erreicht
werden. Die Altschuldenhilfe war dabei eine wichtige Nach dem Ergebnis des empirica-Gutachtens hat sich
Unterstützung. Sie gab den begünstigten Wohnungsun- die Ertragslage ostdeutscher Wohnungsunternehmen
ternehmen – ich betone, den begünstigten Wohnungsun- – auch das ist unstrittig – wesentlich und kontinuierlich
ternehmen – einen sehr positiven Schub. Die Entlastung verbessert. Deshalb ist es nur konsequent, wie dort vor-
von Altschulden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass geschlagen wurde, den Schwerpunkt auf die Sanierung
die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften sowie die der Altbauten in den Innenstädten zu legen. Dies kommt
kommunalen Wohnungsgesellschaften heute erheblich unseren Zielen – Herr Kollege Hacker, Sie hatten vorhin
besser dastehen als jemals zuvor in ihrer Geschichte. dieses Thema angesprochen –, die wir uns in diesen Ta-
gen im Zusammenhang mit der energetischen Stadtsa-
Viele von uns erinnern sich noch: Nach dem Zusam-
nierung gesteckt haben, weit entgegen.
menbruch des Kommunismus und dem Ende des Sozia-
lismus in der DDR vor 20 Jahren lagen die Altschulden Wir wollen und sollten unsere Förderkulisse bei den
bei über 30 Milliarden Euro. Städtebauförderprogrammen neu definieren. Deshalb
wollen wir erreichen, dass wir die Städtebauförderung
(Hans-Joachim Hacker [SPD]: D-Mark!)
im kommenden Jahr auf dem diesjährigen Niveau von
Davon hat der Steuerzahler bis heute mehr als die Hälfte 455 Millionen Euro verstetigen. Wichtig ist dabei, dass
übernommen. Ich meine, diese großartige Solidarleis- der eindeutige Schwerpunkt auf die Innenentwicklung
tung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger unse- unserer Städte und Gemeinden gelegt wird. Wir, das
res Landes für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft soll- heißt Bund, Länder und Gemeinden, müssen in gemein-
ten wir zunächst einmal dankbar anerkennen. samer Anstrengung gute Rahmenbedingungen für urba-
nes Leben in den Orts- und Stadtteilzentren setzen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
die Städte und Gemeinden dabei nach Kräften unterstüt-
bei Abgeordneten der SPD)
zen.
Diesen Dank an den deutschen Steuerzahler verbinde
Neben den zunehmend wichtiger werdenden Themen
ich auch gerne mit einem Dank an die vielen deutschen
(B) der energetischen Sanierung dürfen wir auch die Baukul- (D)
Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die durch ihr
tur nicht aus den Augen verlieren.
Engagement die Wohnqualität in den Städten und Ge-
meinden maßgeblich aufgewertet haben. Kombiniert mit Vor diesem Hintergrund müssen wir uns unsere vielen
Fördermitteln vor allem aus dem Programm „Stadtum- Programme genau anschauen und prüfen, wie wir insge-
bau Ost“ wurde in vielen ostdeutschen Kommunen die samt die Effizienz steigern können. Der Stadtumbau
Innenentwicklung zu einem echten Erfolgsmodell. So wird dabei auch in Zukunft eine ganz wichtige, entschei-
hat dieses Programm circa 400 Städten und Gemeinden dende Rolle spielen, und zwar – das sage ich bewusst –
bei der Bewältigung des Strukturwandels sehr geholfen. im Osten, aber auch im Westen unseres Landes.
Mein Kollege Vogel, aber auch meine Kollegin Müller
haben darauf hingewiesen. Vielen herzlichen Dank.

Nur noch einmal zur Erinnerung, Frau Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bluhm: In der Vergangenheit wurden die Fördermittel
für die Altschuldenhilfe mehrmals – ich betone: mehr- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mals – auf über 1,1 Milliarden Euro aufgestockt, und Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30
bislang sind, was vorhin auch gesagt worden ist, die Gel- unserer Geschäftsordnung erhält Kollegin Heidrun Bluhm.
der überhaupt nicht in diesem Umfang abgerufen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kann sie uns
Es ist richtig, dass wir in nächster Zeit einige Fragen erklären, wo sie arbeitet!)
beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Gibt es nach
dem Auslaufen der Befristung ab 2013 – nur zur Erinne- Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
rung: Wir befinden uns im Jahr 2011 – einen Anschluss?
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die zweite Frage ist: Wie sieht dieser Anschluss gegebe-
Herr Döring hat während meiner Rede mit seinem Zwi-
nenfalls aus?
schenruf zumindest suggeriert, dass ich persönliche wirt-
Herr Kollege Hacker, zu Ihrer Beruhigung: Sie kön- schaftliche Interessen haben könnte, mich für die Strei-
nen davon ausgehen, dass wir eine gute Lösung finden chung der Altschulden einzusetzen.
werden.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ist das so?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich erkläre hiermit, dass ich bisher weder ein Woh-
Das wiederholt zitierte empirica-Gutachten kam übri- nungsunternehmen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
gens zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Alt- geleitet habe noch eins gekauft habe.
12744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Heidrun Bluhm
(A) Ich erkläre hiermit, dass ich von Altschulden selbst Berichterstattung: (C)
nirgendwo belastet bin und dass ich nur und ausschließ- Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
lich parteipolitisch, meinem Fachgebiet entsprechend, Kerstin Tack
mit meiner Sachkompetenz für die ostdeutschen Bundes- Dr. Christel Happach-Kasan
länder hier für meine Fraktion gesprochen habe. Karin Binder
Friedrich Ostendorff
Danke schön.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
CDU/CSU: Sie sind eine Altlast!)
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
Ich schließe die Aussprache. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ur-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und sachen bekämpfen
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5000.
– Drucksachen 17/5377, 17/5953 (neu) –
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Berichterstattung:
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1154 mit dem Titel Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
„Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in Kerstin Tack
den neuen Ländern“. Wer stimmt für diese Beschluss- Dr. Christel Happach-Kasan
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Karin Binder
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei- Friedrich Ostendorff
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom- Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
men. Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- vor.
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1148 mit dem Ti- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
tel „Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunterneh- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
men streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
(B) lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die (D)
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
men. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Alois Gerig (CDU/CSU):
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
tel „Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunter- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittel-
nehmen neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in sicherheit ist ein hohes Gut. Die christlich-liberale
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5124, Koalition hat bewiesen: Wir handeln schnell und ent-
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf schlossen, wenn es darum geht, Sicherheitslücken zu
Drucksache 17/4698 abzulehnen. Wer stimmt für diese schließen.
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Zum Jahreswechsel 2010/11 wurden durch kriminelle
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Machenschaften Futtermittel mit Dioxin verunreinigt.
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange- Der Dioxinskandal hat eine große mediale Welle verur-
nommen. sacht und die Verbraucher verunsichert. Wie wir heute
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: alle wissen, bestand glücklicherweise zu keinem Zeit-
punkt eine gesundheitliche Gefahr für die Menschen.
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Die Behörden haben länderübergreifend schnell, konse-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten quent und umsichtig reagiert.
Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor- Bereits im Januar hat sich Frau Bundesministerin Ilse
schriften Aigner mit den Ländern auf den „Aktionsplan Verbrau-
cherschutz in der Futtermittelkette“ verständigt und wich-
– Drucksachen 17/4984, 17/5392 – tige Anstrengungen zum Thema auf EU-Ebene initiiert.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Die Bundesregierung hat im März eine Rechtsverordnung
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- auf den Weg gebracht, die die Futtermittelkontrolle aus-
cherschutz (10. Ausschuss) weitet, eine Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe
einführt und eine Trennung der Produktionsströme für
– Drucksache 17/5953 (neu) – technische und nichttechnische Fette vorschreibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12745
Alois Gerig
(A) Heute beraten und entscheiden wir über Änderungen bensmittel sind weltweit mit die sichersten; die Kontrol- (C)
im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch mit dem len sind dicht und streng. Absolute Sicherheit vor krimi-
Ziel, weitere wichtige Punkte des Aktionsplans umzuset- nellen Machenschaften gibt es nicht. Kaufen Sie bewusst
zen. Gleichwohl möchte ich schon anmerken, dass kri- ein. Stärken Sie zum Beispiel mit einem gezielten Griff
minelle Energie auch damit nicht gänzlich verhindert, ins Lebensmittelregal die heimische Produktion.
aber durch das Engerziehen des Netzes deutlich einge-
Eine abschließende Bitte an die Opposition. Gefähr-
dämmt werden kann.
den Sie durch überzogene Forderungen nicht die Nah-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rungsmittelproduktion in deutschen Landen. Dies kann
zu empfindlichen Fehlentwicklungen und zu Produk-
Hier die wichtigsten Inhalte, verbunden mit dem tionsverlagerungen führen, wie wir das im Bereich der
Dank an Frau Aigner und das BMELV für die rasche Hühnerhaltung erlebt haben.
Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs:
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
Künftig müssen Lebensmittel- und Futtermittelher-
steller sowie Laboratorien gesundheitsbedenkliche Stoffe, Sonst sind am Ende die Verbraucher, die wir alle doch
die sie in untersuchten Lebens- oder Futtermitteln fest- schützen wollen, die Verlierer.
gestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meldepflicht besteht unter anderem für Dioxine und Fu-
rane. Dioxinprobleme können durch dieses Monitoring Die Koalition lässt es nicht zu, dass schwarze Schafe
somit früher als bisher erkannt und Gegenmaßnahmen das Ansehen der deutschen Land- und Ernährungswirt-
können schneller eingeleitet werden. Eigenkontrollen schaft schädigen. Es geht auch um den Erhalt der Be-
haben sich allgemein in der Wirtschaft etabliert und be- triebe und um die dazugehörigen Arbeitsplätze. Darüber
währt. hinaus schützen wir die Gesundheit der Verbraucher und
stärken ihr Vertrauen in deutsche Lebensmittel. Ich bitte
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch dieser Dio- Sie: Stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
xinskandal durch die Eigenkontrolle eines Unterneh-
mens aufgedeckt wurde. Wichtig ist dabei allerdings Danke schön.
schon, dass die Unternehmen aufgrund der Kontroller-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gebnisse nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden.
Vorschnell veröffentlichte Eigenkontrollergebnisse, die
sich häufig auf Vorprodukte beziehen, würden zu einer Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
erheblichen Verwirrung führen. Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
(B) Die Sanktionsmöglichkeiten des Lebensmittel- und (Beifall bei der SPD) (D)
Futtermittelgesetzes werden deutlich ausgeweitet. Dies
wird durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfrak- Kerstin Tack (SPD):
tionen erreicht: Der Bußgeldrahmen wird verdoppelt. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat geahndet, und gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns
schwere Verstöße werden künftig sogar mit bis zu zwei heute abschließend in zweiter und dritter Beratung mit
Jahren Freiheitsstrafe belegt. Und dies ist gut so. der Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ches. Es gibt zwei Punkte aus dem 14-Punkte-Plan, die
die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vor
Ich möchte in Erinnerung rufen: Der Dioxinskandal vier Monaten im Zuge des Dioxinskandals vereinbart
führte bei Verbrauchern verständlicherweise zu starker hat. Ich möchte betonen: vor vier Monaten. Es wurde
Verunsicherung und Kaufzurückhaltung. Der damit ein- nämlich behauptet, man sei fix gewesen. Zur Verdeutli-
hergehende Preisverfall war ein schwerer Schlag für die chung: Es ist bereits vier Monate her.
Unternehmen der gesamten Land- und Ernährungswirt-
schaft. Besonders betroffen waren landwirtschaftliche (Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Danke
Familienbetriebe. Zeitweilig waren fast 5 000 Höfe ge- für die Anerkennung!)
sperrt. So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen. Mit der Gesetzesänderung wird die Meldepflicht für
Die Opposition sollte solche Vorfälle bitte nicht dazu private Labore festgeschrieben. Künftig müssen sie be-
missbrauchen, die herkömmliche Landwirtschaft infrage denkliche Mengen an gesundheitsgefährdenden und da-
zu stellen und eine ökologische Agrarwende herbeizure- her nicht erwünschten Stoffen, die sie in untersuchten
den. Lebens- und Futtermitteln feststellen, an die zuständigen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Behörden melden. Ferner werden die Lebens- und Fut-
der FDP) termittelunternehmen verpflichtet, den zuständigen Be-
hörden ebenfalls Ergebnisse der Eigenkontrollen mitzu-
Wir alle wissen genau: Das eine hat mit dem anderen teilen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Gesetzesinitiative
überhaupt nichts zu tun. ausdrücklich, weil sie Teil des schon Anfang des Jahres
von uns vorgelegten Aktionsplanes gewesen ist, den die
Die wichtigsten Botschaften an unsere Verbraucher
Bundesregierung in weiten Teilen übernommen hat.
müssen jetzt lauten: Unsere Landwirtschaft ist in der ge-
botenen Vielfalt unverzichtbar, um die Verbraucher mit (Dr. Erik Schweickert [FDP]: So kann man es
bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen. Deutsche Le- auch sehen!)
12746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Kerstin Tack
(A) Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
nehmen, Ergebnisse der Eigenkontrollen an die zuständi- der LINKEN)
gen Behörden zu melden, ist ein Fortschritt. Allerdings
sind noch weitere strenge Kontrollen von Futterfetten Um die aktive Information der Verbraucherinnen und
vorzuschreiben, und die Hersteller müssen verpflichtet Verbraucher über Grenzwertüberschreitungen zu ge-
werden, jede Charge beproben zu lassen. währleisten, müssen die Behörden verpflichtet werden,
Untersuchungsergebnisse von sich aus zu veröffentli-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des chen. Hierzu ist § 40 LFGB in das Verbraucherinforma-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tionsgesetz zu integrieren und die Sollvorschrift in
§ 40 LFGB in eine Istvorschrift umzuwandeln. Die Ab-
Die Futtermittelfette sind als Haupteingangsquelle der wägungsklausel ist zu streichen. Auf einer Internetseite
fettlöslichen Dioxine besonders sensibel; sie sind deshalb sind Ross und Reiter sehr deutlich zu benennen.
schärfer zu überwachen. Auch muss eine offene und voll-
ständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe um- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gesetzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen GRÜNEN)
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
Mit der Meldepflicht für die privaten Labore werden rung ist auch noch die Vorlage einer Positivliste schul-
diese ganz besonders in die Informationskette des aufzu- dig. Diese soll auf europäischer Ebene verbindlich fest-
bauenden Frühwarnsystems einbezogen; ihnen wird eine gelegt werden; das ist richtig. Aber wir unterstützen
neue Beteiligungsrolle zugeschrieben. Die Meldepflicht ganz ausdrücklich die Forderung, die die Bundesländer
bedeutet auch eine neue Herausforderung hinsichtlich der Bundesregierung gestellt haben: Wenn wir auf der
der Gestaltung der Aufträge der Unternehmen an die La- europäischen Ebene zu keiner Lösung kommen, dann
bore; denn bisher waren die Labore oft nicht unterrich- muss es eine nationale Lösung für die Positivliste geben.
tet, was mit den Stoffen, die sie zur Beprobung bekom- Wir unterstützen die Bundesländer auch darin, zu sagen:
men hatten, tatsächlich passieren sollte. Das wird sich Wenn eine Umsetzung in Europa bis Sommer 2011 nicht
künftig, wenn die Labore in die Mitteilungskette einbe- möglich ist, dann erwarten wir eine nationale Regelung
zogen werden, deutlich ändern müssen. Auch war bisher und bitten die Bundesregierung, diese hier vorzulegen.
die Beurteilung der Ergebnisse nicht Teil des Laborauf-
trages. Vielmehr ging es ausschließlich um die Mittei- Eine besondere Herausforderung besteht auch und ge-
lung der Untersuchungsergebnisse. rade bei der Schaffung von Haftungsregelungen. Die
Landwirte, die letztendlich die Opfer und Leidtragenden
(B) Die notwendige Rechtsverordnung, die jetzt dieses des Dioxinskandals waren, sind beträchtlich zu Schaden (D)
Gesetz untermauern soll, ist besonders wichtig. Wir er- gekommen; dieser Schaden ist bisher nicht abgegolten.
warten deswegen eine Vorlage dieser Rechtsverordnung Deshalb brauchen wir hier schnellstmöglich und drin-
noch vor der Sommerpause; denn die Labore sind verun- gend Vorschläge, wie eine Haftungsregelung in Zukunft
sichert. aussehen kann.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Aber 2011, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
bitte!)
Es ist vernünftig, wenn die Bundesregierung jetzt
– Genau, vor der Sommerpause 2011; davon gehe ich sagt: Wir wollen uns mithilfe einer Studie weiter beraten
aus. – Die Labore wissen in der Regel nicht, wie sie das lassen. Ich warne aber davor, hier zu viel Zeit ins Land
Gesetz umzusetzen haben. Die Bundesregierung bleibt gehen zu lassen. Bisher hat es nicht einmal eine Vergabe
die Vorlage schuldig. gegeben. Wir können uns aber vorstellen, dass ein neuer
Skandal kommt, vielleicht auch in geringerer Dimen-
Eines ist klar und wichtig: Dieses Gesetz beschreibt sion. Dann hätten wir jedoch nichts auf den Weg ge-
nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 14-Punkte-Plan. bracht. Insofern gehen wir davon aus, dass der Bundes-
Mit den ergriffenen Maßnahmen, die hier heute zur Be- regierung die richtige Zeitschiene sehr wohl bekannt ist:
schlussfassung stehen, wird keine bessere Information Es muss zügig gehandelt werden.
der Verbraucherinnen und Verbraucher verwirklicht. Die
Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit wird nicht deut- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich
lich erhöht. Der Verwaltungsvollzug wird nicht effizien- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
ter. Der Informationsfluss zwischen Gemeinden, Län-
dern und Bund wird nicht effektiv und wirksam Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-
verstärkt. Dazu sind weitere Maßnahmen erforderlich, gierung auch auf, die Umstände des Dioxinskandals zum
auf deren Vorlage wir noch warten. Anlass zu nehmen, einen Gesetzentwurf zur Regelung
des Informantenschutzes vorzulegen. Mitarbeiterinnen
Die Novellierung des Verbraucherinformationsgeset- und Mitarbeiter, die die zuständigen Behörden über
zes muss endlich erfolgen. In der Novelle muss geregelt Missstände im eigenen Betrieb informieren, müssen ge-
werden, dass sämtliche Untersuchungsergebnisse der be- setzlich vor Benachteiligungen geschützt werden. Be-
trieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Unter- reits in der öffentlichen Anhörung des Verbraucheraus-
suchungsergebnisse in aufgearbeiteter Form in einer Da- schusses am 4. Juni 2008 ist die Notwendigkeit einer
tenbank veröffentlicht werden. solchen gesetzlichen Regelung deutlich geworden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12747
Kerstin Tack
(A) Wir brauchen eine gläserne Produktion und eine funk- Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht (C)
tionierende Verbraucherinformation. Leider schützt die festgestellt: Es bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die
Koalition die Futtermittelpanscher und nicht die Ver- Verbraucherinnen und Verbraucher. Daher, Frau Tack,
braucherinnen und Verbraucher. geht es an diesem Punkt nicht um Verbraucherschutz.
Die Verbraucher waren nicht gefährdet.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ganz genau! –
Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist jetzt voll- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja! Das
kommener Blödsinn!) kann man hinterher sagen!)
Sie schlägt nämlich vor, dass die Öffentlichkeit von Es geht vielmehr darum, dass wir es den Betrieben er-
Grenzwertüberschreitungen nichts erfährt, solange die schweren, kriminell zu handeln, und dass wir die Folgen
so produzierten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gelan- kriminellen Handelns eingrenzen.
gen. Wir wollen das nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es handelt sich also nicht um einen Skandal. Verbrau-
DIE GRÜNEN) cherschutz heißt im Übrigen: Wenn eine Gefahr besteht,
dann muss gewarnt werden. Wenn keine Gefahr besteht,
Deshalb schlagen wir in unserem Entschließungsantrag dann sind die Behörden aufgerufen, zu beruhigen.
eine Veröffentlichungspflicht vor. Aus unserer Sicht
sieht so eine vernünftige Verbraucherpolitik aus. Wir bit- Auch wenn es keine Gefahr gegeben hat, sind wir uns
ten daher um Unterstützung unseres Entschließungsan- alle darüber einig, dass Handeln geboten ist. Futtermittel
trags. sind Lebensmittel für Tiere. Abfallentsorgung durch den
Tiermagen wollen wir nicht. Aber wir wissen auch: Kein
Herzlichen Dank. Gesetz schützt vor kriminellem Handeln. Kriminelles
(Beifall bei der SPD) Handeln muss erschwert werden; deswegen dieser Ge-
setzentwurf. Wir müssen verantwortlich arbeitende Be-
triebe schützen. Das erreichen wir mit einer Melde-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: pflicht für Labore, die jetzt eingeführt werden soll. Wir
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan erhalten ein Dioxin-Monitoring, das uns in Zukunft bes-
für die FDP-Fraktion. ser in die Lage versetzt, zu beurteilen, in welchen Regio-
nen es Probleme gibt und in welchen nicht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Dioxine sind langlebige Umweltgifte. Ihr Entstehen
kann nicht vollständig verhindert werden. Aber wir kön-
(B) (D)
nen feststellen, dass seit 1990 der Dioxingehalt in unse-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
ren Lebensmitteln gesenkt worden ist und heute nur
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit noch ein Drittel des damaligen Wertes beträgt.
der Verabschiedung des heute vorliegenden Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Fut- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Da haben wir
termittelgesetzbuchs kommen wir einen ganz bedeuten- ja Glück gehabt!)
den Schritt weiter bei der Umsetzung des 14-Punkte- Mein Kollege hat zu Recht herausgestellt, dass das
Plans, den die Bundesregierung und die Länder gemein- Fehlverhalten dieses Betriebes nur wegen der Eigenkon-
sam beschlossen haben: unbedenkliche Futtermittel, trollen eines Futtermittelwerkes entdeckt worden ist.
sichere Lebensmittel und Transparenz für den Verbrau- Deswegen muss unsere Konsequenz lauten, dass wir die
cher. Die überwiegende Zustimmung, jetzt auch vonsei- Eigenkontrollen stärken.
ten der SPD, bestätigt, dass wir damit auf dem richtigen
Weg sind. Das ist, glaube ich, gut. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Zum Jahreswechsel ist entdeckt worden, dass ein Be- Der Weg, den die SPD uns vorschlägt – Betriebe an den
trieb Futterfette, die den zulässigen Höchstgehalt an Pranger stellen und Denunziantentum fördern –, ist ge-
Dioxin überschritten hatten, an 25 Futtermittelwerke nau der falsche Weg. Das dürfen wir nicht tun. Damit be-
weiterverkauft hat. Es muss herausgestellt werden: Die- kommen wir keine Eigenverantwortung. Ich wiederhole:
ser Betrieb hat kriminell gehandelt. Was Sie von der SPD vorschlagen, ist genau der falsche
Weg.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP)
Wir wissen, dass die Produzenten die Verantwortung
Das ist das Problem, mit dem wir es im Augenblick zu
für ihre Produkte tragen. Diese Verantwortung kann ih-
tun haben. Wir haben es nicht mit einem Skandal, son-
nen niemand abnehmen. Wir wissen auch, dass Lebens-
dern mit dem kriminellen Handeln eines Betriebes zu
mittelkontrollen das Ziel haben, Fehlverhalten aufzude-
tun. In der Folge sind knapp 5 000 landwirtschaftliche
cken und das Eigeninteresse der Unternehmen an der
Betriebe gesperrt worden. Wir müssen sehen, dass diese
Qualität ihrer Produkte zu stärken.
Betriebe wirtschaftliche Folgen zu tragen hatten. Es kam
zu einem Preisverfall bei Eiern und Schweinefleisch, der Anfang dieses Jahres hat man versucht, moderne
die wirtschaftliche Situation dieser Betriebe erheblich Landwirtschaft mit dem kriminellen Fehlverhalten eines
belastet hat. Betriebes in Schleswig-Holstein in Verbindung zu brin-
12748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) gen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen; er war schlicht Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, (C)
und ergreifend falsch. Betroffen waren vor allem kleine zu erfahren, was in ihrem Essen ist und wie die Lebens-
Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst gemischt ha- mittel erzeugt wurden. Nur ein offener Umgang mit In-
ben. Moderne Landwirtschaft schont die Natur, vermei- formationen über den Herstellungsprozess und die Be-
det Arbeitsunfälle – ein, wie ich meine, ganz wichtiges standteile unserer Lebensmittel sorgt letztendlich für
Thema – und produziert qualitativ hochwertige Lebens- einen sauberen Teller. Das ist für mich die zentrale Lehre
mittel. aus dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Bei dem Zur Verbesserung der Sicherheit unserer Lebensmittel
Dioxinvorfall sprechen wir von einer kriminellen Hand- hatten sich Bund und Länder auf einen 14-Punkte-Plan
lung, die dazu geführt hat, dass eine Reihe landwirt- verständigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf geht
schaftlicher Betriebe existenziell gefährdet wurde. Die zwar in die richtige Richtung, aber leider nur einen win-
Verbraucherinnen und Verbraucher befanden sich zu kei- zig kleinen Schritt. Die Koalition greift in ihrem Gesetz-
nem Zeitpunkt in irgendeiner Gefahr. entwurf lediglich 2 von 14 Punkten dieses Plans auf und
setzt damit nur einen Bruchteil der erforderlichen Maß-
Gleichzeitig wird landauf, landab über die Belastung nahmen um.
von Gemüse mit EHEC-Bakterien diskutiert. Hier han-
delt es sich um eine reale Gefahr. Inzwischen gibt es Die Linke hatte schon frühzeitig einen umfassenden
über 500 Erkrankungen und möglicherweise einige To- Antrag zur Bewältigung des Dioxinskandals vorgelegt.
desfälle. Dieses Syndrom gefährdet die Menschen und Zur Vorsorge und Vermeidung ähnlich gelagerter Fälle
kann langfristige Gesundheitsschäden zur Folge haben. müssen wir die richtigen Lehren aus dieser böswilligen
Panscherei ziehen. Es gilt, die Ursachen zu bekämpfen,
Als Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und statt an den Symptomen herumzudoktern.
Verbraucherschutz müssen wir uns davon freimachen,
jeglichen sogenannten Skandalen hinterherzulaufen. (Beifall bei der LINKEN)
Stattdessen müssen wir die Menschen vor den realen Herr Kollege Gehring, die Eigenkontrolle hat sich be-
Gefahren schützen. Reale Gefahren im Lebensmittelbe- währt. Ich frage Sie nur, wie? Ein anderer Betrieb hat da-
reich, liebe Kolleginnen von der SPD-Fraktion, sind ins- rauf aufmerksam gemacht, dass etwas falsch läuft. Das
besondere Hygienemängel sowie Belastungen von Le- hat nicht die Eigenkontrolle bewirkt. Die Eigenkontrol-
bensmitteln mit Bakterien. Gegen diese Gefahren hilft len müssen klaren Regelungen unterworfen werden. Vor
nur das Einhalten von Hygienevorschriften. Die Lebens- allem müssen die Daten gemeldet werden, damit sofort
mittelhygiene gilt für den Bereich der Produktion, be- reagiert werden kann. Wir brauchen die Verpflichtung
trifft aber auch jeden einzelnen Haushalt. der Labore.
(B) (D)
Ich bitte Sie herzlich: Schützen Sie die Menschen vor (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Machen
den realen Gefahren und diskutieren Sie nicht die ver- wir doch! – Franz-Josef Holzenkamp [CDU/
meintlichen Gefahren. Das nimmt den Menschen Le- CSU]: Haben wir doch alles erledigt!)
bensqualität und Vertrauen. An dieser Stelle will ich
ganz deutlich die Vorwürfe vonseiten der SPD und der Es braucht eine verbindliche Verpflichtung. Es braucht
CDU/CSU gegenüber dem Robert-Koch-Institut zurück- dazu auch ein Register und eine Akkreditierung dieser
weisen. Wir brauchen Fachbehörden, die fachlich arbei- Labore.
ten und ihr fachliches Wissen der Öffentlichkeit mittei- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Haben
len. Das hat das Robert-Koch-Institut zu Recht getan. Sie den Gesetzentwurf gelesen?)
Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit, wenn Sie
weiterhin Lebensmittel aus deutscher Produktion genie- Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Betriebe aus
ßen; denn sie sind ausgesprochen gut. dem Staub machen, indem sie ausländische Labore be-
auftragen, die unseren Gesetzen nicht unterworfen sind.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein, das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben wir doch verhindert!)
– Das steht nicht in Ihrem Gesetzentwurf.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Christel
Linke. Happach-Kasan [FDP]: Doch!)

(Beifall bei der LINKEN) Ich will auf drei Punkte näher eingehen.
Erstens. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die
Karin Binder (DIE LINKE): unter der Koalition von SPD und Grünen eingeleitete
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Reduzierung staatlicher Kontrollen und der vermeintli-
Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit unserer Le- che Ersatz durch Eigenkontrollen der Betriebe nach de-
bensmittel ist keine Geheimsache. Mögliche Schadstoff- ren Regeln funktioniert nicht. Dieses Experiment hat das
belastungen sind keine Betriebsgeheimnisse. Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gekos-
tet. Die Linke möchte deshalb eine betriebliche Zertifi-
(Beifall bei der LINKEN) zierung nach strengen gesetzlichen Vorgaben. Diese
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12749
Karin Binder
(A) müssen für die gesamte Erzeugungskette, vom Stall bis desländern und Ministerin Aigner vereinbart wurde. (C)
zur Ladentheke, gelten. Drei Punkte wollen Sie jetzt, nach vier Monaten, endlich
umsetzen. Viele andere Punkte, darunter so zentrale
(Beifall bei der LINKEN)
Ziele wie die verbindliche staatliche Positivliste für Fut-
Die daraus entstehenden Kosten sind auf die beteiligten termittel, die Transparenz für Verbraucher und die Pro-
Branchen umzulegen. dukthaftung, werden weiterhin nicht umgesetzt.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Und dann auf Zur Positivliste für Futtermittel erklärte Frau Aigner
die Verbraucher!) gestern, man sehe in Deutschland die etablierte Positiv-
liste der Wirtschaft als sinnvolles und vertrauensbilden-
Zweitens: Meldepflichten für die Labore ohne Hinter- des Instrument an und setze sich ansonsten für eine EU-
türchen. Im Gesetzentwurf der Regierung wird eine Mel- weite Liste ein. Da Frau Aigner mit der Positivliste, wie
depflicht für die Überschreitung von Grenzwerten oder wir alle wissen, in Brüssel gescheitert ist, bedeutet das
unerlaubten Zusatzstoffen auf die privaten Labore be- doch, dass es keine verbindliche Positivliste geben wird,
schränkt. Wir möchten eine Ausweitung der Melde- stattdessen die unverbindliche und ungenügende Liste
pflicht auch auf private Zertifizierungssysteme, zum der Wirtschaft. Damit sind Sie an diesem entscheidenden
Beispiel auf QS, das Prüfsystem Qualitätssicherung. Punkt gescheitert.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Transparenz für Verbraucher verschieben Sie auf
Register und Ähnliches habe ich schon angesprochen. die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, die Sie
schon zigmal verschoben haben, weil Sie sich in der Ko-
Aber auch die Frage, wie die Unternehmen und La- alition nicht einigen. Würden Sie es mit der Information
bore überwacht werden sollen, wurde uns bisher nicht der Verbraucher ernst meinen, müssten Sie heute unse-
beantwortet. Die Kontrollbehörden der Länder sind rem Änderungsantrag zustimmen.
schon heute überfordert. Einige Bundesländer befinden
sich bereits in einer Haushaltsnotlage und werden weiter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu Einsparungsmaßnahmen gezwungen. In einem inter- Durch die Schaffung eines neuen § 40 Abs. 1 a im Le-
nationalen Futtermittelmarkt und einer globalisierten Le- bensmittel- und Futtermittelgesetzbuch schlagen wir
bensmittelindustrie ist deshalb eine finanzielle Beteili- Grünen eine gesetzliche Grundlage vor, um nachgewie-
gung des Bundes an diesen zusätzlichen Aufgaben der sene Rechtsverstöße unter Nennung des Namens des je-
Länder unerlässlich. weiligen Unternehmens veröffentlichen zu können.
Drittens. Wissen ist Verbrauchermacht. Die wich- (Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/
(B) tigste Frage bleibt: Wie erfahren Verbraucherinnen und DIE GRÜNEN]) (D)
Verbraucher von Schadstoffbelastungen bei Lebensmit-
teln? Die richtige Antwort könnte das Verbraucherinfor- Das ist genau das, was Sie von der Koalition gestern im
mationsgesetz liefern. Hier sollte eine Pflicht zur Veröf- Ausschuss für den Gastronomiebereich vorgeschlagen
fentlichung durch die verursachenden Unternehmen, haben.
aber auch eine aktive Informationspflicht der damit be-
fassten Behörden verankert werden. Nur dann können (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ja! Aber da ging
wir wirklich von Verbraucherschutz reden. Aber nach al- es doch um etwas ganz anderes!)
len bisherigen Anzeichen ist leider zu vermuten, dass Meine Damen und Herren, was gilt bei Ihnen mehr:
Frau Aigner ihrem Ruf treu bleibt und über Ankündigun- das Wort der Ministerin, die am 19. Januar dieses Jahres
gen nicht hinausgeht. an diesem Pult sagte: „Wir sind zu Transparenz ver-
Wir sagen nach wie vor: Den Behörden gemeldete pflichtet“, oder das Wort von Frau Happach-Kasan von
Daten und Ergebnisse der Laboruntersuchungen der Be- der FDP, die gestern im Agrarausschuss sagte: „Wir ma-
triebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige chen nichts, was nicht im Interesse der Unternehmen
Verbraucherinformationen. Das muss Bestandteil des ist“?
Verbraucherinformationsgesetzes werden. Nur so wird (Widerspruch bei der FDP – Dr. Christel
Verbraucherschutz verbessert. Happach-Kasan [FDP]: Quatsch! Das habe ich
Ich danke für ihre Aufmerksamkeit. doch gar nicht gesagt! – Dr. Erik Schweickert
[FDP]: Was? Den Nachweis will ich sehen!)
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Problem ist: Sie machen keine Politik für die Ver-
braucher und keine Politik für die Bäuerinnen und die
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bauern, sondern nur Politik für die Industrie.
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen. Ich möchte aus AGRA-EUROPE vom 9. Mai dieses
Jahres zitieren:
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes …,
NEN): Manfred Nüssel, baut bei den Neuerungen im Fut-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Punkte termittelrecht nach der überstandenen Dioxin-Krise
umfasst der Dioxinaktionsplan, der nach dem Dio- auf den Einfluss führender Agrarpolitiker der CDU.
xinskandal im Januar dieses Jahres zwischen den Bun- Vor Agrarjournalisten in Berlin nannte Nüssel dabei
12750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Friedrich Ostendorff
(A) vergangene Woche konkret den agrarpolitischen chen Betriebe auch im Interesse einer Politik, die sich (C)
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Franz- für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch-
Josef Holzenkamp, land einsetzt, sein muss?
(Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!) Ich dachte, wir wären uns in diesen Punkten einig. Ich
bin etwas enttäuscht, Herr Kollege Ostendorff, dass Sie
den Abgeordneten Johannes Röring sowie den als Landwirt nicht das Interesse der Landwirte, die or-
Staatssekretär … Peter Bleser. dentlich arbeiten, im Fokus haben, sondern stattdessen
(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Skandalisierung betreiben, wie es auch die Medien
NEN]: Hört! Hört!) getan haben. Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass
eine Menge landwirtschaftlicher Betriebe durch die Vor-
Nicht zuletzt bei ihnen hofft er auf ein offenes Ohr fälle in Schleswig-Holstein in ihrer Existenz gefährdet
für die Belange der Branche. worden sind.
Natürlich, Herr Nüssel, haben diese Herren ein offenes (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ohr für die Branche. Schließlich sind sie in vielfältiger
und einzigartiger Weise Teil dieser Branche.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Das Problem von Frau Aigner ist, dass sie von Agrar- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nun darf ich das Wort
funktionären eingekesselt ist, die jeden positiven Ansatz zur Gegenrede erteilen. Bitte schön, Herr Kollege.
blockieren, egal ob beim Verbot der Käfighaltung von
Hühnern, beim Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden, Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei der Kampagne „Wahrheit und Klarheit“, bei der NEN):
Charta für Landwirtschaft oder beim Dioxin-Aktions- Es ist für Mitglieder kleiner Fraktionen, denen nur
plan. Jegliche Initiative der Ministerin wird von den ei- eine kurze Redezeit zur Verfügung steht, immer wieder
genen Leuten geblockt, boykottiert oder verwässert. erfreulich, auf diesem Wege die Gelegenheit zu bekom-
Meine Damen und Herren von der Koalition, solange men, eine zweite Rede zu halten.
bei Ihnen Funktionäre der Agrarindustrie das Sagen ha- (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ach! Was soll
ben, denn das jetzt?)
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Was? Wer ist Frau Happach-Kasan, wenn Sie mir bei den vielfälti-
denn hier der Funktionär?) gen Gelegenheiten, bei denen wir über dieses Thema
werden Sie keinen einzigen Lebensmittelskandal aufklä- diskutiert haben, zugehört hätten, dann hätten Sie gehört,
(B) ren, nichts zur Abschaffung der Massentierhaltung zu- dass ich in jeder Rede, die ich halte, deutlich mache (D)
stande bringen, keinen einzigen Missstand in der Land- – das habe ich auch heute getan –, dass ich in genau den
wirtschaft beheben und weiterhin Agrarpolitik für die Punkten, die Sie angesprochen haben, anderer Meinung
Agrarindustrie und nicht für die Bäuerinnen und Bauern bin als Sie.
machen. Ich sage: Hier ging es um einen Betrieb in Schleswig-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Holstein, der Futterfette herstellt und kriminell gehan-
und bei der SPD) delt hat. Dieser Betrieb hatte sehr große Futtermühlen
als Abnehmer. Mir als praktizierendem Landwirt ist
nicht bekannt, dass kleine Bauern besonders viel Misch-
Vizepräsident Eduard Oswald:
futter kaufen. Meine These ist, dass kleinbäuerliche Be-
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat unsere Kolle- triebe ihr Getreide in der Regel selbst mahlen und nicht
gin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzinterven- Kunden von Futtermittelmischwerken sind und nicht in
tion das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin. großem Stile Futtermittel aus Futtermittelmischwerken
beziehen. Ihre Logik erschließt sich mir nicht. Ich
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): glaube, hier müssen Sie genauer zuhören. Ich bin an die-
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit zu ei- sem Punkt immer sehr entschieden und klar. Ich sage: In
ner Kurzintervention. der Realität ist es genau umgekehrt.
Lieber Kollege Ostendorff, ist es nicht so, dass wir Die Verbraucher waren nicht gefährdet. Nein, es ist
gemeinsam festgestellt haben, dass die Verbraucherin- zum Glück niemand akut erkrankt. Das behauptet auch
nen und Verbraucher beim diesjährigen Dioxinvorfall niemand. Es ist mir nicht bekannt, dass es irgendeine
nicht gefährdet waren? Ist es nicht auch so, dass wir ge- wissenschaftliche Quelle gibt, die besagt: Wenn du dei-
meinsam festgestellt haben, dass bäuerliche Betriebe, die nem Körper Dioxin zuführst, dann wirst du akut krank,
das Futter selbst mischen, die also Getreide produzieren wie das jetzt beim EHEC-Bakterium der Fall ist, wenn
und Futterfette einmischen, um eine gesunde Ernährung es das HUS auslöst. Mein Wissensstand ist bisher – Frau
der Tiere zu gewährleisten, durch diesen Vorfall beson- Happach-Kasan, Sie sind Wissenschaftlerin; ich bin
ders geschädigt worden sind? Sind wir uns nicht einig, Praktiker und habe nie studiert –, dass Dioxin im Fettge-
dass es wichtig ist, die gut und sorgfältig arbeitenden webe angereichert wird. Wenn Sie anderer Meinung
landwirtschaftlichen Betriebe im Lande vor kriminellem sind, dann wäre es interessant, nach dieser Sitzung zu er-
Handeln zu schützen? Ist es nicht richtig, dass der fahren, welche Erkenntnisse Sie diesbezüglich gewon-
Schutz genau dieser mittelständischen landwirtschaftli- nen haben. Mein Erkenntnisstand ist: Es wird im Fettge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12751
Friedrich Ostendorff
(A) webe angereichert, und natürlich ist irgendwann eine Kerstin Tack [SPD]: Sag mal deine Erkennt- (C)
Schwelle erreicht, ab der der Mensch akut gefährdet ist. nisse!)
Wir wollen hier aber nicht skandalisierend reden, wie
Im Januar dieses Jahres mussten wir alle im Rahmen
Sie das tun.
der Dioxinkrise miterleben, dass das Fehlverhalten eines
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Sie reden nicht Einzelnen bundesweit große Verunsicherung und große
skandalisierend?) Schäden ausgelöst hat. Die Verbraucherinnen und Ver-
braucher waren in höchstem Maße verunsichert und
Ich glaube, das müssen wir sehr seriös abarbeiten. Es wussten nicht, welche Lebensmittel am Ende noch si-
gilt, diese Einträge von Umweltgiften zu minimieren. cher waren. Die Produzenten dieser Lebensmittel, die
Ich glaube, die Gesellschaft ist in der Vergangenheit Landwirte, standen völlig unverschuldet am Pranger.
vielleicht etwas leichtfertig mit Stoffen wie Dioxin um- Viele Teilnehmer der Produktionskette waren von den
gegangen. Ich denke, dass wir allen Bauern und Bäuerin- Folgewirkungen betroffen.
nen, deren Betriebe ohne ihr eigenes Verschulden ge- Auch wenn das Thema Dioxin mittlerweile weitestge-
sperrt wurden und die ihre Produkte am Markt nicht hend aus der medialen Berichterstattung verschwunden
absetzen konnten, natürlich allen Schutz geben müssen; ist, haben sowohl die direkt als auch die indirekt betrof-
denn sie brauchen unser aller Solidarität. Das ist völlig fenen Landwirte die finanziellen Folgen der Krise hart
unbestritten. gespürt. Nach einer aktuellen Analyse der Dow Jones
(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ja, dann News sind die marktbedingten Preisrückgänge durch
geben Sie sie ihnen doch!) diese Krise auf etwa 100 Millionen Euro zu beziffern.
Damit wir eine ähnliche Situation nicht wieder erleben
Das müssen wir endlich anpacken. müssen, haben wir schnell gehandelt.
Wir hätten erwartet, dass es Vorschläge dafür gibt, (Iris Gleicke [SPD]: Schnell?)
wie solchen Betrieben, die ohne Not in eine wirtschaftli-
che Existenzgefährdung geraten sind und geächtet wer- An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal ein kla-
den, weil sie gesperrt sind – das bleibt ja nicht verborgen –, res Wort zur Medienberichterstattung, aber auch zum
in Zukunft wirksam geholfen werden kann, sodass sie, Verhalten der Opposition sagen. Wie hier in teils unver-
wenn sie Futtermittel am Markt beziehen, sicher sein antwortlicher Weise Ängste geschürt wurden, war mehr
können, dass diese Futtermittel sauber sind und die als unanständig und nicht angebracht.
Branche das Ihrige tut, um die Haftung zu übernehmen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
falls es bei diesen Futtermitteln zu Auffälligkeiten
Es wurde pauschalisiert und verleumdet und sogar die
(B) kommt. (D)
Landwirtschaft selbst angegriffen. Man hat versucht, aus
Die Branche, die Sie mit Ihren Vorschlägen fördern Opfern Täter zu machen. Das war ein starker Schlag in
wollen, macht sich einen schlanken Fuß und übernimmt das Gesicht unserer Bäuerinnen und Bauern,
eben keine Verantwortung. Die betroffenen Bäuerinnen
und Bauern sind völlig alleine mit ihren Nöten, mit ihren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sorgen und auch mit dem wirtschaftlichen Misserfolg, die sich tagtäglich – das möchte ich an dieser Stelle beto-
der damit natürlich einhergeht. nen – mit großer Verantwortung um ihre Tiere kümmern.
Dieses Verhalten möchte ich deutlich verurteilen. Die
Vizepräsident Eduard Oswald: Zahl der anwesenden Agrarpolitiker der Opposition
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Ostendorff. – zeigt, wie wichtig Sie unsere Bäuerinnen und Bauern
Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan, Sie haben das Ange- nehmen: Ihre Reihen sind sehr schwach besetzt.
bot zum persönlichen Gespräch gehört. Da wir bis kurz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
vor Mitternacht fertig werden, besteht sicher noch die
Gelegenheit dazu, bevor wir für morgen zur nächsten Die Fakten zeigen, dass die Behörden der Länder, der
Sitzung einladen. Bund, aber auch die EU schnell und gut zusammengear-
beitet haben und das durch die Wirtschaft aufgebaute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) System der Transparenz und Rückverfolgbarkeit gegrif-
Als Nächster hat der Kollege Johannes Röring für die fen hat. Sie haben den Futtermittelskandal aufgedeckt.
Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kol- Viele Betriebe haben schon vorher Eigenkontrollen
lege. durchgeführt und machen dies auch heute noch. Der Ur-
sprung und vor allen Dingen die Wege der Futtermittel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind sehr schnell aufgedeckt worden.

Johannes Röring (CDU/CSU): Im Gegensatz zur Opposition haben wir nicht Effekt-
hascherei und Populismus betrieben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade festge- (Kerstin Tack [SPD]: Schon mal ein bisschen
stellt, dass die Verdopplung der Redezeit noch längst Niveau hineinbringen!)
nicht zur Verdopplung der Erkenntnisse führt.
Wir haben direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris handelt. Im Zentrum des Aktionsplans steht nämlich,
Gleicke [SPD]: Da sind wir ja gespannt! – dass wir die Sicherheitsstandards der Futtermittelkette
12752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Johannes Röring
(A) weiter erhöhen und die Melde- und Kontrollpflichten ten Laboratorien ist vorgeschrieben. Die Eigenkontrolle (C)
verschärfen wollen. Wir wollen also – das betone ich wird verstärkt berücksichtigt. Ein Punkt, der meines Er-
ausdrücklich – das bestehende System verbessern und achtens andiskutiert, aber noch nicht umgesetzt worden
weiterentwickeln. ist, ist die Versicherungspflicht für Futtermittelunterneh-
mer zum Schutz aller Partner in der Kette. Hinsichtlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der neuen Vorgaben zur Eigenkontrolle möchte ich gerne
Mit der heute zu beschließenden Änderung des Le- auf die öffentliche Anhörung Bezug nehmen, die wir zu
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden wir diesem Thema durchgeführt haben. Dort haben uns viele
nur wenige Monate nach der Entwicklung des Aktions- Experten bestätigt, dass bereits heute ein hohes Maß an
plans erste Teile gesetzgeberisch umsetzen. Wir wollen verantwortungsbewusster Eigenkontrolle durch die Un-
eine zuverlässige Kontrolle aller Glieder der Lebensmit- ternehmen vorhanden ist. Wir fügen deshalb der Kon-
telproduktionskette. Sowohl die Verbraucher als auch trollkette nur eine sinnvolle Informationspflicht hinzu,
insbesondere die Beteiligten der Wertschöpfungskette die bedeutet, dass alle Lebensmittel- und Futtermittel-
inklusive der Bäuerinnen und Bauern brauchen auf allen hersteller Ergebnisse von Eigenkontrollen zu Dioxinen
Ebenen Sicherheit hinsichtlich Qualität und Herkunft der den zuständigen Behörden mitteilen müssen. Weitere,
Produkte. darüber hinausgehende Mitteilungsverpflichtungen der
Unternehmen lehnen wir deutlich ab, da wir Vorverur-
Vizepräsident Eduard Oswald: teilungen verhindern wollen, um nicht unnötigerweise
Herr Kollege Röring, wir haben die Chance zu einer Unternehmensexistenzen und – damit einhergehend –
Zwischenfrage von der linken Seite, den Sozialdemokra- Arbeitsplätze zu gefährden.
ten. Würden Sie sie zulassen? Sie müssen das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Johannes Röring (CDU/CSU):
Wer das noch nicht richtig verinnerlicht und verstan-
Gerne, Kollege Priesmeier. den hat, der muss sich nur die Ereignisse dieser Tage an-
schauen. Wer gestern Abend und heute Morgen die Mel-
Vizepräsident Eduard Oswald: dungen zu der Frage, woher das gefährliche Bakterium
Bitte schön. kommt, verfolgt hat, der hat mitbekommen, was ver-
frühte Meldungen und Vorverurteilungen bewirken kön-
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): nen. Das hat Konsequenzen für den Handel. Unschul-
Herr Kollege Röring, stimmen Sie mir zu, dass durch dige Gemüseerzeuger aus Norddeutschland haben
erhebliche Probleme und beklagen Millionenschäden an (D)
(B) das Verhalten des damaligen niedersächsischen Staatsse-
kretärs anlässlich des Besuches der Ministerin in Olden- einem Tag. Heute war zu hören, dass die Behörden nach
burg und den Erkenntnisstand, den er zu dem damaligen intensiven Bemühungen aufgedeckt haben, woher die
Zeitpunkt hatte, die Krise, die Sie in wesentlichen Teilen Gefahr kommt. Es waren am Ende – ich glaube, ich sage
der Opposition anlasten, in besonderer Weise befördert damit nicht zu viel – grüne Gurken.
worden ist? Wenn Sie mir nicht zustimmen, dann bitte (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
ich Sie, das zu begründen. – Vielen Dank. der FDP – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sehr
komisch!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahegetreten bin. Ich
Das war die Zwischenfrage unseres Kollegen
möchte das nur als Beispiel nennen, um deutlich zu ma-
Priesmeier. – Bitte schön, Herr Kollege Röring.
chen, wie schnell Vorverurteilungen ganze Produktions-
zweige in Gefahr bringen können.
Johannes Röring (CDU/CSU):
Lieber Kollege Wilhelm Priesmeier, ich stimme die- (Beifall bei der CDU/CSU)
ser Erkenntnis nicht zu; denn wir haben – das habe ich Ich sage noch einmal: Die Lebensmittel in Deutsch-
eben deutlich gemacht – gerade durch die Eigenkontrol- land waren noch niemals von so hoher Qualität und so
len im System sehr schnell die Herkunft dieser Futter- sicher wie in der heutigen Zeit. Wir wollen, dass das
chargen nachvollzogen und erkannt. Das wäre vor eini- auch in Zukunft so bleibt. Der deutschen Agrar- und Er-
gen Jahren noch nicht möglich gewesen. nährungswirtschaft soll man vertrauen können. Qualität
Dass es in einem System, wie wir es kennen, zu kri- und Sicherheit sind Markenzeichen dieser Branche. Ich
minellem Handeln kommt, werden wir auch durch die denke, dass durch die nun zu beschließenden gesetz-
schärfsten gesetzlichen Maßnahmen letzten Endes nie lichen Vorgaben dies weiter zu verdeutlichen ist. Wir als
unterbinden können. Deswegen sind wir dabei, es pra- Regierungskoalition haben gezeigt, was schnelles und
xisgerecht und vernünftig weiterzuentwickeln. sachorientiertes Handeln bedeutet
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Lachen bei der SPD)
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie ha- und dass wir erfolgreiche Politik machen können.
ben es zu spät gemerkt!)
Vielen Dank.
Die Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelge-
setzbuchs wird nun konkret. Die Meldepflicht der priva- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12753

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist (C)
Vielen Dank, Kollege Johannes Röring. angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 a: Wir kommen zur Abstim- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d auf:
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Le- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
bensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Vorschriften. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt- Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
schaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a Fraktion DIE LINKE
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 Versorgung der privat Versicherten im Basis-
(neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf tarif sicherstellen
Drucksachen 17/4984 und 17/5392 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der – Drucksache 17/5524 –
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5958 Überweisungsvorschlag:
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für die- Ausschuss für Gesundheit
sen Änderungsantrag? – Das sind die Fraktion Bünd- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer richts des Ausschusses für Gesundheit
stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-
Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Änderungs- ten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja
antrag ist damit abgelehnt. Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in DIE LINKE
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-
zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-
Selbstständige bezahlbar gestalten
zialdemokraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-
haltungen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die – Drucksachen 17/777, 17/5566 –
Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen. Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Lanfermann
Dritte Beratung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus-
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei- (D)
(B)
wurf ist angenommen. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Private Kranken- und Pflegeversicherung –
ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
17/5959. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – dürftige
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koali- – Drucksachen 17/780, 17/5630 –
tionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Berichterstattung:
nen. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag
Abgeordnete Karin Maag
ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 13 b: Wir kommen zur Abstim- d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses neten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
„Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen – Ursachen be- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf-
kämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b fung der Benachteiligung von privat versicher-
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 ten Bezieherinnen und Beziehern von
(neu), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- Arbeitslosengeld II
che 17/5377 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- – Drucksache 17/548 –
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion ses für Gesundheit (14. Ausschuss)
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist – Drucksache 17/5629 –
angenommen.
Berichterstattung:
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach
Drucksache 17/5953 (neu) empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen- Ich sehe keinen Widerspruch. Ich verzichte auf die Ver-
probe! – Keine. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die lesung der einzelnen Namen; die Namen liegen uns vor,
12754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) und die entsprechenden Reden sind beim Protokoll ein- Jens Petermann (C)
gegangen1). Ingrid Hönlinger
Tagesordnungspunkt 14 a: Es wird interfraktionell Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, wer-
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5524 an den die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. – Alle Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor.
sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so
beschlossen. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Tagesordnungspunkt 14 b: Der Ausschuss für Ge- Wir beraten und beschließen heute in zweiter und
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussfassung auf dritter Lesung das Dritte Gesetz zur Änderung des Um-
Drucksache 17/5566, den Antrag der Fraktion Die Linke wandlungsgesetzes. Es dient der Umsetzung der Richtli-
auf Drucksache 17/777 mit dem Titel „Gesetzliche nie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des
Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar Rates, die Änderungen bereits bestehender Richtlinien
gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- (Richtlinie 77/91/EWG, 78/855/EWG, 82/891/EWG und
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und 2005/56/EG) hinsichtlich der Berichts- und Dokumenta-
die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! – tionspflichten bei Verschmelzungen und Spaltungen von
Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die Gesellschaften vorsieht.
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Die heute zu beschließenden Änderungen des Um-
Tagesordnungspunkt 14 c: Der Ausschuss für Ge- wandlungsrechts stellen einen weiteren wichtigen Bau-
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf stein im Rahmen der kontinuierlichen Fortentwicklung
Drucksache 17/5630, den Antrag der Fraktion Die Linke des Unternehmensrechts in Deutschland dar. Der vorlie-
auf Drucksache 17/780 mit dem Titel „Private Kranken- gende Gesetzentwurf, an dem im Rahmen des parlamen-
und Pflegeversicherung – Existenzminimum zukünftig tarischen Beratungsverfahrens mehrere wichtige Ände-
auch für Hilfebedürftige“ abzulehnen. Wer stimmt für rungen vorgenommen wurden, leistet einen Beitrag zur
diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions- weiteren Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutsch-
fraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! – land. Denn Unternehmen werden bei Umwandlungen
Die Linksfraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bünd- künftig von Einsparungen profitieren und mit einem ge-
nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange- ringeren Verwaltungsaufwand konfrontiert als bisher. So
nommen. können künftig etwa die Prüfung der Sacheinlagen und
des Verschmelzungsvertrags durch denselben Sachver-
Tagesordnungspunkt 14 d: Der Ausschuss für Ge- ständigen vorgenommen werden. Eine Zwischenbilanz
sundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf wird künftig dann entbehrlich sein, wenn alle Anteils- (D)
(B)
Drucksache 17/5629, den Entwurf eines Gesetzes zur inhaber sämtlicher beteiligter Rechtsträger durch nota-
Abschaffung der Benachteiligung von privat versicher- riell beurkundete Erklärung darauf verzichten oder ein
ten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosen- Halbjahresfinanzbericht gemäß § 37 w des Wertpapier-
geld II der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- handelsgesetzes veröffentlicht wurde.
sache 17/548 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Daneben können Aktionären mit ihrer Einwilligung
Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Unterlagen in Zukunft auf dem Wege elektronischer
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Kommunikation übermittelt werden. Auf eine Versen-
Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – dung in Papierform kann verzichtet werden. Konzern-
Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist in der zweiten verschmelzungen werden dadurch vereinfacht, dass bei
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- Konzernverschmelzungen auf eine Aktiengesellschaft
schäftsordnung eine weitere Beratung. bei 100-prozentiger Beteiligung die Notwendigkeit eines
Verschmelzungsbeschlusses nicht wie bisher nur hin-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
sichtlich der Beschlussfassung bei der übernehmenden
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Aktiengesellschaft, sondern auch bei der übertragenden
gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Kapitalgesellschaft entfällt, wenn der übernehmenden
Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsge- Aktiengesellschaft sämtliche Anteile der übertragenden
setzes Aktiengesellschaft gehören. Den berechtigten Interessen
an einer Unterrichtung des Betriebsrats über geplante
– Drucksache 17/3122 – Konzernverschmelzungen wird dabei durch eine vom
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Rechtsausschuss angeregte gesetzliche Klarstellung
schusses (6. Ausschuss) Rechnung getragen.
– Drucksache 17/5930 – Ein wichtiges Element des vorliegenden Änderungs-
gesetzes zum Umwandlungsrecht ist die Einführung des
Berichterstattung: verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out. Gehören der
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth übernehmenden Gesellschaft mindestens 90 Prozent des
Burkhard Lischka Grundkapitals einer übertragenden Aktiengesellschaft,
Marco Buschmann kann die Hauptversammlung der übertragenden Aktien-
gesellschaft einen Squeeze-out-Beschluss fassen. Wäh-
1) Anlage 3 rend der allgemeine aktienrechtliche Squeeze-out eine
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Dr. Stephan Harbarth
(A) mindestens 95-prozentige Beteiligung voraussetzt, ist Trotzdem: Einen intensiven Blick ist er wert. Die Re- (C)
der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out – wie von der gelungen für die Spaltung und Verschmelzung von Un-
Richtlinie vorgesehen – bereits ab einer 90-prozentigen ternehmen werden stark verändert. Das hat große Aus-
Beteiligung möglich. Zu Recht war darauf hingewiesen wirkungen auf Konzernverschmelzungen und alle davon
worden, dass der vorgelegte Regierungsentwurf die Betroffenen: die Entscheiderinnen und Entscheider in
Möglichkeit eröffnet hätte, bei nur 90-prozentiger Betei- den beteiligten Unternehmen, die Aktionärinnen und Ak-
ligung zunächst in Ausübung der neu geschaffenen ge- tionäre und nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mit-
setzlichen Regelung einen verschmelzungsrechtlichen arbeiter, die Kundinnen und Kunden. Es sollte darum
Squeeze-out durchführen zu können, ohne sodann auch nicht nur ein Spezialthema für ein paar Unternehmens-
die Verschmelzung durchzuführen. Dieser Umgehungs- juristen sein. Wenn Politik zum Ziel hat, die Chancen für
möglichkeit ist aus Gründen der inhaltlichen Konsistenz mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu erhöhen,
der Rechtsordnung nunmehr durch vom Rechtsaus- indem die Investitionsfähigkeit und Innovationskraft der
schuss beschlossene Änderungen ein Riegel vorgescho- privaten Wirtschaft gestärkt werden, dann ist ein moder-
ben worden. Wenngleich mit den vorliegenden umwand- nes, praktikables Umwandlungsrecht ein Baustein dazu.
lungsrechtlichen Änderungen die von der Richtlinie Und das Umwandlungsrecht wird mit dieser Novelle in
eröffneten Möglichkeiten an allen Stellen in rechtspoli- der Tat von ein paar bürokratischen Hürden entschlackt.
tisch überzeugender Weise umgesetzt wurden, besteht im Die Konzernumwandlung wird entlang den EU-Vorga-
Umwandlungsrecht weiterer Handlungsbedarf, der im ben straffer und kosteneffizienter. Unnötige Berichts-
Rahmen der hier anstehenden Richtlinienumsetzung the- und Informationspflichten werden gestrichen, Kosten-
matisch nicht tangiert war. ersparnisse unter anderem dadurch eröffnet, dass auf
Zwischenbilanzen verzichtet werden kann oder dass im
Als wichtige rechtspolitische Herausforderungen des
Falle einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft die-
Umwandlungsrechts, die im vorliegenden Gesetzentwurf
selben Sachverständigen mit der Prüfung sowohl der
nicht behandelt werden, seien exemplarisch nur drei ge-
Sacheinlagen als auch des Verschmelzungsvertrages be-
nannt:
auftragt werden können. Alles gut also?
Erstens besteht weiterhin eine rechtspolitisch kaum
zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Aktionäre Bessere, stringentere Lösungen, bei denen die Wirt-
des übertragenden und des übernehmenden Rechtsträ- schaft auch noch bares Geld spart, begrüße ich. Verein-
gers bei der Rüge des Umtauschverhältnisses im Rah- fachung darf aber nicht so weit gehen, dass als „Neben-
men von Verschmelzungen. wirkung“ die Rechte wichtiger Gruppen unter den Tisch
zu fallen drohen, wie es mit der Unterrichtung der
Zweitens sind etwaige Ausgleichsleistungen an Aktio- Betriebsräte fast passiert wäre. Im Gesetzentwurf der
(B) näre, die durch das Umtauschverhältnis übervorteilt Bundesregierung sollte geregelt werden, dass ein Ver- (D)
werden, nach derzeitiger Rechtslage nur in Form von schmelzungsbeschluss des Anteilsinhabers der übertra-
Geldleistungen, nicht jedoch in Form von Anteilsgewäh- genen Kapitalgesellschaft dann nicht erforderlich ist,
rungen möglich. Die letztere Option wäre aber deshalb wenn sich das gesamte Stammgrundkapital einer über-
sinnvoll, weil sie Liquiditätsdruck von Unternehmen tragenen Kapitalgesellschaft in der Hand einer über-
nähme, die an Umwandlungsvorgängen beteiligt sind. nehmenden Aktiengesellschaft befindet. Damit war
Drittens wird man kritisch zu hinterfragen haben, ob quasi der Anknüpfungspunkt für die Betriebsratszulei-
die Notwendigkeit einer aufwendigen Hauptversamm- tung „weggespart“. Der Zeitpunkt, wann die Betriebs-
lung in allen Fällen der Ausgliederung wirklich sachge- räte zu unterrichten sind, hätte sich nicht mehr exakt be-
recht ist. stimmen lassen. Darauf hatte der DGB hingewiesen. Wir
Sozialdemokraten haben diesen Punkt aufgenommen,
Diese Fragen in den kommenden Monaten aufzugrei- ihn auch bei der Expertenanhörung in den Fokus ge-
fen, stünde dem Gesetzgeber nach unserer Überzeugung rückt und eine Klarstellung erreichen können. Dieses
gut zu Gesicht. Wir freuen uns auch insoweit auf ähnlich Versäumnis des Gesetzgebers ist also dank sozialdemo-
konstruktive Beratungen, wie wir sie bei den Erörterun- kratischen Engagements erfolgreich eingefangen
gen im Hinblick auf das heute zu verabschiedende Dritte worden. Gerade wenn Verfahren einfacher und über-
Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes erleben sichtlicher werden sollen, ist es extrem wichtig, die Un-
durften. terrichtungspflichten der Vertretungsorgane sorgsam
auszutarieren. Da dürfen wir uns keinen Lapsus leisten.
Burkhard Lischka (SPD): Denn hier geht um zentrale Transparenzfragen, um das
Wir verabschieden hier einen Gesetzentwurf von im- Miteinander von Unternehmensführung und Mitarbei-
menser Tragweite für das Wirtschaftsleben – und wir tervertretung. Wie wichtig diese Fragen sind, hat uns die
verabschieden ihn vollkommen ohne öffentliche Begleit- Finanz- und Wirtschaftskrise ja wohl wirklich überdeut-
musik. Eigentlich sollte einen das wundern. Genau eine lich vor Augen geführt.
Berichterstattung im „Handelsblatt“ habe ich gefunden,
Beispiel zwei: der Squeeze-out. Der Gesetzentwurf
ansonsten nichts, was rauscht im Blätterwald.
verändert die rechtlichen Anforderungen bei der Ver-
Sicher, der Gesetzentwurf setzt zuallererst europäi- schmelzung und Spaltung unter der Beteiligung von Ak-
sche Vorgaben aus dem Herbst 2009 um – gerade noch tiengesellschaften; insbesondere geht es um die Ver-
fristgerecht übrigens, bis Ende Juni 2011 war Zeit. Und schmelzung von 100-prozentigen Tochtergesellschaften
er ist alles in allem handwerklich solide gemacht. mit der Muttergesellschaft. Die zentrale und für die Pra-

Zu Protokoll gegebene Reden


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Burkhard Lischka
(A) xis bedeutendste Regelung ist der neu gestaltete auf Unternehmen sämtlicher Rechtsformen auszuweiten. (C)
Squeeze-out. Wir verändern die Vorgaben, nach denen Der Regierungsentwurf setzte hier also europäisches
der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak- Recht nicht eins zu eins um, sondern schickte sich an,
tiengesellschaft erzwungen werden kann. Auch hier geht Berichtspflichten anlässlich einer Richtlinienumsetzung
es um Wirkungen und Nebenwirkungen. Mit Blick auf auszuweiten. Wir haben hier auf eine Umsetzung eins zu
die Regelungen zum Squeeze-out muss der Gesetzgeber eins bestanden. Denn die Ausweitung von Berichts-
sicherstellen, dass die neue Regelschwelle von jetzt pflichten steht im Widerspruch zum erklärten Ziel der
90 Prozent nicht dadurch ausgehebelt werden kann, Richtlinie, nämlich Unternehmen von bürokratischen
dass ein Squeeze-out nach § 62 UmwG-E durchgeführt Informationspflichten zu entlasten. Entlastung erreicht
und auf die anschließende Verschmelzung verzichtet man aber nicht durch Ausweitung, sondern nur durch
wird. Das Wirksamwerden des Sqeeze-out an eine Ein- Beseitigung oder Vermeidung von Informationspflich-
tragung der Konzernverschmelzung zu binden, war not- ten.
wendig. Diese Hintertür haben wir im Rechtsausschuss
zugeschlagen. Das war wichtig. So bleibt das Fazit: Der Die wohl wichtigste Änderung erfährt der Regie-
Prozess der Konzernverschmelzungen wird durch einen rungsentwurf auf Initiative der Koalitionsfraktionen
sachgerechten Gesetzentwurf erleichtert. Meine Frak- durch die Stärkung des sachlichen und zeitlichen Zu-
tion wird ihn mittragen. sammenhangs zwischen dem erleichterten Squeeze-out
anlässlich einer Verschmelzung und der dazu erforderli-
chen Verschmelzung selbst. Das war erforderlich, da der
Marco Buschmann (FDP): konzernrechtliche Squeeze-out anlässlich einer Ver-
Bereits im Jahre 2007 hat sich der Europäische Rat schmelzung unter erleichterten Bedingungen erfolgen
darauf verständigt, die Verwaltungslasten für Unterneh- kann als andere Formen des Squeeze-out. Hier war man
men bis zum Jahre 2012 um 25 Prozent zu verringern. sich in der Fachwelt einig, dass sich Missbrauchs- bzw.
Zu diesem Zweck haben die europäischen Institutionen Umgehungsmöglichkeiten für die erhöhten Vorgaben ei-
die Umwandlungsrichtlinie Richtlinie 2009/109/EG auf nes regulären Squeeze-outs ergeben. Für meine Frak-
den Weg gebracht, mit dem Ziel, den Verwaltungs- und tion stand es auch nie zur Debatte, die Voraussetzungen
Kostenaufwand aufgrund von Veröffentlichungs- und für Squeeze-out allgemein abzusenken. Denn es geht
Dokumentationspflichten auf ein Minimum zu beschrän- hier um Eigentumspositionen von Aktionären. Das ist
ken. nicht nur angesichts von Art. 14 GG ein hohes Gut. Da-
Die FDP-Bundestagsfraktion teilt das Ziel, Unter- mit spielt man nicht. Hier haben die Koalitionsfraktio-
nehmen und insbesondere den Mittelstand von überflüs- nen im Zusammenspiel mit den Sachverständigen, die
sigen Bürokratielasten zu befreien. Vor diesem Hinter- wir dazu gehört haben, einen Weg gefunden, um diese
(B) grund begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf in Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten auszu- (D)
der Fassung, den er durch die Änderungsanträge der schließen. So wird der erleichterte Squeeze-out anläss-
Koalitionsfraktionen bekommen soll, als konsequente lich einer Verschmelzung erst mit der Eintragung des
Umsetzung dieser Zielvorgabe. Verschmelzungsbeschlusses wirksam. So kann nicht ein-
fach ein erleichterter Squeeze-out wirksam durchgeführt
Durch den heute zu beratenden Regierungsentwurf werden, ohne nicht auch die Verschmelzung durchzufüh-
für das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungs- ren, um derentwillen man das Privileg erleichterter Vo-
rechts und den Änderungsantrag der Regierungskoali- raussetzungen erhält. Zum anderen erhalten wir aber
tionen soll die Richtlinie 2009/109/EG in nationales die Vorteile des Instruments. Denn es ist dennoch
Recht umgesetzt werden. Schon der Regierungsentwurf möglich, im Zusammenhang mit einer Verschmelzung
vom 7. Juli 2010 hat in verschiedenen Bereichen eine den von der Richtlinie geforderten Squeeze-out bei einer
Erleichterung bedeutet. Zum Beispiel ermöglicht der 90-prozentigen Tochtergesellschaft durchzuführen.
Entwurf die Übermittlung von Dokumenten auf elektro-
nischem Wege. Des Weiteren kann die Prüfung der Sach- Insgesamt ist das Ergebnis ein guter Schritt in die
einlagen und des Verschmelzungsvertrages zukünftig richtige Richtung: die Entlastung der Unternehmen von
durch denselben Sachverständigen erfolgen. Bürokratie und Kosten. Ich werbe hier daher um Ihre
Zustimmung!
Wichtige Änderungen im Umwandlungsrecht ergaben
sich jedoch aus dem erweiterten Berichterstatterge- Richard Pitterle (DIE LINKE):
spräch vom 9. Februar 2011. Für die konstruktive Mit-
arbeit möchte ich mich daher bei den Berichterstattern Die Änderungen des hier vorliegenden Umwand-
aller Fraktionen bedanken und insbesondere bei den an- lungsgesetzes betreffen insbesondere die Veröffentli-
gehörten Sachverständigen für ihre hilfreiche Unterstüt- chungs- und Dokumentationspflichten jedes an der Ver-
zung. Die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern schmelzung oder Spaltung beteiligten Rechtsträgers
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Kollegen sowie die Erleichterung eines Squeeze-out, also den
Lischka und Frau Kollegin Hönlinger, verlief sehr sach- Ausschluss eines Gesellschafters. Wenn wir dem Gesetz
kundig und konstruktiv. zustimmen, dann nicht, weil wir den zugrunde liegenden
Vorgängen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt
Zwei wichtige Ergebnisse möchte ich dabei heraus- sind. Von Markus M. Ronner stammt der Satz: „Das
stellen: Zum einen war im Regierungsentwurf vorgese- Zeitalter der Fusionen hat Unternehmer als bloße Über-
hen, die Unterrichtungspflicht im deutschen Recht nicht nehmer entlarvt. Und mancher hat sich dabei übernom-
nur auf die Aktiengesellschaft zu beschränken, sondern men.“

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12757
Richard Pitterle
(A) Als Finanzpolitiker finde ich die Einschätzung zutref- Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
fend, wonach eine Fusion der Zusammenschluss von Wir beraten heute das Dritte Gesetz zur Änderung des
zwei Unternehmen zum Abbau von Verlusten sei, die sie Umwandlungsgesetzes. Das Umwandlungsgesetz regelt
alleine nie gehabt hätten. Regelmäßig sind diese Vor- die Umwandlung von Rechtsträgern, die ihren Sitz in
gänge mit einem Personalabbau verbunden, wie es der Deutschland haben. Insbesondere geht es dabei um Ver-
jüngste Fall bei der Verschmelzung der Dresdner Bank schmelzungen, Spaltungen, Formenwechsel sowie Ver-
und der Commerzbank gezeigt hat. Der konzernweite mögensübertragungen von gesellschafts-, vereins- oder
Personalabbau betraf hierbei 9 000 Vollzeitstellen, da- genossenschaftsrechtlich organisierten Rechtsträgern.
von rund 6 500 in Deutschland. Daher ist für uns ent- In dem Dritten Gesetz zur Änderung des Umwandlungs-
scheidend, dass mit der vorliegenden Gesetzesänderung gesetzes führen wir EU-rechtliche Vorgaben in das deut-
keine Verschlechterung der Rechte der Arbeitnehmerin- sche Recht ein. Wir Grünen haben uns an diesem Ge-
nen und Arbeitnehmer einhergeht und die Beteiligungs- setzgebungsprozess konstruktiv beteiligt.
rechte des Betriebsrats nicht beschnitten werden.
Der Hauptpunkt, der mit dieser Gesetzesänderung
Die Ergänzungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E vorgenommen wird, ist die Absenkung des Squeeze-out.
legen den Fristbeginn für die Unterrichtung des Be- Unter einem Squeeze-out ist ein unter Zwang vollzoge-
triebsrates über die Verschmelzung fest. Nunmehr ist ner Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak-
spätestens mit Abschluss des Verschmelzungsvertrages tiengesellschaft zu verstehen. Das bedeutet: Wenn ein
die Verpflichtung zu erfüllen, diesen dem Betriebsrat zuzu- Aktionär – direkt oder über von ihm abhängige Unter-
leiten. Die Änderungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E nehmen – mindestens 95 Prozent des Grundkapitals ei-
knüpfen das Wirksamwerden des Übertragungsbe- ner Aktiengesellschaft hält, kann er die restlichen Aktio-
schlusses nunmehr an die Eintragung des Verschmel- näre gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aus
zungsbeschlusses in das Handelsregister. Damit ist si- dem Unternehmen drängen. Mit dem Gesetzentwurf sen-
chergestellt, dass ein konzernverschmelzungsrechtlicher ken wir die Squeeze-out-Schwelle entsprechend der eu-
Squeeze-out, der bei 90 Prozent möglich ist, gegenüber ropäischen Vorgaben auf 90 Prozent.
dem sonstigen aktienrechtlichen Squeeze-out bei 95 Pro-
zent nicht missbraucht wird, indem eine Verschmelzung Uns ist bewusst, dass eine Absenkung der Squeeze-
angedacht wird, ein Squeeze-out durchgeführt wird und out-Schwelle nicht unproblematisch ist. Dieser Zwangs-
die Verschmelzung sodann scheitert. ausschluss der Minderheitsaktionäre stellt einen erheb-
lichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position der
Die letzten Änderungen, die nach der Anhörung er- Minderheitsaktionäre dar.
folgten und auf Hinweise der Sachverständigen zurück-
gehen, begrüßen wir daher. Ebenfalls begrüßen wir, Schon jetzt zeigt sich die Rechtsprechung zunehmend
(B) (D)
dass das BMJ sich auf die notwendigen Umsetzungen großzügig. Beispielsweise hält sie auch Fälle für
aus der Änderungsrichtlinie für Verschmelzungen und unbedenklich, in denen der Hauptaktionär die für den
Spaltungen beschränkt hat und nicht, wie von einigen Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre erforderliche
Sachverständigen verlangt wurde, eine Reihe weiterer Beteiligungsquote von 95 Prozent erst durch ein Wertpa-
Vorschläge, die damit nur mittelbar im Zusammenhang pierdarlehen erreicht hat. Vor diesem Hintergrund begrü-
stehen, aufgenommen hat. Der konzernverschmelzungs- ßen wir, dass der Regierungsentwurf den Schwellenwert
rechtliche Squeeze-out bei 90 Prozent ergibt sich zwin- von 95 Prozent für den ,,normalen“ gesellschaftsrechtli-
gend aus der umzusetzenden Richtlinie. Insoweit ist dies chen und übernahmerechtlichen Squeeze-out unangetas-
zwar aus dem Blickpunkt des Gesellschaftsrechts nicht tet lässt. Für den Zwangsausschluss im Zusammenhang
befriedigend, es dürfte jedoch kein rechtlicher Hand- mit einer Konzernverschmelzung im Aktienrecht müssen
lungsspielraum verbleiben, die Schwelle auf 95 Prozent wir hingegen die Absenkung des Schwellenwertes auf
hochzusetzen. 90 Prozent im Gesetz etablieren, da dieses den europa-
rechtlichen Vorgaben entspricht. Begrüßenswert ist zu-
Bei einer künftigen Reform des Umwandlungsrechts dem, dass mit diesem Gesetzentwurf die Transparenz für
wäre zu überlegen, wie die Rechte der Arbeitnehmer ge- Aktionäre erhöht wird. Mit der Einführung des neuen
stärkt werden können. Der Sachverständige Ernst § 64 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes schreiben wir die
Büchele hatte in der Anhörung vorgeschlagen, das über- Unterrichtungspflicht über Vermögensänderungen auch
nehmende Unternehmen zu verpflichten, für eine Über- für Verschmelzungen von Aktiengesellschaften fest. Bis-
gangszeit von etwa fünf Jahren eine Beschäftigungsga- her gab es diese Verpflichtung nur bei Spaltungen von
rantie abzugeben. Würde diese nicht eingehalten, wäre Aktiengesellschaften.
eine je nach Dauer der Beschäftigung gestaffelte Aus-
gleichszahlung in ein Sondervermögen zu leisten, das Abschließend ist hervorzuheben, dass wir mit diesem
die Kreditanstalt für Wiederaufbau verwaltet. Die damit Gesetzentwurf im Hinblick auf die Vorbereitung einer
gesammelten Mittel dürfen nur verwendet werden, um Hauptversammlung Bürokratie abbauen. Überflüssige
neue Arbeitsplätze zu schaffen, entweder innerhalb von Kosten werden für Unternehmen minimiert. Durch die
bestehenden oder erst noch zu gründenden Unterneh- Gesetzesänderung können die die Hauptversammlung
men. Dazu können auch reine Beschäftigungsgesell- vorbereitenden Unterlagen den Aktionären auf elektro-
schaften gehören, die Arbeitnehmer so lange auf- nischem Wege zugeleitet werden. Das bedeutet nicht nur
nehmen, bis sie am regulären Arbeitsmarkt wieder eine erhebliche Ersparnis an Papier und Zeit, sondern
untergekommen sind oder das – nahende – Rentenalter kommt auch unserer Umwelt zugute. Wir Grünen unter-
erreichen. stützen daher das Gesetzesvorhaben.

Zu Protokoll gegebene Reden


12758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Wir kommen zur Abstimmung. NEN):
Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- und Kollegen! Als Kofi Annan 1999 nach den Ereignis-
empfehlung auf Drucksache 17/5930, den Gesetzent- sen von Srebrenica und Ruanda von allen UNO-Mit-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3122 in gliedstaaten eine Kultur der Prävention einforderte, da
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, schien es fast, als hätte die Weltgemeinschaft einmal ver-
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- standen. Auf dem Weltgipfel 2005 sagte sie nicht nur der
men wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig. Armut den Kampf an; sie versprach bedrohten Men-
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch schen mit dem Konzept der Responsibility to Protect
keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung auch mehr Schutz vor Kriegsgewalt und die Stärkung
angenommen. von Menschenrechten und Demokratie.
Dritte Beratung Wir haben in Deutschland unter Rot-Grün 2004 den
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ und den Ausbau
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen ziviler Instrumente wie das ZIF, den Zivilen Friedens-
zu erheben. – Gegenprobe! – Niemand. Enthaltungen? – dienst oder auch zivik beschlossen. Wir hatten damals
Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. eine klare Vision, nämlich: Deutschland will und muss
vor allem eines sein: zivile Friedensmacht in der Welt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:
Heute müssen wir feststellen, dass ausgerechnet jetzt,
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin da Deutschland im Sicherheitsrat sitzt und zivile Krisen-
Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker prävention gefragt ist wie nie, zum Beispiel in Tunesien,
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der in Ägypten oder im Sudan, die zivile Krisenprävention
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor sich hindümpelt. Das, finden wir, ist nicht hinnehm-
bar.
Zivile Krisenprävention ins Zentrum deut-
scher Außenpolitik rücken (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])
– Drucksache 17/5910 –
Überweisungsvorschlag:
Die zivile Krisenprävention ist antriebslos, weil es
Auswärtiger Ausschuss (f) keine erkennbare friedens- und sicherheitspolitische Ge-
Innenausschuss samtstrategie der Bundesregierung gibt. Ich nehme ein-
Verteidigungsausschuss mal das Beispiel der Bundeswehrreform, die zwar breit
(B) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (D)
diskutiert wird, aber völlig losgelöst vom Aktionsplan
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung „Zivile Krisenprävention“ ist. Der Vorrang „Zivil vor
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Militär“ kommt dabei unter die Räder. Die Schieflage
zwischen Zivil und Militär bei der Mittelvergabe ver-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schärft sich weiter.
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem Der Begriff der vernetzten Sicherheit, von dem Sie
Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin immer reden, verkommt dabei zur Floskel. Am Ende
Müller (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abge- wird das Militär das Zivile nur noch stärker dominieren.
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Das, finden wir, ist eine falsche Entwicklung.
GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den friedenspolitischen und krisenpräventi- und bei der SPD)
ven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Zivile Krisenprävention ist auch führungslos – so
Dienstes jetzt umsetzen könnte man sagen –, weil nämlich der zuständige Res-
– Drucksachen 17/4043, 17/5307 – sortkreis weder politische Macht noch eigene Ressour-
cen hat, und sie ist orientierungslos, weil zum Beispiel
Berichterstattung: der Beirat, den es immerhin gibt, zu einem Alibi-
Abgeordnete Roderich Kiesewetter gremium verkommen ist. Das ist die Bilanz der Tätigkeit
Michael Roth (Heringen) der hochrangigen Fachleute, die da sitzen.
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Diether Dehm Wir meinen: Das muss sich ändern. Deshalb haben
Manuel Sarrazin wir diesen Antrag eingebracht, in dem wir konkrete Vor-
schläge dazu machen, wie wir die zivile Krisenpräven-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tion wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik rü-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da- cken können und wie wir endlich eine internationale
mit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Vorreiterrolle bei der zivilen Krisenprävention gewinnen
oder zurückgewinnen können.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in die-
ser Debatte ist unsere Kollegin Kerstin Müller für die Was ist erforderlich? Wir müssen zunächst einmal
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort. den Aktionsplan zu einem nationalen zivilen Planziel
Bitte schön, Kollegin Kerstin Müller. weiterentwickeln – das klingt technisch, aber das ist das,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12759
Kerstin Müller (Köln)
(A) was die Europäische Union von uns schon seit längerem Auswärtigen Amtes zur zivilen Krisenprävention, um zu (C)
erwartet –, weil wir sonst nicht die nötigen Instrumente sehen, was die Bundesregierung macht, kommt als Ers-
haben, um beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und De- tes der Unterausschuss. Der Unterausschuss ist ein Par-
mokratie in Konfliktländern angemessen dabei zu sein. lamentsausschuss. Ich finde es ja schön, dass die Bun-
desregierung darauf stolz ist. Aber das Handeln des
Dem müssen Sie sich stellen. Meiner Meinung nach Unterausschusses, in dem wir natürlich gern engagiert
tun Sie das nicht. Ein paar Beispiele: Warum ist mit Ihnen zusammenarbeiten, ersetzt nicht das Handeln
Deutschland als größtes Land in der EU noch nicht ein- der Bundesregierung, das wir von ihr erwarten.
mal in der Lage, auch nur annähernd die bereits 2004 zu-
gesagten 900 Polizisten für Friedensmissionen oder auch Vielen Dank.
ausreichendes Personal für den EAD zur Verfügung zu
stellen? Warum ist Deutschland als drittgrößter Beitrags- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zahler der UNO mit weit weniger als 2 Prozent Personal- sowie bei Abgeordneten der SPD)
anteil – das alles hat das ZIF wunderbar aufgelistet – in
UNO-Friedensmissionen vertreten? Vizepräsident Eduard Oswald:
Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständ- Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. – Jetzt für
lich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Ko- die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Roderich
alition, heute unserem Antrag zum EAD nicht zustim- Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich Kiesewetter.
men können. So würde man an dieser Stelle einmal ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Stück vorwärtskommen. Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt kommt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vernunft in die Debatte!)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wichtig ist auch, dass die vorbeugende Diplomatie Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
und die Konfliktvermittlung gestärkt werden. Dazu ha- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
ben Sie sich schon 2009 im EU-Rat verpflichtet; aber Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
passiert ist nichts. Jetzt, als dies bei den Umbrüchen in Müller, es ist ja schön, wie engagiert Sie die Dinge anpa-
der arabischen Welt notwendig war, war zum Beispiel cken.
die Europäische Union nicht in der Lage, schnell Ver-
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
mittler vor Ort zu entsenden.
Das ist wichtig!)
Etwas, was ganz wichtig ist, haben wir auch auf den
(B) Reisen des Unterausschusses zu hören bekommen und Sie wollen immer das Zivile in das Zentrum der Außen- (D)
gesehen: Wir müssen viel vorausschauender und syste- politik rücken. Aber ich denke, es ist auch wichtig, das
matischer Personalpools für Polizei-, Verwaltungs- und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
Rechtsstaatsexperten aufbauen, die wir dann in EU-Mis- (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
sionen, UNO-Missionen oder auch zur Afrikanischen GRÜNEN]: Das mache ich immer!)
Union entsenden können. Dabei sind auch Frauen ge-
fragt, wie es die Sicherheitsratsresolution 1325 verlangt. Es geht nicht, immer nur Pläne zu fordern oder Pläne zu
entwickeln. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Pa-
Wichtig ist auch, eine Lageanalyse zu entwickeln. pieren nennen, die meiner Fraktion wichtig sind und für
Dazu sind ressortübergreifende Frühwarnsysteme erfor- die wir gearbeitet haben. Eine so umfassende Sicher-
derlich. Aber auch das gibt es bisher nicht; da ist selbst heitsstrategie, wie Sie sie mit Ihrem Antrag einbringen,
die Afrikanische Union weiter, wie wir sehen konnten. haben wir bereits im Mai 2008 verabschiedet, Frau Kol-
(Heiterkeit bei der FDP) legin Müller.

– Ja, die haben das, wir haben es noch nicht. (Beifall bei der CDU/CSU)
Schließlich muss auch der Beirat ein klares Mandat Ich will auf etwas anderes hinaus. Es geht darum, den
erhalten, damit künftig bei Early Warning die Expertise Gedanken der zivilen Krisenprävention in die Köpfe zu
der Zivilgesellschaft auch tatsächlich einbezogen wird. pflanzen. Wir haben eine Institution in Deutschland, die
Ich glaube, dass unsere Instrumente wirkungslos blei- dazu durchaus geeignet wäre; das ist die Bundesakade-
ben, wenn der politische Wille nicht da ist. Das heißt, der mie für Sicherheitspolitik. Sie ist stark vom Verteidi-
Ressortkreis muss politische Entscheidungskompetenz gungsministerium und vom Auswärtigen Amt geprägt,
erhalten, er muss politisch hoch angesetzt sein, er hat Gutes geleistet und die Sicherheitspolitik in Deutsch-
braucht einen Mr. oder eine Mrs. Krisenprävention, und land vorangebracht. Es wäre eine geeignete Maßnahme
er muss endlich so etwas wie Ressourcenpooling ma- – dies schlagen wir vonseiten unserer Fraktion vor –, die
chen können, wie wir es von anderen Ländern, zum Bei- Bundesakademie auszubauen, sie mit dem Bundesminis-
spiel von Großbritannien, schon längst kennen. terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbinden
und dort auch ein Forum für den zivilen Friedensdienst
Ich komme zum Schluss. Ich höre schon: Na ja, aber anzubieten. Das ist ein konkreter Vorschlag, der von den
wir haben doch jetzt den Unterausschuss für zivile Kri- vielen Papierplänen weggeht.
senprävention. Ich kann nur sagen: Das ist ein Instru-
ment des Parlaments. Geht man auf die Website des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Roderich Kiesewetter
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um um- wir wirksam umsetzen. Uns in der Fraktion treibt es (C)
fassende Sicherheit. Der Ansatz vernetzter Sicherheit wirklich um, die Wirksamkeit der Mittel ziviler Krisen-
war im letzten Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit prävention noch weiter zu verbessern. Ich möchte das an
greift weiter. Wir werden in den nächsten zehn Jahren einer Reihe von Punkten darstellen.
Entwicklungen erleben – wir sehen es gerade in Nordaf-
rika –, die zeigen, dass im Zusammenhang mit dem Si- Erstens kommt es darauf an, egal um welche Art von
cherheitsbegriff auch soziale Sicherheit eine Rolle spielt. Mission es sich handelt, ob zivil, polizeilich oder militä-
Umfassende Sicherheit bedeutet nicht nur Krisenvor- risch, dass wir in der Ausbildung, in der Vorbereitung
und -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen Expertise für kulturelle Befindlichkeiten vermitteln. Das
Friedensdienste als auch Fragen der Entwicklungspolitik haben wir in Afghanistan intensiv gelernt.
ein. Es geht eben weiter als das, was bisher im Fokus Ih- Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch
rer Kritik war. im VN-Mandat festzulegen. Erfolg und Misserfolg einer
Sicherheitsvorsorge und Krisenbewältigung sind also Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir
kein Selbstzweck, sondern ein ganz entscheidender brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden
Punkt, den sich auch die Europäische Union auf ihr Pa- müssen.
nier geschrieben hat. Ich nenne ein Beispiel dafür: Die
Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere natio-
neue Europäische Nachbarschaftspolitik, über die wir
nalen Interessen hin überprüft werden. Wir brauchen
gestern im Europaausschuss und vor einiger Zeit auch
folglich eine föderale – andere nennen sie nationale – Si-
im Auswärtigen Ausschuss gesprochen haben, leistet ei-
cherheitsstrategie, deren Umsetzung wir auch jährlich
nen wesentlichen Beitrag. In den Jahren 2007 bis 2013
im Parlament diskutieren sollten. Die Umsetzung wird
stellt die Europäische Union über 11 Milliarden Euro für
sicherlich ein interessanter Punkt, Frau Müller und Frau
die Nachbarschaftspolitik zur Verfügung. Für uns, die
Bulmahn, in unserem Unterausschuss.
Union, ist Nachbarschaftspolitik – ich glaube auch für
die gesamte Koalition zu sprechen – zivile Krisenvor- Ich komme zum vierten Punkt. Zur rechtzeitigen Auf-
sorge. Dies bedeutet, dass wir Deutschen allein deckung von Krisen ist ein Frühwarnsystem erforder-
500 Millionen Euro jährlich zusätzlich leisten, weil wir lich, zu dem auch Nichtregierungsorganisationen einen
in der Europäischen Union einen Anteil von 28 Prozent wesentlichen Beitrag leisten können. In diesem Zusam-
an diesen 11 Milliarden Euro zu tragen haben. menhang könnten wir Ihrem Antrag inhaltlich folgen;
Dazu kommt Entwicklungspolitik als wichtiger Eck- das können wir aber in nur sehr wenigen Punkten.
pfeiler der zivilen Krisenprävention. Für den Bundes- Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen
(B) haushalt 2012 ist eine Steigerung des BMZ-Plafonds um für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausge- (D)
fast 114 Millionen Euro vorgesehen. Für die Förderung bildetem Personal schaffen. Sie beklagen, dass sich so
des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika und im wenige Frauen bewerben. Aber es ist ja auch so: Wenn
Nahen Osten werden dem Auswärtigen Amt zusätzlich nur 15 Prozent der Bewerber Frauen sind und dann für
50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das ist 20 Prozent der Stellen Frauen ausgewählt werden,
ganzheitliche Außenpolitik. spricht das für die Qualität der Frauen. Ich sehe hierin
So viel zu Ihrer Kritik, die Mittel würden gekürzt. Of- keine Benachteiligung. Machen Sie Werbung, damit sich
fiziell sind sie – das kann man nachlesen – auf der Höhe endlich mehr Frauen bewerben.
von 2007, inoffiziell sogar ein Vielfaches höher. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
glaube, ich habe das deutlich herausgestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Konzept der zi-
Wichtig ist doch, dass wir Konflikte frühzeitig erken-
vilen Krisenprävention ist zwar klar und wurde vielfach
nen. Wir brauchen das Frühwarnsystem – darin sind wir
auf dem Papier bekräftigt. Wichtig ist aber – damit habe
uns einig – und müssen Mittel ziviler und entwicklungs-
ich auch eingeleitet –, dass sechstens das vernetzte Den-
politischer Krisenprävention aufgreifen. Dabei geht es
ken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten
nicht nur um die Förderung guter Regierungsführung,
der Fachministerien und im Friedensdienst verankert ist.
sondern auch um die diplomatische Vermittlung und die
Dazu brauchen wir mehr Vernetzung des konzeptionellen
Mediation. Dazu kommen die Krisennachsorge und der
Denkens und gemeinsame Schulungen oder Ausbildun-
Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio, in der Re-
gen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller
gel mit einem Mandat der Vereinten Nationen.
Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivi-
Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus, und wir len Partner untereinander wie auch mit der lokalen Bevöl-
alle wissen: Erfolgreiche Politik lebt in allererster Linie kerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete inter-
von der Betrachtung der Wirklichkeit. Wo die militäri- nationale Plattform sind Regionalkonferenzen; national
sche Unterstützung der Krisenbewältigung unausweich- sollten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik
lich wird, müssen militärische Mittel mit Instrumenten aufwerten. Über diesen Ansatz sollten wir intensiv nach-
ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusam- denken, weil wir damit auf bestehende Ressourcen bauen.
menwirken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Antrag
Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird sicherlich enthält zwar einige interessante Ansätze, die wir vertie-
erweitert werden; umfassende Sicherheit streben wir an. fen könnten; aber die Fundamentalkritik, die er enthält,
Dazu gehört auch menschliche Sicherheit. Dies müssen können wir überhaupt nicht teilen. Ich habe heute deut-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12761
Roderich Kiesewetter
(A) lich gemacht, wie eine konstruktive, umfassende, ganz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
heitliche Sicherheitspolitik aussehen kann. DIE GRÜNEN)
Herzlichen Dank. Die Arbeit im Unterausschuss – ich denke, das kann
ich für alle Kolleginnen und Kollegen sagen – ist kon-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) struktiv und auch zielgerichtet. Dennoch dürfen wir
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen – ich denke, das
Vizepräsident Eduard Oswald: müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen –, der
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. – Jetzt für die Versuchung erliegen, alle Fragen, Probleme und Strate-
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin gien ziviler Konfliktlösung ausschließlich im Unteraus-
Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Edelgard schuss zu behandeln, sodass sich die anderen Aus-
Bulmahn. schüsse, sei es der Auswärtige Ausschuss oder der
Verteidigungsausschuss, oder auch das gesamte Parla-
(Beifall bei der SPD) ment überhaupt nicht mehr mit diesen Fragen befassen.
Das wäre eine falsche Entwicklung. Vielmehr müssen
Edelgard Bulmahn (SPD): wir beides tun. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und heute Abend eine Debatte über die Ziele und Instru-
Kollegen! Ich habe als junge Abgeordnete hier im Deut- mente ziviler Krisenprävention führen. Ein Blick auf die
schen Bundestag erlebt, wie über die schrecklichen Er- Uhr, ganz offen gesagt, macht aber auch deutlich, dass
eignisse in Srebrenica und Ruanda diskutiert wurde. Ich die parlamentarische Aufmerksamkeit noch ausbaufähig
habe auch die Hilflosigkeit erlebt, die viele Kolleginnen ist.
und Kollegen, ich selber auch, damals dabei empfunden (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass die internationale
Staatengemeinschaft aus diesen schrecklichen Ereignis- Ausbaufähig, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor
sen die richtigen Konsequenzen gezogen hat, nämlich allen Dingen auch das Engagement der Bundesregie-
einmal die Konsequenz, der zivilen Krisenprävention ein rung.
erheblich größeres Gewicht in ihrer Politik zu geben, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
und auch die Konsequenz, rechtzeitig Maßnahmen der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zivilen Krisenprävention einzusetzen. Diesen Prinzipien
trägt sie Rechnung, indem sie rechtzeitig Verantwortung Sie hat es leider versäumt, in ihrer Außenpolitik der zivi-
auf sich nimmt, um zum Beispiel Völkermord zu verhin- len Krisenprävention die prioritäre Rolle, die sie haben
dern. muss, zu geben. Ihr kommt derzeit diese prioritäre Rolle
(B) nicht zu. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Bun- (D)
Vor zehn Jahren hat die damalige rot-grüne Bundesre- desregierung die zivile Krisenprävention finanziell aus-
gierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenpräven- bluten lässt. Fast ein Drittel der Mittel für Krisenpräven-
tion, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die tion, Friedenssicherung und Konfliktbewältigung – meine
Weichen dafür gestellt, dass auch die deutsche Außen- Kollegin hat darauf hingewiesen – ist schlichtweg weg-
und Sicherheitspolitik ausdrücklich darauf abstellt, inter- gefallen. Man kann natürlich auch so Schwerpunkte set-
nationale und innerstaatliche Konflikte friedlich zu lö- zen – keine Frage. Aber diese Schwerpunkte zeigen in
sen. Ein weiterer Meilenstein war der Aktionsplan aus die falsche Richtung.
dem Jahr 2004. Die Prävention von Gewalt und Krieg
und die zivile Konfliktbearbeitung sollten – das war das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ziel – grundsätzlich Vorrang gegenüber militärischen In- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
terventionen haben.
Zu Recht haben deshalb die führenden deutschen Frie-
Mit dem Aktionsplan wurden die Voraussetzungen densforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Friedens-
und die Strukturen dafür geschaffen, zum Beispiel das gutachten die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundes-
ZIF. Diese Strukturen, die wir mithilfe des Aktionsplans regierung in wirklich ungewöhnlich scharfer Form
geschaffen haben, finden international hohe Anerken- kritisiert. Sie fordern mit Nachdruck Vorrang für zivile
nung. Hier wird auch sehr wirkungsvolle Arbeit geleis- Strukturen ein. Die Stichworte, die hier genannt werden,
tet. Für viele Nichtregierungsorganisationen bildet der lauten: Krisenprävention, Konfliktanalyse, Konfliktbear-
Aktionsplan übrigens den Rahmen, in dem sie ihre wich- beitung, nachsorgende Konfliktbearbeitung und Diplo-
tige und notwendige Arbeit durchführen und ausbauen matie.
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen – das
Ein weiteres wichtiges Zeichen war die Einrichtung trifft auf Parlamentarier aller Fraktionen zu –, dass es
des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und ver- zwar nicht überflüssig ist, in Sonntagsreden die Bedeu-
netzte Sicherheit“ in dieser Legislaturperiode. Mithilfe tung ziviler Krisenprävention zu betonen und zu unter-
dieses Unterausschusses ist erstmals eine kontinuierliche streichen – das ist sogar gut –, aber auch nicht ausrei-
parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle sicherge- chend ist, wie es so schön heißt.
stellt. Auch das ist ganz wichtig und eine entscheidende (Beifall bei der SPD)
Voraussetzung dafür, dass zivile Krisenprävention wirk-
lich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, die Eine gute Politik zeichnet sich eben dadurch aus, dass
sie braucht. bei Entscheidungen am darauffolgenden Montag der zi-
12762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Edelgard Bulmahn
(A) vilen Krisenprävention tatsächlich Vorrang eingeräumt Schattendasein herausgeführt werden. Auch das ist rich- (C)
wird. Das geht aber nicht, ohne dass dafür eine Basis ge- tigerweise angesprochen worden. Es reicht, ganz offen
schaffen wird. gesagt, nicht aus, dass dieser Beirat Informationen von
der Bundesregierung erhält. Wir müssen das Potenzial
In diesem Zusammenhang müssen wir leider auch und die Kompetenzen, die im Beirat vorhanden sind,
über das Geld reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen besser nutzen. Dazu gehört auch, dass der Beirat eine ge-
von der Union und der FDP, sorgen Sie dafür – da haben stalterische Rolle spielt.
Sie ganz bestimmt die Unterstützung der Opposition –,
dass die Mittelausstattung für die Bereiche der zivilen Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Forderun-
Krisenprävention und auch für die Entwicklungshilfe gen, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hin-
2012 wieder deutlich verbessert wird blick auf den Ausbau ziviler Krisenprävention in ihrem
Antrag formuliert hat, in weiten Teilen mit Forderungen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in unserem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
den Deutschen Bundestag eingebracht haben, decken.
GRÜNEN)
Wir werden ihn daher mit allen Kräften unterstützen. Ich
und dass sie in der mittelfristigen Finanzplanung – auch hoffe, dass wir für die Beratungen über beide Anträge im
das ist wichtig – mit den gebotenen Zuwächsen abge- Ausschuss und Unterausschuss eine gute Grundlage ha-
sichert wird. Zivile Krisenprävention und zivile Kon- ben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
fliktbearbeitung erfordern nämlich einen langfristigen
Ansatz. Sie können keine Kurzatmigkeit vertragen; das Vielen Dank.
muss man einfach so klar und deutlich sagen. Wenn sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kurzatmig betrieben werden, dann zeigen sie keine Wir- DIE GRÜNEN)
kung. Hier bedarf es also einer langfristigen Verlässlich-
keit.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben Ihnen zu danken. – Jetzt spricht für die
der LINKEN) Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte
Mehr Verlässlichkeit und politische Durchschlags- schön, Kollege Joachim Spatz.
kraft sind im Übrigen auch in der personellen und inhalt- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
lichen Begleitung dieses Themenbereiches dringend er-
forderlich. Der Ressortkreis ist sinnvoll – das wird
niemand bestreiten –, aber nicht ausreichend; das muss Joachim Spatz (FDP):
(B) ich auch an dieser Stelle sagen. Ein Staatssekretärsaus- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (D)
schuss, wie ihn die SPD-Fraktion und auch Bündnis 90/ Herren! Wie der SPD-Antrag, der hier vor einigen Wo-
Die Grünen in ihrem Antrag vorgeschlagen haben, ist chen eingebracht worden ist, enthält auch der Antrag
sinnvoll; denn damit wird ein Gremium geschaffen, das von Bündnis 90/Die Grünen einige bedenkenswerte An-
mit echten und finanziellen Entscheidungskompetenzen sätze. Das ist kein Zufall; denn die meisten Themen fu-
ausgestattet ist. Genau das brauchen wir. Ich würde mich ßen auf Ergebnissen, die wir im Unterausschuss „Zivile
sehr freuen, wenn die Koalitionsfraktionen sich diesem Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ gemeinsam
Vorschlag anschließen würden. Es ist für niemanden von erarbeitet haben. Diese Anträge greifen gewissermaßen
Nachteil, wenn er gute Vorschläge aufgreift. Man sollte dem vor, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollen
sich in der Politik nicht genieren, dies zu tun. nämlich im Herbst dieses Jahres einen Bericht vorlegen
und eine Agenda mit Blick auf das, was noch zu tun ist,
(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) beifügen.
Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass die Koalitionsfraktio- Eines der Themen ist die mangelnde Aufmerksam-
nen diesen Vorschlag aufgreifen. Über den Vorschlag, keit, die das Thema zivile Krisenprävention in der Öf-
den Sie, Herr Kollege Kiesewetter, gemacht haben, näm- fentlichkeit genießt. Der ehemalige Kollege Nachtwei
lich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu einem sagt zu diesem Thema, wir sollten mehr Konflikt wagen.
Zentrum für zivile Krisenprävention auszubauen, sollten Ich hoffe, dass diese Vorgabe, ein Stück weit Konflikt zu
wir im Unterausschuss diskutieren. wagen – auch wenn er in der Sache nicht deutlich besteht –,
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber bitte kon- dem Analyseteil des Antrags der Grünen geschuldet ist;
trovers!) denn einige Punkte, die dort erwähnt werden, kann man
eher unter einen typischen Oppositionsreflex subsumie-
Es ist aber sicherlich richtig, dass dies keine Alternative ren und nicht unter eine tatsächliche Analyse dessen,
ist zu dem Vorschlag, den ich vorhin gemacht habe; denn was geschieht.
beide Vorschläge beinhalten unterschiedliche Zielset-
zungen. Wir werden sicherlich noch mehrere Schritte Ich nenne Ihnen drei Beispiele.
unternehmen müssen, damit wir das Ziel erreichen, der
zivilen Krisenprävention ein größeres Gewicht zu verlei- Erstens. Es wurde gesagt, dass es noch nie so viele
hen. Friedensmissionen der VN gab. Unser Beitrag rangiere
auf Rang 43. Die ganze Wahrheit ist, dass Bangladesch
Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärti- mit 10 800 Soldaten, Pakistan mit 10 700 Soldaten oder
gen Amt, eine wichtige Schnittstelle, muss aus seinem Nigeria mit 5 800 Soldaten vertreten sind. Über die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12763
Joachim Spatz
(A) Gründe will ich mich ausschweigen, jeder kann sie sich den sind, berücksichtigen, auch beim Thema Kapazitäts- (C)
denken. aufbau. Das sei sehr wohl anerkannt. Aber bei den
Themen Polizei, Verwaltung oder Justizaufbau müssen
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wir natürlich dicke Bretter bohren. Das alles wird nicht
GRÜNEN]: Ja? Warum denn?) so schnell funktionieren, wie es auch in den USA, die
Es gehört zur ganzen Wahrheit, festzustellen, dass der das an vielen Stellen vorgemacht haben, nicht funktio-
Einsatz für manche Länder vielleicht attraktiver ist. Wir niert hat, ohne dass es einen entsprechenden Ressour-
sind diejenigen, die möchten, dass Kräfte aus sich in der cenwettbewerb im Kongress gegeben hat. Diejenigen,
Region befindenden Ländern entsprechende VN-Missio- die sich für das Thema interessieren, werden den Res-
nen bedienen und nicht immer nur die Europäer oder die sourcenwettbewerb gerne mitmachen, um für das ge-
Amerikaner. Man kann nicht fordern und am selben Tag meinsame Ziel der zivilen Krisenprävention einen noch
kritisieren, dass wir unser Engagement an dieser Stelle stärkeren Beitrag zu leisten und eine noch größere Auf-
zurückfahren. merksamkeit in Deutschland zu erreichen.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Danke schön.
GRÜNEN]: Die sind nicht näher am Kongo
dran als Deutschland!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Im Übrigen gehört zum Gesamtbild auch, dass wir an Vizepräsident Eduard Oswald:
Aktionen der UN beteiligt sind, auch wenn es sich nicht
um VN-Mandate handelt. Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. – Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin
Der zweite Punkt sind die Mittelkürzungen im Aus- Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
wärtigen Amt. Natürlich werden Sie immer diejenigen,
die in der Koalition für dieses Thema einstehen, im Res- (Beifall bei der LINKEN)
sourcenwettbewerb auf Ihrer Seite haben; aber es kann
nicht sein, dass wir die zivile Krisenprävention haus- Kathrin Vogler (DIE LINKE):
haltsstellengenau diskutieren. Vielmehr dürfen gerade Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen
diejenigen, die einen ressortübergreifenden Ansatz für und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
sinnvoll halten, nicht vergessen, dass wir eine erhebliche 28 Kriege und 126 weitere Gewaltkonflikte erschüttern
Mittelaufstockung im zivilen Teil des Afghanistan-Ein- in diesem Moment unseren Planeten. Diese vielen Kon-
satzes zu verzeichnen haben und auch in den Nordafrika- flikte erfordern ganz dringend von uns, zu überlegen,
Einsatz erheblich mehr Geld investieren. Wenn wir die was wir dazu beitragen können, dass sie ohne Gewalt be-
(B) Haushaltsstellenlogik für eine Sekunde beiseitelassen (D)
arbeitet und gelöst werden.
und den umfassenden Ansatz betrachten, dann wird
deutlich, dass wir sehr viel mehr als bisher in diesen Be- (Beifall bei der LINKEN)
reich investieren.
Deswegen ist die Stärkung der zivilen Konfliktbearbei-
Mein dritter Punkt ist die vernetzte Sicherheit. Eines tung ein wichtiges Anliegen, insbesondere für eine Frie-
verstehe ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht denspartei wie die Linke.
– wenn man einmal von der Diskussion, die einige in der
NGO-Szene zu dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ und Die Grünen schlagen nun viele einzelne Maßnahmen
seiner Problematik führen, absieht –: Es geht doch nicht, vor, die zum Teil in die richtige Richtung weisen:
dass Sie in Ihrem Antrag an verschiedenen Stellen auf Erstens wollen Sie den Aktionsplan „Zivile Krisen-
der einen Seite behaupten, die Bundesregierung wolle prävention“ weiterentwickeln und ihn mit klaren Ziel-
dem Primat des zivilen Ansatzes nicht zum Durchbruch vorgaben, Strategien und einem Zeitplan versehen. Das
verhelfen, und auf der anderen Seite die militärische Zu- ist, um es einmal mit den Worten der Kollegin Bulmahn
rückhaltung in Libyen kritisieren. Das passt nicht zu- zu sagen, „sinnvoll …, aber nicht ausreichend“. Ohne
sammen. eine klare Abgrenzung zu militärischen Maßnahmen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bleiben der Aktionsplan und Ihr Antrag leider nur Fas-
der CDU/CSU) sade.

Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass man, (Beifall bei der LINKEN)
wenn man den Grundsatz der Responsibility to Protect
Zweitens. Auch den systematischen Aufbau ziviler
hochhält – wenn man dies anders beurteilt als die Bun-
Ressourcen, wenn es zum Beispiel um Richter oder Ver-
desregierung, dann kann man das tun –, nicht im selben
waltungsfachleute für zivile Missionen geht, unterstüt-
Atemzug kritisieren kann, dass wir das Primat des Zivi-
zen wir. Wir sind allerdings dagegen, Polizeimissionen
len nicht zur Umsetzung bringen. Das passt nicht zusam-
etwa in Afghanistan als schlecht verkappten Ersatz für
men.
Militäreinsätze zu benutzen, nur weil sie vielleicht poli-
(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tisch leichter durchzusetzen sind. Ich hoffe, da habe ich
NEN]: Das haben wir nicht getan!) Sie an unserer Seite. Denn einen solchen Missbrauch
von Polizistinnen und Polizisten lehnt die Linke ab.
In der weiteren Beratung werden wir natürlich die gu-
ten Aspekte, die in den vorliegenden Anträgen vorhan- (Beifall bei der LINKEN)
12764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Kathrin Vogler
(A) Drittens haben wir im letzten Jahr die schwarz-gelben Gewalt. Sie kritisieren den Begriff der vernetzten Si- (C)
Kürzungen der Mittel im Bereich der zivilen Konfliktbe- cherheit nur halbherzig. Sie tun so, als hätten die NGOs
arbeitung gemeinsam scharf kritisiert. Auch die Linke ein Wahrnehmungsproblem, wenn sie diesen Begriff kri-
fordert mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen tisieren; man müsse ihn nur klarer formulieren und bes-
in der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Aber die Mittel ser kommunizieren. Nein, das sehe ich nicht so.
für die schwarz-gelbe Bundeswehrreform, für die Ihr
Parteivorsitzender Cem Özdemir schon seine Unterstüt- (Joachim Spatz [FDP]: Wir schon!)
zung zugesagt hat, liebe Frau Müller, können nicht mehr Dieser Begriff weist in die ganz falsche Richtung. Das
für anderes, Sinnvolleres ausgegeben werden. Das muss ganze Konzept gehört auf den Müllhaufen. Ich bitte Sie
auch einmal gesagt werden. da um Unterstützung.
Bei einem solchen Sammelsurium politischer Forde- (Beifall bei der LINKEN)
rungen wie in Ihrem Antrag muss man schon einmal ge-
nauer hinschauen, vor allem, um zu erkennen, was fehlt. Ich komme zum Schluss. Treten Sie bitte mit uns ge-
Mich hat zum Beispiel gewundert, dass Sie gar nichts zu meinsam dafür ein, dass der Gewaltverzicht zum Leit-
einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und den Roh- bild deutscher Außenpolitik wird und die zivile Kon-
stoffkonflikten sagen. Gerade jetzt, wo die sudanesische fliktbearbeitung zu seinem Instrumentenkasten. Dabei
Armee in die Erdölprovinz Abyei einmarschiert ist, liegt hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir lassen Ihnen aber keine
das Thema bei solch einem Antrag doch auf der Hand. Mogelpackungen durchgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Die allermeisten Konflikte haben doch wirtschaftli-


Vizepräsident Eduard Oswald:
che Hintergründe, für die die Bundesrepublik und die
EU mit ihrer Außenwirtschaftspolitik mitverantwortlich Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler von der
sind. Wir hatten einmal einen Bundespräsidenten – ich Fraktion Die Linke. – Jetzt spricht für die Fraktion der
weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern –, der das ganz of- CDU/CSU unser Kollege Alois Karl. Bitte schön, Kol-
fen ausgesprochen hat und dann gehen musste. Was wir lege Alois Karl.
brauchen, ist eine konsequente Krisenprävention durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen und sozial-
ökologischen Umbau.
Alois Karl (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
(B) Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag (D)
Last, not least: Der Knackpunkt bei der Glaubwürdig-
der Grünen, der auch die friedenspolitischen und präven-
keit friedlicher und ziviler Außenpolitik ist für die Linke
tiven Aufträge des Europäischen Auswärtigen Dienstes
der Gewaltverzicht, der in Ihrem Antrag leider gar nicht
berührt. Wenn man schon etwas länger im Haus tätig ist,
vorkommt. Ich sage es auch mit Blick auf die Position
weiß man, dass sich dieser Antrag in eine Reihe von An-
von SPD und Grünen zum Libyen-Krieg: Wer – unter
trägen eingliedert, die in regelmäßigen Abständen einge-
welchem Vorwand auch immer – Kriege führt, der kann
bracht werden. Man kann sie als Gutmenschenanträge
meiner Ansicht nach keine glaubwürdige Friedenspolitik
bezeichnen. Wahrscheinlich sind sie Ausdruck Ihrer Tra-
machen.
dition als Friedensbewegung. Man könnte meinen, wir
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) hörten Versatzstücke aus Redebeiträgen, die bei Oster-
märschen gehalten wurden.
Sie schreiben selbst, dass es im Zusammenhang mit dem
„Schutz der Zivilbevölkerung“ und „der Bekämpfung Heute soll es also um den Europäischen Auswärtigen
nichtstaatlicher Gewaltakteure“ „schier unlösbare Di- Dienst gehen. Die Außenpolitik Europas soll auf die
lemmata“ gibt. Ja, genauso ist es doch: Krieg ist kein Friedensbemühungen, auf friedenserhaltende Maßnah-
Schutz vor Gewalt; Krieg bedeutet immer Gewalt gegen men reduziert werden. Krisenprävention und Konflikt-
die Zivilbevölkerung. Das sehen wir in Afghanistan, in bearbeitung, die ausgeglichene Besetzung der Positionen
Libyen und überall da, wo die NATO Kriege führt. durch Männer und Frauen und Gender-Mainstreaming
sollen weltweit eingeführt werden.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Die NATO Kriege führt? – Philipp Mißfelder Liebe Frau Müller, die Vorgeschichte des Europäi-
[CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber! Das ist ja schen Auswärtigen Dienstes stützt Ihre Forderungen al-
schon wieder wie heute Nachmittag!) lerdings nicht. Der Auswärtige Dienst ist vor ungefähr
einem halben Jahr eingerichtet worden und hat die Ar-
Gerade deswegen ist die zivile Konfliktbearbeitung so beit aufgenommen. Er soll ermöglichen – das ist die In-
wichtig. tention –, dass Europa mit einer Stimme spricht. Der
(Beifall bei der LINKEN) vielstimmige Chor Europas, von dem früher immer die
Rede war, soll aufhören, zu existieren. Der Spruch aus
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Amerika, Europa solle eine Telefonnummer haben, ist
hier müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen: zivile uns in Erinnerung. Das wollten wir mit der Einrichtung
Konfliktbearbeitung nur als Feigenblättchen für Militär- des Europäischen Auswärtigen Dienstes in die Wege lei-
einsätze oder als echte Alternative zu einer Politik der ten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12765
Alois Karl
(A) Wir wollen keine Doppelstrukturen. Wir wollen die schon vor Jahresfrist einen entsprechenden Antrag ein- (C)
Koordinierung der zivilen, aber auch der militärischen gebracht und durchgesetzt. Darin heißt es, dass die
Aufgaben im Europäischen Auswärtigen Dienst zusam- Kunst guter Politik darin besteht, den zivilen und militä-
menführen. Wir wissen, dass es gemeinschaftliche Ver- rischen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik
teidigungsbemühungen geben muss. Das zeigt sich da- den richtigen Stellenwert zukommen zu lassen.
ran, dass der Europäische Auswärtige Dienst Aufgaben
der gemeinschaftlichen Verteidigungs- und Sicherheits- Vizepräsident Eduard Oswald:
politik übernommen hat und der Militärstab hinzuge- Herr Kollege, jetzt haben Sie es geschafft. Sie haben
kommen ist. eine Zwischenfrage hervorgerufen. Würden Sie die zu-
Sicherheitspolitische Aufgaben ergeben sich welt- lassen?
weit, also über Europa hinaus. Der Balkan-Konflikt, der
Kosovo, Bosnien-Herzegowina und afrikanische Staaten Alois Karl (CDU/CSU):
fordern uns. Auch das gehört zur europäischen Außen- Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Die Kolle-
politik. Hierzu gehören aber auch die humanitären Auf- gin kann dann gleich eine Kurzintervention machen.
gaben, die Beachtung der Menschenrechte und der freie
Da der Antrag der Grünen die Bedeutung des Zusam-
und faire Handel, gerade auch in der Außenwirtschafts-
menspiels der zivilen und militärischen Aspekte ver-
politik.
kennt, ist diesem Antrag schon allein aus diesem Grunde
Warum die Kollegin der Linken, die das Feld leider kein Erfolg beschieden. Ich denke, wir lehnen ihn mit
schon räumen musste, in diesem Zusammenhang gesagt großer Mehrheit ab. Mehr ist mit diesem Antrag leider
hat, dass der Konflikt im Südsudan die Außenwirt- nicht zu machen.
schaftspolitik in einer schändlichen Weise beeinträchtigt, Ich danke herzlich.
bleibt ihr Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Konflikt,
der sich um das Öl im Südsudan dreht, anderen zugute- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kommt, zum Beispiel den Chinesen, und es dabei in gar
keiner Weise um deutsche Interessen geht. Ich meine, Vizepräsident Eduard Oswald:
dass die Aussage, dass Gewalt gegen die Zivilbevölke- Vielen Dank, Herr Kollege Alois Karl. – Jetzt zu einer
rung auch durch unser Handeln ausgelöst wird, völlig Kurzintervention unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte
verkehrt ist. Da sollten sich die Linken zurückhalten und schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
vielleicht einmal darüber nachdenken, wie das 1968 bei
dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war, welche (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Wo waren Sie denn
gerade? Wären Sie mal dabeigeblieben!)
(B) Gewalt damals gegen die Zivilbevölkerung verübt wor- (D)
den ist.
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege, ich habe dem Kollegen Karl direkt ge-
Militärische Mittel sind die Ultima Ratio. Das wissen sagt, dass ich den Saal kurz verlassen musste. Von daher
wir. Wir wissen auch, dass die Menschenrechte Gegen- ist Ihre Bemerkung eine ziemliche Zumutung.
stand der auswärtigen Politik in Deutschland und Ame- (Zurufe von der CDU/CSU: Die ganze Rede
rika sind. Rein ziviles Handeln ist in der Außen- und Si- war eine Zumutung!)
cherheitspolitik aber nicht möglich. Wir wissen, dass wir
noch einen weiten Weg zu einer abgestimmten europäi- Ich möchte mich jetzt nicht auf die ganze Rede bezie-
schen Außenpolitik vor uns haben. Das wird klar, wenn hen, sondern nur auf die Schlusspassage, insbesondere
wir uns das Vorgehen im Zusammenhang mit dem Li- auf den Satz, in dem Sie gesagt haben, dass diese Koali-
byen-Konflikt anschauen: Frankreich und Großbritan- tion das Zusammenspiel von militärischen und zivilen
nien haben im Sicherheitsrat für die militärische Opera- Instrumenten besonders in den Mittelpunkt ihres Han-
tion gestimmt. Deutschland hat zwar dagegen gestimmt, delns stellt. Offensichtlich haben Sie nach zehn Jahren
unterstützt aber die humanitären Einsätze und hilft bei Afghanistan-Krieg immer noch nicht gemerkt, dass wir
der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. uns mit den militärischen Mitteln in eine Sackgasse be-
geben.
Der EAD ist noch nicht so weit. Das wissen wir. Das
unglückliche Auftreten Europas im Zusammenhang mit Ich möchte Sie als Bundesregierung auffordern, da-
Libyen liegt möglicherweise auch daran, dass die Domi- raus endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
nanz der Hohen Vertreterin, Lady Ashton, noch im Ver- Sie sollten die zehn Jahre Afghanistan-Krieg auswerten,
borgenen blüht. Möglicherweise liegt es nicht nur an der bewerten und schließlich feststellen, dass alle uns ver-
verborgenen Dominanz, sondern vielleicht auch an der kündeten politischen Ziele dieses militärischen Einsatzes
verborgenen Kompetenz. nicht erreicht worden sind und der Einsatz gescheitert
ist. Sie sollten jetzt auf die zivile Konfliktbearbeitung
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Weg setzen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäi-
ist klar. Wir möchten, wie es der Kollege Roderich schen Union und dem Europäischen Auswärtigen
Kiesewetter gesagt hat, in Europa eine vernetzte und Dienst. Sie sollten dem Einsatz eine zivile Grundlage ge-
umfassende Sicherheitspolitik leisten. Uns ist klar, dass ben. Der fatale Weg der Unterordnung des Zivilen unter
eine einseitige Ausrichtung der Außen- und Sicherheits- das Militär, des Missbrauchs von humanitären Hilfsorga-
politik nicht zum Erfolg führen kann. Die Koalition hat nisationen für militärstrategische Ziele, der Konditionie-
12766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Kathrin Vogler
(A) rung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- (C)
militärstrategische Ziele muss aufgegeben werden. Sie nen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktion Bündnis 90/
müssen sich auf einen neuen Weg machen. Die Grünen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? –
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der nommen.
CDU/CSU: Diese Kurzintervention ist ein
Missbrauch!) Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Vizepräsident Eduard Oswald: richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)
Kollege Alois Karl, Sie haben die Möglichkeit zu ei-
ner Erwiderung. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Alois Karl (CDU/CSU): CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid
Auf Ihre Rede, so bedeutend sie auch war, bin ich in Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Manuel
meiner Rede nicht eingegangen, da Sie vorhin leider Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
weg mussten. Sie sprechen in Ihrer Kurzintervention ein tion der FDP
ganz anderes Thema an. Dazu möchte ich Ihnen in aller
Klarheit sagen: Die Intervention in Afghanistan wurde zu der Mitteilung der Kommission an das
unter der Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Europäische Parlament und den Rat
Fischer eingeleitet. Wir mussten sie jetzt weiterführen. Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi-
schen Katastrophenabwehr: die Rolle von
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Beenden Sie es Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
doch!) (KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10)
In unserer Regierungszeit werden die deutschen Solda- hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
ten Afghanistan verlassen. regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge-
Ich sage Ihnen noch etwas: Der zivile Einsatz in
setzes über die Zusammenarbeit von
Afghanistan hat dazu geführt, dass Hunderttausende von
Bundesregierung und Deutschem
Mädchen erstmals eine Schule besuchen können. Bundestag in Angelegenheiten der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europäischen Union
Das ist ein ziviler Aspekt des Einsatzes in Afghanistan. Katastrophenabwehr in Europa effektiv ge-
(B) Wenn wir heute Tausende von Polizisten ausbilden, um stalten (D)
damit Afghanistan in die Lage zu versetzen, das Heft des – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Handelns dort selbst in die Hand zu nehmen, dann be- Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weite-
deutet das eine hervorragende Perspektive für das ge- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
knechtete Land, das über Jahrhunderte nicht selbst über
sich bestimmen konnte. Ich meine, dass sich der Einsatz, zu der Mitteilung der Kommission an das
wenn sich diese Ziele alsbald realisiert haben, gelohnt Europäische Parlament und den Rat
hat. Ich gratuliere und danke allen, die dort ihre schwere Auf dem Weg zu einer verstärkten europäi-
und schwierige Arbeit machen. schen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (KOM[2010] 600 endg.; Ratsdok. 15614/10)
neten der FDP)
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
Vizepräsident Eduard Oswald:
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge-
Vielen herzlichen Dank. – Ich glaube, wir stimmen setzes über die Zusammenarbeit von
überein, dass ich die Aussprache jetzt schließe. Bundesregierung und Deutschem
Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über- Bundestag in Angelegenheiten der
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/5910 an die in Europäischen Union
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- – Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809 –
gen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des Gerold Reichenbach
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Frank Tempel
nen mit dem Titel „Den friedenspolitischen und krisen- Dr. Konstantin von Notz
präventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5307, Reden zu Protokoll genommen. Ich verzichte auf die
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Verlesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. –
Drucksache 17/4043 abzulehnen. Wer stimmt für diese Sie sind damit einverstanden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12767

(A) Beatrix Philipp (CDU/CSU): machung der EU-Hilfen – in Form von Beschriftung auf (C)
Wir sprechen heute über zwei Anträge: über den An- Transportgütern und Bekleidung – als positiv erachtet.
trag der Koalitionsfraktionen „Katastrophenabwehr in Es sollten aber die nationalen Symbole der Entsende-
Europa effektiv gestalten“ und über den Antrag der staaten weiterhin Erwähnung finden. Auch wenn dies,
Fraktion Die Linke. Beide Anträge beruhen auf der Mit- oberflächlich betrachtet, als unbedeutend für die effekti-
teilung der Kommission an das Europäische Parlament vere Katastrophenabwehr erscheint, so haben die Bür-
und den Rat: „Auf dem Weg zu einer verstärkten euro- gerinnen und Bürger der EU ein Recht auf genaue,
päischen Katastrophenabwehr: Die Rolle von Katastro- umfassende Informationen über die Reaktionen der
phenschutz und humanitärer Hilfe.“ Diese Mitteilung Europäischen Union im Katastrophenfall.
der EU-Kommission an das Europäische Parlament und
Aber, da nichts so gut ist, dass es nicht noch besser
den Rat soll Grundlage sein – für einen effektiveren Ka-
werden könnte, unterstreicht der Antrag der Koalitions-
tastrophenschutz. Damit wird eine doppelte Zielsetzung
fraktionen mehrere Forderungen des Deutschen Bun-
verfolgt: Erstens sollen bestehende europäische Ab-
destages gegenüber der Kommission. Die Ziele der Eu-
wehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitglied-
ropäischen Union sind klar: Unterstützung und
staaten ausgebaut werden, und zweitens soll für den Ka-
Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem
tastrophenfall ein europäisches Notfallabwehrzentrum
Gebiet des Katastrophenschutzes, Förderung einer schnel-
als neue Plattform für den Informationsaustausch und
len und effizienten Zusammenarbeit zwischen den einzel-
somit eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene ein-
staatlichen Katastrophenschutzstellen und Verbesserung
gerichtet werden.
der Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf in-
Aber bei allem Verständnis für Bemühungen um Ver- ternationaler Ebene. So nachzulesen im Art. 196 des Ver-
besserungen der Teufel steckt wieder mal im Detail: Be- trages über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
reits im Februar dieses Jahres befasste sich der Deut- AEUV. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen der
sche Bundestag mit einem Antrag der Fraktion Die Zusammenarbeit deutlich markiert werden.
Linke. Bis heute hat sich unsere Auffassung zu diesem
So finden wir in Abs. 2 des Art. 196 AEUV den Hin-
Antrag nicht geändert, sodass ich, um unnötige Wieder-
weis auf die Selbstständigkeit und das bereits erwähnte
holungen zu vermeiden, auf das bereits im Februar Ge-
Subsidiaritätsprinzip.
sagte verweisen kann.
Dort heißt es – ich zitiere:
Nun zum Antrag der christlich-liberalen Koalitions-
fraktionen, der im Grundsatz die Vorschläge der Kom- Das Europäische Parlament und der Rat erlassen,
mission, eine effektivere und effizientere Katastrophen- unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der
abwehr zu entwickeln, unterstützt. Wer wollte das nicht! Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, gemäß dem
(B) (D)
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforder-
Als grundsätzliche Maßnahmen dafür sind vorgese-
lichen Maßnahmen zur Verfolgung der Ziele des
hen: die Entwicklung von sogenannten Referenzszena-
Absatzes 1.
rien für die wichtigsten Arten von Katastrophen, die
weitere Inventarisierung bestehender nationaler Res- Die Einhaltung des Substitutionsverbotes und die Be-
sourcen – auch im Bereich Transport und Logistik – und achtung des Subsidiaritätsprinzips sind unabdingbar.
die damit verbundene Beschleunigung bei der Mobilisie- Zur Verdeutlichung: Das Substitutionsverbot meint, dass
rung. Dazu gehört es auch, die Instrumente des Kata- EU-Maßnahmen nicht an die Stelle der Zuständigkeit
strophenschutzes und der humanitären Hilfe besser mit- der Mitgliedstaaten treten dürfen, sie nicht ersetzen
einander zu verbinden. dürfen. Flankiert wird das Verbot vom besagten Subsi-
diaritätsprinzip, das bedeutet, dass auf EU-Recht nur
Wir hoffen, dass die daraus erwarteten Synergie-
zurückzugreifen ist, wenn keine nationalen Vorschriften
effekte auch die Arbeit der Vereinten Nationen unterstüt-
bestehen. Will heißen: zuerst immer die kleine Einheit.
zen. Eine grundsätzlich bessere Zusammenarbeit
verschiedener europäischer Einrichtungen kann nur be- Dieses Prinzip ist eine der wesentlichen Verhaltensre-
grüßt werden. So befürworten wir die engere Verzah- geln, die sich der Staatenbund 1992 mit dem Maastrichter
nung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe Vertrag auferlegt hat. Wir kennen es aus vielen Bereichen.
und die verstärkte Koordinierung zwischen dem Beob- Deutschland ist mit seinem dezentralen Katastrophen-
achtungs- und Informationszentrum – bekannt unter schutzsystem sehr gut aufgestellt. Die Feuerwehren, die
dem Namen Monitoring and Information Center, kurz vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, die auf eh-
MIC – und der Krisenstelle für humanitäre Hilfe, renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio-
ECHO. Aber die Schaffung einer neuen EU-Einsatzzen- nalen Strukturen beruhen, haben sich in der Vergangen-
trale in Form eines unabhängigen und weisungsgebun- heit stets bewährt. In Deutschland engagieren sich über
denen europäischen Notfallabwehrzentrums müssen wir 1,36 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastro-
ablehnen. Dies würde Art. 196 AEUV widersprechen phenschutz.
und ist zudem auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst.
Zu einer verantwortungsbewussten Daseinsvorsorge
Eine derartige „EU-Einsatzzentrale“ würde im Übrigen
des Staates aber gehört die Schaffung einer flächende-
dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich
ckenden Struktur im Katastrophenschutz; dies ist eine
später noch eingehen werde.
Kernaufgabe. Viele Hilfsorganisationen – Malteser,
Um dem europäischen Gemeinschaftsgedanken aber Johanniter, DRK, ASB, um nur einige zu nennen – und
Rechnung zu tragen, wird auch die verbesserte Sichtbar- auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk genießen

Zu Protokoll gegebene Reden


12768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Beatrix Philipp
(A) im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Und das cen beschleunigen, bei gleichzeitiger Förderung (C)
sehr begründet! Hier werden Kompetenz und die Verbin- der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten.
dung zwischen Haupt- und Ehrenamt besonders deutlich
sichtbar. Die Helferinnen und Helfer beweisen das täg- Ich darf Sie bitten, der Beschlussempfehlung des In-
lich in ihren inländischen und ausländischen Einsätzen. nenausschusses zu folgen.
Diesen Freiwilligen können wir dankbar sein, ja, wir
können stolz auf sie sein! Gabriele Fograscher (SPD):
Zunächst möchte ich für meine Fraktion klarstellen,
Anspruch und Ausgangsbasis darf sicherlich der
dass der europäische Koordinierungsmechanismus bei
hohe deutsche Standard sein. Wenn in einem anderen
internationalen Einsätzen intensiv mit dem Koordinie-
Mitgliedstaat dieser allerdings nicht erreicht wird, so ist
rungsmechanismus der Vereinten Nationen zusammen-
es zunächst Aufgabe dieses Staates, durch eigene An-
arbeiten muss. Bei internationalen Einsätzen außerhalb
strengungen aufzuschließen. Das bedeutet: Die EU muss
der EU ist der Koordinierungsmechanismus der Verein-
koordinierend darauf hinwirken, dass die Lücken durch
ten Nationen verbindlich, Europa ist hier nur unterstüt-
die Mitgliedstaaten selbst geschlossen werden. Es darf
zend tätig.
also durch die EU zu keiner „Vergemeinschaftung“ der
Defizite der Mitgliedstaaten im Katastrophenschutz Zu begrüßen ist, dass wir durch die vorliegenden An-
kommen. Ich betone aber, dass sich Deutschland seiner träge heute über den Katastrophenschutz und die huma-
solidarischen Rolle in der Europäischen Gemeinschaft nitäre Hilfe auf EU-Ebene diskutieren. Trotz aller
bewusst ist und sich der Verantwortung nicht entziehen notwendigen Kritik an den vorliegenden Kommissions-
will und auch nicht wird. Deutschland hat mit seinen mitteilungen bedeuten diese Vorlagen in keiner Weise
Nachbarstaaten und weiteren Ländern bilaterale Hilfe- eine drohende Militarisierung der europäischen Außen-
leistungsabkommen geschlossen. Diese bilateralen Not- politik und der europäischen Katastrophenhilfe.
hilfemechanismen sind regelmäßig zuerst zu aktivieren,
bevor auf die Katastrophenschutzinstrumente der EU Neben den durchaus richtigen Ansätzen im Koali-
insgesamt zurückgegriffen wird. Dies ist zurzeit auch tionsantrag erwarten wir, dass die Bundesregierung zü-
gängige Praxis. gig ein eigenes Konzept für das im Lissabonner Vertrag
festgeschriebene humanitäre Freiwilligencorps vorlegt.
Ich betone erneut: Eine von den Mitgliedstaaten un- Teil dieses Konzeptes muss es sein, die in Deutschland
abhängige, eigenständige Katastrophenabwehr auf EU- bewährten Freiwilligenstrukturen in der humanitären
Ebene lehnen wir ab. Die Verantwortung hat bei den Hilfe, die durch das THW, das DRK, die Feuerwehren
Mitgliedstaaten zu verbleiben. Auch bei der Errichtung sowie eine weitere große Zahl nicht staatlicher Hilfs-
(B) eines Ressourcenpools muss das volle Verfügungsrecht organisationen geprägt sind, mit ihrem Potenzial und ih- (D)
und insbesondere das Letztentscheidungsrecht über den rer Kompetenz vernünftig einzubinden. Auch hier darf
Einsatz der Ressourcen bei den Mitgliedstaaten verblei- auf europäischer Ebene kein Parallel- oder Konkurrenz-
ben. mechanismus geschaffen werden. Unsere Befürchtung
ist, dass die Bundesregierung abwartet und die entspre-
Nicht zuletzt die Ereignisse in Japan haben erneut chenden Konzepte von anderen europäischen Ländern
– und das sehr schmerzlich – verdeutlicht, dass Kata- in deren Sinne gestaltet und vorgelegt werden.
strophen keine ausschließlich nationalen Angelegenhei-
ten sind. Weltweit hat sich die Zahl der Katastrophen Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tre-
zwischen 1975 und heute auf das Fünffache – von 78 auf ten für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten
knapp 400 – erhöht. Allein in Europa waren in den letz- der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein,
ten 20 Jahren mehr als 29 Millionen Menschen von Na- und dies sowohl auf nationaler, als auch auf internatio-
turkatastrophen betroffen. Dass die Abwehr von Kata- naler Ebene.
strophen keine allein nationale Aufgabe ist, ist allen
Beteiligten bewusst. Wir müssen alle handeln, dies aber Ich möchte hier nur an einige Initiativen, etwa die un-
im Rahmen von nationalem und europäischem Recht. ter Rot-Grün vorgenommene Einrichtung des Bundes-
amtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Abschließend fasse ich zusammen und zitiere aus un- oder auch die von der Großen Koalition fortgesetzte
serem Antrag: Die Bundesregierung ist – erstens – auf- Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Kata-
gefordert, die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen strophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergän-
zungsgesetz erinnern. Da bekannt ist, dass Katastrophen
als Grundlage für die Verhandlungspositionen zu und Krisen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, und
künftigen Rechtsänderungsvorschlägen im Rahmen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tief ver-
der Europäischen Katastrophenabwehr zu nutzen; wurzelt sind in der Tradition internationaler humanitä-
2. bei allen Überlegungen und Maßnahmen zum rer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationa-
Ausbau des europäischen Katastrophenschutzes auf len Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene.
die Beachtung des Substitutionsverbots und des Dabei haben wir immer betont, dass sich das subsidiäre
Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken; Prinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt
hat und auch für die europäische Ebene gelten muss.
3. Maßnahmen zu unterstützen, die das Gemein- Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefah-
schaftsverfahren effizienter und effektiver machen ren und Herausforderungen muss es im Interesse aller
sowie die Mobilisierung der verfügbaren Ressour- europäischen Länder sein, zuerst die örtlichen und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12769
Gabriele Fograscher
(A) nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäi- (C)
stärken und auszubauen. Darüber hinaus ist es für uns schen und internationalen Rahmen auch, die Besonder-
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entschei- heiten anderer europäischer Länder zu respektieren.
dend, angesichts der Herausforderung und der Größe
drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Kata- Die Nutzung von militärischen Mitteln der Mitglied-
strophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstren- staaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien
gungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen. geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich
Bezug nimmt. Und diese Osloer Leitlinien umfassen
Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des
eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen
Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien ge-
wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch
genüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung
Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen
der Katastrophenprävention heißt auch stärkere An- nach der Definition dieser Leitlinien auch das Techni-
strengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur sche Hilfswerk gehört. Die Bundesrepublik Deutschland
Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaf- wird künftig nicht auf den Einsatz des Technischen Hilfs-
ten und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und werks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen
Steuerungssysteme. im Ausland verzichten. Viele Länder beneiden uns um
Die Zunahme internationaler Krisenherde erfordert unseren zivilen Katastrophenschutz. Deshalb werden
eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninter- wir ihn auch weiterhin stärken.
ventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch
Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am
Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisatio- besten geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an
nen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in in- den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten aus-
ternationalen Krisenszenarien gespielt haben, spielen gerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlich-
und spielen werden. keiten. Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bis-
herige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt
bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür einge- werden. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen
treten, die zivile gegenüber der militärischen Kompo- und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufga-
nente bei der Bewältigung von Krisenlagen zu stärken, ben des Staates.
und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch
Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zu-
(B) im Rahmen der internationalen Mechanismen. sammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen (D)
Wir stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastro- uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt
phenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf na- bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den
tionaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte Zentralisierungsabsichten der EU. Das gezierte antimi-
nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der CDU/ litärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht
CSU zu einer stärkeren Militarisierung des Katastro- nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung
phenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalis- von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophen-
musreform I als auch in der Großen Koalition am klaren abwehr. Wie der Antrag der Linken zu Recht ausdrückt,
Widerstand der Sozialdemokratischen Partei gescheitert ist auch davor zu warnen, die Sichtbarkeit der EU-Hil-
sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich fen als Selbstzweck zu verfolgen.
militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amts-
Bei der Katastrophenabwehr kommt es in erster Linie
hilfe den Katastrophenschutz unterstützen können, so auf das Vorhandensein leistungsfähiger und effizienter
wie dies unser Grundgesetz vorsieht, und dies gilt nicht Katastrophenabwehrkapazitäten in den Mitgliedstaaten
nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im an. Die Bereitstellung eigener Ressourcen auf EU-
Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zu- Ebene einschließlich der operativen Verfügungsgewalt
ständigkeiten kommen, und gerade in sogenannten kom- der Kommission über diese Ressourcen würde die Mit-
plexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber gliedstaaten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen,
dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt statt diese zu fördern; das wäre kontraproduktiv. Zudem
nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für interna- würde sie gegen Art. 196 AEUV verstoßen. Die Unter-
tionale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität stützung und Ergänzung durch die EU darf sich danach
muss bestehen. Und hier ist der Antrag der Linken ein- allein auf die Tätigkeit der Mitgliedstaaten beziehen.
deutig über das Ziel hinausgeschossen. In bestimmten Für eine parallele Zuständigkeit der Union gibt es keine
Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstüt- Rechtsgrundlage. Basis für gemeinsame Einsätze sind
zung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen daher allein die Ressourcen der Mitgliedstaaten. In der
angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transport- Bundesrepublik Deutschland sind für den operativen
bereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich Bereich maßgeblich die Länder zuständig. Im dezentra-
zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern len deutschen Katastrophenschutzsystem spielen vor al-
auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden lem die Feuerwehren sowie viele nicht staatliche
Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Ge- Hilfsorganisationen eine Rolle, die auf bewährten eh-
rät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte. renamtlichen und überwiegend kommunalen und regio-

Zu Protokoll gegebene Reden


12770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) nalen Strukturen beruhen. Das Technische Hilfswerk der Regenfälle und fehlender finanzieller Mittel. Etwa (C)
steht regelmäßig auch bei Katastrophen im inner- und 53 Millionen US-Dollar würden benötigt, um die Men-
außereuropäischen Ausland zur Verfügung. schen mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch was tut die
EU? Sie finanziert aus den Mitteln des Europäischen
Es ist nicht Aufgabe der EU, eine eigene Katastro- Entwicklungsfonds einen sinnlosen Häuserkampf zwi-
phenabwehr neben derjenigen der Mitgliedstaaten auf- schen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia,
zubauen. Dies würde nicht zuletzt die hervorragenden AMISOM, und Milizen in Mogadischu, der jährlich
ehrenamtlichen Kräfte des Bevölkerungsschutzes in 500 Millionen US-Dollar verschlingt. Das alles hat sehr
Deutschland in ihrer Arbeitsweise maßgeblich beein- viel mit der Mitteilung der Kommission zu europäischem
trächtigen. Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun; denn
all diese Maßnahmen werden vom EAD koordiniert.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Dieser soll zukünftig eine noch zentralere Rolle bei
Am vergangenen Sonntag, dem 22. Mai, eröffnete die Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe spielen und
Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine – so die EU-Kommission – die „Kohärenz zwischen der
Ashton, eine Vertretung der EU in der libyschen Stadt Katastrophenabwehr einerseits und möglichen politi-
Bengasi. Diese wird in demselben Gebäude unterge- schen und sicherheitspolitischen Elementen“ verbes-
bracht sein wie die Vertretung der Vereinten Nationen sern. Der EAD hat aber den Zweck – das hat die EU-Au-
und zahlreiche internationale Organisationen, darunter ßenbeauftragte Catherine Ashton in ihrer Rede vor dem
auch das Office for the Coordination of Humanitarian Europäischen Parlament am 10. März 2010 sehr deut-
Affairs, OCHA, der UN. Von dessen Zustimmung hängt lich gesagt –, den europäischen Zugriff auf die weltwei-
die Durchführung der EU-Militärmission EUFOR Libya ten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu verbessern
ab, die gegenwärtig vorbereitet wird. Offiziell soll dieser und gegen die aufstrebenden Schwellenländer zu vertei-
Einsatz humanitäre Ziele verfolgen, aber auch Boden- digen. Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe ver-
truppen, unter anderem aus der European Battlegroup, kommen somit zum bloßen Instrument imperialer
beinhalten. Wie praktisch, dass sich der Europäische Machtpolitik. Die Begriffe „Schutz“, „Hilfe“ und „Hu-
Auswärtige Dienst, EAD, der diesen Einsatz vorbereitet, manität“ verlieren damit, wie durch die in ihrem Namen
in Bengasi bereits mit der humanitären Organisation, durchgeführten bzw. anvisierten Regime Changes in
die ihm das Plazet erteilen soll, ein Dach teilt. Côte d’Ivoire, immer weiter an Legitimität und Sub-
stanz. Schutzbedürftige werden von der Bundesregie-
Viele humanitäre Organisationen haben sich jedoch rung und der EU instrumentalisiert, und fast könnte man
sehr deutlich gegen einen solchen geplanten Militärein- argwöhnen, dass die deutschen und europäischen Au-
satz der EU gewandt, weil sie unter diesen Bedingungen ßenpolitiker von CDU bis SPD und von Grünen bis FDP
(B) ihre Arbeit kaum fortsetzen könnten. Sie nehmen der EU (D)
auf die nächste Katastrophe warten, um unter dem
auch ganz zu Recht ihre humanitäre Zielsetzung nicht Deckmantel des Katastrophenschutzes intervenieren zu
ab, weil die EU zugleich Flüchtlinge aus Libyen brutal können.
zurückweist und ertrinken lässt. Die Linke schließt sich
hier den Ärzten ohne Grenzen an, die vor einer Woche in Im Sahel beispielsweise hat in den vergangenen Jah-
einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs ren eine Katastrophe die andere abgelöst. Dürren folg-
der EU schrieben: ten heftige Regenfälle und hinterließen fast 10 Millionen
Menschen abhängig von Lebensmittellieferungen. Auch
Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch, wenn diese Wetterphänomene in dieser Region nicht neu
mit dem Eingreifen in den Krieg Zivilisten zu schüt- sind, liegt ein Zusammenhang mit dem Klimawandel und
zen. Andererseits schließen sie gleichzeitig die damit auch mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise
Grenzen für die Opfer dieses Krieges – unter dem nahe. Wie reagierte hier die EU? Die Außenbeauftragte
Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Ein- Ashton hat vor wenigen Wochen ihren Entwurf für eine
wanderer verhindern zu müssen. Sahel-Strategie vorgelegt. Von den vorangegangenen
Ihre vermeintliche Humanität hört spätestens an den Dürren ist hierin nicht die Rede, dafür umso mehr von
EU-Außengrenzen auf und ist an Ihrem Umgang mit Terrorismus und organisierter Kriminalität, die auch
schutzsuchenden Menschen erkennbar. Statt immer nur Pipelines und die Sicherheit der Bürger in der EU ge-
zu schießen, sollten Bundesregierung und EU endlich fährden würden. Not und Hunger der Bevölkerung
anfangen, tatsächlich zu helfen, indem man Schutzsu- scheinen in diesem Papier nur insoweit eine Rolle zu
chende aufnimmt. spielen, als sie den „Nährboden“ für Terrorismus berei-
ten würden. Die Notwendigkeit von Hilfslieferungen
Wie katastrophal die Folgen eines militärischen Ein- wird hier nicht durch das Gebot der Menschlichkeit oder
satzes zur humanitären Hilfe sein können, hat sich An- der Solidarität begründet, sondern dadurch, dass damit
fang der 1990er-Jahre in Somalia gezeigt. Das Schei- das Vertrauen in den Staat gestärkt und der Einfluss der
tern dieses Konzeptes bei der UN-Mission UNOSOM Islamisten zurückgedrängt werden könnte. Das finde ich
und dem US-Einsatz „Restore Hope“ hat Folgen bis abscheulich; dies ist ein menschenverachtendes Doku-
heute. Fast 9 Millionen Menschen am Horn von Afrika ment!
sind nach Angaben des World Food Programme, WFP,
von Lebensmittellieferungen abhängig. Am 18. Mai Im Kern geht es in der Sahel-Strategie jedoch darum,
warnten Hilfsorganisationen vor einer weiteren Ver- die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den
schärfung des Hungers in Somalia aufgrund ausbleiben- Sahel-Staaten – allesamt keine Staaten, die man als

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12771
Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Rechtsstaaten bezeichnen könnte – zu fördern und diese Fukushima auch für den Katastrophenschutz gelten: (C)
polizeilich und militärisch aufzurüsten. 700 Millionen Business as usual geht nicht mehr.
Euro unter anderem aus dem „Instrument für Stabilität“
sind hierfür vorgesehen. Aus dem Europäischen Ent- Wer von einer veränderten Sachlage bei der Bewer-
wicklungsfonds sollen weitere Mittel mobilisiert wer- tung der Atompolitik ausgeht, wie dies die Bundesregie-
den: fast 1 Milliarde Euro für Regierungen, die aus rung nunmehr von sich behauptet, muss auch beim Ka-
Militärputschen hervorgegangen sind, und für deren tastrophenschutz konsequent sein. Die Risiken von
Streitkräfte, welche die eigentliche Macht im Staate dar- Großschadenslagen – das hat Japan gezeigt – können
stellen. Das ist eine Nachricht, die sehr wohl verstanden kumulativ eintreten, und sie sprengen alle unsere bishe-
wurde: Vergangene Woche haben die Außenminister Al- rigen Übungs- und Einsatzszenarien. An die Politik
gewendet gilt hier stets die Frage: Haben wir alles Men-
geriens, Nigers, Malis und Mauretaniens in Bamako zu-
schenmögliche getan, um die etwaigen Folgen derarti-
gesagt, bis zu 75 000 Soldaten für den Krieg gegen den
ger Katastrophen bestmöglich abzumildern oder sie gar
Terror bereitzustellen. Die Nachricht kam auch bei der
im Vorfeld zu verhindern? Das Undenkbare denken und
jeweiligen Opposition an, die bereits eindringlich vor
Vorsorge treffen, darin besteht die Herausforderung des
einer weiteren Militarisierung des Sahel warnt. 1 Mil-
Bevölkerungsschutzes, auch wenn und gerade weil wir
liarde Euro und 75 000 Soldaten gegen 300 mutmaßli-
wissen: Katastrophen sind per se das zumeist nicht
che Al-Qaida-Kämpfer, das ist unglaubwürdig. Offen-
Planbare, das Unvorhersehbare. Und: Das Ereignis
sichtlich geht es hier um die militärische Stabilisierung
selbst muss noch nicht automatisch zu einer Katastrophe
autoritärer Regime. Finanziert werden soll diese aus
werden.
denselben Töpfen, die in der Mitteilung der Kommission
dem Katastrophenschutz und der humanitären Hilfe die- Tatsächliche Katastrophen, die im Grunde genommen
nen sollen. Damit entlarvt sich endgültig, was hier unter ja nichts anderes sind als die Überforderung einer Ge-
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu verstehen sellschaft, mit einer bestimmten Bedrohung adäquat um-
ist. Die Linke lehnt nach wie vor die Unterstützung von zugehen, entstehen oftmals erst durch das Zusammen-
autoritären Regimen ab! spiel vielfältiger Faktoren, von denen die einen mehr
beeinflusst, die anderen weniger beeinflusst werden kön-
Im Gegensatz zu allen anderen hier vertretenen Frak- nen. Sicher ist: Die Vulnerabilität unserer modernen
tionen lehnt die Linke das Konzept der vernetzten Gesellschaften auf einem möglichst geringen Niveau zu
Sicherheit, das den Vorschlägen der Kommission halten, ist wohl die größte Herausforderung für den Ka-
zugrunde liegt, ab. Die Linke ist ebenso gegen die In- tastrophenschutz. So wissen wir alle: Der technologi-
strumentalisierung humanitärer Hilfe für sicherheits- sche Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits
politische und wirtschaftliche Interessen wie gegen die ermöglicht er uns, frühzeitig potenziell katastrophale
(B) zunehmende Militarisierung des Bevölkerungsschutzes (D)
Entwicklungen einzuschätzen und sie zu bekämpfen, an-
innerhalb der EU, die beide untrennbar mit diesem Kon- dererseits sind die Folgen einer erst einmal eingesetzten
zept verbunden sind. Die Linke ist für die strikte Tren- Katastrophe durch die Abhängigkeit moderner Gesell-
nung von militärischen und zivilen Kapazitäten und den schaften von kritischen Infrastrukturen hoch. Wir wis-
konsequenten Abbau Ersterer zugunsten Letzterer. Nur sen: Für eine möglichst effektive Begegnung der Aus-
durch den Ausbau rein ziviler und unabhängiger Kapa- wirkungen eines potenziell katastrophalen Ereignisses
zitäten des Bevölkerungsschutzes und deren möglichst ist eine koordinierte Vorgehensweise aller hieran Betei-
bevölkerungsnahe – das heißt kommunale und föderale – ligten von immenser Bedeutung. Wir wissen auch: Kata-
Kontrolle kann ihre Instrumentalisierung verhindert und strophen kennen keine Grenzen. Daher begrüßen wir es,
ihre Effizienz gewährleistet werden. Denn der Schutz dass die EU mit ihrer Mitteilung Vorschläge für notwen-
und die Hilfe für Menschen in Not ist kein Mittel zum dige Einzelschritte einer verbesserten EU-Krisenab-
Zweck, sondern reiner Selbstzweck – und so muss es wehr vorgelegt hat. Anstrengungen in dieser Richtung
auch bleiben. reichen bereits einige Jahre zurück, darunter hervorzu-
heben insbesondere der Barnier-Report.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Ansatz der Kommission ist in seinen wesentli-
NEN): chen Punkten zu begrüßen. Besonders wichtig und her-
Wir begrüßen den Vorstoß der Europäischen Kom- vorzuheben ist, dass die Katastrophenvorsorge seitens
mission für Verbesserungen der Zusammenarbeit im Ka- der Kommission auch als primäre Prävention von Risi-
tastrophenschutz. Menschen unmittelbar, schnell und koherden mitgedacht wird und hier weitere konkrete
wirksam Soforthilfe bei Katastrophen zukommen zu las- Schritte angekündigt werden. Denn wir müssen vor al-
sen, ist ein vorrangiges Ziel der Solidargemeinschaft lem an die Ursachen von Krisen, an die Risikoherde ran.
EU. Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal Als gutes Beispiel hierfür mag die neueste TAB-Studie
mehr und auf ganz brutale Weise aus dem täglichen Ver- des Deutschen Bundestages dienen, die mit Blick auf das
drängen der Möglichkeit einer derartigen, vorher in die- besonders gefährliche Szenario breitflächiger und län-
sem Ausmaß für uns alle unvorstellbaren Katastrophe ger andauernder Stromausfälle eine Abkehr von zentra-
gerissen. Schmerzhaft vor Augen geführt wurde uns, in lisierten Stromnetzen und eine Hinwendung zu erneuer-
welchem Ausmaß unser gewohnter Alltag durch kata- baren Energien empfiehlt, mit denen robustere dezen-
strophische Entwicklungen bedroht ist, die zudem oft- trale Stromnetze auch in Katastrophenfällen aufrecht-
mals in vielerlei Hinsicht menschengemacht und damit erhalten werden können. Gleichwohl gilt der alte
grundsätzlich vermeidbar erscheinen. Und so muss nach Spruch, wonach bei aller Prävention die nächste Kata-

Zu Protokoll gegebene Reden


12772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Konstantin von Notz


(A) strophe bestimmt kommen wird, auch hier bei uns in ei- dige Vorbereitungs- und Planungsarbeit von den rein re- (C)
nem vermeintlich besonders sicheren und gut organi- aktiven, auf die Ad-hoc-Zurufe der Mitgliedstaaten an-
sierten Gemeinwesen. Sie wird uns auf dem falschen Fuß gewiesenen Maßnahmen zu lösen, um so die rasche und
erwischen, und sie wird natürlich – verzeihen Sie mir effiziente Handlungsfähigkeit in Notfällen aufzubauen
diese von vielen schon als Phrase empfundene Wendung und zu gewährleisten. Die Behauptung der Koalitions-
– vor allem eines nicht machen, nämlich an nationalen fraktion, damit würde das bundesdeutsche bewährte
Grenzen innehalten. Diese Erfahrung kennen wir zur System der Präsenz von Millionen von Helferinnen und
Genüge bei den typischen Hochwasserkatastrophen, die Helfern in der Fläche infrage gestellt, teilen wir explizit
unser Land immer wieder treffen. Zum Glück kennen wir nicht, zumal sie auch nicht näher begründet wird. Viel-
sie noch nicht für anders gelagerte Fälle, zum Beispiel mehr wird unser bewährtes System insbesondere der eh-
Terroranschläge mit katastrophischen Auswirkungen, renamtlichen Mitarbeit in einer Vielzahl von Hilfsorga-
oder gar Atomkatastrophen. So unwahrscheinlich diese nisationen weiterhin neben und kumulativ zu den
Möglichkeiten immer noch vielen erscheinen mögen, die Koordinierungsaufgaben auf nationaler wie auch euro-
Aufgabe des Katastrophenschutzes muss diese Szenarien päischer Ebene zur Anwendung kommen.
aufnehmen und verarbeiten.
Den Einwand der fehlenden Rechtsgrundlage für eine
Genau deshalb ist es überhaupt nicht zureichend, derartige Verbindung bereits bestehender und zulässiger
wenn die Koalitionsfraktionen beantragen, weiterhin Kompetenzen sehen wir nicht, wenn bei der rechtlichen
nahezu ausschließlich auf nationale Bewältigungs- und Ausgestaltung entsprechend präzise festgelegt wird, wo-
Koordinationskapazitäten der Mitgliedstaaten zu setzen rin die konkreten Aufgaben und Befugnisse liegen kön-
und der Europäischen Union lediglich eine reaktive nen und sollten. Fragen des Bevölkerungsschutzes sind
Rolle zuzuweisen. Damit wird einmal mehr eine Heran- mit einer besonders hohen Verantwortung verbunden
gehensweise im Bevölkerungsschutz perpetuiert, die und geben Anlass, von kurzfristigen politischen Überle-
noch immer meint, gesetzliche Aufgabenverteilungen gungen abzusehen sowie auch bei bestimmten abstrakte-
und Befugnisse zum Maßstab für die Bewertung der ren Leitlinien des eigenen politischen Handelns Vorsicht
Realität sprich: konkrete Krisenszenarien nehmen zu walten zu lassen. Mögen die oft vorgetragenen Beden-
können. ken hinsichtlich eines sich verselbstständigenden Aus-
Als trauriges Ergebnis zu besichtigen ist unter ande- baus des europäischen Agenturwesens in Einzelfällen
rem deshalb ein nationales System des Krisenmanage- durchaus ihre Berechtigung haben, so dürfen diese doch
ments, das sich keinem Laien mehr erschließt und bei nicht zu einer pauschalen Ablehnung notwendiger und
einer schweren Katastrophe vermutlich völlig unzurei- in der Sache gerechtfertigter Erweiterungen europäi-
chende Koordinierungsleistungen erbringen würde. scher Handlungsmöglichkeiten führen. Die Vorbereitung
(B)
Umgekehrt hingegen würde ein Schuh draus, denn erst auf und die Unterstützung bei Katastrophen, die an un- (D)
in der konkreten Auswertung realistischer Krisenszena- seren Landes- wie auch Staatsgrenzen nicht haltmachen
rien und Übungen erschließt sich induktiv der Bedarf und deren Bewältigung außerordentliche Anstrengungen
bei den Bewältigungsstrukturen. Die Vorschläge der erfordern, zählt zu diesen notwendigen Erweiterungen.
Kommission sind ein schlüssiger Schritt für die Bewälti-
gung grenzüberschreitender Szenarien hier bei uns in Vizepräsident Eduard Oswald:
Europa, aber auch für den Einsatz von EU-Mitteln in
Drittstaaten. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses auf Drucksache 17/5809. Der Ausschuss emp-
Einig sind wir uns hier im Bundestag offenbar, was fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
die Notwendigkeit der Planung auch auf EU-Ebene für Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
bestimmte Szenarien, die Inventarisierung von nationa- FDP auf Drucksache 17/5194 mit dem Titel „Katastro-
len Ressourcen und die beschleunigte Mobilisierung der phenabwehr in Europa effektiv gestalten“. Es handelt
Ressourcen angeht. sich hier um eine Stellungnahme gegenüber der Bundes-
Die Sorge der Linken, dass die Pläne der Kommission regierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes zu
eine Militarisierung des Bevölkerungsschutzes einläuten der Mitteilung der Kommission an das Europäische Par-
könnten, teilen wir nicht. Auch wir würden derartige lament und den Rat „Auf dem Weg zu einer verstärkten
Entwicklungen selbstverständlich ablehnen. Die Mittei- europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Kata-
lung bekennt sich jedoch eindeutig zu den Oslo-Leit- strophenschutz und humanitärer Hilfe“. Wer stimmt für
linien und damit zu dem Grundsatz, dass nur im absolu- diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-
ten Ausnahmefall eine entsprechende Heranziehung mi- fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Fraktionen
litärischer Kräfte infrage kommt. Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? –
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange-
Die Zusammenlegung der Krisenstellen des MIC, nommen.
Monitoring and Information Centre, und der GD ECHO,
Generaldirektion Humanitäre Hilfe der Europäischen Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
Kommission, ist konsequent, weil es zahlreiche Über- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
schneidungen zwischen den Katastrophenschutzanfor- sache 17/4672 zu der eben genannten Mitteilung der
derungen und der humanitären Hilfe – Schutz und Ver- Kommission. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
sorgung, die über Erstversorgung hinausgeht – gibt und lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialde-
es aus unserer Sicht durchaus Sinn macht, die notwen- mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12773
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Fraktion Die Linke. Enthaltungen somit keine. Die Be- hatten 7 von 88 Abgeordneten eine Stasivergangenheit, (C)
schlussempfehlung ist angenommen. entweder als offizielle oder als inoffizielle Mitarbeiter.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Ein Skandal! – Weiterer Zuruf von der CDU/
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU: Was? Wie ist denn das passiert?)
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi- Diese 7 Abgeordneten waren von der Linksfraktion. Ein
Unterlagen-Gesetzes Abgeordneter wurde daraufhin sogar aus der Linksfrak-
tion ausgeschlossen – etwas, das wir Ihnen gestern in ei-
– Drucksache 17/5894 –
nem anderen Zusammenhang nahegelegt hatten, an-
Überweisungsvorschlag: scheinend aber erfolglos. So weit die Vergangenheit, von
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Innenausschuss der manche vielleicht schon glaubten, man müsse sich
Sportausschuss damit in dieser Hinsicht nicht mehr befassen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss Auch heute, da wir in erster Lesung die Novellierung
Ausschuss für Bildung, Forschung und des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten, gibt es in Bran-
Technikfolgenabschätzung denburg wieder eine Stasidiskussion. Ich finde sie ei-
Haushaltsausschuss gentlich empörend. Der Justizminister, Dr. Volkmar
Rechtsausschuss
Schöneburg von der Linkspartei,
Mir sind eine Reihe von Rednerinnen und Rednern
gemeldet. Ich gehe der Reihenfolge nach vor. (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ein Justiz-
minister von der Linkspartei? Das ist doch ein
Erste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die Widerspruch in sich!)
Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin
Philipp. musste Anfang Mai dieses Jahres bekannt geben, dass
bei 13 Brandenburger Richterinnen und Richtern eine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haupt- bzw. nebenamtliche Stasitätigkeit bekannt sei
oder bekannt gewesen sei. Mehr noch: Bei insgesamt
Beatrix Philipp (CDU/CSU): 152 Angehörigen der Brandenburger Justiz gibt es Hin-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- weise auf eine frühere Stasitätigkeit.
ren! Alle wissen es: Kaum ein Gesetz verlässt den Deut- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
schen Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Weil Unglaublich!)
jetzt und heute schon feststeht, dass es eine Anhörung
(B) zum Stasi-Unterlagen-Gesetz geben wird, die wir als Die sich daraus ergebende Konsequenz, alle Richterin- (D)
CDU/CSU-Fraktion besonders ernst nehmen werden, nen und Richter auf eine frühere Stasitätigkeit hin zu
weil die Betroffenen dort in großer Anzahl anwesend überprüfen, zieht der Justizminister nicht einmal in Be-
sein werden und angehört werden sollen, weil wir jetzt tracht.
schon Änderungsbedarf kennen, der aus den Fraktionen (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
angemeldet wurde, und weil wir in einer so sensiblen Das kann doch wohl nicht angehen!)
Angelegenheit wie der des Umgangs mit Stasiunterlagen
auf eine breite Mehrheit in diesem Hohen Hause hoffen, Ich zitiere aus einem Interview mit dem brandenbur-
gischen Justizminister, zu lesen in der Märkischen Allge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und meinen vom 18. Mai dieses Jahres:
der FDP)
Ich halte das
wären wir bereit gewesen, unsere Reden heute zu Proto-
koll zu geben, so wie es im Übrigen im Ablaufplan vor- – er meint eine Überprüfung –
gesehen war.
für unverhältnismäßig. Es kann nicht darum gehen,
Auch der Verlauf der Beiratssitzung am Montag die- allein die Neugierde zu befriedigen.
ser Woche war ein so eindeutiger und einstimmiger
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja schlimm!
Beweis des Vertrauens für Roland Jahn über alle Par-
Es gibt wirklich schlimme Menschen in dieser
teigrenzen hinweg – ich unterstreiche das ganz aus-
Partei!)
drücklich; alle wissen, warum ich das tue –, dass dem ei-
gentlich nichts mehr hinzuzufügen ist, außer dass man Befriedigung von Neugier? Man kann es gar nicht glau-
Roland Jahn vielleicht ermuntern könnte und sollte, auf ben. Welche Auffassung vom Richteramt spricht aus ei-
seinem Weg fortzuschreiten. ner solchen Aussage, welcher Anspruch an den eigenen
Stand? Welche – ich formuliere es einmal etwas locker –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dickfälligkeit – „mangelnde Sensibilität“ beschreibt es
Meine Damen und Herren, jedem, der es bisher noch zu wenig – in Bezug auf die Integrität des öffentlichen
nicht wusste, sage ich: In einer Aktuellen Stunde am Dienstes und der Richterschaft in Besonderheit spricht
28. Januar 2010 wurde besonders deutlich, dass die daraus? Glauben Sie, dass die Opfer dafür Verständnis
Überprüfungsfristen im Stasi-Unterlagen-Gesetz würden haben? Glauben Sie, dass es in einem Rechtsstaat akzep-
verlängert werden müssen. Denn im Brandenburger tabel ist, wenn ein Richter, der nach einem Bericht des
Landtag, der im September 2009 gewählt worden war, RBB-Magazins Klartext zu DDR-Zeiten Haftbefehle ge-
12774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Beatrix Philipp
(A) gen Ausreisewillige erlassen hat, sein Amt ausüben Meine Damen und Herren, ich habe eben darauf hin- (C)
kann? gewiesen, dass wir für die bereits anberaumte Anhörung
sehr offen sind. Deswegen kann ich mich an dieser Stelle
(Zuruf von der CDU/CSU: Oh! Oh!)
kurzfassen.
Konkret ging es um den Fall der Filmemacherin
Ich möchte damit schließen, dass der SPD-Vordenker
Sibylle Schönemann und ihres Mannes. Beide waren für
Egon Bahr jüngst wieder einmal einen Schlussstrich ge-
die DEFA tätig und stellten einen Ausreiseantrag. Mit
fordert hat. Seine Rede zum 75. Geburtstag des ehemali-
der Begründung „Beeinträchtigung staatlicher oder ge-
gen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe
sellschaftlicher Tätigkeit“ wurden die beiden inhaftiert.
ist so unglaublich, dass man einfach fassungslos davor
Den beiden damals sechs- und achtjährigen Töchtern
steht. Zu den unglaublichen Passagen gehört auch seine
wurde bei der Festnahme der Eltern gesagt, sie seien am
Beurteilung des Bemühens von Roland Jahn, nach einer
Nachmittag zurück.
Lösung für die 47 ehemaligen Stasimitarbeiter in der
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Stasi-Unterlagen-Behörde zu suchen. Wir sollten Roland
Das ist ja schlimm!) Jahn bei seiner Suche nach Lösungen unterstützen, statt
ihn mit böswilligen Unterstellungen zu beleidigen.
Die Familie sah sich nach einem Jahr im Westen wieder.
Die Familie war freigekauft worden. Der Richter, der da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mals die Haftbefehle erlassen hat, ist heute immer noch
als Richter in Potsdam tätig. Ich finde das unglaublich. Wie gesagt: Wir hoffen diesmal auf einen breiten
Konsens bei der Novellierung und meinen, dass wir das
(Reiner Deutschmann [FDP]: Das ist ja ein den Opfern schuldig sind.
Skandal! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup]
[CDU/CSU]: Was? Nicht zu fassen! – Weitere Vielen Dank.
Zurufe von der CDU/CSU: Ekelhaft! – Un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
glaublich!)
Das ist eigentlich unzumutbar, nicht nur für Stasiopfer, Vizepräsident Eduard Oswald:
sondern auch für jeden anderen, der dort vor Gericht Vielen Dank, Frau Kollegin Philipp.
steht.
Ich will jetzt Folgendes geschäftsleitend sagen: Der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollege Wolfgang Thierse hat seine Rede für die Sozial-
Da spricht ein Justizminister von Unverhältnismäßig- demokraten zu Protokoll gegeben. Des Weiteren haben
keit, wenn Richterinnen und Richter überprüft werden unser Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bünd-
(B)
sollen, und von Neugier. Ist es nicht eher unverhältnis- nis 90/Die Grünen und auch die Frau Kollegin (D)
mäßig, die Biografien der vielen Stasiopfer zu missach- Dr. Lukrezia Jochimsen ihre Reden zu Protokoll gege-
ten und zu verdrängen? Nicht nur bei der Brandenburger ben1). Auf Wunsch der Fraktionsgeschäftsführung der
Justiz, sondern auch bei der Brandenburger Polizei ka- Linken weise ich darauf hin, dass sie wegen Krankheit
men aktuell drei Stasifälle ans Licht. Aber auch dies hier nicht anwesend sein kann.
bleibt wohl ohne Konsequenzen. Die Menschen sind ir- (Iris Gleicke [SPD]: Deswegen haben die an-
ritiert, die Opfer empört und erneut verletzt. Dieser Jus- deren ihre Reden auch zu Protokoll gegeben!
tizminister, so meinen wir, ist untragbar. Darauf weise ich jetzt hin! So viel zum An-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stand in diesem Hause!)

Meine Damen und Herren, warum novellieren wir das Somit machen wir jetzt in der Reihenfolge weiter, die
Stasi-Unterlagen-Gesetz nun schon zum achten Mal? mir vorliegt. – Das Wort hat jetzt zunächst der Kollege
Abgesehen davon, dass die Chronologie dieses Gesetzes Reiner Deutschmann für die Fraktion der FDP. Bitte
sehr interessant ist, zeigt sie deutlich, wie sensibel mit schön, Kollege Reiner Deutschmann.
diesem Gesetz auf unterschiedliche Entwicklungen re- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
agiert wurde, indem man es aktualisierte, das heißt no-
vellierte. Unser Kollege Hartmut Büttner hat bereits am
Reiner Deutschmann (FDP):
14. November 1991 im Deutschen Bundestag angedeu-
tet, dass es bei den Novellierungen immer wieder um Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Anpassungen an die Realität gehen wird. Ich habe leider Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung des Stasi-
nicht genug Zeit, das ausführlicher vorzutragen, aber im unrechts ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leis-
Wesentlichen geht es um folgende Neuerungen: tungen infolge der friedlichen Revolution von 1989. Ich
bin stolz darauf, dass es gelungen ist, die Akten der Stasi
Erstens. Die Überprüfungsfrist soll bis zum 31. De- im Interesse der Opfer, aber auch im Interesse der Bür-
zember 2019 verlängert werden. gerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch der
Zweitens. Der überprüfbare Kreis soll erweitert wer- Nachwelt zu sichern und aufzuarbeiten.
den. Inzwischen liegt es 21 Jahre zurück, dass beherzte
Drittens. Auch für nahe Angehörige soll der Zugang Frauen und Männer mit der Besetzung der Stasizentrale
zu den Akten Verstorbener und Vermisster erleichtert
werden. 1) Anlage 4
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12775
Reiner Deutschmann
(A) in Berlin-Lichtenberg und anderer regionaler Stasiein- Alternative gibt. Auch in diesem Sinne stellen wir uns (C)
richtungen, wie beispielsweise auch in Leipzig und Er- voll und ganz hinter Roland Jahn. Mit uns wird es keine
furt, die Akten sicherten. Garant für die Aufarbeitung Schlussstrichdebatte geben.
der damals gesicherten Akten ist das 1991 beschlossene
Danke.
und heute zur Novellierung vorliegende Stasi-Unterla-
gen-Gesetz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Der darin geregelte sehr sensible und transparente
Umgang mit den Akten entspricht dem Gerechtigkeits- Vizepräsident Eduard Oswald:
empfinden der Menschen. Wenn bei der Aufarbeitung in Vielen Dank, Kollege Rainer Deutschmann. – Jetzt
den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Großes geleistet spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
wurde, so besteht doch noch immer ein riesiger Hand- Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Wanderwitz.
lungsbedarf bei der Erschließung der Akten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mit der uns heute vorliegenden Novelle des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes verlängert die christlich-liberale Ko- Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
alition eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzes bis Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
zum Jahre 2019. Die Überprüfung von Angestellten und Margit Funk, Anne Gabel, Hanni und Helmi Geyer,
Beamten des öffentlichen Dienstes und anderer sensibler Elisabeth Garske, Jutta Giersch, Helgard Göttert, Margot
öffentlicher Bereiche bleibt damit möglich. Zugleich ha- Jann, Magda Müller, Martel Oerthel, Sigrid Seime und
ben wir uns ganz bewusst entschlossen, den überprüfba- Maria Stein kennen Sie vielleicht nicht – noch nicht.
ren Personenkreis wieder auszuweiten, nachdem er 2007 Diese Frauen sind die Gründungsmitglieder des Frauen-
eingeschränkt worden ist. kreises der ehemaligen Hoheneckerinnen, der sich am
Warum tun wir das? Es geht nicht darum, den zuletzt 26. April 1991 gegründet hat.
geschätzten über 90 000 offiziellen und über 150 000 in- Warum spreche ich das heute an? Ich glaube, die
offiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit ein erfolg- meisten von uns wissen, was sich abgesehen davon, dass
reiches Berufsleben und ihren Platz in der Gesellschaft es ein Ortsteil einer schönen erzgebirgischen Stadt in
zu verwehren. Wir wollen nur nicht, dass ehemalige Sta- meinem Wahlkreis ist, alles hinter Hoheneck verbirgt,
simitarbeiter in sensible Positionen des öffentlichen nämlich das berüchtigte Frauenzuchthaus der ehemali-
Dienstes und anderer staatsnaher Einrichtungen gelan- gen DDR, in dem viele Tausend der über 180 000 poli-
gen können. tischen Gefangenen der ehemaligen DDR jahrelang ge-
(Beifall bei der FDP) sessen haben. 34 000 von ihnen sind im Übrigen für rund
(B) 3,5 Milliarden DM freigekauft worden: organisierter (D)
Die Staatssicherheit hat Karrieren verhindert, Exis- Menschenhandel der SED.
tenzen vernichtet und Lebensläufe negativ beeinflusst.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig! Genau
Was die Stasi ihren Opfern anzutun in der Lage war,
so! – Zuruf von der LINKEN: Und der Bun-
kann man sehr gut im ehemaligen Untersuchungsgefäng-
desrepublik!)
nis der Staatssicherheit in der jetzigen Gedenkstätte in
Berlin-Hohenschönhausen erleben. Es ist den Opfern – Ich denke, den Zuruf „Und der Bundesrepublik!“ von
nicht zuzumuten, dass die Täter ungehindert in der öf- einer Kollegin, den ich eben gehört habe, können wir
fentlichen Verwaltung des wiedervereinigten Deutsch- gerne ins Protokoll aufnehmen. Dem brauchen wir nicht
land Karriere machen, während die Opfer bis heute unter mehr viel hinzuzufügen, um deutlich zu machen, dass
den Folgen der Drangsalierung zu leiden haben. Sie immer noch nichts verstanden haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Wie aktuell das Thema ist, zeigen die jüngsten Stasi-
fälle aus Brandenburg. Meine liebe Kollegin Beatrix Wir haben am 13. Mai – das war am Freitag der vor-
Philipp hat dazu ja schon einiges im Detail erläutert. vergangenen Woche – einen Festakt zum 20. Jahrestag
Hier ist es über Jahre hinweg versäumt worden, diese der Gründung des Frauenkreises in Hoheneck begangen,
Dinge aufzuarbeiten. Ich denke, es ist manches nachzu- unter anderem im Beisein unseres Bundespräsidenten,
holen. Man kann Herrn Platzeck nur empfehlen, endlich der eine beeindruckende Rede gehalten hat, wie auch
tätig zu werden. vieler der betroffenen Frauen, die dort anwesend waren,
und auch im Beisein unseres Stasiunterlagenbeauftrag-
Aber auch in den alten Bundesländern herrscht Nach-
ten, Roland Jahn, und des ARD-Vorsitzenden und SWR-
holbedarf. Schließlich waren dort 3 000 IM für die Aus-
Intendanten Peter Boudgoust. Er war dort, weil am
landsspionageabteilung tätig, und zwar insbesondere in
9. November um 20.15 Uhr der große SWR-Fernsehfilm
Bundesministerien und Bundesbehörden. Viele von ih-
Hoheneck war gestern ausgestrahlt wird.
nen leben heute unenttarnt.
Auf der Homepage des SWR findet sich eine Kurzzu-
Für uns bleibt klar: In der Aufarbeitung darf nicht
sammenfassung:
zwischen Ost und West unterschieden werden. Diese
Novellierung darf als bewusstes Signal der Koalitions- Carola Weber erschrickt bis ins Mark, als sie den
fraktionen, der CDU/CSU und der FDP, verstanden wer- neuen Kollegen ihres Mannes Jochen zum ersten
den, dass es zur Aufarbeitung des Stasiunrechts keine Mal hört – diese Stimme kennt sie aus der
12776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Marco Wanderwitz
(A) schlimmsten Zeit ihres Lebens. Carola ist über- sprache führen. Formal gesehen würden wir in dieser (C)
zeugt, dass Dr. Limberg Arzt im Dienst der Stasi Legislaturperiode noch einmal über die Staatssicherheit
war und sie während ihrer Haftzeit im DDR-Frau- reden, nämlich dann, wenn die nächsten Lesungen anste-
engefängnis Hoheneck misshandelte. Carola kon- hen. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch mehrfach
frontiert den Arzt mit ihrer Erinnerung, doch über das Thema reden werden. Es wird genügend Anlass
Limberg streitet ab. Getrieben von dem Bedürfnis, dafür geben.
ein Bekenntnis des Arztes zu hören, versucht
Carola alles, um Limbergs Identität zu beweisen. Das Thema ist trotz der vielen anderen Themen so
wichtig, weil die Stasi-Unterlagen-Behörde und das
Eine Geschichte aus dem wahren Leben der ehemaligen Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Erfolgsgeschichte sind.
DDR. Wir wissen um die Entstehung und die Diskussionen,
Besonders bedrückend finde ich den Teil, der nach aber auch um die Befürchtungen und die Kritik, die die
der friedlichen Revolution spielt und den es leider so Stasi-Unterlagen-Behörde über die Jahre begleitete.
auch nicht nur einmal gegeben hat. Deswegen möchte Aber als Zwischenresümee können wir ziehen, dass es
ich heute der ARD herzlich für dieses Programm am sich hier um eine Erfolgsgeschichte handelt.
9. November danken, Die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht im Mittel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) punkt, genauso wie die Opferaufklärung, Gewissheit für
diejenigen zu schaffen, die mutig waren, aber auch für
zu dem mehr als nur der Spielfilm gehört. Beispiels- Unschuldige. Wir wollen verstehen, wie dieser Geheim-
weise wird noch eine Dokumentation über Hoheneck ge- dienst funktionierte. Über die Jahre kommt immer mehr
zeigt, und es sollen Diskussionen stattfinden. ans Tageslicht. Die Sicherung von Akten und Beweisen
Erinnerung darf nie zu Ende sein. Denn zum einen ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Eine solche Aufar-
sind die Täter unter uns und viele noch immer uner- beitung hätte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg,
kannt. Zum anderen ist es für zukünftige Generationen nach der Nazidiktatur, geben müssen. Sie hat es nun
wichtig – gerade das ist das Anliegen der Frauen von Ho- nach der SED-Diktatur gegeben. Wenn es nach Ihnen ge-
heneck –, nicht zu vergessen und die richtigen Lehren gangen wäre, meine Damen und Herren von der Linken,
aus den Problemen der Vergangenheit zu ziehen. Die hätten wir eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt,
Opfer fühlen sich häufig – Kollegin Philipp hat das sondern das, was wir in den 50er-Jahren gemacht haben,
schon angesprochen – allein gelassen, unverstanden, wiederholt. Ich finde es richtig, dass wir, das Parlament,
nicht ausreichend rehabilitiert und vor allen Dingen im der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem Stasi-Unterla-
Verhältnis zu den Tätern nicht hinreichend gewürdigt. gen-Gesetz Rückhalt geben.
(B) Das alles ist völlig verständlich. (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der CDU/CSU)
Der politischen Verantwortung, in der sich viele in Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat mithilfe des Stasi-
diesem Haus stehen sehen, kommen wir unter anderem Unterlagen-Gesetzes rechtsstaatlich sehr sauber und für
mit der vorliegenden Novelle nach; auch das hat Beatrix die Opfer nachvollziehbar gut gearbeitet. Die Zahlen der
Philipp schon angesprochen. Roland Jahn steht dieser Opfer, die sich jetzt melden, mehren sich; denn die Be-
Tage in der Kritik. Er hat heute der Leipziger Volkszei- treffenden haben das Erlebte endlich verarbeitet. Zahl-
tung ein, wie ich finde, schönes Interview gegeben. Auf reiche Akten sind noch nicht aufbereitet und nicht wie-
die Frage, warum er aus der Beschäftigung der 47 ehe- derhergestellt. Die Aufdeckung zahlreicher Stasifälle,
maligen Stasimitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Be- die wir immer wieder erleben, geht nicht zuletzt auf das
hörde ein so großes Thema macht, hat er eine beeindru- Wirken der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück.
ckende und einfache Antwort gegeben: „Ich verstehe die
Sicht der Opfer.“ Ich denke, dem ist nichts mehr hinzu- Die furchtbare Geschichtsvergessenheit der Linken
zufügen. spricht für sich. Wenn aber Herr Wiefelspütz von der
SPD, der sein gesamtes Leben und seine politische Kar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) riere auf einem freiheitlichen System aufgebaut hat, den
Stasi-Unterlagen-Chef Jahn, der für genau diese Freiheit
Vizepräsident Eduard Oswald: gekämpft hat und dafür von der Uni geworfen, von sei-
Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. – Jetzt ner Familie getrennt, inhaftiert und unter Zwang ausge-
spricht für die Fraktion der Freien Demokraten unser wiesen wurde, einen Menschenjäger und einen Eiferer
Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick mit Schaum vor dem Mund nennt,
Kurth.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Unglaublich!)
(Beifall bei der FDP)
dann muss ich sagen, dass eine Grenze erreicht ist, die
nicht zu tolerieren ist.
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris
ren! Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, dass wir Gleicke [SPD]: Dennoch sollten wir zur
noch zu so später Stunde über dieses Thema reden. Ich Kenntnis nehmen, dass er sich entschuldigt
finde es wichtig und richtig, dass wir darüber eine Aus- hat!)
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Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(A) Auf die Geschichte der Stasi und auf das DDR-Un- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
recht kann niemand stolz sein. Auf die Aufarbeitung und LINKE
die Bearbeitung der Stasiaktivitäten können wir Deut-
schen alle sehr stolz sein. Mit dem vorliegenden Entwurf Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterla- den OECD-Leitsätzen für multinationale
gen-Gesetzes wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, Unternehmen
dass die Erfolgsgeschichte der Unrechtsaufarbeitung – Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756 –
fortgeführt werden kann.
Berichterstattung:
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk- Abgeordnete Jürgen Klimke
samkeit und für Ihre zahlreiche Teilnahme. Danke Ullrich Meßmer
schön. Serkan Tören
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Annette Groth
Volker Beck (Köln)
Vizepräsident Eduard Oswald: Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen liegen uns
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5894 an die in der Tagesord- Jürgen Klimke (CDU/CSU):
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Ver-
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- braucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem
schlossen. etwas nicht passt, zum Beispiel, wenn einem nicht ge-
fällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: große, meist global agierende Konzerne ihre Waren pro-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke duzieren und verkaufen.
Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die
weiterer Abgeordneter als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in
Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt
in der Enquete-Kommission „Wachstum, geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meis-
Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- tens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken
(B) haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Da- (D)
Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ ran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber
auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbraucher-
– Drucksache 17/5885 – macht einsetzen und Macht auf große Konzerne und
Überweisungsvorschlag: manchmal sogar ganze Länder ausüben – wenn sie sich
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu
Geschäftsordnung protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste
Alle Reden sind, so sagt mir die Verwaltung, zu Pro- und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement
tokoll gegeben worden. Widerspruch dagegen erhebt politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu
sich nicht. Sie sind also damit einverstanden.1) geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden
überdacht und geändert haben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5885 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Ich möchte zwei Beispiele nennen, in der sich die
Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. – Sie westliche Verbrauchermacht durchgesetzt hat. Beispiel
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so Südafrika: in den 80er-Jahren demonstrierten viele em-
beschlossen. pörte Menschen überall auf der Welt gegen das grau-
same Apartheidregime in Südafrika, das Schwarze wie
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Menschen zweiter Klasse behandelt und oft grausam un-
terdrückt hat. In Deutschland riefen vor allem evangeli-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sche Frauenverbände dazu auf, südafrikanische Waren
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
konsequent zu meiden. Mit Erfolg: Viele Verbraucher
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
beteiligten sich an diesem sogenannten Früchteboykott.
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD Viele Waren aus Südafrika blieben bei den Händlern lie-
gen. Bis in die 90er-Jahre flammten die Proteste immer
Die Revision der OECD-Leitsätze für multi- wieder auf. Weltweite Demonstrationen und massive
nationale Unternehmen als Chance für einen Wirtschaftssanktionen brachten Südafrika schließlich an
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen den Rand des Staatsbankrotts.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Beispiel FCKW: Ende der 80er-Jahre machten Wis-
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei- senschaftler als Ursache für das 1985 entdeckte Ozon-
loch sogenannte Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz:
1) Anlage 5 FCKW, aus. Dieses Treibgas wurde vorwiegend in Kühl-
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Jürgen Klimke
(A) schränken und Spraydosen verwendet. Und wieder zeig- gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen- (C)
ten Verbraucher und Aktivisten ihren Einfluss. Sie mie- rechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit die-
den FCKW-haltige Produkte konsequent. Greenpeace- sem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher
Aktivisten in Deutschland besetzten ein Werk von Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervor-
Hoechst, einem der größten FCKW-Produzenten welt- zuheben.
weit. Die Verbraucherproteste hatten Erfolg: Kühl-
schränke durften kein FCKW mehr enthalten, und auch Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder im Ge-
Spraydosen ließen sich bald nur noch „ohne Treibgas“ genteil des öffentlichkeitswirksamen An-den-Pranger-
verkaufen. 1989 wurde die Produktion von FCKW EU- Stellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK gesche-
weit verboten. hen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema
umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei
Jetzt ist es wieder an der Zeit, dass die deutschen Ver- diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben
braucher sich gegen multinationale Konzerne wehren, dürfen, und würde mir wünschen, dass gerade auch die
denn fast monatlich hören wir in den Medien, dass Tex- Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen,
tilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu orga-
der deutschen Textilproduktion, auf die Straße gehen nisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verant-
und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. wortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deut-
schen Mittelstand immer wieder grundsätzlich mora-
Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Lan- lisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegen-
des, in denen auch zahlreiche westliche Firmen, wie zum teil. Dies sollte sich die Opposition endlich mal hinter
Beispiel H & M und Levi Strauss, produzieren lassen, die Ohren schreiben.
protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine
Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unse-
Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Ver- ren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den interna-
sammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar ge- tionalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch
sagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zu-
sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzepta- sammenhang besonders auf die Bemühungen der Ar-
bel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtli- beitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht,
chen Grundsätze unserer westlichen Industriegesell- mit dem Aktionsplan CSR einen neuen Benchmark für
schaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwor- die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen.
tung deutscher und internationaler Unternehmen muss
Ziel der Initiative ist, verstärkt kleine und mittelstän-
sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in
dische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig
(B) unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verant- soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerken- (D)
wortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deut-
nung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregie-
schen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unterneh-
rung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unter-
mensverantwortung positiv auch für die Arbeits-
nehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will.
bedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen
muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter
wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vor-
gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunter- getragen, und damit ist klar, welchen Weg die Bundesre-
nehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die publik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bun-
neue Form des „Social Business“ einen Mehrwert für desregierung und die internationale Gemeinschaft die
jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg be- Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale
reits kräftig eingeschlagen. Ich möchte an dieser Stelle Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in
unter anderem die Otto AG, Puma, hessennatur oder meiner Fraktion, auch in dem gesamten Haus, sehr un-
Adidas nennen. Diese Unternehmen haben bei dem terschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der
CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest Leitlinien, bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Ver-
positiv abgeschnitten. besserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die
Bundesregierung die Überarbeitung der Leitsätze mit
Gerade die Otto AG, ein Unternehmen aus meinem der OECD weiter aufgeschlossen vorantreibt. Es ist zu
Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige
Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das Instrument sind, das die Förderung globaler Unterneh-
Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von mensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich
„Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein
Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangla- Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leit-
desch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich
linien sein – gerade auch was die Vorbildfunktion ge-
akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt.
genüber anderen Partnern betrifft.
Diesen Schritt unternimmt die Otto AG gerade unter Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/
dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“- CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Dis-
Vorhaben in Afrika, Vorhaben, bei denen für Baumwoll- kussionsprozess angesprochen werden müssen:
farmer Know-how-Transfer geleistet wurde, damit sie
zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei de- Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formu-
nen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe lierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in ei-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12779
Jürgen Klimke
(A) nem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu disku- nimmt sich dieser Maxime an. Es ist der moralische An- (C)
tieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares spruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu fol-
Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie gen.
möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Un-
ternehmens ausgeweitet werden können. Ullrich Meßmer (SPD):
Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche 2011 ist ein wichtiges Jahr, was die Verantwortung
Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aus- globaler Unternehmen für soziale, ökologische und vor
sehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich allem menschenrechtliche Fragen anbelangt. Die
halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen, die nicht nach- OECD-Leitsätze, die Erklärung der ILO über multina-
haltig wirtschaften, von staatlichen Förderinstrumenten tionale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der UN
eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Global Compact stecken hierfür den Rahmen ab.
Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Die OECD-Leitsätze gelten in diesem Kontext als
Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundes- das am weitesten reichende Instrument zur Stärkung
ministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich der Unternehmensverantwortung. Die OECD-Leitsätze
von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Arbeits- und
Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit Sozialstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuer-
dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein ehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz.
und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Für die Mitgliedstaaten der OECD sowie für elf weitere
Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will. Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben,
sind diese Vorgaben verbindlich.
Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes Sie müssen über sogenannte Nationale Kontaktstellen
für Geschädigte gegenüber den internationalen Unter- die Leitsätze implementieren, deren Einhaltung überwa-
nehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang chen sowie Beschwerden über mögliche Verstöße gegen
kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungs- die Leitsätze entgegennehmen. Das bedeutet, dass die
politik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Aus- Leitsätze für die weltweite Tätigkeit aller multinationa-
land ins Spiel. len Unternehmen gelten, die in diesen Staaten beheima-
tet sind. Für Unternehmen allerdings sind sie freiwillig,
Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsbera- das heißt, die Leitsätze sind rechtlich nicht bindend. Sie
tung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwick- beziehen sich außerdem nur auf Unternehmen aus den
lungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungs- Unterzeichnerstaaten und erfassen damit eine ganze
(B) verhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals Reihe von international agierenden Unternehmen nicht. (D)
deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine
Handhabe haben, Sozialstandards in den produzieren- Die Leitsätze verfügen außerdem über keinerlei Sank-
den Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssys- tionsmechanismen bei Verstößen gegen die selbst aufer-
teme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es legten Standards seitens der Unternehmen – sieht man
auch nicht gerecht, wenn deutsche und internationale von einer möglichen Rufschädigung für das Unterneh-
Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationa- men einmal ab.
len Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch
in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen, Und bei einem strittigen Verlauf eines Beschwerde-
ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort verfahrens gibt es keinerlei Revisionsmechanismen für
ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten. die Opfer. Dies wirkt sich besonders gravierend bei
Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aus.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ha-
die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht neh- ben darüber hinaus die häufig mangelhafte Umsetzung
men, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger der Leitsätze kritisiert. Daher eröffnet die Überarbei-
und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden tung der OECD-Leitsätze die große Chance, sie zu ei-
die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnor- nem schlagkräftigen Instrument der globalen Unterneh-
men in den Partnerländern nicht ernst genommen, da mensverantwortung – besonders hinsichtlich der
die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffas- menschenrechtlichen Verantwortung – zu machen. Wir
sung, dass wir auch hier einen neuen internationalen begrüßen es als SPD daher außerordentlich, dass die
Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen überarbeiteten Leitsätze ein eigenes Kapitel über Men-
finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir schenrechte haben werden. Wir wünschen uns, dass die
alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverant- Einhaltung der Menschenrechte in diesem Zusammen-
wortung erkennen müssen. Wir müssen internationale hang für Unternehmen gleichsam zur Pflicht erhoben
Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen füh- wird.
ren, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR
erhält. Die Nationalen Kontaktstellen, NKS, die Anlauf-
punkte für Beschwerden gegen Unternehmen, sollen un-
Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lau- seren Vorstellungen nach zu unabhängigen Gremien um-
ten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstan- gestaltet und auf Mindeststandards verpflichtet werden.
dards zwischen importierenden deutschen und interna- Auf diesem Weg sollen gravierende Qualitätsunter-
tionalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung schiede zwischen den NKS verschiedener Nationen ver-

Zu Protokoll gegebene Reden


12780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Ullrich Meßmer
(A) mieden und Beschwerden vor einem neutralen Gremium Die SPD nimmt dies zum Anlass für einen Antrag, der (C)
im Sinne der Opfer behandelt werden. folgende Kernforderungen enthält: Die Leitsätze sollen
im Rahmen der Revision verschärft werden, indem Sank-
In diesem Zusammenhang spielt auch der sogenannte tionsmöglichkeiten für den Fall ihrer Verletzung vorge-
Investment Nexus eine entscheidende Rolle: Beschwer- sehen sind. Für die Nationalen Kontaktstellen, welche in
den vor den NKS können mit dem Hinweis auf einen feh- Deutschland beim BMWi angesiedelt sind, sollen ein-
lenden direkten Investitionsbezug häufig abgewiesen
heitliche Mindeststandards gelten. Der bisherige Gel-
werden. Auf diese Weise werden die Zulieferbetriebe oft
tungsbereich der OECD-Leitsätze soll über den Investi-
von den Leitsätzen nicht erreicht. Wir wünschen den
Wegfall des Investment Nexus, damit die Schutzwirkung tionsbezug hinaus ausgeweitet werden. Ferner soll bei
der Leitsätze für mögliche Opfer von Menschenrechts- Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze geworben
verletzungen insgesamt erhöht wird. Gleichzeitig sind werden.
wir uns aber bewusst, dass eine solche Forderung nur Diesen Forderungen der SPD ist aus Sicht der FDP
praktikabel ist, wenn das jeweilige Unternehmen kon-
wie folgt zu entgegnen: Die christlich-liberale Koalition
krete Einwirkungsmöglichkeiten auf seine Zulieferbezie-
strebt an, die OECD-Leitsätze in erster Linie zu verbrei-
hungen hat. Wir fordern weiter, dass Verstöße gegen die
ten, statt zu vertiefen. Bislang haben sich alle 31 OECD-
Leitsätze für Unternehmen zukünftig Konsequenzen ha-
ben sollen. Denkbar wäre ein zeitweiliger Ausschluss Staaten und 12 weitere Industrienationen zu den OECD-
von Exportgarantien oder die grundsätzliche Koppelung Leitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung in Staaten, die
der Leitsätze (und ihrer Einhaltung) an die Vergabe einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche
staatlicher Kredite, Bürgschaften und anderer staatli- etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger
cher Unterstützungsmaßnahmen für Auslandsinvestitio- Schritt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang
nen. China und Indien. Eine Vertiefung bzw. Verschärfung
der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken und
Verbessert werden sollten darüber hinaus die Offen- darüber hinaus Unternehmen aus Staaten, die den
legungspflichten für multinationale Unternehmen. Hier OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnach-
sollten die Leitsätze zukünftig eine länderbezogene teile verschaffen. Sanktionsmöglichkeiten stellen eine
Rechnungslegungspflicht fordern, damit problematische deutliche Verschärfung der OECD-Leitsätze dar, die für
Transaktionen – zum Beispiel über Steueroasen – sicht- das Ziel kontraproduktiv sind, ihre Akzeptanz zu erhö-
bar werden. hen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermu-
Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, tigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze sind
sich dafür einzusetzen, dass Staaten, die nicht Mitglied die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung
(B)
der OECD sind, sich den Leitsätzen für multinationale der Nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler (D)
Unternehmen anschließen, das Menschenrechtskapitel Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung
auch den Stand der internationalen Diskussion wider- der SPD hinfällig. Die christlich-liberale Koalition
spiegelt, die Lieferkette so weit wie möglich in den Gel- strebt in den derzeitigen Revisionsverhandlungen an,
tungsbereich der Leitsätze integriert wird, die Kern- den Investmentnexus beizubehalten. Das heißt, Be-
arbeitsnormen der ILO eingehalten werden, die Arbeit schwerden können nur dann zugelassen werden, wenn
der NKS unabhängig und auf einheitliche Mindeststan- ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Dies ist
dards verpflichtet wird, eine juristische Berufungsin- vor dem Hintergrund des Ziels, eine Verbreitung der
stanz und ein Sanktionsmechanismus für die Leitsätze OECD-Leitsätze anzustreben, auch nur logisch und da-
geschaffen werden, länderbezogene Rechnungspflichten her sachgerecht. Die Forderung der SPD nach dem Wer-
in den Leitsätzen verankert und die Akzeptanz und die ben bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze
Bekanntheit der Leitsätze erhöht werden. Dann können widerspricht den zentralen Forderungen des SPD-An-
die Leitsätze tatsächlich ihre Schutzfunktion für die trags nach einer Verschärfung der OECD-Leitsätze und
Menschenrechte in global tätigen Unternehmen voll ent- ist daher nicht schlüssig. Der Antrag der SPD wird da-
falten. her von der FDP abgelehnt.
Vollkommen abstrus sind zum Teil die Forderungen
Serkan Tören (FDP):
der Linken in ihrem Antrag. So fordert die Linke unter
In der heutigen abschließenden Beratung der Be- anderem, dass in der EU ansässige Unternehmen
schlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten An- „wahrheitsgemäße Informationen über die Auswirkun-
trag der Fraktion der SPD und den Antrag der Fraktion gen ihrer aktuellen und geplanten Geschäftstätigkeit auf
Die Linke. Aus Sicht der FDP sind die Anträge weder Menschen und Umwelt veröffentlichen sollen“; Forde-
substanziiert noch bieten sie inhaltlich etwas Neues.
rung 7. Aus Sicht der FDP ist dies vehement zurückzu-
Worum geht es genau? Es wurden die OECD-Leit- weisen. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von In-
sätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines formationen ist vielleicht in einer Planwirtschaft
Revisionsverfahrens überprüft. Bei diesen Leitlinien realisierbar. Unter den Bedingungen eines globalen
handelt es sich um den weltweit einzigen multilateralen Wettbewerbs ist dies jedoch völlig weltfremd, insbeson-
und umfassend anerkannten Kodex zur Förderung glo- dere wenn über geplante Geschäftsaktivitäten Auskünfte
baler Unternehmensverantwortung. Der Abschluss des offengelegt werden müssen. Im Lichte dieser Ausführun-
Verfahrens ist für Mitte 2011 geplant. gen ist der Antrag der Linken abzulehnen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12781

(A) Annette Groth (DIE LINKE): dafür ist eine deutlich bessere personelle Ausstattung (C)
Mit der Debatte über die OECD-Leitsätze für multi- der Nationalen Kontaktstellen. Bisher stehen riesige Ab-
nationale Unternehmen greift der Deutsche Bundestag teilungen und Anwaltskanzleien von Großkonzernen ein-
endlich die Forderungen vieler entwicklungspolitischer zelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kon-
Organisationen nach Überarbeitung der seit 1976 gel- taktstellen gegenüber. Wir wollen die Chancengleichheit
tenden Leitsätze auf. Schon 1976 haben die entwick- zwischen Kontaktstellen und transnationalen Konzernen
lungspolitischen Organisationen darauf hingewiesen, verbessern.
dass durch die fehlende Verbindlichkeit der Leitsätze die
Gefahr besteht, dass es zu keiner substanziellen Verän- Bislang ist die deutsche NKS im Bundeswirtschafts-
derung der Arbeit der multinationalen Unternehmen ministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen
kommen wird. Diese Befürchtungen der entwicklungs- angesiedelt. Dies halten wir für eine unabhängige Über-
politischen NGOs haben sich leider bestätigt. Die Frak- prüfung von transnationalen Unternehmen für nicht an-
tion Die Linke unterstützt die Aussage des UN-Sonder- gebracht. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig
beauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte, John organisiert werden. Wir wollen erreichen, dass die Na-
Ruggie, der in seinem Abschlussbericht von einer „Re- tionalen Kontaktstellen paritätisch zwischen Vertrete-
gelungslücke“ bezüglich internationaler Unternehmen rinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften,
spricht. Organisationen wie Germanwatch weisen zu Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen be-
Recht darauf hin, dass „die Umsetzung der OECD-Leit- setzt werden. Nur wenn es gelingt, unabhängige Vertre-
sätze in Deutschland, insbesondere bei der Bearbeitung terinnen und Vertreter von Gewerkschaften und NGOs
von Beschwerdefällen, enorm verbesserungsbedürftig als gleichberechtigte Mitglieder in die nationalen Kon-
ist“. taktstellen zu integrieren, ist eine bessere, von Regie-
rungsinteressen unabhängigere Kontrolle der trans-
So haben in Deutschland Nichtregierungsorganisa- nationalen Unternehmen durchsetzbar.
tionen und Gewerkschaften seit der Revision der Leitli-
nien im Jahr 2000 bislang elf Beschwerden eingereicht. Notwendig ist auch die Durchsetzung der Forderung,
Von diesen Beschwerden waren Firmen wie Adidas, dass multinationale Unternehmen für die Verstöße ihrer
Bayer, Continental, Ratiopharm sowie Siemens und Subunternehmen und Zulieferer haften müssen. Alle
Daimler-Chrysler betroffen. Von der deutschen Kontakt- selbständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe
stelle, NKS, wurden von diesen elf vorgetragenen Fällen müssen in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und
lediglich drei Beschwerden angenommen. Diese restrik- die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüber-
tive Arbeit der deutschen Kontaktstelle zeigt eine nicht schreitende Investitionstätigkeiten, auf alle Investitio-
akzeptable und äußerst restriktive Interpretation der nen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unter-
(B) OECD-Leitsätze durch die deutsche Nationale Kontakt- nehmen erweitert werden. (D)
stelle. Für die Fraktion Die Linke ist deutlich, dass die Die Leitsätze werden erst dann eine größere Wirk-
OECD-Leitsätze nur dann zu einem wirksamen Instru- samkeit erzielen, wenn Betroffene die Möglichkeit erhal-
ment gegen unternehmerisches Fehlverhalten weiterent- ten, bei Zuwiderhandlungen von Unternehmen ihre For-
wickelt werden können, wenn sie verbindlich festge- derungen individuell vor den jeweiligen nationalen
schrieben werden und klare Anforderungen an nationale Gerichten einzuklagen. Dies setzt voraus, dass alle Bür-
Kontaktstellen enthalten. Zurzeit müssen wir feststellen, gerinnen und Bürgern einen ungehinderten und kosten-
dass selbst bei schwerem unternehmerischem Fehlver- freien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhal-
halten durch transnationale Konzerne eine konkrete Ver- ten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger
urteilung dieses Verhaltens durch die Nationalen Kon- sind. Die Linke möchte die Chance nutzen, mit der Revi-
taktstellen häufig nicht stattfindet. sion der OECD-Leitsätze einen wirklich qualitativen
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegen-
unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeits- über multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Bis-
und Sozialstandards verbunden werden muss. Wir wol- her sieht es jedoch so aus, dass sich die Bundesregie-
len erreichen, dass durch solche verbindlichen Anforde- rung einem solchen qualitativen Schritt verweigert.
rungen an Umweltschutz- und Verbraucherschutzkrite-
rien alle Betroffenen gegen unternehmerisches Handeln Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
vorgehen können, wenn die vorgeschriebenen Standards
nicht eingehalten werden. Auch wollen wir erreichen, Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Fürth habe ich
dass menschenrechtliche Forderungen als einklagbarer seit geraumer Zeit viel mit einem deutschen Vorzeige-
Bestandteil unternehmerischen Handelns beachtet wer- unternehmen zu tun. Adidas – ein Global Player im
den müssen und alle Unternehmen, die gegen menschen- Sportartikelbereich, der laut Selbstaussage auch in den
rechtliche Standards verstoßen, mit konkreten Sanktio- Bereichen Umwelt und Soziales richtungsweisend sein
nen rechnen müssen. Hierfür wollen wir die OECD- möchte, „um das Leben der Menschen zu verbessern“.
Leitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Einhaltung „Adidas is all in“ – so der Slogan des Unternehmens.
von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen Auch die Arbeitsstandards und die Bezahlung? Man
weiterentwickeln. muss ja nicht gleich davon ausgehen, dass man es bei ei-
ner internationalen Aktiengesellschaft mit einer karitati-
Nur unser Antrag fordert, dass hierfür eine funda- ven Einrichtung zu tun hat. Erschreckend ist jedoch, wie
mentale Veränderung der bisherigen Rechte von Betrof- weit im Falle Adidas die Selbsteinschätzung von der
fenen notwendig ist. Eine grundlegende Voraussetzung Wirklichkeit entfernt liegt. Gerade einmal 72 Cent Stun-

Zu Protokoll gegebene Reden


12782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Uwe Kekeritz
(A) denlohn verdienen die Näherinnen und Näher in der Fa- gument verstecken, dass es unmöglich sei, die gesamte (C)
brik „Ocean Sky“, einer Adidas-Zulieferfabrik in El Sal- Produktionskette zu überwachen. Gerade multinationale
vador. Selbst mit Prämien kommen die Arbeiterinnen Konzerne verweisen auf die schier endlosen Netzwerke
und Arbeiter nicht über 175 Euro im Monat. Und das bei aus Tochter- und Zulieferfirmen, sodass die Leitlinien
einem Unternehmen, das seinen Umsatz im ersten Quar- sich bis dato nur auf einen recht eng gefassten Investi-
tal 2011 um über 22 Prozent auf 3,27 Milliarden Euro tionsbezug, Investment Nexus, anwenden lassen. Dies ist
steigern konnte. Hier geht es nicht mehr um Betriebs- praktisch ein Freifahrschein für all jene, die jenseits al-
wirtschaft! Das ist menschenunwürdig! ler ethischen Bedenken menschenunwürdige Beschäfti-
gungsverhältnisse in aller Welt schaffen.
Aber das Problem geht weit darüber hinaus, dass ein
Unternehmen den eigenen Standards nicht gerecht wird. Ein Aspekt ist mir zum Abschluss noch besonders
Das Problem ist ein strukturelles. Seit 1976 gelten in wichtig. Wir, die Politik und die öffentliche Verwaltung,
Deutschland und in allen anderen 30 OECD-Mitglied- stehen auch ganz direkt in der Pflicht. Der Bund, die
staaten die sogenannten Leitsätze für multinationale Un- Länder und Kommunen kaufen jedes Jahr Waren für
ternehmen. Allerdings zeigen diese bislang kaum Wir- viele Milliarden Euro ein. Allein die deutschen Kommu-
kung. Sie sind in keiner Form bindend, sondern basieren nen kommen jedes Jahr auf Beträge zwischen 250 und
auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der jeweiligen 300 Milliarden Euro. Hier müssen wir sofort agieren.
Konzerne. Es gibt weder die Möglichkeit, die Einhaltung Bei Unternehmen, die die OECD-Leitsätze nicht beach-
der Regeln durchzusetzen, noch die, Fehlverhalten mit ten, darf die öffentliche Hand nicht einkaufen! Faire Be-
Sanktionen zu bestrafen. Ganz offensichtlich reicht es zahlung und menschenwürdige Arbeitsplätze sind Men-
nicht, sich auf den guten Willen und das moralische Ver- schenrechte.
antwortungsbewusstsein der Unternehmer zu verlassen
oder lediglich mit der Veröffentlichung von Fehlverhal- Vizepräsident Eduard Oswald:
ten zu drohen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
Wir freuen uns, dass die OECD-Leitsätze seit der ge- empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
rade abgeschlossenen Überarbeitung ein eigenes Men- Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/5756. Der Aus-
schenrechtskapitel erhalten haben. Das ist aber kein schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
Grund zum Ausruhen. Jetzt beginnt die Arbeit erst! empfehlung, den Antrag der Fraktion der Sozialdemo-
kraten auf Drucksache 17/4668 abzulehnen. Wer stimmt
In der Vergangenheit wurde deutlich, dass, selbst für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali-
wenn Menschenrechtsverstöße ans Licht kamen, keiner- tionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialde-
lei Maßnahmen ergriffen wurden. Eigentlich war die so- mokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfrak-
(B) genannte Nationale Kontaktstelle, NKS, eingerichtet tion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung (D)
worden, bei der Missachtungen der Leitsätze gemeldet ist somit angenommen.1)
werden können. Allerdings stellte sich die NKS als äu-
ßerst nachsichtiges, um nicht zu sagen, den Leitsätzen Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
gegenüber gleichgültiges Organ heraus, das über Jahre lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
hinweg einen Großteil der Beschwerden lapidar zurück- sache 17/4669. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
wies. Das jüngste Beispiel stammt vom Ende des letzten lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Jahres, als verschiedene NGOs Beschwerde gegen das Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Linksfraktion. Ent-
Unternehmen Otto Stadtlander GmbH einreichten, da haltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschluss-
dieses Baumwolle aus Usbekistan bezog, die von Kin- empfehlung ist angenommen.
dern geerntet wurde. Die Reaktion der NKS war nichts-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
sagend. Ich möchte an die Adresse die Bundesregierung
sagen: Wir beobachten diese Vorgänge, und Sie können Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sicher sein, wir lassen hier nichts einfach unter den richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Tisch fallen! Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck
Die Kontaktstelle muss grundlegend reformiert wer-
(Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter
den. Sie ist alles andere als unabhängig. Während an-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dere Länder, wie beispielsweise die Niederlande, ihre
Kontaktstelle mit Experten aus unterschiedlichen Fach- Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli-
bereichen besetzen, ist das deutsche Pendant im Wirt- che stärken
schaftsministerium angesiedelt, und dort zu allem Über-
fluss auch noch im selben Referat, das für die – Drucksachen 17/4546, 17/4954 –
Außenwirtschaftsförderung zuständig ist. Das ist eine Berichterstattung:
unsägliche Konstruktion und programmiert Interessen- Abgeordnete Dr. Peter Tauber
konflikte vor, die bisher zum Nachteil der Beschwerde- Christel Humme
führer gelöst wurden. Diese Konstruktion zeigt auch, Florian Bernschneider
dass ein ernsthafter Wille, bei Beschwerden zu einer fai- Jörn Wunderlich
ren Lösung zu kommen, nicht vorhanden ist. Kai Gehring
Eine weitere Schwachstelle der Leitlinien besteht da-
rin, dass sich Unternehmen regelmäßig hinter dem Ar- 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12783
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die kannten homophoben Ausdrücke bedienen, einmal fra- (C)
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kollegin- gen, ob sie sich denn bewusst sind, was sie eigentlich
nen und Kollegen liegen mir vor. von sich geben. Es ist nämlich mehr als zweifelhaft, dass
dies der Fall ist. Es bringt meiner Meinung nach mehr,
im täglichen Umgang – jeder an seiner Stelle – deutliche
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Grenzen aufzuzeigen, wenn Homophobie zutage tritt,
Es ist nun das zweite Mal, dass wir uns in diesem anstatt auf abstrakter Ebene in Aktionismus zu verfallen.
Hause mit der Lebenssituation schwuler, lesbischer und Und vor allen Dingen muss in der Schule über die The-
transsexueller Jugendlicher beschäftigen. Ich darf mich men Homosexualität und Transsexualität gesprochen
zunächst einmal für die sachliche Atmosphäre bedan- werden. Auch würde es uns weiterbringen, wenn bei den
ken, in der wir in der zurückliegenden Ausschusssitzung Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes Bewusst-
über das Thema diskutieren konnten. Ich denke, dieser sein geweckt werden könnte, um noch immer bestehende
Stil ist dem Thema angemessen. Einig waren wir uns, Argumentationsmuster, die darauf basieren, dass der ho-
dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche mosexuelle Lebensstil ein Affront gegen die Gesellschaft
Klima homosexuellen und transsexuellen Menschen ge- ist, zu erkennen und in der Diskussion offen zu entlar-
genüber positiv gewandelt hat. Viele Prominente aus ven. Machen wir uns dabei nichts vor: Eine Gesell-
den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen be- schaft, in der die Diskriminierung von Homosexuellen
kennen sich heute offen zu ihrer Homosexualität. Die und Transsexuellen vollständig der Vergangenheit ange-
Sorgen und Nöte von Schwulen und Lesben finden Be- hört, ist ein Generationenwerk. Dass es sich lohnt, wei-
achtung und sind Gegenstand des öffentlichen Diskurses terzumachen, zeigt die Entwicklung in den zurückliegen-
und alltäglicher Betrachtungen. Mit großer Überein- den Jahren.
stimmung haben die Sprecherinnen und Sprecher aller
Fraktionen den Wandel nachgezeichnet, den die Bundes- Ich bin der Bundesregierung in diesem Zusammen-
republik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, wo- hang sehr dankbar dafür, dass dieser Bereich nach wie
durch sie Diskriminierungen schrittweise abbauen vor umfassend gefördert wird und trotz aller notwendi-
konnte. gen Sparbemühungen keine Kürzungen bei der Förde-
rung stattgefunden haben. Die Hoffnung auf eine weit-
Auch die christlich-liberale Regierung ist seit dem gehend tolerante und von gegenseitigem Respekt
Regierungsantritt diesen Weg konsequent weitergegan- geprägte Gesellschaft werden wir nur dann umsetzen
gen und hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um können, wenn wir jungen Menschen schon frühzeitig da-
die Gleichstellung von schwulen, lesbischen und trans- bei helfen, tradierte Argumentationsmuster zu entlarven
sexuellen Menschen zu verbessern. Ich möchte dies im und ein Problembewusstsein für Diskriminierungen zu
(B) Einzelnen nicht noch einmal wiederholen; die Bilanz un- schaffen. (D)
serer Regierung lässt sich dem Plenarprotokoll zur vo-
rausgegangenen Debatte entnehmen. Einer der größten Problemkreise ist aus meiner Sicht
nach wie vor der Bereich der muslimischen Jugend-
Es erscheint mir vielmehr geboten, zwei aus meiner lichen. Homophobe Einstellung gehören hier vielfach
Sicht zentrale Aspekte an dieser Stelle noch einmal auf- zur Normalität. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zugreifen. Wer trotz aller getroffenen Maßnahmen und deutet dies ja ganz vorsichtig an. Diese Vorsicht finde
des beschriebenen Wandels Diskriminierung erfährt, ich nicht angebracht. Den Betroffenen hilft es eher, die
der wird durchaus zu Recht sagen, dass ihm die bisheri- mitunter nach wie vor krassen Einstellungen auch deut-
gen Schritte nicht reichen. Ob Sticheleien, böse Worte lich zu benennen und anzuprangern. Gibt es bei vielen
und verächtliche Kommentare gegenüber homosexuel- Menschen mittlerweile wenigstens das Bewusstsein,
len Menschen je ganz aus unserer Gesellschaft ver- Vorurteile für sich zu behalten, weil die Gesellschaft sie
schwinden werden, bleibt abzuwarten, ja ist vielleicht nicht mehr toleriert, ist es bei dieser Gruppe nicht selten
sogar fraglich. Entscheidend ist etwas anderes: Ent- noch ein Zeichen von „Stärke“, „hart und brutal“ gegen
scheidend ist, dass die Gesellschaft dies nicht mehr ak- Homosexuelle aufzutreten und vorzugehen. Dies darf
zeptiert. Was diese grundsätzliche Akzeptanz und Aner- unsere Gesellschaft auf keinen Fall hinnehmen; das sind
kennung betrifft, sind wir – so meine ich – einen großen wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
Schritt vorangekommen in den letzten Jahren. Ich per- Das, was in anderen Ländern der Welt nach wie vor
sönlich bin auch der Meinung, dass sich Toleranz und noch immer möglich ist, darf in Deutschland nicht pas-
Respekt nicht verordnen lassen. Sie muss bewusst gelebt sieren. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Poli-
werden – von jedem Einzelnen. Dabei helfen selten Ge- tik.
setze, sondern eher Vorbilder.
Die christlich-liberale Regierung ist sich dieser Ver-
Nicht selten wird Politikern in der Jugendpolitik vor- antwortung sehr bewusst. Daran gibt es keinen Zweifel.
geworfen, sie machen es sich gerne allzu leicht, indem
sie die Verantwortung für die gesellschaftliche Imple- Ich habe bereits im Rahmen der zurückliegenden De-
mentierung von Verhaltensweisen auf die Schulen ab- batte ausführlich Stellung dazu genommen, weshalb wir
wälzen. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Richtig dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
ist aber auch: Ohne die tatkräftige Unterstützung, ohne nicht zustimmen werden. Ich möchte mich bei der Be-
die Courage jedes einzelnen Lehrers und jeder einzelnen gründung nicht wiederholen, zumal sich an dem Antrags-
Lehrerin sind alle Bemühungen der Politik wertlos. Viel- text seit der letzten Befassung nichts geändert hat. Auch
mehr sollte man all jene, die sich allzu leicht der be- bleibt unsere grundsätzliche Kritik an der Aussage der

Zu Protokoll gegebene Reden


12784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Dr. Peter Tauber


(A) Grünen in dem Antrag, dass die Bundesregierung mit Wer das mitbekommt – im privaten Kreis, im Beruf, in (C)
Ignoranz und Desinteresse homosexuellen Jugendlichen der Politik, wo auch immer – muss dem entgegentreten.
gegenüberstehe. Den Nachweis für diese vermessene Das muss nicht immer mit Drama sein; aber einfach sa-
Aussage sind Sie bislang schuldig geblieben. Es wird Ih- gen oder zeigen, dass man das nicht mag, dass das nicht
nen auch nicht gelingen, denn sie hat mit der Realität witzig, nicht cool ist, das muss schon sein. Wo es zu sol-
einfach nichts zu tun. Auch wäre es dringend nötig ge- chen Äußerungen oder Kommentaren kommt, kann man
wesen, in Ihrem Antrag bei der Frage der Kulturhoheit als Erwachsener damit zumeist umgehen. Aber für Ju-
der Länder nachzubessern. Viele der in dem Antrag ge- gendliche, die mitten in der Phase der Selbstfindung ste-
machten Forderungen fallen schlichtweg nicht in die Zu- cken und solche Äußerungen plötzlich auf sich beziehen,
ständigkeit des Bundes. Hier wäre etwas mehr Sorgfalt die mit Beleidigungen und Mobbing konfrontiert wer-
nötig gewesen. den, stellt das eine extreme Belastung dar. Wir sehen mit
großer Sorge die hohen Selbstmordraten bei Jugend-
Auch wenn wir uns auf dem Weg zu einer diskriminie- lichen, die eine homosexuelle Orientierung bei sich fest-
rungsfreien Gesellschaft nicht in der Frage des „Wie“ in
stellen. Es ist bedrückend, dass sie offenbar allein aus
allen Details einig sein mögen, denke ich jedoch, dass es
diesem Grund eine solch extreme Belastung empfinden,
großer Konsens der demokratischen Fraktionen dieses
dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Freitod.
Hauses ist, so schnell wie möglich dahin zu kommen, im
Es ist bedrückend, dass es die Gesellschaft dann nicht
zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang
geschafft hat, die unbedingte Wertschätzung jedes Men-
unterschiedliche Lebensentwürfe anerkannter zu ma-
schen in seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck zu brin-
chen. Dies ist eine erfreuliche Übereinstimmung, zu der
gen, auf die ein jeder einen Anspruch hat. Jeder junge
es in einer freien und demokratischen Gesellschaft keine
Mensch, der sich in dieser Phase der Selbstfindung be-
Alternative gibt.
findet und Hilfe braucht, muss hier Unterstützung fin-
den. Das ist ein gemeinsames Anliegen, das ja auch dem
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Antrag zugrunde liegt, den wir heute debattieren. In vie-
Es ist ein wichtiges Anliegen, gegen Benachteiligung len Punkten beschreibt der Antrag zu Recht die schwie-
und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung rige Lage von Jugendlichen in dieser Situation.
anzugehen. Hier sehe ich einen breiten Konsens im Hin-
blick auf den Grundtenor des Antrags, den wir heute de- In einem hat der Antrag jedoch nicht recht, und schon
battieren. In der Unionsfraktion stehen wir darüber in deshalb kann dem auch nicht zugestimmt werden: Die
einem guten, konstruktiven Gedankenaustausch mit dem Bundesregierung zeigt keineswegs Ignoranz und Des-
Verband LSU, Lesben und Schwule in der Union. interesse, wie dort formuliert ist. Mit der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und
(B) Ich nutze gerne die Gelegenheit, LSU und vor allem schwule Jugendliche“, Drucksache 17/2588, hat sie eine (D)
dem Bundesvorsitzenden Alexander Vogt dafür zu dan- ausführliche Bestandsaufnahme vorgelegt, die aufzeigt,
ken, dass sie als fester Bestandteil der schwul-lesbi- dass in diesem Bereich bereits umfangreich gefördert
schen Community dazu beitragen, dass in der Union die und unterstützt wird. Die Bundesregierung unterstützt
Anliegen und die Sichtweise von homosexuellen oder über das Förderinstrument Kinder- und Jugendplan des
transsexuellen Menschen authentisch eingebracht und Bundes, aber auch über den gemeinsamen Haushalts-
geschildert werden können, und – genauso wichtig – titel der Abteilungen Familie, Chancengleichheit und
dass sie auch in der anderen Richtung dem einen oder Ältere Menschen eine Vielzahl von Projekten und Initia-
anderen Vorurteil gegenüber der Haltung der Union ent- tiven zugunsten schwuler, lesbischer und transsexueller
gegentreten. Jugendlicher, angefangen bei Konferenzen, Handrei-
Schwul bzw. lesbisch und konservativ? Das muss kein chungen und Fortbildungen bis hin zur Verbandsförde-
Gegensatz sein. Ich weiß, dass das nicht immer ganz ein- rung des Jugendnetzwerk Lambda e. V., dem lesbisch-
fach ist, wenn sich LSU-Mitlieder zum Beispiel auf dem schwulen Jugendverband in Deutschland.
CSD mit eigenem Stand als CDU-Mitglied outen. Aber Die Arbeit der Verbände trägt aus meiner Sicht be-
das ist gut so! sonders dazu bei, die Benachteiligung von gleichge-
Ich möchte an den Anfang stellen, dass wir eine Ge- schlechtlichen Jugendlichen abzubauen und ein Klima
sellschaft wollen, in der jeder Mensch in seiner indivi- von gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu schaf-
duellen Einzigartigkeit mit gleicher und unbedingter fen. Lambda e. V. erhält bereits seit 1990 regelmäßig aus
Wertschätzung angenommen wird – mit gerade den Fä- Mitteln des Kinder- und Jugendplans Fördermittel, die
higkeiten, den Defiziten, den Anlagen und eben auch mit für das Jahr 2011 sogar aufgestockt wurden.
der sexuellen Orientierung, die ihm mitgegeben worden
ist. Wir wollen ein Klima, in dem Menschen unterschied- Auch im Bereich der sportlichen Bildung haben Akti-
licher sexueller Orientierung unbefangen miteinander vitäten zugunsten von lesbischen, schwulen und trans-
umgehen und dass dieses Thema dabei nicht alle ande- sexuellen Jugendlichen bereits heute einen hohen Stel-
ren Themen überlagert. lenwert. So sind Veranstaltungen gegen Homophobie im
Fußballsport regelmäßiger Bestandteil des Programms
Ich weiß auch, dass das noch nicht erreicht ist. Es der vom Bundesfamilienministerium und dem Deutschen
gibt immer wieder gelegentlich ein unpassendes und är- Fußballbund geförderten Koordinationsstelle „Fanpro-
gerliches Schenkelklopfen, überflüssige Anspielungen, jekte“. Auch in den anderen Jugendbildungssparten fin-
blöde Witze. Das dürfen wir nicht durchgehen lassen. det sich vergleichbares Engagement.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12785
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) In den Medien der Bundeszentrale für gesundheit- und Lesben gehe es heute schließlich so gut wie nie. (C)
liche Aufklärung zur Sexualaufklärung und Familien- Schauen wir uns die Situation einmal an:
planung sind interessierende Themen wie sexuelle
Orientierung, Coming- out usw. bereits heute angemes- Der unsägliche § 175, der so viel Leid und Ungerech-
sen berücksichtigt und finden selbstverständliche Be- tigkeit über homosexuelle Männer brachte, ist aus dem
rücksichtigung sowohl bei den Jugendlichen als auch Strafgesetzbuch getilgt. Die Weltgesundheitsorganisa-
bei den Eltern. In allen Aufklärungsangeboten, vor al- tion WHO hat Homosexualität aus ihrem Katalog psy-
lem in ihren Broschüren, verfolgt die BZgA einen den chischer Krankheiten entfernt. In Deutschland hat die
Selbstwert stärkenden Ansatz und wendet sich ausdrück- rot-grüne Bundesregierung mit der eingetragenen Le-
lich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Zur Prä- benspartnerschaft schwulen und lesbischen Paaren die
vention von Suizidversuchen und Suiziden fördert das Möglichkeit geschaffen, ihrer Beziehung einen rechtli-
Bundesgesundheitsministerium Initiativen des Nationa- chen Rahmen zu geben.
len Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, ver-
NASPRO, bei dem sich eine Arbeitsgruppe speziell mit bietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung aufgrund
der Thematik Suizidprävention bei Kindern und Jugend- der sexuellen Identität. Daher stimme ich der Einschät-
lichen befasst. zung der Regierungsfraktionen in diesem einen Punkt
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das durchaus zu: Die rechtliche Gleichstellung und der
Thema Homosexualität gerade in jüngster Zeit umfang- Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und
reich sowohl aus zeitgeschichtlicher als auch aus sozial- Transsexuelle – gleich welchen Alters – war noch nie so
und politikwissenschaftlicher Perspektive gewürdigt. weit gediehen wie jetzt.

Besonders schwierig ist sicher die Situation für He- Obwohl noch einige wichtige Schritte zur völligen
ranwachsende mit muslimischem Migrationshinter- Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe
grund. Gerade hier sind homosexuellenfeindliche Ein- fehlen – ich nenne hier nur die Beispiele Adoption und
stellungen wesentlich stärker verbreitet als in der Steuerrecht –, können wir dank einer guten rot-grünen
deutschen Vergleichsgruppe. Zu diesem Ergebnis kam Antidiskriminierungspolitik feststellen: Es hat sich sehr
die vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie viel zum Positiven gewandelt!
„Lebenssituationen von Lesben und Schwulen mit Mi- Aber dies reicht nicht. Denn die tatsächliche Lebens-
grationshintergrund in Deutschland“ im Auftrag des situation von gesellschaftlichen Minderheiten lässt sich
Lesben- und Schwulenverbandes, LSVD. Die Studie nicht nur mit Blick auf bestehende Gesetze oder Statisti-
zeigt, dass sich viele Lesben und Schwule mit Migra- ken alleine bestimmen. Was wir brauchen, ist eine breit
tionshintergrund in Deutschland zwar gut integriert füh- angelegte Studie, die uns ein realistisches Bild der Le- (D)
(B)
len und das gesellschaftliche Klima gegenüber Homo- benswirklichkeit von schwulen, lesbischen und transse-
sexuellen hier als positiver als in ihren Herkunftsländern xuellen Jugendliche vermittelt. Wie der Presse aktuell zu
erleben. Innerhalb ihrer Familien und Migrationscom- entnehmen war, hat sich der Kollege Jens Spahn von der
munities allerdings erfahren sie mehr Diskriminierung CDU an seine Parteifreundin Kristina Schröder ge-
und verzichten deshalb oft auf ein offenes homosexuelles wandt und sie als zuständige Ministerin an das Thema
Leben. Homosexuelle ohne Migrationshintergrund hat- erinnert. Nun soll offenbar eine Machbarkeitsstudie klä-
ten der Studie zufolge ein positiveres Selbstbild und eine ren, ob eine bundesweite Untersuchung durchgeführt
höhere Lebenszufriedenheit und mehr soziale Unterstüt- werden soll. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, und
zung. An dieser Stelle müssen auch Verbände wie zum ich denke, eine Bundesregierung, die sich im Koalitions-
Beispiel der Zentralrat der Muslime in Deutschland mit- vertrag auf die Fahnen geschrieben hat, für Chancen-
helfen, indem sie auch einen Beitrag zur Aufklärung ge- gerechtigkeit für alle – unabhängig von der individuel-
gen Homosexuellenfeindlichkeit leisten. len sexuellen Orientierung – zu sorgen, sollte ebenfalls
Über die Anregung, interkulturelle Angebote für ho- ein besonderes Interesse daran haben!
mosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund in Denn eines ist klar: Rechtliche Gleichstellung und
den Nationalen Aktionsplan aufzunehmen, werden wir wirksamer Antidiskriminierungsschutz ist das eine, ge-
sicher diskutieren. Die verschiedenen Angebote und Bei- lebte und erlebte Toleranz und Gleichberechtigung im
träge haben bisher auf vielfältige Weise mitgeholfen, Alltag das andere! Und dennoch: Gesetzliche Regelun-
dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positi- gen sind unverzichtbar und wichtig. Denn sie setzen den
ven gewendet hat, wie der Antrag ja auch feststellt. Auf Rahmen, damit eine Kultur der Akzeptanz und des Re-
diesem Weg muss es weitergehen. spekts von Minderheiten weiter reift und gestärkt wird.

Christel Humme (SPD): Daher bedaure ich es sehr, dass Union und FDP die
Im Januar haben wir bereits im Plenum über den vor- Chance ausgeschlagen haben, sich einem breiten Bünd-
liegenden Antrag der Grünen „Schwule, lesbische und nis zur Ergänzung des Art. 3 unseres Grundgesetzes an-
transsexuelle Jugendliche stärken“ debattiert. zuschließen, um über alle Parteigrenzen hinweg zu zei-
gen, dass Lesben und Schwule ausdrücklich in den
Im zuständigen Familienausschuss wurde deutlich, Diskriminierungsschutz unserer Verfassung aufgenom-
dass die Vertreter der christlich-liberalen Koalition men werden sollten. Das wäre gerade im Hinblick auf
auch bei diesem Thema meinen, die Hände nun in den die Lebenssituation der jungen Menschen, über die wir
Schoß legen zu können, und darauf verweisen, Schwulen heute diskutieren, ein wichtiges Signal!

Zu Protokoll gegebene Reden


12786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Christel Humme
(A) In der Frage, wie wir lesbische, schwule oder trans- ist ein wichtiges Anliegen und verdient unsere volle Un- (C)
sexuelle Jugendliche stärken können, darf es kein terstützung.
Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern ge-
Insbesondere fordert Bündnis 90/Die Grünen eine
ben. Gerade beim zentralen Bereich Schule und Bildung
umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugend-
können wir als Bundespolitiker vorrangig an die Länder
arbeit. Hier sind die Gelder, die für schwule und lesbi-
appellieren, sich des Themas der sexuellen Vielfalt
sche Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgege-
couragierter anzunehmen, als das heute teilweise noch
ben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und
der Fall ist.
Jugendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro,
Denn noch allzu oft kommt es in der Schule zu Be- die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgege-
schimpfungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen ben hat. Ganze 186 Millionen Euro gibt die Bundes-
und Jungen werden gemobbt, von der Klassengemein- regierung dagegen insgesamt für den Kinder- und Ju-
schaft ausgeschlossen oder sogar tätlich angegriffen. gendplan aus.
Hier müssen wir ansetzen! Dazu brauchen wir Schulen,
Der hier vorliegende Antrag wurde mit der Begrün-
die für Lehrende und Lernende einen diskriminierungs-
dung abgelehnt, man habe bereits die Mittel für die
freien Raum garantieren. Mein Heimatland NRW zeigt
schwule und lesbische Jugendarbeit erhöht, indem die
mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie – Schule der
Mittel für das Projekt Lambda um 7 Prozent im Jahr
Vielfalt“ ebenso wie Berlin mit der Initiative „Berlin
2011 erhöht worden seien. Die SPD-Bundestagsfraktion
steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller
begrüßt außerordentlich, dass die Mittel für das Projekt
Vielfalt“, welche konkreten Verbesserungen im Bil-
Lambda um 2 000 Euro erhöht worden sind. Aber damit
dungsbereich möglich und nötig sind, um wirksamen
ist natürlich nicht der Forderung Genüge getan, eine
Antidiskriminierungsschutz an Schulen zu verankern.
umfassende Förderung von schwuler und lesbischer Ju-
Dazu brauchen wir zum einen engagierte Lehrerin- gendarbeit zu gewährleisten. Wer eine umfassende För-
nen und Lehrer, die das Thema (sexuelle) Vielfalt und derung will, der muss Geld in die Hand nehmen, und
Diversity positiv und nicht etwa ausschließlich im Kon- zwar einen angemessenen und gerechten Betrag.
text Aufklärung oder HIV-Prävention behandeln. Dabei
Was wäre nun angemessen und gerecht? Auch wenn
dürfen wir auch nicht aus dem Blick verlieren, dass nicht
ich jeden Tag an dem Kunstwerk von Thomas Locher
nur Jugendliche auf dem Weg zu ihrer selbstbewussten
vorbeigehe, das mich und alle anderen Politiker ironisch
sexuellen Identität Unterstützung und Beratung benöti-
mahnt „Gerecht ist nur die Gerechtigkeit“, so sind doch
gen. Genauso gibt es schwule Lehrer oder lesbische
2 000 Euro mehr keine gerechte Verteilung der Mittel.
Lehrerinnen, die vor der Frage stehen, ob sie sich vor
Wenn man von einer niedrigen Rate von schwulen und
Schülern oder Kollegium „outen“ sollen, oder die nicht
(B) lesbischen Jugendlichen ausgeht – und die niedrigste (D)
wissen, wie sie mit mehr oder weniger offenen Anfein-
Schätzung bewegt sich hier bei 5 Prozent –, dann müss-
dungen umgehen sollen. Doch erst, wenn schwule Leh-
ten etwa 900 000 Euro für schwule und lesbische Ju-
rer und lesbische Lehrerinnen selbstverständlich und of-
gendarbeit ausgegeben werden. Das ist jedoch nicht der
fen mit ihrer Homosexualität umgehen können, sehen
Fall. Stattdessen fehlen in diesem Bereich diese Mittel,
Schülerinnen und Schüler, dass dies ebenso normal ist
und das, obwohl es schwule, lesbische und transsexuelle
wie Heterosexualität.
Jugendliche in unserer Gesellschaft schwer haben. Oft
Neben der Schule brauchen Jugendliche natürlich sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht si-
auch noch andere Anlaufstellen. Neben dem Internet als cher und werden gehänselt, gemobbt und drangsaliert,
wichtiger Informationsquelle ist eine kompetente Ver- oder sie werden sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugend-
trauensperson in der Nähe unerlässlich. Hier sind lichen müssen vor Diskriminierung wirksamer geschützt
sowohl die Länder in der Pflicht als auch der Bund. werden. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartner
und -partnerinnen, die beraten und helfen können. Ins-
Wir wollen, dass die Antidiskriminierungsstelle des besondere brauchen wir aber Programme, die die Ak-
Bundes auch in Zukunft finanziell gut ausgestattet zeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken.
bleibt, um neben ihrer Aufklärungs- und Beratungstätig-
keit vor allem auch die Vernetzung mit Beratungsstellen Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können,
vor Ort weiter voranbringen zu können. Außerdem steht soll in einer breit angelegten bundesweiten wissen-
die Bundesregierung in der Pflicht, den Nationalen Ak- schaftlichen Studie zur Lebenssituation homosexueller
tionsplan gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Jugendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein
Antisemitismus um das Problemfeld Homophobie zu er- Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bun-
weitern und das Thema Akzeptanz von Homo-, Bi- und destagsfraktion auch schon damals unterstützt haben.
Transsexualität im Nationalen Integrationsplan zu ver- Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit
ankern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Studie
stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Be- ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssituation
reicherung und Normalität wahrgenommen wird. von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus
Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung abzu-
leiten.
Stefan Schwartze (SPD):
Heute entscheiden wir abschließend über den Antrag Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskri-
von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule, minierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen
lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12787
Stefan Schwartze
(A) Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an ei- Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erb- (C)
nem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Bei- schaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht be-
trag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer legt dies eindrucksvoll. Zugleich senden wir mit diesen
Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbü- Rechtsänderungen ein klares Signal für mehr gesell-
chern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbil- schaftliche Liberalität und Vielfalt in unsere Gesell-
dung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen schaft hinein.
verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit
Seit der ersten Beratung des vorliegenden Antrages
homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie Schulun-
hat sich auch einiges getan. So hat unsere liberale Jus-
gen zur Vorgehensweise bei und zum Umgang mit diskri-
tizministern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, end-
mierenden Situationen und diskriminierendem Verhalten
lich erreicht, wozu weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot
von Schülern und Schülerinnen.
in den letzten Jahren imstande waren: In diesem Jahr
Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben, werden 10 bis 15 Millionen Euro für die Gründung der
Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und in- Magnus-Hirschfeld-Stiftung als Startkapital bereitge-
tersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert wer- stellt. Das ist ein wichtiger, aber auch überfälliger
den. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch Schritt, für den sich meine Fraktion seit langem mit
Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachtei- Nachdruck eingesetzt hat. Die Stiftung wird sich unter
ligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die recht- anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber
liche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein Lesben und Schwulen wenden und durch Bildung und
ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entge-
der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich genwirken. Im Zuge dieser Aufgabe wird die Fortbil-
eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir dung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren
brauchen ein öffentliches und deutliches Bekenntnis, in der Schul- und Jugendarbeit mit Sicherheit zu den
dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine unglei- Aufgaben der Stiftung gehören.
che Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen Dies ist uns Liberalen besonders wichtig, weil wir
können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3 hier an einem Punkt ansetzen, der die Lebenswirklich-
Abs. 3 Satz 1 GG. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die keit der Jugendlichen tatsächlich erreicht. Wo findet
Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bun- denn ein Großteil der Sozialisierung Jugendlicher statt?
destag eingebracht, die bereits in den Ausschüssen von Wo spielt sich ein Großteil ihres Lebens ab? Richtig, in
den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind. Die der Schule. Deshalb ist es der Bundesregierung und ins-
abschließende Lesung steht hier noch aus. Aber schon besondere meiner Fraktion ein Anliegen, gerade in die-
heute ist klar, dass wir in dieser Frage wieder einmal sem Umfeld dafür zu sorgen, dass diejenigen, die täglich
(B) nicht vorankommen. Es ist absolut unverständlich, wa- (D)
mit Jugendlichen zu tun haben – Lehrer, Pädagogen, Ju-
rum die schwarz-gelbe Koalition in dieser Frage so gendarbeiter – stärker sensibilisiert werden und das nö-
zögerlich ist, zumal wir seit 2009 in der EU-Grund- tige Handwerkszeug erhalten, um noch besser gegen die
rechtscharta den Diskriminierungsschutz für Lesben, Diskriminierung von homosexuellen und transsexuellen
Schwule und Transgender verankert haben. Jugendlichen vorgehen zu können.
Aber wir müssen auch bei diesem Thema ehrlich mit-
Florian Bernschneider (FDP):
einander umgehen. Aktuell wird ja über das Koopera-
Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, tionsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen
den wir heute abschließend beraten, richtet unser Au- diskutiert, auch in meiner Partei. Unabhängig davon,
genmerk auf die Lebenssituation von schwulen, lesbi- wie diese Diskussionen ausgehen, steht trotzdem außer
schen und transsexuellen Jugendlichen, und das zu Frage, dass der Bund nicht alles leisten kann. Für das
Recht. Schulwesen sind und bleiben in erster Linie die Länder
Es ist nicht zu bestreiten, dass Homosexuelle und zuständig. Daher muss ich den Kolleginnen und Kolle-
Transsexuelle – unabhängig von ihrem Alter – noch im- gen von den Grünen auch sagen, dass Sie sicherlich in
mer Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch wenn ihrem Antrag viele gute Forderungen aufführen, aber
gleichstellungs- und gesellschaftspolitisch schon viel er- dass Sie sich hier in vielen Punkten leider den falschen
reicht wurde. Wir müssen nicht allzu weit zurückgehen, Adressaten ausgesucht haben.
um uns dies zu vergegenwärtigen. Ich möchte Sie nur an Wenn Bildungspolitik einen höheren Stellenwert er-
den § 175 StGB erinnern, der sexuellen Kontakt zwi- halten und im Umfeld von Bildungseinrichtungen mehr
schen Männern unter Strafe stellte. Im Volksmund für die Gleichstellung von homosexuellen und trans-
sprach man statt von Homosexuellen gar von „175ern“. sexuellen Jugendlichen erreicht werden soll, müssen wir
Und auch heute treffen offen lebende Homosexuelle und – und damit meine ich ausdrücklich die Mitglieder aller
Transsexuelle noch auf Vorbehalte. Deshalb ist es nach Fraktionen – die Länder und unsere Kollegen in den
wie vor unsere Aufgabe, gegen die Diskriminierung von Landesparlamenten stärker in die Verantwortung neh-
gleichgeschlechtlich orientierten Mitgliedern unserer men.
Gesellschaft vorzugehen und anzuarbeiten.
Nur um es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP nimmt sich – ich hatte bereits in der ersten Lesung des Antrages da-
dieser Aufgabe an. Die durch uns erreichte Gleichstel- rauf hingewiesen –: Uns Liberalen ist es zwischen 2005
lung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der und 2010 in NRW trotz harter Sparpolitik gelungen,

Zu Protokoll gegebene Reden


12788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Florian Bernschneider
(A) Fördermittel für die schwul-lesbische Selbsthilfe zu er- stützen kann. Diskriminierungen jeglicher Art sind in ei- (C)
halten. Aus diesen Mitteln wurde unter anderem das nem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Hier sind
Schulaufklärungsprojekt SCHLAU NRW finanziert. Da- wir ein erhebliches Stück vorangekommen. In der ersten
mit haben wir bewiesen, dass es selbst in einer schwieri- Lesung teilten alle Parteien die Intention des Antrags
gen Finanzlage möglich ist, eigene Schwerpunkte zu set- und bestätigten, dass Handlungsbedarf besteht.
zen.
Doch die Vertreter der Regierungskoalition verwie-
Darüber hinaus möchte ich betonen, dass der Bund sen lapidar auf die Verantwortung der Länder und Kom-
seine Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendpla- munen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und
nes hervorragend wahrnimmt. Die Förderung von Pro- FDP, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, und lassen
jekten, Programmen und Institutionen, die sich für die Sie lesbische, schwule, transsexuelle, transgender und
Gleichstellung und Unterstützung von schwulen, lesbi- intersexuelle Jugendliche nicht im Regen stehen! Diskri-
schen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, sind minierte junge Menschen benötigen unsere Hilfe. Die
schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil Diskriminierung junger Menschen schreibt in deren Bio-
der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bun- grafie eine bleibende Lebenserfahrung ein. Statt des
des, und sie werden es auch bleiben. Zum Jahr 2011 Wegschiebens von Verantwortung benötigen sie konkrete
wurden beispielsweise die Mittel für den Jugendverband Unterstützung. In dem Antrag wurde auf die konkret
Lambda um 7 Prozent erhöht, was dies nochmals unter- nutzbaren Handlungsspielräume auf Bundesebene hin-
streicht. gewiesen. Wir benötigen eine gesamtgesellschaftliche
Strategie. Diese Strategie müssen wir hier entwickeln
Im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
und koordinieren. Dies ist unsere Aufgabe. Es darf nicht
schwingt der Vorwurf mit, dass sich diese Regierung
sein, dass nur einzelne Länder und Kommunen Notfall-
nicht um homosexuelle und transsexuelle Jugendliche
hilfe anbieten, positive Beispiele, die isoliert dastehen
bzw. Homosexuelle und Transsexuelle insgesamt küm-
wie ein Fels in der Brandung.
mere. Ihr dem Thema völlig unangemessenes Auftreten
im Zuge der Ausschussberatung des Antrages hat dazu Ein Beispiel für das konkrete Handeln vor Ort ist das
beigetragen, dass sich dieser Eindruck bei mir, aber si- letzten Monat in Berlin eröffnete Zentrum „Queer le-
cherlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen ver- ben“. Es ist Europas erstes Zentrum für queer lebende
festigt hat. Daher möchte ich diese Möglichkeit nutzen und transidente Jugendliche. Bei der Eröffnung stellte
und nochmals öffentlich klarstellen, dass sich die FDP die Leiterin Mari Günther klar, dass die Notwendigkeit
unvermindert für gesellschaftliche Vielfalt und die zur Einrichtung dieses Zentrums vorhanden ist. Jugend-
Gleichberechtigung von Homosexuellen und Trans- liche Menschen aus ganz Deutschland wandten sich an
sexuellen einsetzt. Auf Erfolge im Inland, wie die längst Beratungsstellen in Berlin. Sie flüchteten vor ihren El- (D)
(B)
überfällige und notwendige Unterstützung der Magnus- tern, sie wandten sich anonym an Sozialberater oder
Hirschfeld-Stiftung, die die Grünen in der Vergangen- waren obdachlos. Sie berichteten von schwerwiegenden
heit sträflich vernachlässigt haben, habe ich schon hin- Ausgrenzungen in der Schule, durch Verwandte und El-
gewiesen. tern sowie Bekannte.
Ich möchte Ihren Blick aber auch auf die Außenpoli- Die zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zen-
tik lenken. So sind es Liberale wie Entwicklungsminister trums haben es rund um die Uhr mit schwerwiegenden
Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle, die Problemen zu tun. Jugendliche werden gemobbt, drang-
international Flagge zeigen und klar gegen Homopho- saliert und auch geschlagen, nur weil sie scheinbar an-
bie eintreten. Das Auswärtige Amt fördert in diesem ders sind. Das Land Berlin hat hier eine konkrete Hilfe
Jahr erstmals zwei Schwulen- und Lesbenprojekte im geleistet, und sie ist dringend notwendig.
Ausland. Im Fall Malawis wurde wegen Strafverschär-
fungen gegen Homosexuelle erstmals Entwicklungsgel- Homophobie und Transphobie sind kein vorüberge-
der durch das zuständige Ministerium eingefroren – ein hendes Phänomen. Es sind sehr reale Ängste einer
Novum. In Uganda wurde die Entwicklungshilfe für die Mehrheitsbevölkerung, die gegenüber den Betroffenen
kommenden Jahre an die Bedingung geknüpft, dass in Abwehr und Ausgrenzung münden. Es ist nicht hin-
Pläne im ugandischen Parlament zur Verschärfung der nehmbar, dass bedrohte Jugendliche verängstigt der
Homosexuellengesetze nicht realisiert werden. Unter Schule fernbleiben, dass sie an der Schule keine An-
Rot-Grün, mit dem ehemaligen Außenminister Josef sprechpartner für ihre Probleme finden, dass sie aus der
Fischer, über dessen Rückkehr auf die politische Bühne elterlichen Wohnung flüchten, da die Eltern sie nicht ak-
als Kanzlerkandidat hinter vorgehaltener Hand disku- zeptieren, nur wegen ihrer Sexualität bzw. ihrer Ge-
tiert wird, hat es ein solch entschiedenes Eintreten für schlechtlichkeit. Wir müssen die Betroffenen konkret un-
die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich orientier- terstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, sodass
ter Menschen im Ausland jedenfalls nicht gegeben. Eltern, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler
Ängste abbauen. Schwul, lesbisch, transsexuell, trans-
All dies beweist: Die Gleichstellungspolitik ist in gu- gender und intersexuell sollten weder hier noch in der
ten Händen. Gesellschaft Beschreibungen sein, vor denen man sich
fürchtet. Die sexuelle Vielfalt ist eine Realität, und sie ist
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Hier
Der vorliegende Antrag ist ein sehr gutes Beispiel da- muss der Bundesgesetzgeber seine Verantwortung wahr-
für, wie man diskriminierte Jugendliche konkret unter- nehmen. Wir werden diesem Antrag zustimmen, denn die

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12789
Dr. Barbara Höll
(A) Betroffenen verdienen nicht warme Worte, sondern kon- die zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher (C)
krete Unterstützung. muss neben einem aktuellen Gesamtbild auch Hand-
lungsempfehlungen zur Überwindung homosexuellen-
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): feindlicher Einstellungen beinhalten. Hierbei sollten un-
Es freut mich, dass wir mit unserem Antrag eine bun- ter anderem Formen und Orte der Diskriminierung,
desweite Debatte über die Lebenslage von schwulen, gesundheitliche Belastungen und die Verbreitung homo-
lesbischen und transsexuellen Jugendlichen anstoßen phober Einstellungen eine Rolle spielen.
konnten. Ich bin stolz darauf, dass die rot-grüne Regie- Es darf nicht sein, dass schwule, lesbische und trans-
rung in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen die sexuelle Jugendliche ausgeblendet bleiben. Damit sie
Bekämpfung von Homophobie als Querschnittsaufgabe als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft aner-
aktiv angeht und im Landesjugendplan die Unterstüt- kannt und akzeptiert werden, bedarf es eines umfangrei-
zung schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendli- chen Handlungs- und Aktionsplans von Bund und Län-
che absichert. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jah- dern. Unser Antrag zeigt hierzu verschiedene wirksame
ren auf den ersten Blick offener und toleranter geworden Maßnahmen auf: Es ist unerlässlich, eine umfassende
– nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit zu ver-
lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung und durch ankern und die wenigen sowie mit mickrigen 200 000
rot-grüne Reformen wie die eingetragene Lebenspart- Euro völlig unterfinanzierten Angebote im Kinder- und
nerschaft. Auf den zweiten Blick bleibt das Coming-out Jugendplan des Bundes systematisch auszubauen. Ju-
für viele junge Schwule und Lesben auch im Jahr 2011 gendliche benötigen bundesweit flächendeckend Bera-
ein belastender und schwieriger Prozess, weil sie damit tungsstellen, in denen sie konkrete Unterstützung, An-
Ablehnung oder Anfeindungen riskieren – in der Fami- sprechpartner und Vertrauenspersonen finden. Gegen
lie, in der Schulklasse oder im Ausbildungsbetrieb. Herabwürdigungen und Mobbing braucht es nachhal-
Schwule und lesbische Jugendliche leiden in beson- tige Präventionsstrategien, die gemeinsam mit den Län-
derer Weise unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Mob- dern ergriffen werden müssen. Wir brauchen in allen
bing und brauchen daher dringend Unterstützung und Bundesländern verbindliche Rahmenrichtlinien, damit
Solidarität. Mir ist unverständlich, wie dies von Teilen in Bildungs- und Jugendeinrichtungen die Vielfalt der
der Union weiterhin ignoriert werden kann. Wenn „du sexuellen Identitäten vermittelt wird. Lehrer und Ju-
schwule Sau“ zur meistgenutzten Beschimpfung auf un- gendleiter müssen in ihrem Studium und in Weiterbil-
seren Schulhöfen zählt, dann sind wir meilenweit davon dungen für sexuelle Vielfalt und den Umgang mit Homo-
entfernt, dass alle ohne Angst verschieden sein können sexualität sensibilisiert werden. Auch die verschiedenen
und Vielfalt wertgeschätzt wird. Alle Jugendlichen ver- Medien bis hin zu Schulbuchverlagen sind dazu aufge-
(B) dienen Respekt und haben ein Recht auf beste Bedingun- fordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht (D)
gen für ein selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies zu werden und unter anderem über die Vielfalt der Fami-
Aufwachsen. Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportstät- lienformen, verschiedene sexuelle Identitäten sowie die
ten, Vereine und Verbände müssen daher endlich aller- Geschichte der Homosexuellenverfolgung und -bewe-
orts zu Orten ohne Homophobie werden. Geradezu alar- gung in Deutschland zu informieren. Der nationale Inte-
mierend ist das vielfach höhere Suizidrisiko von grationsplan ist um interkulturelle Angebote zu den The-
schwulen und lesbischen Jugendlichen im Vergleich zu men sexuelle Vielfalt sowie Homo- und Transphobie zu
ihren heterosexuellen Altersgenossen. Die Bundesregie- erweitern. Dazu gehören auch Angebote für schwule
rung hat uns trotzdem mehrfach mitgeteilt, dass sie und lesbische Jugendliche mit Einwanderungsge-
hierzu „keinen Handlungsbedarf“ sieht. Wir halten das schichte, deren Familien zum Beispiel aus Herkunftslän-
für einen gesellschaftspolitischen Skandal. dern mit Homosexuellenverfolgung stammen. Sie sind
als Migranten und Homosexuelle von doppelter Diskri-
Obwohl vom Bundestag schon 2005 beschlossen, gibt minierung bedroht – das muss sich endlich ändern. Not-
es immer noch keine Studie, die ein umfassendes Ge- wendig sind zudem zusätzliche zielgruppengerechte In-
samtbild über die Lebenslagen homosexueller Jugendli- formationen und Angebote für alle Jugendlichen und
cher liefert. Die beiden zuständigen CDU-Jugendminis- ihre Angehörigen. Dafür müssen in der Bundeszentrale
terinnen sind in dieser Hinsicht sechs Jahre lang untätig für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesund-
geblieben. heitliche Aufklärung, dem Bundesfamilienministerium
sowie den schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechts-
Ich fordere Ministerin Schröder auf: Erleben Sie end- verbänden Ressourcen zur Verfügung gestellt und krea-
lich Ihr jugendpolitisches Coming-out, und werden Sie tive Strategien gegen Homophobie etabliert werden.
aktiv! Sie müssen Ministerin für alle Jugendlichen in
diesem Land sein, nicht nur für die heterosexuelle Mehr- Es gibt also noch viel zu tun, damit sich Jugendliche
heit. problemlos und sorgenfrei outen können. Die Bundes-
regierung muss sich den genannten Herausforderungen
Es wäre schön, wenn infolge unserer Initiativen end-
endlich bewusst werden und dementsprechend handeln!
lich ein Umdenken beginnen würde. Frau Schröder ant-
wortete mir dieser Tage, dass die Regierung eine Mach-
barkeitsstudie zur Studie prüfe. Wir hoffen, dass sie Vizepräsident Eduard Oswald:
dabei bald zu einem positiven Ergebnis kommt und den Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Widerstand gegen eine fundierte Datenbasis aufgibt. Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
Eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Stu- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4954, den
12790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- gen Gabriel nach wie vor auskunftsbereit, gerade in der (C)
sache 17/4546 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Abteilung Abfallwirtschaft, wie wir alle annehmen dür-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio- fen.
nen. Gegenprobe! – Das sind die Sozialdemokraten, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Ist es nicht überhaupt vornehmste Aufgabe der Parla-
Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist mentarier, sich nicht alles von der Regierung vorsetzen
angenommen. zu lassen, sondern eigene Bewertungen vorzunehmen,
um diese der Regierung mitzuteilen als den Willen der
Die Regierungsbank weise ich darauf hin, dass wir vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter? Und
gerne die Abstimmungen konzentriert zu Ende führen ist dies nicht noch weit mehr die Aufgabe der Opposi-
wollen. Ich wollte damit nur darauf aufmerksam ma- tion, zumal aus den Reihen der beantragenden Fraktion
chen, dass die Regierungsbank noch besetzt ist. mit dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und dem Par-
teivorsitzenden Gabriel, gerade zwei ehemalige Kabi-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: nettsmitglieder, einer zudem mit unmittelbarer Verant-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd wortung als hier zuständiger Umweltminister?
Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Offen gesprochen verstehe ich die Befassung des Par-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD laments in Form eines Antrages hier nicht. Es gibt wirk-
Zeitnahe Information des Deutschen Bundes- lich wichtigere und gehaltvollere Anträge als die Bitte
tages über die Ergebnisse des Planspiels zur um bereits gegebene Information wie im zuständigen
Fortentwicklung der Verpackungsordnung Fachausschuss des Parlaments, die sicherlich unter dem
neuen Bundesumweltminister Röttgen weit offener ge-
– Drucksache 17/5898 – handhabt wird als unter seinem Vorgänger Gabriel und
Überweisungsvorschlag: dessen Staatssekretären.
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss Zur Sache selbst darf ich anführen, dass ich über
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie erste Kenntnisse und Bewertungen des Planspiels beim
UBA in Dessau aus diesen Tagen schon verfüge – und
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dass ich mir diese Informationen als Teil meiner parla-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
mentarischen Arbeit geholt habe, so wie dies andere si-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
cherlich auch tun können. Dass neben den politisch re-
Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco
alistischen und praktisch umsetzbaren beiden Modellen
Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter beim Planspiel zur Wertstofftonne auch noch die „Wol-
(B) und der Fraktion der SPD kenschieber-Modelle“ einer Vollprivatisierung oder (D)
Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wert- Vollkommunalisierung geprüft werden sollen, reiht sich
stofferfassung im Rahmen des Planspiels zur in diese seltsame Antragstellung der SPD ein. Warum
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung sollen wertvolle Ressourcen und viel Zeit von Experten
und Betroffenen in die Evaluierung von Modellen ge-
– Drucksachen 17/5484, 17/5886 – steckt werden, die mutmaßlich nie zum Tragen kommen?
Als Abgeordneter mit einem vollen Kalender verstehe
Berichterstattung:
ich sehr gut, dass von den Beteiligten aus den Modellen
Abgeordnete Michael Brand diejenigen für ein Planspiel ausgewählt wurden, die eine
Gerd Bollmann Basis für eine zukünftige Regelung zum Wohle aller bil-
Horst Meierhofer den können.
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner Dass es dabei ein „Hauen und Stechen“ um Platzvor-
teile bei der Verteilung von Wertstoffen geben wird, ist
Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre
angesichts der veränderten Rohstoffbasis und der zu er-
Reden zu Protokoll gegeben haben, liegen bei uns vor. –
wartenden Gewinne und zähen Verteidigung von Markt-
Sie sind damit einverstanden.
positionen keine Überraschung mehr; das haben wir
jedes Mal erleben müssen, wenn wir bei der Verpa-
Michael Brand (CDU/CSU): ckungsverordnung im Dschungel der Interessen von
Zum Antrag der SPD „Zeitnahe Information des Handel, Kommunen und Entsorgern die Kämpfe um den
Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Plan- Müll und dessen möglichst preisgünstiger Entsorgung
spiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverord- gesehen haben. Während die einen die anderen bei den
nung“ kann kurz und knapp festgehalten werden: Nie- Preisen drücken, um Margen zu optimieren, und die an-
mandem ist verboten, sich bei den Beteiligten über deren um ihre angestammten oder angestammt geglaub-
ebendiese Ergebnisse des sogenannten Planspiels kun- ten Plätze in der Stoffstromwirtschaft kämpfen, muss
dig zu machen, und ganz sicher werden weder die Bun- niemand befürchten, dass der Bundestag und diese Bun-
desregierung noch die Länder noch die Kommunen noch destagsmehrheit eine vollstaatliche oder marktradikale
die Verbraucher- und Umweltverbände noch die Entsor- Lösung tragen werden. Wir werden im Umweltaus-
gungs- und Recyclingwirtschaft noch der Handel und schuss, mit den Ländern und Kommunen sowie mit den
die Industrie die Auskunft darüber verwehren, wie sie Betroffenen und Beteiligten den bereits begonnen Dia-
diesen Prozess und die Ergebnisse beurteilen. Zudem ist log eng halten, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kom-
das BMU für die SPD auch nach dem Abgang des Kolle- men.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12791
Michael Brand
(A) Allerdings rate ich zu Sachlichkeit statt zu Panik: Das Meine Damen und Herren von FDP und Union, es ist (C)
Planspiel ist ein Plan und ein gedankliches Spiel, keine Ihr gutes Recht, sich für eine weitere Privatisierung der
Ergebnisvorwegnahme. Entscheiden wird nicht eine Ab- Hausmüllentsorgung einzusetzen. Aber dann sagen Sie
teilung im BMU, sondern der Bundestag gemeinsam mit ehrlich, was Sie anstreben. Hören Sie auf, zu behaupten,
dem Bundesrat. Wie wir alle wissen, bilden das BMU in Ihre Pläne in der Abfallpolitik führen zu einer Stärkung
seiner neuen Führung und zudem unser föderaler Me- der kommunalen Zuständigkeit.
chanismus solide Grundlagen dafür, dass zur Panik über
angeblich nicht erfolgende Unterrichtung nun in der Tat Noch ein kurzes Wort zu unserem zweiten Antrag zur
kein Grund besteht. Die Erörterungen lassen sich nach zeitnahen Information des zuständigen Ausschusses
meinen Informationen gut an, bei bekannt unterschiedli- über die Ergebnisse des Planspiels. Eigentlich sollte
chen Positionen der Beteiligten. Nichts Neues unter der dies selbstverständlich sein. Die bisherigen Äußerungen
Sonne in Dessau. Bis Jahresende wird jeder, der wissen aus dem Ministerium lassen mich aber das Gegenteil be-
will, wie es wirklich war, dies auch wissen können – in- fürchten. Ich hoffe jedoch, dass Sie alle einem Antrag,
klusive der Kolleginnen und Kollegen von der Partei, welcher die Rechte des Parlaments einfordert, zustim-
die bis vor kurzem noch den Bundesumweltminister men werden.
stellte. Ich wünsche uns allen den Fleiß und die Gelas-
senheit, um dies ohne große Anträge auf Selbstverständ- Horst Meierhofer (FDP):
lichkeiten im Plenum zu erreichen. Ich helfe gerne dabei Die SPD zeigt mit dem Antrag nur allzu deutlich ihre
mit, dass alle den notwendigen Informationsstand erhal- Scheinheiligkeit: Der Titel ihres Antrags lautet: „Vorur-
ten. teilsfreie Prüfung der Modelle zur Werstofferfassung im
Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpa-
Gerd Bollmann (SPD): ckungsverordnung“. Vorurteilsfrei sind sie nicht, das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor Wochen schon
Die Umsetzung und Durchführung des Planspiels zur ließ die SPD-Fraktion über eine Pressemitteilung ver-
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung verwun- lautbaren, die künftige Wertstofftonne gehöre in kommu-
dert mich sehr. Im Rahmen der 5. Novelle der Verpa- nale Zuständigkeit. Sie erwarten mit Ihrer Forderung,
ckungsverordnung wurden die unterschiedlichsten Mög- dass die Regierung ohne politische Vorgaben ein Plan-
lichkeiten, insbesondere bezüglich Organisation und spiel umsetzt und sich nach Beendigung des Planspiels
Zuständigkeit, kontrovers diskutiert. Genau wie bei der für den sinnvollsten Weg entscheidet. Hiergegen ist ja
heutigen Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz erst einmal nichts einzuwenden. Nur: Lassen Sie sich an
vertraten Kommunen und öffentlich-rechtliche Entsor- Ihrem Maßstab messen. Sie haben für sich ja schon
ger einerseits und Teile der privaten Entsorgungswirt- längst entschieden, wo Sie hinwollen, und zwar ganz un- (D)
(B) schaft andererseits unterschiedliche Positionen. In der
abhängig vom Ausgang von Gutachten, ganz unabhän-
teilweise heftig geführten Diskussion gab es aber einen gig von Ressourcenschonung, von mehr Recycling, von
Konsens: Sämtliche Modelle sollten in einem Planspiel mehr Innovationen und ganz unabhängig von der Exis-
vorbehaltlos untersucht werden. Alle Beteiligten haben tenz unseres Mittelstandes. Sie sind dermaßen von Ihrer
sich in den damaligen Gesprächen dafür ausgespro- fixen Idee einer Rekommunalisierung getrieben, dass
chen, dass alle, auch unkonventionelle, neue Modelle Sie maßlos über das Ziel hinausschießen.
überprüft werden sollen. Dies hatte das Bundesumwelt-
ministerium damals zugesagt. Drei Gutachten hat das Bundesumweltministerium im
Vorfeld dieses Planspiels erstellen lassen: Das erste war
Das Gegenteil ist aber jetzt passiert. Das Bundesum- eine Evaluierung der Verpackungsverordnung, das
weltministerium hatte Gutachten über vier mögliche zweite handelt von der idealen Zusammensetzung einer
Modelle zur Zuständigkeit einer Wertstofftonne verge- Wertstofftonne, und das dritte dreht sich um die Mög-
ben. Beim Planspiel werden aber nur zwei Modelle un- lichkeit der Finanzierung. Im ersten Gutachten wurden
tersucht. Die Gutachter stellten zum Modell 4, Wertstoff- zwei empfohlene Modelle für ein mögliches Planspiel
tonne in kommunaler Trägerschaft, fest, dass dieses vorgeschlagen. Nach dem ersten Modell fällt die Wert-
Modell eine Überlegung zu einer grundlegenden Neu- stofftonne in die kommunale Hand, nach dem zweiten
orientierung der Abfallwirtschaft darstellt. Daher, so die wird über die Produktverantwortung die Wertstofftonne
Gutachter, müsse es noch weiter konkretisiert und ge- dem Markt frei zugänglich gemacht. Nun gibt es jede
prüft werden. Und genau dies müsste in dem Planspiel Menge Mischformen, je nachdem, ob öffentlich-rechtli-
passieren. Neue Wege sollten überprüft werden und che oder private Entsorger für Erfassung, Sortierung
nicht nur die Auswirkungen eines Weiter-so, verbunden und Finanzierung zuständig sein. Genau diese Misch-
mit weiteren Privatisierungen. formen waren nun Gegenstand des letzten Gutachtens,
weshalb es naturgemäß zu mehr untersuchten Modellen
In der jetzt durchgeführten Form ist das Planspiel kam.
keine vorurteilsfreie Prüfung, sondern ein Placebo, mit
welchem Teile der Regierungsparteien ihre Privatisie- Das Planspiel konzentriert sich nun auf die beiden
rungspläne in der Entsorgungswirtschaft tarnen. Es ist Varianten kommunale bzw. private Trägerschaft der
ähnlich wie bei der Novelle der Kreislaufwirtschaft und Wertstofftonne. Insofern ist selbst die von Ihnen präfe-
des Abfallrechts. Öffentlich wird erklärt, die Daseins- rierte Lösung Gegenstand des Planspiels. Wir machen
vorsorge der Kommunen soll gestärkt werden, in Wirk- damit etwas, was Sie uns umgekehrt sicherlich niemals
lichkeit findet genau das Gegenteil statt. zugestanden hätten.

Zu Protokoll gegebene Reden


12792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Horst Meierhofer
(A) Ich halte unabhängig davon Ihre Position und totale stofflich verwerten und thermisch verwerten und als (C)
Befürwortung einer Rekommunalisierung für den fal- letze Möglichkeit entsorgen. Damit sollen zukünftig
schen Weg in der Abfallpolitik. Erkennen Sie endlich an, Kunststoffe, Metalle, Elektronikschrott und andere Ab-
dass gerade auch die breit aufgestellte mittelständische fälle einer besseren Verwertung zugeführt werden, Die
Entsorgungswirtschaft für den rasanten Schub im aktuellen Verwertungsquoten zeigen auch in Deutsch-
Recycling verantwortlich ist. Hier sind viele kreative, in- land: Hier besteht noch ein beträchtliches Potenzial.
novative und neue Ideen angesiedelt. Fast alle Sortier-
anlagen sind in privater Hand. Schlagen Sie nicht den Zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie setzt die
Weg ein, all diese Erfolge kaputtzureden, indem Sie mei- Regierung auf Wertstofftonnen. Es soll das beste System
nen, mit den Kommunen durch Ihr Verhalten schlagkräf- gefunden werden.
tige Verbündete und Stimmen zu gewinnen. Scheinbar objektiv wurden vier Modelle der Samm-
Es besteht jedenfalls eine Notwendigkeit, das System lung, der Verwertung und der Trägerschaft diskutiert.
zu reformieren. Eine Lösung kann nur darin bestehen, Keines der Modelle betrachtete jedoch ein System, wel-
einen vernünftigen Ausgleich zwischen kommunalen und ches die Verantwortung in öffentlicher Hand sieht. Drei
privaten Interessen, aber auch zwischen Ressourcen- rein privatwirtschaftliche Modelle wurden betrachtet
schonung und möglicherweise entgegenstehenden ord- und ein Modell mit kommunaler Beteiligung.
nungspolitischen Bedenken zu finden. Uns geht es
primär allerdings darum, das System zukunftsfest zu ma- Jetzt wurde die Betrachtung auf zwei Modelle redu-
chen. Im Fokus muss dabei die maximal mögliche Wie- ziert, FDP-mäßig blieben nur rein private Modelle üb-
derverwertung stehen: Weg vom Verbrauch, hin zum Ge- rig. Gegen diese Reduzierung der Betrachtung steht der
brauch. Das Denken in Kreisläufen müssen wir stärken. Antrag der SPD.

Der erste Schritt dabei kann nur sein, möglichst viele Das duale System ist ein Erfolg, deshalb muss die
Materialien aus der Verbrennung herauszubekommen Wertstofferfassung privatisiert werden. So die Regie-
und dem Recycling zuzuführen. Wann ist dies der Fall? rung. Für wen ist das duale System ein Erfolg? Für den
Dies ist der Fall, wenn wir über eine einheitliche Wert- Bürger – nein. Statt mit der Müllgebühr die Entsorgung
stofftonne 600 000 Tonnen jährlich mehr in der Wieder- zu bezahlen, zahlt er diese jetzt bereits an der La-
verwertung haben. Dabei schaffen wir Einheitlichkeit dentheke. Zusätzlich zu den Gewinnen aus der Theken-
und Transparenz, indem wir die gelben Tonnen und Sä- gebühr kassieren die privaten Entsorger gute Gewinne
cke abschaffen und eine auf Ressourcenschutz ausge- aus der Verwertung der Verpackungen.
richtete Wertstofftonne aufstellen. Wie wir die Wertstoff- Jetzt sollen noch die Wertstoffe aus den Mülltonnen in
tonne organisieren und finanzieren, ist dann natürlich die Wertstofftonnen und damit zu den privaten Entsor- (D)
(B)
die entscheidende Frage, um die bloße Menge auch tat- gern. Die Einnahmen für diese zusätzlichen Wertstoffe
sächlich in eine hohe Recyclingqualität umzusetzen. kassiert wer? Klar, die privaten Entsorger.
Und um das zu erreichen, brauchen wir Wettbewerb und
keine Monopole. Die Müllabfuhr bleibt jedoch bei den Kommunen.
Wir wollen eine faire Gleichbehandlung. Eigens da- Bisher flossen die Erlöse aus verwertetem Müll an die
für ist auf unser Drängen die neutrale Stelle in die Ge- Kommunen und senkten die Müllgebühren. In meinem
setzesbegründung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz ge- Thüringer Wahlkreis beträgt die Entlastung zum Bei-
kommen. Nur das schafft Wettbewerb. Wettbewerb spiel durch Altpapier und Metallschrottverkauf etwa
schafft Umwelt- und Ressourcenschutz. Daraus folgen 10 Prozent. Fehlen den Kommunen die Wertstoffe im
Marktführerschaft und Arbeitsplätze. Übrigens: Wenn Abfall, so werden die Müllgebühren trotz geringerer
die Kommunalunternehmen das bessere Angebot ma- Müllmenge steigen. Das alte Spiel läuft – Gewinne wer-
chen, werden sie auch den Zuschlag erhalten. Von einer den privatisiert, Verluste zahlen die Bürger.
„kommunalfeindlichen“ Haltung sind wir meilenweit Das lehnt die Linke ab. Wir befürworten dagegen die
entfernt; das läge mir als Stadtrat ohnehin fern! Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie mit kommunaler
Mit Ihrem Denken, sehr geehrte Damen und Herren Verantwortung. Die Erfassung aller Abfälle und Wert-
von der Opposition, sind Sie alle nur davon beseelt, sich stoffe liegt dann in der Hand der Kommunen. Dies ge-
gegenseitig in scheinbaren Wohltaten gegenüber den schieht über die bereits eingeführten Systeme für den
Kommunen zu überbieten. Wir machen einen schwieri- gelben Punkt für Papier, Glas und Restmüll. Zusammen
gen Gesetzgebungsprozess durch, in dem die Interessen mit dem gelben Punkt werden zukünftig auch alle ande-
der Kommunen genau wie alle anderen Interessen Be- ren Kunststoffabfälle von Kommunen erfasst. Metalle
rücksichtigung finden, und lassen uns vom gesellschaft- werden bereits heute sicher aus dem Restmüll aussor-
lichen Interesse leiten. Einen derartigen Ansatz kann ich tiert. Da muss man nichts Neues, Teures erfinden.
bei Ihrem Antrag leider nicht erkennen. Für Elektronik ist ein Pfandsystem einzurichten.
Kaufe ich ein Mobiletelefon, dann bezahle ich zum Bei-
Ralph Lenkert (DIE LINKE): spiel 5 Euro Pfand. Dieses Pfand erhalte ich bei der Ab-
Die EU-Abfallrahmenrichtlinie legt den Schwerpunkt gabe des Gerätes in kommunalen Wertstoffhöfen zurück.
auf die Abfallhierarchie. Dies bestimmt, dass man ers- Diese entscheiden dann, ob sie selbst oder Dienstleister
tens Abfall vermeidet. Geht dies nicht, folgt eine nächste die Entsorgung entsprechend der Abfallhierarchie über-
Stufe, die beinhaltet wiederverwenden, abgestuft folgen nehmen. Mit unserem System verbleiben die Gewinne

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12793
Ralph Lenkert
(A) aus den Wertstoffen bei den Kommunen und damit bei chen. Es gibt wertvolle Erfahrungen aus Pilotprojekten (C)
den Bürgern. in zahlreichen Städten und Kommunen. Diese wurden je-
doch nie systematisch ausgewertet, um zu sehen, wel-
Für die Linke gehört die Abfallwirtschaft als Teil der ches Modell sich am besten bewährt. Die Einführung
Daseinsfürsorge zur öffentlichen Hand. Es wurden den der Wertstofftonne könnte und müsste meiner Ansicht
Konzernen schon viel zu viele öffentliche Aufgaben nach bereits im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz gere-
überlassen, die dann ihre Profite auf Kosten der Bürger gelt werden, das sich derzeit im Bundesrat befindet. Im
maximierten. Gesetzentwurf steht bisher nur eine Ermächtigungs-
Weil der Antrag der SPD zum Planspiel aber immer- grundlage.
hin ein Modell unter Beteiligung der Kommunen einbe-
Der Vorschlag zur zukünftigen Ausgestaltung der
zieht, stimmen wir mit Enthaltung. Den Antrag der SPD
Verpackungsverordnung soll nach Vorstellung der Bun-
nach einer möglichst zeitnahen Veröffentlichung der ge-
desregierung auf Grundlage des Planspiels des Umwelt-
wonnen Informationen unterstützen wir. Wir meinen:
bundesamtes erarbeitet werden. Es steht für mich völlig
Transparenz ist eine der Grundvoraussetzungen für eine
außer Frage, dass die Ergebnisse des Planspiels umge-
Demokratie überhaupt. Um es nicht zu Missverständnis-
hend an den Bundestag weitergeleitet werden müssen,
sen kommen zu lassen: Wir unterstützen damit nicht das
wie von der SPD in ihrem Antrag gefordert. Denn über
Planspiel, sondern ausschließlich die Forderung nach
die neue Verpackungsverordnung wird nicht alleine die
Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten.
Bundesregierung entscheiden, sondern auch der Bun-
destag. Frühzeitige Information ist für mich daher eine
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Selbstverständlichkeit.
Eine moderne Abfallpolitik muss an Ressourceneffi-
zienz und hohen ökologischen Anforderungen ausge- Auch ist völlig klar: Das Planspiel muss alle Optio-
richtet sein. Nur so kann die deutsche Vorreiterrolle in nen der Wertstoffsammlung prüfen – nicht nur die der
Abfallwirtschaft und -technologien in Europa und der Bundesregierung genehmen –, also auch: Erfassung al-
Welt langfristig erhalten und ein Innovationsschub für ler Wertstoffe – auch Verpackungen – unter kommunaler
die deutsche Wirtschaft hin zu einer stärkeren Ressour- Kontrolle. Ergebnisoffenes Planspiel muss heißen: Alle
cenorientierung erreicht werden. Wir müssen weg von Möglichkeiten werden geprüft. Sonst ist das Ergebnis
einer Einwegwirtschaft, die der Erde in großen Mengen wenig aussagekräftig.
Rohstoffe entnimmt und diese nicht wieder in den Wirt-
Ich würde aber noch weiter gehen als die SPD in ih-
schaftskreislauf zurückführt. Die Auswirkung dieser
ren Anträgen und fragen: Warum sollen so viele wich-
Wirtschaftsweise ist vor allem aus Sicht des Umwelt-
(B) und Klimaschutzes fatal. Es braucht Regelungen, die so- tige Entscheidungen zur Zukunft der Abfallpolitik per (D)
Regierungsverordnung festgelegt werden und nicht im
wohl bei den Verpackungen als auch bei den Produkten
Abfallgesetz, wo sie einem demokratischen Prozess mit
selbst ansetzt.
Beteiligung unterliegen würden? Diese Frage wird uns
Die Verpackungsverordnung kämpft jedoch seit Jah- sicherlich auch bei unseren Diskussionen zum neuen
ren mit gravierenden Problemen. Ziel der Produktver- Kreislaufwirtschaftsgesetz beschäftigen.
antwortung ist es eigentlich, hohe Recyclingstandards in
Verantwortung der Hersteller zu erreichen. Die jetzige Der Bundesumweltminister verspricht immer gerne
Praxis ist nicht nur sehr teuer, sie erreicht zudem weder einen Aufbruch hin zu mehr Ressourceneffizienz. Die
hohe ökologische Standards bei der Wiederverwertung Einführung der Wertstofftonne ist nur ein Beispiel, wo es
der Verpackungen noch ist wirklich nachvollziehbar, die Bundesregierung aber völlig verschlafen hat, recht-
was letztlich mit den Verpackungen geschieht. Immer zeitig praktikable und ambitionierte Konzepte zu erar-
weniger Verpackungen werden lizenziert – was mit dem beiten, die mehr wertvolle Rohstoffe in die Wirtschaft zu-
Rest passiert, ist völlig unklar. Auch die diversen Müll- rückführen. So werden Chancen für mehr Umwelt- und
skandale der letzen Jahre und unzählige Gerichtsverfah- Klimaschutz leichtfertig vertan. Wir können gespannt
ren zeigen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf sein auf die kommenden Monate, in denen das neue Ab-
durch bessere gesetzliche Regelungen. fallrecht in Bundestag und Bundesrat debattiert wird.

Dass die Verpackungsverordnung dringend und um-


Vizepräsident Eduard Oswald:
gehend novelliert werden muss, steht für mich außer
Frage. Dabei soll nach Vorstellungen der Bundesregie- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
rung auch die Einführung der Wertstofftonne festge- Drucksache 17/5898 an die in der Tagesordnung aufge-
schrieben werden. Wir fordern seit langem die zeitnahe führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit
flächendeckende Entwicklung einer leicht verständ- einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht.
lichen und somit verbraucherfreundlichen Wertstoff-
sammlung in Deutschland. Tagesordnungspunkt 22 b. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
In diesem Zusammenhang ist es für mich völlig un- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5886,
verständlich, warum die Überlegungen der Bundesre- den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5484
gierung zur Wertstofftonne nicht bereits viel weiter fort- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
geschritten sind. Schon im Koalitionsvertrag wurde die Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Sozial-
Prüfung der Einführung der Wertstofftonne verspro- demokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen?
12794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) – Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom- vor Gericht verantworten. Doch die Demonstrationen (C)
men. und die Reaktion des Baath-Regimes können nicht dazu
führen, den deutsch-syrischen Vertrag über die Rück-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: kehr von syrischen Staatsbürgern aufzukündigen oder
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef auszusetzen.
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffas-
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
sung der Bundesregierung, dass gegenwärtig aus asyl-
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
politischer Sicht die allgemeine Lage in Syrien nicht neu
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syri- beurteilt werden muss. Es gibt gegenwärtig keine An-
schen Rückübernahmeabkommens haltspunkte, dass Rückkehrer von den syrischen Behör-
den als oppositionelle Regimegegner betrachtet werden.
– Drucksache 17/5775 – Die Sicherheitsapparate des Regimes richten sich gegen
Überweisungsvorschlag: die aufständische, innerstaatliche Opposition. Wir wis-
Innenausschuss (f) sen, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Syrien von
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
staatlichen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und
den Grund der Abschiebung befragt werden. Danach
Die Reden werden zu Protokoll genommen; so war wird ihnen die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten
es auch in der Tagesordnung ausgewiesen. Die Namen gestattet. Es gibt lediglich Berichte, dass in vereinzelten
der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Fällen Rückkehrer für die Dauer einer Identitätsüber-
prüfung durch die Einreisebehörden festgehalten wer-
Michael Frieser (CDU/CSU): den.
Die Syrer haben keine Angst mehr. In den Städten Die Pflichten zur Ausreise durchzusetzen, gehört zu
Hama, Banias, Homs und Latakia gehen sie auf die den zentralen Aufgaben der Ausländerbehörden in den
Straße, um gegen das sozialistische Baath-Regime unter Bundesländern und Kommunen. Es ist notwendig, dass
Baschar al-Assad zu demonstrieren. Sie tun dies in aller die Bundesrepublik die Zuwanderung nach Deutschland
Öffentlichkeit – sie demonstrieren für ihre Freiheit vor steuert und Ausländer zu einer Rückkehr bewegt, die
der Weltöffentlichkeit. In der zentralsyrischen Stadt sich entweder illegal in unserem Land aufhalten oder
Hama fanden in den ersten drei Februarwochen im Jahr bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf
1982 schwere Häuserkämpfe zwischen der syrischen Ar- Dauer in Deutschland zu leben. Dies dient in allererster
mee und der rebellierenden Bevölkerung statt. Das Linie der Integration der rechtmäßig in Deutschland le-
Baath-Regime unter Präsident Hafis al-Assad rächte benden Ausländer. Aus diesem Grunde hat die Bundes- (D)
(B)
sich an den Aufständischen, indem die Stadt erst mit republik Deutschland ein großes Interesse daran, dass
Granaten beschossen und dann die Stadtteile von Bull- Ausländer in ihre Heimatstaaten zurückkehren, die nicht
dozern eingeebnet wurden. Obwohl das Hama-Massa- nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben
ker weltweite Aufmerksamkeit fand, gelang es dem syri- gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko
schen Regime, die Zahlen der Opfer und den genauen darstellen. Wir haben ein nicht geringes Interesse da-
Hergang zu verschleiern. ran, dass diese Menschen – unter Beachtung der huma-
Auch Hafis al-Assads Sohn Baschar al-Assad will nitären und Menschenrechtsstandards – wieder in ihre
heute seine Macht sichern, indem er wie sein Vater ursprüngliche Heimat zurückkehren.
Sicherheitskräfte in die aufständischen Städte schickt. Um es deutlich zu sagen: Oppositionelle oder poli-
Sie sollen die friedlichen Demonstrationen auflösen. tisch Verfolgte, die in Deutschland politisches Asyl be-
Doch ihm gelingt es nicht, den Einsatz der Sicherheits- antragt haben, müssen nicht nach Syrien zurückkehren.
kräfte zu verschleiern. Das Verhalten der Soldaten, Poli- Grundsätzlich gilt, dass Ausländer Asyl in der Bundes-
zisten und Geheimdienstler gegen die Bevölkerung wird republik erhalten, wenn ihnen in ihrer Heimat die politi-
heute dokumentiert durch Tausende Tweets, durch Fotos sche Verfolgung, konkrete Gefahren für Leib und Leben
und Filme, die mit Mobiltelefonen aufgenommen wer- oder die Folter drohten. In der Überprüfung eines Asyl-
den. Sie sind ein Zeugnis für die Angst des Regimes vor antrages berücksichtigt das Bundesamt für Migration
der eigenen Bevölkerung, vor den Forderungen nach und Flüchtlinge in Nürnberg immer auch die allgemeine
Demokratie und Menschenrechten. Die Bilder und Menschenrechtslage im dem jeweiligen Herkunftsland.
Filme zeigen gleichzeitig, dass die Syrer keine Angst
mehr haben. Wir sehen, dass der Aufbruch in der arabi- Auch ausreisepflichtige syrische Staatsbürger – also
schen Welt auch vor dem Polizeistaat Syrien nicht halt- Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde – sind in
macht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestags- Deutschland ohne eine Aussetzung oder gar eine Auf-
fraktion verfolgen das Vorgehen des sozialistischen kündigung des Abkommens ausreichend geschützt. Denn
Baath-Regimes in Syrien mit großer Sorge. Wir verurtei- die zuständigen Behörden in den Bundesländern und in
len das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demon- den Kommunen vergewissern sich in jedem einzelnen
stranten, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung die Fall, ob aufgrund der aktuellen Lage in Syrien eine Ab-
Wahrung der Menschenrechte auf das Schärfste einfor- schiebung nach dem Aufenthaltsgesetz ausgesetzt wer-
dern. Das syrische Regime muss sofort die Übergriffe den muss. Die Zustimmung des Bundesinnenministe-
gegen Demonstranten einstellen. Diejenigen, die für die riums ist erst dann einzuholen, wenn ein Bundesland
Toten und Verletzten verantwortlich sind, müssen sich einen Abschiebungsstopp von mehr als sechs Monaten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12795
Michael Frieser
(A) anordnen will. Doch hat das Bundesamt für Migration entdeckt wurden, wird mir schlecht. Wir können nicht se- (C)
und Flüchtlinge bei einer Eskalation der humanitären henden Auges syrische Staatsbürger zurückschicken und
oder politischen Situation in Syrien die Kompetenzen, sie diesen Gewalttätigkeiten, Verhaftungen und Tötun-
auch kurzfristig Entscheidungen über die Rückkehr- gen aussetzen. Angesichts der aktuellen Menschen-
pflicht nach Syrien auszusetzen. rechtslage und der ungeklärten weiteren Entwicklung
sind Abschiebungen derzeit nicht zu verantworten.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen ab. Gleichzeitig stellt sich für mich aber auch die Frage,
ob und inwiefern die Innenministerien der Länder von
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): der Möglichkeit Gebrauch machen, Abschiebungen vo-
Es ist schlicht erschreckend, wenn man die Auslands- rübergehend auszusetzen, bis sich die Lage vor Ort ge-
seiten der Tageszeitungen aufschlägt oder die Nachrich- klärt hat. Da würde mich einmal interessieren, wie hier
ten einschaltet und sieht, wie die Menschen bei friedli- die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Län-
chen Demonstrationen für mehr Demokratie in Syrien dern im Konkreten aussieht.
angegriffen, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet wer- Die Entwicklung in Syrien wie in den anderen von
den. Menschenrechtsorganisationen gehen heute davon Unruhen erschütterten nordafrikanischen Staaten macht
aus, dass in Syrien seit Anfang März, also dem Beginn uns aber auch noch etwas anderes sehr deutlich, näm-
der Demonstrationen, über 1 000 Menschen getötet lich: Deutschland darf nicht wegschauen, wenn Hun-
wurden. Die meisten Demonstranten waren dabei unbe- derttausende auf der Flucht sind. Derzeit sind insbeson-
waffnet. Zudem werden circa 8 000 Menschen nach Aus- dere Tunesien und Ägypten vom Flüchtlingsstrom
sagen der syrischen Opposition vermisst. betroffene Staaten, die dringend unsere Unterstützung
Das nenne ich mehr als nur eine Zuspitzung der Si- beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau benö-
tuation in Syrien. Von daher begrüßen wir als SPD- tigen. Deutschland steht in der Verantwortung. Ein
Fraktion ausdrücklich den vorliegenden Antrag der starkes Signal wäre jetzt, ein Resettlement-Programm
Grünen, das seit Januar 2009 bestehende Rückübernah- aufzulegen. Das wäre ein gutes Signal, auch an die De-
meabkommen zwischen Deutschland und Syrien unver- mokratiebewegungen in Nordafrika, dass Deutschland
züglich auszusetzen und Abschiebungen nach Syrien so- sie nicht im Stich lässt.
fort zu stoppen.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Angesichts der Bilder, die uns aus Syrien täglich er-
reichen, ist das in meinen Augen mit sofortiger Wirkung Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle festgestellt:
umzusetzen. Wir brauchen jetzt eine eindeutige Bot- Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig. Mei-
(B)
schaft an die Regierung in Damaskus. Systematische nungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; (D)
Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Syrien gesche- die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausge-
hen, dürfen wir nicht hinnehmen. Daher begrüße ich das setzt. Dies hat die Bundesregierung ebenso wie ihre Vor-
Engagement deutscher Diplomaten, gemeinsam mit gängerin deutlich benannt.
Großbritannien, Frankreich und Portugal eine Resolu- Inzwischen hat sich die Lage dramatisch verschärft.
tion in den UN-Sicherheitsrat einzubringen, die das Ver- Die syrische Regierung bekämpft ihr eigenes Volk. Des-
halten des syrischen Regimes scharf verurteilt. Gleich- halb hat der Bundesinnenminister den zuständigen Län-
zeitig muss aber auch das Rückübernahmeabkommen dern empfohlen, derzeit nicht nach Syrien abzuschieben.
ausgesetzt werden; sonst macht sich Deutschland ange- Mehr kann auch eine „Aussetzung des Abkommens“
sichts der jetzigen diplomatischen Bemühungen auf in- nicht bewirken.
ternationaler Ebene wieder einmal unglaubwürdig.
Einerseits setzen wir uns für eine Resolution ein, ande- Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des
rerseits schieben wir aber nach Syrien ab – wohl wis- Bundesinnenministers. Das Abkommen war bereits in
send, was an Qual und möglicher Folter dort bevorsteht. Zeiten der Verhandlung heftiger Kritik ausgesetzt.
Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen
Deutschland benötigt hier eine eindeutige Linie. Da- nach Syrien schon früher generell abgelehnt. Die Vor-
rum unterstützen wir den vorliegenden Antrag und kön- gängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich
nen Sie von den Koalitionsfraktionen nur auffordern, dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden.
nachzuziehen. Denn auch die EU hat bereits Konse- Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instru-
quenzen gezogen und für Präsident Baschar al-Assad ment des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der
ein Einreiseverbot in die EU und obendrein die Sper- Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu ef-
rung seiner Konten veranlasst – höchste Zeit auch für fektivieren.
Deutschland, zu handeln. Angesichts von Massakern an
Demonstranten oder der Inhaftierung von Menschen- Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blanko-
rechtsaktivisten dürfen in unseren Augen Abschiebungen schecks für die Ausländerbehörden; vielmehr ist weiter-
aktuell nicht durchgeführt werden. Wenn ich allein an ei- hin – wie immer – genau zu prüfen, ob im Einzelfall die
nen Artikel von heute aus dem „Tagesspiegel“ denke, in Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Ge-
dem beschrieben wurde, wie syrische Sicherheitskräfte währung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen
von Augenzeugen dabei beobachtet wurden, mit Leichen setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur
gefüllte Container im Meer versenkt zu haben, oder dass Ausreise verpflichtet ist. Für einen Abschiebestopp sind
bereits erste Massengräber in der Unruheprovinz Daraa in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig.

Zu Protokoll gegebene Reden


12796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes schiebung vom Sicherheitsdienst inhaftiert, zum Teil (C)
Mittel für eine besonders eskalierte Situation sein. auch gefoltert wurden.
Der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise Abschiebungen nach Syrien sind also schon immer
aufgrund der in Syrien tatsächlich zugespitzten Situa- ein Malus in der Menschenrechtsbilanz der Bundes-
tion die Länder gebeten, von Abschiebungen nach Sy- regierung. Zu dieser Feststellung kommt auch ein
rien derzeit abzusehen. Wir werden selbstverständlich aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Das
die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin kritisch und Gericht hat mit Urteil vom 6. Mai dieses Jahres die Ab-
regelmäßig beobachten und, wenn nötig, entsprechend schiebung eines Kurden wegen der Gefahr unmenschli-
reagieren. cher oder erniedrigender Behandlung verboten. Das
Gericht stützt sich auf mehrere Argumente: Schon vor
Die Grünen fordern wie schon in ihrem letzten dies- Beginn der aktuellen Auseinandersetzungen sei es in Sy-
bezüglichen Antrag, dass das Schicksal der bisher nach rien zu willkürlichen Verhaftungen gekommen, wobei
Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung auf- sich kein Verfolgungsmodus erkennen lasse. Mit anderen
geklärt wird und der Bundestag darüber unterrichtet Worten: Bei keinem der ausreisepflichtigen Menschen
wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang aus Syrien in Deutschland lässt sich mit Sicherheit sa-
möglich, auch schon geschehen, und es gibt keinen gen, dass sie im Einzelfall vor Verfolgung sicher sind.
Grund, dies nicht auch fürderhin zu tun. Das Gericht führt weiter aus, dass sich die Lage nach
Ausbruch der Unruhen noch weiter verschärft hätte, der
Auch wünschen die Grünen zum wiederholten Male, Kläger in diesem Fall also noch mehr als zuvor auf-
die Bundesregierung möge die Erkenntnisse über den grund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seines
Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Aner- in Deutschland betriebenen Asylverfahrens gefährdet
kennungspraxis des Bundesamtes für Migration und sei, Opfer willkürlicher Verhaftung und menschenrechts-
Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist erneut zu sa- widriger Behandlung in der Haft zu werden.
gen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die
Bewertung mit einbezogen. Ob das permanente Wieder- Vor diesem Hintergrund will ich für die Fraktion Die
holen von sachlich unstrittigen und gegenstandslosen Linke ganz klar sagen: Die einfache Aussetzung des
Anträgen sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Inhalt- Rückübernahmeabkommens reicht nicht aus; es muss
lich sind das Schaufensterforderungen, die durch den umgehend gekündigt werden. Und selbst das reicht nicht
Bundesinnenminister im Ergebnis längst berücksichtigt aus. Wie aus den Zahlen hervorgeht, die meine Fraktion
werden und keiner weiteren Erörterung bedürfen. bei der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage er-
fragt hat, finden nur die Hälfte aller Abschiebungen
(B) nach Syrien auch tatsächlich unter Rückgriff auf das Ab- (D)
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
schiebeabkommen statt. Demnach scheint es so zu sein,
Jeden Tag erreichen uns derzeit neue Schreckensmel- dass gerade die Staatenlosen auf dem üblichen Wege ins
dungen aus Syrien. Nach Angaben von Menschenrechts- Flugzeug gesetzt und nach Damaskus verfrachtet wer-
organisationen sind dort seit Anfang März 900 Men- den. Einen ausreichenden Schutz gibt es nur, wenn die
schen von Sicherheitskräften des Regimes ermordet Betroffenen ein Bleiberecht erhalten. Denn allen, die ja
worden. 9 000 sitzen in Gefängnissen, wo ihnen Folter als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind,
und Misshandlung drohen. Derzeit ist nicht absehbar, droht bei einer Rückkehr das gleiche Schicksal, wie es
wie die Eskalation zwischen dem Regime in Damaskus das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil be-
und der Opposition ausgehen wird. schrieben hat. Der Antrag der Grünen geht an dieser
Stelle aus unserer Sicht nicht weit genug. Auch die ande-
Leider ist diese Entwicklung alles andere als überra-
ren Forderungen des Antrags beschreiben nur, was
schend. Folter, Misshandlungen und das Verschwinden-
bereits getan wird oder wozu die Behörden ohnehin
lassen von missliebigen Personen sind in Syrien schon
verpflichtet sind. So soll das Bundesamt in seiner Ent-
seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Unter dem Siegel
scheidungspraxis berücksichtigen, wie der Umgang mit
der nationalen Einheit werden insbesondere die Kurdin-
Abgeschobenen in Syrien ist. Das reicht nicht aus. Das
nen und Kurden im Nordosten des Landes entrechtet.
Bundesamt braucht die klare politische Ansage, dass
Hunderttausende haben keine Staatsangehörigkeit; sie
Menschen aus Syrien einen Schutzbedarf haben. Sie ha-
werden enteignet und vertrieben. Opposition dagegen
ben ein Recht auf eine sichere Bleibeperspektive in
wurde schon immer mit den Mitteln eines Geheimdienst-
Deutschland, wo mehr als zwei Drittel von ihnen seit
und Folterstaates unterdrückt. Das alles hat aber die
über sechs Jahre leben. Dafür wird sich die Linke wei-
Bundesregierung nicht davon abgehalten, mit diesem
terhin einsetzen.
Staat ein Abkommen über die sogenannte Rücknahme
von Menschen aus Syrien – ob mit oder ohne Staatsan-
gehörigkeit –, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutschland aufhalten, abzuschließen. Die Logik dahin- NEN):
ter: Wer in Deutschland nicht als Flüchtling anerkannt Die Menschenrechtssituation in Syrien spitzt sich
wurde, der braucht auch keine Befürchtungen zu haben, dramatisch zu. In den letzten Wochen demonstrierten in
nach seiner Rückkehr verfolgt zu werden. Dass das Ge- zahlreichen Städten in Syrien Zehntausende gegen Prä-
genteil der Fall ist, zeigen die zahlreichen Beispiele von sident al-Assad. Dabei kam es auch zu Massakern mit
abgeschobenen Syrerinnen und Syrern und staatenlosen vielen Toten und Verletzen, weil syrische Sicherheits-
Kurdinnen und Kurden aus Syrien, die nach ihrer Ab- kräfte friedliche Demonstranten angegriffen haben.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12797
Josef Philip Winkler
(A) Viele Oppositionelle wurden inhaftiert. Ihnen drohen soll denn bitte schön noch passieren, damit auch bei der (C)
Verhöre, Folter und langjährige Haftstrafen. Menschen- Bundesregierung ankommt, dass das syrische Regime
rechtsorganisationen berichten von mehr als 1 000 To- die Menschenrechte mit Füßen tritt?
ten, die die Brutalität des syrischen Regimes gegen
Oppositionelle bisher gefordert hat. Vor diesem Hinter- Denn das brutale Vorgehen der syrischen Regierung
gegen jedwede Opposition ist doch die Fortsetzung ei-
grund ist es ein menschenrechtlicher Skandal, dass das
ner langjährigen Politik, die schon immer geprägt war
Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepu-
von intensiven Geheimdienstaktivitäten, willkürlichen
blik Deutschland und der Regierung der Arabischen Re-
Inhaftierungen und Folter. Ein bloßer Entscheidungs-
publik Syrien über die Rückführung von illegal aufhälti-
stopp über Asylanträge ist deshalb nicht akzeptabel. Sy-
gen Personen weiterhin in Kraft ist.
rische Asylbewerberinnen und Asylbewerber brauchen
Der vorliegende Antrag fordert daher die sofortige jetzt Schutz und eine Perspektive. Bündnis 90/Die Grü-
Aussetzung des Abkommens, den Erlass eines förmli- nen haben schon früh vor den Gefahren für Abgescho-
chen Abschiebungsstopps für syrische Staatsangehörige bene gewarnt und darauf hingewiesen, dass abgescho-
und unterstreicht die Notwendigkeit, Erkenntnisse über bene Personen nach ihrer Ankunft in Syrien Gefahr
das Schicksal Abgeschobener bei Asylentscheidungen laufen, inhaftiert und misshandelt zu werden (Drucksa-
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge endlich che 17/68). Zwischenzeitlich ist die Liste der betroffenen
zu berücksichtigen. Personen länger geworden.
Die Beratungen über unseren erneuten Antrag kön-
Die bisher vom BMI ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen
nen ein Anstoß für die Regierungskoalitionen sein, ihre
sind der Situation nicht angemessen: Das Bundesminis-
Haltung zur Menschenrechtssituation in Syrien endlich
terium des Innern hatte in einem Rundschreiben an die
zu ändern. Ich hoffe sehr, dass es im weiteren parlamen-
Bundesländer am 28. April 2011 einen Entscheidungs-
tarischen Verfahren gelingt, dass die Bundesregierung
stopp für Asylverfahren beim Bundesamt für Migration
adäquate Regelungen trifft, darunter den notwendigen
und Flüchtlinge verkündet und weiter erklärt, Abschie-
förmlichen Abschiebungsstopp und die Aufhebung des
bungen nach Syrien seien derzeit nicht „ratsam“. Dies
Entscheidungsstopps für Asylanträge aus Syrien.
ist kein formaler Abschiebungsstopp, sondern nur eine
windelweiche Empfehlung, die überdies nicht gewähr-
leistet, dass die entstehenden Zeiten des Aufenthaltes für Vizepräsident Eduard Oswald:
die Betroffenen zum Beispiel im Fall künftiger Bleibe- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
rechtsregelungen berücksichtigt werden. Drucksache 17/5775 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit
(B) Schon in der Vergangenheit wurden abgeschobene sy- einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos- (D)
rische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr routinemä- sen.
ßig festgenommen und vom syrischen Geheimdienst ver-
hört. Dies musste auch die Bundesregierung in Man wird es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind da-
Antworten auf parlamentarische Anfragen zugeben. mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung ange-
Umso größer ist die Gefahr für Abgeschobene in der kommen.
derzeitigen Situation. Angesichts der verstärkten Re- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
pression in Syrien können Abschiebungen dorthin längst Gut gemacht, Herr Präsident!)
nicht mehr verantwortet werden. Statt halbherziger Re-
gelungen in einzelnen Bundesländern bedarf es eines Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
klaren Signals vonseiten des Bundes: Das deutsch-syri- destages auf morgen, Freitag, den 27. Mai 2011, 9 Uhr,
sche Rückübernahmeabkommen ist unverzüglich auszu- ein und würde mich freuen, Sie alle hier wieder begrü-
setzen, und Abschiebungen nach Syrien sind bundesweit ßen zu dürfen.
sofort zu stoppen. Besonders zu kritisieren ist der von Die Sitzung ist geschlossen.
der Bundesregierung verhängte Entscheidungsstopp für
Entscheidungen bei syrischen Asylantragstellern. Was (Schluss: 22:41 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12799

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Ahrendt, Christian FDP 26.05.2011 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 26.05.2011*

Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 26.05.2011 Dr. Schröder CSU/CSU 26.05.2011
(Wiesbaden), Kristina
Dr. Danckert, Peter SPD 26.05.2011
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 26.05.2011
Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ 26.05.2011
DIE GRÜNEN Süßmair, Alexander DIE LINKE 26.05.2011

Ehrmann, Siegmund SPD 26.05.2011 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 26.05.2011

Ernst, Klaus DIE LINKE 26.05.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.05.2011

Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 26.05.2011


Land), Axel E. * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Friedhoff, Paul K. FDP 26.05.2011

Granold, Ute CDU/CSU 26.05.2011 Anlage 2

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 26.05.2011 Erklärung


(B) DIE GRÜNEN der Abgeordneten Karin Binder (DIE LINKE) (D)
zur Beratung des Antrags: Die Revision der
Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 26.05.2011 OECD-Leitsätze für multinationale Unterneh-
Koch, Harald DIE LINKE 26.05.2011 men als Chance für einen stärkeren Menschen-
rechtsschutz nutzen (Tagesordnungspunkt 20)
Kopp, Gudrun FDP 26.05.2011 Hiermit erkläre ich im Namen der Fraktion Die Linke,
dass unser Votum „Enthaltung“ lautet.
Liebich, Stefan DIE LINKE 26.05.2011

von der Marwitz, Hans- CDU/CSU 26.05.2011


Georg Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
Meßmer, Ullrich SPD 26.05.2011
zur Beratung:
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 26.05.2011
DIE GRÜNEN – Antrag: Versorgung der privat Versicherten
im Basistarif sicherstellen
Nietan, Dietmar SPD 26.05.2011
– Beschlussempfehlung und Bericht: Gesetzli-
Nink, Manfred SPD 26.05.2011 che Krankenversicherung für Solo-Selbst-
ständige bezahlbar gestalten
Pau, Petra DIE LINKE 26.05.2011 – Beschlussempfehlung und Bericht: Private
Krankenversicherung und Pflegeversiche-
Pieper, Cornelia FDP 26.05.2011
rung – Existenzminimum zukünftig auch für
Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 26.05.2011 Hilfebedürftige
– Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der
Reichenbach, Gerold SPD 26.05.2011 Benachteiligung von privat versicherten Be-
hieherinnen und Beziehern von Arbeitslo-
Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 26.05.2011
sengeld II
Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 26.05.2011 (Tagesordnungspunkt 14 a bis d)
12800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Karin Maag (CDU/CSU): Wir reden heute über ei- BSG löst den Konflikt dahin gehend, dass für die Bezie- (C)
nen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, mit her von ALG II für die Dauer des Leistungsbezuges der
dem sie erreichen wollen, dass eine Beitragslücke von Beitrag über eine analoge Anwendung des § 26 Abs. 2
privat versicherten Hilfsbedürftigen durch eine Ände- SGB II ohne höhenmäßige Begrenzung übernommen
rung im Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, zulasten werden muss. Die Verfassungswidrigkeit der vorhandenen
der PKV geschlossen wird. Bündnis 90/Die Grünen be- Regelung wurde damit entgegen dem Vorwurf von Bünd-
gründen dies damit, dass eine angebliche Subventionie- nis 90/Die Grünen gerade nicht festgestellt. Das heißt,
rung der PKV aus Steuermitteln abzulehnen sei. Gesetz- der Zuschuss ist von den Grundsicherungsträgern zu
lich und privat versicherte Hilfebedürftige müssten übernehmen. Damit ist das Problem der Beitragslücke
gleich behandelt werden, und dies sei nur über eine Ab- für die Zukunft gelöst. Ich begrüße es, dass das Bundes-
senkung des Basistarifes auf die Höhe des Beitrages zur ministerium für Arbeit und Soziales unmittelbar im Ja-
GKV möglich. nuar aus dem Urteil die Konsequenzen gezogen und die
Bundesagentur für Arbeit angewiesen hat, privat versi-
Des Weiteren reden wir über drei Anträge der Frak- cherten ALG-II-Beziehern einen Zuschuss bis zum hal-
tion Die Linke: „Private Kranken- und Pflegeversiche- bierten Beitrag im Basistarif zu gewähren.
rung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
dürftige“; „Gesetzliche Krankenversicherung für Solo- Der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, aus
Selbstständige bezahlbar gestalten“ und „Versorgung der Gründen angeblicher Gleichbehandlung den Basistarif
privat Versicherten im Basistarif sicherstellen“. der PKV einfach zu senken, würde im Übrigen nicht
Vorab ist mir eines wichtig: Mit dem damals von der etwa, wie sie formulieren, einen verfassungswidrigen
große Koalition beschlossenen GKV WSG ist es seit Zustand beenden, sondern erst einen solchen schaffen.
dem 1. Januar 2009 überhaupt erst möglich, allen Men- Das BVerfG hat bereits in seinem Urteil zur Zulässigkeit
schen in Deutschland Versicherungsschutz zu bezahlba- des Basistarifs festgestellt, dass der Tarif wenigstens ein
ren Konditionen zu bieten, ohne jemanden unverhältnis- Mindestmaß einer Kalkulation aufweisen muss. Dem
mäßig zu belasten. Seither müssen alle Unternehmen der würde eine absolute Festlegung in der Höhe sicher nicht
privaten Krankenversicherungen einen sogenannten Ba- genügen. Hinsichtlich der Schulden aus abgeschlossenen
sistarif anbieten. Im Basistarif ist die Höhe des Beitrages Zeiträumen, für die keine Rechtsmittel eingelegt wur-
begrenzt. Er darf den Höchstbeitrag der GKVen nicht den, werden sich das BMG, die Träger der Grundsiche-
überschreiten. Allerdings übernahmen die Grundsiche- rung und der Verband der PKVen im Sinne der Aussage,
rungsträger die Aufwendungen bei hilfebedürftigen pri- dass niemand durch seine Krankenversicherten unver-
vat Versicherten, unter Berufung auf eine Regelung im hältnismäßig belastet werden darf, noch einigen.
VAG, nur in der Höhe des Betrages, der auch für gesetz- Übrigens würde auch die Einführung einer Bürgerver- (D)
(B)
lich Versicherte bezahlt wurde – 131,34 Euro zuzüglich sicherung nach Lesart von Bündnis 90/Die Grünen, auf
18,04 Euro. Der von den Versicherten zu zahlende Bei- die sie auch hier wieder gebetsmühlenhaft verweisen,
trag im Basistarif war jedoch höher. Im Basistarif ist er nichts ändern. Sie weisen in ihrem Parteitagsbeschluss
auf den hälftigen Höchstbetrag der GKV-Versicherten vom Herbst 2010 zu Recht darauf hin, dass bei der
begrenzt – 287,72 Euro zuzüglich Pflegeversicherung Einbeziehung der privat Krankenversicherten in die Bür-
36,20 Euro. Für die Betroffenen liefen so Beitragsrück- gerversicherung deren verfassungsrechtlich geschützte
stände auf. Nochmals: Eine Versorgungslücke entstand, Ansprüche zu beachten wären. Es bräuchte also Über-
weil ein im Basistarif Versicherter im Falle der Hilfsbe- gangsmodelle für die nächsten circa 50 Jahre! Darauf
dürftigkeit nur einen Anspruch auf Übernahme der Bei- möchte ich die 2 200 Betroffenen nicht vertrösten!
träge seiner PKV in der Höhe hatte, welche für einen in
der GKV versicherten ALG-II-Bezieher bezahlt wurden, Zu den weiteren Nachteilen, wie dem gigantischen
ohne dass er sich gegenüber seiner privaten Versiche- Verwaltungsaufwand bei der Einbeziehung von Einkom-
rung auf diese Begrenzung beruhen konnte. Klarstellen men aus Zins und Kapitaleinkünften – der SPD-Entwurf
will ich aber auch, dass der Krankenversicherungsschutz sieht dies nicht umsonst nicht vor –, der Kapitalflucht ins
trotz ausstehender Beiträge stets sichergestellt war. Die Ausland oder der weiteren Belastung der mittleren Ein-
privaten Versicherer blieben zur Leistung verpflichtet. kommen, brauche ich mich da gar nicht zu äußern. Fest-
zuhalten bleibt, dass eine gesetzliche Lösung sicher
Konkret rede ich heute von 22 501 Versicherten im
nicht notwendig ist. Es herrscht durch die höchstrichter-
Basistarif – Stand 18. Mai 2011 –, das sind 0,2 Prozent
liche Rechtsprechung Rechtssicherheit und Klarheit.
aller privat Versicherten. Davon sind 7 902 hilfebedürf-
tig, und rund 2 200 Menschen haben im Basistarif Bei- Zu den Anträgen der Linken gilt kurz: Existenzmini-
tragsrückstände von drei oder mehr als drei Monaten. mum: Hier verweise ich auf das zum Gesetzentwurf von
Wir reden von circa 5 Millionen Euro pro Jahr, die die Bündnis 90/Die Grünen Gesagte.
Träger der Grundsicherung bislang nicht bezahlt haben.
Dass es für eine ordnungspolitisch saubere Lösung kei- Solo-Selbstständige: Hier gilt, dass besondere Min-
ner Absenkung des Basistarifes bedarf, sondern die Trä- destbeiträge für Selbstständige sinnvoll sind, weil das
ger der Grundsicherung für den Basistarif insgesamt auf- Steuerrecht den Selbstständigen, anders als Arbeitneh-
zukommen haben, hat am 18. Januar 2011 das BSG mern, eine gewisse Gestaltbarkeit des eigenen Einkom-
entschieden. Es stellte schlicht fest, dass der Zuschuss mens erlaubt. Der Begriff „hauptberuflich selbstständige
für privat krankenversicherte ALG-II-Bezieher vom Trä- Tätigkeit“ ist überdies von der Rechtsprechung eindeutig
ger der Grundsicherung kostendeckend sein muss. Das definiert. Es ist Aufgabe der gesetzlichen Kassen, zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12801

(A) prüfen, ob eine selbstständige Tätigkeit im Einzelfall Wir erleben hier ja ein seltenes Schauspiel: Da kün- (C)
hauptberuflich ausgeübt wird. den die Knappen der SPD seit Jahr und Tag an, dass die
SPD die Öffentlichkeit mit einem blitzsauber durchge-
Versorgung der Versicherten im Basistarif sicherstel- rechneten Gesundheitskonzept überzeugen werde. Auch
len: Richtig ist, dass die KVen und KZVen verpflichtet von der SPD-Parteizentrale wurden in den letzten Mona-
sind, die Versorgung der Versicherten im Basistarif si- ten entsprechende Trommelwirbel intoniert. Und da seht
cherzustellen, § 75 Abs. 3 a SGB V. Eine Behandlungs- ihn euch an: Ritter Lauterbach betritt den parlamentari-
pflicht für den einzelnen Vertragsarzt wird damit, sofern schen Kampfplatz, kraftstrotzend, auf hohem Rosse sit-
es sich nicht um einen Notfall handelt, nicht begründet. zend mit seinem durchgerechneten Gesundheitskonzept
Die Versorgung ist meines Wissens aber gewährleistet. als Schild und Schwert in der Hand – eine wahrlich be-
So haben zum Beispiel KVen und KZVen abgefragt, eindruckende Vorstellung! So schön hat sich die SPD
welche Ärzte oder Zahnärzte eines Bezirkes freiwillig das ausgemalt und vorgestellt. Aber in Wahrheit er-
bereit sind, zum Basistarif zu behandeln. Einige Hundert scheint Lauterbach nicht als strahlender Held, sondern
Zahnärzte zum Beispiel in Baden-Württemberg haben – wie könnte es anders sein? – als Ritter der traurigen
sich gemeldet. Bei der KZVBW findet sich die entspre- Gestalt. Denn nichts passt an diesem Konzeption. Von
chende Hotline für die Versicherten, um einen Zahnarzt wegen durchgerechnet! Von wegen solide! Ihr Konzept,
zu erfragen. Herr Lauterbach, ist unsolide und falsch gerechnet. Es
Nochmals: Mit dem Urteil des BSG sind die von fehlen rund zwei 2 Milliarden Euro!
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linken problematisier- Ich frage Sie: Durch welche Maßnahme wollen Sie
ten Fälle gelöst. Anlass für gesetzgeberisches Handeln das ausgleichen? Wollen Sie Beiträge erhöhen? Oder
besteht nicht. wollen Sie Leistungskürzungen, Rationierungen und
Priorisierungen? Was wollen Sie? Ich sage Ihnen: Ihr ge-
Stephan Stracke (CDU/CSU): Die Anträge der Op- samtes Konzept passt nicht, weil ihre Grundhaltung
position befassen sich im Wesentlichen mit Themen, die falsch ist. Diese Grundhaltung beginnt mit einem fal-
überholt und damit als erledigt anzusehen sind. Bekannt- schen Verständnis von Freiheit, Eigentum und Solidari-
lich hat das Bundesozialgericht in einem viel beachteten tät. Ist es wirklich unsolidarisch, wenn Einzelne ab einer
Urteil entschieden, dass bei Beziehern von Arbeitslosen- gewissen Einkommenshöhe für ihre Gesundheit selbst
geld II in der privaten Krankenversicherung die bisher aufkommen müssen? Ist das unsolidarisch oder nicht
entstandene Beitragslücke nicht vom Versicherten zu tra- vielmehr Ausdruck richtig verstandener, verantworteter
gen ist, sondern im notwendigen Umfang von dem Trä- Freiheit? Es ist diese verantwortete Freiheit, die jetzt die
ger für Grundsicherung für Arbeitssuchende. Diese rich- Opposition umzudeuten versucht, eine Umdeutung, die
(B) terliche Klarstellung ist zu begrüßen; denn sie zieht ich nicht durchgehen lasse. (D)
einen Schlussstrich unter eine im Einzelfall mögliche Bei der Opposition geht es aber nicht nur um falsch
unzumutbare wirtschaftliche Belastung privat versicher- verstandene Freiheit, sondern auch um ein gestörtes Ver-
ter SGB-II-Leistungsempfänger. hältnis zum Eigentum. Das Konzept der Bürgerversiche-
Freilich hat das Bundessozialgericht auch Fragestel- rung aller Oppositionsparteien hat vor allem einen Ge-
lungen offengelassen, die es zu beantworten gilt. Dazu danken zum Inhalt: Ran an die Töpfe, ran an die
gehört das Problem, wie mit den aufgelaufenen Alt- Altersrückstellungen der PKV, ran an rund 145 Milliar-
schulden der Versicherten bei ihren Krankenkassen zu den Euro! Das ist die eigentliche Motivation. Und damit
verfahren ist. Dazu gehört auch, wie hoch der maximal wird auch klar, dass die Bürgerversicherung insbeson-
für die Beiträge in der privaten Krankenversicherung zu dere eines ist: ein Enteignungsinstrument!
zahlende Zuschuss ist. Das kann man nicht dadurch kaschieren, dass man
All diese Punkte sind von Bedeutung, vor allem für privat Versicherten innerhalb eines bestimmten Zeit-
die Betroffenen selbst. Und natürlich würde es sich loh- raums die Wahl lässt, unter Mitnahme der Altersrück-
nen, hierüber auch in dieser öffentlichen Debatte zu rin- stellungen in die gesetzliche Krankenversicherung zu
gen. wechseln. Denn diese scheinbare Großzügigkeit hat die
Wirkung von Zwang. Denn für die, die sich entscheiden,
Aber das ist nicht die Intention der Anträge der Oppo- in der PKV zu bleiben, werden ihre Tarife immer teurer,
sition. Die Opposition will keine Lösung für diese drän- da ihre Altersgruppen vergreisen. Dieser Effekt ist kein
genden Probleme, sondern sie will vor allem eines: Die zufälliger, sondern ein gewollter. Ziel ist es ja, der PKV
Belastungen von ALG-II-Beziehern in der privaten den Boden zu entziehen. Aber was passiert mit den Al-
Krankenversicherung werden wieder einmal als Vehikel tersrückstellungen? Sollen diese in den Gesundheits-
genutzt, um die Lieblingsdebatte der Opposition anzu- fonds einfließen und dann auf alle Krankenkassen ver-
heizen. Es geht um die Bürgerversicherung. Die Bürger- teilt werden? Das hat nichts mehr mit Eigentumsrechten
versicherung ist nichts anderes als ein Kampfinstrument, zu tun! Ich kann hier nur einen enteignungsgleichen Ein-
ein Kampfinstrument, das befeuert wird von Neid und griff erkennen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen
Missgunst, das Solidarität predigt und verschleiert, dass lassen! Nicht Neid, Missgunst und Eingriff in Eigentum
unser hervorragendes Gesundheitswesen in das trübe sollte die Triebfeder unseres Gesundheitswesens sein.
Gewässer von Staatsdirigismus und Einheitsmedizin Triebfeder ist für uns, die im weltweiten Vergleich beste
driften soll. Das ist der Kern der Bürgerversicherung, Gesundheitsversorgung zu erhalten und noch besser zu
nichts anderes! machen. Daher stellen wir den Patienten in den Mittel-
12802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) punkt, in den Mittelpunkt, wenn es um Patientenrechte ohne die Leistungserbringerstruktur, welche die 90 Pro- (C)
geht, in den Mittelpunkt, wenn es um den wirksamen zent der GKV-Versicherten finanzieren, nutzlos.
Schutz vor gefährlichen Keimen im Krankenhaus geht,
Die amtierende Bundesregierung verschärft die Pro-
und in den Mittelpunkt, wenn es um die Sicherstellung
bleme: Sie machen die GKV durch Beitragserhöhungen,
der flächendeckenden, wohnortnahen Patientenversor-
Kopfpauschale und Vorkasse unattraktiv. Sie gehen nicht
gung geht. Deshalb bringen wir ein Versorgungsgesetz
gegen die Diskriminierung im Wartezimmer vor. Und
auf den Weg, das auch in Zukunft die ärztliche Versor-
gleichzeitig verkürzen Sie die Wartezeit für den Wechsel
gung gerade im ländlichen Raum gewährleistet und die
in die PKV. Wenn sich die Bundesregierung anlässlich
Bedürfnisse und Interessen vom Patienten her definiert.
der City-BKK-Schließung Sorgen um den Zustand der
Deshalb kämpfe ich auch für eine Reform der Pflegever-
GKV macht, kann ich nur sagen: Sparen Sie sich die
sicherung, die die Geißel des Alters, nämlich die De-
Krokodilstränen! Anstatt uns weiter mit der Beseitigung
menz, stärker berücksichtigt und pflegende Angehörige
der Folgen dieser Spaltung in der Krankenversicherung
mit ihren Belastungen noch ernster nimmt.
zu beschäftigen, sollten wir unsere kostbare Zeit endlich
Das ist der richtige Weg, der Weg der christlich-libe- der Ursache der Probleme widmen. Etwas, was sich auch
ralen Koalition, ein Weg, der sich an den konkreten die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger wünscht:
Bedürfnissen der Patienten ausrichtet und nicht an ideo- eine solidarische und leistungsfähige Bürgerversiche-
logischen Debatten. Wir stellen den Menschen in das rung für alle Menschen. Die Vorschläge dazu liegen auf
Zentrum. Das unterscheidet uns von der Opposition. dem Tisch, die Vorteile sind nicht von der Hand zu wei-
Und das ist auch gut so! sen. Und ganz nebenbei würden die Probleme, die Ge-
genstand der heutigen Beratungen sind, gelöst.
Bärbel Bas (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion ist Lassen Sie mich anschließend etwas zu den Vorlagen
fest überzeugt: Gesundheit braucht Solidarität. Seit über sagen:
100 Jahren ist sie die tragende Säule der gesetzlichen Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem ersten An-
Krankenversicherung: die Solidarität der Gesunden mit trag, dass im Basistarif Versicherte von den Leistungs-
den Kranken und der Starken mit den Schwachen. Nie- erbringern nicht schlechter behandelt werden. Außerdem
mand kann von sich sagen, ob er morgen noch auf der sollen diese Leistungen genauso bezahlt werden wie
Seite der Gesunden oder Starken ist. Deshalb ist es gut, Leistungen an PKV-Vollversicherten. Zudem soll die
dass sich die Menschen bis heute auf die Solidarität in PKV abgeschafft werden.
der Krankenversicherung verlassen können.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält es für eine Selbst-
Nicht nur uns beschleicht aber der Eindruck, dass verständlichkeit, dass alle Patientinnen und Patienten (D)
(B) diese Solidarität bedroht ist. Sie wird politisch von au-
unabhängig von ihrem derzeitigen Versichertenstatus
ßen angezählt und auch von innen unter Druck gesetzt. gleich schnell und gleich gut versorgt werden. Allein die
Eigenverantwortung stärken, so die gesundheitspoliti- Schwere der Erkrankung und die medizinische Dring-
sche Maxime der amtierenden Bundesregierung, bedeu- lichkeit darf entscheidend sein, wer zuerst behandelt
tet im Umkehrschluss: Solidarität schwächen. Da passt wird. Alles andere ist ein Verstoß gegen das Berufsethos
es natürlich ins Kalkül, dass die Solidarität in der gesetz- und die Berufsordnung der Heilberufe. Dass eine Un-
lichen Krankenversicherung auch durch die Schließung gleichbehandlung dennoch Realität ist, ist schlimm ge-
der City BKK infrage gestellt wird. Dabei braucht es nug. Entsprechende Verstöße sind daher zuallererst von
nicht weniger, sondern mehr Solidarität. der Selbstverwaltung und den Kammern zu ahnden. Ge-
sundheitspolitisch sollten auch hier nicht die Symptome
Ein Beispiel sind die heute zu beratenden Vorlagen. behandelt werden, also die Zwei-Klassen-Medizin, son-
Sie betreffen die Probleme von Menschen, die in Not- dern die Ursache: Es darf keinen Anreiz für Ärzte geben,
lagen geraten, weil sie ihre Krankenversicherungsbei- Patienten wegen eines besseren Honorars bevorzugt zu
träge und -prämien nicht bezahlen können. Wir sind behandeln. Eine Angleichung der Vergütungen zwischen
heute glücklicherweise so weit, dass diese Menschen im GKV und PKV ist dringend geboten. Dies ist Bestandteil
Krankheitsfall behandelt werden und die Behandlung unseres Konzepts einer solidarischen Bürgerversiche-
nicht auch noch aus eigener Tasche zahlen müssen. Aber rung.
ihre Schulden wachsen trotzdem weiter, so lange wie sie
die Prämien nicht bezahlen können. Bei diesen und einer Dem Antrag der Fraktion Die Linke zu den Solo-
ganzen Reihe weiterer Probleme handelt es sich aber nur Selbständigen kommt der Verdienst zu, dass er ein häu-
um die Symptome des grundsätzlichen Problems der fig unterschätztes Problem aufgreift. Die Linke schlägt
Krankenversicherung in Deutschland: ihre Spaltung in vor, die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage für Selbst-
einen solidarisch finanzierten und gesetzlich organisier- ständige auf die allgemeine Mindestbeitragsbemes-
ten Teil auf der einen Seite und einen individuell finan- sungsgrundlage für freiwillig Versicherte von 300 Euro
zierten und privat organisierten Teil auf der anderen abzusenken. Auch hier bietet das Konzept der Bürger-
Seite. Zwischen diesen beiden Teilen soll nach dem Wil- versicherung aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion eine
len der Bundesregierung ein Wettbewerb stattfinden, der Lösung an: In ihrem Zuge soll die Mindestverbeitragung
in Wirklichkeit niemals funktionieren kann. Zudem lei- für Selbstständige auf 400,01 Euro festgelegt werden.
det die GKV darunter, dass sich insbesondere die Gesun- Damit werden angestellte und selbstständige Geringver-
den und Leistungsstarken der Solidarität durch Wechsel diener in der Krankenversicherung gleich behandelt. Für
in die PKV entziehen können. Die PKV hingegen wäre die Versicherten hieße das, dass ihre Beitragsbelastun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12803

(A) gen besser kalkulierbar sind. Sie geraten nicht mehr in sie zieht politischen Profit aus der Verunsicherung der (C)
die Gefahr, durch ausstehende Beiträge in die Verschul- Versicherten nach der City-BKK-Pleite. Der Gesund-
dung zu rutschen. heitsminister sollte Anwalt der gesetzlich Versicherten
sein. Er sollte ihnen Vertrauen in die GKV geben und al-
Die Fraktion Die Linke hat weiterhin einen Vorschlag
les dafür tun, dass die Leistungen der GKV bezahlbar
zur Schließung der Finanzierungslücke von im PKV-Ba-
und erreichbar bleiben.
sistarif versicherten Hilfsbedürftigen vorgelegt. Sie for-
dert im Prinzip nichts anderes, als dass die ALG-II- und
Sozialgeldleistungsträger den Zuschuss für Krankenver- Jens Ackermann (FDP): Gesundheit ist ein hohes
sicherung auf die Höhe der Prämien für den PKV-Basis- Gut, ja, wenn nicht sogar das wichtigste im Leben. Wir
tarif erhöhen sollen. Letztendlich müssen diese Mehr- alle wollen möglichst lange gesund und mobil sein,
kosten aus Steuermitteln beglichen werden. möchten das Leben und seine Chancen aktiv genießen
Meine Fraktion geht davon aus, dass dies die falsche und gestalten können. Leider ist dieser hehre Wunsch,
Schlussfolgerung aus dem Urteil des Bundessozialge- das Ziel eines selbstbestimmten Lebens bei bester Ge-
richts ist. Es ist falsch, wenn mit den knappen finanziel- sundheit, nicht immer planbar. Wir alle können unerwar-
len Ressourcen die relativ hohen Beiträge im Basistarif tet krank werden, und jeder kann plötzlich auf fremde
der PKV finanziert würden. Aus diesem Grund lehnen Hilfe angewiesen sein. Dann ist es gut, einen Arzt aufsu-
wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. chen zu können, um sich professionell und bestmöglich
behandeln zu lassen, damit Leid gelindert und Krankhei-
Auch in diesem Fall wäre eine solidarische Bürger- ten behandelt werden können. Wir wissen, dass wir in
versicherung für meine Fraktion die einzig sinnvolle Deutschland ein Gesundheitssystem haben, um das uns
Lösung. Da wir die Solidarität der Versicherten unter- andere Länder beneiden: Die Patienten genießen eine
einander für das wichtigste Element in der Krankenver- sehr gute medizinische Versorgung bei im internationa-
sicherung ansehen, plädiert die SPD-Bundestagsfrak- len Vergleich moderaten Ausgaben. Vieles ist heute me-
tion für eine Lösung, wie sie auch der Gesetzentwurf der dizinisch machbar, und die Menschen im Land haben
Grünen vorsieht. Wir teilen die Auffassung, dass gesetz- Zugang zu bester Versorgung. Dass den Bürgerinnen und
lich und privat versicherte Hilfebedürftige gleichberech- Bürgern dies ermöglicht wird, liegt neben dem immer
tigt zu behandeln sind. Es ist daher richtig, die Prämien weiter entwickelten medizinischen Wissen und zahlrei-
der PKV für diese Personengruppe zu senken. Würden chen Innovationen vor allem auch und gerade an der Ab-
die Zuschüsse für Hilfsbedürftige auf die Höhe der Ba- sicherung der Menschen durch eine Krankenversiche-
sistarifprämien angehoben, bedeutete dies eine Subven- rung. Da wir im Land eine Pflichtversicherung haben,
tion der PKV einschließlich ihrer ruinösen Provisions- können folglich auch alle Kranken behandelt werden.
(B) und undurchsichtigen Vertriebsmethoden aus Steuermit- (D)
teln. Es darf keine Steigerung der Gewinne privater Ver- In Deutschland können die Menschen prinzipiell zwi-
sicherungsunternehmen auf Kosten der Allgemeinheit schen zwei verschiedenen Versicherungsarten wählen:
geben. Das Urteil des Bundessozialgerichts in dieser zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenver-
Frage ist allein aus Sicht des betroffenen Personenkrei- sicherung. Mit Blick auf die heute zu behandelnden An-
ses zu begrüßen. Ich freue mich für jeden Einzelnen, der träge zum Existenzminimum für Hilfebedürftige – und
aus der Schuldenfalle herauskommt. Dennoch muss die hier dem Wunsch der Linken nach einer Gleichbehand-
Politik weiter an einer grundsätzlichen Lösung des Pro- lung von GKV und PKV – sei an dieser Stelle vielleicht
blems arbeiten. Der Streit zwischen der Bundesarbeits- nochmals der Hinweis erlaubt, dass es sich hierbei um
ministerin von der Leyen und dem damaligen Bundesge- zwei unterschiedliche Systeme handelt. Ich glaube, dass
sundheitsminister (wider Willen) Rösler um die Frage, diese kurze Vorwegnahme mit Blick auf die heute zu dis-
wessen Haushalt die Kosten dafür trägt, hat nicht dazu kutierenden Anträge wichtig ist. Denn: Die Forderung
beigetragen, das Vertrauen in die Politik zu stärken. nach einer Gleichbehandlung von GKV und PKV mag
Zudem bin ich der Auffassung, dass die Erhöhung des aus der Sicht der Linken zwar zunächst einsichtig sein,
Beitrags für ALG-II-Empfänger geprüft werden sollte, da aus ihrer Sicht ja gerne alles gleichgemacht wird.
da der bisher von den Leistungsträgern an die GKV Aber dieser Versuch kann nicht gelingen, die Kollegin-
überwiesene Beitrag zu niedrig ist. Allerdings muss da- nen und Kollegen der Linken vergleichen – mal wieder –
rauf geachtet werden, dass das Solidarprinzip der GKV Äpfel mit Birnen.
nicht ausgehebelt wird. Der Beitrag muss sich an der
finanziellen Leistungskraft und nicht an den durch Diese Forderung berücksichtigt eben nicht die system-
Krankheit verursachten Kosten orientieren. immanenten Unterschiede beider Krankenversiche-
rungssysteme. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nut-
Zum Abschluss noch einmal der Appell an die Mit- zen und Ihnen die Differenzen noch einmal nahebringen:
glieder der Regierungsfraktionen: Gebieten Sie dem
Treiben des Gesundheitsministers Einhalt! Diese Bun- Das System der GKV ist beispielsweise eines, welches
desregierung betreibt aus ideologischen Gründen eine über ein Umlageverfahren und überwiegend durch ein-
systematische Schwächung der solidarischen Kranken- kommensorientierte Beiträge finanziert wird. In der PKV
versicherung. Sie macht den Versicherten die GKV ma- hingegen werden die Beiträge der Versicherten auf der
dig, sei es durch Kopfpauschalen, Vorkasse oder Chaos Grundlage privatrechtlicher Verträge nach einem abge-
in der Apotheke. Sie lässt Kassen in Notlage sehenden stuften versicherungsmathematisch-kalkulatorischen Prä-
Auges gegen die Wand fahren und insolvent gehen. Und miensystem erhoben. Dies orientiert sich am individuel-
12804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) len Risiko des Versicherten beim Eintritt in die PKV und rung ihrer Gesundheitsrisiken geht. Die Menschen ste- (C)
berücksichtigt Altersrückstellungen. hen füreinander ein, und so haben auch Bezieher von Ar-
beitslosengeld II Anspruch auf Übernahme ihrer vollen
In Deutschland sind die Menschen also für den Krankenversicherungsbeiträge durch die Träger der
Krankheitsfall abgesichert. Das ist gut und wichtig und Grundsicherung. Das ist richtig. Es ist eine besondere
kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Schließlich Leistung, dass wir es als selbstverständlich ansehen, den
haben wir nur dieses eine Leben, es sollte also im Inte- Menschen in Not zu helfen – ganz gleich, ob sie gesetz-
resse von uns allen liegen, dass wir gesund bleiben. Es lich oder privat versichert sind. Das Signal ist klar: Der
sollte uns aber auch einiges wert sein, ein gesundes Le- Staat lässt euch in der Not nicht allein! Die Botschaft,
ben zu führen und im Notfall die notwendige Behand- dass Menschen in Not nicht alleine gelassen werden, ist
lung erhalten zu können. Gesundheit ist deshalb der ein guter Aufhänger, um zu verdeutlichen, dass die An-
geldwerteste Vorteil überhaupt! träge vor allem eines sind: veraltet. Sie entsprechen
Wir müssen den Menschen deshalb ehrlich sagen, schlicht nicht mehr dem Ist-Stand. Es ist doch völlig of-
dass ihre Ausgaben für den Gesundheitsschutz hoch fensichtlich, dass hier mit den Anträgen versucht wird,
sind, dass Gesundheit mit Sicherheit nicht billiger, son- vermeintliche Probleme zu skizzieren, die so nicht exis-
dern eher noch teurer wird. Jedem muss klar sein, dass tieren. Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
die Kosten eher steigen als sinken werden. Aber wir Linken bauen hier ein Problemszenario auf, das so nicht
müssen ihnen im gleichen Atemzug auch sagen: Es lohnt mehr erkennbar ist. Denn die Anträge beziehen sich auf
sich! Denn: Ein gesundes Leben ist ein gutes Leben. Ein die sogenannte Beitragslücke von privat versicherten
Leben mit Gesundheitsschutz, mit einer Absicherung für Hilfebedürftigen, ohne die Entscheidung des Bundesso-
den Notfall, ist ein entspanntes Leben. Macht euch keine zialgerichts zu berücksichtigen – im Übrigen eine Ent-
Sorgen, ihr seid abgesichert! Bei aller Bedeutung für die scheidung vom 18. Januar dieses Jahres, also über fünf
Gesundheit müssen wir trotzdem im Auge behalten, dass Monate alt.
die Ausgaben bezahlbar bleiben. Dies ist die entschei- Da einige die Entscheidung offenbar noch nicht ken-
dende und zentrale Herausforderung der kommenden nen, will ich sie nochmals wiederholen: Das Bundesso-
Jahre und Jahrzehnte. Mit dem demografischen Wandel zialgericht hat entschieden, dass privat krankenversi-
und dem medizinisch-technischen Fortschritt steht die- cherte Bezieher von Arbeitslosengeld II Anspruch auf
ses Gesundheitswesen vor großen Veränderungen und Übernahme ihrer vollen Krankenversicherungsbeiträge
einem enormen Anpassungsdruck. durch die Träger der Grundsicherung haben. Das sind in
2011 monatlich maximal 287,72 Euro. Dies ist im Übri-
Für Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr und für
gen der halbe Höchstbeitrag der GKV. Natürlich wurde
die Bundesregierung im Ganzen ist dabei eines unbe-
(B) streitbar: Das Gesundheitswesen braucht eine solide Ba- sofort auf dieses Urteil reagiert. So hat die Bundesagen- (D)
tur für Arbeit bereits am 27. Januar 2011 eine Verfahrens-
sis, um für diese Herausforderungen gewappnet zu sein.
information erlassen. Darin werden die gemeinsamen
Wir wollen nicht irgendwann zu Abstrichen bei Leistun-
Einrichtungen angewiesen, ab dem 18. Januar 2011, also
gen und Qualität gezwungen sein, sondern den Men-
rückwirkend, die Beiträge für eine private Krankenversi-
schen konkrete Perspektiven geben. Hierzu hat die Ko-
cherung bis zur Höhe des halben Basistarifs zu überneh-
alition mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial
men. Die laufenden Fälle werden von der Bundesagentur
ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
von Amts wegen umgestellt. Die Betroffenen, die ohne-
versicherung die richtigen Weichen gestellt. Das Gesetz
hin genügend Sorgen haben, müssen dabei nicht tätig
ist ein guter Kompromiss für ein zukunftsfestes und leis-
tungsstarkes Gesundheitssystem. Wir verbinden damit werden; sie werden also doppelt entlastet.
eine strukturelle Neuordnung des Gesundheitswesens Für privat versicherte Bezieher von Leistungen nach
mit fairen und gleichmäßig verteilten Ausgabenbegren- dem Zwölften Sozialgesetzbuch gilt, dass die Träger der
zungen. Dabei wird die Qualität der Versorgung nicht Sozialhilfe angemessene Beiträge für eine private Kran-
gefährdet und Leistungen werden nicht beschränkt. kenversicherung im Falle von Hilfebedürftigkeit zu
Zugleich führen wir den einkommensabhängigen Kas- übernehmen haben.
senbeitrag auf das Niveau vor der Wirtschafts- und
Finanzkrise zurück. Die Absenkung des einkommensab- Das Gericht hat also für die nötige Klarheit gesorgt.
hängigen Beitrages auf Pump ist nun nicht mehr erfor- Das Urteil und die Folgen sind unbestreitbar wichtig für
derlich. Es ist uns gelungen, die Finanzierung der Ge- die Betroffenen im Land. Aber gerade deshalb gilt eben
sundheitskosten von den Arbeitskosten abzukoppeln und auch: Die Problematik der Beitragslücke in der PKV ist
damit auf eine stabile und verlässliche Grundlage zu seit Januar 2011 faktisch gelöst und die – in unterschiedli-
stellen. Gerade vor dem Hintergrund der hier zur Dis- cher Ausprägung aufgegriffenen – inhaltlichen Schwer-
kussion stehenden Anträge erscheint es mir wichtig, den punkte der hier zu behandelnden Anträge sind somit
Rahmen auch nochmals einzubeziehen und zu sagen: weitgehend weggefallen. Dabei möchte ich betonen,
Wir sind hier auf einem guten Weg. dass der auf den Höchstbeitrag zur gesetzlichen Kran-
kenversicherung begrenzte Beitrag im Basistarif, der im
Natürlich gibt es auch Menschen, die auf finanzielle Übrigen bei Hilfebedürftigkeit auf den halben zu ver-
Hilfe angewiesen sind: jene, die beispielsweise unver- mindern ist, von der Bundesregierung als angemessen
schuldet ihren Arbeitsplatz verloren haben und nun der angesehen wird. Natürlich möchte ich auch eingestehen,
Unterstützung bedürfen. Deshalb wird ja auch ALG-II- dass das Bundessozialgericht mit Blick auf den Umgang
Empfängern konkret geholfen, wenn es um die Finanzie- mit den durch die Beitragslücke aufgelaufenen Altschul-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12805

(A) den keine Antworten gegeben hat. Diese wird es jedoch schen Unsinn prangert die Linke schon seit zweieinhalb (C)
auch in Kürze geben; hier prüft beispielsweise das Bun- Jahren an. Die Bundesregierungen seitdem sind zerstrit-
desministerium für Arbeit und Soziales, wie mit diesen ten zwischen den Koalitionsparteien und zwischen den
verfahren werden soll. Ministerien, und es passiert nichts. Außerdem – so wurde
argumentiert – sei es auch verfassungsgemäß, wenn die
Gestatten Sie mir aber, nochmals auf eine Forderung Betroffenen von ihrem Regelsatz mehr als die Hälfte
der Linken im Antrag „Private Kranken- und Pflegever- selbst an ihre Krankenversicherung zahlen müssen. Mitt-
sicherung – Existenzminimum zukünftig auch für Hilfe-
lerweile hat das Bundessozialgericht geurteilt – und der
bedürftige“ einzugehen, die nach kostendeckenden
Bundesregierung für die bestehende Regelung eine Ohr-
Beiträgen für ALG-II-Bezieher in der GKV. Hier ist fest-
feige erteilt. Die Linke fordert die Bundesregierung noch-
zustellen, dass entsprechend höhere Beiträge mit erheb-
mals auf, hier zu handeln – auch rückwirkend – und den
lichen Belastungen für den Bundeshaushalt verbunden
betroffenen Menschen einen Funken Perspektive zurück-
würden. Dieses Ansinnen in dem Antrag würde also die
zugeben.
Bemühungen um Haushaltskonsolidierung konterkarie-
ren. Dass auch die Grünen hier nun eingesehen haben,
Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag dass es eine Lösung geben muss, begrüße ich natürlich,
der Linken zu einer geforderten gesetzlichen und bezahl- wenngleich es eine andere Lösung ist als unsere. Weil es
baren Krankenversicherung für Solo-Selbstständige ein- aber eine Lösung ist, die den Betroffenen nutzen würde,
gehen. Die besonderen Mindestbeiträge für Selbststän- werden wir diesen Vorschlag auch nicht ablehnen.
dige sind im gegenwärtigen System der gesetzlichen
Ein wenig verwundert kann ich nur über die Position
Krankenversicherung sinnvoll, weil das Steuerrecht nun
der SPD sein, die nun zwar mit ihrer Zustimmung zu
mal den Selbstständigen – anders als Arbeitnehmern –
dem Grünen-Gesetzentwurf etwas anderes fordert, als
eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt.
sie mit Ulla Schmidt in der Regierung 2007 durchgesetzt
Diese steuerrechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber
nicht in Form ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf hat. Dennoch lehnt die SPD mit an den Haaren herbeige-
die gesetzliche Krankenversicherung auswirken. zogenen Argumenten unseren Antrag ab, ohne zu würdi-
gen, dass damit ein nicht zuletzt von der SPD hergestell-
Zudem müssen wir doch eines bedenken: Versicherte, ter verfassungswidriger Zustand beseitigt würde.
die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, belasten die
übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei- Dass die schwarz-gelbe Koalition ablehnt, war vo-
tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri- rauszusehen. Ich hoffe, dass sich unsere Gedanken in ei-
gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Dies nigen Monaten in einem Regierungsvorschlag wieder-
(B) ist aus unserer Sicht nicht tragbar. Deswegen können wir finden werden und dass den Betroffenen dann endlich (D)
dem Antrag auch nicht zustimmen. Das ist schlicht unso- geholfen wird. Was mich an der ganzen Angelegenheit
zial. Auch ist es doch so, dass die gesetzlichen Regelun- am meisten ärgert: Wenn mir ein Betroffener sagt, dass
gen derzeit schon vorsehen, dass Selbstständige, die nur die Politik in diesem Punkt seit Jahren unfähig ist, eine
ein geringes Einkommen haben, 30 Prozent weniger Bei- Lösung auf den Weg zu bringen, dann muss ich ihm
träge als im Normalfall zahlen. Eine weitere Beitrags- Recht geben. Der Umgang der Bundesregierung mit die-
ermäßigung lehnen wir daher ab. sem Problem ist ein Förderprogramm für Politikverdros-
senheit. Das will die Linke ändern.
Sie sehen also, dass die Sorgen einzelner Kolleginnen
und Kollegen mit Blick auf eine vermeintliche Benach- Zweites Problem: Basistarif in der PKV. Es geht bei
teiligung von privat versicherten ALG-II-Beziehern diesen Privatversicherungen nicht um Luxusversicherun-
durch die Realität in Gestalt eines Gerichtsurteils ent- gen, sondern in der Regel erhalten Privatversicherte im
kräftet werden können. Diese Probleme bestehen so seit Basistarif weniger Leistungen als gesetzlich Krankenver-
mehreren Monaten nicht mehr. Gleichwohl möchte ich sicherte. Sie hören richtig: Die private Krankenversiche-
Sie darin unterstützen, auch weiterhin für die beiden rung ist nicht in der Lage, für überdurchschnittliche
Versicherungssysteme zu kämpfen, wie Sie dies ja in Ih- Beiträge – mindestens etwas mehr als der Durchschnitts-
rem Ansinnen durch die Anträge bereits getan haben. beitrag, oft der Maximalbeitrag der GKV – wenigstens
die gleiche Leistung zu bieten wie die gesetzliche Kran-
Harald Weinberg (DIE LINKE): Drei unterschiedli- kenversicherung. Weil die privaten Versicherungen den
che Themen stehen hier zur Debatte, vier Minuten habe Ärzten oft weniger zahlen als die gesetzlichen, sind oft
ich dafür. Kein leichtes Unterfangen. nur wenige Ärzte überhaupt bereit, die privaten Basista-
rifversicherten zu behandeln. Das ist ein Skandal! Kranke
Erstens geht es um privat krankenversicherte Selbst- erhalten in Deutschland nicht die notwendige Versor-
ständige oder ehemalige Selbstständige, deren Einkom- gung!
men nicht zum Leben reicht und die deshalb Hartz IV be-
ziehen müssen. Diese Menschen dürfen seit 2009 nicht Die Linke teilt die Menschen nicht in privat und ge-
mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurück. Ge- setzlich ein. Die Linke will, dass alle Menschen die not-
setzlich wurde damals geregelt, dass die privaten Versi- wendige Behandlung erhalten. Deshalb bringen wir
cherungskonzerne zwar rund 290 Euro von den Betroffe- heute einen Antrag ein, mit dem die Versicherten im Ba-
nen verlangen dürfen. Davon werden aber nur rund sistarif mit den gesetzlich Versicherten gleichgestellt
130 Euro von den Ämtern erstattet. Diesen gesetzgeberi- werden sollen.
12806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Drittes Thema: Solo-Selbstständige in der gesetzli- monatlich nur noch 180 Euro zum Leben, oder sie ver- (C)
chen Krankenversicherung. Auch dies ist ein Problem, schuldeten sich bei ihrer Krankenversicherung, was ei-
das dadurch entsteht, dass es sowohl das System der ge- nen beruflichen Neustart massiv behinderte.
setzlichen als auch das der privaten Krankenversiche-
rung gibt. Selbstständige haben per Gesetz die Möglich- Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb haben den Streit zwi-
keit, sich für eines der Systeme zu entscheiden. Im Falle schen Arbeits- und Gesundheitsministerium jahrelang
von Vorerkrankungen und von geringem Einkommen auf Kosten der Betroffenen geführt. Dabei betrieben die
fällt die Wahl auf die gesetzliche Krankenversicherung. Gesundheitspolitiker der jetzigen Koalition unerschüt-
Die wäre aber mit den relativ kranken und relativ gering- terlich Politik zugunsten der PKV. Sie stellten sich damit
verdienenden Selbstständigen überfordert. Um diese nicht nur gegen unseren seit etwa eineinhalb Jahren vor-
Überforderung zu vermeiden, gibt es ein angenommenes liegenden grünen Gesetzentwurf – diesen Reflex kennen
Mindesteinkommen, das allerdings häufig deutlich hö- wir ja –, sondern auch gegen die Vorschläge der Arbeits-
her ist als das tatsächliche Einkommen. Das führt zu teils ministerin. Es besteht keine Bereitschaft, für hilfebedürf-
absurd hohen Beitragssätzen von über 30 Prozent. Das tige Privatversicherte die Beiträge im PKV-Basistarif auf
ist kein theoretischer Wert: Gerade letzte Woche habe das entsprechende Niveau der GKV abzusenken.
ich mich mit Lehrkräften der Integrationskurse getrof- Bis 2009 war diese Gleichbehandlung auch die Posi-
fen, die überwiegend ihre wichtige Arbeit als selbststän- tion der Linken. Nun fordern sie für beide Versiche-
dige Honorarkräfte leisten, und zwar für Stundensätze, rungssysteme deutlich mehr – aber, wie üblich, verlieren
die selten über 15 Euro, aber häufig unter 10 Euro lie- sie kein einziges Wort darüber, wo die dafür notwendi-
gen. Bei denen kommen diese 30 und mehr Prozent gen jährlich 6 Milliarden Euro Steuermittel herkommen
schnell zustande. sollen. Daher enthalten wir Grünen uns beim Antrag der
Die Linke will keinen Unterschied machen, ob je- Linken.
mand selbstständig oder aus einem sonstigen Grund frei- Das BSG hat entschieden, dass privat versicherte
willig versichert in der gesetzlichen Krankenversiche- Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen nun vom
rung ist. Daher fordern wir die Herabsetzung auf den Jobcenter den vollen Betrag für den abgesenkten Basis-
allgemeinen Mindestbeitrag in Höhe von gut 130 Euro tarif erhalten. Politisch betrachtet bedeutet dies eine
als Untergrenze. Besser wäre natürlich eine Abschaffung massive Ungleichbehandlung: Die PKV erhält für die
der privaten Krankenversicherung als Vollversicherung gleichen Leistungsansprüche wie in der GKV mehr als
und die Einbeziehung aller in eine echte Bürgerversiche- doppelt so viel Geld vom Jobcenter. Der Spruch des
rung. Da wäre die Linke die erste Fraktion die laut „Ja!“ BSG war jedoch notwendig für die Betroffenen. Aber
ruft. Aber dazu ist derzeit leider keine andere Fraktion nicht alle profitieren rückwirkend. Nur die, die geklagt
(B) bereit. haben, erhalten den Differenzbetrag und können ihre (D)
Schulden begleichen. Für die anderen wurde der rechts-
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ei- widrige Verwaltungsakt nur für die Zukunft aufgehoben.
nes steht fest: Mit der Bürgerversicherung wäre das nicht
Die Koalition darf das BSG-Urteil nicht nutzen, um
passiert! Keines der Probleme, die wir heute diskutieren,
weiter untätig zu bleiben. Es braucht eine gesetzliche
bestünde, wenn in Deutschland ein einheitlicher Kran-
Regelung, bei der GKV und PKV identische Beiträge für
kenversicherungsmarkt existieren würde. Aber Deutsch-
identische Leistungen erhalten. Für die Betroffenen
land spielt mal wieder – gemeinsam mit Belgien – eine
muss gelten: Egal ob einer den Mut hatte, zu klagen,
europäische Sondernummer und leistet sich zwei nach
oder still gelitten hat: Für alle Betroffenen müssen rück-
unterschiedlichen Prinzipien funktionierende Systeme.
wirkend die vollen Prämien übernommen werden.
Die grüne Bürgerversicherung – konkret, schlüssig und
durchgerechnet – würde alle Probleme lösen. Beim Antrag der Linken zur Senkung der Beiträge für
Solo-Selbstständige enthalten wir uns. Die Intention des
Die SPD diskutierte monatelang und legte Eckpunkte
Antrags, Selbstständige mit geringen Einkommen zu
vor, die keinen Beitrag zur nachhaltigeren Finanzierung
entlasten, unterstützen wir. Daher sieht die grüne Bür-
des Solidarsystems leisten. Sie hält an der Bezugsgröße
gerversicherung vor, Beiträge strikt einkommensbezo-
Arbeitseinkommen fest.
gen zu erheben. Mindestbeiträge würden überflüssig.
Die Linke verzichtet in ihrem neuen Antrag sogar Zugangsbeschränkungen und Mindestbeiträge in der
gleich ganz darauf, das Wort Bürgerversicherung zu er- GKV für Selbstständige sind der Preis für die Zweitei-
wähnen. Sie spricht nur noch davon, dass alle gesetzlich lung unseres Krankenversicherungssystems. Anderen-
versichert werden sollen. falls würden Selbstständige mit geringen Einkommen
und hohen Krankheitsrisiken sich für die GKV entschei-
Zwei Jahre – erst durch das Bundessozialgericht im den, alle anderen weiterhin für die PKV. Dies würde zu
Januar 2011 beendet – bestand der skandalöse Zustand, enormen Belastungen des Solidarsystems führen, die die
dass privat krankenversicherte Arbeitslosengeld-II-Be- jetzigen Versicherten über Zusatzbeiträge zu finanzieren
zieher und -Bezieherinnen für den Basistarif rund hätten. Das würde abhängig Beschäftigte mit kleinen
290 Euro zahlen mussten, vom Jobcenter jedoch nur Einkommen überproportional belasten.
etwa 125 Euro erhielten: inklusive Pflegeversicherung
eine monatliche „Finanzierungslücke“ von rund Der Vorschlag der Linken ließe sich nicht umsetzen,
180 Euro. Den Betroffenen blieb die Wahl zwischen Pest da eine adäquate Abgrenzung von Solo-Selbstständigen
und Cholera: Entweder zahlten sie die Prämie und hatten nicht möglich ist. Er würde Solo-Selbstständige und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12807

(A) Selbstständige mit einem oder mehreren Beschäftigten treter und Bewerber für ein Wahlamt auf eine hauptamt- (C)
und identischem Einkommen unterschiedlich behandeln. liche oder informelle Stasimitarbeit überprüft werden
können.
Die Bürgerversicherung ist die Lösung. Auf dem Weg
dahin – oder gerade dann, wenn man, wie die Regierung, Ebenfalls richtig ist die Vereinfachung des Zugangs
das Nebeneinander von GKV und PKV gutfindet – muss zu den Unterlagen für Wissenschaftler und Journalisten.
man solche Probleme lösen. Wegducken zulasten der so- Immer unter dem Vorbehalt der Wahrung schutzwürdi-
zial Schwachen gilt nicht! ger persönlicher Belange – keinesfalls dürfen Opfer von
Stasibespitzelungen erneut Eingriffen in ihre Persönlich-
keitsrechte ausgesetzt sein – ist eine größtmögliche
Anlage 4 Offenheit der Akteneinsicht anzustreben. Dazu trägt die
geplante Erleichterung der Einsichtnahme in Akten bei,
Zu Protokoll gegebene Reden die sich nicht auf natürliche Personen beziehen. Auch
zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset- die Möglichkeit der Verkürzung von Schutzfristen in ge-
zes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Geset- prüften Einzelfällen ist in diesem Sinne zu begrüßen.
zes (Tagesordnungspunkt 18) Gegen die geplante Neuregelung bei der Kostenver-
ordnung ist ebenfalls nichts einzuwenden, allerdings nur,
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Die Gründung solange sichergestellt bleibt, dass damit keine Gebühren-
der Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des erhöhung verbunden wird. Die Einsicht in und die Arbeit
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, BStU, mit den Akten muss für alle Interessierten erschwinglich
vor mehr als 20 Jahren diente vor allem einem Ziel: der bleiben!
Öffentlichkeit, insbesondere den Stasiopfern die schrift- In einem Punkt allerdings kann ich dem Gesetzent-
liche Hinterlassenschaft des SED-Regimes zugänglich wurf der Koalition nicht zustimmen: bei der geplanten
zu machen. Die Existenz dieser Behörde stellt einen we- Ausweitung der anlasslosen Überprüfung. Behördenlei-
sentlichen Erfolg der friedlichen Revolution von 1989/ ter und Angestellte mit vergleichbar verantwortungsvol-
1990 dar. Mit viel Leidenschaft wurde sie erkämpft. Die len Aufgaben können bereits heute überprüft werden.
erste frei gewählte Volkskammer hat es gewollt, und der Ich frage Sie: Weshalb sollten Beamte und Mitarbeiter
Deutsche Bundestag hat dann ein Gesetz beschlossen, des öffentlichen Dienstes in „leitender Funktion“ ab
auf dessen Grundlage die BStU entstanden ist. Seit 1991 2012 bis hinab zu Angestellten der Besoldungsgruppen
wurde es mehrfach novelliert. In der gültigen Fassung ist E 13 bzw. A 13 überprüfbar sein? Und mehr noch: sogar
die Regelüberprüfung bis 2011 befristet und läuft nun Angestellte und Beamte „in Einrichtungen, die sich
(B) aus. mehrheitlich in öffentlicher Hand befinden“? (D)
Die Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf zur Niemand, auch Sie selbst nicht, wissen zu sagen, wen
Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgelegt. und wie viele Personen Ihr Vorschlag eigentlich treffen
Grundsätzlich ist dies zu begrüßen. Denn damit zeigt würde. Ist für Sie also ein einfaches Mehr an Überprü-
sich, dass sich auch bei CDU/CSU und FDP die Einsicht fung schon genug? Geht es nicht um die Qualität der Tä-
durchgesetzt hat, dass die BStU weiterhin gebraucht tigkeit, die eine anlasslose Überprüfung rechtfertigt?
wird. Es gab ja gelegentlich andere Stimmen aus Ihren Was genau ist mit „leitender Funktion“ gemeint? Und
Reihen! sollen nun auch Mitarbeiter der Deutschen Bahn über-
Der Andrang zu den Akten und die Anzahl der An- prüft werden?
träge auf Einsichtnahme sind ungebrochen hoch. In Hier sollten Sie noch einmal nachdenken. Auch wenn
Deutschland und international erfährt die Behörde große Sie bereits abgelehnt haben, auf einen vermittelnden
Anerkennung. Weltweit gilt sie als Vorbild für einen an- Vorschlag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu die-
gemessenen Umgang mit der eigenen Diktaturge- sem Punkt einzugehen, möchte ich Ihnen doch zu Be-
schichte. sonnenheit raten. Grenzen Sie zumindest den Begriff der
„leitenden Funktion“ ein, und beschränken Sie die Aus-
Die Erforschung der SED-Geschichte macht Fort-
weitung der Überprüfung auf Fälle, in denen tatsächliche
schritte, doch sie ist noch lange nicht am Ende. Die his-
Anhaltspunkte, also echte Verdachtsmomente, für eine
torisch-politische Bildung wird mit zunehmendem zeitli-
hauptamtliche oder inoffizielle Stasimitarbeit vorliegen.
chem Abstand von den Ereignissen um 1989/90 immer
wichtiger. Mit ihren drei Schwerpunkten in der Aufklä- Denn so vage und ausufernd Ihr Vorschlag in diesem
rung, der Forschung und der Bildung über Funktions- Punkt ist, so wenig steht er im Einklang mit den Überle-
weise und Struktur der SED-Herrschaft erfüllt die BStU gungen und Zielen, aus denen heraus die BStU einst ge-
nach wie vor gesellschaftlich wichtige Aufgaben, sodass gründet worden ist. Ein zentrales Anliegen war und
der Fortbestand der Behörde bis 2019 ausdrücklich zu muss auch heute die Befriedung unserer Gesellschaft
unterstützen ist. sein. Hierzu gehört die Aufklärung – und die BStU stellt
dazu ihr Instrumentarium bereit. Aber sie ist kein Selbst-
Viele Änderungen des Koalitionsentwurfes sind rich- zweck.
tig und vernünftig und zwischen uns einvernehmlich be-
sprochen. So kann es für das unbedingt notwendige Ver- Denn auch das rechtsstaatliche Prinzip der Verjährung
trauen in die politisch Handelnden nur von Vorteil sein, dient der Befriedung und ist zu wahren. Wer sich über
wenn auch ehrenamtliche Bürgermeister, Kommunalver- 20 Jahre lang persönlich nichts hat zuschulden kommen
12808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) lassen, für den ist eine erfolgreiche Bewährung in unse- haben schon die Überprüfungsfristen über 2006 hinaus (C)
rer Gesellschaft anzuerkennen. abgelehnt, weil wir dadurch das Prinzip der Verhältnis-
mäßigkeit verletzt sehen.
Auch in Zukunft werden Wissenschaftler oder Jour-
nalisten mit ihren Recherchen Personen als Stasimitar- In der Präambel des Programms der Linken von 2003
beiter enttarnen. Das ist auch richtig so, und das StUG wird eine „rückhaltlose Auseinandersetzung mit den
bietet das Instrumentarium, um darauf angemessen zu Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kom-
reagieren und Konsequenzen zu ermöglichen. Solche munismus begangen wurden“ gefordert und „der unum-
Fälle wird es geben, solange ehemalige Stasimitarbeiter kehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie
in unserer Gesellschaft leben. Wir müssen lernen, damit und politischen Freiheitsrechten“ als das die Linke eini-
umzugehen, und dürfen uns gerade angesichts des SED- gende Fundament beschrieben.
Unrechts nicht hinreißen lassen, unsere eigenen Prinzi-
pien zu verraten. Deshalb appelliere ich an die Kollegen Und wo sind wir heute? Nun soll die Frist zur Über-
der Koalitionsfraktionen: Halten Sie Maß! prüfung bis 2019 verlängert werden. Und nicht nur das,
völlig unbegreiflicherweise wird nun auch der Personen-
kreis, der 2006 mit gutem Grund eingeschränkt worden
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Jahr
war, wieder ausgeweitet.
2011, bei der inzwischen achten Novelle des Stasi-Un-
terlagen-Gesetzes, ist es an der Zeit, grundsätzlich zu Die Linke spricht sich – auch mit der Erfahrung der
werden, was die Position der Linken zu diesem Gesetz letzten 20 Jahre – gegen eine Verlängerung der zum
betrifft. Am 24. August 1990 gab es einen nahezu ein- 31. Dezember 2011 auslaufenden Überprüfungsmöglich-
stimmigen Beschluss der Volkskammer der DDR, die keiten bis zum Ende des Jahres 2019, also eine Verlänge-
Stasiunterlagen zu archivieren und für die Aufarbeitung rung um weitere acht Jahre, aus, genau wie auch gegen
zugänglich zu machen. Die PDS hat diesem Gesetz, der eine Erweiterung des zu überprüfenden Personenkreises
Einrichtung einer Stasiunterlagenbehörde und der Wahl um Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die eine lei-
von Joachim Gauck als erstem Leiter der Behörde zuge- tende Funktion ausüben, Beamte und Tarifbeschäftigte,
stimmt. Wir vertraten die Auffassung, dass die Stasi- die eine weniger hochrangige, aber leitende Funktion
opfer ein Recht auf Akteneinsicht und Wahrheit haben. wahrnehmen, wie zum Beispiel Referatsleiter in der
Unsere Zweifel richteten sich immer gegen die Metho- Bundes- und Landesverwaltung oder Leiter von Grund-
den der Regelüberprüfung und die Fristen. und Hauptschulen, und, wie es in der Begründung heißt,
Nur ein Jahr später, 1991, hat im Bundestag eine auch um Bewerber um Wahlämter – Abgeordnete, Mit-
große Debatte über das Stasi-Unterlagen-Gesetz stattge- glieder kommunaler Vertretungen, kommunale Wahlbe-
(B) funden. Ein prominentes Mitglied dieses Hauses, das amte sowie ehrenamtliche Bürgermeister usw., usw. (D)
nicht zur PDS gehörte, hat dabei folgendes gesagt:
In unserem Rechtssystem spielt bei Fragen der Schuld
Ich sage Ihnen, dass es ganz und gar unserer die Zeit eine entscheidende Rolle. Selbst die Tatbestände
Rechtstradition widerspricht, einem Täter über ei- der gefährlichen Köperverletzung, der schweren Verge-
nen so langen Zeitraum hinweg eine Tat … nachzu- waltigung oder der schweren Freiheitsberaubung verjäh-
halten: 15 Jahre! Wenn ich Zweifel am Gesetz habe, ren nach zehn Jahren. Es kann nicht sein, dass die Ver-
dann an diesem Teil, der einen Zug der Erbar- jährungsfrist, die bei allen anderen Tatbeständen gilt,
mungslosigkeit hat und nicht die Kraft findet, zu sa- hier keine Geltung haben soll.
gen, dass in fünf oder sechs Jahren, jedenfalls in
diesem Jahrhundert, die allgemeine Durchleuch- In der BRD gab es 1973 ein aufsehenerregendes Ur-
tung der Vergangenheit endet, wenn nicht ein indi- teil, das Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
viduelles Opfer Klage oder Anklage erhebt. In ihm wurden Persönlichkeitsrechte, auch von Tätern,
eindeutig höher bewertet als das Recht der Medien, zeit-
Das war Burkhard Hirsch von der FDP. lich uneingeschränkt über die Person eines Straftäters
und seine Privatsphäre zu berichten. Es ging um Männer,
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat den Gesetzentwurf die 1969 bei einem Überfall auf eine Kaserne vier Solda-
abgelehnt. Sie kritisierte, dass bei der Feststellung einer ten im Schlaf getötet hatten. Das Bundesverfassungsge-
Stasimitarbeit der Täter- bzw. Mitarbeiterbegriff zu un- richt urteilte: 14 Jahre nach der Tat kann dem Täter der
differenziert bleibe und der Kreis der zu überprüfenden Totschlag nicht mehr vorgehalten werden.
Personen dadurch nahezu uferlos ausgeweitet werde.
Der politischen Willkür bei der Beurteilung werde da- Die Opfer der Ausspähungen durch die Stasi müssen
durch Tür und Tor geöffnet. auch in Zukunft ein Recht auf Akteneinsicht haben.
Als diese 15 Jahre vorüber waren, wurden im Jahr Auch muss die wissenschaftliche Aufarbeitung garan-
2006 die Fristen der Überprüfungen bis 2011 weiter ver- tiert sein, ja sogar erweitert und vertieft werden. Wieder-
längert. Die Linke hat diese Neuregelung abgelehnt. holt haben wir den Vorschlag gemacht, die Unterlagen
des Ministeriums für Staatssicherheit ins Bundesarchiv
Zitat aus meiner Rede vom 30. November 2006: Es ist zu überführen, um eine schnellere, eine bessere, vor al-
unser Credo als Linke: Ja, wir sind für die Aufarbeitung lem aber eine weniger zufällige, also wissenschaftliche
der DDR-Vergangenheit, und zwar je vertiefter und dif- Aufklärung zu garantieren. Eine Zusammenführung dort
ferenzierter, desto besser; aber wir sagen Nein zu weite- hätte größere Effekte für Forschung und Bildung als in
ren Überprüfungsfristen für den öffentlichen Dienst. Wir der jetzigen Behörde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12809

(A) Wir sagen: Es gibt ein Recht auf Wahrheit. Aber ten nicht mehr verfolgt werden. Einzig Mord und Völ- (C)
20 Jahre nach der Wiedervereinigung die fortgesetzte kermord verjähren nicht. Unsere Rechtsordnung ist da-
Überprüfung eines Teils der Gesellschaft auf fast mit klar vom Prinzip der zweiten Chance geprägt. Das
30 Jahre auszudehnen, dient dem Rechtsfrieden nicht verlangt die Achtung der Menschenwürde. So hat es das
und auch nicht dem inneren Frieden! Bundesverfassungsgericht selbst für Mörder entschie-
den, die die Chance haben müssen, einmal wieder in
Freiheit zu gelangen. Wir sehen also viel Erörterungsbe-
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
darf, auch mit den Opferorganisationen und den Aufar-
Grundsätzlich sind sich alle Parteien mit Ausnahme der
beitungsinitiativen. Einer Expertenanhörung sehen wir
Linken darüber einig, dass Mitarbeiterinnen und Mitar-
mit Spannung entgegen.
beiter im öffentlichen Dienst länger als bisher vorgese-
hen auf eine inoffizielle Mitarbeit für das Ministerium
für Staatssicherheit überprüft werden können. Die Mög-
Anlage 5
lichkeit dazu soll bis 2019 verlängert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die schwarz-gelben Koalitionsfraktionen wollen, dass
jede und jeder ab der Besoldungsgruppe A 13 und der zur Beratung des Antrags: Erweiterung der An-
Entgeltgruppe E 13 auf eine frühere Stasitätigkeit über- zahl der Sachverständigen in der Enquete-
prüft werden kann. Einen Anlass oder Verdacht auf eine Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
Stasitätigkeit brauchen sie dafür nicht. Vielmehr soll es qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften
schon genügen, dass eine Person eine „leitende Funk- und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozia-
tion“ im öffentlichen Dienst wahrnimmt. Wann eine „lei- len Marktwirtschaft“ (Tagesordnungspunkt 19)
tende Funktion“ vorliegt, wollen CDU/CSU und FDP
aber nicht bestimmen. Ausdrücklich greifen sie nicht auf Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): In dem von weib-
die bereits existierende Definition im Beamtenrecht zu- lichen Abgeordneten aus mehreren Fraktionen gestellten
rück. Damit ist unklar, wer künftig überprüft werden Antrag geht es darum, entgegen dem Einsetzungsantrag
kann: nur der Schulleiter oder auch die Fachbereichslei- für diese Kommission, weitere Sachverständige in die
ter? Nur der Dienststellenleiter einer Polizeiinspektion Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
oder auch der Wachleiter? Eine solche Unbestimmtheit qualität“ zu entsenden. Vorrangiges Kriterium für diese
öffnet Willkür und Ungleichbehandlung Tür und Tor. zusätzlichen Sachverständigen soll sein, dass es sich da-
bei um Frauen handelt.
Trotz monatelanger Verhandlungen und einem Kom-
promissvorschlag von Wolfgang Thierse und mir haben Die Enquete-Kommission lautet mit vollem Namen
(B) CDU/CSU und FDP sich in der Frage der Ausweitung (D)
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach-
des zu überprüfenden Personenkreises nicht bewegt. Sie haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt
haben eine fraktionsübergreifende gemeinsame Einbrin- in der Sozialen Marktwirtschaft“. Greifen wir uns den
gung der Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes so un- Begriff des Fortschritts aus dem Titel unserer Kommis-
möglich gemacht. Wir haben einen Kompromiss ange- sion heraus und beleuchten ihn ein wenig. Was wird seit
boten, weil uns ein gemeinsames parlamentarisches dem 18. Jahrhundert als Fortschritt bezeichnet? Die fort-
Vorgehen wichtig ist. Wolfgang Thierse und ich schla- schreitenden wissenschaftlichen, technischen, kulturellen,
gen vor, dass Personen mit der Besoldungsgruppe A 13 sozialen, wirtschaftlichen und politischen Errungenschaf-
und der Entgeltgruppe E 13 dann überprüft werden dür- ten, der zivilisatorische Wandel einzelner Gesellschaften,
fen, wenn sie eine leitende Funktion im Sinne des Beam- Handlungs- und gesellschaftlicher Teilbereiche, aber
tengesetzes wahrnehmen. Außerdem müssen tatsächli- auch der Menschheit als Ganzes.
che Anhaltspunkte für eine Stasitätigkeit vorliegen. Das
bedeutet nicht, dass alle anderen Personen gar nicht Als theoretisches Konzept hat der Begriff des Fort-
mehr überprüft werden können. Im Verdachtsfall können schritts mit dem neuzeitlichen Geschichtsoptimismus die
Journalisten und Historiker immer noch Einsicht in Ak- Bedeutung eines „geschichtsphilosophischen Universal-
ten nehmen. Damit wird dem öffentlichen Interesse an begriffs“, wie der bekannte deutsche Historiker Reinhart
Aufklärung Genüge getan. Koselleck ihn beschreibt, erlangt. Fortschritt bedeutet
hier eine durch menschliches Handeln bewirkte Zu-
Ich meine, dass eine darüber hinausgehende Überprü- standsveränderung zum Besseren im Sinne einer Höher-
fung nicht geboten ist. Nach mehr als 20 Jahren ohne oder Weiterentwicklung.
Beanstandung der Tätigkeit im öffentlichen Dienst kann Diese Höherentwicklung kann dabei auf einen end-
regelmäßig auf eine Bewährung in der demokratischen lich gedachten Vollkommenheitszustand zielen oder als
Grundordnung geschlossen werden. Selbst wenn eine fortlaufende Annäherung an einen letztlich unerreichba-
Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit vorge- ren Zustand imaginiert werden, da durch den Fortschritt
legen haben sollte, so muss doch in die gesellschaftliche selbst Ziele und Zwecke immer neu und weitergehend
Bewertung einbezogen werden, dass dieses Fehlverhal- entworfen werden können.
ten mittlerweile lange zurückliegt. Das ist im Übrigen in
unserer Gesellschaft auch nicht unüblich. Wir schätzen Hier müssen der Deutsche Bundestag und seine Mit-
den Frieden in der Gesellschaft hoch genug, um den glieder einsehen, dass auch wir einen Vollkommenheits-
Rechtsfrieden durch das Instrument der Verjährung zu zustand nie erreichen werden und auch unser „Fort-
gewährleisten. Wir nehmen dafür in Kauf, dass Strafta- schritt“ nur eine Annäherung an einen unerreichbaren
12810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011

(A) Zustand beschreiben kann. Denn dieser heutige Antrag nicht berücksichtigt. Dass diese Tätigkeit unsere Gesell- (C)
wird nur deshalb behandelt, weil wir allesamt es zu- schaft und unsere Familien in einem enormen Maß be-
nächst versäumt haben, darauf zu achten, dass unter den reichern, ist uns allen bewusst. Diesen Aspekt haben wir
17 Sachverständigen auch Frauen berücksichtigt wer- in der Projektgruppe auch ohne einen weiblichen Sach-
den. verständigen im Auge gehabt. Aber ich bin sicher, dass
wir mit unserer neuen Fachfrau ihre Expertise mit ein-
Ich denke, als sich die einzelnen Fraktionen Gedan- fließen lassen können.
ken darüber gemacht haben, welche Sachverständigen
sie für diese Kommission benennen, haben sie sich ein- Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass diese
zig von der Sache her leiten lassen. Diese Enquete-Kom- Enquete-Kommission alles andere als eine frauenfeind-
mission hat den Auftrag erhalten, über das tagespoliti- liche Veranstaltung ist. Unter den 17 Mitgliedern aus den
sche Klein-Klein hinauszublicken. Die Lebensqualität Reihen des Bundestages finden sich acht Frauen, also
der Menschen ist über Jahrzehnte hinweg mit dem fast die Hälfte. Damit sind die Frauen sogar überreprä-
ökonomischen Produktionsniveau von Gesellschaften sentiert, denn die „Frauenquote“ innerhalb aller Parla-
gleichgesetzt worden. mentarier liegt wiederum nur bei einem Drittel. Ebenso
gehören dieser Kommission gleich drei Obfrauen unter
Lange Zeit galt das BIP, also der Gesamtwert aller
dem Vorsitz einer Frau, der Kollegin Daniela Kolbe, an.
Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft, als
Zwei der bisher drei Arbeitsgruppen der Kommission
Gradmesser nicht nur für Wachstum, sondern auch für
werden von Frauen geleitet.
das Wohlergehen und damit die Lebenszufriedenheit der
Menschen. Dieses Verständnis wandelt sich. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion halten am
Die Enquete-Kommission soll Vorschläge erarbeiten, überparteilichen Einsetzungsbeschluss für diese En-
wie wir Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in un- quete-Kommission vom November 2010 fest. Dort ist
serem Land verbessern, vereinbaren und sogar ablesbar die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages
machen können. Für diese wichtige Aufgabe wollten die sowie die Anzahl der Sachverständigen geregelt, die die-
Fraktionen auch wichtige Köpfe aus ihren Reihen und ser Kommission angehören sollen. In keinem der beiden
aus den Reihen der Wissenschaft in diese Kommission Einsetzungsanträge – nicht in dem von CDU/CSU, SPD,
entsenden. Grünen, FPD und auch nicht in dem von der Linken – ist
die Rede davon, dass die Sachverständigen nach ihrem
Dass unter den Sachverständigen bislang kein einzi- Geschlecht auszuwählen seien. Ich hielte das auch für
ges weibliches Mitglied zu finden war, liegt nicht an ein falsches Kriterium. Die Fraktionen sollten frei aus-
mangelnder Kompetenz, sondern auch an dem exponier- wählen, wen sie als Sachverständige benennen möchten.
(B) ten Fachwissen der vielen anderen Sachverständigen, die Das haben alle Fraktionen getan. Bis auf die CDU/CSU- (D)
unsere Kommission so wunderbar bereichern. Aber es Fraktion hat niemand eine Frau benannt. Die einzelnen
liegt auch daran, dass man entweder nicht an Männer Fraktionen werden dafür auch ihre Gründe haben. Aber
und Frauen gedacht hat oder sich auf die anderen verlas- vielleicht folgt ja die eine oder andere dem guten Bei-
sen hat. spiel der CDU/CSU.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat für den ausge-
schiedenen Sachverständigen Professor Dr. Herbert Elke Ferner (SPD): Im Januar dieses Jahres hat die
Buchner eine weibliche Sachverständige benannt: näm- Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
lich Frau Professor Dr. Beate Jochimsen. Die Professorin qualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und
für Volkswirtschaftslehre an der Berliner Hochschule für gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirt-
Wirtschaft und Recht ist eine ausgewiesene Expertin im schaft“ ihre Arbeit aufgenommen. Jeweils 17 Abgeord-
Finanzwesen. Ich bin sehr froh, dass wir eine solche nete und 17 Sachverständige diskutieren diese Fragen
Fachfrau für die Arbeit in der Kommission gewinnen um die Zukunft unserer Wirtschaft und unserer Gesell-
konnten. schaft in der Enquete-Kommission. Während die Frak-
tionen mit ihren Benennungen dafür gesorgt haben, dass
Ich möchte an dieser Stelle, weil ich genau weiß, dass die Seite der Bundestagsabgeordneten mit 52,94 Prozent
dies auch im Sinne von Frau Professor Dr. Jochimsen ist,
Frauen vorbildlich besetzt ist, wurden Frauen auf der
eindeutig klarstellen, dass wir sie – noch vor dem heuti- Sachverständigenbank völlig ausgeblendet. Aus dem
gen Antrag – als Sachverständige benannt haben, nicht Blick politischer Fairness ist das ein Skandal! Der
weil sie eine Frau ist, sondern weil sie eine anerkannte
Frauenanteil bei der Einsetzung der Kommission betrug
Autorität in ihrem Fachgebiet ist. insgesamt 24 Prozent.
Besonders froh bin ich, dass Frau Jochimsen Angehö-
rige der Projektgruppe 2 ist, der ich vorsitze. In dieser Nachdem ich in der Debatte zum 100. Internationalen
Projektgruppe beschäftigen wir uns mit der Messbarkeit Frauentag das Versagen aller Fraktionen bei der Beset-
und Vergleichbarkeit von vielen Faktoren neben dem zung der Sachverständigenbank angeprangert habe, hatte
Bruttoinlandsprodukt, die wichtig und aussagekräftig für ich den Eindruck, dass auch die Kolleginnen in Unions-
ein Land sind. und FDP-Fraktion meine Auffassung teilen. Deshalb
wollte ich mit diesem fraktionsübergreifenden Gruppen-
So werden gerade ehrenamtliche Arbeit, Pflegeleis- antrag zusammen mit möglichst vielen Kolleginnen im
tungen und Kindererziehung, die daheim stattfinden und Bundestag dafür sorgen, dass die Sachverständigenbank
überwiegend von Frauen ausgeübt werden, im BIP gar um weitere acht weibliche Mitglieder erweitert werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12811

(A) soll. Anfangs schien auch bei der Union Interesse zu be- sen wie Bildung, Verteilungsgerechtigkeit oder politi- (C)
stehen, ein frauenpolitisches Zeichen zu setzen. sche Teilhabe.
Allerdings scheinen sich die gleichstellungspoliti- Unbezahlte Tätigkeiten wie zum Beispiel die Pflege
schen Ambitionen der Unionsfrauen darin zu erschöp- von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern wer-
fen, dass sie sich mit dem Einwechseln einer einzigen den seit jeher von Frauen erbracht und ebenso seit jeher
Frau bei den von der Union zu benennenden Sachver- nicht als „Arbeit“ geschätzt. Das Volumen der unbezahl-
ständigen zufriedengeben. Das ist kein Erfolg, sondern ten Arbeit in Deutschland ist mit 96 Milliarden Stunden
ein Armutszeugnis. Die Unionsfraktion hat eine einzige signifikant höher als die 56 Milliarden Stunden bezahlter
Frau von immerhin sechs MdBs und jetzt neuerdings Arbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Arbeit be-
auch noch eine Frau bei sechs Sachverständigen – also trägt 684 Milliarden Euro.
zwei von zwölf: Das entspricht einem Anteil von sagen- Allein anhand dieser wenigen Zahlen erkennt man
haften 16,7 Prozent. Damit hat die Union auch weiterhin schnell, wie wichtig die Einbindung der weiblichen Per-
die rote Laterne. Die SPD hat derzeit drei Frauen von spektive ist: Seit Jahren forschen Ökonominnen und
acht Enquete-Mitgliedern, also 37,5 Prozent. Die FDP Soziologinnen auf den Gebieten von Wachstum und
hat derzeit zwei Frauen von sechs, also 33,3 Prozent. Die Wohlstand in Verbindung mit dem Wandel der Ge-
Grünen haben derzeit eine Frau von vier, also 25 Pro- schlechterverhältnisse. Es gibt sie, die weiblichen Exper-
zent, und die Linke hat derzeit zwei Frauen von vier Mit- tinnen!
gliedern, also 50 Prozent.
Wir können es uns nicht leisten, ohne den Sachver-
Auch der Hinweis, die anderen Fraktionen könnten ja stand der Frauen über die Zukunft unseres Landes zu
auch jeweils eine Frau auf der Sachverständigenbank diskutieren und zu entscheiden. Daher appelliere ich an
einwechseln, hilft nicht weiter. Zwar würde sich der alle – vor allem aber an alle weiblichen Abgeordneten –,
Frauenanteil auf der Sachverständigenbank auf 29 Pro- die Effizienz des Gremiums zu erhöhen und größere
zent erhöhen – wäre damit aber immer noch niedriger als Chancengleichheit herzustellen, indem wir unser Ver-
mit unserem Vorschlag. säumnis zu schmälern versuchen und acht weitere – aus-
schließlich weibliche – Sachverständige in die Enquete-
Bleibt das Argument: Unser Vorschlag verschiebt die Kommission berufen.
Parität zugunsten der Sachverständigenseite. Das stimmt,
allerdings ist nicht zu befürchten, dass sich die Sachver-
ständigenseite gegen die Abgeordnetenseite verbünden Claudia Bögel (FDP): Am 17. Januar dieses Jahres
und diese überstimmen würde. Es ist schade, dass Sie, hat sich auf Antrag der Regierungsparteien sowie der
(B) liebe Kolleginnen von der Union, sich lieber mit einem SPD und der Grünen die Enquete-Kommission konstitu- (D)
Spatz in der Hand abspeisen lassen, als um die Taube auf iert mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensquali-
dem Dach zu kämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam ein tät – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesell-
gleichstellungspolitisches Zeichen setzen, damit in Zu- schaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft!
kunft auch die Gremien des Bundestages paritätisch be- Auf Wunsch der Opposition ist diese Enquete-Kom-
setzt werden. In einer Zeit, in der wir öffentlich über mission personell sehr umfangreich ausgefallen. Die
Frauenquoten für Führungspositionen diskutieren, in der Koalition hat letztlich zugestimmt, dass 17 Politiker und
wir eine Kanzlerin und mehrere Ministerinnen als selbst- 17 Sachverständige den Stellenwert von Wachstum in
verständlich ansehen, in einer Zeit, in der sowohl das Wirtschaft und Gesellschaft untersuchen. Als Obfrau der
Gleichstellungsgebot als auch das Bundesgremienbeset- FDP für die Enquete-Kommission gehöre ich diesem
zungsgesetz die politischen Akteure verpflichten, die Kreise an. Wir entwickeln Vorschläge, wie in Zukunft
Gleichstellung von Frauen und Männern und die Strategie Lebensqualität und soziale Sicherheit in Verbindung mit
des Gender-Mainstreaming zu fördern bzw. die gleichbe- ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsgrundsätzen
rechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien in Deutschland optimiert werden können. Seit über vier
zu schaffen – in so einer Zeit kann doch ein 17-köpfiges Monaten arbeiten wir nun schon in dieser Kommission
Sachverständigengremium nicht ohne Frauen eingesetzt zusammen. Daher wundert es mich umso mehr, dass die
werden! Mit einem derart eingeschränkten männlichen SPD jetzt in ihrem Antrag gemeinsam mit den Grünen
Blick werden fundamental wichtige Perspektiven ausge- und der Linken fordert, erstens die Zahl der Sachverstän-
klammert und Wirtschaft leider wieder zur alleinigen digen um acht Sachverständige zu erhöhen und zwei-
Männerdomäne erklärt. tens, dass die zusätzlich zu benennenden Sachverständi-
gen ausschließlich Frauen sein sollen.
Dabei ist es seit jeher Anliegen der Frauenbewegung,
der Frauenverbände und der feministischen Ökonomie- Sowohl die SPD als auch die Grünen und die Links-
kritik, Antworten auf die Frage nach Indikatoren wirt- partei hätten bereits im Vorfeld die Möglichkeit gehabt,
schaftlichen Wachstums zu finden. Ihre Kritik liegt vor weibliche Sachverständige zu benennen. Dies haben sie
allem darin, dass nur das Bruttoinlandsprodukt als Indi- nicht getan. Aus ihrer Antragsbegründung geht hervor,
kator für wirtschaftliches Wachstum gilt. Gesellschaftli- dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktio-
che Arbeit wird demnach mit bezahlter Arbeit gleichge- nen bei der Benennung der Sachverständigen für die En-
setzt. Dass so aber die unbezahlte soziale Arbeit – die quete-Kommission ausschließlich männliche Sachver-
einen Großteil gesellschaftlicher Arbeit ausmacht – nicht ständige benannt haben. Jetzt ist ein denkbar ungünstiger
wertgeschätzt wird, wird in der Debatte ebenso verges- Zeitpunkt, um dies auf einmal korrigieren zu wollen. Als
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(A) Obfrau der FDP in der Enquete-Kommission und Vorsit- Cornelia Möhring (DIE LINKE): Der vorliegende (C)
zende der Projektgruppe 1, die sich mit dem „Stellen- fraktionsübergreifende Antrag hat das Ziel, einen
wert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ be- schwerwiegenden Fehler wiedergutzumachen. Einen
fasst, sehe ich keinen Grund für eine Aufstockung der Fehler, den wir alle gemeinsam gemacht haben: In einer
Zahl der Sachverständigen. Die Kommission tagt bereits Kommission, die das Parlament zu den wichtigsten Zu-
seit einigen Monaten. Es haben schon fünf Sitzungen kunftsfragen – Wachstum, Wohlstand und Lebensquali-
stattgefunden. Die Mitglieder haben sich auf Konventio- tät – beraten soll, sitzen ausschließlich männliche Exper-
nen, Definitionen und Schwerpunkte geeinigt. Eine ten, von denen keiner migrantische Erfahrungen oder
nachträgliche Erweiterung des Kreises der Sachverstän- Wurzeln hat. Sie spiegelt damit in keiner Weise unsere
digen würde die bereits fortgeschrittene Diskussion in gesellschaftliche Realität wider, über deren Weiterent-
den Projektgruppen zurückwerfen. Das ist kontrapro- wicklung sie beraten soll.
duktiv. Hinzu kommt, dass eine einseitige Aufstockung
der Sachverständigen um acht Personen die paritätische Das war so nicht geplant und beabsichtigt, jedenfalls
Besetzung, also die gleiche Anzahl von Sachverständi- nicht durch die Linke. Für meine Fraktion war bei der
gen und Abgeordneten, aus dem Gleichgewicht bringen Auswahl der Sachverständigen die geschlechterpoliti-
würde. Diese Besetzung hat sich aber bei vergangenen sche Kompetenz natürlich ein Kriterium. Und insgesamt
Enquete-Kommissionen des Bundestages bewährt. sind wir als Linke in der Kommission trotz männlicher
Sachverständiger zu 50 Prozent quotiert. Aber da alle an-
Daran sollte auch in Zukunft festgehalten werden. deren Fraktionen – aus welchen Gründen auch immer –
Denn sie hat einen wichtigen Grund: Eine einseitige Er- ebenfalls nur männliche Sachverständige benannt haben,
höhung würde die Sachverständigen theoretisch in die stehen wir jetzt vor einer 100 Prozent männerquotierten
Lage versetzen, die Abgeordneten überstimmen zu kön- Expertengruppe. Das ist falsch und muss umgehend kor-
nen. Das kann nicht im Sinne des Parlaments sein. rigiert werden. Und weil man aus Fehlern lernen soll,
sollten wir bei zukünftigen Beschlüssen über derartige
Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich be- Gremien in den Einsetzungsbeschluss schon die paritäti-
grüße ich es, wenn im Kreise der Sachverständigen auch sche Besetzung durch Frauen und Männer hineinformu-
weibliches Know-how vertreten ist. Mir ist es wichtig, lieren. Denn man sieht – eine freiwillige Selbstverpflich-
dass auch die Erfahrungen und Sichtweisen der Frauen tung funktioniert nicht einmal im Deutschen Bundestag.
in die politische Arbeit einbezogen werden. Deshalb Wir brauchen klare Quoten. Die Notwendigkeit einer pa-
finde ich es sehr erfreulich, dass in der Enquete-Kom- ritätischen Besetzung der Kommission mit Frauen und
mission zahlreiche Frauen vertreten sind. Männern ergibt sich inhaltlich bereits aus der besonderen
Seitens der Abgeordneten besteht die Enquete zu gut Verantwortung des Parlaments für den im Grundgesetz
(B) der Hälfte aus Frauen. Insgesamt sind zehn der 34 Mit- verankerten Grundsatz der Gleichstellung von Frauen (D)
glieder weiblich. Erst kürzlich haben wir beschlossen, und Männern und die Beteiligung beider Geschlechter an
den ausscheidenden Sachverständigen Dr. Buchner durch politischen Entscheidungsprozessen.
eine Frau – nämlich Professorin Beate Jochimsen – zu er- Ein Parlament kann nicht von anderen gesellschaftli-
setzen. chen Gruppen, zum Beispiel von den Unternehmen, die
Hinzu kommt, dass innerhalb der Enquete-Kommis- stärkere Beteiligung von Frauen an Entscheidungspro-
sion wichtige Positionen mit Frauen besetzt sind: Den zessen fordern, wenn es selbst seine Gremien einseitig
Vorsitz der Kommission hat die Abgeordnete Frau Kolbe männlich besetzt. Wir haben eine Vorbildfunktion in der
inne, die Projektgruppen 1 und 2 werden ebenfalls von Gesellschaft zu erfüllen. Wenn wir an unsere Entschei-
Frauen geleitet, nämlich von Frau Vogelsang und von dungen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an die
mir. anderer, sind wir unglaubwürdig und die Verdrossenheit
der Bevölkerung gegenüber den Politikerinnen und Poli-
Die Tatsache, dass der Frauenanteil bei den Sachver- tikern nimmt zu Recht weiter zu.
ständigen so gering ist, spiegelt lediglich die Realität wi-
der: Die allermeisten der hochqualifizierten Experten Aber nicht das Glaubwürdigkeitsproblem des Parla-
aus Wissenschaft und Praxis, die für die Enquete-Kom- ments ist das entscheidende Argument für eine Änderung
mission infrage kommen, sind nun einmal männlich. Und der Zusammensetzung der Kommission, sondern deren
hier appelliere ich an Ihre Vernunft. Es sollte im Interesse Ziele, die im Einsetzungsbeschluss formuliert sind. Ich
des Parlaments liegen, dass die Enquete-Kommission in will aus Zeitgründen hier nur zwei herausgreifen: Im Juli
allererster Linie qualitativ hochwertige Ergebnisse lie- soll die Frage des Wachstums und der Geschlechterge-
fert. Wir brauchen also gute Sachverständige, die ihre rechtigkeit in der Kommission diskutiert werden. Prak-
Ideen in die Enquete-Kommission einfließen lassen. Das tisch heißt das, dass männliche Sachverständige aller
Geschlecht sollte dabei nicht der ausschlaggebende Fak- Fraktionen die Perspektive und die Probleme von Frauen
tor sein. Und denken Sie nicht, dass Sie von eigenen in der Wachstumsfrage bewerten und daraus Handlungs-
Versäumnissen ablenken könnten, indem Sie versuchen, vorschläge für politische Veränderungen erarbeiten sol-
den Regierungsparteien den Schwarzen Peter zuzuschie- len, während die eigentlichen Expertinnen für diese Frage
ben! Auch Sie, liebe Kolleginnen von der Opposition, – die Frauen selber – außen vor sein werden. Die Exper-
haben nur Sachverständige männlichen Geschlechts be- tengruppe soll außerdem Vorschläge und konkrete politi-
nannt. sche Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der
Lebensqualität durch Arbeitsumfelder und Arbeitsorga-
Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab. nisation machen und untersuchen, wie die vielfältiger ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 111. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Mai 2011 12813

(A) wordenen Erwerbsbiografien besser berücksichtigt wer- teiinternen Gleichstellungspolitik haben wir einen Frau- (C)
den können. enanteil von über 50 Prozent in unserer Bundestagsfrak-
tion. Daher können und wollen wir uns vor Selbstkritik
Und da macht es schon einen gewaltigen Unterschied, bei der Auswahl der Sachverständigen für die Wachs-
ob bei dieser Frage nur das sogenannte männliche Nor- tums-Enquete nicht drücken.
malarbeitsverhältnis im Blick ist, also 40 Stunden Er-
werbsarbeit und eine geringe Beteiligung an Familien- Auch inhaltlich spielt bei der Enquete die Genderper-
und Hausarbeit, oder die Lebenswirklichkeit der Frauen spektive eine gewichtige Rolle: So gehen beispielsweise
mit einbezogen wird und ob nur die Organisation der Ar- die in der sogenannten Care-Ökonomie hauptsächlich
beit im Betrieb oder auch die in Haushalt und Familie von Frauen erbrachten Leistungen bisher nicht in die Be-
berücksichtigt wird und entsprechende Umverteilungs- rechnung der Wirtschaftskraft eines Landes ein, was bei
vorschläge unterbreitet werden. der Entwicklung einer neuen Messgröße für Wirtschafts-
wachstum berücksichtigt werden muss.
In ihrem offenen Brief gegen die Kommissionsbeset-
zung haben das mehr als 170 Wissenschaftler und Wis- Meine Fraktion hat den Missstand frühzeitig erkannt
senschaftlerinnen so ausgedrückt: und sich für eine Erweiterung des Gremiums eingesetzt.
Ein entsprechender Antrag im Ältestenrat zur Änderung
Darüber hinaus ist es unseres Erachtens jedoch un- des Einsetzungsbeschlusses scheiterte aber leider an den
erlässlich, Genderkompetenz in den Sachverstand Koalitionsfraktionen.
der Kommission zu integrieren, weil die Frage nach
zukunftsfähigen Konzepten von Wachstum, Wohl- Daher freue ich mich, dass nun die drei Fraktionen
stand und Lebensqualität eng mit dem Wandel der von SPD, Grünen und Linken mit diesem Gruppenantrag
Geschlechterverhältnisse und damit verbundenen eine gemeinsame Initiative zur Erweiterung der Enquete
Themen, wie etwa dem Arbeitsbegriff oder auch gestartet haben. Wir hatten gehofft, mit einem reinen
dem Verhältnis zwischen „Arbeit“ und „Leben“, Frauenantrag wenigstens die weiblichen Mitglieder der
verknüpft ist. Koalitionsfraktionen – trotz Ablehnung ihrer Fraktions-
führungen – mit ins Boot zu holen. Es wäre ein wichti-
Wir haben in der Enquete-Kommission vorgeschla- ges Signal an alle frauenpolitisch Engagierten gewesen,
gen, dass sich frühzeitig eine Enquete-Sitzung der The- dass die weiblichen Abgeordneten des Deutschen Bun-
matik aus einer Frauenperspektive widmen wird. destages in der Lage sind, für ein wichtiges Anliegen der
Geschlechtergerechtigkeit über Parteigrenzen hinweg an
Außerdem ist verabredet, dass die Linke der Projekt-
einem Strang zu ziehen. Dass eine parteiübergreifende
gruppe „Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile“
Initiative selbst bei diesem Thema nicht möglich ist,
(B) vorsitzen wird. Genau in dieser Arbeitsgruppe werden finde ich sehr schade. Es zeigt wieder einmal deutlich (D)
wichtige Fragen zum Arbeitsbegriff und zur Schnittstelle
die Zerrissenheit insbesondere der Union in frauenpoliti-
zwischen Arbeit und Leben diskutiert. Und wir werden
schen Fragen. Das kennen wir von der Diskussion um
parlamentarisch und außerparlamentarisch dafür sorgen,
die Frauenquote für die Wirtschaft. Während Frau von
dass feministische, internationalistische und migranti-
der Leyen einen Modernisierungskurs anmahnt, zeigt
sche Perspektiven beim Thema „Wachstum, Wohlstand
sich Frauenministerin Schröder offen uninteressiert an
und Lebensqualität“ berücksichtigt werden.
der Gleichstellung von Frauen und dem Dialog mit den
Für die zukunftsfähige Gestaltung der Gesellschaft frauenpolitischen Akteurinnen.
brauchen wir die Erfahrung und das Wissen von Frauen Liebe Kolleginnen von der Union, vor diesem Hinter-
und von Männern. Deshalb fordere ich Sie auf, für den grund bin ich enttäuscht, dass Sie jene 18 Unterschriften
vorliegenden fraktionsübergreifenden Frauenantrag zu zur Unterstützung des Gruppenantrags, die aus Ihrer
stimmen. Fraktion bereits vorlagen, zurückgezogen und sich dafür
entschieden haben, einen Ihrer Sachverständigen auszu-
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit wechseln. Es scheint eine willkommene Gelegenheit ge-
der Benennung von ausschließlich männlichen Sachver- wesen zu sein, eine Fehlbesetzung zu korrigieren und
ständigen für die Enquete-Kommission „Wachstum, gleichzeitig das „linke Lager“ im Deutschen Bundestag
Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem unter Zugzwang zu setzen, wobei Sie nichtvorhandene
Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Geschlossenheit demonstrieren wollen. Kollegin Laurischk
Sozialen Marktwirtschaft“ hat sich keine der Fraktionen teilte mit, dass die FDP-Fraktion unser Anliegen grund-
im Deutschen Bundestag mit Ruhm bekleckert. Auch sätzlich unterstützt. Daher finde ich es umso bedauerli-
Bündnis 90/Die Grünen sind ihrem eigenen Anspruch, cher, dass die Initiative in Ihren Reihen schlicht versandet
sich konsequent für die Gleichstellung von Frauen ein- zu sein scheint. Ich möchte an Sie alle appellieren, die
zusetzen, an dieser Stelle nicht gerecht geworden. Das parteipolitische Taktiererei sein zu lassen und dem Grup-
war ein Fehler, und für uns wirkt dieser Fehler schwer, penantrag zuzustimmen. Nachträglichen Ruhm für den
weil es zu unserem Selbstverständnis gehört, bei der von uns allen begangenen Fehler können wir damit zwar
Gleichstellung Vorbild und Vorreiter zu sein. Unser grü- nicht erwarten. Aber wir haben die Möglichkeit, für die
nes Frauenstatut sichert seit 1986 den Frauen mindestens erfolgreiche Arbeit der Enquete-Kommission gemeinsam
die Hälfte aller Mandate. Dank dieser konsequenten par- eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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