Sie sind auf Seite 1von 264

Plenarprotokoll 17/71

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

71. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/


neten Inge Höger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7597 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7613 D
Erinnerung an Eduard von Simson . . . . . . . 7597 B Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)
Begrüßung der neuen Abgeordneten Rita (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7614 A
Schwarzelühr-Sutter und Johanna Voß . . . 7597 D Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7615 A
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7615 C
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7598 A
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . 7616 A
Absetzung des Tagesordnungspunktes 34 . . . 7598 D
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Begrüßung des Präsidenten der Abgeordne-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7617 B
tenkammer des Großherzogtums Luxemburg,
Herrn Laurent Mosar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7599 A Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7617 D

Tagesordnungspunkt 3: Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7618 A


Vereinbarte Debatte: zum neuen Strategi- Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7619 A
schen Konzept der NATO . . . . . . . . . . . . . . 7599 A
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
Tagesordnungspunkt 4:
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7599 B
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7600 D a) Erste Beratung des von der Fraktion der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 7602 A zes zur Änderung des Wertpapierer-
werbs- und Übernahmegesetzes
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7604 B
(Drucksache 17/3481) . . . . . . . . . . . . . . . 7620 B
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7606 C b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7607 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7609 B DIE LINKE: Beschäftigtenrechte bei
Übernahmen und Fusionen stärken
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7610 D (Drucksache 17/3540) . . . . . . . . . . . . . . . 7620 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7620 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7611 A
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 7622 A
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7612 C Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 7624 D
Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . 7613 C Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 7626 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ g) Antrag der Abgeordneten Karin Binder,


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7627 C Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 7629 C DIE LINKE: Akzeptanzprobleme bei
Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7631 D der Rheintalbahn durch offene Planung
beseitigen
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7632 D (Drucksache 17/3659) . . . . . . . . . . . . . . . 7639 C
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7633 D
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7634 D Zusatztagesordnungspunkt 2:
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7637 C a) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
Tagesordnungspunkt 37: SPD: Tierschutz bei Katzen verbessern
(Drucksache 17/3653) . . . . . . . . . . . . . . . 7639 C
a) Erste Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines b) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
Gesetzes zur bestätigenden Regelung (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike
verschiedener steuerlicher und ver- Höfken, weiterer Abgeordneter und der
kehrsrechtlicher Vorschriften des Haus- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
haltsbegleitgesetzes 2004 Tierschutz stärken – Tierheime entlas-
(Drucksache 17/3632) . . . . . . . . . . . . . . . . 7638 D ten
(Drucksache 17/3543) . . . . . . . . . . . . . . . 7639 C
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- c) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
zes zu dem Änderungsprotokoll vom Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
25. Mai 2010 zum Abkommen vom Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
17. Oktober 1962 zwischen der Bundes- NIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor-
republik Deutschland und Irland zur schlag für eine Richtlinie des Europäi-
Vermeidung der Doppelbesteuerung schen Parlaments und des Rates über
und zur Verhinderung der Steuerver- Rechte der Verbraucher
kürzung bei den Steuern vom Einkom- KOM(2008)614 endg.; Ratsdok. 14183/08
men und vom Vermögen sowie der Ge-
werbesteuer hier: Stellungnahme gegenüber der
(Drucksache 17/3358) . . . . . . . . . . . . . . . . 7639 A Bundesregierung gemäß Artikel 23
Absatz 3 des Grundgesetzes
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- Modernes Verbraucherrecht für Eu-
ten Gesetzes zur Änderung des Um- ropa entwickeln
wandlungsgesetzes (Drucksache 17/3675) . . . . . . . . . . . . . . . 7639 D
(Drucksache 17/3122) . . . . . . . . . . . . . . . . 7639 A d) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
d) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer Ab-
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth geordneter und der Fraktion BÜND-
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte indigener
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Völker stärken, ILO-Konvention 169
NEN: Mehr Flexibilität und Transpa- ratifizieren
renz bei der Pandemiebekämpfung (Drucksache 17/3676) . . . . . . . . . . . . . . . 7639 D
(Drucksache 17/3544) . . . . . . . . . . . . . . . . 7639 A
e) Antrag der Fraktion der SPD: Das Men- Tagesordnungspunkt 38:
schenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung umsetzen a) Zweite und dritte Beratung des von der
(Drucksache 17/3652) . . . . . . . . . . . . . . . . 7639 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
f) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton vom 9. Juni 2006 zwischen der Europäi-
Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie schen Gemeinschaft und ihren Mit-
Wilms, weiterer Abgeordneter und der gliedstaaten, der Republik Albanien,
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bosnien und Herzegowina, der Repu-
Modellversuche mit Gigalinern been- blik Bulgarien, der ehemaligen jugosla-
den – Umweltorientierten Aktionsplan wischen Republik Mazedonien, der Re-
Güterverkehr und Logistik auf den publik Island, der Republik Kroatien,
Weg bringen der Republik Montenegro, dem König-
(Drucksache 17/3674) . . . . . . . . . . . . . . . . 7639 B reich Norwegen, Rumänien, der Repu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 III

blik Serbien und der Übergangsverwal- (Drucksachen 17/3455, 17/3456, 17/3457,


tung der Vereinten Nationen in Kosovo 17/3458, 17/3459, 17/3460, 17/3461,
zur Schaffung eines gemeinsamen euro- 17/3462, 17/3463, 17/3464, 17/3465) . . . 7642 A
päischen Luftverkehrsraums (Vertrags-
gesetz ECAA-Übereinkommen –
ECAAÜbkG) Zusatztagesordnungspunkt 3:
(Drucksachen 17/2068, 17/3396) . . . . . . . 7640 B
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
b) Zweite und dritte Beratung des von der der SPD: Meinungsverschiedenheiten in-
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nerhalb der Bundesregierung über die Re-
eines Gesetzes zur Aufhebung des Frei- form der Kommunalfinanzen
hafens Hamburg
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7643 A
(Drucksachen 17/3353, 17/3682) . . . . . . . 7640 C
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
c) Zweite und dritte Beratung des von der
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7644 B
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Vereinbarung vom Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7645 D
20. April 2010 zwischen der Regierung
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 7647 A
der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung von Quebec über Soziale Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
Sicherheit DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7648 C
(Drucksachen 17/3120, 17/3575) . . . . . . . 7640 D
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 7650 A
d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7651 A
des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 7652 C
Übereinkommen vom 24. Oktober 2008
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7654 A
zwischen der Regierung der Bundesre-
publik Deutschland, der Regierung des Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 7655 A
Königreichs Belgien, der Regierung der
Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7656 B
Französischen Republik und der Regie-
rung des Großherzogtums Luxemburg Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7657 D
zur Einrichtung und zum Betrieb eines
Gemeinsamen Zentrums der Polizei- Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7658 D
und Zollzusammenarbeit im gemeinsa-
men Grenzgebiet
(Drucksachen 17/3117, 17/3500) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5:
7641 A
e) Zweite Beratung und Schlussabstimmung a) – Zweite und dritte Beratung des von
des von der Bundesregierung eingebrach- den Fraktionen der CDU/CSU und der
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- FDP eingebrachten Entwurfs eines
kommen vom 9. März 2009 zwischen Gesetzes zur Neuordnung des Arz-
der Regierung der Bundesrepublik neimittelmarktes in der gesetzlichen
Deutschland und der Regierung der Krankenversicherung (Arzneimittel-
Französischen Republik über die Zu- marktneuordnungsgesetz – AMNOG)
sammenarbeit im Bereich der Sicher- (Drucksachen 17/2413, 17/3698) . . . . 7660 A
heit im Luftraum bei Bedrohungen – Zweite und dritte Beratung des von der
durch zivile Luftfahrzeuge Bundesregierung eingebrachten Ent-
(Drucksachen 17/3125, 17/3661) . . . . . . . 7641 B wurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung des Arzneimittelmarktes in
f) Beschlussempfehlung und Bericht des
der gesetzlichen Krankenversiche-
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
rung (Arzneimittelmarktneuord-
Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
nungsgesetz – AMNOG)
Bundesregierung: Verordnung zur An-
(Drucksache 17/3116, 17/3211, 17/3698) 7660 A
passung umweltrechtlicher Verordnun-
gen an die Terminologie der Verord- b) Beschlussempfehlung und Bericht des
nung (EG) Nr. 1272/2008 Ausschusses für Gesundheit
(Drucksachen 17/3476, 17/3578 Nr. 2,
17/3657) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – zu dem Antrag der Abgeordneten
7641 D
Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies
g)–q) Volkmer, Elke Ferner, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD:
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
Effektivere Arzneimittelversorgung
schusses: Sammelübersichten 153, 154,
155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162 – zu dem Antrag der Abgeordneten René
und 163 zu Petitionen Röspel, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Ernst
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dieter Rossmann, weiterer Abgeord- Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7669 C


neter und der Fraktion der SPD:
Öffentlichen Zugang zu Informa- Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7670 C
tionen über klinische Studien umfas- Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 7671 B
send sicherstellen
Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7672 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . 7673
. . . . D, 7674 C
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE:
Verpflichtung zur Registrierung al- Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7676
. . . . C, 7678 B
ler klinischen Studien und zur Ver-
öffentlichung aller Studienergeb-
nisse einführen Tagesordnungspunkt 6:

– zu dem Antrag der Abgeordneten Erste Beratung des von den Abgeordneten
Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana
Karin Binder, weiterer Abgeordneter Golze, weiteren Abgeordneten und der Frak-
und der Fraktion DIE LINKE: Unab- tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
hängige Patientenberatung in Regel- nes Gesetzes zur Änderung des Sechsten
angebot überführen Buches Sozialgesetzbuch und anderer Ge-
setze (RV-Altersgrenzenanpassungs-Aus-
– zu dem Antrag der Abgeordneten setzungsgesetz – RV-AgAG)
Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. (Drucksache 17/3546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7675 A
Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: Für ein mo- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 7675 B
dernes Preisbildungssystem bei Arz- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 7681 A
neimitteln
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . 7681 D
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Maria Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 7682 C
Anna Klein-Schmeink, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜND- Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7683 C
NIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität und Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7684 A
Sicherheit der Arzneimittelversor-
gung verbessern – Positivliste ein- Peter Weiß (Emmendingen)
führen – Arzneimittelpreise be- (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7685 C
grenzen
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7686 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Maria Anna Klein-Schmeink, Fritz Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abge- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 7687 A
ordneter und der Fraktion BÜND- Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7688 A
NIS 90/DIE GRÜNEN: Unabhängige
Patientenberatung ausbauen und in Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 7688 C
die Regelversorgung überführen
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 7689 D
(Drucksachen 17/1201, 17/1768, 17/893,
17/2322, 17/2324, 17/1418, 17/1985,
17/3698) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7660 B Tagesordnungspunkt 7:
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7660 D der FDP: Mobilität nachhaltig sichern –
Elektromobilität fördern
Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7661 D
(Drucksache 17/3479) . . . . . . . . . . . . . . . 7691 A
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . 7663 C
b) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7664 D Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ LINKE: Klimaschutz im Verkehr
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7666 B braucht wesentlich mehr als Elektroau-
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 7667 D tos
(Drucksache 17/2022) . . . . . . . . . . . . . . . 7691 A
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7668 D
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 7669 B in Verbindung mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 V

Zusatztagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 10:


Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, weite- Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
Nachhaltige Mobilität fördern – Elektro- der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
mobilität vorantreiben setzes zur Verlängerung der straf- und
(Drucksache 17/3647) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7691 B zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei
sexuellem Missbrauch von Kindern und
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 7691 C minderjährigen Schutzbefohlenen
Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7692 D (Drucksache 17/3646) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7711 B

Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7694 A Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7711 C

Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7694 D Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7713 A


Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7714 D
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7695 C Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7715 D
Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7696 D Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7716 A
Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7697 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7716 D
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7698 D
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7699 C
Tagesordnungspunkt 11:
a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
Tagesordnungspunkt 8: FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Freiheit für Gilad Shalit
Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin
(Drucksache 17/3422) . . . . . . . . . . . . . . . 7717 B
Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Durch
NEN: Vorrang für Kinder – Auch beim einen humanitären Akt Frieden beför-
Lärmschutz dern – Gilad Shalit freilassen
(Drucksache 17/2925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7700 B (Drucksache 17/3431) . . . . . . . . . . . . . . . 7717 C
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7717 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7700 B Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . 7718 D
Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7701 B Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7720 A
Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7702 B Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7720 D
Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7703 A Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7703 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7721 D

Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7723 A


7704 D
Bettina Kudla (CDU/CSU)
Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7705 B
(Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . 7723 D

Tagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 12:


Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Das
Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwäl- Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
ten im Strafprozessrecht durch eine transparente Bemessung der
(Drucksachen 17/2637, 17/3693) . . . . . . . . . . 7706 B Regelsätze und eine Förderung der Teil-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, habe von Kindern umsetzen
Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . 7706 C (Drucksache 17/3648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7724 C

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7707 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7724 D

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7709 B Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . 7725 C
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7726 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7710 B Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7727 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion der FDP: Bildung in
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7729 C Entwicklungs- und Schwellenländern stär-
ken – Bildungsmaßnahmen anpassen und
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7730 C wirksamer gestalten
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7730 D (Drucksachen 17/2134, 17/3622) . . . . . . . . . . 7742 D
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . 7731 D Tagesordnungspunkt 16:
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7733 A
Markus Kurth, Cornelia Behm, weiterer Ab-
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . 7733 D geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Rohstoffförderung im Meer –
Aus der Katastrophe lernen
Tagesordnungspunkt 13: (Drucksache 17/3662) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7743 A
a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tagesordnungspunkt 17:
60 Jahre Europäische Menschenrechts-
konvention Unterrichtung durch die Bundesregierung:
(Drucksache 17/3423) . . . . . . . . . . . . . . . . 7734 D Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Ange-
b) Antrag der Abgeordneten Andrej Hunko,
bot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
Dr. Diether Dehm, Annette Groth, weite-
drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Erster
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Zwischenbericht zur Evaluation des Kin-
LINKE: 60 Jahre Europäische Men-
derförderungsgesetzes)
schenrechtskonvention – Menschen-
(Drucksache 17/2621) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7743 B
rechte stärken, schützen und durchset-
zen
(Drucksache 17/3658) . . . . . . . . . . . . . . . . 7734 D in Verbindung mit
Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7735 A
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7736 B Zusatztagesordnungspunkt 5:
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7737 D Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,
Markus Grübel, Marcus Weinberg (Ham-
Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7738 D
burg), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7739 C tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7740 B Fraktion der FDP: Faire Teilhabechancen
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7741 B von Anfang an – Frühkindliche Betreuung
und Bildung fördern
(Drucksache 17/3663) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7743 B
Tagesordnungspunkt 14:
Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Tagesordnungspunkt 20:
Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz
Widerstand von Kommunistinnen und Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Kommunisten gegen das NS-Regime aner- Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter
kennen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
(Drucksache 17/2201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7742 C Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick
Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Tagesordnungspunkt 15: FDP: Existenzgründungen aus Forschung
und Wissenschaft fördern – Für einen star-
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ken deutschen Innovationsstandort
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksache 17/3480) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7743 C
und Entwicklung zu dem Antrag der Abge-
ordneten Anette Hübinger, Holger Haibach,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 19:
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga Daub, Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeord- Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 VII

Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 23:


Fraktion der SPD: Schutz der biologischen
Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
stärken Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch,
(Drucksache 17/3484) . . . . . . . . . . . . . . . . . . weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
7743 D
LINKE: Beziehung der Europäischen
Union mit Afrika solidarisch und gerecht
gestalten
Tagesordnungspunkt 22:
(Drucksache 17/3672) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7754 C
Erste Beratung des von der Bundesregierung
Hartwig Fischer (Göttingen)
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7754 C
Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur
Förderung der Nutzung von Energie aus Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . 7756 A
erneuerbaren Quellen (Europarechtsan-
passungsgesetz Erneuerbare Energien – Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . 7757 D
EAG EE) Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7758 C
(Drucksache 17/3629) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7744 A
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7759 C
Tagesordnungspunkt 21:
a) Antrag der Abgeordneten Rolf Tagesordnungspunkt 26:
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine),
Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und Erste Beratung des von der Bundesregierung
der Fraktion der SPD: Die Energieversor- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
gung in kommunaler Hand Regelung von De-Mail-Diensten und zur
(Drucksache 17/3649) . . . . . . . . . . . . . . . . 7744 A Änderung weiterer Vorschriften
(Drucksache 17/3630) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7760 B
b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7760 C
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7761 D
DIE LINKE: Energienetze in die öffent-
liche Hand – Kommunalisierung der Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7763 B
Energieversorgung erleichtern – Trans- Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7764 B
parenz und demokratische Kontrolle
stärken Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/3671) . . . . . . . . . . . . . . . . 7744 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7765 D
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7744 B
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7746 B Tagesordnungspunkt 25:
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7747 A Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Ulrich
Kelber, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordne-
Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7748 A ter und der Fraktion der SPD: Biomethan im
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ Verkehrssektor fördern
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7748 C (Drucksache 17/3651) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7767 B
Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7767 C
Tagesordnungspunkt 24: Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7768 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7770 C
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Vormundschafts- und Be- Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7771 A
treuungsrechts Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/3617) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7749 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7771 B
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . . 7749 D
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7751 B Tagesordnungspunkt 28:
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7752 A a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7752 C
derung des Stipendienprogramm-
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär Gesetzes (1. StipG-ÄndG)
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7753 C (Drucksachen 17/3359, 17/3699) . . . . 7772 A
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

– Bericht des Haushaltsausschusses ge- Tagesordnungspunkt 30:


mäß § 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/3701) . . . . . . . . . . . . . Erste Beratung des von der Bundesregierung
7772 A
eingebrachten Entwurfs eines Siebten Geset-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des zes zur Änderung des Zweiten Buches
Ausschusses für Bildung, Forschung und Sozialgesetzbuch
Technikfolgenabschätzung zu dem An- (Drucksachen 17/3631, 17/3683) . . . . . . . . . . 7783 C
trag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7783 C
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7784 B
LINKE: Mittel des Nationalen Stipen-
dienprogramms für eine Erhöhung des Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 7785 B
BAföG nutzen Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7786 C
(Drucksachen 17/2427, 17/3699) . . . . . . . 7772 B
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7787 C
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7772 B
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 7773 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7788 B
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7775 A
Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7776 A Tagesordnungspunkt 29:
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7776 C Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE: Erkenntnisse des Welt-
Tagesordnungspunkt 27: agrarberichtes zur Grundlage deutscher,
europäischer und internationaler Agrar-
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- und Entwicklungspolitik machen
schusses für Wirtschaft und Technologie (Drucksache 17/3542) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7789 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7789 A
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil
(Peine), weiterer Abgeordneter und der Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 7790 B
Fraktion der SPD: Betroffene Kulturein-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 7791 D
richtungen nach Frequenzumstellung
für drahtlose Mikrofone angemessen Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 7792 D
entschädigen
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7794 A
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra
Sitte, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE: Kulturelle Einrich- Tagesordnungspunkt 31:
tungen vor Folgeschäden aus der
Frequenzversteigerung der digitalen Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Dividende bewahren Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
– zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea LINKE: Extraprofite von Atom- und Koh-
Rößner, Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, lekraftwerksbetreibern abschöpfen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 17/3673) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7794 D
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kultur
und Rundfunk nicht durch die Fre- Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7795 A
quenzumstellung schädigen Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7795 D
(Drucksachen 17/3177, 17/2416, 17/2920, Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 7796 D
17/3694) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7777 C
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 7797 B
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7777 D
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7778 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7798 B
Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7779 A
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7799 C
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 7780 C
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7781 C
Anlage 1
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7782 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7801 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 IX

Anlage 2 Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7809 D


Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7811 B
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) zur Abstimmung
über die Beschlussempfehlung: Sammelüber- Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7813 A
sicht 163 zu Petitionen (Tagesordnungs- Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7813 D
punkt 38 q) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7801 C
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7814 D
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Anlage 8
Oliver Luksic (FDP) zur namentlichen Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in des Antrags: Rohstoffförderung im Meer –
der gesetzlichen Krankenversicherung (Arz- Aus der Katastrophe lernen (Tagesordnungs-
neimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) punkt 16)
(Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . 7802 A Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7815 D
Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7817 A
Anlage 4
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7818 A
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7819 B
DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7819 D
Antrag: Freiheit für Gilad Shalit (Tagesord-
nungspunkt 11 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7802 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7820 C

Anlage 5
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
Rechtsanwälten im Strafprozessrecht (Tages- rung über den Stand des Ausbaus für ein
ordnungspunkt 9) bedarfsgerechtes Angebot an Kindertages-
Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7803 A betreuung für Kinder unter drei Jahren für
das Berichtsjahr 2009 (Erster Zwischenbe-
richt zur Evaluation des Kinderförde-
Anlage 6 rungsgesetzes)
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Antrag: Faire Teilhabechancen von An-
des Antrags: Widerstand von Kommunistin- fang an – Frühkindliche Betreuung und
nen und Kommunisten gegen das NS-Regime Bildung fördern
anerkennen (Tagesordnungspunkt 14)
(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7804 A nungspunkt 5)
Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7804 D Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7821 B
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7805 D Marcus Weinberg (Hamburg)
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7806 D (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7822 B

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7807 D Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 7823 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7824 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7809 A Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 7825 A
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
Anlage 7 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7826 A
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Beschlussempfehlung und des Berichts: Anlage 10
Bildung in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
und wirksamer gestalten (Tagesordnungs- des Antrags: Existenzgründungen aus For-
punkt 15) schung und Wissenschaft fördern – Für einen
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

starken deutschen Innovationsstandort (Ta- Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7838 B


gesordnungspunkt 20)
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7838 D
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . . 7826 D
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7828 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7839 C
Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7830 D
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 7831 D Anlage 12
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7832 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/
der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7834 A
Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quel-
len (Europarechtsanpassungsgesetz Erneuer-
bare Energien – EAG EE) (Tagesordnungs-
Anlage 11
punkt 22)
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . 7840 B
des Antrags: Schutz der biologischen Vielfalt –
Die Taxonomie in der Biologie stärken (Ta- Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7842 A
gesordnungspunkt 19)
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7843 B
Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7835 A
Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7843 D
Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7836 A
Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 7844 C
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 7837 A
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7837 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7845 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7597

(A) (C)

Redetext

71. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: dass er seine Karriere in der Frankfurter Paulskirche als
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schriftführer begonnen hat.
Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Ich begrüße
(Heiterkeit)
Sie alle herzlich.
Unsere Verfassung, aber insbesondere auch die Ge-
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich der
schäftsordnung deutscher Parlamente bis heute, ist nicht
Kollegin Inge Höger zu ihrem 60. Geburtstag, den sie
zuletzt von den Beiträgen geprägt, die er dafür geleistet
vor einigen Tagen begangen hat, gratulieren und ihr im
hat.
Namen des Hauses alles Gute wünschen.
(Beifall) Richard von Weizsäcker hat vor einigen Jahren an-
lässlich eines damals runden Geburtstages in seiner Fest-
Es gibt noch einen anderen bedeutenden Geburtstag, ansprache erklärt:
(B) den ich mit wenigen Sätzen würdigen möchte. Eduard von Simson gehörte zum Besten, was das (D)
Gestern vor 200 Jahren – das ist also ein bisschen län- oft geschmähte und doch atemberaubend interes-
ger her –, am 10. November 1810, wurde der große Parla- sante 19. Jahrhundert unter Deutschen hervorge-
mentarier und Parlamentspräsident Eduard von Simson bracht hat.
geboren. Von Simson, der bereits mit 23 Jahren Profes-
sor des Römischen Rechts in Königsberg wurde, war Ich denke, wir – nicht nur wir Parlamentarier – haben
von seiner Mitgliedschaft in der Frankfurter National- allen Grund, in diesen Tagen voller Dank und Hochach-
versammlung 1848/49, deren letzter Präsident er war, bis tung an Eduard von Simson zu denken.
zum Ende seiner Amtszeit als Präsident des Deutschen (Beifall)
Reichstages im Jahre 1873 nahezu ununterbrochen Mit-
glied parlamentarischer Versammlungen. Er war – Sie Für den verstorbenen Kollegen Dr. Hermann Scheer
werden es glauben oder nicht; auch ich habe es erst nicht hat die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, die ich
glauben wollen – Präsident von insgesamt sieben Parla- herzlich begrüße, erneut die Mitgliedschaft im Deut-
menten schen Bundestag erworben. Herzlich willkommen!
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall)
NEN]: Herr Lammert, da haben Sie noch et-
was vor sich!) Nachfolgerin des am 1. November ausgeschiedenen
Kollegen Dr. Herbert Schui ist die Kollegin Johanna
– ich lege besonderen Wert darauf, dass dieser Zwi- Voß. – Da sie nicht anwesend ist, muss die Begrüßung
schenruf des Kollegen Trittin in gebührender Weise im zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
Protokoll festgehalten wird –,
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir richten
(Heiterkeit) es aus!)
bevor er – jetzt warte ich auf den nächsten Zwischenruf – – Sehr schön. Das ist eine gute Lösung.
1879 Präsident des Reichsgerichts wurde und bis 1890
blieb. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 80 Jahre alt. (Beifall)
Von Simson hat sich Zeit seines Lebens für die deut- Ich entnehme der kollegialen Stimmung, dass sich
sche Einheit und für die Rechte des Parlaments einge- nach einer turbulenten Woche wieder allgemeiner Frie-
setzt. Die Schriftführer wird besonders beeindrucken, den eingestellt hat.
7598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon- (C)
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- vention 169 ratifizieren
geführten Punkte zu erweitern:
– Drucksache 17/3676 –
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Überweisungsvorschlag:
CDU/CSU, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
DIE GRÜNEN: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Demonstrationen und Vorgänge beim Castor-
transport ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
(siehe 70. Sitzung)
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Bundesregierung über die Reform der Kom-
fahren munalfinanzen
Ergänzung zu TOP 37 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer,
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobi-
Tierschutz bei Katzen verbessern lität vorantreiben
– Drucksache 17/3653 – – Drucksache 17/3647 –
Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Verbraucherschutz Rechtsausschuss
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Tierschutz stärken – Tierheime entlasten Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(B) – Drucksache 17/3543 – Ausschuss für Tourismus (D)
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
DIE GRÜNEN Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über Faire Teilhabechancen von Anfang an – Früh-
Rechte der Verbraucher KOM(2008)614 kindliche Betreuung und Bildung fördern
endg.; Ratsdok. 14183/08 – Drucksache 17/3663 –
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre- Überweisungsvorschlag:
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Grundgesetzes Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Modernes Verbraucherrecht für Europa ent- Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
wickeln Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
– Drucksache 17/3675 –
Überweisungsvorschlag: Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
Rechtsausschuss (f) weit erforderlich, abgewichen werden.
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) Der Tagesordnungspunkt 34 wird abgesetzt. Stattdes-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sen soll an diesem Platz der ursprünglich für heute vor-
Federführung strittig
gesehene Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden.
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte rücken da-
Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer durch jeweils einen Platz vor. Sind Sie damit einverstan-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be-
DIE GRÜNEN schlossen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7599
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
büne hat der Präsident der Abgeordnetenkammer des
Großherzogtums Luxemburg, Herr Laurent Mosar, mit Ich will zu wenigen Punkten im Einzelnen Stellung
seiner Delegation Platz genommen. nehmen, ohne die Ergebnisse der Beratungen vorweg-
nehmen zu wollen. Es handelt sich heute um eine De-
(Beifall) batte im Vorgriff. Die Debatte ist verbunden mit dem
Auftrag an uns – diejenigen, die in der nächsten Woche
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deut-
verhandeln werden –, für die richtige Richtung der Poli-
schen Bundestages begrüße ich Sie hier ganz herzlich.
tik zu sorgen. Wir, die Bundesregierung, verfolgen beim
Wir hatten schon gestern Gelegenheit, die großartigen
Strategischen Konzept der NATO mehrere Ziele, die wir
Beziehungen, die es zwischen unseren beiden Ländern
in die Verhandlungen einbringen wollen. Ein entschei-
und insbesondere zwischen unseren Parlamenten gibt,
dendes Ziel ist, dass sich die NATO auch den Themen der
intensiv zu würdigen, verbunden mit der wechselseitigen
Abrüstung und der Rüstungskontrolle verschreibt. Wir
Bekräftigung, das auf diesem Niveau fortzusetzen. Wir
haben im Frühjahr, bei den Beratungen im April, eine
freuen uns, dass Sie heute hier sind, und wünschen Ihnen
ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können.
einen guten und interessanten Aufenthalt in Berlin.
Wir alle wissen, dass die Umsetzung der Vision des Prä-
Herzlich willkommen!
sidenten Obama von einer nuklearwaffenfreien Welt na-
(Beifall) türlich ein sehr langfristiges Ziel ist; aber es ist ein ver-
nünftiges Ziel. Wir wollen Schritte in diese Richtung
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: unterstützen. Deswegen ist eine reduzierte Rolle von
Vereinbarte Debatte Nuklearwaffen zu Recht Teil der Strategie, die wir als
Bundesregierung unterstützen wollen.
zum neuen Strategischen Konzept der NATO
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU)
der SPD sowie je zwei Entschließungsanträge der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach Mit der Debatte in der nächsten Woche in Lissabon
einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aus- wollen wir die Diskussion nicht beenden. Sie muss na-
sprache 90 Minuten vorgesehen. – Das ist offenkundig türlich fortgesetzt werden. Die Debatte über Abrüstung
einvernehmlich und damit so beschlossen. und Rüstungskontrolle ist nicht beendet, sondern wird in
einem Folgeprozess fortgesetzt, der uns dem Ziel einer
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zu- Welt ohne Atomwaffen näherbringen soll. Fortschritte
nächst der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido sind unverkennbar. Ich denke nicht nur an den Nuclear
(B) Westerwelle. Posture Review der Vereinigten Staaten von Amerika, (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sondern ausdrücklich auch an die Konferenz zur Über-
der CDU/CSU) prüfung des Vertrages über die Nichtverbreitung nuklea-
rer Waffen in diesem Jahr in New York. Sie ist dieses
Mal, anders als vor fünf Jahren, nicht gescheitert, son-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- dern es wurde ein gemeinsames Ergebnis vereinbart. Es
wärtigen: ist richtig, dass sich die NATO als Sicherheitsbündnis
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- und als politische Werteunion versteht und sich daher
ren! Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten garan- der Abrüstung verschrieben hat. Abrüstung und die
tiert die NATO unsere gemeinsame Sicherheit. Auch Nichtverbreitung nuklearer Waffen sind zwei Seiten der-
diejenigen, die gerne gegen die NATO demonstrieren selben Medaille. Beides gehört zusammen. Es gibt neue
– das ist ihr gutes Recht –, dürfen nicht vergessen: Es ist Herausforderungen und neue Gefahren in unserer Zeit.
auch das Ergebnis unserer erfolgreichen Sicherheitspoli- Je mehr Staaten sich atomar bewaffnen können, umso
tik und des Bündnisses der NATO, dass sie diese De- größer ist die Gefahr, dass terroristische Gruppen darauf
monstrationsfreiheit wahrnehmen können. Zugriff haben. Genau das gilt es im Interesse der Bürge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rinnen und Bürger unserer Länder durch vorausschauen-
des und kluges Agieren zu verhindern.
In der nächsten Woche werden wir in den Beratungen
über das Strategische Konzept den Kurs festlegen. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
möchte mich zu Beginn meiner Ausführungen beim Natürlich ist es notwendig, auch die taktischen Atom-
NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, be- waffen in diese Diskussion einzubeziehen. Wir halten
danken. Ich möchte mich bei Madeleine Albright und am Ziel des Abzugs fest. Wir sehen darin aber vor allem
ihrem Expertenteam ausdrücklich für die wichtige Vor- einen Katalysator für ein sehr breites Ergebnis. In das
arbeit bedanken. Unser Eindruck ist – natürlich immer Thema Abrüstung ist Bewegung gekommen. Ich denke
vorbehaltlich der Entscheidungen in der nächsten Woche beispielsweise an den neuen START-Vertrag. Wir setzen
in Lissabon –: Das, was vorgelegt worden ist, bildet eine darauf, dass dieser START-Vertrag auch mit neuen
sehr gute Grundlage für die weiteren Beratungen. Es be- Mehrheitsverhältnissen ratifiziert wird, damit er zur Gel-
rücksichtigt unser Sicherheitsinteresse. Es macht aber tung kommen kann.
auch klar, dass wir eine Wertegemeinschaft sind: Die
NATO ist nicht zuerst ein Militärbündnis, sondern eine Zu einem weiteren bemerkenswerten, wie ich finde,
transatlantische Wertegemeinschaft. geradezu historischen Vorgang: Das Programm zur
7600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) Raketenabwehr, das von Präsident Bush angeregt und wir aber auch die Politik der militärischen Zurückhal- (C)
begonnen worden ist, hat mittlerweile eine völlig neue tung fortsetzen.
Richtung bekommen. Während das Projekt Raketenab-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wehr ursprünglich von den USA mit ein, zwei Verbünde-
NEN]: Aha! Da haben Sie aber einen Konflikt
ten in Europa durchgeführt werden sollte, ist es mittler-
mit zu Guttenberg!)
weile ein Projekt, das im gesamten Bündnis angegangen
wird. Was besonders wichtig ist: Russland wird eingela- Das ist eine klare Ansage für die Bundesregierung insge-
den, bei dem Projekt Raketenabwehr mitzuwirken. Wir samt. Alle anderen Unterstellungen sind abwegig. Wir
wollen nicht, dass es in Europa Zonen mit einem unter- werden unsere internationale Verantwortung wahrneh-
schiedlichen Sicherheitsgrad gibt. Wir wollen in Europa men, aber es bleibt bei der Kultur der militärischen
beim Thema Sicherheit keine Trennlinien, sondern Ge- Zurückhaltung.
meinsamkeit. Dass Präsident Medwedew angekündigt
(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
hat, zum NATO-Gipfel nach Lissabon zu reisen, ist eine
DIE GRÜNEN])
große Geste. Wir wollen mit Russland unsere Sicherheit
verbessern und nicht in Konfrontation zu Russland. Das – Lassen Sie solche Unterstellungen. Wenn Sie etwas an-
ist die klare Ansage des Bündnisses. deres von uns behaupten, sind das Diffamierungen, die
mit der Realität nichts zu tun haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich glaube, wir alle müssen anerkennen, dass auf die- Der Deutsche Bundestag wird den Einsatz unserer
sem Gebiet eine enorme Bewegung stattgefunden hat. Bundeswehr im Blick haben. Ich kann Ihnen für die
Wenn man sich vor Augen führt, worüber vor 20, Bundesregierung noch einmal versichern: Für uns ist
30 Jahren noch diskutiert worden ist, und sieht, dass eine klare Maßgabe, ein klarer Kompass: Die Bundes-
Russland jetzt von der NATO eingeladen wird, bei The- wehr ist keine Regierungsarmee, sie ist auch keine Ar-
men der Raketenabwehr und der Sicherheit mitzuma- mee von irgendwelchen Parteien oder parteipolitischen
chen, und Russland sich nicht verweigert, sondern sagt: Mehrheiten. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
„Wir sehen uns das an, prüfen das und überlegen, welche Auch das ist unser Kompass bei den Verhandlungen im
Möglichkeiten wir haben“, dann müssen wir feststellen: Bündnis.
Das ist eine historische Entwicklung, die wir nicht mal
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
eben so durchwinken sollten. Darüber sollten wir uns
freuen. Das ist die Friedensdividende langjähriger, jahr- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zehntelanger Bemühungen vieler Vertreterinnen und
(B) (D)
Vertreter der Politik in vielen Ländern, übrigens von Präsident Dr. Norbert Lammert:
Vertretern aller geistigen Richtungen in der Politik. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Frak-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tion.
der CDU/CSU)
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Wir haben über dieses Thema unter anderem bei den
Gesprächen im NATO-Russland-Rat, der neu belebt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
worden ist, debattiert. Das sind gute und vernünftige Meinen Beitrag muss ich leider mit einer Unmutsäuße-
Schritte. rung beginnen. Ich finde es nicht angemessen, dass wir
acht Tage vor dem NATO-Gipfel, auf dem das neue Stra-
Zum Schluss möchte ich die grundsätzliche Ausrich- tegische Konzept beschlossen werden soll, hier im Deut-
tung noch einmal klarmachen: Wir werden uns unverän- schen Bundestag diskutieren, ohne den Wortlaut des
dert als Verteidigungsbündnis verstehen. Das heißt, Textentwurfs zu kennen.
Art. 5 des Nordatlantikvertrages – das sagen wir ganz
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
klar insbesondere an die Adresse der sogenannten ost-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
europäischen Mitgliedstaaten – steht für uns außerhalb
jeder Debatte und jeder Diskussion. Wir kennen die Mehr Offenheit und Transparenz hätten der Diskussion
neuen Herausforderungen, die zum Beispiel Computer- und damit auch dem Bündnis mehr genutzt als gescha-
attacken darstellen. Wir wissen aber auch, dass es andere det.
Mechanismen gibt als die in Art. 5 des Nordatlantikver-
trages genannten, zum Beispiel die, die in Art. 4 des Nach 1991 und 1999 versucht die NATO zum dritten
Nordatlantikvertrages erwähnt werden: Konsultations- Mal in 20 Jahren, sich an neue Rahmenbedingungen
mechanismen und Beratungen, die stattfinden müssen. und Herausforderungen anzupassen. Es gibt einige in-
Auch das muss man sehen. Deshalb bleibt die strenge ternationale Entwicklungen, die uns Sorge machen. Aber
Bindung an das Völkerrecht unser Kompass. es ist auch nicht zu übersehen, dass gerade in den letzten
zwei Jahren viel passiert ist, was eine besondere Gunst-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- situation geschaffen hat.
NEN]: Sagen Sie das einmal Ihrem Verteidi-
Im Jahr 2007 sah das alles noch ganz anders aus. Ich
gungsminister!)
entsinne mich noch gut an die berühmte Wutrede des da-
Wir haben zwei Leitlinien: Wir wollen die internatio- maligen russischen Präsidenten Wladimir Putin am
nale Verantwortung wahrnehmen. Gleichzeitig werden 10. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz, an
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7601
Dr. h. c. Gernot Erler
(A) seine Ankündigung, Russland werde eine weitere Aus- Jahres in Washington beschlossen worden ist. Wir kön- (C)
nutzung seiner vermeintlichen Schwäche durch den nen für die taktischen Atomwaffen, die noch heute in
Westen nicht mehr hinnehmen und dabei jede Konflikt- fünf Ländern auf dem europäischen Kontinent
scheu ablegen. Auf diese Worte folgten Taten: Spannun- – Deutschland inklusive – stationiert sind, keine plau-
gen mit den baltischen Staaten, mit Großbritannien, Wi- sible Funktion mehr erkennen. Wir wollen, dass diese
derstand gegen die US-Pläne zur Stationierung von vollständig abgezogen werden.
Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Repu-
blik, das Moratorium beim KSE-Vertrag, Versuche, eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dritte Erweiterungsrunde der NATO mit Georgien und der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
der Ukraine zu verhindern. Und schließlich führte der GRÜNEN)
Kaukasus-Krieg im August 2008 Moskau in die politi-
Herr Außenminister, wir haben bei Ihren Ankündi-
sche Isolation.
gungen gehört, dass auch Sie das für ein prioritäres Ziel
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich die halten. Sie haben aber auch diese Debatte leider wieder
Situation vollständig verändert. Die russische Regierung nicht genutzt, um uns konkret zu sagen, welche Anstren-
fühlt sich von Präsident Obama als ebenbürtig akzep- gungen Sie bisher unternommen haben und welche Er-
tiert. Die Missile-Defense-Pläne wurden auf Eis gelegt, folgsaussichten diese haben. Sie haben hier nur ein ent-
die nächste NATO-Erweiterung wurde vorerst von der täuschendes allgemeines Statement von sich gegeben.
Tagesordnung genommen. Mit seiner Prager Rede vom
5. April 2009 bekannte sich der neue amerikanische Prä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sident zum Ziel einer Welt ohne Atomwaffen und öffnete des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
damit die Tür – auch der Außenminister hat es hier ge-
Wir wollen weiter, dass sich die NATO zu einer inten-
rade vorgetragen – für das START-Nachfolgeabkommen
siven Sicherheitspartnerschaft mit Russland bekennt
zur Reduzierung strategischer Nuklearwaffen mit Russ-
und den Dialog mit Moskau ausbaut und erweitert. Dazu
land und für einen Erfolg der Überprüfungskonferenz
zum Nichtverbreitungsvertrag in New York im Mai die- gehört eine andere Nutzung des NATO-Russland-Rates.
ses Jahres. Herr Westerwelle, ich bin mit dem, was da bisher pas-
siert ist, nicht einverstanden. Die Möglichkeiten werden
Die am 6. April beschlossene neue US-Nuklearstra- bei weitem nicht ausgeschöpft.
tegie schließt einen Einsatz von Nuklearwaffen gegen
Nichtnuklearstaaten aus, wenn sich diese an den Nicht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
verbreitungsvertrag halten, und reduziert damit im Ver-
Es kann doch nicht sein, dass der NATO-Russland-Rat
gleich zu früher eindeutig die Rolle von Atomwaffen in
(B) der amerikanischen Sicherheitsdoktrin. ausgerechnet in einer Krisensituation wie im August (D)
2008 außer Betrieb gesetzt wird, also dann, wenn man
Alle diese Schritte haben große Erwartungen und den Dialog am ehesten gebraucht hätte.
Hoffnungen geweckt, dass der erfolgreiche Neuanfang
mit Russland – auch „Reset“ genannt – den Weg zu einer (Zurufe von der FDP: Wer war denn da an der
echten globalen Sicherheitspartnerschaft mit Moskau Regierung?)
öffnet und dass der neue START-Abrüstungsvertrag Damit wurde nebenbei auch noch der fatale Eindruck er-
nicht nur hoffentlich bald ratifiziert und umgesetzt wird, weckt, der NATO-Russland-Rat sei eine Art Gunsterwei-
sondern dass ihm weitere Abrüstungsschritte auch im
sung, die bei Fehlverhalten des Partners beliebig entzo-
konventionellen Bereich folgen.
gen werden kann. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wir
(Beifall bei der SPD) haben ein klares Interesse an einem nachhaltigen Funk-
tionieren dieses politischen Scharniers und dieser Dia-
Besser und prominenter kann man diese Erwartungen
logplattform. Dazu sollte in der neuen Strategie der
nicht zum Ausdruck bringen, als dies 34 Elder States-
NATO etwas Konkretes stehen.
men Europas in ihrer Erklärung vom 27. September die-
ses Jahres – von deutscher Seite mit Unterschriften von Schließlich kann es nicht dabei bleiben, dass die
Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans- Frage einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitek-
Dietrich Genscher und Egon Bahr – getan haben. Die tur, zu der Präsident Medwedew vor zwei Jahren kon-
SPD-Fraktion macht sich diese überparteiliche Position krete Vorschläge vorgelegt hat, lediglich in irgendwel-
zu eigen und unterstützt die dort formulierten Vorschläge chen Arbeitsgruppen des sogenannten Korfu-Prozesses
und Erwartungen. erörtert wird. Es wäre wichtig, dass in dem neuen Strate-
(Beifall bei der SPD) gischen Konzept die Bereitschaft, mit der russischen
Führung in einen verbindlichen Dialog zu diesem Thema
Wir wollen, dass die neue NATO-Strategie dieser einzutreten, erkennbar wird, ein Dialog im Geiste des
Gunstsituation Rechnung trägt, dass sie das Momentum Helsinki-Prozesses, ergebnisoffen und ohne Vorfestle-
bei der Abrüstung aufnimmt und verstärkt und dass sie gung auf ein bestimmtes Vertragsergebnis.
die konstruktiven Ansätze im Verhältnis zu Russland als
Chance erkennt und ausbaut. Was heißt das konkret? Wir Nur wenn die neue NATO-Strategie diese besondere
wollen, dass sich auch die NATO zu einer Eingrenzung Gunstsituation tatsächlich nutzt und konkrete Fort-
der Rolle von Nuklearwaffen bekennt und nicht der schritte in den beiden Bereichen macht, die ich exempla-
neuen Einsatzdoktrin hinterherhinkt, die im April dieses risch herausgehoben habe – Abrüstung und Verhältnis zu
7602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) Russland –, wird das Bündnis gestärkt von dem Gipfel in einem Dokument geht, das einer Geheimeinstufung un- (C)
Lissabon zurückkehren. terliegt. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass es
im Zuge der Erarbeitung des Albright-Berichts eine
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bislang noch nicht dagewesene öffentliche Diskussion
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten über die künftige Ausrichtung der Allianz gegeben hat.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist es richtig, dass wir uns auch im Deutschen
Bundestag mit der Frage befassen, warum die NATO ein
Präsident Dr. Norbert Lammert: neues Strategisches Konzept benötigt.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas Die Bundesregierung, die sich im Übrigen nicht über
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion. die Einstufung durch den NATO-Generalsekretär hin-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wegsetzen kann, hat zumindest dafür gesorgt, dass die
neten der FDP) Fachpolitiker der einzelnen Fraktionen Einsicht in den
aktuellen Entwurf nehmen konnten,
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Oh! Wie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In- großzügig!)
ternationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität der von den Staats- und Regierungschefs in der nächsten
sowie Instabilität, die von scheiternden Staaten ausgeht, Woche beim Gipfel in Lissabon verabschiedet wird.
bedrohen die gesamte zivilisierte Welt.
(Uta Zapf [SPD]: Nein! Nur die Obleute durf-
(Zuruf von der SPD: Oh! Jetzt kommt der wie- ten das, nicht die Fachpolitiker! Ich bin auch
der mit der Leier!) Fachpolitikerin!)
Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und – Nein. Die Einstufung ist doch nicht durch die Bundes-
Raketen hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Si- regierung, sondern durch den NATO-Generalsekretär er-
cherheit. Die Folgen des Klimawandels können zu Kon- folgt; man muss die Fakten einmal benennen. Ich halte
flikten um natürliche Ressourcen oder Siedlungsräume es trotzdem für unbefriedigend, dass wir diese Diskus-
und zu großen Migrationsströmen mit sicherheitspoliti- sion so zu führen hatten.
schen Auswirkungen für uns führen. Cyberattacken und
mögliche Angriffe auf Handelsrouten und unsere Ener- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das macht
gieversorgung sind neue Dimensionen der konkreten Be- die Sache aber nicht besser!)
drohungen für unser Land.
Meine Damen und Herren, die NATO bleibt ein trans-
(B) (Uta Zapf [SPD]: Dass das als erster Punkt atlantisches, also regionales Bündnis, das sich allerdings (D)
kommt, Herr Schockenhoff, ist peinlich!) mit den genannten neuen Risiken und Bedrohungen ei-
ner globalisierten Welt konfrontiert sieht. Die gemein-
Kurz gesagt: Wir stehen neuen, durch Asymmetrien same Verteidigung der 900 Millionen Bürger im Bünd-
geprägten Herausforderungen gegenüber. Die NATO nisgebiet gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages bleibt
hat vor elf Jahren ihre letzte Strategie verabschiedet. ebenso Kern des Bündnisses wie das Prinzip der kol-
Seither hat sich das Bündnis fast verdoppelt; es hat nun lektiven Sicherheit.
28 Mitgliedstaaten. Die NATO braucht also neue Klar-
heit über ihre Ziele und die sich daraus ableitenden Auf- Landesverteidigung heißt künftig aber primär Bünd-
gaben. nisverteidigung jenseits der äußeren Grenzen des
NATO-Gebietes. Denn Bündnissicherheit bedeutet heute
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mehr als die Abwehr eines Angriffs mit konventionellen
neten der FDP)
militärischen Mitteln. Es kommt deshalb künftig vor al-
Wie unterschiedlich die Vorstellungen hinsichtlich lem darauf an, die Entwicklungen in geografisch weiter
Sinn und Zweck der Allianz unter den Mitgliedstaaten entfernten Regionen zu beobachten, zu analysieren und
sind, wurde zuletzt während der zehnmonatigen Bera- dann zu handeln, wenn unsere Sicherheit berührt wird.
tungen in der Expertenkommission von Madeleine Dabei bleibt ein zugrunde liegendes Mandat des VN-
Albright deutlich. Das neue Strategische Konzept der Sicherheitsrates zentral.
NATO muss deshalb die gemeinsamen Sicherheitsinte-
Für die Allianz bedeutet Art. 4 des NATO-Vertrages
ressen der Allianz auf einen aktuellen Nenner bringen,
die Grundlage für die notwendigen intensiven Konsulta-
also einen neuen strategischen Konsens der 28 Staaten
tionen innerhalb des Bündnisses zur Bewältigung und
begründen.
Verhinderung von Krisen. Bei einer unkonventionellen
Es gilt, die Frage zu beantworten, wie das Bündnis Gefahr, beispielsweise der fortgeschrittenen Planung ei-
vor dem Hintergrund der beschriebenen Aufgaben seine nes Terrorangriffs, muss der NATO-Rat aber im Einzel-
Kernaufgabe, unsere Sicherheit und den Schutz des Ter- fall entscheiden, ob ein Fall der kollektiven Verteidigung
ritoriums, der Bevölkerung und der vitalen Interessen gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages vorliegt.
der Bündnispartner zu gewährleisten, in Zukunft erfüllen
Internationale Konfliktverhütung und -bewälti-
kann.
gung bleiben auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten
Herr Erler, es ist für uns Parlamentarier zweifellos un- Aufgaben der Bundeswehr. Es ist daher richtig, dass die
befriedigend, wenn es um die öffentliche Befassung mit von Verteidigungsminister zu Guttenberg angestoßene
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7603
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) Neuausrichtung der Bundeswehr der Bündnisfähigkeit handenen nuklearen Arsenale als gemeinsames Ziel der (C)
zentrale Bedeutung beimisst und die Zahl der für den Allianz festgeschrieben werden.
Einsatz im Rahmen multinationaler krisenbewältigender
Maßnahmen zur Verfügung stehenden Kräfte erhöht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
wird. wie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser]
[FDP])
Unser Einsatz in Afghanistan hat zudem gelehrt, dass
die NATO auf die Zusammenarbeit mit internationalen Konkret bedeutet dies zum Beispiel, in künftigen Abrüs-
Organisationen wie den Vereinten Nationen, der EU und tungsrunden mit Russland die substrategischen Nuklear-
anderen zivilen Organisationen angewiesen ist. Zur Kri- waffen einzubeziehen.
senprävention und Konfliktbewältigung ist ein umfas- Herr Erler, Sie haben dem Außenminister vorgewor-
sender vernetzter Ansatz erforderlich, der neben militäri- fen, er habe hier nur vage gesprochen. Er hat genau das
schen Mitteln vorrangig zivile, also politische, gesagt: In künftigen Abrüstungsrunden mit Russland
diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspoliti- müssen die substrategischen Nuklearwaffen einbezogen
sche Mittel einschließt. In Afghanistan haben wir mit werden. – Das ist sehr konkret. Das ist ein Ziel, das wir
unserem Konzept der zivil-militärischen Wiederaufbau- in der NATO insgesamt erreichen wollen.
teams, den sogenannten PRTs, ein Beispiel hierfür gege-
ben. Dieser Ansatz wird von der NATO und ihren Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gliedstaaten heute insgesamt akzeptiert. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie geben auch noch zu, dass Sie ihn ausge-
Im Rahmen des neuen Strategischen Konzepts muss bremst haben! Das ist aber nicht schön zwi-
der Beitrag der NATO zu diesem Comprehensive Ap- schen Koalitionspartnern!)
proach weiterentwickelt und der vernetzte Ansatz als
Prinzip des Krisenmanagements vorgesehen werden. Durch den Aufbau einer effektiven Raketenabwehr
Der neue Ansatz muss sein, von Beginn einer Operation könnte die Bedeutung von Nuklearwaffen drastisch ver-
an so weit wie möglich eine ressortübergreifende Kon- ringert und somit ein wesentlicher Beitrag zur weltwei-
fliktbewältigung sicherzustellen. Zudem müssen andere ten Abrüstung geliefert werden. Auch das ist nicht vage,
relevante Organisationen, insbesondere die EU, mit ih- sondern sehr konkret.
rem umfassenden zivilen Instrumentarium frühestmög- Sicherheit in und für Europa lässt sich nur mit und
lich einbezogen werden. Schon mit Blick auf die nicht gegen Russland erreichen. Deswegen haben wir,
Ressourcen ist größtmögliche Komplementarität und Ar- so glaube ich, in diesem Hause gemeinsam jedes Inte-
beitsteilung mit anderen internationalen Akteuren gebo- resse an einer möglichst intensiven Zusammenarbeit mit
(B) ten. Russland, etwa bei der Rüstungskontrolle, in Bezug auf (D)
Meine Damen und Herren, in dem neuen Strategi- die nukleare Nichtverbreitung, beim Kampf gegen den
schen Konzept ist der Aufbau einer wirksamen Rake- internationalen Terrorismus und hinsichtlich eines ge-
tenabwehr vorgesehen. Dies hält die CDU/CSU-Frak- meinsamen Krisenmanagements.
tion für richtig; denn wir benötigen neue Instrumente, (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser]
um einen effektiven Schutz vor der realen Bedrohung [FDP])
durch Atomwaffen in den Händen von Risikostaaten,
wie Iran oder Nordkorea, gewährleisten zu können. Herr Erler, Sie können ja kritisieren, dass der NATO-
Russland-Mechanismus im Jahre 2008 ausgesetzt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wurde. Ich gebe sogar zu, dass auch ich das aus heutiger
neten der FDP) Sicht für einen Fehler halte. Dass Sie das aber dem Au-
Diese Länder lassen sich vielleicht in Zukunft nicht ßenminister Westerwelle vorwerfen, obwohl zu diesem
mehr abschrecken. Somit gilt die Maxime von Präsident Zeitpunkt der federführende Außenminister Steinmeier
Obama, dass die NATO so lange zur Abschreckung be- und nicht Westerwelle hieß, ist nun wirklich daneben.
reit und in der Lage sein muss, wie es Atomwaffen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dieser Welt gibt. neten der FDP – Uta Zapf [SPD]: Das hat er
gar nicht Westerwelle vorgeworfen! So ein
(Uta Zapf [SPD]: Sie haben doch gerade ge-
Schmarren! Richtig zuhören!)
sagt, sie lassen sich nicht abschrecken! Wo ist
da die Logik?) Dadurch zeigen Sie, dass es Ihnen nicht darum geht, dies
zu kritisieren. Das ist wirklich zu billig. Sie sollten das
Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass sich die NATO nachher vielleicht korrigieren.
der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen verschreiben
wird und sie das Prinzip anerkennen muss, dass sie den (Uta Zapf [SPD]: Das hat er nicht gemacht!
Staaten, die keine Nuklearwaffen haben und die dem Lesen Sie es einfach nach!)
Nichtverbreitungsvertrag beigetreten sind und den ent-
sprechenden Verpflichtungen nachkommen, niemals mit Wenn Sie den Außenminister kritisieren, dann fügen Sie
dem Einsatz von Atomwaffen drohen wird. hinzu, dass im Jahr 2008 nicht Herr Westerwelle, son-
dern Ihr Fraktionsvorsitzender Steinmeier der deutsche
Zweifellos muss im neuen Strategischen Konzept Außenminister und der in dieser Sache federführende
aber die größtmögliche Reduzierung der weltweit vor- Minister der Bundesregierung war.
7604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (Beifall bei der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler Die Bundeswehr als Parlamentsarmee wird direkt in (C)
[SPD]: Er war aber auch dagegen!) das neue NATO-Konzept einbezogen, und das Parlament
soll das nicht entscheiden dürfen. Was hat das noch mit
Ich begrüße es sehr, dass Russland zusammen mit den Demokratie zu tun?
USA einen wichtigen Beitrag zur Drogenbekämpfung in
Afghanistan geleistet hat, und ich hoffe, dass die von (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder
Präsident Medwedew in Aussicht gestellte Mitwirkung [CDU/CSU]: Dass Sie es nicht verstehen, ist
an der gemeinsamen Raketenabwehr Realität wird und mir schon klar!)
zu einer konkreten Zusammenarbeit im gemeinsamen In dem Konzept, das den meisten nicht vorgelegt
Sicherheitsinteresse führt. wurde, muss es nach Ansicht der Linken darum gehen,
Meine Damen und Herren, auch nach dem NATO- wann endlich die amerikanischen Atomwaffen aus
Gipfel von Lissabon werden wir die Reform und die Deutschland abgezogen werden. Ich sage Ihnen ganz
Transformation der NATO parlamentarisch begleiten. klar: Wir fordern den sofortigen Abzug dieser Atomwaf-
Wenn die NATO im Zeitalter globaler Bedrohungen mit- fen.
hilfe des neuen Strategischen Konzepts den strategi- (Beifall bei der LINKEN)
schen Konsens innerhalb der Allianz erneuert und wenn
sich die 28 Mitgliedstaaten in Lissabon auf gemeinsame Wenn wir nicht darüber entscheiden dürfen, dann ist
Ziele und Instrumente zur Aufrechterhaltung der Bünd- das eine unglaubliche Bevormundung des Deutschen
nissicherheit in einer globalisierten Welt des 21. Jahr- Bundestages. Das dürfen sich selbstbewusste Abgeord-
hunderts einigen können, dann ist ein erster Schritt ge- nete aus allen Fraktionen nicht bieten lassen.
lungen. Die weiteren Schritte werden wir intensiv (Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich
begleiten. [DIE LINKE]: Davon gibt es aber da drüben
nicht so viele!)
Danke.
Auch die Menschen, die durch die NATO geschützt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden sollen, werden nicht über das Strategische Kon-
zept informiert und haben kein Mitspracherecht, wenn es
Präsident Dr. Norbert Lammert: um ihre eigene Sicherheit geht. Stellen Sie sich vor, ein
Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin Autoverkäufer würde auf die Frage eines Kunden nach
Dr. Gesine Lötzsch das Wort. der Sicherheit des Autos antworten: Das geht Sie gar
nichts an. – Aus dem Geschäft würde wohl kaum etwas
(Beifall bei der LINKEN) werden. Man muss den Eindruck haben, dass jeder Auto-
(B) verkäufer dieser Republik mehr Verstand hat als die Si- (D)
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): cherheitsexperten in dieser Regierung.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie, Herr Bundestagspräsident (Beifall bei der LINKEN)
Lammert, haben in der vergangenen Woche die Bundes- Auch die Autoverkäufer wissen, dass ein gutes Sicher-
regierung wegen der Missachtung des Deutschen Bun- heitskonzept eines der wichtigsten Verkaufsargumente
destages kritisiert, und ich finde, zu Recht. ist.
(Beifall bei der LINKEN) Wenn die Bundesregierung nun der Meinung ist, dass
sie dieses Konzept nicht öffentlich vorzulegen hat, dann
Ja, es ist ein Skandal, wie die Atomlobby die Regie- scheint es dafür zwei Gründe zu geben: Erstens scheint
rung über den Tisch gezogen hat und wie dann die Re- die Regierung der Auffassung zu sein, dass Sicherheits-
gierung das Parlament über den Tisch zog. politik außerhalb der demokratischen Verfahren steht.
(Birgit Homburger [FDP]: Was hat das mit der Dem stellen wir uns entgegen.
NATO zu tun?) (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder
Das Gleiche erleben wir mit dem neuen Strategischen [CDU/CSU]: Wie macht sie das?)
Konzept der NATO und der Rüstungslobby. Genau das Zweitens kann die Regierung der Auffassung sein,
ist der Zusammenhang, Frau Kollegin Homburger. dass das NATO-Sicherheitskonzept nichts taugt.
(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau!
CSU]: Endlich sagt es mal einer!) Wahrscheinlich beides!)
Das NATO-Konzept wird als geheime Verschlusssa- Wir als Linke wollen, dass alle Menschen ein angst-
che behandelt. Wir als Volksvertreter sollen über ein freies Leben führen können. Das ist doch wohl nicht zu
Konzept beraten, das die meisten in diesem Saal gar viel verlangt.
nicht kennen. Nun könnte die Regierung sagen: Sie,
meine Damen und Herren, müssen es auch nicht kennen; (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie brauchen auch nicht zu entscheiden. – Das ist, finde Wenn das die wichtigste Prämisse von Sicherheitspolitik
ich, der zweite Skandal. ist, dann müssen wir uns fragen, ob die NATO bisher ein
angstfreies Leben garantieren konnte. Die Antwort ist
(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder
eindeutig Nein.
[CDU/CSU]: Schon wieder! Ein Skandal nach
dem anderen!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7605
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Der ewige Krieg gegen die Menschen in Afghanistan (Beifall bei der LINKEN) (C)
hat eine ganze Region destabilisiert und unzählige Opfer
gefordert. Es ist bis zum heutigen Tag nicht klar, wie die Sie gaukelt Sicherheit vor, bringt aber immer mehr Unsi-
NATO aus diesem Krieg wieder herauskommen will. cherheit nach Europa.
Darum fordern wir auch hier und heute wieder den so- Wenn nun der Kollege Verteidigungsminister zu
fortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Guttenberg sich hinstellt und erklärt, die NATO und die
(Beifall bei der LINKEN) Bundeswehr sollen in Zukunft die Handelswege und die
Rohstoffquellen sichern, steht er mit dieser Position
Unsere Freiheit wird nicht am Hindukusch verteidigt, nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Ihn
und die Bundeswehr ist auch nicht die größte Friedens- scheint das nicht zu stören, uns stört es schon.
bewegung, wie es einst der damalige Verteidigungsmi-
nister Struck behauptet hat. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir müssen feststellen, dass mit dem Kampf gegen
den Terror die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer Wir sollten uns über eines im Klaren sein: Wenn es
geworden ist. Die NATO hat einen beträchtlichen Anteil um den Welthandel geht, sind die wirklichen Bedrohun-
daran, dass der Terror jetzt nach Europa kommt. Das ist gen doch ganz andere. China, Deutschland und Japan
eindeutig das Ergebnis einer falschen Politik. Wir haben stehen als Exportstaaten international unter Kritik. Im-
immer gesagt, dass man Terror nicht mit Krieg bekämp- mer mehr Staaten wollen sich nicht länger mit den un-
fen kann, im Gegenteil: Es entsteht neuer Terror. ausgeglichenen Handelsbilanzen abfinden. Die Kanzle-
rin hat vor dem G-20-Gipfel erklärt, dass sich die
(Beifall bei der LINKEN) anderen Staaten mehr anstrengen müssen, um mehr ex-
In dieser Situation gibt uns die Bundesregierung und portieren zu können. Das ist ökonomischer Unsinn; das
insbesondere Herr Minister de Maizière den guten Rat, weiß doch jedes Kind. Wenn alle Staaten nur noch auf
wachsam zu sein. Ist das alles, was die Bundesregierung Export setzen würden, dann bräche der internationale
sicherheitspolitisch zu bieten hat? Die NATO und meh- Handel zusammen. Wenn wir also unsere Handelspolitik
rere Bundesregierungen haben uns die Suppe einge- nicht freiwillig ändern, dann werden die anderen Staaten
brockt, und jetzt sollen die Menschen diese Suppe aus- mit Protektionismus antworten, und unsere Exportstrate-
löffeln. Das ist doch wirklich eine Zumutung. gie wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Das kön-
nen wir doch alle nicht wollen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen uns fragen, ob diese Organisation, die für
(B) den Tod von unzähligen Zivilisten die Verantwortung Und hat die NATO darauf eine Antwort? Nein. (D)
trägt und das Leben von Millionen Menschen unsicherer
gemacht hat, in der Lage ist, in Zukunft für unsere Si- Wir sehen, dass die NATO für fast alle Aufgaben un-
cherheit zu sorgen. geeignet ist, bis auf eine: Sie hält die Rüstungsindustrie
am Laufen. Zwei Drittel der weltweiten Militärausgaben
Wir als Linke sind der Auffassung, dass sich die werden von NATO-Staaten getätigt. Allein für den un-
NATO nicht reformieren lässt. Sie ist nicht in der Lage, sinnigen Raketenabwehrschirm wurden schon jetzt
auf die Fragen der Gegenwart und der Zukunft die richti- 120 Milliarden Euro ausgegeben. Ich habe ebenso wie
gen Antworten zu geben. viele hier im Saal – ich hoffe, zumindest auf der linken
(Beifall bei der LINKEN) Seite – bessere Ideen für die Verwendung von 120 Mil-
liarden Euro: für Bildung, für Kultur, für Infrastruktur,
Meine Damen und Herren, im Augenblick erleben wir für Zukunft und nicht für die Zerstörung der Zukunft.
einen bedrohlichen Währungs- und Handelskrieg zwi-
schen den USA, China und Europa. Die USA befinden (Beifall bei der LINKEN)
sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise und haben Abschließend noch einige Anmerkungen zu den vor-
kein ökonomisches Konzept. Was geschähe denn, wenn liegenden Anträgen. Der Entschließungsantrag der SPD
die USA versuchen wollten, ihren ökonomischen Nie- enthält einige Forderungen an das Strategische Konzept
dergang mit militärischen Mitteln zu stoppen? Hat die der NATO, die auch wir unterstützen können. Einen
NATO darauf eine Antwort? Nein. Punkt davon hebe ich hier besonders hervor: Die Kolle-
(Lachen bei der FDP) gen der SPD fordern wie auch wir zu Recht, dass die
Konvention über Landminen und Streumunition end-
Wir erleben die Zunahme von Naturkatastrophen als lich von allen unterstützt werden soll und dass alle
Folge des Klimawandels. Immer mehr Menschen sind NATO-Mitglieder dieser Konvention beitreten müssen.
auf der Flucht vor Hunger, Wassermangel, Überschwem-
mung und Bodenerosionen. Hat die NATO darauf eine (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Antwort? Nein. Was können wir mit einem Raketen- Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
schutzschirm über Europa anfangen, wenn die Bomben
Diese Streumunition und diese Landminen haben sehr
mit der Luftpost kommen? Hat die NATO darauf eine
viel Leid über die Menschheit gebracht. Gerade Kinder
Antwort? Nein.
und Jugendliche werden ihrer Zukunft beraubt, wenn sie
Ich halte fest, dass die NATO mit den Menschheits- noch Jahre nach Kriegsende auf diese Landminen treten
fragen des 21. Jahrhunderts komplett überfordert ist. oder von Streumunition verletzt werden können. Dies
7606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Gesine Lötzsch


(A) sind so menschenverachtende Mittel, dass sie sofort ver- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
boten gehören. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
NATO ist ein Sicherheitsbündnis, das sich Werten ver-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
pflichtet fühlt. Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
schon gewünscht, dass Sie hier festgestellt hätten, dass
GRÜNEN)
es zu einer Wertegemeinschaft eben nicht passt, dass das
Meine Damen und Herren, unsere Fraktion hat einen zukünftige Konzept dieser Wertegemeinschaft nur in der
Entschließungsantrag eingebracht, der eine Abstimmung Geheimschutzkammer des Deutschen Bundestages ein-
über das neue Strategische Konzept der NATO hier im zusehen ist. Das schafft keine Legitimation für diese
Bundestag fordert. Meines Erachtens muss das eine For- Werte, sondern delegitimiert sie.
derung aller Abgeordneten sein. Ansonsten, wenn wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
diese Forderung nicht unterstützen, können wir unsere
bei der SPD und der LINKEN)
Rolle als Volksvertreter nicht ernst nehmen.
In Wahrheit haben wir es seit Jahren mit einer neuen
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
Sinnsuche der NATO zu tun. Wenn man das in einer
FDP)
Stellenanzeige ausdrücken wollte, müsste man sagen:
In einem zweiten Entschließungsantrag fassen wir ei- Rüstiger Rentner in Altersteilzeit sucht neue Beschäfti-
nige unserer wichtigsten Forderungen zum neuen Strate- gung. – Das ist der Kern der Debatte, um die es hier
gischen Konzept der NATO zusammen. Drei davon geht. Das hat einen Grund – das ist bei Frau Lötzsch
nenne ich noch einmal: Erstens. Wir fordern den soforti- vielleicht noch nicht angekommen –: Der Kalte Krieg ist
gen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. vorbei, es gibt die bipolare Welt nicht mehr. Es ist rich-
tig: Wir stehen vor völlig neuen Herausforderungen –
(Beifall bei der LINKEN) Ressourcenwettläufen, Klimawandel, globaler Armut,
Zweitens. Wir fordern den Abzug aller Atomwaffen aus Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
Deutschland und weltweit endlich konkrete nukleare (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Er wieder-
Abrüstungsschritte und nicht nur schöne Deklarationen. holt gerade meine Rede!)
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der und Zerfall von Staaten. Die Wahrheit erfahren wir doch
CDU/CSU und der FDP) jeden Tag, zum Beispiel in den Auseinandersetzungen
Drittens. Wir wollen, dass sich die NATO nicht an dem um Somalia, in den Auseinandersetzungen um Afgha-
unsinnigen Raketenabwehrschild beteiligt. nistan. All diese Probleme lassen sich mit den klassi-
(B) schen Instrumenten der Abschreckung – das war doch (D)
Mit diesen Forderungen vertrete ich, im Gegensatz zu die wesentliche Funktion der NATO – alleine nicht lö-
den Zwischenrufern von der rechten Seite, die Meinung sen, im Gegenteil: Im typischen Konflikt, den wir haben,
der Mehrheit der Menschen in diesem Land. dem asymmetrischen Konflikt, ist Abschreckung der
(Widerspruch bei der FDP) Stachel dazu, den Konflikt zu verschärfen. Das sind die
Herausforderungen, vor denen wir stehen.
Wenn Sie unseren Entschließungsanträgen zustim-
men, dann sind Sie auf der richtigen Seite; wenn Sie da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gegen stimmen, dann wird in der Öffentlichkeit klar, Jetzt stellen wir fest, dass eine Suche nach neuen Auf-
dass für Sie nicht die Sicherheitsinteressen der Men- gaben innerhalb der NATO stattfindet. Es ist die Rede
schen wichtig sind, sondern vor allen Dingen die üppi- vom Cyberwar. Ja, der Cyberwar ist eine Bedrohung.
gen Profite der Rüstungsindustrie. Nur, ist diese Bedrohung mit den Instrumenten der
Vielen Dank. NATO zu lösen? Was wollen Sie denn tun? Google bom-
bardieren? Das kann doch keine ernsthafte Alternative
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Zuruf sein.
von der FDP: Welche Geschichtsvergessen-
heit!) (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Oder nehmen wir die Debatte über den Terrorismus.
Frau Kollegin Lötzsch, da Sie mich zu Beginn Ihrer Es wurde uns doch in diesen Tagen hautnah vor Augen
Rede nicht vollständig zitiert haben, will ich in Erinne- geführt: Ihr Innenministerkollege meint, bei Paketfracht
rung rufen, dass ich darauf hingewiesen habe, dass nach – wir alle müssen immer unser Kosmetikbeutelchen vor-
meiner Einschätzung der Ablauf der letzten Sitzungswo- zeigen – reichten Stichproben aus.
che für alle Beteiligten im Hause Anlass zu selbstkriti-
schem Nachdenken über die eigene Rolle bietet. Punkt. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Du hast doch gar keinen Kosmetikbeu-
Nächster Redner ist nun der Kollege Jürgen Trittin für tel!)
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Auch das ist kein militärisches Problem; vielmehr bedarf
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir es zur Lösung dieses Problems einer integrierten Sicher-
mal gucken; der hat auch mal eine gute heitspolitik, in der Fragen polizeilicher Vorsorge im
Stunde!) Vordergrund stehen sollten. Ich finde, das hat nichts in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7607
Jürgen Trittin
(A) einer Aufgabenbeschreibung für ein Militärbündnis zu keine NATO-Truppen. Und nur noch die Deutschen sind (C)
suchen. Das ist keine Aufgabe für das Militär, und das da? Das glauben Sie doch selber nicht!
muss an dieser Stelle klar gesagt werden.
Wo ist Ihre Perspektive, Ihre Überführung dieser Mis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sion in eine zivile? Wir wollen ja nicht aus Afghanistan
abziehen, sondern wir wollen das militärische Engage-
Die NATO muss sich, anstatt nach neuen Aufgaben zu ment dort beenden. Was ist Ihr Datum? Sie sagen, Sie
suchen, auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Diese wollen es nicht nennen. Mittlerweile bindet die NATO
bestehen in der Herstellung kollektiver Sicherheit, und die Verhandler der Taliban unter freiem Geleit in Ge-
zwar in Europa zusammen mit den USA. Das ist die spräche mit der afghanischen Regierung in Kabul ein.
Kernaufgabe, die sie erfüllen kann, die zu erfüllen von ihr Wo also ist Ihre Afghanistan-Strategie?
erwartet wird. Wenn es richtig ist, dass das nur mit Russ-
land zusammen geht, wie es von Herrn Schockenhoff und Eigentlich haben wir es mit einer fast unsichtbaren
anderen gesagt wird, dann brauchen wir eine NATO, die deutschen Außenpolitik zu tun. Nach außen wahrnehm-
kollektive Sicherheit in Kooperation mit Russland, durch bar ist und bleibt im Falle von Afghanistan ausschließ-
Öffnung in Richtung Russland und langfristig durch die lich der Verteidigungsminister, die Federführung hat
Perspektive einer Mitgliedschaft von Russland gewähr- aber das Außenministerium.
leistet. Dann haben wir einen Raum gemeinsamer Sicher-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
heit von Vancouver bis Wladiwostok. Das ist die Perspek-
NEN]: Ach!)
tive: Konzentration auf die Kernaufgabe der NATO als
militärischem Bündnis, das sich durchaus Werten ver- – Ich muss es an dieser Stelle sagen. Ich weiß es, weil
pflichtet sieht. ich die Kabinettsvorlagen gelesen habe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Hallo!)
In diesem Konzept spielt die Abrüstung eine zentrale Aber, meine Damen und Herren, was macht der Bun-
Rolle. Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, Abrüstung desverteidigungsminister? Der Bundesverteidigungs-
sei der Kern, sozusagen der Schwerpunkt von Außen- minister gibt jetzt den Außenminister, und er sagt zu
politik. Sonst bekommt man ja von Ihren Schwerpunk- Wirtschaftskriegen, derzeit finde er das nicht so verwe-
ten der Außenpolitik nicht so viel mit. Über die neue Ar- gen, und man solle mit dem Thema Wirtschaftskrieg of-
chitektur zwischen G 8, G 11 und G 20 veröffentlicht der fen und ohne Verklemmung umgehen. Ganz offen und
Finanzminister in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ohne Verklemmung: Handels- und Rohstoffkriege sind
einen Aufsatz. Das ist eigentlich Ihre Kompetenz, werter durch das Grundgesetz nicht gedeckt.
(B) Kollege Westerwelle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (D)
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So bei der SPD und der LINKEN)
wenig verstehen Sie!)
Hierzu hätte ich von Ihnen, Herr Westerwelle, eine klare
Sie sprechen von Abrüstung. Die FDP hat im letzten Ansage erwartet.
Jahr hier einen Antrag zur Beendigung der nuklearen
Selbstverständlich haben wir Rohstoff- und Ener-
Teilhabe als Relikt des Kalten Krieges eingebracht; so
gieinteressen. Aber das ist kein Grund für militärisches
steht es wörtlich in diesem Antrag. Was ist daraus ge-
Engagement. Um zu zitieren, was der Kollege Polenz in
worden? Sie sind von Ihrem größeren Koalitionspartner
anderen Zusammenhängen gesagt hat: Selbstverständ-
ausgebremst worden. Dann sagen Sie das doch an dieser
lich ist das nicht eine Sache, die wir mit einer Art Kano-
Stelle.
nenpolitik sichern könnten.
Sie sagen, Sie wollten Abrüstung, weil der nuklearen
Ich hätte von einem deutschen Außenminister, der
Proliferation begegnet werden solle. Wie passt das zu ei-
sich der Selbstbeschränkung deutscher Außenpolitik
ner Politik, die jetzt wieder darangeht, den Export von
verpflichtet weiß, erwartet, sich von dieser Kanonenpoli-
Atomtechnologie, die Wiederaufarbeitung und die An-
tik des Verteidigungsministers hier klar zu distanzieren.
reicherung mit Hermes-Krediten zu subventionieren?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
und bei der SPD) LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Oh,
Was soll denn das sein? Schafft ein, zwei, viele Iran? Ist Mann!)
das Abrüstung?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege
Dr. Rainer Stinner.
Es wurde immer gesagt: Afghanistan ist die Heraus-
forderung für die NATO. – Schauen wir uns Afghanistan (Beifall bei der FDP)
an: Die Niederländer sind weg, die Kanadier gehen
nächstes Jahr weg, die Schweden und die Italiener sind Dr. Rainer Stinner (FDP):
2014 weg, die Polen 2012. Wissen Sie, was das heißt? Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Im Jahr 2014 sind im Norden und Osten Afghanistans Herren! Herr Trittin, man merkte: Sie haben heute nichts
7608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) auf der Pfanne. Deshalb mussten Sie Ihre Rede mit einer Das zweite Thema ist die Nuklearfrage. Selbstver- (C)
Verunglimpfung der Bundesregierung krönen. ständlich wird auch im neuen Strategischen Konzept ste-
hen, dass, solange es auf dieser Welt Nuklearwaffen gibt,
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
auch die NATO eine nukleare Abschreckungskompo-
Ach, lieber Herr Stinner!)
nente haben wird. Das halte ich auch für richtig. Den-
Niemand in dieser Bundesregierung, niemand auf dieser noch ist hier angesprochen, dass wir die Vision, die
Seite des Parlaments denkt daran, Wirtschaftskriege zu Obama hat, die wir haben, die wir gemeinsam haben, am
führen. Der Terminus technicus „Wirtschaftskriege“ ist Ende Global Zero, schrittweise – schrittweise! – errei-
von niemandem gebraucht worden. chen können.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, speziell von der SPD, lie-
NEN]: Doch!) ber Herr Erler, ich muss Ihnen deutlich sagen: Ich bin
Niemand aus diesem Deutschen Bundestag will und immer wieder erstaunt darüber, wie eine Partei, die elf
wird deutsche Soldaten schicken, um Rohstoffinteressen Jahre lang durch Bundeskanzler und Außenminister Au-
zu sichern. ßenpolitik in Deutschland definiert hat, nach einem Jahr
den Eindruck zu erwecken versucht, als hätte sie damit
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überhaupt nichts zu tun. Das kann so nicht weitergehen,
NEN]: Außer Guttenberg!) Herr Erler. Sie haben elf Jahre lang Verantwortung ge-
Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, die Pira- habt. In Ihrer Zeit ist der NATO-Russland-Rat ausgesetzt
terie zu bekämpfen. Aber das hat mit Rohstoffkriegen worden. In Ihrer Zeit haben Sie nicht erreicht und auch
überhaupt nichts zu tun. Herr Trittin, ich weise diese keinen Anstoß dazu gegeben, dass aus Deutschland Nu-
Verunglimpfung im Namen meiner Fraktion ausdrück- klearwaffen entfernt werden. Jetzt kommen Sie und re-
lich zurück. den klug daher. Meine Damen und Herren, es ist uner-
träglich, wie Sie Politik zu machen versuchen; das muss
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Sie haben einen zweiten Fehler gemacht, Herr Trittin;
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
denn Sie haben unterstellt, die NATO würde krampfhaft
nach neuen Aufgaben suchen. Das ist falsch, und das Es gibt einen weiteren neuen Aspekt in dem NATO-
braucht sie auch gar nicht. Wir können mit Stolz und mit Konzept, und das ist Cyberwar; darauf ist hingewiesen
Freude feststellen: Die NATO hat erreicht, dass Hunderte worden. Ich möchte Sie aber bitten, Herr Außenminister,
von Millionen – jetzt sind wir 850 Millionen – 60 Jahre in der nächsten Woche, vor Verabschiedung des Kon-
(B) lang in Frieden und Freiheit gelebt haben. Herr Trittin, zepts, darauf hinzuarbeiten, dass wir jedenfalls nicht ei- (D)
wenn unsere Nachfolger das in 60 Jahren auch noch so nen Automatismus zwischen Cyberbedrohung und Art. 5
sagen können, nämlich dass die NATO dazu beigetragen NATO-Vertrag bekommen. Ich sehe das sehr kritisch.
hat, dass 850 Millionen Menschen auf dieser Welt in
Frieden und Freiheit leben können, dann braucht sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uta Zapf
keine weitere Aufgabe, dann ist sie ein erfolgreiches [SPD]: Das tut doch gar nichts zur Sache!
Bündnis, und dann können wir auf dieses Bündnis stolz Art. 5?)
sein.
– Ich sage das ja so. Liebe Kollegin, ich sage deutlich, wie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich es empfinde. Ich sehe es sehr kritisch, dass wir einen
Selbstverständlich hat sich seit 1999 die Situation für Automatismus zwischen Cyberattacken und Art. 5 her-
die NATO geändert, und das wird in dem neuen Strategi- stellen sollen. Hier müssen wir sehr genau hinschauen.
schen Konzept reflektiert – völlig richtig –, und es war Ich möchte die Verbindung so unverblümt möglichst
hohe Zeit, dass wir das anpassen. Jetzt stellen wir uns nicht in dem Konzept haben.
die Frage: Was ist eigentlich neu? Ich finde, es gibt eine
ganze Reihe von neuen Aspekten, die wir würdigen Ich möchte gern eine weitere kritische Anmerkung
müssen und die damals, 1999, so nicht formuliert wor- machen, und die bezieht sich auf das Thema Missile De-
den sind oder werden konnten. fense. Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt,
dass wir jetzt eine völlig neue Perspektive haben. Es
Das erste Thema – ganz wichtig – ist die Kooperation geht von dem alten Bush-Konzept, das unter verschiede-
mit Russland. Ich glaube, hier haben wir einen ganz we- nen Gesichtspunkten falsch war – das haben wir immer
sentlichen Fortschritt erlebt. Ich verhehle nicht, dass die gesagt –, hin zu einem neuen Konzept, das aber, wie ich
Bundesregierung und mit ihr der deutsche Außenminis- finde, überhaupt noch nicht richtig definiert wird. Ich
ter ganz wesentlich dazu beigetragen haben, das Thema habe mich auch in der Öffentlichkeit gegenüber dem
Russland in der Weise zu intonieren, wie es jetzt into- NATO-Generalsekretär kritisch geäußert, der nämlich in
niert wird. Russland wird nämlich nicht nur als Problem den Raum stellt, das würde die NATO nur 200 Millionen
gesehen – es gibt Probleme, die wir alle kennen –, son- Euro kosten. Meine Damen und Herren, lieber Herr Au-
dern Russland wird zunehmend als Problemlöser, Mitge- ßenminister, das halte ich für eine Vernebelung der Öf-
stalter eingebunden. Auch das ist eine Aufgabe, der sich fentlichkeit. Das können wir so nicht stehen lassen.
die NATO verschrieben hat. Dieser Aufgabe werden wir
uns widmen. Dazu hat deutsche Politik ganz wesentliche (Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/
Impulse gegeben. DIE GRÜNEN])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7609
Dr. Rainer Stinner
(A) Wir müssen an diesem Missile-Defense-Konzept sehr Ich beklage aber genau wie alle anderen vor mir, dass (C)
genau nacharbeiten. Es muss deutlicher werden, um was dieses Konzept so geheim gehandelt wird, dass es wirk-
es sich dabei handelt. Die Elemente, die verknüpft wer- lich nur die Obleute sehen durften und nicht die Fach-
den sollen, sind bisher noch gar nicht vorhanden. Ange- leute, die auch sicherheitsüberprüft sind und normaler-
sichts dessen die Zahl von 200 Millionen Euro in den weise solche Dinge einsehen können. Noch komischer
Raum zu stellen, halte ich für problematisch; ich will das ist eigentlich, dass wir hierzu eine Anhörung im Aus-
so deutlich sagen. wärtigen Ausschuss hatten, bei der von den fünf eingela-
denen Experten offensichtlich nur einer Einsicht in den
Lassen Sie mich, Herr Präsident, zum Abschluss et- Entwurf dieses Konzeptes hatte. Dieser Herr Kamp vom
was zu einem Element sagen, das in dem neuen Konzept NATO Defense College hat mit folgendem Zitat eröffnet
verstärkt dargestellt wird, das aber in der Öffentlichkeit – ich finde, das ist ein schönes Zitat –:
bisher leider zu kurz gekommen ist: Das ist Art. 4. In
Art. 4 geht es um Konsens und Kooperation, um Koope- Eine Firma, die nur alle 10 Jahre überprüft, ob ihre
ration und Information innerhalb der NATO. Bundes- Produkte den Bedürfnissen der Kunden entspre-
kanzler Schröder und ein Jahr später Bundeskanzlerin chen, wäre wahrscheinlich nicht mehr im Geschäft.
Merkel haben in München auf der Sicherheitskonferenz
Jetzt führt die NATO also eine solche Überprüfung
jeweils dasselbe gesagt – für Herrn Schröder hat Herr
durch, um im Geschäft zu bleiben. Das Ergebnis kennen
Struck kaum verstehbar, verschwurbelt, aber inhaltlich
wir noch nicht, weil es geheim ist; aber wir wissen, was
richtig vorgetragen, und Frau Merkel hat es deutlich ge-
wir wollen, und wir wissen auch, was wir nicht wollen.
sagt –: Die NATO muss im Zentrum ein politisches, ein si-
Jedenfalls haben wir als SPD das in unserem Antrag sehr
cherheitspolitisches Koordinations- und Kooperationsgre-
deutlich niedergelegt.
mium sein. Deshalb müssen wir, Herr Außenminister – ich
weiß, wir sind da einer Meinung, aber ich will es auch Zu einem Teil unserer Vorstellungen hat Kollege Erler
noch einmal deutlich im Deutschen Bundestag sagen –, sehr deutlich Stellung genommen. Dabei ging es vor al-
darauf Wert legen, dass insbesondere die Kooperation lem um die Frage, wie die NATO mit Russland umgeht.
und die Information im Rahmen des NATO-Bündnisses Ich sehe, dass hier ein relativ breiter Konsens für eine
verstärkt werden. Die NATO muss ihrer Rolle diesbezüg- andere Politik als während des Kalten Krieges und viel-
lich gerecht werden, nämlich als Sicherheitsbündnis für leicht auch noch in der Zeit danach besteht. Also, Ent-
heute, für morgen und für die Zukunft. So ist die NATO spannung ist angesagt.
auf dem richtigen Weg. Dann können wir hoffentlich in
Wir begrüßen natürlich, dass in diesem Konzept nie-
60 Jahren sagen: Jawohl, weitere 60 Jahre hat diese
dergelegt ist, dass das Ziel eine nuklearwaffenfreie Welt
NATO für Frieden, Freiheit und Sicherheit für 850 Mil-
ist. Trotzdem bleibt doch – ich finde, wir müssen das
(B) lionen Menschen in dieser Welt gesorgt. Das ist ein Er- (D)
auch kritisch sehen, Herr Außenminister – ein Mix aus
folg. – Wir arbeiten daran, dass dieser Erfolg eintritt.
konventionellen und nuklearen Waffen bestehen; die
Danke schön. Abschreckung bleibt; die nukleare Teilhabe und das
Burden Sharing bleiben, und die Stationierung von US-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Waffen in Europa wird für den transatlantischen Zu-
sammenhalt weiterhin als notwendig deklariert.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, Sie haben ganz offensichtlich zu Be-
Die Kollegin Uta Zapf ist die nächste Rednerin für die
ginn Ihrer Amtszeit den Mund zu voll genommen, als
SPD-Fraktion.
Sie über den Abzug von substrategischen Waffen spra-
(Beifall bei der SPD) chen. Wir jedenfalls wollen weiterhin, dass diese aus
Deutschland abgezogen werden.
Uta Zapf (SPD): (Beifall bei der SPD)
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Stinner, immer, wenn Sie so laut sind, kommt In diesem Konzept findet sich allerdings kein Hinweis
nichts dabei herum. Wenn Sie aber ab und zu leisere darauf, dass so verfahren wird. Im Gegenteil, man hält
Töne anschlagen, kann man sich schon mit Ihnen aus- an diesem Burden Sharing fest. Wir meinen – Herr
einandersetzen. Trittin hat das ähnlich ausgedrückt –, dass ein Bündnis,
das sich als Werte- und Verteidigungsgemeinschaft ver-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Kommen Sie steht, keine Nuklearwaffen als Klebstoff für den transat-
einmal zur Sache und verzapfen Sie nichts zu- lantischen Zusammenhalt braucht. Hier sind ganz andere
sammen! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ich kann Dinge wichtig, nämlich unsere gemeinsamen Werte und
noch viel lauter!) unser gemeinsames Interesse an Stabilität und Sicher-
heit.
Vielleicht tun wir das dann auch in den entsprechenden
Ausschüssen. (Beifall bei der SPD)
Dass wir, wie die Linken es fordern, über das neue Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die
Strategische Konzept der NATO im Bundestag abstim- NATO auf nukleare Abrüstung verpflichtet, ist gewiss
men, ist aus politischen Gründen schlicht und ergreifend positiv. Aber gewiss sind diese Aktivitäten nicht auf den
gar nicht möglich; denn hierzu hat das Parlament keine Außenminister Westerwelle alleine zurückzuführen,
Handlungsbefugnis. auch wenn Sie es im Auswärtigen Ausschuss so darzu-
7610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Uta Zapf
(A) stellen versucht haben. Es gab die sogenannte Vierer- Uta Zapf (SPD): (C)
bande – Kissinger, Shultz, Perry und Nunn –, es gab Ich erinnere daran, dass wir bei MEADS immer noch
Obamas Wahlkampf, und es gab im Jahre 2008 die Rede nicht im Reinen sind. Deshalb glaube ich, dass wir auch
von Obama in Prag. Aus Deutschland und Norwegen sehr gut beraten sind, darauf zu hören, was die Russen in
gab es eine Initiative von Steinmeier und seinem norwe- diesem Moment sagen. Sie werden sich nicht auf ein
gischen Kollegen, die ein Papier in die NATO einge- Abenteuer einlassen, das keinen Mehrwert bietet; dies
bracht haben, das besagte, dass Abrüstung wieder größe- alles muss noch sehr genau geprüft werden.
res Gewicht haben solle. Ich stimme mit dem überein, was hier von einigen
Natürlich ist die Nuclear Posture Review ein Leitfaden Kollegen zu Cyber gesagt worden ist; dies kann nicht
für das strategische Konzept; darauf muss es reagieren. nach Art. 5 erfolgen.
Aber Clinton und Obama haben deutlich gesagt – das
wurde hier von Herrn Stinner zitiert –, dass man eine Präsident Dr. Norbert Lammert:
wirkungsvolle Abschreckung und ein Arsenal von Nu- Frau Kollegin, Sie müssen jetzt aber zum Schluss
klearwaffen brauche, solange es Nuklearwaffen auf der kommen.
Welt gibt. Ich bin da anderer Meinung. Ich weiß, dass
das innerhalb der NATO anders diskutiert wird, und die Uta Zapf (SPD):
Abstimmungsverfahren sprechen dafür, dass man mit ei- Letzter Satz, Herr Präsident. – Wir sollten auch noch
ner Nulllösung nicht so recht durchdringen kann. einmal klären, wie es in den Regierungsfraktionen mit
Hinsichtlich der Fortführung von Abrüstungsmaßnah- der Frage einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat
men bin ich nicht ganz so optimistisch, wie es hier beim oder einfach durch den Geist der UN ist. Ich würde dies
Außenminister klang, insbesondere nach der Wahl in den gern präzise haben, wie wir es in unserem Antrag nieder-
USA, aufgrund derer die Fraktion von Obama sehr an gelegt haben.
Kraft verloren hat. Der Stellenwert von Abrüstung wird Herzlichen Dank.
bei den USA insgesamt geringer sein. Ob New START
ratifiziert werden wird, weiß ich nicht. Auch die Duma (Beifall bei der SPD)
bereitet sich bereits darauf vor, hier wieder einen Rück-
zieher zu machen. Eine alternative Kommentierung wird Präsident Dr. Norbert Lammert:
in der Duma vorbereitet. Es wird in der Duma eben nicht Das Wort erhält nun der Kollege Philipp Mißfelder
ratifiziert, weil man sich sagt, wenn man wieder dasselbe für die CDU/CSU-Fraktion.
wie bei START II hat, schaut man dumm aus. (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) Das Nächste ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: (D)
Was wird aus der konventionellen Abrüstung? Ich Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
weiß nicht, ob in diesem Konzept dazu etwas stehen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
wird. In Brüssel wird uns erklärt, als NATO seien wir gar Herren! Für die Zuschauer an den Fernsehbildschirmen,
keine Vertragspartner. Wir wissen, dass es zwei Papiere die heute vielleicht zum ersten Mal diese Diskussion
gibt, ein Papier aus den USA von Frau Viktoria Nuland verfolgen, möchte ich zur Klarstellung sagen, dass die
und ein russisches Papier. Darin wird deutlich, dass es Mitglieder des Deutschen Bundestages sehr wohl Mög-
Gespräche gibt. Ich erinnere daran, dass Steinmeier dies lichkeiten hatten, sich mit dem Bericht zu beschäftigen.
angestoßen hat, indem er in den Jahren 2007 und 2008 (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zu entsprechenden informellen Gesprächen in die Bun- NEN]: Über die Geheimschutzstelle! – Uta
desrepublik geladen hat. Ob wir eine Ratifizierung im Zapf [SPD]: Sie gehören ja auch zu den Privi-
Kongress erwarten können, steht garantiert in den Ster- legierten!)
nen.
Sicherlich war das nicht so tiefgehend möglich, wie es
Lassen Sie mich in der wenigen Zeit, die mir noch zur bei anderen Papieren sonst der Fall ist. Auch Sie, Frau
Verfügung steht, etwas zur Raketenabwehr sagen. Ich Zapf, waren doch bei der Unterrichtung durch den
glaube, wir werden gut beraten sein, wenn wir uns in Staatssekretär Born anwesend.
diesem Hohen Hause sehr genau mit den neuen Plänen
auseinandersetzen. Meine Sicht auf die Dinge ist im Mo- Es ist nicht die Bundesregierung bzw. der Bundes-
ment, dass das, was in der NATO vorgeschlagen wird außenminister, sondern die NATO gewesen, die festge-
und was Rasmussen als wunderbare Lösung beschreibt, legt hat, dass es sich um ein Geheimpapier handelt. Ich
eigentlich Augenwischerei ist, weil sich dies nur darauf möchte an dieser Stelle der Bundesregierung ausdrück-
bezieht, dass alle bisher existierenden Systeme „zusam- lich dafür danken, dass es uns zumindest in einem klei-
nen Kreis ermöglicht wurde, Fragen zu stellen, und dass
mengeplugt“ werden. Rasmussen macht ein Plugin: Hier
wir über das Papier direkt und ausführlich informiert
ist NATO, und dann Plugin! Dort sind aber zum Beispiel
wurden. Das ist, so glaube ich, der unter den Geheim-
die Kosten für Patriots und MEADS in Deutschland
schutzregeln einzig gangbare Weg gewesen.
überhaupt nicht mit eingerechnet; dies alles kommt
hinzu. (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi-
Präsident Dr. Norbert Lammert: schenfrage)
Frau Kollegin! – Herr Ströbele, bei Ihnen immer gerne.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7611

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: geworden. Die Internetwelt hat sich radikal verändert. (C)
Wenn ich vielleicht an dieser bilateral vereinbarten Auch unsere sicherheitspolitischen Herausforderungen
Zwischenfrage wenigstens notariell beteiligt werden haben sich massiv verändert.
könnte.
Während des Kalten Krieges war Bündnissolidarität
(Heiterkeit) nahezu immer deckungsgleich mit nationalen Sicher-
heitsinteressen. Das kann man heute für die NATO nicht
Herr Kollege Ströbele, Sie haben das Wort.
mehr zwangsläufig sagen; denn wir stehen heute vor He-
rausforderungen, die anderer Natur sind und bei denen
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Sicherheitsinteressen einzelner Mitgliedsländer in unter-
GRÜNEN): schiedlichem Maße betroffen sind. Terrorismus, geschei-
Herr Kollege Mißfelder, ich durfte als Mitglied des terte Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaf-
Auswärtigen Ausschusses diese Papiere nicht einsehen. fen sind notwendigerweise nicht für alle Mitgliedsländer
Gibt es eine Erklärung, Verfügung oder Ähnliches der der NATO eine existenzielle Gefahr und werden daher
NATO, wo steht, dass zwar Obleute des Auswärtigen von Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen.
Ausschusses diese Papiere einsehen dürfen, aber stell- Nehmen wir den konkreten Fall Afghanistan. Während
vertretende Obleute nicht? Das hätte ich gerne einmal einige Verbündete ihr militärisches Engagement aus-
gewusst. Wie käme ansonsten der Außenminister dazu, drücklich als Kampf gegen eine unmittelbare Bedrohung
zu sagen: „Die Obfrau darf das einsehen, aber ihr Stell- empfinden und deshalb die Akzeptanz für diesen Einsatz
vertreter darf auch für den Fall, dass sie krank ist, die Pa- in ihrer Gesellschaft hoch ist, ist dies nicht zwangsläufig
piere nicht einsehen“? Was Sie gemacht haben, ist doch bei allen Mitgliedsländern der Fall. Das zeigt, wie
reine Willkür. schwierig mittlerweile Operationen unter dem Dach der
NATO sind. Wir müssen daher darüber diskutieren, wie
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): es mit der NATO politisch weitergehen soll.
Nein, Herr Ströbele, da muss ich Sie korrigieren. Wir Es zeigte sich schon in dieser Debatte: Uns geht es
haben das Papier nicht einsehen können – das habe ich nicht darum, die NATO nur als reines Militärbündnis zu
schon gesagt –, sondern wir haben die Möglichkeit ge- sehen. Wir sehen sie als politische Plattform, die uns die
habt, mit dem Staatssekretär, der das Papier kennt, aus- Möglichkeit gibt, mit anderen Organisationen und Bünd-
führlich darüber zu diskutieren. nissen, mit NGOs sowie mit anderen Partnern aus dem
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- asiatischen Bereich, aber insbesondere auch in unserer
NEN]: So haben wir uns die Junge Union im- unmittelbaren Nachbarschaft – ich denke dabei an Russ-
(B) mer vorgestellt! Papa erzählt, was in dem Text land – zu diskutieren. Wir stehen in der NATO auf einer (D)
drinsteht! Aber nicht selber lesen!) gemeinsamen Wertebasis. Deshalb ist es für uns von
zentraler Bedeutung – es ist mir ganz wichtig, das zu er-
Was Sie richtigerweise gesagt haben – diesen Punkt wähnen –, auf Basis dieser Werte gemeinsam für eine Si-
wollte ich eigentlich weglassen, um Ihre Fraktion nicht cherheitsarchitektur zu werben und dabei nicht nur über
zu diskreditieren –, ist, dass die Grünen bei dieser Unter- militärische Aspekte zu diskutieren, sondern auch über
redung nicht anwesend waren. Aber jede Fraktion hatte politische Perspektiven. Wir müssen die Diskussion über
die Möglichkeit, einen Stellvertreter zu entsenden. An- die Strategie der NATO dazu nutzen, hier Fortschritte zu
sonsten wäre Frau Zapf in Vertretung von Herrn machen.
Mützenich nicht dabei gewesen. Sie müssen sich in Ihrer
Fraktion einfach besser abstimmen. Wenn Sie freundli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
cher zu Frau Müller wären, dann würde sie Sie vielleicht
zukünftig in den Debatten reden lassen und dann müss- Wir müssen für eine stärkere Akzeptanz der NATO
ten Sie sich nicht in Form von Zwischenfragen zu Wort werben; das ist unbedingt notwendig. Wir befinden uns
melden. in einer Situation, die vollkommen anders ist als die zur
Zeit des Kalten Krieges. Dazu kann ich nur aus Ge-
(Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ schichtsbüchern zitieren und kaum aus eigenem Erleben
CSU]) berichten. Wir befinden uns heute Gott sei Dank nicht
mehr in einer Situation, in der die unmittelbare Bedro-
Vielleicht würde sie Sie auch darüber unterrichten, dass hung für den einzelnen Bürger automatisch in einem per-
es solche Termine gibt, an denen Sie dann stellvertretend sönlichen Zusammenhang zum Bündnis steht, weder im
teilnehmen dürfen. Aber das ist ein Problem der Grünen Osten noch im Westen Deutschlands.
und nicht unser Problem.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderun-
gen. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die NATO um
Ich will zum eigentlichen Thema kommen. Seit 1990 die Frage der Cyberattacken bemüht, selbst wenn das
hat die NATO 97 Prozent ihres Atomwaffenarsenals ab- nur der Beginn einer Diskussion sein kann. Hier gibt es
gerüstet. Allein das zeigt, in welchem Wandlungsprozess viele Fragen zu den Fähigkeiten der NATO. Die Frage
sich die NATO in den vergangenen Jahrzehnten befun- ist auch – Rainer Stinner hat sie zu Recht aufgeworfen –:
den hat. Politisch hat sich seit 1999, seit der letzten Dis- Wie geht man im Fall des Falles damit um? Wir stellen
kussion über die strategische Konzeption der NATO, Er- uns diesen Fragen in der Diskussion; wir wollen sie wei-
hebliches geändert. Die Weltwirtschaft ist globaler ter in den Blick nehmen.
7612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Philipp Mißfelder
(A) Die militärische Transformation der NATO muss Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
fortgesetzt werden. Dies bleibt für uns ein wichtiger Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Malczak für
Punkt; denn es ist notwendig, die Soldaten auf die neuen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herausforderungen vorzubereiten, sowohl im Hinblick
auf ihre Ausrüstung als auch auf die Organisationsstruk-
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tur der NATO. Insofern passt sich unsere Bundeswehrre-
form nahezu nahtlos in die Diskussionen ein, die in den Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
anderen Mitgliedsländern der NATO intensiv geführt Kollege Mißfelder, es ist ein unwürdiger Vorgang, dass
werden. Wir wollen die Bundeswehr effizienter, schnel- nur zehn Parlamentarier das Strategische Konzept einse-
ler und effektiver machen, damit sie den neuen Heraus- hen können, sodass man in einer Runde das Ratespiel
forderungen gerecht wird. Neuen Herausforderungen ge- betreiben muss: „Steht denn darin, dass …?“ Das ist
recht zu werden, heißt in erster Linie, unsere eigene auch für eine Organisation unwürdig, die sich Transpa-
Sicherheit und die Sicherheit unserer Bündnispartner zu renz und Öffentlichkeit groß auf die Fahnen schreibt.
schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Die Diskussion um Rohstoff- und Ressourcensi- des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])
cherheit ist nicht vom Himmel gefallen. Das zeigt sich
Herr Außenminister Westerwelle, mangels anderer au-
darin – Frau Zapf, da möchte ich Sie gerne korrigieren –,
ßenpolitischer Akzente haben Sie vollmundig das sympa-
dass wir schon bei der Erstellung des Weißbuchs 2006
thieträchtige Thema Abrüstung zu Ihrem persönlichen
– unter Applaus der SPD – kein Problem damit hatten,
Steckenpferd gemacht. Nach den Luftsprüngen wegen
auch über sichere Zugänge zu Märkten und über die
Deutschlands Sitz im UN-Sicherheitsrat hätten Sie nun in
Frage der Rohstoffsicherheit zu diskutieren.
der NATO belegen können, dass Sie internationale Politik
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war beherrschen und Ihr Eintreten für Abrüstung nicht nur
damals schon falsch! Das wird dadurch nicht eine Luftnummer ist. Was zu befürchten war, ist eingetre-
besser! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE ten: Schwarz-Gelb hat den Abzug der US-Atomwaffen
GRÜNEN]: Kein Weißbuch kann das Grund- aus Deutschland im Koalitionsvertrag absichtlich an die
gesetz aushebeln!) Verhandlungen in der NATO gekoppelt, um danach mit
dem Finger auf andere zu zeigen.
Nichts anderes hat der Minister getan; nichts anderes hat
zuvor der zurückgetretene Bundespräsident getan. Inso- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fern bedeutet die Aufregung an dieser Stelle viel Lärm sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
um nichts.
(B) Herr Westerwelle, der Deutsche Bundestag hat Sie in (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) großer Einigkeit damit beauftragt, sich in der NATO für
nukleare Abrüstung und den Abzug der US-Atomwaffen
Früher gab es Zeiten, in denen Sie bei diesem Thema ap-
aus Deutschland einzusetzen. Bei der Erfüllung dieses
plaudiert und tatkräftig daran mitgewirkt hätten.
Auftrags sind Sie gnadenlos gescheitert.
Ein wichtiger Punkt wurde in dieser Debatte angespro-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen: das Verhältnis zu Russland. Sicherlich kann man
NEN]: So ist es!)
darüber streiten, nicht über die Vorschläge der Gruppe um
Frau Albright, aber vielleicht über die Art und Weise, wie Mit einem Angebot zum Kuhhandel erschienen Sie in sel-
der NATO-Generalsekretär auf Russland zugegangen ist tener Eintracht mit Ihrem Kabinettskollegen zu Guttenberg
oder eben nicht. Ich kann das im Einzelnen nicht beurtei- beim Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der
len, weil ich keine detaillierten Kenntnisse darüber habe. NATO-Mitgliedstaaten im Oktober. Ihr plumper Deal
Es geht aber nicht nur darum, wie wir die Diskussion hier war: Deutschland unterstützt jetzt doch das Raketenab-
bei uns führen, sondern auch darum, wie sie in Russland wehrsystem und erhält im Gegenzug Zugeständnisse bei
aufgenommen wird. Der NATO-Generalsekretär hat viel- der nuklearen Abrüstung. – Doch die schallende Ohrfeige
leicht nicht zu jedem Zeitpunkt in angemessener Weise ließ nicht lange auf sich warten. Gleich nach der Konfe-
wahrgenommen, dass Russland uns, der NATO und der renz erklärte der amerikanische Verteidigungsminister
Europäischen Union die Hand ausgestreckt hat. Das ist Gates, dass Raketenabwehr gar nichts mit Abrüstung zu
aber eine politische Diskussion, um die es sich zu streiten tun hat. Eine deutlichere Abfuhr kann man sich nicht ho-
lohnt. Ich bin deshalb besonders froh darüber, dass die len.
Bundeskanzlerin sowie der französische Präsident und
der russische Präsident von Anfang an die Missverständ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nisse ausgeräumt haben, die im Zuge der Diskussion um Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)
das Strategische Konzept hätten auftreten können. Sie ha-
Das Ergebnis ist: Die US-Atomwaffen bleiben in
ben die feste Absicht erklärt, Russland mit ins Boot zu ho-
Deutschland, und die Bundesregierung vergibt einen
len und gemeinsam mit Russland an einer Sicherheitsar-
Blankoscheck für ein Raketenabwehrsystem, von dem
chitektur zu arbeiten. Damit wird die ausgestreckte Hand
niemand weiß, wie teuer es wird, ob es überhaupt funk-
Russlands angenommen.
tioniert und wer am Ende die Befugnis für die Entschei-
Herzlichen Dank. dung hat, wann es zum Einsatz kommt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7613
Agnes Malczak
(A) Der NATO-Generalsekretär Rasmussen wirbt mit ei- Dr. Guido Westerwelle (FDP): (C)
ner Schnäppchenrechnung, nach der das Raketenab- Frau Kollegin, bei allem Respekt: Noch sind auch Sie
wehrsystem nur 200 Millionen Euro kosten würde. Da- Mitglied dieses Hauses. Sie können sich ja auch zu Wort
für erntet er sogar von den Befürwortern dieses Systems melden, wenn Sie es denn möchten.
nur Gelächter. Experten rechnen mit Gesamtkosten in
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, weil mir das ein
Milliardenhöhe. Dem Verteidigungsminister, dem das
wichtiges Anliegen ist. Wir können hier gerne inhaltlich
Sparen sonst so wichtig ist, fiel zu dieser Sache nichts
über die Frage der Abrüstung diskutieren. Wir haben
Besseres ein, als Ja dazu zu sagen und gleichzeitig sein
eine sehr viel positivere Sicht auf dieses Thema. Wir
vorauseilendes Misstrauen gegenüber den Zahlen zum
sind der Meinung, dass die Entwicklung auf dem Gebiet
Ausdruck zu bringen. Das Tragische an dieser Entschei- der Abrüstung in dem letzten Jahr, insbesondere in den
dung ist: Ein solches Raketenabwehrsystem birgt in der letzten Monaten, gut und positiv ist.
jetzigen Situation, in einer Zeit, in der die globale
Machtverteilung durch aufstrebende Mächte neu be- Da ich als Parlamentarier viele Jahre lang in der Op-
stimmt wird, die Gefahr einer weltweiten Aufrüstungs- position gearbeitet habe, liegt mir viel daran, Folgendes
spirale. Raketenabwehr täuscht in einer hochgerüsteten zu sagen – deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet –:
Welt über die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüs- So viel Transparenz, wie ich als Außenminister bei die-
tungskontrolle hinweg. sem Strategischen Konzept der NATO dem Deutschen
Bundestag gegenüber ermöglicht habe, habe ich in den
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) elf Jahren, in denen ich Abgeordneter einer Oppositions-
Wir fordern Sie daher auf: Ziehen Sie Ihre Zustimmung fraktion war, nicht einmal erlebt.
zum Raketenabwehrsystem auf dem NATO-Gipfel in der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nächsten Woche zurück.
Wir erinnern uns noch an 1999, als das Strategische Kon-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zept der NATO verabschiedet wurde. Damals bildeten
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regierung. Wie oft
Auch ich war vorauseilend misstrauisch, was den ab- wurde den Obleuten Einsicht in die Unterlagen gegeben?
rüstungspolitischen Willen dieser Bundesregierung an- Wir, die Bundesregierung, haben alles erläutert, auch im
belangt. Nach einem Jahr kann ich sagen: völlig zu persönlichen Gespräch. Wir haben gesagt: Bitte berück-
Recht. Atomraketen trotz Raketenabwehrsystem, das ist sichtigt, dass der NATO-Generalsekretär dies als „Ge-
die Formel für die doppelte Pleite von Schwarz-Gelb in heim“ eingestuft hat und wir die Unterlage dementspre-
der Abrüstungspolitik und in der NATO. chend nicht eigenmächtig veröffentlichen können. Es ist
ja wohl völlig selbstverständlich, dass ich als Außen-
(B) Vielen Dank. minister mich nicht darüber hinwegsetzen kann. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hätte erwartet, dass Sie diese Transparenz, die Sie
nie – nicht ein einziges Mal in elf Jahren – gewährleistet
Präsident Dr. Norbert Lammert: haben, heute anerkennen, statt uns dafür zu beschimp-
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege fen, dass wir so weit gegangen sind, mit Ihnen eine sol-
Westerwelle das Wort. che Transparenz zu vereinbaren. So viel Offenheit hat es
in dieser Debatte in diesem Haus bei solchen als vertrau-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich eingestuften Dokumenten noch nicht ein einziges
NEN]: Das ist ja peinlich!) Mal gegeben. Darauf lege ich Wert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bitte Sie! Ich bin Ab-
geordneter des Deutschen Bundestages. Ich will eine Sa- Präsident Dr. Norbert Lammert:
che zum Ausdruck bringen. Zu einer kurzen Erwiderung hat Frau Kollegin
Malczak das Wort.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wenn Sie sonst nicht zu Wort kom- Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
men!)
Herr Außenminister, dieses neue Strategische Kon-
zept der NATO ist mit der Ankündigung des NATO-Ge-
Präsident Dr. Norbert Lammert: neralsekretärs verbunden – insofern gibt es schon einen
Frau Kollegin Künast, Sie werden sich wie ich an Zusammenhang; dazu hat auch Kollege Mißfelder am
Beispiele erinnern, wo nicht nur gemeldete Redner zu Schluss seiner Rede aufgefordert –, für mehr Akzeptanz
Wort kamen, sondern in Debatten des Deutschen Bun- in der NATO zu werben. Von der Expertengruppe hieß es
destages zusätzlich fleißig von der Möglichkeit der ganz klar: Wir sind jetzt transparent; wir diskutieren es
Kurzintervention Gebrauch gemacht wurde. in den einzelnen Mitgliedstaaten vor der Öffentlichkeit.
– Wenn aber jetzt das entscheidende Dokument geheim
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und auch für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier
Aber auch vom Zwischenruf! – Dr. Rainer nicht einzusehen ist, dann ist das natürlich ein Miss-
Stinner [FDP], an die Abg. Renate Künast stand, den wir auch kritisieren werden.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Frau
Regierende Bürgermeisterin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
7614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ein wichtiges Thema, aber keines für die (C)
Der Kollege Dr. Karl Lamers ist der nächste Redner NATO!)
für die CDU/CSU-Fraktion.
Das neue Strategische Konzept wird Bedrohungen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufgreifen, die nicht an unseren Grenzen haltmachen:
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Pira-
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): terie, gescheiterte Staaten, Energieknappheit und vor al-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das lem internationaler Terrorismus. Hier, Frau Lötzsch,
neue Strategische Konzept wird die Leitlinie der NATO richte ich mich vor allem an Sie, an die Demokratie- und
für die nächsten Jahre sein. Es ist die NATO, die Europa Friedenswächter der Linken.
seit mehr als 60 Jahren Frieden und Freiheit gebracht (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist vergeb-
hat. Wir haben der NATO viel zu verdanken. liche Liebesmüh!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Afghanistan kämpfen unsere Soldaten gegen Terror.
Immer wieder hat sich das Bündnis den veränderten Si- Ich möchte ihnen, unseren Soldatinnen und Soldaten,
cherheitslagen angepasst, so auch mit diesem neuen auch an dieser Stelle meinen Dank und meinen höchsten
Strategischen Konzept, das auf dem NATO-Gipfel in Respekt dafür bekunden, dass sie tagtäglich bereit sind,
Lissabon in wenigen Tagen verabschiedet wird. Die ihre Gesundheit und ihr Leben für unsere Freiheit und
neue Strategie trägt den Herausforderungen unserer Zeit unsere Sicherheit einzusetzen.
Rechnung; denn Zukunft ist nicht nur Verlängerung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vergangenheit. Wir müssen neue Antworten finden. Mit Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sie verhei-
diesem Konzept wird die NATO neue Wege aufzeigen. zen die Soldaten! Das ist der Punkt!)
Sie, Herr Außenminister, haben die Group of Wise
– Frau Lötzsch, hören Sie einmal zu! Dann können Sie
Men – sinnigerweise unter der Leitung einer Lady, näm-
vielleicht noch etwas lernen.
lich Madeleine Albright – angesprochen. Ich möchte an
dieser Stelle erwähnen, dass es die Parlamentarische Einigkeit und Geschlossenheit im Bündnis sind der
Versammlung der NATO war, die für das neue Konzept Schlüssel zum Erfolg. Gerade in einer Zeit knapper wer-
einen eigenen Beitrag erarbeitet hat. dender Ressourcen wird ein vertrauensvolles Miteinan-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der zwischen NATO und EU immer wichtiger. Wir brau-
chen eine strategische Partnerschaft. Unsere Kräfte
Es sind auch Parlamentarier aus diesem Hohen Hause, sinnvoll zu bündeln, ist das Gebot der Stunde. Ein wich-
(B) aus allen Fraktionen, die als NATO-Parlamentarier ihre tiger Partner für die Allianz ist Russland. Wir brauchen (D)
Gedanken und Ideen in unser Papier eingebracht haben. Russland, aber Russland braucht auch uns bei der Ter-
rorbekämpfung, bei der Raketenabwehr und bei der Be-
(Uta Zapf [SPD]: Das gehört sich doch so!) kämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaf-
Danke dafür. fen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abrüstung und Rüstungskontrolle sind ein zentra-
les Thema für die NATO der Zukunft. Eine Welt ohne
Die Beistandsverpflichtung gemäß Art. 5 des NATO- Nuklearwaffen ist ein Traum, den wir alle teilen. Aller-
Vertrages muss zentraler Pfeiler der Allianz bleiben. Die dings dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es poten-
Sicherheit unseres Bündnisses ist unteilbar. Art. 5 drückt ziell Staaten oder – ich will es nicht beschwören – nicht-
den Willen, die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit aus, staatliche terroristische Akteure gibt, die unsere
uns gemeinsam gegen Angriffe zu verteidigen. Dabei Sicherheit gefährden. Solange diese Gefahr besteht,
bleibt es. muss die NATO abschreckungsfähig bleiben.
Bei neuen Bedrohungen denke ich zum Beispiel an In einer globalisierten Welt haben für die NATO Part-
Cyberangriffe. Millionen Angriffe finden täglich statt: nerschaften mit Staaten, die unsere Sicherheitsinteressen
auf Staaten, Sicherungssysteme von Industrieanlagen, teilen, eine zunehmend größere Bedeutung. Zur NATO-
Banken und Pipelines. Das ist eine Gefahr, die uns exis- Erweiterung ein Satz: Die Tür muss offen bleiben. Wer
tenziell bedrohen kann. Cybersicherheit muss, Herr Mitglied wird, entscheidet einzig das Bündnis. Ein Veto
Trittin, stärker als bisher auch in das Blickfeld der von dritter Seite lehne ich ab.
NATO rücken.
Um als Bündnis erfolgreich zu sein, brauchen wir den
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Rückhalt und die Unterstützung unserer Bevölkerung.
Da ist es nicht geeignet, hier Witzchen wie „Google Wir müssen besser als bisher erklären, was die NATO
bombardieren“ zu machen. Vielmehr sollte auch für Sie ist, was sie macht und warum sie für unsere Sicherheit
gelten, dass das ein wichtiges Thema ist, das in einer unerlässlich ist. Dabei ist es wichtig, gerade die junge
politisch-militärischen Institution wie der NATO seriös Generation zu gewinnen. Sie trägt das Bündnis in die
erörtert wird. Zukunft. Ich schlage deshalb die Einführung eines
NATO-Tages vor,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Uta Zapf [SPD]: Feiertag mit Schulfrei!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7615
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)
(A) einen Tag im Jahr, an dem wir ganz besonders über die Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Arbeit der NATO informieren, zum Beispiel an Schulen Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke
und Universitäten, das Wort.
(Uta Zapf [SPD]: Nein! Das muss ein freier
Tag sein!) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Die Rede des
an dem wir mit den Menschen über die NATO und ihre Kollegen Lamers macht das Dilemma, in dem wir ste-
Rolle im 21. Jahrhundert sprechen. cken, sichtbar. Er hat hier zu allen Punkten des Strategi-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen Konzepts der NATO Ausführungen gemacht. Ich
weiß gar nicht, ob ich das Folgende sagen darf.
Mit dem neuen Strategischen Konzept wird die
NATO ein zukunftsweisendes Dokument verabschieden. (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)
Jetzt müssen wir alle unseren Beitrag dazu leisten, dass Es ist ja nicht nur so, dass lediglich 14 Kolleginnen und
dieses neue Konzept von den Mitgliedstaaten umgesetzt Kollegen des Hauses Einsicht nehmen durften, sondern
wird. der Inhalt ist auch geheim. Also niemand – mein Kollege
Schäfer und ich eingeschlossen – könnte hier sagen: Im
Präsident Dr. Norbert Lammert: Strategischen Konzept der NATO steht das und das.
Herr Kollege Lamers, gestatten Sie eine Zwischen- Das hat für die Politik der Bundesrepublik Deutsch-
frage des Kollegen Lenkert? land Konsequenzen. Kollege Lamers, ich glaube nicht,
dass Sie sich hier an der Grenze des Geheimnisverrates
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): bewegt haben. Ich will Ihnen das auch nicht vorhalten;
Bitte schön. denn ich bin dafür, dass das Konzept öffentlich gemacht
wird. Ich will nur eines deutlich machen: Es kann sein,
dass die Regierung einigen wenigen Abgeordneten einen
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Einblick ermöglicht hat. Ich finde es aber völlig unak-
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich habe eine Frage. Sie zeptabel, mich für etwas bedanken zu müssen, das ei-
möchten einen Tag der NATO einführen, an dem die gentlich eine Selbstverständlichkeit ist: dass die Parla-
NATO über ihre Arbeit informiert. Würden wir dann bei mentarier diese Unterlagen erhalten, einsehen und in der
dieser Gelegenheit auch über die Sicherheitsstrategie der Öffentlichkeit darüber reden können.
NATO informiert werden? Wenn das so ist, dann könnte
(B) ich mir vorstellen, dass wir dem sogar zustimmen. (Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen (D)
[FDP]: Ihnen ist doch vorhin erklärt worden,
warum das so ist! Hören Sie doch wenigstens
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): mal zu!)
Herr Kollege, ich verstehe den NATO-Tag so wie den
– Eine Erklärung ersetzt nicht eine andere Verhaltens-
Europa-Tag, den wir eingeführt haben und an dem wir
weise. Wenn Sie als Abgeordneter so wenig Selbstbe-
über Europa und die Bedeutung Europas sprechen. Ich
wusstsein haben,
halte es angesichts der Bedeutung der NATO für wich-
tig, dass wir alle, Parlamentarier, Diplomaten, Politiker, (Jörg van Essen [FDP]: Ach! Das hat mit
Menschen, die von der NATO überzeugt sind, in der Öf- Selbstbewusstsein nichts zu tun! Das ist doch
fentlichkeit verstärkt über Sinn und Zweck sowie die alles vorgetragen worden!)
Rolle der NATO sprechen. Öffentlichkeitsarbeit ist
wichtig; wir müssen uns ihr in Zukunft mehr zuwenden. dass Sie diese Unterlagen nicht kennen, sondern Ihre
Entscheidung lieber an andere delegieren wollen, ist das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ihr Problem, nicht mein Problem.
der FDP)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wollen Sie etwa
die gleiche Transparenz, die früher in der DDR
Präsident Dr. Norbert Lammert: üblich war?)
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich verlange, dass wir alle erfahren, worum es geht, und
dass Sie dafür sorgen, dass wir uns sachkundig machen
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): können. Das ist die Grundlage.
Ich komme jetzt zum Schluss meiner Rede, Herr Prä-
sident. – Bei der Reform der Struktur der Bundeswehr (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE
werden wir uns an den Anforderungen orientieren, die LINKE])
die NATO in ihrem Strategischen Konzept stellt. Herr Außenminister, merken Sie nicht, wie seltsam es
Deutschland wird auch in Zukunft ein verlässlicher ist, dass Beamte Abgeordnete darüber aufklären sollen,
Bündnispartner sein. was in einem Papier steht? Wieso dürfen Beamte wissen,
Ich danke Ihnen. was in einem Papier steht, Abgeordnete aber nicht?
Wenn man nachgefragt hat, wo etwas steht, lautete die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antwort der Staatssekretäre: Das darf ich Ihnen nicht sa-
7616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Wolfgang Gehrcke
(A) gen. – Auf diese Art und Weise können wir nicht über eine Tugend ist, sich korrigieren zu können; vielleicht (C)
Zukunftsfragen entscheiden. können Sie das auch in dieser Frage tun. Wenn Sie mei-
nen, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen
Ein letztes Wort, Herr Lamers – das haben Sie selbst Kraft – weil wir die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt
provoziert –: Der von Ihnen vorgeschlagene Kaisertag sind, weil wir die zweitgrößte Exportnation der Welt
für die NATO sind und weil wir das größte Land in Europa sind – Ver-
(Heiterkeit der Abg. Uta Zapf [SPD]) antwortung für die Sicherheit in der Welt hat, dann lautet
die richtige Argumentation: Weil wir stark sind, haben
ist eine Propagandaaktion, die wirklich nicht in die Welt wir Verantwortung und müssen möglicherweise im Rah-
passt. Politische Auseinandersetzungen sind zu bejahen. men der NATO und unter dem Dach der UNO auch mili-
Aber für diese Art der Propaganda sind eigentlich sogar tärische Mittel einsetzen. Andersherum ist die Argumen-
Sie zu gut. tation aber auf keinen Fall richtig: Wir dürfen nicht
Danke sehr. durch den Einsatz militärischer Mittel stark werden wol-
len.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja
Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte auf das NATO-Konzept und die Bundes-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter wehrreform eingehen. Die Debatte, die wir führen, fin-
Bartels für die SPD-Fraktion. det nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie ist mit ei-
ner Diskussion über die Veränderung der Bundeswehr
(Beifall bei der SPD)
verbunden. In den letzten 20 Jahren hat die Bundeswehr
bereits einige Veränderungen erlebt. Die Zahl der Solda-
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): ten ist von 500 000 auf 250 000 halbiert worden. Die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zahl der in Deutschland stationierten Alliierten ist auf
Diese Debatte bietet eine Gelegenheit, nach Gemein- weniger als ein Zehntel reduziert worden. Deutschland
samkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bun- hat eine gewaltige Veränderung hinter sich. Jetzt steht
desrepublik Deutschland zu suchen. Insofern bin ich uns eine weitere Veränderung bevor. Ich würde mir wün-
dem Kollegen Lamers dankbar, nicht für den von ihm schen, dass diese Veränderung in Abstimmung mit unse-
angeregten NATO-Tag, sondern dafür, dass er auf etwas ren europäischen NATO-Partnern vollzogen wird. Es
hingewiesen hat, das eigentlich eine Selbstverständlich- muss verhindert werden, dass viele Staaten gleiche Fä-
keit sein müsste, in dieser Debatte aber nicht allen ganz higkeiten, die wir zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht
(B) klar war: nämlich dass die NATO in allererster Linie ein (D)
gebrauchen könnten, aufgeben. Wir sehen das gerade bei
Verteidigungsbündnis ist, basierend auf Art. 5 des den Kanadiern, die die Fähigkeiten, die sie aufgegeben
NATO-Vertrages, der Beistandsverpflichtung. Dies ist haben, wieder neu entwickeln, weil sie sie bei den Ein-
ihre erste Aufgabe. Erst dann folgen die Aufgaben, die in sätzen brauchen.
den letzten Jahren hinzugekommen sind, Out-of-Area-
Einsätze, um in anderen Teilen der Welt unter dem Dach Wenn wir also neue Konzepte für unsere Bundeswehr
der UNO für Sicherheit zu sorgen, wenn die UNO dafür entwickeln – andere Länder tun das für ihre Streitkräfte
ihre Legitimation erteilt hat. auch –, dann muss das abgestimmt erfolgen. Natürlich
kann man auch beim Militär noch effizienter werden und
Ich weiß nicht, ob der Verteidigungsminister inzwi- möglicherweise auch einen Sparbeitrag leisten. Dies darf
schen wieder hier ist. aber nicht gegen die Einsatzfähigkeit und die Sicher-
heitspolitik gerichtet sein, sondern das muss in Abstim-
(Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Ja! Da
drüben ist er!) mung mit dem erfolgen, was in der NATO vereinbart
wird und in Europa sinnvoll ist.
– Gut, irgendwo ist er also. – Es hat Irritationen darüber
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
gegeben, dass wieder einmal die Frage aufgeworfen
wurde: Wann ist der Einsatz militärischer Mittel eigent- Auch in Zukunft bleibt nach dem Grundgesetz die
lich legitim? Zur Durchsetzung nationaler wirtschaftli- erste Aufgabe der Bundeswehr die Landes- und Bünd-
cher Interessen, die in Konkurrenz zu den Interessen an- nisverteidigung; das gilt auch für die NATO. Sie ist nicht
derer Länder stehen, ist er natürlich nicht legitim. Zu nur dann erfolgreich, wenn sie mit möglichst vielen Sol-
diesem Zweck werden militärische Mittel im 21. Jahr- daten im Ausland im Einsatz ist, sondern es kann sein,
hundert nicht mehr eingesetzt. Das ist auch die Räson dass ihr größter Erfolg darin besteht, dass sie nicht ein-
unseres Grundgesetzes. gesetzt werden muss, dass also zum Beispiel in Europa
nichts mehr passiert, weil der Einsatz auf dem Balkan er-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
folgreich war. Das ist ein gutes Beispiel für die Erfolge
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
der NATO und der Bundeswehr: Nachdem wir auf dem
NEN)
Balkan einen langen Atem hatten und es schrecklich be-
Ich will dem Verteidigungsminister nicht unterstellen, gonnen hatte, ist die Situation dort heute stabil. Wir hof-
dass er Böses meint. Er ist schließlich in der Lage, sich fen, dass wir in wenigen Jahren gar nicht mehr von mili-
zu korrigieren, wenn er vielleicht etwas Falsches gesagt tärischen Mitteln reden müssen, wenn es um den Balkan
hat. Dann ist er immer stolz und weist darauf hin, dass es geht, sondern dass es dann nur noch um den zivilen Auf-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7617
Dr. Hans-Peter Bartels
(A) bau und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verteidigungsminister das Parlament selbstverständlich (C)
geht. darüber informiert, was er mit seiner Erklärung im Inter-
view tatsächlich gemeint hat.
Die alte Philosophie, dass man Streitkräfte nicht hat,
um sie überall in der Welt einzusetzen, sondern dass (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Streitkräfte kämpfen können müssen, um nicht kämpfen
Ich sage das einmal ganz milde: Diese Erklärung ist rela-
zu müssen, sie also zu haben, um sie nicht einsetzen zu
tiv interpretationsfähig.
müssen, damit kein Vakuum und keine unstabilen Situa-
tionen entstehen, bleibt auch für die neue NATO und für Ich habe mich seinerzeit über die Äußerung des da-
die reformierte Bundeswehr eine Grundkonstante ihrer maligen Bundespräsidenten erheblich aufgeregt und
Sicherheitspolitik. dazu auch Stellung genommen. Jetzt rege ich mich über
die Interviewäußerungen des Bundesverteidigungs-
Lassen Sie mich abschließend einen Aspekt erwäh-
ministers genauso auf. Ich habe nicht erwartet, dass der
nen, der hier noch gar nicht angesprochen wurde. Ich
Bundesverteidigungsminister in dieser Situation hier zu-
weiß auch nicht, ob das Konzept der NATO ihn enthält.
nächst auf der Regierungsbank und jetzt unter den Abge-
In dem Papier von Frau Albright und ihrer Kommission
ordneten sitzt und zu diesem Thema überhaupt nichts
spielt er eine wesentliche Rolle. Es geht um den Über-
sagt. Er sollte jetzt einmal unverklemmt sagen, um was
gang zu besonderen neuen Fähigkeiten, zu unbemann-
es eigentlich geht.
ten, automatisierten Kampfsystemen – UAVs, Kampf-
drohnen –, zum Einsatz von Spezialkräften und zum (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
immer häufiger festzustellenden Einsatz von Militärfir- DIE GRÜNEN)
men. Was ist Drohnen, Spezialkräften und Militärfirmen
gemeinsam? Die Gemeinsamkeit beim Einsatz solcher Was hat er damit gemeint, dass in Zukunft die NATO
Mittel besteht darin, dass dies in der Regel hinter dem bzw. die Bundeswehr auch zur Sicherung von Handels-
Schleier der Nichtöffentlichkeit geschieht. Die neue wegen und Wahrung von Wirtschaftsinteressen einge-
Strategie der NATO darf nicht darauf abzielen, sich der setzt werden könnte? Bitte, Herr Verteidigungsminister,
Öffentlichkeit zu entziehen und neue Formen militäri- gehen Sie nach vorne.
scher Auseinandersetzung zu finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) KEN)

Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie Demo- Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) kratien den Einsatz militärischer Mittel legitimieren kön- Zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege zu (D)
nen, wenn er notwendig ist. Das kann nicht dadurch ge- Guttenberg zu Wort gemeldet.
schehen, dass gesagt wird: Die Diskussion muss gar
nicht mehr stattfinden; Spezialkräfte sind geheim; von
Drohnen bemerkt niemand etwas, und bei den Militärfir- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/
men arbeiten keine Soldaten; sie machen nur ihren Job, CSU):
der bezahlt wird. – Das kann nicht die Zukunft der Herr Kollege Ströbele, herzlichen Dank. – Ich werde
NATO und übrigens auch nicht die Zukunft der Bundes- Ihrem Wunsch nur bedingt nachkommen, jetzt nach
wehr sein. vorne zu gehen. Ich darf Ihnen von meinem Platz aus im
Rahmen einer Kurzintervention sehr kurz antworten: Le-
Schönen Dank. sen und dann verstehen! Es geht um Punkte, die ich seit
(Beifall bei der SPD) einem halben Jahr immer gesagt habe. Offensichtlich ha-
ben Sie das ein halbes Jahr lang nicht wahrgenommen.
Jetzt kommt die große Bugwelle der Empörung, die ich
Präsident Dr. Norbert Lammert: auch wahrnehme.
Jetzt erhält Herr Ströbele das Wort zu einer Kurzinter-
vention. Wenn Sie nachlesen, was ich gesagt habe, dann ver-
stehen Sie, dass das Punkte widerspiegelt, die bereits im
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Stellt ihn Weißbuch 2006 enthalten waren. Dazu habe ich von Ih-
doch einfach einmal ans Rednerpult! – nen keinen Aufschrei der Empörung gehört. Es mag
Dr. Rainer Stinner [FDP]: Der Kollege darf nie sein, dass Sie damals nicht so gut aufgepasst haben.
reden!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Doch!)
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): – Nein, dazu kam von Herrn Ströbele nichts.
Herr Präsident, ich habe mich im Anschluss an das
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gemeldet, was der Kollege gerade gesagt hat. Der Kol-
NEN]: Wir haben zusammen im Ausschuss
lege hat zutreffend darauf hingewiesen, dass wir alle
gesessen!)
sehr gespannt darauf sind, was der Bundesverteidigungs-
minister mit seiner Äußerung tatsächlich hat sagen wol- Was wir künftig zu erwarten haben, Herr Trittin, ist:
len. Ich bin heute Morgen hierher zu dieser Debatte Sie werden wahrscheinlich demnächst Ihre Mitglieder
gekommen und davon ausgegangen, dass der Bundes- dazu aufrufen, in den Häfen das Wasser abzuschöpfen,
7618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) damit die Fregatten nicht zur Pirateriebekämpfung aus- Wie sieht es mit der Basis der NATO im Deutschen (C)
laufen können. Wir sollten also in der Sache ernst blei- Bundestag aus? Wenn ich den Entschließungsantrag der
ben. SPD-Fraktion richtig verstehe, haben wir als Koalitions-
fraktionen in der Einschätzung eine große gemeinsame
Danke schön. Basis mit Ihnen. Sie, meine Damen und Herren von der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Linken, fordern nach wie vor die Abschaffung der
Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist dem Parla- NATO, wenn ich Ihre Position richtig interpretiere. Im
ment nicht angemessen!) Entschließungsantrag der Grünen steht nichts von den
Bedrohungen, denen wir uns im 21. Jahrhundert gegen-
übersehen. Es steht auch nichts von der Notwendigkeit
Präsident Dr. Norbert Lammert: des Bündnisses darin. Sie konzentrieren sich auf einen
Das Wort erhält nun der Kollege Ruprecht Polenz für einzigen Aspekt, und so überschreiben Sie Ihren Antrag
die CDU/CSU-Fraktion. auch: Die NATO muss abrüsten, und zwar einseitig. Von
dieser einseitigen Abrüstung der NATO versprechen Sie
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): sich sozusagen den Weltfrieden. Ich darf hier aus Ihrem
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antrag zitieren:
Herr Ströbele, ich verstehe diese Diskussion nicht. Wir Ob die Wende hin in eine Ära der weltweiten Ab-
alle gehen von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus. rüstung gelingt, hängt insbesondere vom zukünfti-
Wenn sich dann jemand aus Gründen sicherheitspoliti- gen Selbstverständnis und Verhalten der NATO ab.
scher Vorsorge richtigerweise zu der Sicherheit der Han-
dels- und Wirtschaftswege äußert, dann wird ihm vorge- Das erinnert mich an Ihre Begründung des Atomaus-
worfen, mit militärischen Mitteln darauf antworten zu stiegs: Wenn Deutschland vorangeht, wird die ganze
wollen, obwohl das selbstverständlich zum erweiterten Welt folgen. – Sie wissen inzwischen, dass das Gegenteil
Begriff der Sicherheitsvorsorge gehört, wie er im Weiß- der Fall ist.
buch niedergelegt wurde. Sie bauen immer einen Papp-
Wo haben wir denn jetzt im Augenblick Rüstungsspi-
kameraden auf, um dann auf ihn einschlagen zu können.
ralen? Wir haben sie in Asien, Indien, Pakistan; China
In Wirklichkeit sind wir doch alle der Meinung, dass
rüstet auf; vor Nordkorea hat man Angst. Es gibt Auf-
man heute Sicherheit nicht mehr allein militärisch defi-
rüstungsspiralen im Nahen Osten. Da geht es in erster
nieren kann.
Linie um den Iran und die dortigen Konflikte und Bedro-
(Beifall bei der CDU/CSU) hungen. Wir konstatieren Aufrüstung in Afrika. Ist daran
die NATO schuld? Würde ein Abrüstungsprozess der
(B) Von daher verstehe ich die gesamte Diskussion nicht. NATO dies verändern? Im Grunde genommen leidet (D)
Welches ist nun die Aufgabe im Rahmen einer neuen doch die Welt darunter, dass es gerade in Asien, in
NATO-Strategie, über die wir debattieren? Zum einen Afrika und im Nahen Osten keine solchen Sicherheitsar-
geht es 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges um rangements gibt, wie wir sie im euroatlantischen Raum
die Legitimation der NATO nach außen. Zum anderen mit der NATO haben. Das ist doch das Problem, meine
geht es vor allem um die Orientierung nach innen. Bei Damen und Herren von den Grünen.
28 Mitgliedsländern muss man zu einer gemeinsamen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sicht der Dinge kommen. Das ist nicht einfach.
Nun dreht uns die Schattenbürgermeisterin von Berlin
Wie die Debatte hier zeigt, stellt sich auch die Frage, gerade den Rücken zu. Aber der Schattenaußenminister
wie wir, die Fraktionen im Deutschen Bundestag, es mit sitzt noch hier vorn. Herr Trittin, wenn Sie jetzt als deut-
der NATO halten. Haben wir eine gemeinsame Sicht der scher Außenminister nach Lissabon fahren müssten,
Dinge? Der Auswärtige Ausschuss hat dazu eine Anhö-
rung durchgeführt. Die gute Nachricht war, dass keiner (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister:
der Sachverständigen, die die Fraktionen benannt haben, Dann würde er ausgelacht!)
die NATO als überflüssig bezeichnet hat. Von keinem dann hätten Sie folgende Probleme: Sie müssten erklä-
wurde empfohlen, die NATO abzuschaffen. Der von den ren, warum die NATO die Augen vor der Bedrohung un-
Grünen benannte Sachverständige Matthias Dembinski serer Computersysteme verschließen soll, von denen
von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konflikt- nicht nur die Krankenhäuser, der Straßenverkehr und die
forschung hat gesagt: Die NATO erfüllt erstens die Auf- Elektrizitätsversorgung abhängen. Sie müssten den Fran-
gabe, einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik zosen und Briten erklären, warum Sie für eine atom-
entgegenzustehen. Zweitens bildet sie eine transatlanti- waffenfreie Zone in Europa sind. Sie müssten vor allen
sche Klammer. Drittens ist sie eine kostengünstige Versi- Dingen allen anderen erklären, warum Sie die Raketen-
cherungspolice für alle, die ohne diese Police wesentlich abwehr in Bausch und Bogen ablehnen, für die es einen
nervöser wären. Sie sind deshalb nicht nervös, weil sie breiten Konsens im Bündnis gibt. Mit anderen Worten:
sich durch Art. 5 des Nordatlantikvertrages, nach dem Ein Außenminister Trittin würde Deutschland politisch
ein Angriff auf einen als ein Angriff auf alle bewertet in die Isolierung innerhalb der NATO führen. Das muss
und entsprechend beantwortet wird, sicher fühlen. Das man an dieser Stelle klar sagen.
ist der Kern des Bündnisses. Hinzu kommen die erwei-
terte Sicherheit des euroatlantischen Raumes und das Diese Debatte dient auch dazu, hier im Hause klar
transatlantische Forum für Sicherheitskonsultationen. darzustellen: Wer steht hinter diesem Bündnis, hinter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7619
Ruprecht Polenz
(A) dieser Strategie? Nach meiner Analyse sind das die Ko- mit der SPD im Rahmen der Großen Koalition beredet. (C)
alitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Die Linken Niemand hat infrage gestellt, dass die Bundeswehr – das
lehnen sie ab, und die Grünen wollen sie schrittweise ab- steht völlig außer Zweifel – allein auf der Grundlage des
schaffen, indem sie für eine einseitige Abrüstung der Grundgesetzes, im Einklang mit dem allgemeinen Völ-
NATO plädieren. Das ist aus meiner Sicht das Fazit der kerrecht und im Rahmen der Satzung der Vereinten Na-
heutigen Debatte. tionen tätig wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Uta Zapf [SPD]: Was ist mit einem UN-
Sicherheitsratsmandat?)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Deshalb brauchen Sie, Herr Trittin, oder auch Sie, Herr
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ströbele, hier nicht über Handels- oder Rohstoffkriege
Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion. zu schwadronieren. Das Wort „Kanonenpolitik“ ist ge-
fallen.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Das war ein Zitat von Herrn Polenz! Da
Sinn und Zweck der NATO wurden nach dem Ende des habe ich nur Herrn Polenz zitiert!)
Kalten Krieges vielfach offen infrage gestellt, bis hin zu
Herr Trittin, Sie sind tatsächlich verklemmt. Das ist das,
Prognosen über den kurz bevorstehenden Zerfall des
was der Bundesverteidigungsminister gemeint hat. Sie
nordatlantischen Bündnisses. Die Debatte über das neue bemühen sich, sich an ihm abzuarbeiten. Bleiben Sie
Strategische Konzept der NATO, das im November be- einfach locker!
schlossen werden soll, zeigt: Keine dieser düsteren Vor-
hersagen ist eingetreten; die NATO gibt es nach wie vor. Eine enge Zusammenarbeit mit Russland wird von
Sie wird eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der zunehmender Bedeutung für die NATO. Russland ist ein
neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts spielen, Partner, mit dem wir gemeinsame Interessen haben, zum
so wie sie auch im letzten Jahrhundert eine Schlüssel- Beispiel bei der Nichtweiterverbreitung von Nuklear-
rolle gespielt hat. Von daher ist es gut, dass das Bündnis waffen, der Bekämpfung des Terrorismus und anderen
seinen sicherheitspolitischen Kompass an den neuen Be- Fragen. Allerdings gibt es weiterhin eine unterschiedli-
drohungslagen ausrichtet und sich auch der öffentlichen che Wahrnehmung in Bezug auf Russland innerhalb der
Debatte stellt. Im Kern geht es darum, gemeinsame Si- NATO, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen
cherheitsinteressen zu definieren und die dafür nötigen geschuldet ist. Deswegen ist es notwendig, dass wir
Instrumente bereitzustellen. Transparenz wahren und vertrauensbildend tätig sind,
(B) auch gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten. (D)
Die NATO ist und bleibt ein transatlantisches, ein re-
gionales Bündnis. Deswegen wird auch die Beistands- Deutschland ist nicht nur im Westen fest verankert.
verpflichtung weiterhin ein Wesenskern der NATO sein. Vielmehr haben wir auch eine besondere Rolle in Bezug
Es geht allerdings nicht mehr um die Frage, ob die auf Russland, wo wir hohe Wertschätzung genießen.
NATO im Rahmen dieser Beistandsverpflichtung inner- Deswegen ist es richtig, dass wir eine aktive Rolle spie-
halb oder außerhalb des Bündnisgebietes tätig wird. len; das hat die Bundeskanzlerin auch getan. Ich nenne
Vielmehr ist entscheidend, dass die westliche Wertege- nur den Vorschlag zur Einrichtung eines politischen und
meinschaft in der Lage ist, neuen Bedrohungen ihrer Sicherheitskomitees auf Ministerebene, den Frau Merkel
Sicherheit zu begegnen, die mit der Beistandsverpflich- und Herr Medwedew im Juni unterbreitet haben, oder
tung allein nicht mehr erfasst werden können. Es kenn- die bevorstehende Teilnahme von Herrn Medwedew am
zeichnet die neuen Bedrohungslagen, dass sie vielfach NATO-Russland-Rat während des Gipfels. Das sind er-
nicht militärischer Natur sind, von nichtstaatlichen Ak- mutigende Signale. Deswegen ist die Gelegenheit für
teuren ausgehen und deswegen auch nicht allein mit mi- eine Annäherung Russlands an die NATO günstig. Aller-
litärischen Mitteln bewältigt werden können. Dennoch dings sollte Russland auch im eigenen Interesse diese
Kooperation suchen.
sind diese neuen Bedrohungen – von Angriffen auf
Computernetze über Proliferation von Massenvernich- Das Angebot, Russland in die Raketenabwehr einzu-
tungswaffen bis zu Terrornetzwerken – Teil einer weit binden, steht. Aber es muss klar sein, dass wir der poten-
gefassten Definition des Sicherheitsbegriffs. Von daher ziellen Bedrohung, die vor allem von Kurz- und Mittel-
ist es notwendig, dass die NATO sie in ihr neues Strate- streckenraketen ausgeht, dadurch begegnen müssen,
gisches Konzept aufnimmt. dass wir eine Raketenabwehr errichten, die das ge-
samte Bündnisgebiet abdeckt. Dabei bleibt die Erkennt-
Zu diesen neuen Herausforderungen gehört es selbst- nis, dass eine solche Raketenabwehr keinen absoluten
verständlich auch, dass wir die Handelswege und den Schutz gewährleisten kann. Daher bleiben andere For-
Zugang zu Rohstoffen und Energie sichern. Selbstver- men der Abschreckung und Verteidigung einschließlich
ständlich hat Deutschland als größte Exportnation und der nuklearen Komponente notwendig, wenngleich diese
als eine der größten Schifffahrtsnationen ein existenziel- durch einen solchen Raketenabwehrschirm substanziell
les Interesse an der Freiheit der Handelswege. Das ist an Bedeutung verlieren kann. Darin liegt die Herausfor-
eine Selbstverständlichkeit. Wir haben das in das Man- derung dieser Raketenabwehr.
dat „Atalanta“ für die Piratenbekämpfung vor Somalia
ausdrücklich hineingeschrieben. Das ist im Weißbuch Eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanistan ist, dass
der Bundeswehr enthalten. Wir haben das gemeinsam der Ansatz der vernetzten Sicherheit bei künftigen Ein-
7620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Thomas Silberhorn
(A) sätzen von Beginn an zugrunde gelegt und in die Ein- Überweisungsvorschlag: (C)
satzwirklichkeit übertragen werden muss. Wir müssen Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
die NATO auch mit zivilen Fähigkeiten ausrüsten. Die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
engere Kooperation der Europäischen Union mit der Ausschuss für Arbeit und Soziales
NATO ist ein weites Feld. Die Europäische Union ist ge-
eignet, die notwendigen zivilen Fähigkeiten in eine Ko- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
operation mit der NATO einzubringen. Hier besteht die Lötzer, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
große Herausforderung, die Zusammenarbeit zwischen weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
der Europäischen Union und den NATO-Mitgliedstaaten LINKE
zu vertiefen. Beschäftigtenrechte bei Übernahmen und
Zusammenfassend: Die NATO bleibt ein zentraler Fusionen stärken
Pfeiler unserer Sicherheit. Wir tun das Notwendige, um – Drucksache 17/3540 –
sie zu stärken. Wir müssen auch die Mittel dafür bereit-
Überweisungsvorschlag:
stellen. Wir sind beim Umbau der Bundeswehr in Finanzausschuss (f)
Deutschland auf einem guten Weg. Ich glaube, es wird Rechtsausschuss
uns gelingen, sowohl die NATO zu stärken als auch un- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
seren Beitrag zu leisten. Ausschuss für Arbeit und Soziales

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
neten der FDP)
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erhält für die
SPD-Fraktion der Kollege Joachim Poß das Wort.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab- (Beifall bei der SPD)
stimmung über die Entschließungsanträge.
Zunächst rufe ich den Entschließungsantrag der SPD Joachim Poß (SPD):
auf der Drucksache 17/3677 auf. Wer stimmt für diesen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Kolleginnen und Kollegen! Mit dem von der SPD-Bun-
enthält sich der Stimme? – Damit ist der Entschließungs- destagsfraktion eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir
antrag mit Mehrheit abgelehnt. das geltende Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz
an einer zentralen Stelle ändern. Mit unserer Initiative
(B) Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die wollen wir das deutsche Übernahmerecht an den fakti- (D)
Linke auf der Drucksache 17/3678 auf. Wer stimmt für schen europäischen Standard anpassen und die feindli-
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält che Übernahme von Unternehmen erheblich erschwe-
sich der Stimme? – Damit ist der Entschließungsantrag ren.
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die stimmt aber nicht!)
Linke auf der Drucksache 17/3679 auf. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Mit gleicher – Herr Kollege Michelbach, Sie werden in zwölf Minu-
Mehrheit ist auch dieser Entschließungsantrag abge- ten noch darlegen, was daran nicht stimmt.
lehnt. Wir wollen das heimliche und feindliche An- und
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Einschleichen von Unternehmenserwerbern in das Un-
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/3680 ternehmen, das sie erwerben wollen, möglichst verhin-
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- dern. Denn, Kollege Michelbach, alle Erfahrung zeigt:
gen? – Wer enthält sich? – Auch dieser Entschließungs- Dieses Anschleichen bekommt den bisherigen Aktionä-
antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die ren des Unternehmens und in der Folge dessen Mitarbei-
Stimmen der Opposition abgelehnt. tern regelmäßig nicht gut. Das ist die praktische Erfah-
rung, die wir haben machen müssen.
Schließlich rufe ich den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3681 (Beifall bei der SPD)
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dieser Entschlie- Auch wenn der Fall Hochtief noch einmal ein Beleg
ßungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. dafür ist, dass diese Novellierung überfällig ist, so geht
es bei diesem Gesetz um faire Wettbewerbsbedingungen
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a in ganz Europa und nicht um eine Sonderregelung in ei-
und 4 b: nem speziellen Fall.
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Das glauben Sie selber nicht!)
rung des Wertpapiererwerbs- und Übernah-
megesetzes – Sie schauen so skeptisch, Herr Kuhn. Die Position der
Grünen in diesem Zusammenhang ist für mich uner-
– Drucksache 17/3481 – gründlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7621
Joachim Poß
(A) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss. Ich sage vor dem G-20-Gipfel: Was den Bereich (C)
NEN]: Ich erkläre es nachher!) der Regulierung angeht, gibt es immer noch deutlich
mehr Schatten als Licht – das muss man einmal feststel-
Gesunde und erfolgreiche Unternehmen in Deutschland len –, und dass es auch in Europa nicht mehr Licht gibt,
dürfen eben nicht ins Visier von windigen Finanzinves- zum Beispiel in Fragen der Beteiligung des Finanzsek-
toren und Wettbewerbern geraten, nur weil sie derzeit an tors an der Finanzierung der Kosten der Krise, hat etwas
der Börse unterbewertet sind. mit der Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung zu
(Beifall bei der SPD) tun.
Das zu verhindern, ist im gemeinsamen Interesse von (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Beschäftigten und Aktionären. Sie war bis in den Mai hinein nicht in der Lage, zum
Wir wollen es mit der von uns vorgeschlagenen Geset- Beispiel eine Position zur Finanzmarkttransaktionsteuer
zesänderung erschweren, dass ein hervorragendes Unter- zu finden.
nehmen wie zum Beispiel Hochtief von einem hochver- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Was
schuldeten Unternehmen viel zu günstig und – auch wenn hat das mit dem Thema zu tun?)
das dementiert wird – mit dem möglichen Ziel übernom-
men wird, anschließend zerschlagen und filetiert zu wer- Es ist bis heute so, dass wesentliche Teile der Koalition
den, mit allen negativen Konsequenzen für die Beschäf- damit offenkundig Schwierigkeiten haben.
tigten. An unserem Standort sind das, glaube ich, noch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)
10 000. Wenn Ihnen das egal ist, okay. Dann müssen Sie
es aber auch deutlich sagen und sich öffentlich dement- Ordnung herstellen meint auch, dass auf den Arbeits-
sprechend positionieren. märkten wieder Ordnung einkehrt und der Ausweitung
von Niedriglohnbereichen entgegengewirkt wird. Das
(Beifall bei der SPD) heißt, vielleicht pathetisch gesprochen: Der Raubtierka-
Wir wollen das nicht. Frank-Walter Steinmeier hat pitalismus muss endlich gezähmt werden, auch an dieser
recht, wenn er sagt: Die Methode „Einkaufen ohne Stelle, die wir heute beraten. Das ist ein Teilstück, ein
Geld“ hat die Welt, wie wir doch alle wissen, schon ein- Element, um den Raubtierkapitalismus zu zähmen,
mal an den Abgrund geführt. Jetzt ist es an der Zeit, kon- meine Damen und Herren.
kret zu handeln. – Darum bitten wir Sie, liebe Kollegin- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla
nen und Kollegen, und zwar aller Fraktionen in diesem Lötzer [DIE LINKE])
Haus.
Das meint auch eine Initiative wie die heute zu bera-
(B) Es ist kein haltbarer Zustand mehr, dass mittlerweile (D)
tende Vorlage. Wenn wir davon reden, in wichtigen wirt-
in den meisten europäischen Staaten Vorkehrungen ge- schaftlichen Bereichen Ordnung herstellen zu wollen,
troffen worden sind, die das Einschleichen ausschließen dann müssen wir klare Regeln setzen. Wir wollen nicht
oder zumindest erschweren, aber in Deutschland nicht. im Einzelfall eingreifen; wir wollen klare Regeln haben.
Schauen Sie bitte nach Großbritannien und Frankreich, Es gebricht an diesen Regeln. Es kann Wettbewerb nicht
nach Italien oder auch nach Österreich! Es gibt keinen funktionieren, wenn kein klarer Ordnungsrahmen vor-
Grund, dass Deutschland zurückbleibt; denn wir haben handen ist, und der fehlt.
in Europa nicht die sogenannte gemeinsame Spielfläche,
die gleichen Wettbewerbsbedingungen. Das ist trotz der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla
Diskussion, die wir vor nahezu zehn Jahren geführt ha- Lötzer [DIE LINKE] – Dr. Volker Wissing
ben, nicht erreicht worden. Wir müssen uns an den Rea- [FDP]: Was haben Sie hinterlassen, wenn das
litäten in Europa orientieren und dürfen uns, meine Da- alles fehlt?)
men und Herren, nicht nur an dem orientieren, was wir Wir sehen uns damit in der Tradition der deutschen
selbst für wünschenswert halten. Ordnungspolitik der Mitte des letzten Jahrhunderts, Kol-
Der Gesetzentwurf hat Bedeutung auch über seinen lege Wissing. Mit den Grundlagen der sozialen Markt-
eigentlichen Inhalt hinaus, wirtschaft sollten Sie sich einmal auseinandersetzen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Gisela Piltz [FDP]: Das machen wir ja!)
Das glaube ich auch!) Sie scheinen keine tiefere Kenntnis davon zu haben.
und zwar deshalb, weil damit versucht wird, im Wirt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker
schaftsgeschehen an einer Stelle wieder Ordnung zu Wissing [FDP]: Sagen Sie mal, wer den
schaffen. Im Wirtschaftsleben wieder Ordnung herzu- Finanzminister elf Jahre lang gestellt hat!)
stellen, das ist eines der zentralen Themen und eine Auf-
gabe unserer Zeit. Es hat einfach zu viele Krisen gege- Wir wollen ein Erfolgsmodell der sozialen Marktwirt-
ben, nicht zuletzt die letzte schwere, als dass man schaft.
darüber einfach zur Tagesordnung übergehen könnte. Wir lehnen die Pervertierung des Begriffs „Ordnungs-
(Beifall bei der SPD) politik“ ab, die sich auch hier im Parlament in manchen
Ecken und Reihen breitgemacht und sich, wie jetzt ge-
Das meint nicht nur, dass der Finanzsektor endlich rade, Gehör verschafft hat. Wir lehnen ab, dass Ord-
umfassend, wirksam und vernünftig reguliert werden nungspolitik als „Deregulierung“ und „Minimierung des
7622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Joachim Poß
(A) Staates“ übersetzt und missverstanden wird. Dieses Ver- Die Spanier haben gesagt: Hochtief soll deutsch (C)
ständnis ist ohne Tradition. Es ist ein Verständnis, das bleiben, Leighton soll australisch bleiben, Turner und
schadet und Krisen verschärft, anstatt sie zu verhindern, Flatiron sollen amerikanisch bleiben. Man kann jetzt die
wenn es effektive Politik wird. Frage stellen: Wie macht es Hochtief denn mit Leighton
in Australien, bei dem es die Mehrheit hat? Das ist doch
Weil es sich bei dem, was wir vorgelegt haben, eben trotzdem ein australisches Unternehmen.
nicht um einen ordnungspolitischen Sündenfall handelt,
müsste ein gemeinsames Handeln im Hause eigentlich Schauen wir uns auch ruhig einige andere Beispiele
möglich sein. Deshalb bitte ich alle Fraktionen aus- aus Deutschland an: Kamps hat nicht unter der Über-
drücklich um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf in nahme durch Barilla gelitten, Varta hat nicht unter der
der Hoffnung, dass Vertreter von Wirtschaftsinteressen, Übernahme durch Johnson Controls gelitten, und
auch wenn sie vielleicht im Kanzleramt vorstellig ge- Mannesmann, von Vodafone übernommen, ist heute
worden sind, doch nicht die Rolle spielen und sich auch Marktführer in Deutschland, hat seinen Sitz nach wie
nicht durchsetzen. Es wäre ein Hoffnungszeichen für die vor in Düsseldorf und mehr Beschäftigte in Deutschland
soziale Marktwirtschaft, wenn wir uns auf eine solche als zu Zeiten der Übernahme.
Regelung verständigen könnten.
Es gibt – das will ich ausdrücklich sagen – aus meiner
Vielen Dank. Sicht keine Lücke im Übernahmerecht, die wir schließen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten müssten: nicht wegen dieses Falls und auch nicht wegen
der LINKEN) anderer Fälle. Den Blick auf nur eine Vorschrift, nämlich
auf die Pflichtangebotsregelung, zu richten, ist nun aus-
gesprochen dämlich, um es ganz deutlich zu sagen. Das
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist eine Vorschrift im Rahmen des gesamten Übernahme-
Das Wort hat nun Kollege Mathias Middelberg für die rechtregimes und auch im Rahmen des gesamten Kon-
CDU/CSU-Fraktion. zernrechts. Wir haben eine Menge strengerer Vorschrif-
ten in Deutschland, etwa was die Preisfindung angeht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben strengere Vorschriften in Deutschland bezüg-
lich des Squeeze-out, also der Verdrängung von Minder-
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): heitsaktionären,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Lieber Herr Poß, wenn es um die Verleihung (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
des Preises „Märchenonkel des Jahres“ ginge, dann hät- und wir haben ein wesentlich strengeres Konzernrecht
(B) ten Sie mit Ihrer heutigen Rede gute Chancen, ihn zu ge- mit hervorragenden Rechten für Minderheitsaktionäre. (D)
winnen. Das konnten wir an vielen Fällen leibhaftig erleben, ins-
(Joachim Poß [SPD]: Greifen Sie doch nicht besondere beim Übernahmeversuch von VW durch
so hoch!) Porsche, wo es um die Stellung der 20-prozentigen Min-
derheitsbeteiligung des Landes Niedersachsen ging.
– Ich greife da schon genau richtig hinein. – Im Übrigen
habe ich den Eindruck, dass Sie am Thema ziemlich vor- Als Minderheitsaktionär können Sie, wenn Sie eine
beigesprochen haben. Das Horrorgemälde, das Sie hier entsprechende Sperrminorität mobilisieren, eine ganze
gezeichnet haben, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Menge in Bewegung setzen und eine ganze Menge ver-
Selbst wenn es dazu käme, dass Hochtief am Ende des hindern.
Tages übernommen würde, könnte das durchaus positiv
sein. Das sehen wir daran, dass es in Deutschland viel (Joachim Poß [SPD]: Nützt aber nichts bei
mehr positive als negative Beispiele für Fremdübernah- Übernahmen!)
men gibt. Sie können jede Satzungsänderung verhindern, Sie kön-
Das Szenario einer Zerschlagung ist doch nun ziem- nen eine Kapitalerhöhung verhindern, und Sie können
lich unwahrscheinlich, vor allen Dingen Beherrschungs- und Gewinnabfüh-
rungsverträge verhindern.
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Woher nehmen Sie
das denn?) Entscheidend ist aus meiner Sicht etwas ganz anderes,
nämlich die Transparenz am Markt. Ich muss sehen
weil der Wert von Hochtief doch gerade in der komple- können, wie sich das Marktgeschehen abspielt. Kauft
xen, weltweiten Aufstellung dieses Unternehmens liegt. sich da einer in mein Unternehmen ein? Nähert sich da
Das ist doch der eigentliche Unternehmenswert. Keiner irgendjemand an? Offenheit und Klarheit des Marktes
würde so dumm sein, dieses Unternehmen tatsächlich zu sind also das Entscheidende. Daran arbeiten wir, und das
zerschlagen. Die Spanier haben sich im Übrigen aus- setzen wir mit dem Anlegerschutzgesetz um, indem wir
drücklich entsprechend bekannt und sind bereit, eine In- die Meldevorschriften deutlich verschärfen, sodass in
vestorenvereinbarung abzuschließen, in der der Unter- Zukunft Fälle wie Porsche/VW oder Schaeffler/Conti
nehmenssitz Essen festgeschrieben wird und in der die nicht mehr möglich sind.
Börsennotierung in Deutschland und auch die Eigenstän-
digkeit des Unternehmens und darüber hinaus sehr viel (Beifall des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/
mehr festgeschrieben werden kann. CSU])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7623
Dr. Mathias Middelberg
(A) Das ist die entscheidende Änderung im Übernahmerecht, eigene Aktien kaufen können, um selber eine Sperrmi- (C)
meine Damen und Herren, auf die es ankommt. norität aufzubauen, ob sie von Inhaber- auf Namens-
aktien umstellen können oder ob sie die Satzung ändern
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
können, in dem sie die Abwahl des Aufsichtsrats er-
der FDP)
schweren, also nicht mehr mit der einfachen Mehrheit
Sie preisen hier das Recht der anderen Staaten in zulassen, die ACS mit ihrem 30-Prozent-Anteil mögli-
Europa. Schauen Sie einmal nach Frankreich: Da hat cherweise hat. Da wahrscheinlich nicht alle Aktionäre
sich LVMH, dieser Luxuskonzern, beim Krawattenher- auf die HV gehen, werden sie dort also 50 Prozent ha-
steller Hermès eingekauft. In diesem Zusammenhang ist ben, und dann wird der Aufsichtsrat mit einfacher Mehr-
dort momentan eine große Diskussion darüber entbrannt, heit abgewählt. Das hätte man aber verhindern können,
und man ist zu dem Schluss gekommen, dass die Melde- indem man die Satzung ändert.
vorschriften nicht ausreichend sind. In Frankreich will
Dies alles haben sie nicht gemacht. Andere Unterneh-
man jetzt genau die gleichen Meldevorschriften einfüh-
men haben das gemacht; sie haben eine andere Satzung
ren, wie wir sie jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz ein-
bekommen. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Dax-
führen. Das heißt, die Franzosen werden demnächst bei
Unternehmen konkret aufzählen, die das schon frühzei-
uns abschreiben; denn unser Recht wird deutlich härter
tig gemacht haben.
sein als ihres. Wenn, dann muss ich den Blick etwas wei-
ter richten und darf mir nicht eine einzelne Regelung (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]:
herauspicken! Klare Managementfehler!)
Bei Hochtief war der Fall doch ganz anders, da geht Das heißt, das Hochtief-Management hätte sich viel
es nicht um Anschleichen und auch nicht um Einschlei- frühzeitiger mit Verteidigungsvorbereitungen befassen
chen. müssen.
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Klar geht es da- (Joachim Poß [SPD]: Selbst wenn das stimmt:
rum!) Jetzt sind Ihnen die Beschäftigten und die Ak-
– Quatsch, das hat nichts damit zu tun. – Seit dreieinhalb tionäre egal?)
Jahren war ACS Aktionär und hat 25 Prozent übernom- – Nein, die Beschäftigten und Aktionäre sind mir über-
men. Vorher gab es andere Ankeraktionäre. haupt nicht egal.
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Er hat verspro- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der
chen: keine Übernahme!) Staat kann doch das Management nicht erset-
(B) – Er hat gesagt: Wir bleiben Minderheitsaktionär. Das ist zen!) (D)
schon richtig. Ich habe Ihnen eben auseinandergesetzt, dass die Furcht-
Dann aber kam folgender Punkt: Hochtief hat gesagt: und Horrorszenarien, die Sie hier beschreiben, völlig un-
Wir glauben euch, dass ihr Minderheitsaktionäre bleibt, berechtigt und unsachgemäß sind. Ich sage es noch ein-
wir vertrauen euch. Da muss man aber doch einmal fra- mal, um es zusammenzuführen: Ich glaube, dass unser
gen, ob an diesem Punkt nicht das Hochtief-Manage- Übernahmerecht, wenn man es insgesamt sieht, scharf
ment hätte überlegen müssen, ob wenigstens der Fall zu genug ist.
bedenken sei, dass sich die Spanier das eines Tages an- Der Fall Hochtief ist ein ganz anders gelagerter Fall.
ders überlegen. Wenn Sie eine Frau oder Freundin haben, und dann
Jetzt machen die Spanier Folgendes: Anfang 2009 kommt Ihr guter Freund vorbei und sagt: Mensch, du
kaufen sie sich weitere fast 5 Prozent und sind jetzt bei bist immer in Berlin, ich kümmere mich vielleicht ein-
29,9 Prozent. In dieser Situation sagen sie, sie blieben mal zwei Tage in der Woche um deine Frau. Demnächst
immer noch Minderheitsaktionär, man brauche sich bei sagt er: Ich stocke es jetzt auf und kümmere mich auch
Hochtief keine Sorgen zu machen. Was will ich aber, noch einen dritten Tag, weil du immer so häufig weg
wenn ich 25 Prozent als Sperrminorität habe und mir bist.
dann noch 5 Prozent dazukaufe? Da muss doch bei je- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –
dem die rote Lampe angehen. Da hätten doch alle Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Alarmglocken läuten müssen. NEN]: Heikles Thema!)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!) Irgendwann werden Sie von ihm angerufen und er sagt:
Da hätte das Hochtief-Management in Habt-Acht- Pass mal auf, ich mache dir jetzt ein Angebot für eine
Stellung gehen müssen. Sie hätten morgens um fünf auf- Komplettübernahme.
stehen und sich überlegen müssen,
(Zuruf von der SPD: Das ist ja peinlich! Sie
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Oder soll man noch ernst nehmen?)
das sind Schläfer!)
Dann fallen Sie aus allen Wolken und sagen: Damit hätte
wie sie unter Umständen andere Ankeraktionäre hinein- ich überhaupt nicht gerechnet, das konnte ich überhaupt
bekommen, um gegen ein mögliches Umdenken der nicht ahnen, das überrascht mich jetzt vollständig. – Ich
Spanier vorzugehen, wenn sie es denn bekämpfen wol- erkenne nun eine Schutzlücke im Übernahmerecht, laufe
len. Sie hätten sich fragen müssen, ob sie eventuell mehr zum Gesetzgeber und sage ihm, er müsse das jetzt re-
7624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Mathias Middelberg


(A) geln. Ich sage es jetzt ganz deutlich: Wenn ich alles ver- Es mag dann Anpassungen unseres Übernahmegesetzes (C)
pennt habe, kann ich nachher nicht zum Gesetzgeber geben. Eine mögliche Änderung wäre, dass für eine
laufen. So geht es nicht. Übernahme die Zustimmung der Hauptversammlung des
Zielunternehmens erforderlich ist. Das war im Übrigen
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ein alter Vorschlag vonseiten der Sozialdemokratie, der
der FDP – Joachim Poß [SPD]: Die Lücke se- ein aus meiner Sicht vernünftiges Prozedere beinhaltet.
hen aber viele außerhalb des Bundestages! –
Rolf Hempelmann [SPD]: Vielleicht sehen (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Dann machen Sie
viele andere diese Lücke, nur Sie nicht!) es doch jetzt!)
Es ist auch vollständiger Blödsinn, dass irgendwelche – Das wird jetzt doch gar nicht vorgeschlagen.
Aktionäre benachteiligt würden. Der Aktienkurs von Angesichts Ihres Zwischenrufs will ich kurz auf den
Hochtief liegt im Moment bei 64 Euro. Das sind über Vorschlag der Linken eingehen. Die Linken schlagen
200 Prozent mehr als in der Krisenzeit; das ist der beste ein Vetorecht für den Betriebsrat im Fall einer Über-
Kurs seit über drei Jahren. Wenn Sie Aktionär von nahme vor.
Hochtief sind, können Sie, wenn Sie keine Lust mehr ha-
ben, jetzt mit gutem Gewissen verkaufen. Sie können (Beifall bei der LINKEN)
aber auch in dem Unternehmen engagiert bleiben; Sie Dafür müssten wir erst einmal das Grundgesetz ändern
sind in keiner Weise benachteiligt. und Art. 14, der das Eigentum, also auch das Eigentums-
recht der Aktionäre betrifft, streichen. Dann könnten wir
Die gesetzliche Änderung, die Sie mit diesen 2-Pro-
uns mit Ihrem Vorschlag ernsthaft befassen. So geht es
zent-Schritten hier vorlegen, wo man dann immer wie-
aber nicht.
der ein neues Pflichtangebot abgeben muss, ist – das
sage ich Ihnen ganz deutlich – eine reine Lex Hochtief, Ich sage abschließend und zusammenfassend: Hoch-
ausschließlich auf diesen Fall bezogen, und das werden tief ist für mich das Paradebeispiel dafür, dass sich ein
wir in diesem Verfahren nicht mitmachen. Management rechtzeitig mit der Situation des Unterneh-
mens – wie ist die Beteiligungsstruktur der Aktionäre?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Wie kann man eine Übernahmeverteidigung gestalten? –
Hempelmann [SPD]: Stimmt überhaupt nicht! befassen muss. Aber Hochtief ist kein Fall für den Ge-
Sogar Großbritannien hat es gemacht! Gucken setzgeber.
Sie mal nach Frankreich und Großbritannien!)
Danke schön.
– Ich habe Ihnen eben den Fall Frankreich erklärt. Die
Franzosen haben ganz andere Probleme, weil sie sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) nämlich um das Anschleichen nicht kümmern. (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Joachim Poß [SPD]: Die CDU hatte übrigens Das Wort hat nun Ulla Lötzer für die Fraktion Die
im Jahr 2001 schon einmal eine andere Mei- Linke.
nung dazu! – Gegenruf des Abg. Dr. h. c. Hans
Michelbach [CDU/CSU]: Das habt ihr abge- (Beifall bei der LINKEN)
lehnt!)
– Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag dazu. Das, was Ulla Lötzer (DIE LINKE):
Sie vorhaben, ist kein konstruktives Übernahmerecht, Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Durch
unserer Hände und Köpfe Arbeit steht Hochtief heute
(Joachim Poß [SPD]: Man kann aus Fehlern glänzend da. Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass
lernen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder verantwortungslose Zocker und tatenlos zusehende Poli-
[CDU/CSU]: Macht das mal!) tiker unsere Jobs und die Zukunft unserer Familien ge-
fährden. – So beschreiben die Beschäftigten von Hoch-
sondern es ist faktisch ein Übernahmeverhinderungs- tief ihren Kampf gegen die feindliche Übernahme.
recht. Damit gäbe es praktisch keine Übernahmen mehr.
Man muss sich fragen, ob so die Arbeitsplätze in (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans
Deutschland dauerhaft gesichert werden und sich die Michelbach [CDU/CSU]: Weil Sie sie falsch
Unternehmen beständig weiterentwickeln können. informieren!)
Wir sind an einem funktionierenden Übernahmerecht Das unterstützen wir uneingeschränkt.
interessiert. Deswegen teilen wir Ihren Vorschlag, der Unternehmen sind keine Schnäppchen auf dem Basar
ein Schnellschuss ist, nicht. für Heuschrecken und Aktionäre. Unternehmen sind
(Joachim Poß [SPD]: Es gibt auch andere Inte- eine gesellschaftliche Veranstaltung, die nützliche Güter
ressen!) und Dienstleistungen produzieren sollen. Sie genießen
den Schutz der Verfassung und haben eine soziale und
Wenn die EU im nächsten Jahr ihre Übernahmericht- beschäftigungspolitische Verantwortung. Deshalb ist es
linie überarbeitet, werden wir ohnehin unsere gesam- Aufgabe der Politik, auch die Beschäftigten wirksam zu
melten Erfahrungen einarbeiten. schützen. Ihre Arbeitsplätze, ihre Lebensplanung und die
ihrer Familien sowie ihre Würde dürfen nicht der Gier
(Joachim Poß [SPD]: Sie wollen in erster Linie
von Zockern zum Opfer fallen.
die Erfahrungen der Deutschen Bank einarbei-
ten!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7625
Ulla Lötzer
(A) Die Mitglieder der CDA Essen haben Ihnen und Frau (Beifall bei der LINKEN) (C)
Merkel Folgendes ins Stammbuch geschrieben:
Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass eine
Feindliche Übernahmen durch marode Konzerne neue Welle von Übernahmen erwartet wird. Sie sind ein
ziehen unabsehbare Folgen, nicht zuletzt einen er- Produkt der Wachstumskrise auf den Binnenmärkten.
heblichen Personalabbau zu Lasten des gesunden Die eigene Position wird nicht durch Investitionen in
Unternehmens nach sich. Produktionsstätten gestärkt, sondern durch den Zukauf
von Unternehmen. Deutsche Unternehmen gelten welt-
Weiter heißt es: weit als vielversprechende Schnäppchen, weil ihr Bör-
Wir wollen, dass Politik und Wirtschaft dem Men- senwert unter dem Unternehmenswert gehandelt wird.
schen dienen, nicht umgekehrt. Wir wollen verhin- Der Spiegel titelt: „Angst vor dem Ausverkauf“. In dem
dern, dass der Mensch zum Spielball wird. Artikel heißt es, dass rund ein Dutzend der 100 größten
deutschen Unternehmen von Übernahmen gefährdet ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Monopolbildung wird verstärkt. Mittelständische
Recht haben die Kolleginnen und Kollegen der CDA. Unternehmen geraten als Zulieferer unter Kostendruck.
Ihre Politik straft Sie in diesem Fall allerdings seit Wo- Es kommt zu einem Machtzuwachs transnational agie-
chen Lügen. render Konzerne gegenüber Staaten und Regierungen.
Auf der einen Seite stehen hohe gesellschaftliche Folge-
Bei ihrem Besuch in Essen ist Frau Merkel nur kosten der Arbeitslosigkeit und Armut. Auf der anderen
20 Meter an den protestierenden Beschäftigten vorbeige- Seite stehen Beratungsgewinne der Banken und der Fi-
gangen. Sie hat sie noch nicht einmal eines Blickes ge- nanzinvestoren, die aus der Zerschlagung auch noch ih-
würdigt, geschweige denn mit ihnen gesprochen. So geht ren Profit ziehen wollen.
man nicht mit den Sorgen und Nöten und dem berechtig-
ten Protest von Beschäftigten um. Herr Brüderle hat vergangene Woche ein industrie-
politisches Konzept vorgelegt. Eigentlich könnte man
(Beifall bei der LINKEN) von Ihnen als Liberaler Maßnahmen gegen Konzentra-
Frau Merkel, Ihr Ruf nach dem rettenden Scheich ist tion und Monopolbildung erwarten. Davon steht jedoch
nur ein Witz. Die Parallele, die Sie zu Holzmann ziehen, nichts in dem Konzept. Insofern hatten die Hochtief-
ist völlig unsinnig. Bei Hochtief geht es nicht um ein an- Beschäftigten mit ihrer in Berlin plakatierten Kritik
geschlagenes Unternehmen. Im Gegenteil: Der Konzern recht: FDP ordnungspolitisch am Boden – und da gehört
ist für ACS eben deswegen interessant, weil er erfolg- sie auch hin.
(B) reich ist und weil ACS demgegenüber mit mehr als (Beifall bei der LINKEN) (D)
10 Milliarden Euro verschuldet ist. Völlig zu Recht be-
fürchten deshalb die IG BAU, die Betriebsräte und der Kollege Poß, wir halten die von der SPD vorgeschla-
Konzernvorstand sowie viele Wissenschaftler und Jour- genen Maßnahmen für richtig, aber nicht ausreichend.
nalisten, dass anschließend die Zerschlagung droht, weil Deshalb legen wir mit unserem Antrag weitergehende
ACS damit seine Schulden bezahlen will. Forderungen zur Korrektur des Übernahmerechts vor.
Uns geht es nicht um deutsche oder spanische Mehr-
Wir kennen auch die Haltbarkeit von Versprechun- heitseigner. Uns geht es darum, dass auch die Beschäf-
gen, Herr Middelberg. Schauen Sie sich den Fall Man- tigten sowie ihre Gewerkschaften und Betriebsräte Mit-
nesmann an: Auch da gab es das Versprechen, dass der bestimmungsrechte erhalten. Sie müssen sich ein klares
Konzern nicht zerschlagen wird; kurz nach der Über- Bild davon machen können, wie ihre Zukunft in einem
nahme – nach nur wenigen Monaten – wurde der Kon- neuen Konzern aussehen soll, wie ihre Standards und
zern zerschlagen. ihre gewerkschaftlichen Rechte erhalten werden sollen.
Eine solche Strategie gefährdet wirtschaftliche Ent- Deshalb fordern wir ein Vetorecht für Betriebsräte und
wicklung, Beschäftigung und Demokratie. Es geht um Gewerkschaften bei Übernahmen.
den Schutz eines wirtschaftlich gesunden Unternehmens
(Beifall bei der LINKEN)
vor einer feindlichen Übernahme durch ein angeschlage-
nes Unternehmen. Es geht um 11 000 Beschäftigte in Wir treten für das Recht auf Abschluss eines Tarifver-
Deutschland und 60 000 Beschäftigte weltweit sowie um trages ein, der die Fragen der Beschäftigungssicherung,
20 000 Arbeitsplätze bei Zulieferern allein in Deutsch- des Erhalts von Standards und gewerkschaftlicher
land. Konzernchef Pérez verweigert bisher jede Antwort Rechte regelt. Beschäftigte schaffen nicht nur den Unter-
auf die Frage der Betriebsräte nach Beschäftigungssiche- nehmenswert, sie haben auch ein Recht auf Mitbestim-
rung. mung über seine Zukunft. Hier geht es nicht um ein
Schlagen alter Schlachten oder um eine Lex Hochtief.
Es geht auch um den Erhalt guter Arbeit. Während bei
Vielmehr geht es um die dringend benötigte Erneuerung
Hochtief Tariflöhne gezahlt werden, sind bei ACS zu
sozialer Demokratie.
85 Prozent Leiharbeiter beschäftigt. Das sind genügend
Gründe dafür, dass sich auch ein Wirtschaftsminister Ge- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
danken machen müsste. Konzernbetriebsrat Müller be-
zeichnet es zu Recht als unerträglich, dass Herr Brüderle (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rolf
eine Einmischung ablehnt. Hempelmann [SPD])
7626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sachverstand einem billigen Populismus. Die Antwort (C)
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak- auf diese Frage wird die anstehende Evaluation der
tion. Europäischen Kommission zur EU-Übernahmerichtlinie
liefern. Die Ergebnisse werden uns 2011 vorliegen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dann werden wir darüber ergebnisoffen diskutieren.

Dr. Volker Wissing (FDP): (Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist klar! Erst
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mal die Deutsche Bank abwarten!)
Herr Kollege Poß ist im Augenblick nicht mehr da; es ist Das deutsche Übernahmerecht ist, jedenfalls bisher, ein
schon toll, was er hier so abliefert. Da heißt es: Die Poli- ausgewogener Kompromiss zwischen den Interessen des
tik soll den Unternehmen endlich einmal Grenzen auf- Bieters, der Zielunternehmen und der Aktionäre. Es ist
zeigen. Wenn aber ein Unternehmen in Deutschland im weder übernahmefreundlich noch übernahmefeindlich.
Wettbewerb Probleme hat, Genau so muss es auch sein.
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Hat es doch (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hat Ihnen das
nicht!) die Deutsche Bank aufgeschrieben? –
dann kommt die SPD wie ein Schoßhündchen an, wa- Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU], an die
ckelt mit dem Schwänzchen und bietet staatliche Hilfe SPD gewandt: Was hat Hochtief euch aufge-
an. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten Sie Ge- schrieben? – Gegenruf des Abg. Joachim Poß
neral Motors Milliarden Euro deutscher Steuergelder ge- [SPD]: Hochtief braucht uns nichts aufzu-
geben. schreiben!)
(Rolf Hempelmann [SPD]: Können Sie auch Im Falle des Wechsels besteht das Ziel in der Über-
einmal zur Sache sprechen?) nahme der Kontrolle über ein Unternehmen. Den an-
deren Aktionären wird einmalig die Möglichkeit des
Diese Bundesregierung hat das verhindert. Sie sollten Ausstiegs gegeben. Damit wird den berechtigten Interes-
sich einmal mit sich selbst beschäftigen. sen der Anleger, auf Veränderungen bei der Unterneh-
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was haben Sie menskontrolle wertschonend zu reagieren, Rechnung
denn für ein Weltbild?) getragen. Minderheitsaktionäre sollen bei Hauptver-
sammlungen nicht Opfer neuer Mehrheitsverhältnisse
Die Vorschläge, die Sie heute machen, bedeuten doch werden. Das ist ein wichtiges Anliegen. Ein derartiges
nichts anderes, als wieder den Unternehmen hinterherzu- Interesse besteht aber nicht, wenn ein Mehrheitsaktionär
laufen, die sich bei Ihnen beschweren, weil sie sich im seine Beteiligung zum Beispiel von 46 auf 48 Prozent (D)
(B) Wettbewerb nicht zurechtfinden.
ausweitet. Die Umsetzung des Vorschlags der Sozialde-
(Rolf Hempelmann [SPD]: Lächerlich! Das ist mokraten würde dazu führen, dass Spekulationen auf
doch so was von daneben!) immer höhere Übernahmepreise angeheizt werden. Der
Gesetzgeber sollte eine solche Kasinomentalität nicht
Es ist aber nicht Aufgabe der Politik, in den Wettbewerb befördern. Wir jedenfalls machen das nicht mit.
einzugreifen.
(Joachim Poß [SPD]: Die FDP verrät die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kleinaktionäre!)
Was Sie uns heute vorlegen, ist ein Anliegen, das be- Die Integrität der Finanz- und Kapitalmärkte ist
reits in der letzten Woche im Bundesrat mehrheitlich ab- eine wichtige Voraussetzung für eine stabile wirtschaftli-
gelehnt worden ist. che Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland,
Die Länderkammer hat den SPD-Finanzministern aber auch in Europa insgesamt. Deswegen muss markt-
recht gegeben, die in den elf Jahren ihrer Regierungszeit schädigendes und manipulatives Verhalten umfassend
ein derart verschärftes Übernahmerecht für unnötig, gesetzlich sanktioniert werden. Das ist gegenwärtig der
wenn nicht sogar schädlich erachtet haben. Sie tun so, Fall. Der Begriff Marktmanipulation umfasst alle Hand-
als hätten Sie mit dem gegenwärtigen Übernahmerecht lungen, die einen Preis herbeiführen, der nicht einem un-
überhaupt nichts zu tun. Es stammt aus dem Dezember beeinflussten Ausgleich von Angebot und Nachfrage
2001. Als manche Länder in Europa dieses Recht ver- entspringt.
schärft haben, haben Sie das abgelehnt. Die SPD hat eine
Manipulationen, die nachweislich auf den Börsen-
Veränderung gemeinsam mit den Grünen und auch an
oder Marktpreis eingewirkt haben, sind Straftaten. Sie
der Seite der Union abgelehnt. Dennoch tun Sie heute so,
werden nach dem Wertpapierhandelsgesetz mit Frei-
als wäre das alles völlig falsch. Heute sagen Sie, es
heitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet.
müsste endlich etwas passieren. Warum haben Sie denn
Dieses Recht wird in der Bundesrepublik Deutschland
nicht gehandelt, wenn Sie es für richtig gehalten haben?
konsequent umgesetzt. Besser kann der Schutz eines An-
(Beifall bei der FDP – Petra Hinz [Essen] legers vor derartigem Betrug wohl kaum sein.
[SPD]: Es hätte eine Harmonisierung auf euro-
Was wir auch brauchen, ist mehr Transparenz, um
päischer Ebene stattfinden können!)
verloren gegangenes Vertrauen in die Kapitalmärkte zu-
Entweder Sie haben das letzte Jahrzehnt in finanz- rückzugewinnen. Die Koalition wird deshalb mit dem
wirtschaftlicher Hinsicht verpennt, oder Sie opfern Ihren Anlegerschutzgesetz bestehende Regelungslücken
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7627
Dr. Volker Wissing
(A) schließen, die es Investoren bisher erlaubt haben, sich nen Fehlern der Vergangenheit ablenken. Wir arbeiten (C)
durch die Übernahme von Anteilen an Unternehmen an- Ihre Versäumnisse konsequent Schritt für Schritt auf und
zuschleichen. Herr Kollege Poß, wir wollen einmal fest- haben dabei das Interesse unseres Landes fest im Blick.
halten: Damit schließt diese christlich-liberale Koalition
Wir wollen ein offenes Land bleiben, das für Investo-
eine Regelungslücke, die Sozialdemokraten hinterlassen
ren attraktiv ist. Wir wollen ein verlässlicher Partner im
haben. Es sind Ihre Versäumnisse, die uns jetzt zum
Bereich der Finanzpolitik werden. Wir werden nicht, wie
Handeln bringen.
Sie es gefordert haben, amerikanischen Konzernen deut-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sche Steuermilliarden hinterherwerfen.
Sie waren jahrelang untätig. Die daraus folgenden Fehler (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Was hat das mit
werden jetzt berichtigt. Die seit Jahren bestehende dem Antrag zu tun?)
Schutzlücke wird von dieser Koalition geschlossen.
Wir haben einen Bundeswirtschaftsminister, der klar ge-
Die Offenheit für ausländische Investitionen in sagt hat, was geht und was nicht geht. Härte muss auch
Deutschland ist eine Grundlage für ein erfolgreiches einmal sein; aber Populismus, so wie Sie ihn betreiben,
Engagement deutscher Unternehmen im Ausland. Mit ist unverantwortlich.
rund 800 Milliarden Euro Direktinvestitionen profitiert
Vielen Dank.
die Bundesrepublik Deutschland von dem Vertrauen an-
derer Länder. Gerade vor dem Hintergrund internationa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ler Währungsinterventionen muss das Bekenntnis dieses der CDU/CSU)
Landes zu offenen Investitionsmärkten jetzt erneuert
werden, und zwar auch, um das deutsche Engagement Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
im Ausland abzusichern. Es sind immer unsere Handlun- Das Wort hat nun Kerstin Andreae für die Fraktion
gen, an denen die internationalen Partner unsere politi- Bündnis 90/Die Grünen.
schen Absichten messen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP)
Angesichts dessen ist es in dieser schwierigen Situa- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tion gut für die Bundesrepublik Deutschland, dass nicht Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Sie, die Sozialdemokraten, mit Ihrem Populismus, den Herren! Es sitzen Menschen an den Fernsehern, die
sie uns heute darbieten, Verantwortung tragen. Als Sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Sie haben Existenz-
Regierungsverantwortung trugen, haben Sie nichts ge- ängste. Deswegen sollten wir hier eine sehr ernsthafte,
(B) tan. In der Opposition betreiben Sie blanken Populismus. seriöse und zukunftsgewandte Debatte führen und kei- (D)
All das hilft diesem Land in dieser schwierigen Situation nerlei Beispiele über Freundinnen und Frauen bemühen.
nicht. Es sollte mehr der Frage nachgegangen werden: Wie
(Rolf Hempelmann [SPD]: Mein Gott! – Petra ernst nehmen wir eigentlich diese Existenzängste?
Hinz [Essen] [SPD]: Wer sahnt denn gerade Die Menschen dürfen kein Spielball für Investoren
ab?) sein. Hinter jedem Arbeitsplatz stehen ein Mensch, eine
Familie, ein Lebensplan. Wir dürfen auch nicht verges-
Man braucht eine besonnene Regierung wie die
sen, dass gerade nach dieser Krise – die Menschen haben
christlich-liberale, die, Herr Kollege Poß, Schritt für
jetzt eigentlich wieder Hoffnung, dass die Unsicherheit
Schritt die Finanzmarktregulierung angeht, bei Verbrie-
vorbei ist – hier neue Unsicherheit und neue Sorgen auf-
fungen verschärfte Regelungen in Deutschland umsetzt
kommen. Die SPD schürt bei den Beschäftigten von
– die Sozialdemokraten haben sie nicht umgesetzt –, die
Hochtief Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Diese
in Deutschland eine Bankenabgabe eingeführt hat, wozu
Debatte ist eine Anlegerschutzdebatte. Dieses Über-
die Sozialdemokraten nicht die Kraft hatten.
nahmegesetz schützt die Anleger, die Eigentümer und
(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht die Arbeitsplätze.
der LINKEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sollte zumindest ein bisschen bei der Wahrheit
sowie bei Abgeordneten der FDP)
bleiben! Wenigstens in der Nähe!)
Die Unsicherheit der Menschen verpflichtet uns, die-
– Sie hätten es ja machen können, haben es aber nicht
ses Thema seriös zu diskutieren. Wie sichern wir die Ar-
getan. – Sie fordern Regulierung. Wenn wir regulieren,
beitsplätze? Gibt es für die Übernahme eine solide
sagen Sie zu allem Nein. Ein Schelm, wer Böses dabei
Finanzierung? Ist der Wettbewerb gesichert? Sind die
denkt.
Rechte der Aktionäre, insbesondere der Kleinaktionäre,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesichert?
Es sind immer die gleichen Muster, mit denen Sie hier Ich möchte festhalten: Die Altaktionäre sind doch
antreten. Sie fordern, dass wir Regelungslücken schlie- nicht schutzlos. Es geht nicht um ein Anschleichen wie
ßen, die Sie hinterlassen haben. Wir tun das, und Sie bei der möglichen Fusion von Schaeffler und Conti; da
sagen dann: Nein, es geht nicht weit genug. Das ist ein geht es um ganz andere Sachen. Es geht um ein Ein-
billiges Spiel und ganz bestimmt keine seriöse Finanz- schleichen – es ist erklärt worden –: Dieses Pflichtange-
politik. Sie mögen mit Ihrem Populismus von den eige- bot bei Überschreiten der 30-Prozent-Schwelle sichert
7628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Kerstin Andreae
(A) allen Aktionären den Durchschnittspreis der letzten drei Jetzt möchte ich die Debatte aufwerfen, was dieser (C)
Monate. Die Aktionäre müssen aber nicht verkaufen. Sie Vorschlag eigentlich für Deutschland in Europa bedeu-
können ihre Aktien auch behalten, wenn sie der Mei- tet. Deutsche Unternehmen gehen auf Einkaufstour. Wir
nung sind, dass sich der Börsenpreis besser entwickelt. sind auf offene Märkte angewiesen,
Da gibt es also einen Schutz.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr
Ich bitte darum, dass wir den Vorschlag, ein zweites richtig!)
Pflichtangebot zu ermöglichen, zu Ende denken. Was und zwar auch für den Erhalt unserer Arbeitsplätze.
heißt das eigentlich? Für Aktionäre wird es attraktiver
werden, ihre Aktien zu verkaufen. Die Mittel zur Deckung (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr
der Kosten müssen irgendwie erwirtschaftet werden. Das richtig! – Joachim Poß [SPD]: Trotzdem haben
heißt, der Sanierungsdruck für das Unternehmen wird die anderen Länder andere Regeln!)
sich erhöhen. Ich plädiere wirklich eindringlich dafür, Protektionismus schadet uns und Europa. Dies muss klar
dass diese Sache zu Ende gedacht wird. Das gebietet die gesagt werden.
Seriosität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
und bei der CDU/CSU) ten der FDP)
Mehrere Länder regeln Übernahmen. 2001 hat Rot- Dennoch finde ich es richtig, dass wir die Initiative der
Grün die Übernahmen für Deutschland geregelt, und SPD positiv aufgreifen. Wir müssen in den Ausschüssen
zwar mit vielen Modulen. Erstens: Ein Pflichtangebot über den Schutz der Arbeitnehmerrechte reden. Was
muss vorgelegt werden. Zweitens: Die solide Finanzie- passiert im Fall von Fusionen und Übernahmen? Ich
rung muss sichergestellt werden. Drittens: Die Informa- nenne Ihnen drei Punkte, über die wir Grüne mit Ihnen
tionspflichten sind ausgeweitet worden, und schließlich im Ausschuss diskutieren wollen.
haben wir keine Neutralitätsverpflichtung des Vorstands. Erstens. Die EU-Übernahmerichtlinie sieht bereits
2004 hat man versucht, das Ganze innerhalb von Eu- vor, dass Betriebsrat und Aktionäre gleichermaßen über
ropa mit weitreichenden Öffnungsklauseln zu harmoni- die Angebotskonditionen unterrichtet werden. Es gibt
sieren. Nationale Spielräume wurden aber unterschied- also Informationspflichten. Das umfasst im Übrigen
lich genutzt. Sie sagen, dass wir hier über faire auch die Absichten des Anbieters in Bezug auf die Ar-
Wettbewerbsbedingungen reden. Sie sollten dabei aller- beitsplatzsicherung. Aber die Frage ist: Reichen diese
dings nicht nur einzelne Länder in Europa herausgreifen. Informationspflichten aus? Müssen wir sie vielleicht
(B) 17 EU-Mitgliedstaaten sehen nur ein Pflichtangebot vor. ausweiten? Das heißt, wir müssen sie einmal evaluieren. (D)
Nur sechs weitere wollen ein zweites Pflichtangebot. Das ist der erste Vorschlag, über den wir mit Ihnen dis-
Spanien – ausgerechnet Spanien – hat diese Regel ge- kutieren wollen. Diese Evaluierung wollen wir auf den
Weg bringen.
rade wieder zurückgenommen.
Zweitens. ACS hat – das ist erwähnt worden – eine
Ich finde, dass die Neutralitätsverpflichtung für den Investorenvereinbarung vorgelegt. Ich möchte, dass wir
Vorstand, die es in Deutschland nicht gibt, ein hohes Gut ernsthaft darüber diskutieren, ob wir Regelungen schaf-
ist. Das, was Hochtief jetzt macht, mag uns nerven. Wir fen müssen, die besagen, dass ein Pflichtangebot mit ei-
meinen vielleicht, dass die Pressespiegel, die man uns ner Investorenvereinbarung verbunden werden muss.
zuschickt, die Breite der Diskussion nicht ganz wider- Über diese Investorenvereinbarung wird mit dem Vor-
spiegelt. Aber der Vorstand darf politisch agieren; das ist stand, aber auch mit dem Betriebsrat diskutiert; er wird
gut und richtig so. darüber informiert. Dabei geht es um Aspekte wie die
zukünftige Geschäftsverteilung, die Arbeitsplatzent-
Wir sollten uns gut überlegen, ob wir hier einen Sys-
wicklung inklusive einer möglichen Verlagerung und
temwechsel wollen und die Neutralitätspflicht aufheben
Konsolidierung. Wir möchten also über frühzeitige In-
möchten. Ich möchte damit sagen, dass wir Äpfel und formationen über die zukünftigen Absichten des Inves-
Birnen nicht miteinander vergleichen können. Die Re- tors, über eine Pflicht zur Vorlage einer Investitionsver-
geln im Ausland sind zwar anders, aber sie sind keines- einbarung diskutieren.
wegs strenger. Es ist mir wichtig, zu sagen, dass wir in
Deutschland sehr klare Übernahmeregelungen haben. Drittens. Fusionstarifverträge – diese schlagen Sie
von der Linken vor – können ein richtiges Instrument
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, wenn sie die Möglichkeit bieten, organisatorische
und bei der CDU/CSU) Entwicklungen aufgrund von Fusionen und Übernahmen
sozialverträglich zu gestalten. Natürlich brauchen wir
Die solide Finanzierung liegt in der Hand der BaFin. das. Die Menschen haben Angst, wenn eine Übernahme
Was hat die BaFin gemacht? Sie hat geprüft, ob das Ka- geplant wird. Sie fragen sich, was mit ihrem Arbeitsplatz
pital der Spanier ausreichen würde, wenn alle Aktionäre passieren wird und ob sich die Arbeitsplatzbedingungen
das Angebot annehmen würden. Das Ergebnis der Prü- verändern werden. Wir wollen mit Ihnen im Ausschuss
fung ist: ACS muss eine Kapitalerhöhung vornehmen. darüber diskutieren, ob wir Fusionstarifverträge einfüh-
Das zeigt, dass in Deutschland ein richtiges und gutes ren, die genau dies regeln.
Instrument greift. Die BaFin ist Mediator eines geordne-
ten Übernahmeverfahrens und hat ihren Job gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7629
Kerstin Andreae
(A) Wir können auch über den Schutz des Anlegers spre- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
chen. In den USA gibt es ein interessantes Verfahren. Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
Das war übrigens auch einmal ein SPD-Vorschlag. Ich CSU-Fraktion.
weiß nicht, warum er – ich glaube, es war 1997 – in der
Versenkung verschwunden ist. Bei dem Verfahren ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
scheidet die Hauptversammlung – ohne die Stimmen des
Bieters – über Annahme oder Ablehnung des Übernah- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):
meangebots. Es ist ein klassisches Dilemma. Man sitzt in Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Ge-
der Hauptversammlung und fragt sich: Soll ich, oder soll setzentwurf der SPD-Fraktion zielt grundsätzlich auf den
ich nicht? Ist das jetzt der bessere Preis, oder bin ich aktuellen Fall Hochtief. Die Frage, die wir sorgfältig
morgen weg vom Fenster? Welche Rechte kann ich den prüfen sollten, lautet aber, ob ein konkreter Fall wie die
Aktionären, auch den Kleinaktionären, im Streubesitz vom spanischen Baukonzern ACS geplante Übernahme
geben, damit sie ihre Entscheidungsgrundlage kennen des Bauunternehmens Hochtief als Anlass für eine gene-
und sehen, vor welcher Situation sie stehen? Wir möch- relle gesetzliche Regelung taugt. Wir nehmen die Ängste
ten mit Ihnen über den Vorschlag diskutieren, dass die der Menschen sehr ernst. Die leeren Versprechungen und
Hauptversammlung über Annahme oder Ablehnung des Falschinformationen vonseiten der SPD helfen den be-
Übernahmeangebots entscheidet. troffenen Arbeitnehmern allerdings nicht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Rolf Hempelmann [SPD]: So ein Quatsch!
DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Eine Behauptung ist das! Nenn doch mal ein
Beispiel!)
Ich möchte jetzt noch etwas Grundsätzliches sagen.
Wir haben in Deutschland sehr bewusst eine Entschei- Dem Populismus der SPD fehlt es an Glaubwürdigkeit.
dung für den europäischen Binnenmarkt getroffen. Das Es ist immer das Gleiche: Sie können nicht unterschei-
war gut und richtig so. Das bedeutet aber zweierlei: den, wer letzten Endes das Primat hat. Das Primat hat
nicht Hochtief, sondern das Primat haben die Politik, das
Erstens muss man den europäischen Prozess beglei- Parlament, dieses Hohe Haus.
ten. Die EU-Kommission wird sich Anfang kommenden
Jahres mit den Übernahmeregelungen insgesamt befas- (Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen ja auch
sen und sie überprüfen. Dann ist der richtige Zeitpunkt, unser Gesetzentwurf! – Hubertus Heil [Peine]
auch über nationale Übernahmeregelungen zu sprechen. [SPD]: Was ist das denn für eine verquere Ar-
Jetzt nationale und populistische Schnellschüsse zu wa- gumentation?)
gen, lehnen wir ab. Ich darf Ihnen deutlich sagen: Das deutsche Über-
(B) (D)
Zweitens darf man Übernahmen nicht undifferenziert nahmerecht stellt einen ausgewogenen Kompromiss
erschweren, sondern man muss spezifische Interessen zwischen den Interessen des Bieters und denen der
berücksichtigen. Im Klartext der Grünen bedeutet das: Aktionäre des Zielunternehmens dar. Der Vorwurf, dass
Das Denken in Kategorien nationaler Champions lehnen eine Schutzlücke oder Benachteiligung besteht, ist unab-
wir ab. hängig zu prüfen.

Es wird Zeit, dass wir in diesem Parlament zu ange- Eines ist allerdings schon heute klar: Mit dem soge-
messenen Verfahren zurückfinden. In den letzten Wochen nannten Anschleichen hat der Fall Hochtief nichts, aber
konnten wir viele Beispiele beobachten – Euro-Rettung, auch gar nichts zu tun. Der spanische Konzern ACS hat
Atompolitik, Haushaltsbegleitgesetz –, an denen deutlich sein Vorhaben nie verschwiegen.
wurde, dass Sie Ihre Vorhaben im Hauruckverfahren (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Ulla
durchgesetzt haben, ohne dass wirklich ernsthafte Dis- Lötzer [DIE LINKE]: Oh nein! Das ist nicht
kussionen geführt worden waren. Bei diesem Thema darf richtig! – Joachim Poß [SPD]: Das sehen die
nicht das Gleiche passieren. Wir brauchen keine Schnell- Beteiligten aber anders! Selbst Herr Pérez hat
schüsse, sondern eine solide Gesetzgebung. Das heißt sich dafür entschuldigt!)
auch, dass man nicht mit Blick auf einen spezifischen Fall
ein Gesetz ändert, ohne zu wissen, was diese Gesetzesän- Er hat nicht versucht, geltendes deutsches Recht und
derung im Hinblick auf andere Fälle bedeutet. deutsche Richtlinien zu unterwandern. Er war schon
lange an Hochtief beteiligt. Es ist die Aufgabe des Ma-
Ich warne sehr davor, Versprechungen zu machen, die nagements von Hochtief, erfolgreich Kurspflege zu be-
wir nicht halten können, und Erwartungen zu schüren, treiben, eventuell einen weißen Ritter zu finden und die
die wir nicht bedienen können. Unsere Aufgabe ist es, Beteiligungen zu gewichten. Die Protestadresse im Fall
Probleme zu lösen. Wir greifen Ihre Initiative auf, um Hochtief ist das Management und nicht die Politik. Das
die Beschäftigten und die Arbeitnehmerrechte zu schüt- muss klar sein.
zen. Aber wir wehren uns gegen eine Abschottung
Deutschlands. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vielen Dank.
Es reicht in keinem Falle aus, bei einer solchen ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzlichen Regelung zum Übernahmerecht nur die Aus-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und wirkungen auf einen konkreten Fall zu betrachten. Wir
des Abg. Frank Schäffler [FDP]) müssen auch die Auswirkungen auf andere mögliche
7630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) Fälle bedenken und danach abwägen, ob bzw. welche (Rolf Hempelmann [SPD]: Kleinaktionäre!) (C)
Änderungen des Übernahmerechts sinnvoll oder erfor-
derlich sind. Das ist ein wichtiges Anliegen. Das will ich keineswegs
geringschätzen. Aber Sie kommen dem mit Ihrem Ge-
Die Bundesregierung wird die Regelungen zum soge- setzentwurf überhaupt nicht nach.
nannten Anschleichen im Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung des Anlegerschutzes überarbeiten; dabei geht es In der europäischen Übernahmerichtlinie ist vorge-
insbesondere um Unternehmensübernahmen. Wir wollen schrieben, dass die bisherigen Aktionäre geschützt wer-
die Transparenzregeln verschärfen, und zwar ohne ideo- den müssen. Die Ausgestaltung bleibt zu Recht sämtli-
logische Scheuklappen. chen Mitgliedsländern überlassen. Nach dieser Richtlinie
müssen die Mitgliedsländer für den Fall, dass ein Erwer-
Folgende grundsätzliche Aspekte möchte ich vorne- ber die Kontrolle über eine Gesellschaft erlangt, Regelun-
weg verdeutlichen: gen zu Pflichtangeboten an die Aktionäre treffen. Im
Deutschland hat ein Interesse daran, dass Investoren deutschen Recht haben wir mit der 30-Prozent-Schwelle
in unserem Land grundsätzlich willkommen sind. Ich eine solche Regelung.
rate dringend dazu, nicht den Eindruck zu erwecken, dass
ausländische Investoren bei der Übernahme von Unter- Meines Erachtens muss man sehr sorgfältig prüfen,
nehmen grundsätzlich unerwünscht sind. ob ein aktuelles Problem durch die Einführung zusätzli-
cher Schwellen überhaupt gelöst werden kann. Der Wert
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das sagt doch kei- von 2 Prozent in dem SPD-Gesetzentwurf ist natürlich
ner!) völlig aus der Luft gegriffen. Sie können mir gar nicht
sagen, wie dieser Wert zustande kommt. Auch wenn ich
Es gibt in der deutschen Unternehmenslandschaft Bei-
das Wort „willkürlich“ nicht verwenden will, erscheint
spiele für erfolgreiche Unternehmensübernahmen. Dabei
es mir eine aus der Luft gegriffene Zahl zu sein. Gerade
konnten alle Beteiligten mit einer solchen Übernahme
sehr gut leben. Häufig wird ein Investor geradezu ge- vor dem Hintergrund der beabsichtigten Übernahme von
sucht, insbesondere in Sanierungsfällen. Darauf sind Hochtief durch ACS warne ich vor einem gesetzgeberi-
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem schen Schnellschuss mit einer aus der Luft gegriffenen
Land angewiesen. Ich kenne viele Fälle, in denen der Zahl. Durch diesen Einzelfall wird belegt, dass es kein
ausländische Investor deutsche Arbeitsplätze gerettet grundsätzliches Transparenzproblem gibt; ich habe es
und gesichert hat. bereits angesprochen.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Das kann man Es geht also darum, dass wir mit dem Anlegerschutz-
doch nicht vergleichen!) gesetz das Problem des Anschleichens in Angriff neh-
(B) (D)
men, um die Nutzung bisher nicht meldepflichtiger Fi-
Die Abschottung des Marktes ist ein Anschlag auf die nanzinstrumente transparent zu machen. Seitens der
Arbeitsplätze in unserem Land. Bundesregierung ist vorgesehen, dass unterschiedliche
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stimmrechte zusammengerechnet werden müssen, damit
der Markt umfassend darüber informiert wird, wie viel
Wir als Exportnation müssen einen offenen Welthan- Stimmrechtseinfluss auf ein und dasselbe Unternehmen
del betreiben; sonst werden wir unter Protektionismus in besteht. Es muss vermieden werden, dass in intranspa-
dieser Welt zulasten unserer Arbeitsplätze und unseres renter Weise erhebliche Stimmrechtspositionen aufge-
breit verteilten Wohlstandes leiden. Das müssen wir er- baut werden können, ohne dass weder die Bundesanstalt
kennen, und wir dürfen uns keine ideologischen Scheu- für Finanzaufsicht noch der Markt oder die Emittenten
klappen aufsetzen, wie Sie sie uns hier zumuten. frühzeitig darüber in Kenntnis gesetzt werden. Es muss
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf folglich eine umfassende Meldepflicht für Finanzinstru-
Hempelmann [SPD]: Ablenkungsgerede!) mente und -praktiken geschaffen werden. Darin sind wir
uns einig. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist.
Bei Hochtief geht es um den umgekehrten Fall. Ich
gebe eine grundsätzliche Überlegung zu bedenken: Auch Die Eingangsschwelle für die Meldepflicht wird bei
deutsche Unternehmen wollen im Ausland investieren, 5 Prozent der entsprechenden Stimmrechte festzusetzen
und auch deutsche Unternehmen übernehmen häufig im sein. Die neuen Meldepflichten werden mit zusätzlichen
Ausland Unternehmen. Wir müssen mit dieser Proble- Sanktionen verbunden werden. Wir erarbeiten also eine
matik auch unter diesem Gesichtspunkt sachlich und konkrete Lösung, die genau zur richtigen Zeit kommt
fachlich ausgewogen umgehen. und die Probleme angeht.
Es ist richtig, dass das Übernahmerecht in fast allen Die Zielsetzung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
europäischen Staaten Regelungen enthält, durch die es kung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funk-
für die Aktionäre transparent wird, wenn jemand tionsfähigkeit des Kapitalmarktes überschneidet sich da-
30 Prozent der Stimmrechte erworben hat und sich diese her mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs der SPD, hat
Beteiligung erhöht. Im Fall Hochtief geht es aber eigent- aber die wahren Ursachen der zu lösenden Probleme viel
lich nicht um die Transparenz, sondern um erneute An- schärfer im Blick. Wir regeln genau das, was geregelt
gebote an die Aktionäre. Genau betrachtet geht es also werden muss. Das ist etwas ganz anderes als der Popu-
um den Schutz bisheriger Aktionäre. Frau Andreae hat lismus und der Protektionismus, die im Gesetzentwurf
es gesagt. der SPD zum Ausdruck kommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7631
Dr. h. c. Hans Michelbach
(A) Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auch auf den An- Ich lehne es als unabhängiger Abgeordneter ab, die (C)
trag der Linken eingehen. Beim Antrag der Linksfrak- Frage der Übernahme von Hochtief durch ein anderes
tion geht es faktisch nicht um eine Änderung des Über- europäisches Unternehmen zu bewerten und mit Natio-
nahmerechts, sondern um den plumpen Versuch, nalismus in diesen Prozess einzugreifen. Ich weiß nicht,
wie dieser Fall ausgeht. Ich finde es auch nicht zielfüh-
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!)
rend, wenn der Staat versuchen will, solche Prozesse
die Mitbestimmung in Deutschland eklatant auszuweiten durch gesellschaftliche Schnellregelungen zu steuern.
und insgesamt weiter an der arbeitsrechtlichen Regulie-
Das Grundanliegen der SPD-Fraktion ist immer dis-
rungsschraube zu drehen.
kutabel; aber wir müssen es vom Einzelfall loslösen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vonnöten ist letzten Endes ein Gesetzentwurf, der auf
Lösungen für die richtigen Problemfälle abzielt. Das will
Das Ziel ist einzig und allein ein verfassungsrechtlich sorgfältiger bedacht sein, als es dieser Gesetzentwurf der
höchst problematischer, wenn nicht von vornherein aus- SPD mit herausgegriffenen Zahlen und neuen Schwel-
geschlossener Eingriff in die unternehmerische Freiheit. lenangaben vorsieht.
Ich nenne nur das Stichwort „Vetorecht des Betriebsrats
gegenüber Fusionen und Übernahmen“. Was Sie vorha- Ich glaube, dass wir in dieser Frage auf dem richtigen
ben, ist gegen unser Rechtssystem und die soziale Weg sind. Es ist ein Signal notwendig, dass freier Welt-
Marktwirtschaft. handel, freie Märkte und Schutz vor Abschottung oberste
Priorität haben, weil wir als Exportnation im Hinblick auf
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den Erhalt unserer Arbeitsplätze darauf angewiesen sind.
der FDP)
Herzlichen Dank.
Sie haben die soziale Marktwirtschaft immer noch
nicht begriffen, ebenso wenig wie ihre Vorteile. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Sie wollen sie
durch Marktfundamentalismus ersetzen!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
Das ist DDR-Politik, die Sie weg von der sozialen
Marktwirtschaft, in der Eigentumsrechte großgeschrie- (Beifall bei der SPD)
ben werden, hin zum Volkseigentum führt. Sie sollten
nachlesen, wohin die DDR-Wirtschaftspolitik und das Petra Hinz (Essen) (SPD):
sogenannte Volkseigentum geführt haben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(B) (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Man hatte vor al- Herr Michelbach, genau das wollen wir nicht: unseren (D)
lem Mitbestimmung! Das ist eine Erfahrung Gesetzentwurf, den wir heute eingebracht haben, anhand
des Ruhrgebiets, nicht der DDR!) eines Einzelfalles diskutieren. Die Fachleute, die Profes-
soren, die Juristen, die Wirtschaftsverbände, das Ma-
Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: So etwas in einem nagement in Nordrhein-Westfalen, der Kreis, der sich
freiheitlichen Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft dort regelmäßig trifft und uns immer Informationen zu-
vorzutragen, ist bodenlos. kommen lässt, bestätigen uns und damit den Gesetzent-
wurf, den wir hier heute einbringen. Sie bestätigen, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
diese Gesetzeslücke auf jeden Fall geschlossen werden
der FDP)
muss.
Es geht hinsichtlich der Auswirkungen solcher Über-
Machen wir uns nichts vor: Natürlich sind die deut-
nahmen auf die Arbeitnehmer letzten Endes darum, die
schen Unternehmen Übernahmeattacken fast schutzlos
besseren Lösungen der sozialen Marktwirtschaft anzu-
ausgeliefert.
wenden. Das Übernahmerecht ist – das gebe ich zu – au-
ßerordentlich kompliziert. Es bedarf sorgfältiger Abwä- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist
gungen statt Schnellschüsse. Protektionismus zugunsten doch Quatsch, völliger Quatsch!)
unserer Unternehmen mag auf den ersten Blick immer
wieder verlockend sein – die SPD fällt grundsätzlich im- Ich rede hier nicht über die Frage des Managements ei-
mer darauf hinein –; in einem europäischen Binnenmarkt nes Unternehmens. Das haben wir hier gar nicht zu beur-
sollte allerdings die Diskussion über Unternehmensüber- teilen und zu bewerten. Vielmehr reden wir hier heute
nahmen nicht unter dem Stichwort „Nationalisierung“ über das, was wir zu Veränderungen im Rahmen der
erfolgen. Übernahme einbringen. Außerdem ist es wichtig, die In-
teressen der Kleinaktionäre, der freien Aktionäre zu be-
(Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ rücksichtigen. Auch darüber gehen Sie einfach mit dem
DIE GRÜNEN]) Argument hinweg: Die können ja auf der Hauptver-
sammlung anwesend sein.
In der Globalisierung darf es keinen Nationalismus und
Protektionismus geben. Angesichts dessen, dass Sie jetzt so locker mit dem
ganzen Thema umgehen, verstehe ich die Gedanken, die
(Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
Herr Schauerte 2001 in die Debatte eingebracht hat,
DIE GRÜNEN])
nicht. Ich empfehle Ihnen jedoch, das Protokoll vom
Das ist die entscheidende Wegführung. 11. Oktober 2001 nachzulesen. Er hat seinen Wortbei-
7632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Petra Hinz (Essen)


(A) trag zu Protokoll gegeben. Es ist durchaus interessant, sprochen worden. Der spanische Konzern ist hoch ver- (C)
wie Sie in so kurzer Zeit Ihre Position verändern und schuldet. Eine Zerschlagung der bisherigen Struktur von
sehr unsachlich und polemisch werden. Hochtief ist durchaus möglich. Wir wissen genau, dass
all das, was im Zusammenhang mit Übernahmen ver-
Die Kritiker sprechen von freiem Wettbewerb – ich traglich versprochen wird, spätestens nach einem Jahr
habe es auch hier gehört –, von weniger Einmischung keinen Wert mehr hat. Insofern müssten wir aufgrund
usw. Aber genau darum geht es uns nicht. Es soll kein unserer Erfahrungen wissen, dass das, was ACS jetzt ge-
Unternehmen protegiert werden. Darum geht es doch rade verspricht, um sich attraktiv zu machen, an den
überhaupt gar nicht, Herr Michelbach. Haaren herbeigezogen ist.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
na, na!) der LINKEN)
– Darum geht es in der Tat nicht. Es geht um Wettbe- Zusammenfassend stelle ich fest: Erstens. Was in an-
werbsgleichheit, die geschaffen werden soll. deren europäischen Staaten verboten ist, darf nicht zum
Wenn wir einmal bei aller Polemik, die hier auch zum Nachteil von deutschen Unternehmen und zum Nachteil
Ausdruck kam, tatsächlich alle Informationen additiv sä- unseres Industriestandortes Deutschland gereichen. Das
hen, sähen Sie, dass jeder Wortbeitrag verdeutlicht, dass ist sehr wichtig.
es tatsächlich Lücken gibt. Wir müssen für jede Lücke, Zweitens. Deutschland fördert Industriepolitik und
die wir in unserem Gesetz haben, prüfen, in welcher keine Kapitalspekulation, wie wir es hier bei ACS in die-
Weise wir sie im Rahmen der Harmonisierung auf euro- sem Fall tatsächlich vorfinden.
päischer Ebene schließen können. Das haben Sie auch in
jedem einzelnen Wortbeitrag bestätigt. (Frank Schäffler [FDP]: Es geht doch nicht um
den Einzelfall!)
Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich Unterneh-
men, weil es in anderen europäischen Staaten verboten Drittens. Darüber hinaus geht es um den Schutz der
ist, zum Nachteil Deutschlands hier an unserem Standort Kleinaktionäre vor Geringfügigkeitsangeboten. Ich muss
austoben können sollen. Andere Länder haben damit tat- nicht extra auf das Verhalten der Deutschen Bank, der
sächlich ganz andere Erfahrungen gemacht. In diesem Deutschen Post und der Postbank hinweisen. Es ging da-
Zusammenhang zitiere ich Professor Schneider, der die rum, dass Ackermann die Postbank übernehmen wollte.
Beispiele Großbritannien oder Schweiz immer wieder Ackermann ist so selbstsicher, dass er bereits von Perso-
hervorhebt. Er macht deutlich, welche Chancen für eine nalabbau redet. Es gibt also genügend Beispiele. Aber
solide Übernahme in Großbritannien bestehen, trotz der Ackermann schreibt die Gesetzentwürfe für die Regie-
(B) Regelungen, die es in Großbritannien gibt. Dort ist näm- rung und die Redeentwürfe für die entsprechenden Gip- (D)
lich vorgesehen, dass Aktionäre, die mit mehr als feltreffen.
30 Prozent, aber noch immer unter 50 Prozent an Unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
nehmen beteiligt sind, ein erneutes Angebot machen Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na,
müssen, wenn sie mindestens 2 Prozent der Aktien zu- na! Was machen Sie denn mit Hochtief?)
kaufen. Wo ist das Problem, wenn es in Großbritannien
kein Problem darstellt? Hier wird es von Ihnen zu einem Viertens. Wir müssen verhindern, dass die Teilhabe
Popanz stilisiert. Nein, so sagen Sie, Sie wollen an die- der Arbeitnehmer an der Vermögensbildung durch Spe-
sen Bereich nicht herangehen. kulation konterkariert wird. Ich würde mich sehr freuen,
wenn Sie unabhängig von dem Fall, der gerade in der
Ähnliche Regelungen gibt es in Österreich, Frank- Öffentlichkeit diskutiert wird, die Protokolle von 2001
reich, Italien, Irland und auch in der Schweiz. In der noch einmal durchlesen würden, damit wir zu einer ge-
Schweiz wird die ganze Sache noch restriktiver gehand- meinsamen Lösung kommen. Die Lösung besteht darin,
habt. Darüber wollen wir in diesem Fall überhaupt nicht dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.
reden,
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans
Michelbach [CDU/CSU]: Ich wusste nicht, (Beifall bei der SPD)
dass die zur EU gehören!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
weil nach der Regelung, die die Schweiz im Rahmen ih- Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Frak-
rer Gesetzgebung auf den Weg gebracht hat, niemand tion.
mehr als 2 bis 5 Prozent der Aktien erwerben darf. Dies
schließt unser Aktiengesetz grundsätzlich aus. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
In der Zeit, in der unsere europäischen Nachbarn Der-
artiges auf den Weg gebracht haben, lamentieren wir, zö-
Frank Schäffler (FDP):
gern wir, zaudern wir. Wir tun nichts, um diese Geset-
zeslücke zu schließen, um dieses Detail im Aktiengesetz Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
zu korrigieren. Thema, über das wir heute diskutieren, hat meiner An-
sicht nach zwei Aspekte. Einmal geht es um die Frage,
Im Fall von ACS gibt es zumindest einen weiteren ob wir in Deutschland das Übernahmerecht im Sinne der
Grund, große Sorge zu haben; es ist hier auch kurz ange- Minderheitsaktionäre ausreichend geregelt haben. Meine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7633
Frank Schäffler
(A) Vorredner haben aus meiner Sicht dazu schon viel Rich- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das wäre sehr (C)
tiges gesagt. gut!)
(Rolf Hempelmann [SPD]: Insbesondere Herr Kenneth Rogoff – kein Unbekannter – hat dieser Tage
Poß!) eines, wie ich finde, der bemerkenswertesten Bücher seit
langem mit dem Titel Dieses Mal ist alles anders. Acht
– Herr Poß hat viel Richtiges gesagt, vor allem als er ge- Jahrhunderte Finanzkrisen vorgelegt. Er hat, wie ich
sagt hat, dass es nicht um den Einzelfall geht. Aber die finde, sehr treffend dargestellt, was in Finanzkrisen im-
Redner der SPD beziehen sich auf diesen Einzelfall, und mer das Problem ist. Er schreibt:
beide haben ihren Wahlkreis dort, wo das Unternehmen
seinen Sitz hat. – … war der Kollaps des internationalen Handels nur
zum Teil ein Nebenprodukt des steilen Rückgangs
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Reine Klientel- der Wirtschaftsaktivität, der von rund 10 Prozent in
politik!) Westeuropa bis rund 30 Prozent in Australien, Ka-
nada, Neuseeland und den USA reichte. Der andere
Sie sollten die Diskussion hier ehrlich führen und nicht destruktive Faktor war die weltweite Zunahme des
über den Themen schwimmen. Ich glaube, Sie versu- Protektionismus, sowohl in Form von Handelsbar-
chen, dieses Thema zu instrumentalisieren, um vor Ort rieren als auch gezielten Abwertungen der eigenen
Punkte zu machen. Das ist aber zu wenig für diese Dis- Währung zum Schaden anderer Exportländer.
kussion.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN –
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie eigent- Rolf Hempelmann [SPD]: Wir wollen keine
lich noch in der FDP?) Währung abwerten! Da haben Sie etwas ver-
Ich glaube, wir korrigieren mit dem Anlegerschutzge- wechselt!)
setz etwas, was für die Kleinaktionäre, aber auch die Genau darum geht es eigentlich in dieser Auseinan-
Anleger in Deutschland entscheidend ist. Es geht um die dersetzung. Sie betreiben jetzt billige Polemik für billige
Frage, ob sich jemand mithilfe von Finanzinstrumenten Münze, aber faktisch geht es um viel mehr. Es geht da-
an ein Unternehmen heranschleichen darf oder nicht und rum, wie unser Finanzsystem stabilisiert wird und dass
ob dieses Verhalten im Rahmen der Meldeschwellen be- wir uns nicht in eine Protektionismusspirale hineinbe-
rücksichtigt werden muss. Die Korrektur, die Sie im geben, in der wir uns gegenseitig hochschaukeln. Denn
Jahr 2008 nicht gemacht haben, führen wir jetzt durch. das ist das eigentliche Problem, das wir international ha-
Ganz viele Kleinanleger in Deutschland hatten erhebli- ben. Deutschland sollte als Land, das den Freihandel im-
che Vermögensverluste zu verzeichnen. Ich erinnere an mer befürwortet hat, das die Kapitalverkehrsfreiheit im- (D)
(B) den Versuch von Porsche, VW zu übernehmen. Das hat
mer obenan gestellt hat, alles tun, um nicht in diese
am Ende dazu geführt, dass Kleinanleger, die in Aktien- Interventionsspirale hineinzugeraten. Das ist das Ent-
fonds, die an den Deutschen Aktienindex gekoppelt wa- scheidende in dieser wichtigen Phase.
ren, investiert hatten, zusätzliche Aktien kaufen muss-
ten, weil die Gewichtung von VW im Deutschen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Aktienindex angestiegen ist. Das hat zu einem massiven der CDU/CSU – Ulla Lötzer [DIE LINKE]:
Vermögensverlust gerade der Kleinanleger beigetragen. Die Finanzkrise scheint völlig an Ihnen vor-
Dagegen haben Sie in Ihrer Regierungszeit nichts unter- beigegangen zu sein!)
nommen. Das korrigieren wir jetzt. Märkte öffnen und nicht Märkte schließen – das ist
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die eigentliche Botschaft, die von diesem Parlament aus-
der CDU/CSU) gehen sollte.
Vielen Dank.
Das ist aber nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt
betrifft die Frage – das ist ganz entscheidend –, ob man (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den protektionistischen Reflexen, die man gemeinhin
sehr schnell hat, nachgeben will oder nicht. Da schreibe Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ich Ihnen ins Stammbuch: Das, was Sie hier machen, ist Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Axel
im Kern geschichtslos. Es ist deshalb geschichtslos, weil Troost das Wort.
Sie aus der Finanzkrise der vergangenen Jahre, Jahr-
zehnte und vielleicht sogar Jahrhunderte nichts gelernt (Beifall bei der LINKEN)
haben; denn Krisen haben sich immer dann besonders
verschärft, wenn sich die Länder dieser Welt mit Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Abwehrmaßnahmen durch Erhöhung der Zölle, aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-
auch bei Regelungen zum Übernahmerecht gegenseitig nes muss noch einmal ganz deutlich gesagt werden: Das,
hochgeschaukelt haben. was Hochtief droht, hängt wie ein Damoklesschwert
(Zuruf von der SPD: Das ist aber eine sehr ei- über vielen deutschen Unternehmen. Für ein börsenno-
gene Analyse!) tiertes Unternehmen ist der Zugang zum Kapitalmarkt
zwar gesichert, wodurch sich die Situation auf den ersten
– Das ist nicht irgendeine Analyse, sondern das ist die Blick verbessert. Doch machen wir uns nichts vor: Die
Analyse, mit der Sie sich stärker beschäftigen sollten. Bedrohung ist nahezu immer vorhanden. Gemeint ist die
7634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Axel Troost


(A) Gefahr des Aufkaufs, der feindlichen Übernahme oder (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: (C)
gar der Plünderung, je nach Blickwinkel und Auge des Selbstverständlich!)
Betrachters.
Vielmehr geht es darum, eine langfristige und vernünf-
Ein wesentliches Problem ist das deutsche Aktien- tige Unternehmensentwicklung zu gewährleisten. Dabei
und Kapitalrecht selbst. Es zwingt die börsennotierten können selbstverständlich auch Übernahmen sinnvoll
Unternehmen, übernahmeoffen zu sein, und dies um je- sein, aber sie müssen transparent sein. Die Anlegerin-
den Preis. nen und Anleger, aber eben auch die Belegschaften müs-
sen vernünftig geschützt werden.
Darum geht es, Herr Michelbach. Es geht nicht da-
rum, dass es Sanierungsfälle gibt, in denen es sicherlich (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans
sinnvoll ist, dass Unternehmen einsteigen. Vielmehr geht Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein Einmau-
es um feindliche Übernahmen, um die Gefahr, dass an- ern!)
schließend filetiert wird, dass Massenentlassungen zur – Nein, das ist eben kein Einmauern, aber auch keine
Erzielung kurzfristiger Profite erfolgen, dass Unterneh- völlige Offenheit und kein Nichtwissen darüber, was da-
mensteile stillgelegt werden. Insoweit sind wir in der Tat bei herauskommt.
der Ansicht, dass die dortigen Belegschaften ein Mit-
spracherecht haben müssen. Ich möchte noch einmal aus der Börsen-Zeitung zitie-
ren:
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]:
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bitte
Nein!)
keine Rosinenpickerei betreiben!)
Das hat nichts mit der DDR zu tun, so wie Sie es hier Wir haben dazugelernt. Es ist Zeit, den Störtebe-
darzustellen versucht haben. kern des Kapitalmarkts entgegenzutreten.
(Beifall bei der LINKEN) (Joachim Poß [SPD]: Schönes Zitat!)
Die Offenlegungspflichten sind bei wesentlichen Es ist Zeit, die Satzungsfreiheit der Aktionäre wie-
Beteiligungen völlig unzulänglich. Das haben wir im der anzuerkennen. Es ist Zeit, für eine lückenlose
Fall von Continental und im Fall von VW heute schon Offenlegungspflicht einzutreten. Flickschusterei
mehrfach gehört. Ein solches „heimliches Anschlei- hilft nicht.
chen“ wird durch den kürzlich vorgelegten Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zum Anlegerschutz nicht Darum geht es.
wirklich eingeschränkt. Hier ist gesagt worden: „Wir haben dazugelernt.“ –
(B) (D)
Ich habe in der Debatte das Gefühl gehabt: Die FDP hat
Hierzu möchte ich aus einem Kommentar der Börsen- überhaupt nichts dazugelernt, sondern setzt weiter aus-
Zeitung zitieren, die bekanntlich nicht die Hauspostille schließlich auf Marktradikalität. Die CDU verspricht,
von Belegschaften, Gewerkschaften oder der Linken ist. aber handelt nicht wirklich.
Darin steht:
Danke schön.
Nur leider, leider ist der Regierungsentwurf für das
Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz (Beifall bei der LINKEN)
Flickschusterei.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das ist genau das Problem, mit dem wir hier konfrontiert Das Wort hat nun Kollege Ralph Brinkhaus für die
sind. CDU/CSU-Fraktion.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein schwachsin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
niger Kommentar gewesen!)
Eine Politik des Stillhaltens und des Aussitzens spielt Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
weiter Heuschreckeninvestoren in die Hände. Beleg- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist
schaften mittelständischer Unternehmen drohen zum eine emotionale Debatte. Das ist eine emotionale De-
Spielball von Konzernen und Private-Equity-Gesell- batte für uns, aber auch für die Mitarbeiterinnen und
schaften zu werden. Deswegen muss aus unserer Sicht Mitarbeiter von Hochtief, die jetzt sicherlich vor dem
gehandelt werden. Wir finden, das, was von der SPD Fernsehschirm sitzen. Wir haben das gemerkt durch die
vorgelegt worden ist, geht in die richtige Richtung, wenn Briefe, die uns erreicht haben – von den Mitarbeitern
auch aus unserer Sicht die Frage der Belegschaftsbeteili- und Mitarbeiterinnen, vom Verband der Bauindustrie,
gungen noch mehr berücksichtigt werden sollte. vom Management –, durch die Demonstrationen und
durch viele persönliche Gespräche. Aber gerade weil es
(Beifall bei der LINKEN) eine emotionale Debatte ist, macht es Sinn, die Sache
einmal sehr kühl und sachlich anzugehen.
Es ist in der Tat so – das ist hier auch erwähnt worden –,
dass es international auch andere Beispiele gibt, aus de- Wenn ich die Sache sehr kühl und sachlich angehe,
nen man lernen kann und die man mit einbeziehen muss. stelle ich mir die Frage: Ist es eigentlich ein ungewöhnli-
Es geht nicht um Protektion, so wie das eben von der cher Vorgang, dass eine Unternehmensgruppe eine an-
FDP dargestellt worden ist. dere Unternehmensgruppe mehrheitlich übernimmt?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7635
Ralph Brinkhaus
(A) Schauen wir doch einmal in die Geschichte der Firma und auch sehr plastisch geschildert: Es ist nicht eine (C)
Hochtief! Die Geschichte der Firma Hochtief ist von wirkliche Überraschung, dass ACS nach der Mehrheit
Übernahmen geprägt. Da ist zum Beispiel Leighton in bei Hochtief greift; das war abzusehen. Insofern kann
Australien, 1983, ein großer Baukonzern, der wiederum ich an diesem Vorgang, abgesehen von einigen Begleit-
einen anderen Baukonzern, Holland, und arabische Bau- erscheinungen, nichts Ungewöhnliches erkennen.
konzerne übernommen hat. Da können wir über die Tur-
Jetzt könnte ich eigentlich einen Strich unter die Sa-
ner-Gruppe in den USA reden, börsennotiert, auch von
che ziehen und sagen: Dann ist ja alles gut, aber das will
Hochtief übernommen. Da können wir über Lufthansa
ich ausdrücklich nicht machen, weil wir – das gilt auch
Gebäudemanagement reden, hier in Deutschland zusam-
für uns als Union – durchaus viele Störgefühle bei die-
mengekauft, auch übernommen.
sem Prozess haben.
Wir können den Blick weiten und uns die Bauindus-
Das erste Störgefühl ist, dass es ausgerechnet ein spa-
trie insgesamt anschauen, etwa den zweiten großen Spie-
nisches Unternehmen ist, das jetzt einen großen deut-
ler auf dem deutschen Markt: Bilfinger Berger. Die Liste
schen Konzern übernehmen will. Wir alle erinnern uns
der Akquisitionen von Bilfinger Berger jetzt zu verlesen,
noch an einen Fall vor einigen Jahren. Da wollte die
würde den Rahmen sprengen. Ich sage dazu nur: M + W
deutsche Eon Endesa übernehmen, einen großen spani-
Zander, Abbey-Group in Australien und viele weitere
schen Versorger, und die spanische Regierung hat wirk-
Akquisitionen.
lich alles getan, um, auch mit unfairen Mitteln, diese
Betrachten wir doch einmal unsere bundeseigenen Transaktion zu verhindern. Insofern bleibt da ein Nach-
Unternehmen oder die Unternehmen, die unter unserem geschmack. Wir könnten das auch auf Frankreich aus-
Einfluss stehen! Die Deutsche Post hat übernommen dehnen. Da war es das Unternehmen Siemens, das bei
Exel in Großbritannien, DHL in den USA, Alstom einsteigen wollte. Es muss schon gelten: wenn
faire Regeln, dann überall faire Regeln.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es geht doch
gar nicht um Übernahmen! Machen Sie doch (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
keinen Popanz daraus!) [SPD] – Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist un-
ser Ansatz!)
Airborne in den USA,
Zweites Unwohlsein. Ich habe meine Zweifel, ob das,
(Joachim Poß [SPD]: Sie lenken nur vom
was ACS sagt, dass man einfach nur eine höhere Beteili-
Thema ab!)
gung haben wolle, weil man eng kooperieren wolle, so
im Übrigen finanziert durch die Monopolgewinne aus richtig ist. Man kann sich durchaus darüber unterhalten:
dem Briefgeschäft, was ordnungspolitisch bedenklich Wird diese Transaktion gemacht, um die Bilanz von
(B) (D)
ist. Wir können uns die Deutsche Bahn anschauen. Die ACS aufzubessern? Wird diese Transaktion gemacht, um
Deutsche Bahn hat die Stinnes AG übernommen. Die Hochtief nachher zu zerschlagen?
Deutsche Bahn hat jetzt einen großen englischen Ver-
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die Gefahr be-
kehrsdienstleister übernommen. Wir können uns auch
steht!)
die Telekom anschauen mit Voicestream in den USA
oder OTE in Griechenland und vielen anderen. Ich weiß es nicht. Man kann es erst einmal so stehen las-
sen.
Wenn wir uns die Flaggschiffe im DAX anschauen:
Daimler ist aus einer Fusion von Daimler und Benz ent- Zum dritten Punkt, den ich sehr ernst nehme. Die
standen. RWE und Eon haben sich durch Übernahmen deutsche Bauindustrie spricht von industriepolitischen
und durch Akquisitionen so aufgestellt, wie sie jetzt auf- Problemen und sagt: Das Gefüge in Deutschland, das
gestellt sind. Netzwerk aus gesunden Mittelständern und großen Un-
ternehmen, die notwendig sind, um große Projekte abzu-
(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg]
wickeln, wird durcheinandergebracht. – Das muss man
[SPD])
ernst nehmen.
Die Geschichte von Volkswagen, um einmal dieses Un-
Vor allen Dingen muss man eine Sache ganz ernst
ternehmen zu nennen, ist eine Geschichte von Akquisi-
nehmen: Das ist die emotional sehr individuelle Situa-
tionen, beginnend von Auto-Union über Skoda und Seat
tion der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Stel-
bis hin zu Porsche.
len Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Tochtergesellschaft
Also ist es im Grunde genommen ein relativ normaler von Hochtief oder wo auch immer.
Vorgang in der Marktwirtschaft, dass Unternehmen ge-
kauft werden, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Rolf Hempelmann [SPD]: Aus der Vogelflug- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
perspektive auf jeden Fall!) Kollegen Heil?
verkauft werden, fusioniert werden oder auch zerschla-
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
gen werden. Das ist nichts Ungewöhnliches, in der
Das machen wir nachher als Kurzintervention oder
Marktwirtschaft wahrscheinlich sogar funktional.
wie auch immer. – Wenn Sie also in einer Tochtergesell-
Betrachten wir einmal den Vorgang an sich, den Ein- schaft von Hochtief oder wo auch immer Ihrem Job
zelfall! Der Kollege Middelberg hat eben eindrucksvoll nachgehen, Ihre Arbeit ordentlich machen, sich ein
7636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Ralph Brinkhaus
(A) Netzwerk im Kollegenkreis aufgebaut und Wissen ange- tik der spanischen oder der französischen Regierung (C)
eignet haben und sogar Geld für Ihr Unternehmen ver- sein, aber nicht unsere. Das tun wir nicht. Das machen
dienen, dann erwarten Sie, dass Sie Ihr Gehalt bekom- wir nicht.
men, und Sie erwarten auch eine gewisse Planungs- und
Arbeitsplatzsicherheit. Ich denke, das ist fair. Dann aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
entscheidet irgendjemand in Madrid am grünen Tisch der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Das ha-
und sagt: Das können Sie aus strategischen Gründen al- ben wir auch nicht vorgeschlagen!)
les vergessen. Das interessiert mich nicht mehr. Ihr Fir- Schließlich geht es auch nicht an, das Problem darauf
menteil wird zerschlagen, verkauft oder fusioniert. – Das zu verengen, dass man sagt, an dieser Situation sei die
ist sehr schwierig. Das bringt auch die Balance zwischen Politik schuld, weil sie es versäumt habe, Lücken im
Arbeitnehmern und Arbeitgebern durcheinander. Das ist Übernahmerecht zu schließen. Das ist, meine Damen
nicht gut. Das muss man einmal so stehen lassen. und Herren, Quatsch. Das ist Blödsinn. ACS hätte diese
(Zurufe der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE] Transaktion auch durchgeführt, wenn wir die von Ihnen
und Rolf Hempelmann [SPD]) vorgeschlagene Regelung gesetzlich verankert hätten.

Wenn ich jetzt mir das Spannungsfeld anschaue zwi- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]:
schen der Tatsache, dass Unternehmensakquisitionen Richtig!)
marktwirtschaftlich üblich sind, deutschen und auch Das ist im Grunde genommen eine unzulässige Veren-
bundeseigenen Unternehmen genützt haben, und den gung dieses Problems. Sie streuen den Menschen Sand
Bedenken, die ich gerade geschildert habe, stellt sich mir ins Auge. Sie erzählen den Menschen die Unwahrheit.
die Frage: Wie gehe ich damit um bzw. wie gehe ich da-
mit nicht um? (Beifall bei der CDU/CSU)
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Das wüsste ich Damit komme ich zu dem Punkt, wie man mit so ei-
auch gerne!) nem Problem umgeht.
Ich gehe damit nicht um, indem ich mich auf Betriebs- Das Erste ist, dass man den Menschen auch in
versammlungen stelle und das Blaue vom Himmel ver- schwierigen persönlichen Situationen die Wahrheit
spreche. sagt. Die Wahrheit lautet: Unternehmen werden gekauft,
verkauft, fusioniert und zerschlagen. Das gehört zur
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Stimmt doch gar
Marktwirtschaft dazu. Das hat uns oftmals auch genützt.
nicht!)
Seit Philipp Holzmann ist das in der deutschen Politik (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Petra
(B) Hinz [Essen] [SPD]: Da haben Ihre Kollegen (D)
Mode geworden, insbesondere bei der Sozialdemokratie,
solche Versprechungen zu machen. Der Erfolg war im- aber etwas anders gesagt!)
mer äußerst übersichtlich. Aus der individuellen Perspektive mag das zu negativen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Begleiterscheinungen führen.
der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: (Rolf Hempelmann [SPD]: Kollateralschä-
Wir können gar nichts versprechen! Wir regie- den!)
ren nicht! – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Fragen
Sie Frau von der Leyen!) Aber man kann nicht nur die positiven Seiten der Markt-
wirtschaft mitnehmen und die negativen ausblenden.
Das trägt auch zum Glaubwürdigkeitsproblem der Poli- Das geht nicht, meine Damen und Herren.
tik bei.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lauter Blabla! –
Im Übrigen frage ich mich, wo bei dieser wichtigen Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Ordnungspolitik ist
Debatte Ihre Protagonisten sind. Wo ist denn Herr für Sie ein Fremdwort!)
Gabriel? Ich sehe ihn hier heute nicht. Daran sieht man,
wie ernst er dieses Thema nimmt. Ein zweiter Punkt, der sehr wichtig ist: Wenn faire
Regeln gelten, wenn Transparenz auf Kapitalmärkten
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo gelten soll – darauf ist Deutschland als Wirtschaftsnation
ist er denn? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: angewiesen, weil wir eine Exportnation sind und viele
Wo ist denn Frau Merkel? Wo ist denn Herr Beteiligungen in anderen Ländern haben –, dann müssen
Brüderle?) wir dafür sorgen, dass diese Regeln auch in Spanien,
Weiterhin kann man jetzt auch nicht die Regierung Frankreich und Deutschland gelten. Deshalb kann ich
auffordern, sich etwas Kreatives zu überlegen, um zu die Bundesregierung – das gilt auch für die Bundesregie-
verhindern, dass Hochtief übernommen wird. Meine Da- rung, die vorher im Amt war, bevor Sie jetzt grinsen,
men und Herren, wir leben immer noch in einem Rechts- Herr Heil – nur auffordern, hier mehr zu tun. Wir haben
staat. uns da in der Vergangenheit viel zu viel gefallen lassen.
(Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen machen (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine]
wir diesen Vorschlag!) [SPD])
Das bedeutet, dass Regeln verlässlich sein müssen. Kre- Wir sollten energisch darauf drängen, dass gleiche
ativität in Übernahmeprozessen mag vielleicht die Poli- Regeln für alle gelten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7637
Ralph Brinkhaus
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – rüber reden. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir, (C)
Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt machen wir ei- wenn wir dieses Gesetz auf den Weg bringen und uns im
nen Vorschlag, und dann wollt ihr nicht fol- nächsten Jahr vernünftig an der Überprüfung der EU-
gen!) Übernahme-Richtlinie beteiligen werden, eine gute
Chance haben, im nächsten oder übernächsten Jahr, je
Das sollten wir auch einmal der EU-Kommission mittei-
nachdem, wie lange es dauert, bessere Regelungen für
len, die hin und wieder einen unterschiedlichen Maßstab
Übernahmen, ein transparenteres Regime und auch eine
bei Dingen, die in Deutschland passieren, und Dingen,
höhere Rechtssicherheit für Arbeitnehmerinnen und Ar-
die im Rest Europas passieren, anlegt.
beitnehmer sowie für den Wirtschaftsstandort Deutsch-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- land zu erzielen. Was wir nicht machen sollten, sage ich
neten der FDP) ganz ausdrücklich: So wichtig dieses Thema auch ist,
wir dürfen keine Schaudebatten führen, wir dürfen den
Der nächste Punkt, der relativ entscheidend ist – das Menschen nicht Dinge versprechen, die wir nicht halten
wurde oft gefordert –, ist, Industriepolitik zu betreiben, können. Dies tut weder der Politik noch den Menschen
aber nicht Industriepolitik in dem Sinne, wie Sie sie ver- gut.
stehen. Industriepolitik bedeutet nämlich nicht, Struktu-
ren zu konservieren. Industriepolitik bedeutet nicht – in- Danke.
sofern war das ein kluger Beitrag von Ihnen, Frau
Andreae –, nationale Champions heranzuzüchten. Das hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
immer nur dazu geführt, dass die eigene Volkswirtschaft
wie unter einer Käseglocke lebte und schwächer gewor- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den ist. Eine gute Industriepolitik bedeutet, vernünftige Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Rahmenbedingungen zu schaffen, das heißt ein vernünf- Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
tiges Steuerrecht, ein vernünftiges Arbeitsrecht und ein Wort.
vernünftiges Klima für Innovationen und Bildung. Das
tun wir, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
CSU] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo Rolf Hempelmann (SPD):
denn? – Weiterer Zuruf von der SPD: Das wol- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
len wir!) Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, der Anlass für die
heutige Gesetzesinitiative der SPD-Bundestagsfraktion
Der letzte entscheidende Punkt – insofern verweise ich ist der Fall Hochtief.
(B) wiederum auf den Vortrag der Kollegin Andreae von den (D)
Grünen, der in weiten Teilen sehr klug war –: Wir müssen (Dr. Volker Wissing [FDP]: Ach so?)
uns überlegen, ob unser Arbeitsrecht, unser Gesell-
schaftsrecht und unser Wertpapierrecht tatsächlich die – Ja, der Anlass. – Zahlreiche Wirtschaftsverbände ha-
Beteiligten am Transaktionsprozess ausreichend schüt- ben aber sehr deutlich gemacht, dass es notwendig ist,
zen. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, dass wir die Lücke im Übernahmegesetz so zu schließen,
im Arbeitsrecht schon sehr weitgehende Schutzvorschrif- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wel-
ten haben – ich denke hier an § 613 a BGB mit einer sehr che Wirtschaftsverbände?)
exzessiven Rechtsprechung –; aber man kann darüber re-
den. Ich bin auch der Meinung, dass wir in Deutschland wie wir es hier vorschlagen, weil es sonst beim Fall
beim Schutz der Minderheitsaktionäre im Gesellschafts- Hochtief nicht bleiben wird. Es fallen Namen wie Infi-
recht sehr vorbildliche und weitreichende Regelungen neon, Rheinmetall, MTU Aero Engines usw. Von daher
haben. sage ich: Ja, das ist der Anlass; aber vor allen Dingen
geht es darum, hier gleiches Recht in Europa zu schaf-
Aber wir müssen uns über das Wertpapierübernah- fen, damit von dieser Regelungslücke nicht auch noch
megesetz unterhalten, was die Regierungsfraktionen im ganz andere Unternehmen in Deutschland betroffen sein
Übrigen morgen tun werden: Wir werden morgen in ers- werden.
ter Lesung ein Gesetz zum Anlegerschutz einbringen.
Dieses Gesetz enthält als einen ganz wichtigen Passus die (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing
Regelungen zum Anschleichen. Der Kollege Middelberg [FDP]: Wer hat denn die Regelungslücke ge-
hat dies bereits erläutert: Anstatt transparent nach einem schaffen?)
anderen Unternehmen zu greifen, macht man es versteckt
Weil dies der Anlass ist, lohnt sich auch ein Blick auf
über Derivative, und dann wird die ganze Sache zu einer
das Unternehmen Hochtief. Was ist das für ein Unter-
großen Überraschung. Dies hilft niemandem, weder dem
nehmen? Es ist einer von zwei verbliebenen großen Bau-
Markt noch den Arbeitnehmern noch dem Management,
dienstleistern in Deutschland: sehr erfolgreich in Deutsch-
und auch nicht dem Wirtschaftsstandort. Da gehen wir
land und in Europa, praktisch schuldenfrei, wirtschaftlich
heran.
absolut gesund, mit strategischen Projekten in Deutsch-
Ich lade Sie herzlich ein: Wenn Ihnen dieses Thema land und Europa und darüber hinaus, in Deutschland mit
abgesehen vom Einzelfall Hochtief ernst ist, dann bera- 11 000 Beschäftigten. Selbst der Vorsitzende des Vorstan-
ten Sie mit, dann machen Sie Ihre eigenen Vorschläge, des des größten Konkurrenten von Hochtief, Herbert
dann lassen Sie uns im parlamentarischen Prozess da- Bodner, Chef von Bilfinger Berger, lobt Hochtief als ei-
7638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Rolf Hempelmann
(A) nen Konzern mit einer hervorragenden Vernetzung mit Hochtief will faire Rahmenbedingungen im Abwehr- (C)
dem Mittelstand und dem Bauhandwerk; kampf gegen ein Unternehmen, das sich durch Anschlei-
chen in eine bessere Position bringen möchte.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das
ist auch der Präsident des Bauindustrieverban- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Drei
des!) Jahre anschleichen?)

ein Verlust dieses Konzerns bedeutete für die gesamte Worum geht es der SPD? Der SPD geht es darum, in
diesem Fall rechtzeitig zu handeln, aber auch für andere
Branche, dass dieses Netzwerk mit vielen Arbeitsplätzen
Fälle vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass solche
auch außerhalb des Unternehmens Hochtief automatisch
Übernahmen, bei denen der Arme sozusagen den Rei-
gefährdet wäre.
chen kauft, nicht die Regel werden.
Schauen wir auf ACS, das Unternehmen, das hier die Was sagen die Fachmedien? Was sagt zum Beispiel
Übernahme tätigen will. Es ist ein hochverschuldetes der Spiegel?
spanisches Unternehmen – die Schulden beziffern sich
auf circa 10 Milliarden Euro –, unter Druck von den kre- (Patrick Döring [FDP]: Ein wirtschafts-
ditgebenden Banken. Deswegen hat man versucht, eine politisches Fachblatt!)
Anleihe von ACS zu platzieren. Diese Anleiheplatzie- Er sagt nicht, dass wir das kopieren sollen, was etwa in
rung ist geplatzt. Dies alles wissen Sie sehr genau. ACS Spanien und Frankreich üblich ist. Herr Zapatero schal-
benötigt also ganz offensichtlich bei Hochtief vor allen tete sich aktiv ein, als Eon sich darum bemühte, Endesa
Dingen eins: die Finanzkraft dieses Unternehmens. zu übernehmen. Herr Sarkozy versuchte, die Pläne von
Wie geht ACS vor? Da brauchen wir nur zu schauen, Siemens im Falle von Areva zu durchkreuzen. Das alles
wie es ACS in der Vergangenheit auf dem spanischen wollen wir, die Öffentlichkeit und die begleitenden Me-
Markt gemacht hat: Sie kaufen sich zunächst mit einem dien nicht. Aber es kann doch nicht sein, dass wir in
kleinen Anteil ein. Anschließend schleichen sie sich an Deutschland diejenigen sind, die alle anderen einladen,
und erhöhen verdeckt diesen Anteil. Dann unterbreiten billig auf Einkaufstour zu gehen. Der Spiegel spricht
sie ein unattraktives Übernahmeangebot, um über die wörtlich von der „Perversion der Marktwirtschaft“. Dort
Schwelle von 30 Prozent zu kommen. Danach bauen sie heißt es weiter:
ihren Anteil weiter aus. Schließlich zerschlagen sie das Belohnt wird nicht der Tüchtige, … sondern der
Unternehmen mit der Folge, dass Arbeitsplätze verloren Trickreiche, der die laschen deutschen Gesetze
gehen. nutzt, um seinen Konkurrenten zu einem Spottpreis
(B) zu übernehmen. (D)
Wie sieht heute ACS in Spanien aus? ACS hat
85 Prozent Leiharbeitsplätze und 15 Prozent feste Ar- Genau darauf zielt unser Gesetzesvorschlag ab.
beitsplätze. Wer hier davon spricht, dass durch eine sol- (Beifall bei der SPD)
che Übernahme Arbeitsplätze in Deutschland – quasi au-
tomatisch – nicht gefährdet seien, der blendet die Herr Brinkhaus, wenn Sie es mit der Artikulation der
Erfahrungen der Vergangenheit bewusst aus. Sorgen wirklich ernst meinen, dann belassen Sie es nicht
dabei, diese Sorgen im Parlament auszudrücken, sondern
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dann tun Sie rechtzeitig das Notwendige, indem Sie un-
der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Geht es serem Vorschlag folgen.
jetzt um diesen Einzelfall?)
Vielen Dank.
– Ich habe Ihnen gerade geschildert, dass dieser Fall der
(Beifall bei der SPD)
Anlass für unseren Gesetzentwurf war. Ich habe aber
auch gesagt, dass es noch andere Fälle von Unternehmen
gibt, die nach Ansicht der Fachleute in gleicher Weise Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gefährdet sind. Ich schließe die Aussprache.

Worum geht es Hochtief? Herr Brüderle sagt: Wir ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
ben kein Geld. – Das zeigt die Reflexe, wie sie auch im den Drucksachen 17/3481 und 17/3540 an die in der Ta-
Fall von Opel, Karstadt und Holzmann zu beobachten gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
waren. Aber genau diese Fälle sind mit Hochtief nicht Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
vergleichbar. Hochtief geht es eben nicht um Staats- sind die Überweisungen so beschlossen.
knete; es geht nicht um Geld. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g sowie
Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Um
Staatshilfe geht es!) 37 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestäti-
Es geht vielmehr um einen Lückenschluss im Übernah- genden Regelung verschiedener steuerlicher
megesetz und um die Anpassung dieses Übernahmege- und verkehrsrechtlicher Vorschriften des
setzes an europäische Standards. Haushaltsbegleitgesetzes 2004
(Beifall bei der SPD) – Drucksache 17/3632 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7639
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (C)
Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än- LINKE
derungsprotokoll vom 25. Mai 2010 zum Ab-
kommen vom 17. Oktober 1962 zwischen der Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn
Bundesrepublik Deutschland und Irland zur durch offene Planung beseitigen
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
– Drucksache 17/3659 –
Verhinderung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
sowie der Gewerbesteuer Haushaltsausschuss
– Drucksache 17/3358 – ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Überweisungsvorschlag: Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
Finanzausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Tierschutz bei Katzen verbessern
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Umwandlungsgesetzes – Drucksache 17/3653 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/3122 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike
Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz stärken – Tierheime entlasten
Mehr Flexibilität und Transparenz bei der
(B) Pandemiebekämpfung – Drucksache 17/3543 – (D)
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/3544 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung umsetzen zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über
– Drucksache 17/3652 –
Rechte der Verbraucher KOM(2008)614
Überweisungsvorschlag: endg.; Ratsdok. 14183/08
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Verbraucherschutz Grundgesetzes
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Modernes Verbraucherrecht für Europa ent-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wickeln
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 17/3675 –
Überweisungsvorschlag:
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rechtsausschuss (f)
Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verbraucherschutz (f)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Modellversuche mit Gigalinern beenden –
Umweltorientierten Aktionsplan Güterver- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
kehr und Logistik auf den Weg bringen Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
– Drucksache 17/3674 – DIE GRÜNEN
7640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon- Luftverkehrsraums (Vertragsgesetz ECAA- (C)
vention 169 ratifizieren Übereinkommen – ECAAÜbkG)
– Drucksache 17/3676 – – Drucksache 17/2068 –
Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (15. Ausschuss)
Entwicklung
– Drucksache 17/3396 –
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Gottschalck
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisun- Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
gen. Das sind die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g so- lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
wie Zusatzpunkte 2 a, 2 b und 2 d. Interfraktionell wird Drucksache 17/3396, den Gesetzentwurf der Bundesre-
vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung gierung auf Drucksache 17/2068 anzunehmen. Ich bitte
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
Drucksache 17/3632 – das ist der Tagesordnungs- um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
punkt 37 a – soll federführend beim Finanzausschuss be- tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
raten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der tung bei Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. der übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu einer Vorlage, bei der die Fe- Dritte Beratung
derführung strittig ist. Es handelt sich um den Zusatz- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
punkt 2 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vor- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
lage auf Drucksache 17/3675 an die in der Tagesordnung Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthal-
der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim tung der Fraktion Die Linke angenommen.
Rechtsausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Tagesordnungspunkt 38 b:
Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag zur Aufhebung des Freihafens Hamburg
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung
(B) beim Landwirtschaftsausschuss – abstimmen. Wer – Drucksache 17/3353 – (D)
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs- schusses (7. Ausschuss)
vorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abge- – Drucksache 17/3682 –
lehnt. Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Dr. Carsten Sieling
Fraktionen CDU/CSU und FDP – Federführung beim Dr. Birgit Reinemund
Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit dem empfehlung auf Drucksache 17/3682, den Gesetzent-
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3353 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 q auf. zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Zunächst Tagesordnungspunkt 38 a: Dritte Beratung

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
zu dem Übereinkommen vom 9. Juni 2006 zwi- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
schen der Europäischen Gemeinschaft und ih- wurf ist damit ebenso einstimmig angenommen.
ren Mitgliedstaaten, der Republik Albanien, Tagesordnungspunkt 38 c:
Bosnien und Herzegowina, der Republik Bul-
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
garien, der ehemaligen jugoslawischen Repu-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
blik Mazedonien, der Republik Island, der Re-
zur Vereinbarung vom 20. April 2010 zwi-
publik Kroatien, der Republik Montenegro,
schen der Regierung der Bundesrepublik
dem Königreich Norwegen, Rumänien, der
Deutschland und der Regierung von Quebec
Republik Serbien und der Übergangsverwal-
über Soziale Sicherheit
tung der Vereinten Nationen in Kosovo zur
Schaffung eines gemeinsamen europäischen – Drucksache 17/3120 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7641
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (C)
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) 9. März 2009 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
– Drucksache 17/3575 – rung der Französischen Republik über die Zu-
Berichterstattung: sammenarbeit im Bereich der Sicherheit im
Abgeordneter Josip Juratovic Luftraum bei Bedrohungen durch zivile Luft-
fahrzeuge
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3575, – Drucksache 17/3125 –
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/3120 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – gungsausschusses (12. Ausschuss)
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
– Drucksache 17/3661 –
wurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Michael Groschek
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Joachim Spatz
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Paul Schäfer (Köln)
wurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. Omid Nouripour
Tagesordnungspunkt 38 d: Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des schlussempfehlung auf Drucksache 17/3661, den Gesetz-
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3125
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom anzunehmen.
24. Oktober 2008 zwischen der Regierung der Zweite Beratung
Bundesrepublik Deutschland, der Regierung
des Königreichs Belgien, der Regierung der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Französischen Republik und der Regierung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
des Großherzogtums Luxemburg zur Einrich- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
tung und zum Betrieb eines Gemeinsamen wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
(B) Zentrums der Polizei- und Zollzusammenar- gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü- (D)
beit im gemeinsamen Grenzgebiet nen angenommen.
– Drucksache 17/3117 – Tagesordnungspunkt 38 f:
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
schusses (4. Ausschuss) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
– Drucksache 17/3500 – und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein) Verordnung zur Anpassung umweltrechtlicher
Wolfgang Gunkel Verordnungen an die Terminologie der Ver-
Gisela Piltz ordnung (EG) Nr. 1272/2008
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland – Drucksachen 17/3476, 17/3578 Nr. 2, 17/3657 –

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Berichterstattung:


empfehlung auf Drucksache 17/3500, den Gesetzent- Abgeordnete Dr. Michael Paul
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3117 an- Dr. Matthias Miersch
zunehmen. Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Zweite Beratung Dorothea Steiner
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – lung auf Drucksache 17/3657, der Verordnung auf
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Drucksache 17/3476 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
nis 90/Die Grünen angenommen. men des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die
Tagesordnungspunkt 38 e: Linke angenommen.
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Tagesordnungspunkte 38 g bis 38 q. Wir kommen zu
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
7642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Tagesordnungspunkt 38 g: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C)
tungen? – Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion ange-
ausschusses (2. Ausschuss) nommen.
Sammelübersicht 153 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 38 m:
– Drucksache 17/3455 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ausschusses (2. Ausschuss)
tungen? – Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig an- Sammelübersicht 159 zu Petitionen
genommen.
– Drucksache 17/3461 –
Tagesordnungspunkt 38 h:
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tungen? – Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen
ausschusses (2. Ausschuss) von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
Sammelübersicht 154 zu Petitionen der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.

– Drucksache 17/3456 – Tagesordnungspunkt 38 n:

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
tungen? – Die Sammelübersicht 154 ist einstimmig an- ausschusses (2. Ausschuss)
genommen. Sammelübersicht 160 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 38 i: – Drucksache 17/3462 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen
Sammelübersicht 155 zu Petitionen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
– Drucksache 17/3457 –
Tagesordnungspunkt 38 o:
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der ausschusses (2. Ausschuss)
(B) Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Sammelübersicht 161 zu Petitionen (D)

Tagesordnungspunkt 38 j: – Drucksache 17/3463 –


Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
ausschusses (2. Ausschuss) tungen? – Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
von SPD und Grünen angenommen.
– Drucksache 17/3458 – Tagesordnungspunkt 38 p:
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
tungen? – Die Sammelübersicht 156 ist einstimmig an- ausschusses (2. Ausschuss)
genommen.
Sammelübersicht 162 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 38 k:
– Drucksache 17/3464 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stimmen
Sammelübersicht 157 zu Petitionen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD
– Drucksache 17/3459 – und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Tagesordnungspunkt 38 q:
gen? – Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenom- ausschusses (2. Ausschuss)
men.
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 38 l:
– Drucksache 17/3465 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Hierzu liegt eine Erklärung gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung des Abgeordneten Ilja Seifert schriftlich vor.1)
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
– Drucksache 17/3460 – 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7643
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Wer stimmt für die Sammelübersicht 163? – Wer Um es für die SPD ganz deutlich zu sagen: Wir begrü- (C)
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber- ßen diesen Bestandsschutz für die Gewerbesteuer aus-
sicht 163 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak- drücklich.
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
(Beifall bei der SPD)
nen angenommen.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass Herr Schäuble jetzt of-
Damit sind wir am Schluss dieser Abstimmungs-
fensichtlich zu der Einsicht gelangt ist, dass die Gewer-
runde.
besteuer derzeit weder ausgehöhlt noch abgeschafft wer-
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: den darf. Persönlich vertritt er übrigens seit Jahrzehnten
eine andere Meinung. Ich hoffe allerdings, dass auf das
Aktuelle Stunde Wort des Bundesfinanzministers gegenüber den kommu-
auf Verlangen der Fraktion der SPD nalen Spitzenverbänden auch tatsächlich Verlass ist und
hier nicht wieder übel getrickst wird.
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Bundesregierung über die Reform der Kom- Auch die Bundeskanzlerin hat gegenüber den Kom-
munalfinanzen munen den Weiterbestand der Gewerbesteuer zugesi-
chert. Aber was gilt das Wort von beiden in der zerstrit-
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen tenen und unübersichtlichen schwarz-gelben Koalition
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort. überhaupt noch? Die sofortige und geharnischte Ableh-
(Beifall bei der SPD) nung von Schäubles Gewerbesteuergarantie durch die
FDP bedeutet nicht Gutes. Die FDP will die Gewerbe-
Joachim Poß (SPD):
steuer weg haben, koste es, was es wolle, und koste es
auch in den Kommunen die Einbuße an Lebensqualität
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
und Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger.
Steuerpolitik bleibt der zentrale Brandherd in der
schwarz-gelben Koalition. Nur bei einer steuerpoliti- (Patrick Döring [FDP]: Ist doch Quatsch! Sie
schen Frage hat es in der schwarz-gelben Regierungsko- sollten unser Programm mal lesen!)
alition einen inhaltlichen Konsens gegeben, nämlich bei
Ihnen ist das egal, wenn Sie nur Ihre Klientel- und Lob-
der Hotelsteuer und den Privilegien für Unternehmen
bypolitik hier im Deutschen Bundestag konsequent um-
und Unternehmenserben. Das war der einzige Fall, bei
setzen können.
dem es Übereinstimmung gab. Ansonsten setzt sich auch
bei den kommunalen Steuern der permanente Streit in (Beifall bei der SPD)
der Koalition nahtlos fort. Auch das Gerede von Frau
(B)
Merkel vom Neuanfang nach dem Sommer, vom Ende Auch in CSU und CDU wird immer noch verlangt, (D)
des stetigen und quälenden Koalitionsstreits – bei eini- dass die Unternehmensteuerreform, die wir zum Jahre
gen hier sieht man, dass es sich schon in den Gesichtern 2008 gemeinsam gemacht haben, im Interesse der Unter-
abbildet, wie anstrengend dieser Streit ist – und der ge- nehmen wieder aufgeribbelt wird. Dabei waren wir uns
genseitigen Angriffe, das war eben nur Gerede und der in der Großen Koalition mit den Finanz- und Kommu-
Versuch, in der Öffentlichkeit eine etwas bessere Mei- nalpolitikern der Union und mit Herrn Kauder einig, die
nung über Schwarz-Gelb zu schaffen. Gelungen ist das Gewerbesteuer zur eigentlichen Unternehmensteuer zu
nicht. machen, weil die Körperschaftsteuer das in der globali-
sierten Wirtschaftswelt auf Dauer nicht mehr hergibt. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sibylle fordere die Spitzen von CDU und CSU auf, sich daran
Pfeiffer [CDU/CSU]: Zur Sache!) zu erinnern und diese richtige steuerpolitische Linie wei-
ter zu verfolgen.
– Was heißt hier „zur Sache“? Gibt es denn eine wichti-
gere Sache, als dass die deutsche Bevölkerung erwarten Der zweite Vorschlag – das kommunale Zuschlags-
kann, als dass die Wählerinnen und Wähler erwarten recht auf die Einkommensteuer – führt nicht weiter. Es
können, dass wir hier von Ihnen eine klare Aussage, eine gibt dazu Untersuchungen aus über drei Jahrzehnten, die
klare Linie in der Frage der Kommunalfinanzen bekom- immer zu dem Ergebnis „untauglich“ kamen. Das ist ein
men, die mit über die Lebensqualität vor Ort entschei- Spaltervorschlag, mit dem zwischen strukturschwachen
den? Gibt es denn eine wichtigere Sache, meine Damen Städten und Gemeinden auf der einen Seite und struktur-
und Herren? Überlegen Sie sich mal solche Zwischen- starken auf der anderen Seite gespalten wird.
rufe.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, eben!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es bleibt bestehen, was es da an Dissens gibt. Das können Sie gleich einpacken, meine Damen und
Herren, und zwar sowohl aus fachlichen als auch aus
Da hat es der Bundesfinanzminister doch tatsächlich
politischen Gründen.
gewagt, die Gewerbesteuer bis auf Weiteres für unantast-
bar zu erklären, ohne Herrn Brüderle und Herrn Wir müssen sehen, dass wir trotz der aktuellen Erho-
Westerwelle zu fragen. Die gesamte FDP-Bundestags- lung der Einnahmen – auch der Einnahmen der Gemein-
fraktion ist hier richtig sauer, von Herrn Schäuble so den – den Level von 2008 noch nicht wieder erreicht
schnöde übergangen worden zu sein. Sie hat sogar einen haben und die strukturellen Finanzprobleme der Ge-
entsprechenden einstimmigen Beschluss gefasst. meinden weiterhin bestehen.
7644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Joachim Poß
(A) Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister haben die Grundsicherung im Alter eingeführt, ohne den (C)
sagen jetzt, dass sie die Kommunen bei den Sozialausga- Kommunen dafür genug Geld in die Hand zu geben.
ben finanziell entlasten wollen. Die SPD hat das auf ih-
rem letzten Parteitag bereits so beschlossen. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
können wir schon heute in der Bereinigungssitzung des Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Haushaltsausschusses und dann im Plenum des Deut- NEN]: Das stimmt doch gar nicht!)
schen Bundestages gemeinsam mit den Ankündigungen Sie haben bei den Kosten der Unterkunft immer zulasten
Ernst machen der Kommunen gespart. Es war Ihr Minister, Herr
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Clement, der im Jahr 2005 den Anteil des Bundes bei
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den Kosten der Unterkunft auf null setzen wollte.
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und die Kommunen zum Beispiel bei den Kosten der Die SPD trägt die Verantwortung für diese Lasten. Sie
Unterkunft oder bei der Grundsicherung im Alter entlas- wurden den Kommunen aufgebürdet und nicht durch
ten. entsprechende Mittel aus dem Bundeshaushalt ausgegli-
Wir können mit der Hilfe für die Kommunen auch chen.
Ernst machen, indem wir die schwarz-gelben Kürzungen Wir wollen das Problem jetzt grundsätzlich lösen.
bei der Städtebauförderung zurücknehmen. Die Pro- Lieber Herr Poß, wiegen Sie die Kommunen nicht in ei-
gramme im Rahmen der Städtebauförderung sind auch ner falschen Sicherheit bezüglich der Gewerbesteuer.
ein wichtiges Stück Sozialpolitik in den Kommunen. Es Bundesminister Schäuble hat bei dem Gespräch mit den
geht nicht nur um Investitionen, sondern auch um den Kommunen, das diese erbeten hatten, auf eines hinge-
Zusammenhalt in vielen Stadtteilen, in denen dies nötig wiesen, nämlich darauf, dass wir eine Rechtsprechung
ist. haben, vor der auch Sie die Augen nicht verschließen
Wir können den Kommunen also helfen. Dafür brau- können. Ich denke an das BFH-Urteil vom Juni dieses
chen wir aber Ihre Stimmen. Wir werden sehen, ob wir Jahres. Erweiterte Verrechnungsmöglichkeiten auch aus-
sie bekommen. ländischer Verluste zulasten der Gewerbesteuer werden
zunehmend durch die Rechtsprechung des Bundesfi-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nanzhofs anerkannt.
DIE GRÜNEN)
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr
richtig!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse- Das heißt, die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen (D)
kretär im Finanzministerium Hartmut Koschyk. Form ist auch im Hinblick auf Tendenzen in der deutschen
Finanzgerichtsrechtsprechung und auf europäische Ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wicklungen längst unter Druck. Das gilt insbesondere im
Hinblick auf gewerbesteuerliche Verlustvorträge in be-
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- trächtlicher Höhe, die das künftige Gewerbesteuerauf-
desminister der Finanzen: kommen gefährden, insbesondere wenn die von mir er-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wähnte Rechtsprechung anhält und sich verfestigen
Lieber Herr Poß, so ist es immer, wenn die SPD im sollte. Deshalb muss man grundsätzlich über das Pro-
Deutschen Bundestag Debatten über die Zukunft der fi- blem sprechen.
nanziellen Situation unserer Kommunen beantragt: Es
gibt nur lautes Getöse und Klamauk, aber es gibt über- (Joachim Poß [SPD]: Das ist eine politische
haupt nichts an Substanz, das unseren Kommunen zu Drohung!)
mehr Entlastung auf der Ausgabenseite verhilft und ihre Wir werben dafür, dass wir mit den Kommunen in dieser
Einnahmesituation stetig und kontinuierlich verbessert. Kommission möglichst gemeinsam zu einer Lösung
Sie haben viel Lärm gemacht, aber Sie haben überhaupt kommen.
nichts an Substanz geboten.
Ich möchte jetzt noch eine andere Frage stellen. Die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kommunen brauchen doch mehr Autonomie, sowohl auf
Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wis- der Ausgabenseite als auch auf der Einnahmeseite.
sen die Kommunen besser!)
(Bernd Scheelen [SPD]: Wer sagt das?)
Diese Bundesregierung hat eine Regierungskommis-
sion eingesetzt, die sowohl die Einnahmesituation der – Das wollen die Kommunen, lieber Herr Scheelen.
Kommunen als auch die Ausgabenseite der Kommunen (Bernd Scheelen [SPD]: Das wollen die Län-
betrachten soll, die sich aber auch um eine Verbesserung der nicht, und die Kommunen wollen es auch
der Rechtsstellung der Kommunen bemüht. Denn viel zu nicht!)
oft werden europäische und bundesgesetzliche Vorgaben
auf den Weg gebracht, ohne danach zu fragen, was es die Ich habe an den beiden Sitzungen der Gemeindereform-
Kommunen kostet. Darin, lieber Herr Poß, ist Ihre Frak- kommission teilgenommen. Dort haben vor allem die
tion gemeinsam mit den Grünen Meister in Deutschland Kommunen darum gebeten, dass wir ihnen auch im Hin-
gewesen, als Sie in Regierungsverantwortung waren. Sie blick auf die Sozialstandards, also bezüglich ihrer Situa-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7645
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(A) tion auf der Ausgabenseite, größere Spielräume an die Wir wollen mit der Politik, die darin besteht, die (C)
Hand geben. Kommunen zu alimentieren und am Tropf zu halten,
Schluss machen.
(Joachim Poß [SPD]: Das ist doch etwas ganz
anderes!) (Nicolette Kressl [SPD]: Glauben Sie eigent-
Diese Bundesregierung hat gehandelt. Es war der lich, was Sie da erzählen? Das glauben Sie
Bundesfinanzminister, doch wohl selbst nicht!)

(Joachim Poß [SPD]: CDU-Leute sind für Ab- Wir wollen mit den Kommunen zu einvernehmlichen
lenkung immer gut!) Lösungen kommen. Wir wollen, dass sie mehr Gestal-
tungsmöglichkeiten auf der Einnahmeseite bekommen,
der gesagt hat, dass er den Kommunen bei der im Ge- dass sich ihre Einnahmesituation verbessert und dass sie
setzgebungsverfahren befindlichen Neuregelung der Re- nicht von der volatilen Entwicklung bei den Steuerein-
gelsätze für SGB-II-Empfänger durch Satzungsrecht die nahmen abhängig sind.
Möglichkeit an die Hand geben will, bei den Kosten der
Unterkunft größere Spielräume zu bekommen, auch mit (Nicolette Kressl [SPD]: Keine Ahnung, der
Blick auf die Festlegung einer regional unterschiedli- Mann!)
chen Höhe der Regelsätze. Das ist ein erster wichtiger Sie sollen aber auch auf der Ausgabenseite mehr Gestal-
Schritt. tungsmöglichkeiten bekommen.
Die Arbeitsgruppe „Standards“ der Gemeindereform- Wir werden zu Ergebnissen kommen, die für die
kommission hat fast 100 Vorschläge zusammengetragen, Kommunen eine bessere Zukunft bedeuten. Als Sie in
um die Kommunen auf der Ausgabenseite zu entlasten. Deutschland regiert haben, haben Sie das nie geschafft.
Wir wollen den Kommunen aber auch auf der Einnah- Wir allerdings werden für eine bessere Zukunft der
meseite größere Spielräume und mehr Gestaltungshoheit Kommunen sorgen.
ermöglichen.
Herzlichen Dank.
Lieber Herr Poß, dass Sie den Vorschlag, über ein Zu-
schlagsrecht, ein Gestaltungsrecht, bei der Einkommen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
steuer nachzudenken, mit einem einzigen Satz abgebü- Joachim Poß [SPD]: Wir haben diese Rege-
gelt haben, zeigt, wie leicht Sie es sich in dieser Sache lung doch gemeinsam getroffen! Sie haben
machen. wohl vergessen, was im Jahre 1998 war! –
Nicolette Kressl [SPD]: So ein Blödsinn! –
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Darüber ha-
Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie haben
(B) ben wir schon länger nachgedacht!) (D)
zwar immer mit dem Finger auf uns gezeigt,
– Nein, Sie haben nicht darüber nachgedacht. aber gemeint haben Sie andere!)
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Natürlich! Schon vor Jahren!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Katrin Kunert für die Fraktion Die
Wenn Sie darüber nachgedacht hätten, dann würden Sie Linke.
diese Möglichkeit nicht von vornherein zu den Akten le-
gen. (Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir haben
doch schon im Rahmen der Föderalismuskom- Katrin Kunert (DIE LINKE):
mission gesagt, dass das viel günstiger wäre!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koschyk, heute ist der 11. November. War das ge-
Bei der Gewerbesteuer haben die Kommunen Gestal- rade der Einstieg in den Karneval?
tungsmöglichkeiten. Dieser Gewerbesteuerwettbewerb
wirkt sich dämpfend aus. Warum soll es einen solchen (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und
gesunden Wettbewerb, bei dem es um mehr Gestaltungs- der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/
möglichkeiten der Kommunen geht, nicht auch bei der CSU]: Unglaublich! Sie vergleichen die Situa-
Einkommensteuer geben? Sie sind nicht daran interes- tion der Kommunen mit Fasching! –
siert, weil Sie kommunale Selbstverwaltung mit Gestal- Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer-
tungsmöglichkeiten der Kommunen auf der Einnahme- den Sie mal ernsthaft! Oder sind Sie die Fa-
wie der Ausgabenseite in Wahrheit gar nicht wollen. schingsprinzessin?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Die Kommunen sind in Not. In vielen Resolutionen,
chen bei der SPD) die unsere Büros erreichen, wird deutlich, dass die Le-
bensqualität in den Kommunen so nicht aufrechterhalten
Sie wollen, dass die Kommunen auf Dauer Subsi-
werden kann – und die Bundesregierung streitet sich.
dienempfänger sind und ihr Schicksal sowohl auf der
Die Kommunen sind in Not, weil beim Kernstück der
Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite nicht selbst in
kommunalen Selbstverwaltung, den sogenannten frei-
die Hand nehmen können.
willigen Aufgaben, immer mehr gestrichen wird. Kultur-
(Joachim Poß [SPD]: Wovon reden wir denn und Sportförderung, Seniorenbetreuung, Kinder- und Ju-
die ganze Zeit?) gendarbeit, Bibliotheken oder Ausbildungen im öffentli-
7646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Katrin Kunert
(A) chen Dienst sind vor Ort kaum noch aufrechtzuerhalten. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das machen wir (C)
Das ist die Realität. doch! – Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost
[DIE LINKE]: Weil wir das immer beantra-
Die Koalition sagt, eine vernünftige Reform der gen!)
Kommunalfinanzen sei ihr ein wichtiges Anliegen. Die
Bundesregierung hat eine Gemeindefinanzkommission – Deshalb streiten Sie sich auch, Herr Kollege Volk. –
eingerichtet. Diese Kommission soll Vorschläge zur Lö- Schwarz-Gelb bevorzugt aber das stille Kämmerlein und
sung der drängenden Probleme des kommunalen Finanz- kommt trotzdem zu keinem guten Ergebnis für die Kom-
systems erarbeiten und bewerten. Geprüft werden soll munen.
ein Vorschlag der FDP, die die Gewerbesteuer abschaf-
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das
fen will. Geprüft werden soll auch ein Vorschlag der
passt doch überhaupt nicht!)
Kommunen, die die Gewerbesteuer weiterentwickeln
wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie sind
doch so sehr für Lobbyarbeit. Warum haben die Kom-
Soweit bekannt ist, hat die Gemeindefinanzkommis- munen in puncto Gewerbesteuer keine Lobby bei Ihnen?
sion ihre Arbeit noch nicht beendet. Bisher hieß es von- Das frage ich Sie wirklich.
seiten der Koalition immer, man müsse erst die Ergeb-
nisse der Arbeit der Kommission abwarten, ehe eine (Dr. Daniel Volk [FDP]: Weil die Gewerbe-
öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommunal- steuer eine volatile Einnahmequelle ist! – Ge-
finanzen geführt werden könne. Deshalb lehnten die Ko- genruf des Abg. Bernd Scheelen [SPD]: Da-
alitionsfraktionen im Finanzausschuss unseren Antrag, von hat der Volk doch keine Ahnung!)
die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer
Bei Ihrem Streit in der Koalition geht derzeit auch
auszubauen, ab. Gemeindewirtschaftsteuer bedeutet:
vollkommen unter, dass wir im Bundestag nach wie vor
Alle, die in einer Gemeinde wirtschaften, sollen sich an
über Gesetzentwürfe diskutieren und Gesetze beschlie-
dieser Steuer beteiligen. Wir sagen: Das ist der richtige
ßen, die zu weiteren Mehrausgaben bei den Kommunen
Weg.
führen werden. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen:
(Beifall bei der LINKEN) In Tagesordnungspunkt 24 geht es heute um den Gesetz-
entwurf zur Änderung des Vormundschafts- und Betreu-
Auch hier lautete die Begründung der Ablehnung, ungsrechts. Für die Betroffenen ist das völlig in Ord-
man könne der Kommission doch nicht vorgreifen. Die nung; der Betreuungsschlüssel wird verbessert, weil er
Bundesregierung habe diese Kommission gebildet, um verkleinert wird. Dies führt aber genau zu einer Verdop-
prüfen zu lassen, ob die Gewerbesteuer auch durch an- pelung der Personalkosten bei den Kommunen. Das ver-
(B) dere Steuern ersetzt werden könne. gessen Sie bei diesem Streit völlig. (D)
Doch in der letzten Woche preschte Ihr Finanzminis- Die Aufgaben, die von den Kommunen zu erledigen
ter vor, und er ließ einen Testballon steigen. Er bietet den sind, werden vom Bund immer mehr ausgeweitet. Dabei
Kommunen ein vergiftetes Geschenk an; vergiftet des- denken Sie nicht im Geringsten an eine angemessene Fi-
halb, weil die Schere zwischen armen und reichen Kom- nanzierung. Wenn der Bund all das bezahlen würde, was
munen durch diesen Wettbewerb weiter geöffnet wird. hier beschlossen wird, dann wäre den Kommunen die
Das kann nicht wirklich ihr Ernst sein. größte finanzielle Last genommen. Das müsste doch ei-
gentlich der richtige Weg sein.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Da die Kommunen gegen die Abschaffung der Ge-
werbesteuer sind und die CDU/CSU immer gesagt hat, Die Linke fordert erstens, die Gewerbesteuer zu einer
sie werde nichts gegen die Kommunen beschließen, will Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Im Übri-
der Finanzminister die Kommunen nun ködern. Die FDP gen ist es sehr bemerkenswert, dass der Landtag in NRW
lehnt diesen Vorstoß ab und will sich nun am 18. No- den Antrag der Linken angenommen hat, die Gewerbe-
vember 2010 im Koalitionsausschuss damit befassen. steuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwi-
ckeln. Ich hoffe, dass Sie im Bundesrat aktiv werden, um
Die Gemeindefinanzkommission arbeitet immer hin- der Gemeindefinanzkommission etwas Unterstützung zu
ter verschlossenen Türen. Herr Schäuble und Herr leisten.
de Maizière haben sich bisher immer geweigert, die zu-
ständigen Gremien des Bundestages über ihre Arbeit zu Zweitens wollen wir, dass der Bund die Aufgaben, die
unterrichten. er bestimmt, auch mitfinanziert.
(Patrick Döring [FDP]: Er hat doch gerade ge- Drittens fordern wir nach wie vor ein verbindliches
redet!) Mitwirkungsrecht der Kommunen bei der Gesetzgebung
hier im Bundestag.
Die Linke hat von Anfang an gefordert, die Arbeit dieser
Kommission transparent zu gestalten. Herzlichen Dank.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Daniel Volk
[FDP]: Also Rot-Rot-Grün! – Joachim Poß
Die Gremien des Bundestages und die Öffentlichkeit [SPD]: Da hat Röttgen viel zu tun! 20 Milliar-
müssen regelmäßig informiert werden. den hat die CDU in NRW gefordert!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7647

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Man kann wie die SPD die Augen vor dem Problem (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing verschließen – das haben Sie jahrelang getan –, oder
von der FDP-Fraktion. man kann einen so wenig kreativen Vorschlag bringen
wie die Verstetigung der Gewerbesteuer, wie es die SPD
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von morgens bis abends predigt. Für die vielen Zuhörer
der CDU/CSU) am Bildschirm wie auch in diesem Saal will ich erläu-
tern, was „Verstetigung der Gewerbesteuer“ bedeutet:
Dr. Volker Wissing (FDP): Wenn die Einnahmen der Unternehmen nicht ausreichen,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich um genügend Steuern erwirtschaften zu können, dann
will zunächst einmal zurückweisen, dass die Gremien muss man eben auch Steuern auf die Ausgaben der Un-
des Bundestages von der Bundesregierung nicht über die ternehmen erheben. Das ist der Vorschlag der SPD.
Arbeit dieser Gemeindefinanzkommission unterrichtet (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ge-
werden. nauso ist es! Substanzbesteuerung! – Thomas
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weil wir das Oppermann [SPD]: Sie wissen genau, dass das
auf die Tagesordnung setzen!) nicht stimmt!)
Das wissen Sie möglicherweise nicht, Frau Kollegin, Das bedeutet, dass die Unternehmen, wenn ihre Ge-
weil Sie den betreffenden Gremien nicht angehören. Der winne in einer Krise zurückgehen, die Steuern aus ihrer
Staatssekretär unterrichtet im Finanzausschuss regelmä- Substanz bezahlen und daher Arbeitsplätze abbauen
ßig über den Fortgang, und uns werden auch entspre- müssen. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt un-
chende Dokumente zur Verfügung gestellt. Ich bin mir serer Gesellschaft.
sicher, die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion wer- Dazu sagt die FDP: Das kann kein fairer Weg für
den sie an Sie weiterleiten. Wenn Sie Interesse daran ha- Deutschland sein. Deswegen haben wir die Substanzbe-
ben, dann können Sie das nachlesen. steuerung, die Sie als Scheinlösung auf dem Rücken der
(Beifall bei der FDP) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeführt ha-
ben, zum 1. Januar 2010 wieder beseitigt. Das ist eine
Ich möchte zur Versachlichung zunächst eines sagen: der Ursachen, weshalb die Arbeitslosenzahlen in
Es gibt auf allen Ebenen erhebliche Probleme – auch kri- Deutschland stark rückläufig sind.
senbedingt –, die in den nächsten Jahren erfreulicher-
weise geringer werden, weil wir mit Steuermehreinnah- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim
men rechnen können. Wir sind froh, dass wir ein so Poß [SPD]: Das ist ja wirr! Jetzt wird es kon-
gesundes Wirtschaftswachstum in Deutschland haben, fus!)
(B) dass die Entscheidungen dieser christlich-liberalen Ko- (D)
Deswegen können wir auch nicht zu Ihrem falschen Weg
alition Früchte tragen und dass wir niedrige Arbeitslo- zurückkehren. Wir müssen vielmehr den richtigen Weg
senzahlen haben. der christlich-liberalen Koalition fortsetzen: Ertragsbe-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Schulden- steuerung statt Substanzbesteuerung.
wachstumsbeschleunigungsgesetz!) (Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidel-
Fest steht, dass die Kommunen bei den Einnahmen berg] [SPD]: Es geht nicht um Substanzbe-
bereits im Jahr 2012 wieder das Vorkrisenniveau errei- steuerung!)
chen, während der Bund dieses erst im Jahr 2013 er- Damit stehen Sie, Herr Kollege Poß, und Ihre ganze
reicht. Es ist also nicht so, wie der Kollege Poß das im- Fraktion nackt da, weil Ihr vermeintlicher Vorschlag als
mer darzustellen versucht, dass nämlich das größte Pseudolösung entlarvt ist und Sie nichts anderes anzu-
Einnahmeproblem auf kommunaler Ebene besteht. Das bieten haben.
muss man einmal festhalten.
(Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidel-
Trotzdem hat die christlich-liberale Koalition gesagt: berg] [SPD]: Aber Sie können ja mal ein Wort
Wir müssen dauerhaft stabile Einnahmen bei den Kom- zur Konzernbesteuerung sagen, was Sie da an-
munen erreichen. Wir wollen eine Reformkommission gerichtet haben!)
einsetzen, die sich um das Problem der Schwäche der
Gewerbesteuer kümmert. Deswegen ist die Gewerbesteuer ein Problem. Man
kann nicht wie die Kommunen in der Finanzreformkom-
Bei der Gewerbesteuer besteht das Problem, dass sie mission sagen: Wir haben ein Problem mit der Gewerbe-
in konjunkturellen Schwächephasen wegbricht, während steuer, aber bevor wir darüber reden, sagen wir gleich,
die Ausgaben der Kommunen konstant bleiben. Das be- dass die Gewerbesteuer bleiben muss. – Das akzeptieren
trifft übrigens nicht alle Kommunen. Ausgerechnet die- wir nicht. Denn der Kern des Problems liegt in der Vola-
jenigen, deren Oberbürgermeister in den kommunalen tilität dieser Steuer. Deshalb muss man, wenn man das
Spitzenverbänden aktiv sind, haben das Problem nicht. Problem nachhaltig lösen will, diese Steuer infrage stel-
Deswegen appelliere ich an alle Bürgermeisterinnen und len. Genau das tut die FDP.
Bürgermeister, die Probleme mit der Gewerbesteuer ha- (Beifall bei der FDP)
ben, sich für Reformen offen zu zeigen; denn diese brau-
chen wir. Sie konstruieren jetzt einen Riesenstreit.
(Beifall bei der FDP) (Bernd Scheelen [SPD]: Unglaublich!)
7648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Volker Wissing


(A) Bei allen Steuerfragen – ob nun unter Rot-Grün oder (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Rot-Schwarz – sagt die SPD: Das haben wir nur deshalb der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie
mitgemacht, weil wir dazu gezwungen worden sind. schwafeln immer, aber heute ganz besonders
stark!)
(Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD])
Die FDP verhält sich nicht so wie Sie. Wir tragen den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
faulen Kompromiss, den die Kommunen der Bundesre- Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von
gierung aufs Auge zu drücken versuchen, nicht mit. Wir Bündnis 90/Die Grünen.
sagen von vornherein Nein. Denn was die Kommunen
wollen, nämlich eine Verstetigung der Gewerbesteuer Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und eine Lösung zulasten der Arbeitnehmerinnen und Herr Wissing, nur gut, dass Sie nur fünf Minuten Re-
Arbeitnehmer durch Erhöhung der Einkommensteuer, dezeit hatten, sonst wären wir heute nicht über die Sit-
(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist Kabarett!) zung gekommen.

ist nicht der Weg, den wir uns vorstellen. Wir wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
eine substanzielle und nachhaltige Lösung, aber nicht bei der SPD und der LINKEN)
auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
mer. Wir wollen auch keine Lösung, wie Sie sie vor- Kollegen! Liebe Bürgermeisterinnen und Bürgermeister,
schlagen, die Arbeitsplätze gefährdet. die die heutige Debatte am Fernseher verfolgen! Man
(Joachim Poß [SPD]: Wie kann man nur den hätte fast annehmen können, die Gemeindefinanzkom-
ganzen Tag lang so viel Unsinn erzählen?) mission wäre ein Projekt, bei dem Schwarz und Gelb die
gleiche Meinung vertreten und gemeinsam zu einem Er-
Wir sind froh, dass durch diese Koalition wieder Sta- gebnis kommen. Der Vorschlag des Bundesfinanzminis-
bilität am Arbeitsmarkt erreicht werden konnte. Was Sie ters, den Kommunen die Beibehaltung der Gewerbe-
vorschlagen, bedeutet die Rückkehr zu den Problemen, steuer zu garantieren, hatte aber nicht einen Tag Bestand.
die wir unter Rot-Grün und der Großen Koalition hatten. Im Gegensatz zur FDP, die dafür eintritt, dass wir auf je-
Die wird es aber nicht mehr geben. den Fall zu einer Abschaffung der Gewerbesteuer kom-
men, hat Wolfgang Schäuble in seinem Vorschlag an die
(Thomas Oppermann [SPD]: Was schlagen Sie kommunalen Spitzenverbände deutlich gemacht, dass es
denn vor? Wir haben noch keinen Vorschlag bei der Gewerbesteuer bleibt und es ein kommunales Zu-
gehört! Was ist die FDP-Position? – Joachim schlagsrecht auf die Einkommensteuer geben soll.
(B) Poß [SPD]: Der redet nur drum herum!) (D)
Ich halte von diesem Vorschlag nichts und werde auch
Deswegen gibt es das klare Votum der FDP-Fraktion. gleich sagen, warum. Aber tun Sie bitte nicht so, als
Jetzt muss in der Reformkommission ein konstrukti- gäbe es eine konsequente Linie von Schwarz-Gelb. Wie
ver und nachhaltiger Vorschlag erarbeitet werden, dem bei allen anderen substanziellen Fragen in diesem Haus
wir uns dann in aller Ruhe und mit aller Sorgfalt widmen haben Sie keine gemeinsame Linie.
werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir se- bei der SPD und der LINKEN)
hen uns wieder bei der Heidelberger Fast- Es hat noch nicht einmal einen Tag gedauert, bis Ihre
nacht!) Landesführungen angefangen haben, sich von dem Vor-
schlag von Wolfgang Schäuble zu distanzieren.
Aber erst die Dinge abzunicken, wie Sie es getan haben,
und dann zu sagen, man habe nichts damit zu tun: Das (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo-
machen wir nicht. her wissen Sie denn das?)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) – Ich weiß das, weil ich Zeitung lese, Herr Michelbach.
Zu einem guten Klima in einer Koalition gehört auch, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
dass ein Koalitionspartner sagt: Das ist der Rubikon; den SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –
überschreiten wir nicht. Das ist für uns nicht diskutabel. – Joachim Poß [SPD]: Sie sollten das mal ma-
Das haben wir in dieser Woche getan. chen!)
(Thomas Oppermann [SPD]: Zu mehr hat die Zum Beispiel hat der niedersächsische Minister Jörg
Kraft nicht gereicht! – Bernd Scheelen [SPD]: Bode erklärt, dieser Vorschlag habe keine Substanz.
Passen Sie mal auf, dass Sie nicht über die Selbst Schäuble, der Minister, von dem der Vorschlag
Wupper gehen!) stammt, hat gestern in der Presse erklärt, dass er seinem
Vorschlag nur 50 Prozent Umsetzungschancen gibt. Herr
In konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Bundes- Wissing, da haben Sie übrigens etwas verwechselt: Es
finanzministerium muss eine bessere Lösung gefunden war nicht der Vorschlag der kommunalen Spitzenver-
werden. Die werden wir im Interesse der soliden Finan- bände. Es war der Vorschlag des Bundesfinanzministers.
zierung unserer Gemeinden finden.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
Sie hatten keine Lösung. Wir werden eine hinkriegen. DIE GRÜNEN und bei der SPD – Joachim
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7649
Britta Haßelmann
(A) Poß [SPD]: Herr Wissing, Sie haben was ver- Was meinen Sie denn, was demnächst los sein wird? Re- (C)
wechselt! Das war nicht der Vorschlag der den Sie doch nicht nur von kommunaler Selbstverwal-
kommunalen Spitzenverbände!) tung. Fragen Sie doch einmal Kommunen wie Düssel-
dorf auf der einen und Kommunen wie Wuppertal,
Das erklärt auch die Rede von Koschyk. Herr Koschyk
Remscheid oder Solingen auf der anderen Seite, was es
hat sich nämlich insbesondere mit den Jahren 1999 bis
bedeutet, wenn man die Höhe der Hebesätze demnächst
2004 beschäftigt.
selbst festlegt. Was macht denn eine notleidende Kom-
(Joachim Poß [SPD]: Geh zurück in deinen mune, die einen Nothaushalt hat und vielleicht noch von
Weinberg!) der Kommunalaufsicht aufgefordert wird, die Hebesätze
hochzusetzen? Sie wird sagen: Ihr in Düsseldorf habt es
Das hätte ich an seiner Stelle auch getan. Denn substan-
gut, weil ihr möglichst niedrige Hebesätze festlegen
ziell ist in der Gemeindefinanzkommission noch nichts
könnt. – Sie heizen den Wettbewerb in unglaublichem
geschehen. Da geht man lieber ein paar Jahre zurück und
Maße an. Das ist das Resultat Ihrer Maßnahme zur Stär-
schaut sich die rot-grüne Zeit an.
kung der kommunalen Selbstverwaltung, die Sie so prei-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine sen.
schlechte! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Da
Denken Sie außerdem einmal über die Administrier-
sind die Probleme geschaffen worden, die wir
barkeit nach. Ich habe im Finanzausschuss einige Bei-
heute lösen müssen! – Joachim Poß [SPD]:
spiele gebracht: Ich habe gefragt, was mit dem Kinder-
Wissing braucht Exerzitien!)
freibetrag bzw. dem Kindergeld ist. Dieses Thema ist
Um Sie zu beruhigen, Herr Koschyk: Die damaligen heute schon kompliziert. Das sage ich vor allem an die
Auswirkungen auf die Kommunen fand ich auch nicht in Adresse der FDP, die immer so tut, als würde sie Büro-
Ordnung. Die Kapitalertragsteuer war für die Städte und kratie abbauen.
Gemeinden nicht das Gelbe vom Ei. Das kann man (Thomas Oppermann [SPD]: Aber sie tut nur
selbstkritisch zugeben.
so!)
Aber das, was Sie hier machen, ist wirklich das Aller- Es wird demnächst zwei Günstigerprüfungen bei der
letzte: Sie erklären jeden Tag, Sie würden sich um die Frage geben müssen, ob man Kindergeld oder Kinder-
Kommunen kümmern, aber dann legt der Bundesfinanz- freibetrag bekommt.
minister einen Vorschlag vor, der überhaupt nicht nach-
haltig ist. Diese Probleme setzen sich bei einer kommunalen
Einkommensteuer durch das gesamten Steuerrecht fort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Von wegen Bürokratieabbau!
(B) bei der SPD und der LINKEN) (D)
(Joachim Poß [SPD]: Bürokratieweltmeister!)
Flankiert wird dieser Vorschlag dann durch Folgen-
des: Seit Sonntag glaubt man, dass die neue Steuerschät- Sie schaffen da ein riesiges Bürokratiemonster! Das wis-
zung besser ausfallen wird. Man musste daher keine drei sen diejenigen von Ihnen, die sich auskennen, ganz ge-
Minuten warten, bis der erste FDPler nau.
(Joachim Poß [SPD]: Die CDU ist aber auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dabei!) und bei der SPD – Bernhard Kaster [CDU/
CSU]: Unbegründete Ängste!)
oder CDUler erklärt, dass Steuersenkungen das nächste
Thema sein werden. Am Wochenende ging es also schon Ich komme zum Schluss. Der Staatssekretär hat die
wieder um Steuersenkungen. Erklären Sie diese Kombi- sozialen Kosten angesprochen. Sagen Sie doch den Leu-
nation den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vor ten, dass Sie Ihren Vorschlag im Vermittlungsausschuss
Ort. Das können Sie selbst Ihrer eigenen Partei – das gestern wieder nicht durchsetzen konnten. Sie tun so, als
sage ich in Richtung CDU – keinesfalls erklären. wären das alles großartige Maßnahmen, die Sie vor-
schlagen. Der Vermittlungsausschuss hat mit den Stim-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, men der B-Länder kein Ergebnis erzielt. Ihr toller Vor-
bei der SPD und der LINKEN) schlag, den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft
Auch Ihre Leute wissen ganz genau, dass die Menschen ständig zu senken und für ein Jahr 25,1 Prozent in Aus-
vor Ort keine Steuersenkungen gebrauchen können. Das sicht zu stellen,
zeigt deutlich, dass Sie keinen Bezug zur Realität in den (Widerspruch bei der CDU/CSU)
Städten und Gemeinden, keinerlei Bodenhaftung haben.
wird auch von Ihren Ländern nicht unterstützt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Lassen Sie mich jetzt noch kurz etwas zur kommuna- Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Haßelmann.
len Einkommensteuer sagen. Warum ist sie so umstrit-
ten? Weil sie den ruinösen Wettbewerb der Kommunen
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
untereinander anheizt.
Selbst in Nordrhein-Westfalen setzt sich die CDU ab.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Seit wann ist denn Sie hat gemeinsam mit Rot-Grün ein riesiges Kommu-
Wettbewerb ruinös?) nalprogramm verabschiedet,
7650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Britta Haßelmann
(A) (Joachim Poß [SPD]: 20 Milliarden schlägt die zu arbeiten. Wir stellen aber auch fest, dass der Bundes- (C)
CDU vor!) finanzminister und die kommunalen Spitzenverbände in
der letzten Woche erklärt haben, dass die Kommunen die
in dem Ansprüche an die Bundesebene angemeldet wer- Auffassung beibehalten, dass es nach wie vor keine trag-
den. fähige Alternative zur Gewerbesteuer gibt. Es sind aus-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN drücklich die Kommunen, die das erklärt haben, nicht
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der Bundesfinanzminister.
LINKEN)
(Nicolette Kressl [SPD]: Das war eine gemein-
same Erklärung!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg – Das war eine gemeinsame Erklärung, aber es steht aus-
von der CDU/CSU-Fraktion. drücklich drin, dass die Kommunen diese Position ha-
ben. – Ich bedaure das ausdrücklich. Der Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wissing hat eben auf die Unzulänglichkeiten der Gewer-
besteuer hingewiesen. Die Verteilung ist ungerecht:
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): 1 Prozent der Betriebe zahlt fast 75 Prozent des gesam-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten Gewerbesteueraufkommens. Vor allem hat sich die
Den letzten Anwurf von Ihnen, Frau Haßelmann, fand Hinzurechnung in der Krisensituation, die wir durchge-
ich wirklich ein bisschen dreist. Sie selber wollten 2005 standen haben, als absoluter Brandbeschleuniger gerade
die Beteiligung an den Unterkunftskosten auf null redu- für den Mittelstand herausgestellt. Es ist doch eine Kata-
zieren. strophe, dass Unternehmen besteuert werden, denen das
Wasser bis zum Hals steht und die um Liquidität ringen.
(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch eine Wir haben uns doch mit dem Wachstumsbeschleuni-
Lüge! So ein Schwachsinn!) gungsgesetz bemüht, diesen Betrieben wieder zu
Liquidität zu verhelfen. Diese werden nach Ihren Vor-
Jetzt beschweren Sie sich ausgerechnet über diesen stellungen durch die Gewerbesteuerhinzurechnung zu-
Punkt. Das ist nun wirklich daneben, um es freundlich sätzlich belastet. Ich finde, das ist eine Katastrophe. Des-
auszudrücken. Das will ich vorwegschicken. wegen halte ich die Gewerbesteuer für ausgesprochen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reformbedürftig. Ich würde mir wünschen, wir würden
ein vernünftiges Ersatzmodell finden.
Eine zweite grundlegende Feststellung ist mir wich-
tig. Es ist eine kritische Situation für die Kommunen zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D)
(B)
konstatieren. Darüber kann man nicht hinwegsehen. der CDU/CSU)
Aber wir müssen doch auch in aller Sachlichkeit feststel-
len, dass wir im Moment durch unsere Politik, aufgrund Das mag schwierig sein aufgrund der Positionierung der
der soliden Wirtschafts- und vor allem durch eine solide Kommunen. Ich würde mir manchmal wünschen, der
Haushaltspolitik, den besten Beitrag dazu leisten, dass eine oder andere kommunale Vertreter würde vielleicht
sich die finanzielle Lage des Bundes, der Länder, aber einmal kritisch hinterfragen, was seine Leute in den
auch der Kommunen stabilisiert, und zwar in einem ra- Spitzenverbänden für ihn vortragen, ob dies wirklich in
santen Tempo. Wir in Deutschland haben die höchste seinem Interesse und im Interesse der jeweiligen Kom-
Wachstumsrate seit Jahren und die niedrigste Arbeitslo- mune ist und ob das gilt, was insbesondere der Städtetag
sigkeit seit fast 20 Jahren. Die Steuereinnahmen der zum Besten gibt.
Kommunen steigen in einem erheblichen Umfang. Im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Verhältnis zum Vorjahr wachsen sie um 30 Prozent. der CDU/CSU)
(Joachim Poß [SPD]: Wie tief sind sie vorher Ich sehe den Vorschlag eines Zuschlags zur Einkom-
gesunken?) mensteuer gar nicht so negativ. Das Band zwischen Bür-
Die Kommunen werden schneller wieder den Stand des ger und Kommune würde dadurch gestärkt. Dies ist auch
Vorkrisenniveaus erreicht haben als die anderen staatli- ein Stück Selbstverwaltung, und es mag aus meiner
chen Ebenen Bund und Länder. Auch das gehört zur Sicht ein Schritt sein, um den Einstieg in den Ersatz der
Wahrheit. Das sollten wir vorweg feststellen. Die Politik Gewerbesteuer zu erreichen. So könnte man es nämlich
dieser Koalitionsregierung zahlt sich insbesondere für auch betrachten.
die Kommunen aus.
Zu den Horrorszenarien über Städte- oder Kommu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nenwettbewerb und Stadtflucht, die Sie hier gemalt ha-
neten der FDP) ben, nur zwei Zitate. Der Städte- und Gemeindebund hat
gesagt, Frau Haßelmann, dies sei vollständig wirklich-
Für uns gilt der Koalitionsvertrag. Dazu stehen wir. keitsfremd; sonst hätten unterschiedliche Abfall- und
Wir sehen natürlich auch die Realitäten. Wir sehen auch Abwassergebühren schon längst zu einer Abwanderung
die Positionierung der Kommunen bzw. der kommuna- führen müssen.
len Spitzenverbände. Deshalb gilt für mich, dass wir den
Ersatz der Gewerbesteuer weiter verfolgen. Ich halte es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nach wie vor für richtig, an diesem Ersatzmodell weiter der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7651
Dr. Mathias Middelberg
(A) Wir sehen auch – darauf hat der Staatssekretär zu in einem Alleingang erklärt, dass er die Abschaffung der (C)
Recht hingewiesen –, dass sich der Gewerbesteuerwett- Gewerbesteuer nicht mehr weiterverfolge.
bewerb eben nicht nachteilig auswirkt.
Da sage ich für die SPD-Fraktion – ich vermute, für
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Doch!) die ganze Oppositionsseite –: Bravo, sehr gut! Wenn Sie
das durchhalten können, haben Sie unsere Unterstüt-
Auch der Landkreistag spricht von einer guten Grund- zung, Herr Minister.
idee. Deswegen sage ich: Wir sollten jetzt in aller Sach-
lichkeit und entspannt über diese gute Grundidee sorg- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fältig reden und miteinander im Gespräch bleiben. Die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ernste Lage der Kommunen fordert von uns eine ernst- LINKEN)
hafte Auseinandersetzung mit diesem Thema, sachlich
Nun ist Herr Minister Schäuble ja nicht da.
und – das sage ich auch – an bestimmten Punkten ohne
parteipolitische Scheuklappen. Wir verfolgen das Ziel (Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Er ist
weiter, aber wir sehen auch ganz klar, dass es eine Lö- in Seoul!)
sung nicht gegen, sondern nur mit den Kommunen ge-
– Das ist ja kein Vorwurf. Ich wollte nur sagen: Sie, Herr
ben kann.
Koschyk, werden ihm das sicherlich berichten. – Wir ha-
Vielen Dank. ben ihn vor einem halben Jahr – da hatten Sie die Kom-
mission noch gar nicht eingesetzt – gewarnt und gesagt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Solche Kommissionen gab es schon. In den Jahren 2002
und 2003 gab es unter Rot-Grün eine solche Kommis-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sion, die genau dasselbe untersucht hat und am Ende zu
Das Wort hat jetzt der Kollege Bernd Scheelen von genau demselben Schluss gekommen ist, den der Minis-
der SPD-Fraktion. ter jetzt für sich persönlich gezogen hat: Es macht keinen
(Beifall bei der SPD) Sinn, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Sie ist vielmehr
die geeignete Steuer für die Kommunen. – Das haben
wir Ihnen vor einem halben Jahr vorhergesagt. Sie hätten
Bernd Scheelen (SPD): sich die ganze Arbeit in der Kommission sparen können.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich darf darauf verweisen, wie das Thema dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aktuellen Stunde eigentlich heißt: Meinungsverschie- DIE GRÜNEN)
denheiten innerhalb der Bundesregierung über die Re- Zweitens sagt der Minister in seinem Vorschlag, er
(B) form der Kommunalfinanzen. Es wäre schön, wenn wir wolle die Kommunen bei den Sozialausgaben entlasten. (D)
von Ihnen etwas dazu gehört hätten. Dazu sagen wir: Ja, das ist der richtige Weg; hier haben
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Sie unsere Unterstützung. Das ist auch wichtig, weil wir
Und ihr sucht und sucht und sucht!) in Zukunft möglicherweise die Einzigen sind, die den
Minister in der Frage des Erhalts der Gewerbesteuer und
Stattdessen hörten wir Drohungen von Herrn Staats- in der Frage der Entlastung der Kommunen bei den So-
sekretär Koschyk, Falschbehauptungen von Herrn zialausgaben unterstützen. Von der FDP ist ja keine Un-
Dr. Wissing und Herrn Middelberg. terstützung zu erwarten, und in der Union gibt es offen-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unver- sichtlich auch unterschiedliche Haltungen.
schämt! Wir sagen die Wahrheit!) Den dritten Vorschlag betrachten wir allerdings kri-
Das, meine Damen und Herren, führt nicht weiter. Heute tisch. Deswegen sind wir auch gar nicht so sicher, ob es
geht es darum, festzuhalten, dass Sie mit Ihrer Gemein- der Minister wirklich ernst meint. Der dritte Vorschlag,
definanzkommission gescheitert sind. Mit dem, was dort nämlich den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur Ein-
jetzt behandelt wird, stehen Sie vor einem Scherbenhau- kommensteuer einzuräumen, hat die Qualität eines troja-
fen. nischen Pferdes. Sie wissen, wie das damals war: Vor
Troja haben die abziehenden Danaer das Pferd hinge-
(Beifall bei der SPD) stellt. Die Troer sind gewarnt worden, dieses in ihre
Stadt zu holen. Wissende haben gesagt: Wir trauen den
Wie sind Sie denn vor einem Jahr in diese Traumhoch-
Danaern nicht, wenn sie mit Geschenken kommen.
zeit von Schwarz und Gelb gestartet?
Ich sage dem Minister: Wir trauen Ihnen nicht, wenn
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr
Sie mit Geschenken kommen. – Es ist ein Danaer-
wärt doch auch zu haben gewesen!)
geschenk, was Sie auf den Tisch legen. Es ist der Ver-
Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben, Sie such, die Gewerbesteuer durch die Hintertür abzuschaf-
wollten die Gemeindefinanzierung auf eine neue Basis fen. Das machen wir nicht mit; da seien Sie mal ganz
stellen. Damit war ein Heilsversprechen verbunden. Die sicher.
Kommunen und die Menschen haben geglaubt, für ihre
(Beifall bei der SPD)
schwierige finanzielle Lage sei Hilfe in Sicht. Wenn man
sich jetzt anschaut, was dabei herausgekommen ist, stellt Was macht den Vorschlag im Einzelnen genau aus?
man fest, dass der Aufschlag in der Realität ziemlich Es ist ein Bestandteil von drei Bestandteilen, den Sie ei-
hart war. Der Bundesfinanzminister hat den Kommunen gentlich wollen. FDP und CDU wollen die Gewerbe-
7652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Bernd Scheelen
(A) steuer abschaffen und das sogenannte Prüfmodell instal- Damit meinte er das Wort „Steuersenkung“. Das haben (C)
lieren. Das muss man für die Zuhörer mit einem Satz Sie geschafft: „Steuersenkung“ ist mittlerweile ein nega-
erklären: Die Gewerbesteuer soll entfallen, die Wirt- tiv besetztes Wort. Die Menschen wissen, dass, wenn
schaft soll entlastet werden; belastet werden sollen Ar- von Steuersenkungen gesprochen wird, sie das unter
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Verbrau- dem Strich bezahlen müssen: mit geschlossenen Thea-
cher; tern, mit geschlossenen Bädern, mit geschlossenen Bü-
chereien. Das ist keine Politik, die wir mitmachen.
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer schlägt denn
so etwas vor?) Herzlichen Dank.
ein bisschen soll noch bei den Unternehmen verbleiben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die Belastung der Bürgerinnen und Bürger soll über die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Einkommensteuer erfolgen. Wenn dieses Element jetzt
implementiert wird, ist das der erste Schritt zur Abschaf- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
fung der Gewerbesteuer. Dazu sage ich ganz deutlich:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund von
Das machen wir nicht mit.
der FDP-Fraktion.
(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing
[FDP]: Das hat auch keiner vorgeschlagen! Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
können ganz beruhigt sein!) der CDU/CSU)

Dazu, wie dieser Vorschlag von Herrn Schäuble ange- Dr. Birgit Reinemund (FDP):
kommen ist, will ich ein paar Zitate zur Kenntnis geben.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich hätte erwartet, zum Beispiel von Ihnen etwas zu hö-
Herr Scheelen, Sie haben minutenlang mit Dreistigkeit
ren, Herr Dr. Wissing. Ihre Reaktion in der Zeitung zu
versucht, einen Streit innerhalb der Koalition zu konstru-
dem Vorschlag war ja: Das können wir niemals mittra-
ieren.
gen. – Deswegen haben wir Ihnen heute die Gelegenheit
gegeben, zu sagen, warum nicht. Diese Chance haben (Lachen bei der SPD)
Sie verpasst.
Es ist Ihnen nicht wirklich gelungen.
(Björn Sänger [FDP]: Da haben Sie nicht
zugehört!) (Bernd Scheelen [SPD]: Die Journalisten haben
offenbar alle eine Fehlwahrnehmung!)
Frau Homburger hat mit Blick auf den Minister ge-
genüber Journalisten gesagt: Er tut ja was, aber nicht Frau Haßelmann, ja, wir kümmern uns um die Kom-
(B) (D)
das, was wir wollen. munen. Die Koalitionsparteien haben sich bereits im Ko-
alitionsvertrag darauf verständigt, die kommunalen
(Thomas Oppermann [SPD]: Tolle Aussage!) Finanzen auf eine solide, tragfähige und nachhaltige
Herr Brüderle sagt als Retourkutsche für Brüssel: Das Grundlage zu stellen. Dazu haben sie die Regierungs-
war mit uns nicht abgestimmt. – Das zeigt doch, wie kommission eingesetzt, deren Bericht wir bis Ende des
wichtig diese Aktuelle Stunde ist. Die nächsten Redner Jahres noch erhalten werden.
haben noch die Chance, auf dieses Thema endlich einzu- Grundlage war und ist – um Sie zu korrigieren, Herr
gehen. Von Ihnen haben wir nichts dazu gehört. Sie hät- Scheelen –, die konjunkturanfällige Gewerbesteuer
ten die Chance gehabt.
(Bernd Scheelen [SPD]: Die ist überhaupt
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Nicolette nicht konjunkturanfällig! – Weiterer Zuruf von
Kressl [SPD]: Das wäre auch zu peinlich ge- der SPD: Die ist immer noch sehr stabil!)
wesen!)
durch einen höheren Anteil an der stabilen Umsatzsteuer
Ich darf Minister Schäuble selber zitieren. Er sagte im und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen-
Hinblick auf die FDP – das finde ich sehr bemerkens- und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatzrecht zu
wert –: Ich wünschte mir eine ähnliche kommunale Ba- ersetzen. Ziel war und ist, eine dauerhafte strukturelle
sis wie bei der CDU für die FDP. – Da hat er völlig recht. Einnahmeverbesserung für die Städte und Gemeinden zu
Die FDP ist leider völlig abgehoben, hat mit den Kom- erreichen. Das ist die Vereinbarung im Koalitionsver-
munen nichts zu tun. trag, das ist Prüfauftrag der Regierungskommission, ein-
(Lachen bei Abgeordneten der FDP) berufen von Minister Schäuble, und dahinter stehen wir
alle.
Deswegen reden Sie von der FDP hier so abgehoben da-
her. Sie wissen überhaupt nicht, wie die Lage vor Ort ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sie sind hier auf steuerpolitischer Geisterfahrt, und das der CDU/CSU)
kommentiert mittlerweile auch die Presse so. Die Welt Natürlich sind Gedankenspiele erlaubt, auch solche
sagt: In der Koalition tobt ein neuer Steuerstreit. Im des Bundesfinanzministers und der kommunalen Spit-
Handelsblatt gibt es von Frau Riedel die Überschrift: zenverbände.
Steuerpolitik – das Verliererthema der Koalition. Werner
Sonne sprach vorgestern im Morgenmagazin im Inter- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]:
view mit Herrn Minister Brüderle vom bösen S-Wort. Gedankenspiele?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7653
Dr. Birgit Reinemund
(A) Überrascht, erstaunt und vielleicht ein bisschen irritiert „Mitnehmen der Wachstumsdynamik“ im Aufschwung (C)
hat allerdings der Zeitpunkt: Einen solchen Vorstoß vor mag ja aus Sicht der Betroffenen nachvollziehbar sein;
Abschluss der Arbeit der Kommission hat niemand eine dauerhafte Lösung kann das nicht darstellen.
wirklich erwartet. Irritation? Ja. Klarstellung? Ja. Streit? (Beifall des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])
Nein, das ist etwas ganz anderes, Herr Scheelen, zumin-
dest bei uns. Was bedeutet denn ein einseitiger Zuschlag auf die Ein-
kommensteuer bei vollständigem Erhalt der Gewerbe-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten steuer anderes als eine Steuererhöhung für die Bürger
der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Dann zum Stopfen eines Haushaltslochs der Kommunen? Das
möchte ich mal wissen, was Streit wirklich ist! kann nicht die Lösung sein, nicht für die Bürger und
Tolles Klima in der Koalition! – Katrin Kunert nicht für diese Koalition.
[DIE LINKE]: Da haben wir ja noch etwas zu
erwarten!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wenn die kommunalen Spitzenverbände jetzt keine
strukturelle Verbesserung mehr wollen, hängt dies si- Die katastrophale Lage der Kommunen hängt nicht
cherlich auch damit zusammen, dass die Kommunen den nur mit der Wirtschaftskrise und dem Einbruch bei den
konjunkturellen Aufschwung sehen und die Wachstums- Steuereinnahmen zusammen – wir haben das heute
dynamik der Gewerbesteuer zu schätzen wissen. Die schon mehrfach gehört –, sondern eben auch mit der
Steuerschätzung geht davon aus, dass die Kommunen Ausgabenseite, indem etwa Kommunen durch Aufgaben
bereits 2012 ein Plus von 77 Milliarden Euro erzielen belastet wurden, die ihnen vom Bund übertragen wur-
werden und die Steuereinnahmen damit die des Rekord- den,
jahrs 2008 übertreffen werden. Beim Bund wird das üb- (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Richtig!)
rigens erst 2013 passieren.
ganz massiv zu Zeiten der rot-grünen Regierung.
(Bernd Scheelen [SPD]: Dank der tollen Ge-
werbesteuer natürlich!) (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Nein! Sie ge-
nauso! Sie machen es ja weiter!)
Damit verringern sich natürlich auch der Reformdruck
und die Reformbereitschaft. Ich nenne einige Beispiele: Eingliederungshilfe, Grund-
sicherung im Alter und Tagesbetreuung. Das alles sind
Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofes vom August Gesetzesvorgaben aus Zeiten der rot-grünen Regierung,
dieses Jahres steht jedoch zu befürchten, dass Verrech- deren Scherben wir jetzt zusammenkehren müssen.
nungen von Verlusten von Auslandstöchtern deutscher
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) Unternehmen auch bei der Gewerbesteuer möglich wer- (D)
der CDU/CSU)
den. Dadurch könnte es passieren, dass die Gewerbe-
steuereinnahmen trotz Aufschwungs wieder einbrechen – Die christlich-liberale Koalition strebt auch auf der
ein Grund mehr, jetzt über Alternativen zur Gewerbe- Ausgabenseite Entlastungen an. Auch dies ist ein Auf-
steuer zu diskutieren und nicht bloß über deren Auswei- trag an die Kommission. Was haben Sie dagegen in den
tung oder Ergänzung durch weitere Steuern. letzten Jahren gemacht? – Nichts.
Überwindung der Krise und Wirtschaftsaufschwung (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Steht Ihre Ent-
waren die primären Ziele unserer Politik des letzten Jah- lastung schon im Haushalt drin?)
res. Dieses Ziel haben wir erreicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
(Zuruf von der SPD: Das nimmt Ihnen nur kei- Schluss zwei Zitate von Herrn Koschyk aus der gestri-
ner ab!) gen Sitzung des Finanzausschusses anführen. Erstens:
Wir haben mit verantwortungsvoller Wirtschafts- und Die Aussage unseres Finanzministers stellt keine
Finanzpolitik den Rahmen gesetzt. Die Wirtschaft Vorwegnahme der Ergebnisse der Kommission zur
wächst in einem Maße, um das uns die Welt beneidet: Reform der Gemeindefinanzen dar.
um 3,7 Prozent dieses Jahr und 2,2 Prozent im nächsten Zweitens sagte er, dass es „keine einseitige Belastung
Jahr. Anfang des Jahres sprachen wir noch von 1,5 Pro- der Bürger und Unternehmen geben wird“. Demnach
zent. kann es also auch keine reine Steuererhöhung anstelle
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von strukturellen Verbesserungen geben.
der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] Wir erwarten in Kürze die Berechnungen und Ergeb-
[SPD]: Wohl alles dank dieser Regierung!) nisse der Kommission
Für die Kommunen bedeutet das wachsende Einnahmen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Darauf warten
bei gleichzeitig sinkenden Belastungen bei den Sozial- wir auch!)
kosten.
und freuen uns auf eine konstruktive und offene Diskus-
Für die Spitzenverbände scheint das Festhalten an ei- sion, nicht nur zwischen Finanzminister und Spitzenver-
ner althergebrachten Steuer, der Gewerbesteuer, mit all bänden.
ihren Problemen, die man kennt, augenscheinlich ver-
Vielen Dank.
lockender als die Aussicht auf echte strukturelle Verbes-
serungen. „Wir wollen mehr Geld“ in Krisenjahren und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
7654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ses. Schon in einer Stadt wie Bergen mit 10 000 Einwoh- (C)
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der nern benötigt man eine zusätzliche halbe Stelle nur für
SPD-Fraktion. die Bearbeitung dieser Personalausweise. Eine die Ver-
waltungskosten deckende Erstattung ist Fehlanzeige;
(Beifall bei der SPD) nichts passiert dort.

Kirsten Lühmann (SPD): Die Kinderbetreuung ist ein weiteres Beispiel. In mei-
ner Heimatgemeinde gibt es eine Grundschule, die keine
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-
Ganztagsbetreuung hat. Die Betreuung wird jetzt von
nen! In der letzten Zeit war es geradezu auffällig ruhig in
der Kommune selbst organisiert und weitgehend selbst
der Koalition. Da haben wir uns schon gefragt, ob dieses
finanziert. Täte die Kommune dies nicht, entstünde ein
einjährige Hickhack endlich beendet ist und die
Betreuungsloch zwischen Ganztagskindergarten und
Wunschkoalition, die ja mit einem veritablen Ehekrieg
weiterführender Schule mit allen uns bekannten Konse-
gestartet ist, zu einer Liebesheirat mutierte. Es war aber
quenzen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
offenbar nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Dieser
Standortattraktivität und dergleichen. Kostenpunkt für
Streit ist jetzt ausgebrochen, weshalb wir hier jetzt diese
eine kleine Grundschule in einer 8 000-Einwohner-Ge-
Aktuelle Stunde haben.
meinde: 84 000 Euro im Jahr. Die Ausgaben sind not-
Die Gemeindefinanzkommission, die die Bundesre- wendig, können im Prinzip aber nicht den Kommunen
gierung eingesetzt hat, brütet noch darüber, wie sie den zugemutet werden.
Regierungsauftrag, die Gewerbesteuer abzuschaffen, ge-
Auf der anderen Seite gibt es irrsinnige Regelungen
gen den ausdrücklichen Willen der Kommunen am bes-
mit der Umsatzsteuer. Das Schwimmbad in Stadensen,
ten umsetzen kann, da lässt der Minister nach einem Ge-
einem Ort in meinem Wahlkreis, hätte geschlossen wer-
spräch im kleinen Kreis etwas ganz anderes verlauten.
den müssen, wenn die Kommune den Betrieb nicht ei-
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP, ich kann
nem eigens gegründeten Verein übertragen hätte. Dieser
Sie sehr gut verstehen, dass Sie empört sind. Allerdings
Verein erhält einen nicht kostendeckenden Betriebskos-
muss ich feststellen, dass keiner Ihrer Vorschläge wirk-
tenzuschuss von der Kommune. Auf diesen Zuschuss
lich geeignet ist, die desolate Lage der Kommunen dau-
muss aber Umsatzsteuer gezahlt werden. Dadurch redu-
erhaft zu verbessern.
ziert sich dieser Zuschuss deutlich, und Land und Bund
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) freuen sich über zusätzliche Einnahmen aus dem kom-
munalen Säckel. Es ist doch hervorragend, wenn man
Ich bekomme regelmäßig, fast wöchentlich, aus den das so löst.
Kommunen meines Wahlkreises – aus den Kommunen,
(B) nicht von den Funktionären der kommunalen Spitzen- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die (D)
verbände – Briefe, die sich damit befassen, was die Fol- Kommunen kriegen auch Umsatzsteueran-
gen Ihrer Entscheidungen für die kommunalen Finanzen teile!)
bedeuten. Ich nenne nur zwei Beispiele: erstens die Aus-
Um all diese Löcher zu stopfen, schlägt Herr
wirkungen des Atomgesetzes auf die Kommunen und
Schäuble vor, zusätzlich zur bestehenden Gewerbesteuer
zweitens die beabsichtigte Änderung im Kreislaufwirt-
eine kommunale Einkommensteuer einzuführen. Dieser
schafts- und Abfallgesetz.
Vorschlag ist weder neu noch hilfreich. Dieser Vorschlag
Ein Hauptproblem der kommunalen Finanzen – das lässt Teile der Wirtschaft weiterhin unbelastet und bürdet
ist hier angesprochen worden – sind die sozialen Trans- die Kosten der arbeitenden Bevölkerung auf.
ferleistungen. Würde sich die Bundesregierung endlich
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Welche Teile der
dazu durchringen, einen Mindestlohn einzuführen, der
Wirtschaft?)
auskömmlich ist, könnten die Kommunen hier Milliar-
den einsparen. Zudem hätte eine kommunale Einkommensteuer uner-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie wünschte Nebenwirkungen. Eben ist von den Vorrednern
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schon darüber diskutiert worden, ob es diese Nebenwir-
GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Jetzt ist kungen gibt oder nicht. Darüber werden wir in den Aus-
der Mindestlohn auch noch ein Problem der schüssen weiter reden. Wir sind der Meinung, dass wir
Kommunalfinanzen?) zwischen Kernstädten und Umland deutliche Unter-
schiede haben werden, was wir für nicht sachgerecht
– Ja, aber sicher doch. – Da die Regierung dies ablehnt, halten. Der Vorschlag von Herrn Schäuble bringt mehr
ist es kein Geschenk, sondern nur konsequent, dass diese Verwaltungsaufwand, mehr Spaltung, aber weniger Kon-
durch Nichthandeln entstehenden Kosten den Kommu- tinuität und weniger Rechtssicherheit.
nen von Ihnen erstattet werden.
(Beifall bei der SPD)
Aber es gibt ja weitere Zusatzausgaben. Da vielleicht
nicht alle von Ihnen in kommunalen Parlamenten so ver- Dieser Vorschlag ist aber insofern nicht erstaunlich,
ankert sind, wie ich es bin, nenne ich Ihnen ein paar Bei- als die Bundesregierung konsequent an den Bedürfnis-
spiele, wie es dort aussieht. sen der Kommunen vorbei regiert. Symptomatisch dafür
ist, wie die Fraktionen von Union und FDP mit der Ar-
Die Bearbeitung des neuen Personalausweises ist we- beit des Unterausschusses Kommunales umgehen. Diese
sentlich zeitintensiver als die des alten Personalauswei- Arbeit wird konsequent verschleppt. Sie wollen sich of-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7655
Kirsten Lühmann
(A) fenbar nicht übermäßig intensiv mit den Belangen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
Kommunen in diesem Haus beschäftigen. Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie extra nach-
geguckt? Da mussten Sie aber viel lesen!)
Abschließend zur Gewerbesteuer: Aus unserer Sicht
gehört sie nicht abgeschafft oder zementiert, sie gehört Zu Ihrer Zeit ist die Grundsicherung für Menschen mit
ausgebaut und reformiert. einer geringen Rente eingeführt worden. Diese Lasten
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie doch sind vom Bund auf die Kommunen übertragen worden.
endlich mal Substanzbesteuerung! Sie reden Sie haben den Kommunen nur geringe finanzielle Unter-
doch nur darum herum!) stützung gegeben. Wir haben das reformiert, indem wir
eine dynamische Anpassung vorgenommen haben.
Sie sichert die Wahrnehmung der kommunalen Aufga-
ben, und das ist für uns alle wichtig; denn die finanzielle Frau Lühmann, Sie haben gerade ein paar nette Bei-
Autonomie der Kommunen bildet das Fundament demo- spiele genannt. Schauen Sie sich einmal die Seite 1656
kratischer Selbstorganisation und bürgerlicher Freiheit. des Stenografischen Berichts aus dem Jahr 2003 an. In
der entsprechenden Debatte sagte Frau Hendricks, die
Danke schön. heute leider nicht anwesend ist, dass die Grundsicherung
(Beifall bei der SPD) überhaupt keine Personalkosten zur Folge hat. Das war
damals die Politik von Rot-Grün.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Flosbach von Herr Koschyk hat schon einige treffende Beispiele ge-
der CDU/CSU-Fraktion. nannt. Einer Ihrer ersten Schritte damals war, Frau
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Haßelmann, die Gewerbesteuerumlage anzuheben, weil
neten der FDP – Dr. h. c. Hans Michelbach es den Kommunen anscheinend so gut ging. Das können
[CDU/CSU]: Endlich einer, der Ahnung hat!) wir Ihnen im nächsten Jahr noch vorhalten. Im Jahre
2005 wollten Sie die Kommunen mit 2,5 Milliarden
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Euro belasten, indem Sie ihnen keinen Euro Zuschuss
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es für die Kosten der Unterkunft geben wollten. Das ist rot-
ist erstaunlich, wie die SPD heute in der von ihr bean- grüne Politik gewesen.
tragten Aktuellen Stunde das Thema verfehlt. Endlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
haben wir eine Kommission zur Reform der Gemeinde- Bernd Scheelen [SPD]: Sie haben eine andere
finanzen. Regelung über den Bundesrat verhindert!)
(B) (D)
(Joachim Poß [SPD]: Die hatten wir auch Als wir im Jahr 2005 an die Regierung kamen, haben wir
schon! – Bernd Scheelen [SPD]: Endlich kas- selbstverständlich als ersten Schritt – das war eine Be-
siert der Minister Ergebnisse!) dingung für das Zustandekommen der Koalition – die
Endlich sind die Kommunen an dieser Reformkommis- Gewerbesteuerumlage für die Kommunen gesenkt. Au-
sion beteiligt. Das haben Sie nicht geschafft. Sie haben ßerdem haben die Kommunen einen Anspruch auf Zu-
die Kommunen immer außen vor gelassen. schuss zu den Kosten der Unterkunft erhalten. Das war
Politik der Union im Jahre 2005.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Natürlich wissen wir, dass die Einnahmen sehr
Joachim Poß [SPD]: Das ist doch Quatsch! schwankend sind. Gerade die letzten Jahre haben deut-
Wir hatten schon eine Kommission, da waren lich gezeigt, welche Probleme bei den Kommunen exis-
Sie noch nicht im Bundestag! Bei Herrn tieren. Entweder entlasten wir die Kommunen von be-
Eichel! Ihr Gedächtnisverlust ist erstaunlich!) stimmten Aufgaben, oder sie müssen einen Teil über die
Einnahmen selbst gestalten können.
– Herr Poß, zu Ihnen komme ich gleich noch.
Die Gewerbesteuer ist nach wie vor das Thema für
Wir alle kennen das Problem der Kommunen, näm- die SPD. Aber wir haben niemals von der einseitigen
lich dass ihre Ausgaben dramatisch gewachsen sind, Abschaffung der Gewerbesteuer gesprochen. Wir haben
weil die Soziallasten sehr stark gestiegen sind. Dazu ge- immer von einem Ersatz der Gewerbesteuer gesprochen;
hören die Grundsicherung, die Kosten der Unterkunft, denn wir wissen, dass die Kommunen eine wirtschafts-
die Eingliederungshilfe und die Kosten für die stationäre bezogene Steuer brauchen.
Pflege.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Da Sie, Herr Poß, gerade dazwischengerufen haben: neten der FDP)
Schauen Sie sich einmal die Seiten 4780 ff. im Stenogra-
fischen Bericht aus dem Jahr 2003 an. Es gab damals Das Problem ist, dass Firmen und Unternehmen Gewer-
eine große Debatte über die Zukunft der Kommunen. besteuer zahlen müssen, auch wenn sie keinen Gewinn
Die SPD war damals der Meinung, dass die Soziallasten machen. 7 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen der
kein Problem des Bundes, sondern das Problem der Kommunen ergeben sich aus den sogenannten ertragsun-
Kommunen sind. Lesen Sie es einmal nach. Dann kön- abhängigen Bestandteilen. Wir wollten immer eine ge-
nen Sie erkennen, wie die Regierungspolitik der SPD meinsame Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer
und der Grünen im Jahr 2003 gewesen ist. und für die Körperschaftsteuer haben, damit Millionen
7656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Klaus-Peter Flosbach
(A) Betriebe nicht jedes Jahr eine Gewerbesteuererklärung Aufforderungen an die Bundesregierung. Sogar die (C)
abgeben müssen. Es geht also um ein Stück Bürokratie- NRW-CDU ergeht sich auf ihrem Parteitag in tätiger
abbau. Reue ob ihrer kommunalpolitischen Vergangenheit, ob
dessen, was die CDU in der Landesregierung angerichtet
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hat. So hat die CDU im Landtag der Resolution zuge-
Schauen Sie sich einmal die Situation bei den Perso- stimmt. Sie stellen sich hier hin und tun so, als gehe es
nenunternehmen an. Alle diese Unternehmen müssen nur um ein paar kommunale Irrläufer. Dabei wird flä-
eine Gewerbesteuererklärung abgeben. Sie geben das chendeckend, unisono die Meinung vertreten, dass ein
Geld der Kommune, bezahlen noch den Steuerberater eigener Hebesatz bei der Einkommensteuer abzulehnen
und holen sich das Geld hinterher vom Finanzamt über ist, vielleicht abgesehen von ein paar Umlandgemein-
die Anrechnung ihrer Gewerbesteuerzahlung wieder zu- den, die von einem solchen Hebesatzrecht profitieren
rück. Die Kommunen sind in der folgenden Situation: würden, weil sie fast keine Sozialleistungen tragen und
Sie müssen nach wie vor die Gewerbesteuerumlage zah- keine Zentralitätsfunktionen übernehmen müssen, dafür
len; den Rest behalten sie möglicherweise nur zu einem aber viele gut verdienende Einwohner haben. Diese Um-
Teil, weil anschließend die Zuweisungen des Landes ge- landgemeinden würden von einer solchen Reform profi-
kürzt werden. Das ist doch ein absurdes System; das tieren; der komplette Rest ist gegen diese Reformvor-
müssen wir doch nicht zwingend aufrechterhalten. schläge, die Sie hier mantraartig herunterbeten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Sie kritisieren den Vorschlag der Einführung eines
GRÜNEN)
Hebesatzes der Kommunen bei der Einkommensteuer,
über den diskutiert wird. Natürlich muss über die Ein- Ich bin wie einige Abgeordnete von der CDU/CSU
nahmemöglichkeiten der Kommunen diskutiert werden. zugleich Mitglied eines Kreistages, des Kreistages des
Bei der Gewerbesteuer und bei der Grundsteuer gibt es Landkreises Konstanz. Dieser Kreistag hat am 25. Okto-
schon einen Hebesatz der Kommunen. Das ist doch ber eine entsprechende Resolution beschlossen. Alle
zwingend notwendig, um den Kommunen eine eigenver- Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Fraktion waren da-
antwortliche Einnahmepolitik zu ermöglichen. für. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
den Bürgermeistern und Kreistagsfraktionen der Union
Frau Haßelmann, es ist schon erstaunlich, dass auch
müssen doch die Ohren klingeln; sie müssen sich doch
die Grünen dagegen wettern. Bürgerbeteiligung, Einbe-
schämen, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
ziehung der Menschen in die Politik – welch ein Graus
hier von der FDP den Ring durch die Nase ziehen lässt
für die Grünen.
und auch noch für das, was Herr Schäuble angekündigt
(B) hat, Beifall spendet. (D)
(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Beantworten Sie doch einmal die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Frage der Kollegin, wie das gehen soll!)
der LINKEN)
Das ist aber nicht unsere Politik. Wir wollen eigenver-
Er hat natürlich versucht, das Ergebnis der Kommission
antwortliche Kommunen; die Kommunen sollen stark
vorwegzunehmen, indem er gesagt hat, er wolle nichts
sein. Wir wollen die Kommunen stärken; denn die kom-
gegen den Willen der kommunalen Spitzenverbände
munale Selbstverwaltung ist eines der höchsten Güter
durchsetzen. Herr Schäuble wird dieses Versprechen
unserer Demokratie.
nach dem, was die FDP hier eben aufgeführt hat, nicht
Vielen Dank. halten können. Damit ist deutlich: Herr Schäuble kann
sich an dieser Stelle überhaupt nicht in der Koalition
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durchsetzen. Die Kommunen werden auch von Ihnen im
Stich gelassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Peter Friedrich von der (Beifall bei der SPD sowie des Abg.
SPD-Fraktion. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
(Beifall bei der SPD)
Das ist übrigens schwarz-gelbe Tradition: Am
4. Februar dieses Jahres hat die Vorsitzende der Fraktion
Peter Friedrich (SPD):
der FDP ein bemerkenswertes Interview gegeben, in
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Of- dem sie sagte:
fensichtlich hat der 11.11. – das ist jetzt übrigens keine
Seitenzahl – einigen schon aufs Temperament geschla- Das Gejammer der Kommunen nervt mich.
gen. Ich halte Ihre Behauptung für eine Mär, dass es nur (Joachim Poß [SPD]: Wer hat das gesagt?)
einige kommunale Spitzenverbände und Oberbürger-
meister seien, die hier im Namen der Kommunen eine – Das hat Frau Homburger gesagt.
irrige Position verträten, während die Kommunen in
(Joachim Poß [SPD]: Ach, Frau Homburger!)
Wahrheit geradezu darauf hofften, allen voran durch die
FDP aus der schlechten Situation bei der Gewerbesteuer Die Reaktion von Schwarz-Gelb in diesem Jahr war
gerettet zu werden. Inzwischen beschließen Gemeinde- doch: Allein die Maßnahmen, die Sie mit dem Wachs-
räte und Kreisräte flächendeckend Resolutionen und tumsbeschleunigungsgesetz beschlossen haben, kosten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7657
Peter Friedrich
(A) jede baden-württembergische Kommune in diesem Jahr (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta (C)
35 Euro pro Einwohner an nicht eintretenden Steuerein- Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
nahmen.
Sie würden eine riesige Bürokratie und eine enorme Ver-
(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) unsicherung aufbauen. Schauen Sie doch einmal in die
Schweiz. In vielen Dingen bin ich ein Fan der Schweiz:
Das ist nur eine Zahl für Baden-Württemberg; aber es ist Volksentscheide etc. Aber die Kommunalisierung des
flächendeckend so. Baden-Württemberg ist das Land, Steuersystems hat in der Schweiz zu einem Steuersen-
das in der Vergangenheit am meisten von hohen Gewer- kungswettbewerb geführt und damit zu einer Senkung
besteuereinnahmen profitiert hat. 86 von 91 großen der Standards.
Kreisstädten haben inzwischen eine negative Nettoin-
vestitionsrate. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]:
Schweizer Käse mit vielen Löchern!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Also, lassen Sie die Finger davon. Gehen Sie mit uns
LINKEN) daran, die Gewerbesteuer auf eine vernünftigere, breitere
Grundlage zu stellen, damit es auch in der Wirtschaft
Wie reagieren die Kommunen darauf? Sie reagieren zwischen den Beteiligten gerecht zugeht. Dann wird ein
mit der Schließung von Einrichtungen und – das wollten Schuh daraus. Lassen Sie die Finger von Ihrem Vorha-
Sie auf keinen Fall – mit Steuererhöhungen. Außerdem ben. Zeigen Sie vielleicht ein klein bisschen Reue für
reagieren die Kommunen mit Anpassungen der Gebüh- das, was Sie in dieser Woche bei diesem Thema aufge-
ren – in der Regel nach oben – für Kindergärten, Biblio- führt haben. Nach dieser Behandlung des Finanzminis-
theken und sonstige öffentliche Einrichtungen. Was wir ters durch Ihren Koalitionspartner würde ich ein biss-
hier sehen, ist nichts anderes als das Spiegelbild Ihrer chen zerknirscht an das Rednerpult treten und weniger
Mehr-Netto-vom-Brutto-Lüge. Sie über-lassen den Kom- auf diejenigen einprügeln, die in früherer Zeit Regie-
munen die Aufgabe, bei den kommunalen Steuern und rungsverantwortung innehatten.
Abgaben zuzulangen, da Sie ihnen die Butter vom Brot
nehmen. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta
der LINKEN) Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn man sich die Aufgaben der Kommunen an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schaut, stellt man fest, dass ihre Politik dramatische Fol-
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/
(B) gen hat. Die Kommunen sind dafür zuständig, dass wir CSU-Fraktion.
(D)
gute Bildungseinrichtungen haben. Die Kommunen sind
inzwischen die wahren Träger der Bildungspolitik. Mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dem, was Sie bisher getan haben und noch vorhaben
– ich komme gleich auf das zu sprechen, was Sie prüfen Peter Aumer (CDU/CSU):
lassen –, nehmen Sie den Kommunen in Wahrheit die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
finanzielle Grundlage, die sie benötigen, um Bildungs- ren! Ich durfte die Debatte jetzt eine Stunde lang verfol-
einrichtungen und andere soziale Einrichtungen zu gen. Ich habe mich gefragt: Was wollte die SPD mit die-
finanzieren. Deswegen richtet sich Ihr Vorschlag gegen ser Aktuellen Stunde erreichen?
Bildung. Aus meiner Sicht ist die FDP daher eine Anti-
bildungspartei. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gute
Frage!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Widerspruch bei der FDP) Kam von der Opposition ein konstruktiver Vorschlag,
wie es mit den Kommunalfinanzen in Zukunft weiterge-
Zum Zuschlagsmodell. Die Unterlagen, über die in hen soll? Nein, der kam nicht. Es kamen Angriffe auf die
der Kommission diskutiert wird, sind doch einsehbar. Es Regierung.
gibt einen wunderbaren Zwischenbericht des Arbeits-
kreises Administrierbarkeit für die Sitzung der Arbeits- (Zuruf von der LINKEN)
gruppe Kommunalsteuern am 17. Juni 2010. Diesen Be- – Ich war mit allen Sinnen anwesend, obwohl heute Fa-
richt haben Sie. Schauen Sie ihn sich doch einmal an. schingsanfang ist. Aber der Faschingsanfang wurde eher
Kollegin Haßelmann hat das Thema schon angespro- auf der linken Seite des Hauses zelebriert als auf unserer.
chen. Es geht um die nochmalige Günstigkeitsprüfung,
den Familienleistungsausgleich, an den man noch ein- Uns geht es um ein konstruktives Arbeiten für
mal herangeht, um Abgrenzungsprobleme bei der Ver- Deutschland. Uns geht es darum, dass die Kommunen
rechnung ausländischer Steuerverpflichtungen, um die eine gute Zukunft haben. Wir versuchen in der Gemein-
Frage des sogenannten unterjährigen Wohnsitzwechsels definanzkommission gemeinsam, eine tragfähige und
und um die Zuschlagsverwaltung durch die Kommunen. zukunftsfähige Lösung für unsere Kommunen zu finden.
Seitenlang wird dargelegt, welcher Verwaltungsaufwand
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
notwendig ist, um dieses kleine Fenster, das Sie anbieten
wollen, überhaupt administrieren zu können. Ich sage Ih- Ich glaube, es ist wichtig, dass man in der Sache streitet
nen: Am Ende wird die Soße teurer als der Braten. und kämpft. Man muss alles andenken; das steht auch in
7658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Peter Aumer
(A) der heutigen Ausgabe der Zeit. Man muss über den Er- nen sind ein wesentlicher Bestandteil des deutschen (C)
halt der Gewerbesteuer nachdenken, alle Möglichkeiten Staatssystems.
überdenken und nach guten Lösungen suchen.
Ich glaube, wir brauchen auch nicht die Linken, um
Sie haben heute den nordrhein-westfälischen Landtag gute Entscheidungen zu treffen.
angesprochen. Ich habe in einer Stellungnahme des
Hauptgeschäftsführers des Städte- und Gemeindebun- (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Doch! Sie brau-
des Nordrhein-Westfalen eine Aussage zu dem Gespräch chen die Linken!)
mit Bundesfinanzminister Schäuble in der letzten Woche Die Gemeindewirtschaftsteuer ist kein durchdachter
gefunden. Er hat geschrieben, dass das jüngste Gespräch Vorschlag. Rechnen Sie das Modell doch einmal durch,
mit dem Bundesfinanzminister Dr. Schäuble Anlass zur und legen Sie auch Zahlen für das, was Sie vorschlagen,
Hoffnung gibt, dass die Arbeit der Gemeindefinanzkom- auf den Tisch. Dann kann man weiter darüber reden.
mission zu übergreifenden Ergebnissen führen wird. Das
ist das, was wir wollen. Wir wollen Ergebnisse für die (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch
Kommunen. Wir wollen zukunftsorientierte Lösungen das kommunale Modell!)
im Bereich der Kommunalfinanzen. Wir wollen aber Aber stellen Sie nicht irgendwelche Forderungen, die
keine unnötige Diskussion. Wir sind dabei, Lösungen zu nichts bringen, die nicht zukunftsorientiert sind und
finden. Ich finde es nicht abwegig, dass man sich manch- keine Lösungen darstellen.
mal streitet. Manche Lösungen lassen sich im Streit gut
erarbeiten. Wir haben die parlamentarische Debatte noch (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Dann prüfen Sie
nicht einmal begonnen. Wenn wir so weit sind, sind doch mal das kommunale Modell!)
CDU/CSU und FDP sicherlich in der Lage, eine für die Mir ist bei der Debatte ein Zitat aus der Heiligen
Kommunen gute Lösung zu finden. Schrift eingefallen. Der Heilige Paulus hat einmal ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sagt: Prüfet alles, und behaltet das Beste. – Ich glaube,
das ist in dieser Debatte auch sinnvoll. Wir machen uns
Ich glaube, es war wichtig, dass der Bundesfinanz- Gedanken über das Große und Ganze, darüber, wie man
minister in der letzten Woche gesagt hat, dass es ohne die Kommunalfinanzen befördern kann. Ich glaube, we-
die Kommunen keine Entscheidung geben wird. sentlich ist, dass wir die Kommunen nicht alleinlassen
Das war, glaube ich, das Zentrale. Der zweite Punkt war, und die beste Entscheidung finden. Mir ist nicht bange.
dass man ausgaben- und einnahmeseitig Lösungen fin- (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Aber uns ist
den muss. Das ist der wesentliche Punkt, über den wir bange!)
heute streiten müssen.
(B) – Ja, das kann sein. Ich glaube, die Menschen haben uns (D)
Der Hauptgeschäftsführer hat gesagt, es müssten ihr Vertrauen geschenkt, weil wir für Deutschland und
greifbare Ergebnisse geliefert werden, nur so könnten für die Kommunen arbeiten, und dass das Beste am Ende
wir wieder Vertrauen schaffen. Wir haben in diesem siegen wird.
Herbst greifbare Ergebnisse auf den Weg gebracht. Die
letzten Wochen haben gezeigt, dass die Koalition ent- Vielleicht sollten wir bei den nächsten Aktuellen
scheidungsfähig ist, dass wir Entscheidungen auf den Stunden konstruktiv diskutieren, Lösungen auf den
Weg bringen, die für die Zukunft unseres Landes wichtig Tisch legen und nicht nur für Unterhaltung sorgen und
sind. Das wird auch bei den Kommunalfinanzen so sein. einen Keil in die Regierung treiben. Dann ergibt das
Ganze Sinn.
Der Bundesfinanzminister hat die Gewerbesteuer auf
den Prüfstand gestellt. Wir als CSU haben immer gesagt, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
dass es ohne die Zustimmung der Kommunen keine Än- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
derung bei der Gewerbesteuer geben wird. Ich glaube,
dass man sich in der letzten Woche einig war, dass man
nur gemeinsam Lösungen finden kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
Ein Hebesatz auf die Einkommensteuer ist ein überle- erteile ich dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/
genswerter Ansatz, den es zu prüfen gilt. CSU-Fraktion das Wort.
(Bernd Scheelen [SPD]: Da stehen Sie auf der (Beifall bei der CDU/CSU)
anderen Seite des Rubikons!)
– Das sagen Sie. Ich bin in zwei kommunalen Parlamen- Bernhard Kaster (CDU/CSU):
ten: im Gemeinderat bei mir zu Hause und im Kreistag. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
Sich von der SPD vorhalten zu lassen, wir seien fern der und Kollegen! Das, was wir uns jetzt von der SPD zum
kommunalen Wahrheit, würde ich mir fast schon verbit- Thema Kommunalfinanzen haben anhören müssen, war
ten. nichts anderes als politische Schaumschlägerei.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU)
Ich glaube, der größte Teil aller hier im Bundestag Ver- Ausgerechnet Sie von der SPD sorgen sich heute um
tretenen – auch unserer Fraktion – ist kommunalpoli- Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung, ob-
tisch verankert und weiß, um was es geht. Die Kommu- wohl Sie genau wissen, dass das Thema Kommunalfi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7659
Bernhard Kaster
(A) nanzen von der Bundesregierung und der Koalition in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
Verbindung mit den Ländern und den kommunalen Spit- neten der FDP – Hartmut Koschyk, Parl.
zenverbänden, die Sie immer außen vor gelassen haben, Staatssekretär: Sehr richtig!)
in einem Maße angegangen wird, wie es noch nie der
Fall war. Bei der Finanzierung der Kommunen müssen wir im-
mer drei wichtige Finanzbeziehungen bedenken: die Be-
(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen ziehung zwischen Kommune und Bürger, die Beziehung
[SPD]: Das ist doch überhaupt nicht wahr!) zwischen Kommune und Wirtschaft sowie die Bezie-
Es geht außerdem nicht nur um Kommunalfinanzen; hung zwischen Kommune und Grund und Boden. In der
da liegt der Unterschied. Es geht auch um Standards, um Beziehung zwischen Kommune und Wirtschaft haben
Ausgabenentlastungen und um eine bessere Beteiligung wir bereits Gestaltungsmöglichkeiten, nämlich Hebe-
der Kommunen am Gesetzgebungsverfahren. Wir wol- sätze. Wir haben ebenfalls Gestaltungsmöglichkeiten in
len eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. der Beziehung zwischen Kommune und Grund und Bo-
Sie wissen ganz genau, dass wir auf dem Gebiet der den. Dieser Vorschlag ist daher im Hinblick auf Ent-
Standards – Staatssekretär Koschyk hat das schon er- scheidungsmöglichkeiten vor Ort sehr diskussionswür-
wähnt – auf einem guten Weg sind; es liegen rund dig und passt in die Systematik.
100 Vorschläge vor.
Wie waren die Reaktionen seitens der SPD? Man
(Bernd Scheelen [SPD]: 87, um genau zu kann feststellen, dass es auch bei einem solchen Thema
sein!) anscheinend nicht möglich ist, auf Grundsätzen basie-
rende Zukunftsentscheidungen innovativ und mutig zu
Auch beim Gesetzgebungsverfahren kommen wir voran. treffen. Sie reagieren je nach tagespolitischer Stimmung.
Wir hatten in der letzten Sitzungswoche schon Anhörun- Das war auch hier der Fall. Die Rede war von Steuer-
gen im Geschäftsordnungsausschuss. Vieles ist auf ei- krieg und ganz schlimmen Wettbewerbssituationen.
nem guten Weg, und am Ende wird ein vielfältiger Pakt Ausgerechnet der Ministerpräsident von Rheinland-
für die Kommunen stehen. Pfalz sprach von gigantischen Steuererhöhungen, also
Es ist schon dreist, wie Sie beim Thema Kommunen der Ministerpräsident eines Landes, das allein von der
heute dicke Backe machen, wo Sie doch in rot-grüner SPD regiert wird und bereits seit Jahren die Kommunen
Zeit – das ist schon angesprochen worden; aber man im Rahmen des Finanzausgleichs plündert.
kann es nicht oft genug sagen –, als die SPD die Bundes-
regierung geführt hat, hinsichtlich der Stärkung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kommunen jegliche Glaubwürdigkeit verloren haben. neten der FDP)
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Hier ist jetzt von Wanderbewegungen und Steuer-
der FDP) erhöhungen die Rede. Über was genau sprechen wir bei
einem solchen Zuschlagsrecht? Es geht um einen 15-pro-
Man muss immer wieder daran erinnern, dass in den Jah- zentigen Anteil der Kommunen am Einkommensteuer-
ren bis 2005 die kommunalen Defizite auf 8 bzw. aufkommen. Wenn man den Rahmen von 5 Prozent voll
9 Milliarden Euro gestiegen sind; im Schnitt waren es ausschöpfen würde, würde der kommunale Anteil bei ei-
5 Milliarden Euro. Zu der Zeit hatten wir keine globale nem mittleren Einkommen – hier geht es um 10 000 Euro
Finanz- und Wirtschaftskrise; das war die rot-grüne Einkommensteuer – im Jahr bei 75 Euro liegen. Bei gu-
Krise für die Kommunen. ten Einkommen würde dieser Anteil vielleicht 200 bis
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 300 Euro betragen. Angesichts dessen von Wanderbewe-
neten der FDP) gungen zu sprechen, wohl wissend, dass die Unter-
schiede zwischen den Gemeinden bei Abwasser- und
Die Gewerbesteuerumlage wurde erhöht, und in einer Abfallgebühren sowie Grundsteuer wesentlich größer
Nacht-und-Nebel-Aktion – da war die Bundestagswahl sind, ist einfach Unsinn.
schon gelaufen – wollte man noch den Zuschuss zu den
Kosten der Unterkunft auf null setzen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist eine Lüge! In- Die Selbstverwaltung trägt in einem ganz erheblichen
formieren Sie sich, warum das so war!) Maße zur Stärke unseres Landes bei. Haben wir Zu-
Ich muss sagen: Sie waren wahre Helden. trauen in die Bürger vor Ort, die sich für ihre Gemeinde,
ihre Stadt ehrenamtlich engagieren! Es lohnt sich, die
Unser Finanzminister hat nunmehr sehr diskussions- Finanzgrundlagen unserer Kommunen, die Verantwor-
würdige innovative Vorschläge unterbreitet. Dazu gehört tung vor Ort tragen, nachhaltig und dauerhaft zu sichern.
auch das kommunale Zuschlagsrecht bei der Einkom- Für uns, die Union und die Koalition, gilt: Wir müssen
mensteuer. Dieser Vorschlag greift unser Verständnis den Kommunen und ihren gewählten Vertretern Ver-
von Selbstverwaltung, von Subsidiarität und von Verant- trauen schenken und ihnen Geld und Verantwortung
wortung vor Ort auf. Bei den Kommunalfinanzen darf es überlassen. Wenn es den Gemeinden gut geht, geht es
eben nicht nur darum gehen, dass der Bund gönnerhaft dem ganzen Land gut.
Geld gibt oder, wie Sie es getan haben, machtvoll
nimmt. Geld und Verantwortung gehören immer zusam- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
men. neten der FDP)
7660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
Die Aktuelle Stunde ist beendet. LINKE
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf: Für ein modernes Preisbildungssystem bei
Arzneimitteln
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kran- Schmeink, weiterer Abgeordneter und der
kenversicherung (Arzneimittelmarktneuord- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nungsgesetz – AMNOG)
Qualität und Sicherheit der Arzneimittel-
– Drucksache 17/2413 – versorgung verbessern – Positivliste einfüh-
ren – Arzneimittelpreise begrenzen
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Anna
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
der gesetzlichen Krankenversicherung (Arz- weiterer Abgeordneter und der Fraktion
neimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksachen 17/3116, 17/3211 – Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss) Drucksachen 17/1201, 17/1768, 17/893, 17/2322,
17/2324, 17/1418, 17/1985, 17/3698 –
– Drucksache 17/3698 –
Berichterstattung:
Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach
Abgeordnete Michael Hennrich
Dr. Marlies Volkmer Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
Ulrike Flach und der FDP liegen ein Änderungsantrag und ein Ent-
Dr. Martina Bunge schließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Ent-
Birgitt Bender schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- CSU und der FDP sowie über den Entschließungsantrag
richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- der Fraktion der SPD werden wir später namentlich ab- (D)
(B) schuss) stimmen.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner, Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
SPD beschlossen.
Effektivere Arzneimittelversorgung Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, ner dem Bundesminister Dr. Philipp Rösler das Wort.
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Ernst Dieter (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Gesundheit:
Öffentlichen Zugang zu Informationen über Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
klinische Studien umfassend sicherstellen Herren Abgeordnete! Die Maßnahmen zur Neuordnung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra des Arzneimittelmarktes in Deutschland haben drei we-
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite- sentliche Ziele: erstens auch die Pharmaindustrie in Ver-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE antwortung zu nehmen, wenn es darum geht, die finan-
zielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung zu
Verpflichtung zur Registrierung aller klini- konsolidieren; zweitens das bisherige Preismonopol der
schen Studien und zur Veröffentlichung aller Industrie durch die Etablierung eines neuen, wettbe-
Studienergebnisse einführen werblichen und damit fairen Preisfindungsverfahrens zu
brechen und drittens den Zugang der Menschen zu den
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
bestmöglichen Medikamenten sicherzustellen, und dies
Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, wei-
bei gleichzeitig besserer Preiskontrolle, als sie bisher
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
möglich ist. Wenn Sie sich den aktuellen Gesetzentwurf
LINKE
ansehen, dann können Sie feststellen, dass alle drei Ziele
Unabhängige Patientenberatung in Regelan- zu 100 Prozent erreicht worden sind.
gebot überführen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein! Alle ver-
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, fehlt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7661
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
(A) Alleine durch das GKV-Änderungsgesetz und das vergessen, für wen wir solche Gesetze überhaupt ma- (C)
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, dessen Entwurf chen, nämlich für die Patientinnen und Patienten.
Ihnen vorliegt, werden im letzten Quartal 2010 und im
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist richtig!)
Gesamtjahr 2011 für die Versicherten in Deutschland
Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro realisiert. Ihre Äußerungen gerade zu den seltenen Erkrankungen
Nur zur Erinnerung: In Ihrer rot-grünen Regierungszeit finde ich mehr als bedenklich. Ich will ausdrücklich fest-
hatten auch Sie angekündigt, die Pharmaindustrie mit halten: Seltene Erkrankungen heißen so, weil sie – Über-
Sparpaketen in Milliardenhöhe zu belasten. Daraus ist raschung – selten sind. Es sind also nur wenige Men-
eine Einmalzahlung in Höhe von 400 Millionen Euro ge- schen davon betroffen. Leider stellen diese Menschen
worden. Dieses Zahlenbeispiel zeigt, wie entschlossen eine so kleine Gruppe dar, dass sich die Industrie nicht
diese Regierungskoalition ist, wenn es darum geht, auch die Mühe macht, Medikamente für diese Menschen zu
die Pharmaindustrie im Interesse der Versicherten in erforschen, geschweige denn zuzulassen. Für Sie ist die
Verantwortung zu nehmen. Gruppe vielleicht so klein, dass Sie sich um diese Men-
schen nicht kümmern wollen. Diese Regierungskoalition
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kümmert sich aber auch um diese Menschen und sorgt
Frau Bender, es war übrigens eine grüne Ministerin, die dafür, dass auf der einen Seite der Zugang für Menschen
diesen Versuch unternommen hat und am Ende geschei- mit seltenen Krankheiten zu Medikamenten sicherge-
tert ist. stellt wird und dass auf der anderen Seite diese Regelun-
gen nicht missbraucht werden können, um den Markt
Die einseitige Preisfestlegung wird beendet. Künftig mit ungeprüften Medikamenten zu überschwemmen.
wird die Industrie bei der Einführung eines neuen Pro- Wir haben die richtige Balance gefunden
dukts immer auch Daten vorlegen müssen, die die Men-
schen in die Lage versetzen, den Nutzen bzw. den Zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
satznutzen zu bewerten. Anders als es manchmal von der zwischen dem Zugang der Menschen zu den bestmögli-
Opposition dargestellt wird, soll diese Nutzenbewertung chen Innovationen auf der einen Seite und der Kosten-
ausdrücklich nicht von der Industrie vorgenommen wer- kontrolle auf der anderen Seite. Genau das war das Ziel.
den, sondern von einem unabhängigen Gremium der
Selbstverwaltung, nämlich vom Gemeinsamen Bundes- Wir als christlich-liberale Koalition wollen es nicht
ausschuss, gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Instituts zulassen, dass die Arzneimittelpreise in Deutschland
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe- deutlich höher sind als im europäischen Ausland; deswe-
sen. Dadurch stellen wir sicher, dass es keine überhöhten gen haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg ge-
Preisforderungen gibt, wie Sie, lieber Herr Kollege bracht. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Ich
(B) Lauterbach, manchmal zu unterstellen versuchen. Denn hoffe, Sie stimmen dem Gesetzentwurf zu. (D)
künftig werden nicht mehr die Preiskalkulationen der In- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
dustrie, sondern die entsprechenden Nutzenbewertungen
Grundlage der Vertragsverhandlungen sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Erstmalig gibt es also eine wissenschaftliche Grundlage Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach von der
für die künftige Preisgestaltung. SPD-Fraktion.
Medikamente, die im Vergleich zu anderen Medika- (Beifall bei der SPD)
menten keinen Zusatznutzen haben, werden übrigens au-
tomatisch in die sogenannten Festbetragsgruppen einge- Dr. Karl Lauterbach (SPD):
ordnet. Mit diesen Medikamenten kann man dann keinen Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
höheren Preis als mit vergleichbaren Therapeutika mehr gen! Der Gesetzentwurf, über welchen heute abgestimmt
realisieren. Wir halten die Argumentation „kein Zusatz- wird, ist nichts anderes als eine Mogelpackung, um in
nutzen, also auch keine zusätzliche Bezahlung“ aus- der Sprache der Pharmaindustrie zu bleiben. Mehr ist er
drücklich für richtig. Wir jedenfalls wollen die bisher nicht. Er ist eine Mogelpackung, weil weder die Kosten
vorhandenen Anreize für Scheininnovationen, die dazu begrenzt werden noch die Qualität verbessert wird. Die
führen, dass bei Medikamenten nur der Name, die Farbe Therapie wird unsicherer gemacht.
und vielleicht ein paar Molekülgruppen verändert wer-
den, beseitigen. Wir wollen, dass die Menschen in unse- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Heute ist ja
rem Lande zukünftig nur noch Innovationen erhalten, Karnevalsanfang!)
auf die sie sich verlassen können und die einen tatsächli- Ich will Ihnen das erläutern. Brauchbar ist ohne Wenn
chen Nutzen haben. und Aber die Erhöhung des Zwangsrabattes.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]:
Immerhin!)
Gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Nutzen
für die Menschen machen wir uns große Sorgen um die Selbst das wird aber keine lange Wirkung haben; denn
Opposition. Wir verstehen, dass Polemik zur Rolle der selbstverständlich werden es die Pharmaunternehmen
Opposition gehört. Bei aller Diskussion darf man aber schaffen, die Versorgung auf teurere Medikamente um-
nicht die Fachlichkeit vergessen. Man darf auch nicht zustellen. Sie haben nichts unternommen, um sicherzu-
7662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Karl Lauterbach


(A) stellen, dass auch die richtigen Medikamente eingesetzt Medikament, das er ohne den neuen Vertrag möglicher- (C)
werden. weise nie bekommen hätte, gar nicht braucht.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das glauben nur (Patrick Döring [FDP]: Hätte, könnte, würde,
Sie!) sollte!)
Bedenken Sie: Dieser Gesetzentwurf enthält keinen ein- Herr Rösler, haben Sie über diesen Teil des Gesetz-
zigen Aspekt, bei dem es darum geht, dass die richtigen entwurfs jemals mit einem Medizinethiker gesprochen?
Arzneimittel eingesetzt werden. Ist Ihnen vielleicht einmal der Gedanke gekommen, sich
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist ja Quatsch!) zu fragen, weshalb Regeln dieser Art in jedem anderen
europäischen Land nicht erlaubt sind? Weshalb ist das
Dieser Gesetzentwurf beinhaltet keinen einzigen As- so? Das ist so, weil man sicherstellen will, dass der Pa-
pekt des Verbraucherschutzes. tient nicht als Absatzmarkt der Industrie betrachtet wird,
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Verbrau- sondern so behandelt wird, wie er es braucht. Der Krebs-
cher zahlen 2,4 Milliarden Euro weniger!) patient ist in erster Linie Patient und kein Absatzmarkt,
der durch einen Vertrag bedient werden soll, wie es ihn
In diesem Gesetzentwurf steht nichts, wodurch sicherge- in dieser Form in keinem anderen europäischen Land
stellt wird, dass zum Beispiel die Marketingaktivitäten gibt.
der Pharmaindustrie verändert werden und dass nach
wissenschaftlich gesicherten Leitlinien behandelt wird. (Beifall bei der SPD)
Das ist ein reines Kostensenkungsgesetz, und diese Kos- Ich kenne keinen Ethiker, der ein solches Gesetz befür-
tensenkung wird noch nicht einmal funktionieren. worten würde.
(Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer (Ulrike Flach [FDP]: Das spricht aber eher ge-
[CDU/CSU]: Was denn? Entweder es funktio- gen Sie! – Patrick Döring [FDP]: Sie kennen
niert oder nicht!) die falschen Leute!)
Sie haben keinen einzigen Vorschlag gemacht, aus Bedenken Sie, was es bedeutet, wenn die Jahreskos-
dem hervorgeht, wie der Patient vor der Verabreichung ten für ein Medikament 100 000 Euro betragen. Wie
von Arzneimitteln geschützt werden kann, die gar keine groß ist dann der Anreiz, vertraglich zu regeln, dass der
Wirkung haben oder überteuert sind. Arzt eine Bonifikation bekommt? Man kann das, was
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Trauen Sie den Sie einführen wollen, auch als legalisierte Form der Kor-
Ärzten gar nichts mehr zu?) ruption bezeichnen, sehr verehrter Herr Minister.
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
Sie haben lediglich Preisverhandlungen eingeführt.
Diese werden auf der Grundlage von Preisvorschlägen der LINKEN – Patrick Döring [FDP]:
der Pharmaindustrie und auf der Grundlage von Studien Quatsch!)
geführt, die die Pharmaindustrie selbst vorlegt. Das ist Sie haben uns vorgeworfen, wir würden uns nicht für
nichts anderes als eine Feilscherei auf der Grundlage von seltene Krankheiten interessieren. Das Gegenteil ist die
Studien, die von der Industrie einem Gremium vorgelegt Wahrheit. Bei den seltenen Krankheiten ist eine schnelle
werden, das selbst keine Studien erstellen kann und dem Zulassung sinnvoll. Daher werden diese Medikamente
keine anderen vorliegen. auch länger patentgeschützt. Aber wir wissen, dass diese
Hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Bewertung haben Sie Regelung seit Jahren von der Industrie missbraucht wird.
sich selbst gelobt und gesagt, es werde etwas eingeführt, Was aber machen Sie? Statt diesen Missbrauch einzu-
das es bisher nicht gab. Das ist nicht richtig. Die Kosten- schränken, bohren Sie ihn auf, indem Sie diese Medika-
Nutzen-Bewertung war nach geltendem Recht schon im- mente zusätzlich von der Kosten-Nutzen-Bewertung
mer erlaubt und durchführbar. Sie ist aber nicht genutzt ausnehmen. Damit setzen Sie einen Anreiz, dass mehr
worden. Sie hätten Druck ausüben müssen, damit das be- Medikamente für kleine Krankheitsgruppen getestet und
stehende Gesetz genutzt wird, das besser als der Gesetz- zugelassen werden, obwohl sie dann für viel größere Pa-
entwurf ist, den Sie jetzt verabschieden wollen. tientengruppen eingesetzt werden. Dieser Trick, den die
Pharmaindustrie in ganz Europa und insbesondere bei
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Wa- uns anwendet, wird sich durch Ihr Gesetz wahrschein-
rum hat Frau Schmidt das nicht gemacht?) lich weiterverbreiten. Somit werden Patienten mit selte-
In einigen Bereichen werden Sie die Versorgung ver- nen Krankheiten durch Ihre Politik nicht geschützt. Viel-
schlechtern, zum Beispiel wenn es um die integrierte mehr werden Medikamente gegen seltene Krankheiten
Versorgung geht, die die pharmazeutische Industrie jetzt von einer notwendigen Nutzenbewertung, die nach Ih-
erstmalig mit anbieten kann. Es ist erstmalig möglich, rem Gesetz schon schlecht genug ist, ausgenommen.
dass die Pharmaunternehmen selbst die integrierte Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sorgung anbieten. Das hört sich zunächst einmal gut an: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Arzt bekommt dann ein zusätzliches Honorar; die
Kasse erhält einen Rabatt, und das Medikament des Was die von Ihnen vorgesehenen Einsparungen an-
Pharmaunternehmens kommt auf den Markt. Es sieht so geht, ist es richtig, dass der Rabatt den Krankenkassen
aus, als ob alle profitieren würden. Wer profitiert aber etwas Geld bringen wird – es sind aber keine 1,5 Milliar-
nicht? Der Patient profitiert nicht, weil er dieses neue den Euro, wie Sie glauben, sondern vielleicht 500 Mil-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7663
Dr. Karl Lauterbach
(A) lionen Euro, weil von einer Preissteigerung auszugehen Johannes Singhammer (CDU/CSU): (C)
ist –, aber dafür wird der Patient in der Apotheke zusätz- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
lich zur Kasse gebeten. Sie erhöhen die Zuzahlungen bei ren! Heute ist ein guter Tag für 80 Millionen gesetzlich
Nachahmerprodukten. Bei nicht rabattierten Medika- und privat Krankenversicherte und alle, die in Deutsch-
menten muss zukünftig der volle Betrag zugezahlt wer- land auf Heil- und Arzneimittel angewiesen sind.
den. Hier gilt keine Obergrenze.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Ulrike Flach [FDP]: Das müssen sie ja nicht der FDP – Widerspruch bei der SPD – Steffen-
kaufen!) Claudio Lemme [SPD]: Fasching fängt an!)

Damit holen sich die Pharmafirmen den kleinen Rabatt, Mit der Verabschiedung des Arzneimittelmarktneu-
den Sie eingeführt haben, vom Patienten zurück. Das ist ordnungsgesetzes wird sichergestellt, dass Patienten in
nichts anderes als „linke Tasche, rechte Tasche“. Deutschland die besten und wirksamsten Arzneimittel
erhalten, die es weltweit gibt. Gleichzeitig zahlen die Pa-
(Beifall bei der SPD) tienten im kommenden Jahr 2,4 Milliarden Euro – das
sind 2 400 Millionen Euro – weniger. Der scheinbar un-
Der Versicherte wird minimal entlastet, und die Pharma- aufhaltsame, endlose, ewige Anstieg der Arzneimittel-
unternehmen holen es sich bei Kranken und älteren kosten wird gestoppt.
Menschen zurück.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frau Flach, Sie haben gesagt, dass die Medikamente Mit einem völlig neuen, innovativen Verfahren sorgen
nicht gekauft werden müssen. Sie wissen doch selbst, wir für Transparenz und Klarheit darüber, ob ein Medi-
dass ein älterer Mensch, der nicht gerade zufällig eine kament tatsächlich einen zusätzlichen Nutzen für den
Ärztin als Tochter hat, das nicht entscheiden kann. Wir Kranken bringt und nicht nur einen zusätzlichen Nutzen
wollen keine Ausnutzung und Abzockerei von wehrlo- für das Unternehmen hat. Deshalb können alle, die mit-
sen älteren Patienten. Patienten sind keine Kunden. gearbeitet haben, zu Recht zufrieden, ja stolz sein, dass
wir dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
verabschieden.
der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Un-
glaublich! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die FDP muss lernen, dass der Patient kein Kunde ist. Er Wir verabschieden in Gesetzestafeln – damit setzen
ist in der Regel kein junger Geschäftsmann, der sich im wir ein Versprechen um –, was wir zu Beginn des Jahres
(B) Internet bedienen kann. Es sind keine Menschen wie als Eckpunkte angekündigt haben. (D)
Herr Rösler, die jung, gesund und gut ausgebildet sind. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Gesetzestafeln
Es sind Menschen, die darauf angewiesen sind, dass Sie wie auf dem Berg Sinai?)
sie vor Abzockerei schützen. Aber Sie führen diese ein.
Es ist ein Gesetz, das Bestand haben wird. Es wird eine
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umkehrung des genannten, scheinbar unaufhaltsamen
der LINKEN) Trends bedeuten. Von 1998 bis 2009 sind die Arzneimit-
telausgaben von 18 Milliarden Euro auf über 32 Milliar-
In der Summe ist der Gesetzentwurf eine Mogel- den Euro gestiegen. So konnte es nicht weitergehen.
packung, die im Januar nächsten Jahres geöffnet wird. Jetzt wird nachprüfbar eingespart – hören sie genau zu –:
Dann werden Sie sehen, dass Ihre ohnedies bescheide- 1,2 Milliarden Euro durch die Erhöhung des gesetzli-
nen Zustimmungswerte weiter sinken werden; denn die chen Herstellerrabatts auf 16 Prozent; 200 Millionen
Menschen werden in der Apotheke zuzahlen müssen. Sie Euro durch Einbeziehung der Arzneimittel aus Kranken-
werden merken, dass es Ärger mit den Verträgen mit der hausambulanzen; 200 Millionen Euro durch Übertra-
Pharmaindustrie gibt. Sie werden sich über die dadurch gung der gesetzlichen Herstellerrabatte auf die private
bedingten Kostenerhöhungen ärgern. Der Beitragssatz Krankenversicherung; 200 Millionen Euro durch Anhe-
wird nicht sinken, sondern steigen. Das kommt dabei he- bung des Apothekenrabatts von 1,70 Euro auf 2,05 Euro
raus. Ich habe diesbezüglich kein Mitleid. Aber die Ver- je Packung; 200 Millionen Euro beim Großhandel;
schlechterung der Versorgungsqualität ist ein Armuts- 300 Millionen Euro durch Rabattsenkung der Impfstoff-
zeugnis. Daher ist der Gesetzentwurf es nicht wert, dass preise auf das Niveau internationaler Vergleichspreise
wir ihm zustimmen. und 100 Millionen Euro bei Zytostatika. Wer diese Zah-
len als schlagenden Beweis für ein Einknicken gegen-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
über Lobbyismus und der Pharmaindustrie anführen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
will, der leidet an Gehirnschwurbel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von NEN]: Welche Diagnose ist das?)
der CDU/CSU-Fraktion.
Einsparmaßnahmen sind nicht nur angenehm, son-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dern sie bedeuten für manche Beteiligte auch Härten.
neten der FDP) Deshalb müssen sie mit Vernunft und Augenmaß erfol-
7664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Johannes Singhammer
(A) gen. Wir haben durchgesetzt – der Minister ist bereits nur für die Patienten. Das bietet auch Unternehmen eine (C)
darauf eingegangen –, dass Arzneimittel für seltene Chance, auf dem Leitmarkt Deutschland mit zertifizier-
Krankheiten weiterentwickelt werden, dass Patienten- ten Produkten einen Standard zu setzen, der auch für die
gruppen mit nur 500 bis 1 000 Betroffenen in Deutsch- Märkte außerhalb Deutschlands Bedeutung hat.
land nicht alleingelassen und vom Fortschritt ausge-
(Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])
schlossen werden.
Dazu brauchen die Unternehmen, die über Jahre hinweg
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
investieren, Rechtssicherheit. Deshalb ist es richtig, dass
Deshalb gibt es eine klare Ausnahmeregelung für seltene der Bundesminister durch eine Verordnung die Verfah-
Krankheiten, für die sogenannten Orphan Drugs. ren regeln will, die den Zusatznutzen feststellen. Damit
wird ein rechtssicheres, faires Verfahren für alle garan-
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tiert.
Gehört Gehirnschwurbel auch dazu? – Volker
Kauder [CDU/CSU]: Say it in German, Für uns als Union war es besonders wichtig, Bürokra-
please!) tie abzubauen und den Wettbewerb zu stimulieren.
Aber damit nicht Möglichkeiten für raffinierte Umge- (Elke Ferner [SPD]: Davon merkt man
hungen eröffnet werden, wird das Umsatzvolumen bei wenig!)
diesen Arzneimitteln auf 50 Millionen Euro begrenzt. Bonus-Malus-Regelung, Zweitmeinung – weg! Wirt-
Wir haben auch erreicht, dass mittelständische phar- schaftlichkeitsprüfung – verschlankt! Therapiehinweise
mazeutische Unternehmen, die oft jahrelangen For- und Verordnungsausschlüsse – kurz und knapp geregelt!
schungsaufwand für nur ein oder zwei Medikamente be- Es gibt mehr Wettbewerb, weil Verhandlungen zwischen
treiben, nicht in eine finanzielle Schieflage geraten. den Pharmaunternehmen und den Kostenträgern künftig
Deshalb können diese Unternehmen mit einem völlig zwingend vorgeschrieben sind. Ab Januar können die
unbürokratischen Antrag Freistellung von den gesetzli- Preise nicht mehr nach eigenem Ermessen festgelegt
chen Rabatten verlangen. Damit sichern wir Arbeits- werden. Künftig gilt das Wettbewerbsrecht bei Selektiv-
plätze bei diesen mittelständischen Unternehmen, um verträgen, nicht bei Kollektivverträgen.
die es uns auch geht. Wir als Union setzen damit unser Versprechen um, in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Deutschland einen der modernsten Arzneimittelmärkte
Lauterbach [SPD]: In erster Linie!) zu schaffen. Was die Menschen in Deutschland jetzt
nicht brauchen, sind ewige Berufsnörgler, Berufs-
– Gehen Sie doch einmal zu einer Demonstration von schlechtredner, die nichts anderes wollen, als das be-
(B) Arbeitnehmern eines solchen Unternehmens mit oft nur (D)
rühmte Haar in der Suppe zu finden. Nein, die Patienten
100 bis 200 Arbeitnehmern und sagen Sie ihnen, das sei in Deutschland brauchen eine Politik, die die neuen
Ihnen egal. Wege, die wir heute beschreiten, mutig weitergeht.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die gehen nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz
ins Wendland!) Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ge-
Uns sind diese Arbeitsplätze nicht egal, und deshalb ha- schwurbel!)
ben wir da einen Sondertatbestand geschaffen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wir stehen zu dem selbstständigen Beruf der Apothe- Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der
ker. In einem Paket, mit dem wir allen Leistungserbrin- Fraktion Die Linke.
gern – Arbeitgebern, gesetzlichen Krankenkassen usw. –
Sparmaßnahmen abverlangen, müssen auch sie einen (Beifall bei der LINKEN)
Sparbeitrag leisten. Durch eindeutige Formulierungen
haben wir aber sichergestellt, dass sich die Befürchtung Kathrin Vogler (DIE LINKE):
der Apotheker, dass der Sparbeitrag in Höhe von Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
200 Millionen Euro, den der Pharmagroßhandel erbrin- möchte mich zunächst einmal recht herzlich bei den Ab-
gen muss, auf die Apotheken abgewälzt werde, nicht be- geordneten der Koalition bedanken, aber nicht für die
wahrheitet, sondern dass es bei diesem Sparbeitrag Legendenbildung, die der Kollege Singhammer gerade
bleibt. Wir werden zudem das Versprechen, das wir im betrieben hat, sondern dafür, dass wir heute überhaupt
Koalitionsvertrag gegeben haben, nämlich dass die Pick- über den Entwurf eines Arzneimittelneuordnungsgeset-
up-Stellen nicht zugelassen werden, halten. zes hier im Plenum beraten. Das hatten Sie nämlich ur-
sprünglich gar nicht vor. Es ist vielmehr der Intervention
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
der Linken zu verdanken, dass wir uns dafür heute zu-
Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir sind doch
mindest eine Stunde Zeit nehmen.
keine Hühner!)
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist ein Irrtum, Frau
Wir wollen Deutschland wieder zur Apotheke zumin-
Vogler!)
dest Europas machen. Wo steht geschrieben, dass die
Zeit endgültig vorbei sei, dass von Deutschland Innova- Eigentlich hatten Sie vor, dieses wichtige Paket parla-
tionen ausgehen? Wir werden mit dem innovativen An- mentarischer Initiativen versteckt hinter dem GKV-
satz des Zusatznutzens Standards setzen, und zwar nicht Finanzierungsgesetz morgen, am Freitag, in gerade ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7665
Kathrin Vogler
(A) mal 90 Minuten abzufrühstücken. Ein solches Durch- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!) (C)
peitschen und ein solches Aushebeln der demokratischen
Rechte der Opposition, das Sie schon bei den AKW- Zweitens erlassen Sie den Firmen bei Medikamenten
Laufzeiten praktiziert haben, lassen wir Ihnen nicht für die sogenannten seltenen Erkrankungen die Nutzen-
mehr durchgehen. bewertung. Genauer gesagt: Auch potenziell nutzlose
Mittel müssen die Kassen bezahlen, wenn diese nicht
(Beifall bei der LINKEN) mehr als 50 Millionen Euro Umsatz pro Jahr machen.
Sie können es selbst nachrechnen: Nur 20 solcher Medi-
In dieser Woche wendeten Sie wieder einen takti-
kamente auf dem Markt belasten die Kassen mit bis zu
schen Trick an, um die Rechte des Parlaments zu be-
1 Milliarde Euro jährlich. Dabei kommt ganz schnell
schneiden und die Öffentlichkeit zu täuschen. Erst zur
mehr zusammen, als uns Herr Singhammer gerade an
Ausschusssitzung am Montag dieser Woche haben Sie
Ersparnissen vorgerechnet hat.
einen weiteren Änderungsantrag zu dem GKV-Finanzie-
rungsgesetz gestellt und das Ganze weiter verschlimm- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau so
bessert. Sie wollen die Einführung der umstrittenen Ge- ist es!)
sundheitskarte forcieren und die Krankenkassen unter
Androhung empfindlicher Geldstrafen dazu zwingen, in- Wir alle wissen doch, wie erfinderisch die Pharmain-
nerhalb eines Jahres mindestens 10 Prozent der Versi- dustrie ist, wenn es um Profitmaximierung geht. Schon
cherten mit dieser Karte auszustatten. jetzt schneidet sie Medikamente immer häufiger auf im-
mer kleinere Patientengruppen zu. So wird beispiels-
So macht Schwarz-Gelb Politik und Gesetze: am weise ein Medikament gegen Darmkrebs – Sie alle ken-
Montag im Ausschuss, am Freitag schon im Plenum be- nen den Fall –, das auch bei einer bestimmten Form der
schlossen, ohne erste Lesung, ohne ausführliche Debatte Altersblindheit wirkt, vom Unternehmen für genau diese
im Ausschuss, ohne Anhörung von Expertinnen und Ex- Indikation nicht zur Zulassung angemeldet. Stattdessen
perten. wird ein ganz ähnlicher Wirkstoff neu patentiert und
Sie, Herr Bahr, haben in der Presse behauptet, es han- zum 50-fachen Preis in den Markt gedrückt. Für die
dele sich ja nur um eine „abgespeckte Version“ der 25 Millionen Euro, welche die Kassen 2009 für dieses
Karte. Medikament für nur 1 500 Patientinnen und Patienten
ausgegeben haben, könnte mit dem ebenso wirksamen
(Patrick Döring [FDP]: Was Herr Bahr sagt, günstigeren Medikament die Sehkraft von mehr als
das stimmt!) 80 000 Menschen in diesem Land gerettet werden. Das
Ich wüsste gerne, woher Sie das haben. Im Gesetz steht ist doch ein Skandal, und dagegen müssen wir gemein-
das nämlich nicht. Vermutlich war Ihnen klar, dass Sie sam vorgehen.
(B) (D)
auch für dieses Projekt keine Lorbeeren bei den Fachleu- (Beifall bei der LINKEN)
ten ernten würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den 36 im letz-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist die Rede für ten Jahr neu eingeführten Medikamenten sind nur 5 mehr
morgen!) als 10 000-mal verschrieben worden. Sie sehen also:
Die Bedenken, was den Datenschutz angeht, hätte ich Hier öffnen Sie ein Schlupfloch groß wie ein Scheunen-
gerne noch in einer Anhörung debattiert, zumal der elek- tor, durch das sich die Firmen der Nutzenbewertung ent-
tronische Personalausweis nicht einmal 24 Stunden alt ziehen können und werden.
war, als er bereits gehackt worden ist. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es gibt
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das keines!)
kommt erst morgen!) Drittens erschweren Sie es dem Gemeinsamen Bun-
– Gut. Jetzt komme ich ja zu den Plänen für die Arznei- desausschuss auch noch, unwirtschaftliche oder nutzlose
mittelpreise. Medikamente nachträglich von der Erstattung durch die
Kassen auszuschließen. Im Klartext: Sie fördern teure
(Zurufe von der CDU/CSU: Ah!) Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen auf Kosten der
Herr Minister Rösler, erinnern Sie sich noch daran, Allgemeinheit.
dass Sie im Frühjahr groß angekündigt haben, die Phar- Es verwundert nicht, dass Sie in den Stellungnahmen
maindustrie an die Kandare nehmen zu wollen? Das der Sachverständigen von fast allen Seiten verheerende
wollten Sie uns gerade auch wieder verkaufen. Davon ist Kritiken bekommen haben. Nur die Pharmalobby war
aber leider fast nichts übrig geblieben. Das ist ausge- erstaunlich leise.
sprochen schade, weil Sie nämlich die Versicherten mit
hohen Kosten und die Kranken mit zweifelhaften Thera- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was?)
pien im Regen stehen lassen.
Denn schließlich haben Sie ja einen Gutteil des Gesetzes
Nur drei Beispiele. Erstens erlauben Sie den Unter- beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller abge-
nehmen weiterhin, den Preis neuer Medikamente im ers- schrieben. So machen Sie das überall. Die Hotelketten
ten Jahr ganz allein festzusetzen. Erst dann sollen sie mit und die Atomindustrie dürfen entscheiden, wie viel
den Kassen über einen angemessenen Preis verhandeln. Steuern sie zahlen wollen, die Pharmaindustrie wird ge-
Das bedeutet doch erst recht Mondpreise im ersten Jahr. fragt, ob sie vielleicht auf den einen oder anderen Euro
Neue Medikamente werden zunächst einmal teurer. verzichten mag, die Ärztinnen und Ärzte freuen sich
7666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Kathrin Vogler
(A) über 600 Euro monatlich mehr, die Telematikindustrie den, dann folgt garantiert der Versuch einer Geschichts- (C)
wird auch noch bedient, und die Privatversicherungs- klitterung – das haben wir heute wieder erlebt –, deswe-
wirtschaft darf einen ganzen Strauß Wünsche in die ge- gen eine kurze Einheit in Sachen Gemeinschaftskunde
setzgeberische Feder diktieren. und dazu, wie es damals war.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist da noch einer übrig Rot-Grün hatte keine Mehrheit im Bundesrat und
geblieben, den wir nicht bedient haben?) musste deshalb mit der Union verhandeln. Als wir im
Aber haben Sie einmal die Versicherten, die Arbeitneh- Sommer 2003 am Tisch gesessen haben mit der Union
merinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und und mit der FDP – Herr Rösler, fragen Sie Ihren Kolle-
Rentner gefragt, was sie davon halten, dass sie künftig gen Daniel Bahr; der weiß es noch –, hat alsbald die FDP
mehr und mehr Beiträge zahlen sollen, nur damit die diesen Konsenstisch verlassen. Warum?
Arzthonorare steigen und sich die Pharmafirmen weiter (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weil mit den
goldene Nasen verdienen? Grünen nicht zu reden war!)
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie Da gehe es ja der Pharmaindustrie an den Kragen, und
freuen sich, dass sie 2 400 Millionen weniger da wollte man nicht dabei gewesen sein. So war es da-
für Medikamente zahlen müssen!) mals.
Herr Rösler, in den Zeitungen stand, dass Sie als Ti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ger gesprungen und als Bettvorleger der Pharmakon- und bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/
zerne gelandet seien. Das halte ich inzwischen für maß- DIE GRÜNEN]: Aha! – Heinz Lanfermann
los übertrieben. Sie waren nie ein Tiger; Sie waren [FDP]: Das war vorher, im Kanzleramt! Im
bestenfalls ein Miezekätzchen auf Schmusekurs mit der Kanzleramt war die Rotweinrunde! – Ulrike
Wirtschaft. Flach [FDP]: Das war jetzt Geschichtsklitte-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) rung!)
Wenigstens in einem Punkt – da muss ich Sie wieder Es war damals die Union – auch das gehört zur Wahr-
loben – haben Sie Ihre übliche Beratungsresistenz über- heit dazu –, die den Einstieg in eine echte Kosten-Nut-
wunden. Bei der Pflicht zur Veröffentlichung von Arz- zen-Bewertung verhindert hat. Das durften wir nicht.
neimittelstudien haben Sie nach der Anhörung nachge- Man soll Leute loben, wenn sie dazugelernt haben. Ich
bessert und sind der Kritik der Sachverständigen sowie gestehe Ihnen zu: Es hat sich etwas bewegt. – Es ist gut,
unseren Anregungen teilweise gefolgt. Aber die Ent- dass wir damals mit Müh und Not die Gründung des In-
(B) scheidung darüber, welche Studien überhaupt gemacht stituts, des IQWiG, durchsetzen konnten, das an der Be- (D)
werden, überlassen Sie weiter der Industrie. Was wir wertung, die Sie jetzt einführen wollen, Herr Minister,
dringend brauchen, sind unabhängige Studien, wie die mitarbeitet. Wenn es das nicht gäbe, hätten Sie viel grö-
Linke sie fordert. ßere Schwierigkeiten, überhaupt den kleinen Schritt zu
wagen, den Sie jetzt gehen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich bleibe bei dem, was ich schon am 9. Juli hier ge-
und bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]:
sagt habe – ich komme jetzt auch zum Schluss –: Wir er-
Sehr verstecktes Kompliment!)
heben für unsere Vorschläge kein Copyright. Es ist bes-
ser, Sie schreiben von uns ab Aber Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Ihre an-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nein, fänglichen Versprechungen und der Gesetzentwurf, der
tun wir nicht!) von Ihnen heute vorliegt, weit auseinanderfallen. Was
haben Sie uns versprochen? Sie wollten erstens das
als von der Wirtschaftslobby. Der eine Punkt, in dem Sie Preismonopol der Pharmaindustrie brechen.
uns gefolgt sind, heilt leider nicht den ganzen Murks,
den Sie in den anderen Punkten zugunsten der Konzerne (Jens Spahn [CDU/CSU]: Erledigt!)
und zulasten der Solidargemeinschaft zusammengebas- Was ist jetzt? Es gibt ein Jahr lang Zeit, einen Preis zu
telt haben. Diesem Gesetz können und wollen wir des- verhandeln. Wenn er dann endlich verhandelt ist, gilt er
halb nicht zustimmen. im ambulanten Bereich; in den Krankenhäusern gilt er
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: nicht. Was wird in der Zeit sein? Die Firmen werden mit
Wir werden das nervlich ertragen!) Maximalpreis einsteigen und im Krankenhaus erst recht
abzocken. Was haben wir davon?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zweites Versprechen. Sie wollten zwischen echten
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von Bünd- und Scheininnovationen unterscheiden.
nis 90/Die Grünen.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben wir
auch gemacht!)
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Warum darf dann der Gemeinsame Bundesausschuss für
Minister Rösler, wenn Sie von Ihrer Vorvorgängerin ein neues Arzneimittel existierende internationale Evi-
Andrea Fischer und von rot-grünen Regierungszeiten re- denz nicht benutzen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7667
Birgitt Bender
(A) (Ulrike Flach [FDP]: Daran hindert doch (Jens Spahn [CDU/CSU]: Um so schlimmer! – (C)
keiner!) Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Warum
sind Sie dann dagegen?)
Sie sagen: Nur die Unterlagen der Pharmaindustrie, die
hier vorgelegt werden, fließen in die Bewertung ein. Was machen Sie? Sie wollen sie gänzlich von der Nut-
zenbewertung ausnehmen. Nehmen wir einmal ein Bei-
Warum hat dann, wenn man Innovationen und Schein- spiel: Für eine bestimmte Art von Krebserkrankung gibt
innovationen tatsächlich unterscheiden will, eine solche es sechs Arzneimittel. Drei davon haben den Orphan-
Nutzenbewertung keine echte Konsequenz? Bei Ihnen Drug-Status, drei nicht; und alle sechs sind noch nie ge-
dient sie nur als Preisfindungsinstrument, während die geneinander geprüft worden. Wir wissen also nicht, wel-
Nutzenbewertung, die es schon gibt, ausgehebelt wird; ches Arzneimittel für den Patienten nutzbringender ist.
denn da wird auf einmal die Beweislast umgekehrt. Der Sie wollen nun, dass das so bleibt. Da fragt man sich
Gemeinsame Bundesausschuss soll beweisen, dass ein doch: Wem fehlt hier das Mitgefühl für diejenigen, die
Arzneimittel, das schon auf dem Markt ist, unzweckmä- an seltenen Krankheiten leiden? Das sind doch offenbar
ßig ist. Was wir stattdessen brauchen, sind Nutzenbewer- Sie.
tungen gerade für Arzneimittel, die schon auf dem Markt
sind. Sie müssten eine solche Bewertung durchlaufen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und in eine Positivliste aufgenommen werden, damit wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
wissen: Hier ist nicht nur ein guter Preis, hier ist auch KEN – Patrick Döring [FDP]: Unmöglich!)
Qualität der Arzneimittelversorgung gewährleistet. –
Nun haben Sie gemerkt, dass Sie sich verrannt haben.
Andere Länder machen das so. Dahinter bleiben Sie weit
Dann kommt eine Korrektur: Es wird eine Umsatzgrenze
zurück.
eingezogen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Umsatzgrenze
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist nicht gleich Qualität bzw. Nutzen für die Patienten.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Das erinnert an das, was wir hier auch sonst erlebt ha-
LINKEN)
ben: Es gab jeden Tag neue Änderungsanträge, Ände-
Es ist sogar so, Herr Minister, dass Ihr ursprünglicher rungsanträge der Änderungsanträge, einen Austausch
Gesetzentwurf in einigen Ansätzen weiter ging als die von Änderungsantrag 26 gegen Änderungsantrag XY.
Fassung, die uns heute vorliegt. Es muss wohl ziemlich Ich frage mich manchmal, ob die ständigen Nachbesse-
windig gewesen sein, und Sie als Bambus, wie Sie sich rungen durch das Ministerium von den Abgeordneten
ja einmal selbst bezeichnet haben, haben sich da ganz der Koalition überhaupt noch verstanden worden sind.
schön gebogen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Na, na, na! – Volker
(B) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber er Kauder [CDU/CSU]: An dem Punkt wäre ich (D)
schnellt immer wieder zurück!) als Grüne einmal ruhig!)
Die Pharmaindustrie stand zugegebenermaßen unter Im Ganzen gesehen, liebe Kollegen, kann ich nur sa-
Kulturschock. Was kommt jetzt dabei heraus? Ein schö- gen: Es handelt sich nicht um eine Neuordnung des Arz-
nes Angebot an sie. Sie dürfen sich als direkte Vertrags- neimittelmarktes, sondern so wird noch mehr Unordnung
partner an integrierten Versorgungsmodellen beteiligen. auf dem Arzneimittelmarkt geschaffen. In Anknüpfung
an Ihr Bild vom Bambus, Herr Minister, kann ich nur sa-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das steht seit Juli gen: Der Bambus wiegt sich, der Bambus biegt sich. Es
im Gesetzentwurf!) wäre besser gewesen, Sie hätten bei diesem Thema etwas
Das aber öffnet Tür und Tor dafür, dass Missbrauch be- mehr Standhaftigkeit gezeigt.
trieben wird. Es wird so nämlich ein direkter Zugang zu Danke.
Patientendaten eröffnet. Hingegen wäre eine struktu-
rierte Arzneimittelversorgung im Rahmen von verein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
barten Versorgungsmodellen durch die existierenden und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Vertragsmöglichkeiten gut möglich. LINKEN)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist der Unter-
schied?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Aschenberg-
Jetzt handelt es sich einfach nur um ein Geschenk, zu- Dugnus von der FDP-Fraktion.
mindest überflüssig für die Versorgung, wenn nicht so-
gar schädlich. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Ein anderes Beispiel: die seltenen Erkrankungen. Sie Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
haben vorhin etwas von fehlendem Mitgefühl für Men- Kollegen! In der gängigen Fachliteratur der Politikwis-
schen mit seltenen Erkrankungen erzählt. Dazu kann ich senschaft findet man zur Funktion und Rolle der Opposi-
nur sagen: Schauen Sie einmal ins Geschichtsbuch, wer tion, sie müsse die Regierung kontrollieren und konkret
durchgesetzt hat, dass es überhaupt eine Förderung für Alternativen aufzeigen. Ich musste das hier einmal so
diese sogenannten Orphan Drugs gibt. deutlich sagen; denn die Tatsache an sich, dass Sie sich
7668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Christine Aschenberg-Dugnus
(A) jetzt beschweren und unser AMNOG kritisieren, ent- und deshalb überführen wir die Beratung nun in die Re- (C)
spricht natürlich voll der Rollenverteilung. In dieser gelleistung. Aber nicht nur das: Wir verbessern auch die
Rolle gefallen Sie sich; darin gehen Sie voll auf: Frau Struktur und die Leistung der UPD.
Bender spricht von kleinen Schritten. Frau Vogler meint,
Besonders wichtig war uns die wirkliche Unabhän-
wir hätten die Pharmaindustrie nicht ausreichend an die
gigkeit der UPD. Wir haben ins Gesetz geschrieben – ich
Kandare genommen. Wenn man Herrn Lauterbach zu-
zitiere –:
hört, stellt man fest, dass seine meistgenannten Vokabeln
lauten: hätte, könnte, würde, sollte, möglicherweise. – Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen darf
Verkaufen Sie doch die Menschen bitte nicht für dumm! auf den Inhalt oder den Umfang der Beratungstätig-
keit keinen Einfluss nehmen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das machen doch Meine Damen und Herren, das war auch notwendig;
Sie!) denn Gespräche vor Ort haben ergeben, dass die Kassen
eben doch hier und da einmal versuchten, die Beratung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu beeinflussen. Das war nicht hinnehmbar. Wir haben
Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen? Frau die Neutralität gestärkt; das ist uns wichtig. Denn nur
Kollegin Vogler möchte gerne eine Zwischenfrage stel- eine neutrale UPD wird ihrer wichtigen Seismografen-
len. funktion gerecht. Darauf hat Kollege Zöller immer hin-
gewiesen; dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich bin gerade so in Schwung, bitte hinterher. Aber wir haben nicht nur die grundsätzliche Finanzie-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der rung sichergestellt, sondern auch die PKV mit ins Boot
FDP und der CDU/CSU) geholt, die mit einem Extrabeitrag gewährleistet, dass
Menschen mit Migrationshintergrund nunmehr anstän-
Sie müssen sich auch die Frage gefallen lassen: Wie dige Beratungsleistungen erhalten können; denn die pri-
ist es denn zu Ihrer Regierungszeit gelaufen? Da schaue vaten Kassen zahlen das muttersprachliche Angebot der
ich Herrn Lauterbach ganz konkret an. Was haben Sie ei- UPD. Wir freuen uns über dieses Ergebnis.
gentlich getan, um das Preismonopol der Pharmaindus-
trie zu brechen? Wie haben Sie es geschafft, die Kosten Tatsache ist: Wir haben die UPD auf eine solide ge-
in den Griff zu bekommen? Gar nichts haben Sie ge- setzliche Grundlage gestellt und ihren Fortbestand gesi-
macht. Wenn jetzt an der Legende gestrickt wird, es habe chert.
(B) an der FDP gelegen, kann ich dem nur entgegnen: Ent- (Mechthild Rawert [SPD]: Das glauben auch (D)
schuldigen Sie bitte, es ist kein Gesetz verabschiedet nur Sie!)
worden, es ist nichts gemacht worden.
Zudem wird es eine noch bessere UPD sein, als es noch
(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sie waren da- im Modellversuch der Fall war.
mals noch nicht dabei!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das lag an dem ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder,
der in einer seligen Weinrunde für sich alleine beschlos- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein ver-
sen hatte, die Pharmaindustrie mit einer Einmalzahlung trauensvolles Miteinander von Patienten, Ärzten, Klini-
zu bedenken. Das haben wir Ihnen zu verdanken. Das ken und Kassen. Das Gesundheitswesen braucht dafür
war der Beitrag der Sozialdemokratie zur Stabilisierung Transparenz und Orientierung über Rechte und Pflichten
der Kosten im Pharmabereich. Herzlichen Dank dafür! aller Beteiligten. Wir wollen eine UPD, die als ehrlicher
Makler zum Wohle der Patienten auftritt. Genau das ha-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben wir mit diesem Gesetz auch umgesetzt.
Meine Damen und Herren, Minister Rösler hat es Ih- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nen ausführlich erläutert: Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir gehandelt. Wir haben konkret ein Gesetz auf den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Weg gebracht, wir haben für die Millionen Versicherten, Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
für die Patienten gehandelt und die Versorgung mit den Kollegin Kathrin Vogler.
bestmöglichen Arzneimitteln sichergestellt. Außerdem
sparen wir jedes Jahr Milliardenbeträge ein. Sie ärgern (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die hat doch gerade
sich doch nur darüber, dass wir in einem Jahr mehr er- erst gesprochen! – Volker Kauder [CDU/
reicht haben als Sie in zehn Jahren Regierungsbeteili- CSU]: Das verlängert nur die Redezeit!)
gung vorher.
Kathrin Vogler (DIE LINKE):
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Danke, Herr Präsident. – Liebe Kollegin Aschenberg-
Außerdem haben wir im AMNOG die Zukunft der Dugnus, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
unabhängigen Patientenberatung gesichert. Die UPD als Opposition sehr wohl unsere Aufgabe erfüllt und Al-
leistet – darüber sind wir uns hier alle einig – einen un- ternativen vorgelegt haben. Wir haben heute hier drei
verzichtbaren Beitrag zu Rechtssicherheit und Transpa- Anträge allein unserer Fraktion vorliegen, und an den
renz im Gesundheitswesen. Das Modellprojekt war gut, Drucksachennummern können Sie erkennen, dass sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7669
Kathrin Vogler
(A) sehr frühzeitig, also vor Ihrem AMNOG, vorgelegt wor- Dr. Marlies Volkmer (SPD): (C)
den sind, wir also nicht nur auf Sie reagieren, sondern Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
sehr wohl in der Lage sind, die Umsetzung unserer eige- ren! Herr Minister Rösler, Sie wollen mit diesem Gesetz
nen Konzepte zu fordern. heute einen Befreiungsschlag starten.
Ich verweise auf den Antrag „Verpflichtung zur Re- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wieso starten? Das
gistrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentli- ist das Ende des Gesetzgebungsverfahrens!)
chung aller Studienergebnisse einführen“ vom 2. März
dieses Jahres und auf den Antrag „Unabhängige Patien- Sie wollen von den verheerenden Umfrageergebnissen
tenberatung in Regelangebot überführen“ vom 30. Juni weg; das kann ich verstehen. Wenn das Gesetz wirklich
dieses Jahres, wobei wir es, wenn Sie dies damals ent- das bieten würde, was Sie heute hier vorgetragen haben,
sprechend aufgegriffen hätten, geschafft hätten, heute dann wäre dies vielleicht möglich. Aber so ist es eben
nicht in der Situation zu sein, dass die qualifizierten Be- nicht. Ob man das Gesetz nun Mogelpackung oder Eti-
raterinnen und Berater sich auf andere Stellen bewerben, kettenschwindel nennt, ist egal; denn in diesem Gesetz
weil sie in der Unsicherheit sind, ob ihre Träger noch ist nicht das drin, was draufsteht.
einmal den Zuschlag für das Projekt Beratung bekom- Schauen wir uns einmal die Kosten an. Sie haben ge-
men. Ich verweise weiter auf den Antrag ebenfalls vom sagt, Sie wollen mit diesem Gesetz 2 Milliarden Euro
30. Juni dieses Jahres „Für ein modernes Preisbildungs- einsparen. Das werden Sie niemals erreichen. Denn die
system bei Arzneimitteln“ und darauf, dass ich in mei- Arzneimittelhersteller können zunächst einmal selbst die
nem Redebeitrag darauf eingegangen bin, dass Sie tat- Preise festlegen. Dann lassen sie sich die neuen Preise
sächlich einen Punkt von uns zumindest teilweise mühsam vom GKV-Spitzenverband abhandeln. Man
aufgegriffen haben. muss keine große Fantasie haben, um zu sagen, dass die
Uns hier vorzuwerfen, wir erledigten unsere Opposi- Arzneimittelhersteller mit einem hohen Preis einsteigen
tionsarbeit nicht richtig oder nur halb, halte ich einfach werden und mit dem Preis ungefähr dort landen, wo wir
für unredlich. heute sind.
(Beifall bei der LINKEN) Der zweite Grund, warum Sie die Einsparungen, die
Ihnen vorschweben, nicht erreichen werden, ist, dass Sie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
den Rabattverträgen alle möglichen Steine in den Weg
legen. Diese Verträge können zwischen Arzneimittelher-
Zur Erwiderung.
stellern und den Krankenkassen geschlossen werden. Sie
sagen, es stimme nicht, dass die Rabattverträge abge-
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): schafft würden, weil feste Laufzeiten für die Rabattver- (D)
(B)
Liebe Frau Kollegin, ich glaube nicht, dass Sie das träge vereinbart wurden.
eben richtig widerlegen konnten.
Sie setzen darauf, dass die Öffentlichkeit die kompli-
(Michael Leutert [DIE LINKE]: Zuhören!) zierten Änderungen des Rechtsweges und der Geltung
Um bei der UPD zu bleiben: Natürlich laufen jetzt ge- kartellrechtlicher Vorschriften nicht nachvollziehen
rade die Ausschreibungen. Aber ich habe ja versucht, kann. Wir können das aber und sagen: Diese massive
darzulegen, dass wir die UPD gegenüber dem Modell- Beschädigung der Rabattverträge wird die Versicherten
versuch verbessern wollen. viel Geld kosten. Wenn etwa die AOK ihre Rabattver-
träge im nächsten Jahr nicht wie vorgesehen umsetzen
(Mechthild Rawert [SPD]: Schaffen Sie aber kann, stehen Einsparungen von 720 Millionen Euro auf
nicht!) dem Spiel. Das ist ein Drittel der Summe, die Sie einspa-
Wenn Sie jetzt erzählen, es werde alles schlechter wer- ren wollen.
den oder nicht weitergeführt werden, dann stimmt das so Sie sagen weiterhin – das ist die nächste Überschrift –,
nicht. die Versorgungsqualität werde durch die Nutzenbewer-
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das habe ich tung besser. Das trifft nicht zu. Die von Ihnen vorgese-
nicht gesagt!) hene frühe Nutzenbewertung dient der Preisfindung. Für
Aussagen über den tatsächlichen Nutzen eines Arznei-
Ich möchte bitte nicht, dass Sie die Menschen vor Ort mittels sind ausführliche Nutzenbewertungen zu einem
verunsichern. Ich erwarte von Ihnen ja nicht, dass Sie sa- späteren Zeitpunkt unabdingbar. Diese sind aber nur in
gen, wir hätten ein gutes Gesetz gemacht. Aber es wäre Ausnahmefällen möglich.
uns schon sehr geholfen, wenn Sie aufhören würden, die
Menschen vor Ort zu verunsichern. Sie wollen auf ausführliche Bewertungen von Arznei-
mitteln regelhaft immer dann verzichten, wenn es zwi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Harald schen Arzneimittelherstellern und den Krankenkassen
Weinberg [DIE LINKE]: Unglaublich!) eine Einigung bei der Preisfindung gegeben hat. Ihnen
geht es nur um eine Regelung für die Preise, aber Sie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wollen nicht, dass die Krankenkassen nur noch solche
Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von Arzneimittel bezahlen, die einen nachgewiesenen Nut-
der SPD-Fraktion. zen haben.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
7670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Marlies Volkmer


(A) Das zeigt auch Ihr Änderungsantrag, nach dem der Ge- ballten Wut der Öffentlichkeit. Damit es nicht auffällt, (C)
meinsame Bundesausschuss die Unzweckmäßigkeit ei- nehmen Sie die Umgestaltung scheibchenweise vor.
nes Medikamentes beweisen soll. Das funktioniert aber
(Lars Lindemann [FDP]: Deswegen verspre-
nicht, was Ihnen Experten in der öffentlichen Anhörung
chen Sie jedem grundsätzlich alles!)
auch ins Stammbuch geschrieben haben.
Wir werden Ihnen das aber nicht durchgehen lassen.
(Mechthild Rawert [SPD]: Sehr deutlich!)
(Beifall bei der SPD)
Was bzw. wer Sie antreibt, haben Sie heute deutlich
gemacht. Herr Singhammer hat gegenüber der Presse er- Wir informieren die Öffentlichkeit.
klärt, warum nicht die Selbstverwaltung, sondern das
Wir lehnen dieses Gesetz heute ab. Wir haben einen
Ministerium selbst die Kriterien für die frühe Nutzenbe-
Entschließungsantrag eingebracht. Dieser Antrag bringt
wertung festlegt. Ich zitiere Herrn Singhammer aus der
nicht nur unsere Ablehnung zum Ausdruck, sondern ent-
Financial Times Deutschland:
hält auch unsere Forderungen. Wir legen ferner zwei An-
Die Politik muss künftig den Daumen auf dem Ver- träge sowie einen Änderungsantrag zur Abstimmung
fahren haben. Wir wollen, dass der Pharmastandort vor.
Deutschland attraktiv bleibt.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP:
Ich frage Sie: Sollen die Regelungen deshalb vom Wischiwaschi!)
Bundesgesundheitsministerium getroffen werden, weil
so pharmaindustriefreundlichere Bestimmungen veran- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kert werden können? Sie verneinen das vehement. Aber Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
welchen anderen Grund gibt es dann, die fachlich ver- gen Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion.
sierte Selbstverwaltung derart zu beschneiden?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes neten der FDP)
Singhammer [CDU/CSU]: Wird sie gar
nicht!)
Jens Spahn (CDU/CSU):
Aber auch an anderer Stelle wird klar, wer Ihnen die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Feder führt. Sie haben ganze Arzneimittelgruppen aus Gesetz, über das wir gerade beraten und über das wir
der Nutzenbewertung herausgenommen, nämlich Arz- gleich in zweiter und dritter Lesung abstimmen werden,
neimittel gegen seltene Erkrankungen sowie Arzneimit- führt zum stärksten Eingriff in der Geschichte der Bun-
tel, mit denen – was auch immer man sich darunter vor- desrepublik Deutschland in den Markt für Arzneimittel (D)
(B)
stellen soll – keine hohen Ausgaben verbunden sind. und in die Preisfindung bei Arzneimitteln, die es je gege-
ben hat. Wir brechen das Preismonopol der Pharmain-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aus
dustrie: Sie kann nicht mehr einseitig die Preise festle-
gutem Grund!)
gen. Im Gegenteil: Die Pharmaindustrie kann nur bei
Für diese Arzneimittel gilt für alle Zeit ein vom Herstel- tatsächlich bewiesenem Zusatznutzen höhere Preise ver-
ler definierter Preis. langen; darüber muss sie mit den Krankenkassen verhan-
deln.
Hier sind die in letzter Minute durch Sie vorgenom-
menen Änderungen reine Kosmetik. Wenn Sie den von Sie von der SPD haben seit zehn Jahren darüber gere-
den Experten vorgetragenen Argumenten wirklich ge- det. Sie haben in zehn Jahren nichts hinbekommen.
folgt wären, dann hätten Sie generell auf Ausnahmerege-
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben in den letzten
lungen verzichtet. Das haben Sie nicht getan.
drei Jahren alles blockiert! Sie waren doch die
Dieser Etikettenschwindel geht weiter. Nehmen wir Oberblockierer!)
das Beispiel der Mehrkostenregelung. Sie behaupten
Das Einzige, was Ihnen jetzt einfällt, ist, hier herumzula-
hier, das führe zu einer Verbesserung bei der Wahlfrei-
mentieren, anstatt einmal anzuerkennen, dass an dieser
heit der Patientinnen und Patienten: Die Patienten hätten
Stelle grundsätzlich Wichtiges gelingt.
die Freiheit, sich für ein Arzneimittel zu entscheiden, das
nicht rabattiert ist. Der Nutzen liegt allerdings bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
Pharmaherstellern: Sie werden ihre Marketingmaschinen ruf von der SPD: Durch ständiges Wiederho-
anwerfen und Ärzte und Patienten glauben machen wol- len wird es nicht richtiger!)
len, dass zum Beispiel ihr teures Omeprazol unver-
Dann kommen Sie mit Änderungsanträgen. Ihnen ist
gleichlich besser wirke als das rabattierte Omeprazol ih-
in den Beratungen seit Juli nicht ein einziger konstrukti-
res Konkurrenten. Aufgrund geschickter Werbung
ver Vorschlag zum Arzneimittelmarktneuordnungs-
werden die Pharmahersteller häufig erfolgreich sein. Der
gesetz eingefallen. Heute, am Tag der abschließenden
Patient bleibt auf den Mehrkosten sitzen.
Beratungen, legen Sie uns hier die ersten Änderungsan-
Die Mehrkostenregelung, die Sie jetzt einführen wol- träge vor. Verstehen Sie das unter Oppositionsarbeit? Ist
len, bedeutet den Einstieg in ein System von Grund- und das die Alternative, die Sie anbieten? Sie legen hier in
Wahlleistungen. Sie wollen die gesetzliche Krankenver- letzter Sekunde Vorschläge auf den Tisch, weil Sie mer-
sicherung so umgestalten, dass sie nur noch die Basis- ken, dass es peinlich ist, dass Ihnen nicht mehr einfällt
versorgung absichert. Sie haben aber Angst vor der ge- als Worthülsen, um gegen dieses Gesetz vorzugehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7671
Jens Spahn
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Preis eingeführt wird. Daran wollen Sie nichts ändern. (C)
Ferner [SPD]: Peinlich für Sie!) Durch dieses Gesetz ändert sich daran überhaupt nichts.
Was machen wir denn? Wir führen ein neues Verfah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ren ein, bei dem der pharmazeutische Hersteller wie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
auch in anderen europäischen Ländern – die Schotten
etwa machen es auch nicht anders – Sie lenken davon ab, dass es um den Preis und nicht um
den Zeitpunkt der Zulassung geht.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Doch! Die machen das anders!) Jens Spahn (CDU/CSU):
nach Zulassung eines Arzneimittels mit einem Dossier, Lieber Herr Kollege Lauterbach, hinter dem Begriff
das er vorzulegen hat, nachweisen muss, dass sein Arz- der „vierten Hürde“ – das ist ein zusätzliches Kriterium
neimittel tatsächlich besser ist als die Mittel, die bereits für die Zulassung – verbirgt sich genau diese Frage. Sie
auf dem Markt sind. Dann wird entschieden, ob es einen wissen, dass man nicht bereits zum Zeitpunkt der Zulas-
Zusatznutzen gibt oder nicht. Falls es keinen gibt, wird sung über den Zusatznutzen entscheiden kann, weil die
für das Arzneimittel ein Höchstpreis festgesetzt. Falls es entsprechenden Studien erst vorgelegt und die entspre-
aber einen Nutzen gibt, muss über den Preis verhandelt chenden Verhandlungen durchgeführt werden müssen.
werden. Spätestens nach zwölf Monaten gibt es einen Eine solche Entscheidung ist auf Basis der vorgesehenen
ausgehandelten Preis. Warum sehen wir diese zwölf Verfahren nicht möglich. Wir würden hierzu gerne ein-
Monate vor? An dieser Stelle muss sich die Sozialdemo- mal Vorschläge von Ihnen hören. Wir kennen bloß kei-
kratische Partei Deutschlands ein paar Fragen gefallen nen. Wir kennen nur die schönen Überschriften, die Sie
lassen. Uns ist es wichtig, dass neue, innovative Medika- immer wieder produzieren. Es ist also angemessen, diese
mente auch in der gesetzlichen Krankenversicherung di- Preisbildung über einen begrenzten Zeitraum hinweg zu-
rekt erstattungsfähig sind. zulassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie haben recht: Wir sind eines der letzten Länder auf Die Preisbildung ist übrigens nicht frei. Wie Sie zu
der Welt, in denen das so ist. Es ist aber zu Recht so; Recht gesagt haben, haben wir einen europäischen Preis-
denn neue Medikamente für die Behandlung von Krebs, findungsmechanismus. Der Preis für ein Medikament
HIV/Aids, Multipler Sklerose und Parkinson sind mit kann in Deutschland schon heute nicht dramatisch über
der großen Hoffnung der Patienten auf Leidminderung, dem Preis in anderen europäischen Ländern liegen; sonst
auf eine höhere Lebensqualität und auf ein längeres Le- gäbe es einen massenhaften Import in den deutschen
(B) ben verbunden. Deswegen wollen wir, dass neue Medi- Markt. Das System ist in sich preisregulierend. Sie wis- (D)
kamente grundsätzlich ab dem ersten Tag nach der sen so gut wie ich, dass für die Preisbildung Mechanis-
Markteinführung erstattungsfähig und damit für die Pa- men erforderlich sind, mit denen der Zusatznutzen be-
tienten zugänglich sind. Das ist ein hohes und wichtiges wertet wird.
Gut, für das wir einstehen.
Was Sie mit der vierten Hürde erreichen wollen, ist,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dafür zu sorgen, dass neue, innovative Medikamente für
die kranken Menschen nicht mehr sofort zugänglich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sind. Das lehnen wir entschieden ab.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Lauterbach? Andrea Wicklein [SPD]: Quatsch!)

Jens Spahn (CDU/CSU): Es ist doch bemerkenswert, dass der Leiter des Insti-
Gerne. tuts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-
wesen, des IQWiG, Herr Windeler, in verschiedenen In-
terviews deutlich gemacht hat, wie positiv er das findet,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: was wir hier vorlegen. Er sagt, wie wichtig es ist, dass
Bitte schön. wir zu mehr Evidenz und zu einer besseren Grundlage
für die Arzneimittelpreisfindung kommen. Da Sie vorhin
Dr. Karl Lauterbach (SPD): gefragt haben, was in der gesetzlichen Krankenversiche-
Herr Spahn, wäre es nicht redlich, wenn Sie unter- rung erstattungsfähig bleibt, stelle ich fest: Wir stärken
scheiden würden zwischen dem Zeitpunkt der Marktver- den Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir fordern von
fügbarkeit, die auch von uns nicht kritisiert worden ist, der pharmazeutischen Industrie mehr Studien, die den
und dem Preis? Wir beklagen nur, dass das Medikament Nutzen beweisen. Wir achten aber auf ein faires Verhält-
sofort zum Höchstpreis, den die Industrie vorgibt, ange- nis und auf die Balance, weil wir wollen, dass in
boten wird. Wir haben kein Interesse daran, dass ein Me- Deutschland geforscht wird.
dikament verzögert auf den Markt kommt. Medikamente (Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP])
werden mittlerweile in ganz Europa zum gleichen Zeit-
punkt eingeführt. Sie lenken ab. Es geht nicht darum, Wir wollen Forschung in Deutschland. Das ist im Inte-
wann ein Medikament eingeführt wird, sondern nur da- resse der Patienten. Mit der Forschung werden viele
rum, dass es in Deutschland zu einem viel zu hohen Hoffnungen verbunden. Deswegen muss man auf die
7672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Jens Spahn
(A) Balance achten und nicht die Pharmaindustrie per se ver- nach deren Zulassung von den Krankenkassen möglichst (C)
dammen. schnell und zügig erstattet werden können. Seitens der
betroffenen Patienten ist damit wahnsinnig viel Hoff-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nung auf Leidminderung, auf Verbesserung der Lebens-
Zu den Orphan Drugs. Das sind Arzneimittel für qualität verbunden. Gleichzeitig brauchen wir Regelun-
Menschen mit seltenen Erkrankungen. An diesen Er- gen, durch die das Preismonopol der Pharmaindustrie
krankungen leiden zum Teil nur 1 oder 2 Personen von gebrochen wird. Diese Regelungen sorgen dafür, dass
10 000. Sie stehen nicht immer im Mittelpunkt der For- die Pharmaindustrie in Deutschland die Preise nicht ein-
schung der pharmazeutischen Industrie. Deswegen un- seitig festlegen kann. Dabei orientieren wir uns an Rege-
terstützt die Europäische Union bewusst die pharmazeu- lungen in anderen Ländern.
tischen Unternehmen, die auf diesem Gebiet forschen.
Man will – darauf hat die Kollegin Bender bereits hinge- Diesen Spagat zu schaffen, ihn auch in der öffentli-
wiesen –, dass es auch für diese Patientengruppen inno- chen Auseinandersetzung auszuhalten und deutlich zu
vative Medikamente gibt. Wenn das so ist und die Euro- machen, das ist die eigentliche Kunst. Hier zeigt sich
päische Union hier – im Übrigen nach Vorprüfung – Verantwortung. Dieser Verantwortung stellt sich die Ko-
entsprechende Unterstützung leistet, dann wollen auch alition, die Opposition leider wieder einmal nicht. Ich
wir, dass es diese neuen Medikamente für Menschen mit bitte um Zustimmung zu dem von uns vorgelegten Ge-
seltenen Erkrankungen schnell auf dem deutschen Markt setzentwurf.
gibt. Man darf sie nicht per se verteufeln. Wir haben die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ausnahme an dieser Stelle also bewusst geschaffen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Sie sagen, es gebe verschiedene Indikationen, indika- Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
tionsübergreifenden Gebrauch und Ähnliches. Ich ent- Kollegen Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion
gegne: Der eine Nierenkrebs ist nicht gleich einem ande- das Wort.
ren Nierenkrebs; es gibt da große Unterschiede. Natür-
lich gibt es zur Bekämpfung der verschiedenen Ausfor- Michael Hennrich (CDU/CSU):
mungen auch unterschiedliche Medikamente. Diese Un-
terschiede muss man anerkennen und deutlich machen, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
wenn man im Sinne der Patienten handeln will. Es geht Damen und Herren! In dieser Woche stehen zwei wich-
darum, differenzierte Lösungen zu finden und nicht auf tige Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung: das
alles mit dem Hammer zu schlagen. Genau das ist es, AMNOG und das GKV-FinG. Es ist ein wichtiges und
(B)
was wir an dieser Stelle tun. gutes Zeichen, dass wir die Debatte zur Gesundheitspoli- (D)
tik mit dem AMNOG beginnen. Damit machen wir deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich, dass wir die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht nur über die Einnahmeseite
Ich komme auf die Frage zu sprechen, wie wir für
sicherstellen, sondern dass wir auch an der Ausgaben-
eine qualitativ gute Versorgung der Patientinnen und Pa-
seite ansetzen.
tienten sorgen können. Herr Kollege Lauterbach, Sie ha-
ben gerade den Bereich „Arzneimittelversorgung bei Gerade das Thema Arzneimittel ist immer wieder in
Schizophrenie“ angesprochen. Die AOK Niedersachsen, der Diskussion. Es gibt kaum einen Politiker, der nicht
die nicht im Verdacht steht, pharmahörig zu sein, hat im schon mit der Frage konfrontiert wurde, warum in Spa-
Rahmen der integrierten Versorgung einen Vertrag ge- nien weniger für Arzneimittel gezahlt wird als in
schlossen – das geht schon heute, wenn die entsprechen- Deutschland. An diesem Thema müssen wir arbeiten,
den Bedingungen gegeben sind; wir ermöglichen, dass damit wir den Menschen deutlich machen, dass in
das noch leichter vonstatten gehen kann; darum geht es –, Deutschland nicht die höchsten Arzneimittelpreise ge-
in dem ganz bewusst nicht nur geregelt wird, dass ein zahlt werden, dass auch hier in Deutschland Einsparun-
Arzneimittel günstiger angeboten wird, sondern auch gen erzielt werden können.
das, was zu tun ist, wenn sich ein Patient freiwillig – es
wird ja niemand gezwungen – für einen solchen Vertrag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
entscheidet.
Der Arzneimittelsektor ist der zweitgrößte Ausgaben-
Es geht darum, welche Ärzte mit welchen Qualifika- block. Es lohnt sich, einmal ganz genau hinzuschauen,
tionen in Zusammenarbeit mit welchen Krankenhäusern wie sich die Arzneimittelpreise in den letzten Jahren ent-
und unter welchen Leitlinien das jeweilige Medikament wickelt haben. Es gab bei den Arzneimitteln mit Festbe-
verschreiben. Das ist im Sinne einer guten Behandlung trägen von 2009 auf 2010 eine Senkung der Ausgaben
der Versicherten. Wir wollen an dieser Stelle die Zusam- um 2 Prozent. Bei den patentgeschützten Arzneimitteln
menarbeit mit der Pharmaindustrie, damit Arzneimittel ohne Festbeträge gab es von 2009 auf 2010 Preissteige-
nicht nur auf den Markt kommen, sondern im Sinne ei- rungen von 9 Prozent. Es ist wichtig, dass wir mit dem
ner guten Versorgung auch den Patienten erreichen. AMNOG in diesem Bereich ansetzen, um die Finanzie-
rungsprobleme bei den patentgeschützten Arzneimitteln
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
in den Griff zu bekommen. 28 Prozent der Verordnungen
Unser Ziel ist eine innovative Versorgung der Patien- sind für 80 Prozent des Umsatzes im Arzneimittelsektor
ten. Wir wollen, dass die Kosten für neue Medikamente verantwortlich. Mit der frühen Nutzenbewertung, die wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7673
Michael Hennrich
(A) mit dem AMNOG einführen, werden wir die damit ver- versicherungen an die Wand fahren. Dass in der Großen (C)
bundenen Probleme in den Griff bekommen. Koalition, also in der Koalition zwischen CDU/CSU und
SPD, wenig für die privaten Krankenversicherungen und
Uns ist auch wichtig, dass die Patienten in Zukunft vor allem für die Versicherten getan werden konnte, war
möglichst schnell an ihr Medikament kommen. Herr klar. Es muss unser Anspruch als bürgerliche Koalition
Lauterbach, es ist der falsche Weg – das hat der Kollege sein, dass wir auch für die private Krankenversicherung
Jens Spahn deutlich gemacht –, den Patienten nach der Verantwortung übernehmen.
Zulassung zu sagen, dass wir erst noch zusätzlich den
Nutzen prüfen und über den Preis verhandeln. Deswegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
brauchen wir nach der Zulassung die Möglichkeit, dass der FDP)
ein Arzneimittel sofort in die Versorgung kommt.
Wir haben eine vernünftige Mehrkostenregelung. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- möchte in diesem Zusammenhang sagen, dass wir an
neten der FDP) den Rabattverträgen festhalten. Aber wir wollen den Pa-
tienten in Zukunft die Möglichkeit geben – vor allem äl-
Ich möchte im Zusammenhang mit der frühen Nut- teren Menschen, die auf ein bestimmtes Medikament an-
zenbewertung zwei Themen aufgreifen, die in der öffent- gewiesen sind, das sie schon jahrelang nehmen –, dieses
lichen Diskussion waren. Das waren die Themen Medikament weiterhin zu nehmen. Es kann nicht sein,
Rechtsverordnung und Orphan Drugs. Wir sollten daran dass man einer älteren Dame sagt: Wir haben jetzt einen
denken, welche Probleme wir mit der Kosten-Nutzen- Rabattvertrag, Sie müssen auf ein anderes Medikament
Bewertung nach § 35 b SGB V hatten, in dem wir ledig- umsteigen. – Deswegen stärken wir in diesem Punkt die
lich zwei Kriterien, internationale Standards und Ge- Eigenverantwortung der Patienten.
sundheitsökonomie, festgelegt hatten. Dies sorgte vier
Jahre lang beim IQWiG, beim GBA und bei den pharma- Ein Vorzug des vorliegenden Gesetzentwurfes ist,
zeutischen Herstellern für Verunsicherung. Daher ist es dass wir die Arzneimittelhersteller zur Veröffentlichung
der richtige Weg, ein paar Rechtsfragen verbindlich in der Ergebnisse klinischer Studien verpflichten. Außer-
einer Rechtsverordnung zu klären. Das heißt nicht, dass dem haben wir den Großhandelszuschlag neu geregelt.
das Gesundheitsministerium die Prüfungen durchführt. Mit Blick auf die Apotheker haben wir den ab 2011 gel-
Das heißt auch nicht, dass der GBA und das IQWiG in tenden Kassenabschlag auf 2,05 Euro festgesetzt. Da-
ihrer Kompetenz beschnitten werden. Es bleibt bei einer durch werden Einsparungen in Höhe von 200 Millionen
Verfahrensordnung. Euro erzielt. Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es
mir lieber gewesen wäre, wenn der Kassenabschlag, der
Es ist uns wichtig, ein klares und transparentes Ver-
bisher 2 Euro betrug, nicht auf 2,05 Euro erhöht worden
fahren zu gewährleisten. Wir wollen, dass die Beteilig-
(B) wäre. Ich habe aber Verständnis für Ihre Motivation, ihn (D)
ten, IQWiG, GBA und pharmazeutische Hersteller, ko-
anzuheben. Darüber hinaus wollen wir die unabhängige
operieren und verbindliche Abmachungen treffen. Patientenberatung ausbauen und das Wettbewerbsrecht
Deswegen wird in dem Gesetz klar geregelt, dass die
verbessern. Es gibt also viele gute Gründe, die für unse-
Hersteller einen Anspruch auf Beratung haben und dass
ren Gesetzentwurf sprechen.
es nach der Zulassung Vereinbarungen zwischen GBA
und Hersteller geben kann. Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht. Frau
Vogler, als wir diesen Gesetzentwurf in der ersten Bera-
Nächstes Thema: Orphan Drugs. Ich hatte in der Dis-
tung debattiert haben, haben Sie uns noch gelobt. Blank
kussion um die Orphan Drugs ein wunderbares Erlebnis,
entsetzt waren Sie allerdings, als Herr Lauterbach ihn
als ich mit Ihnen, Herr Lauterbach, bei einer Veranstal-
scharf kritisiert hat. Da kam Ihre Welt etwas durcheinan-
tung war. Dort hat ein führender Kopf aus dem Gesund-
der. Sie konnten sich natürlich nicht gefallen lassen, dass
heitswesen – es waren nicht Sie –
Herr Lauterbach Sie links überholt. Vor diesem Hinter-
(Patrick Döring [FDP]: Gibt es etwa noch ei- grund verstehe ich die Kritik, die Sie heute geäußert ha-
nen? – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Was soll ben. Ich glaube trotzdem, dass wir mit diesem Gesetz-
das? Unverschämt!) entwurf einen wichtigen Schritt machen, um in Zukunft
eine bessere Arzneimittelversorgung bei vernünftigeren
dieses Thema kritisiert und meinte, wir bräuchten eine Preisen zu gewährleisten.
frühe Nutzenbewertung. Daraufhin wurde ihm die Frage
gestellt, wo das Thema Orphan Drugs geregelt ist. Der Herzlichen Dank.
Betroffene wusste keine Antwort. Aber er kritisiert uns
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dafür, dass wir auf eine Zusatznutzenprüfung verzichten.
Viele Themen sind schon angesprochen worden. Ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
will noch einmal deutlich machen, welche Quanten- Ich schließe die Aussprache.
sprünge und großen Vorteile wir über die frühe Nutzen-
bewertung hinaus mit diesem Gesetz auf den Weg brin- Wir kommen zur Abstimmung über den von den
gen. Es ist wichtig, dass wir nicht nur für die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
gesetzlichen Krankenversicherungen, sondern auch für Entwurf eines Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes.
die privaten Krankenversicherungen Verantwortung Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 sei-
übernehmen. Es gibt in diesem Haus einige Personen, ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den
die ein Interesse daran haben, dass die privaten Kranken- Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
7674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) FDP auf Drucksache 17/2413 in der Ausschussfassung gen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der (C)
anzunehmen. SPD und der Linken abgelehnt.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Ge-
Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/3702? – setzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände- sachen 17/3116 und 17/3211, Entwurf eines Gesetzes
rungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzli-
FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei chen Krankenversicherung.
Stimmenthaltung der Linken abgelehnt. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in schlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den Ge-
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- setzentwurf der Bundesregierung für erledigt zu erklä-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die fehlung ist einstimmig angenommen.
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
Dritte Beratung fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-
sache 17/3698 fort. Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun auf Verlan- die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
gen der Fraktion der SPD namentlich über den Gesetz- Drucksache 17/1201 mit dem Titel „Effektivere Arznei-
entwurf ab. Zur Abstimmung über den Gesetzentwurf mittelversorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
liegt mir eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Geschäftsordnung des Kollegen Oliver Luksic vor.1) Ich Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD bei
sehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab- Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
stimmung. Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1768 mit
Haben sich alle Mitglieder des Hauses an der Abstim- dem Titel „Öffentlichen Zugang zu Informationen über
mung beteiligt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann klinische Studien umfassend sicherstellen“. Wer stimmt
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
(B) rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- (D)
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
bekannt gegeben.2) von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
angenommen.
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner
Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag der Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3703. Auch hier Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/893 mit dem Titel
verlangt die Fraktion der SPD namentliche Abstim- „Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einfüh-
die üblicherweise vorgesehenen Plätze einzunehmen. – ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
Ist alles zur Abstimmung vorbereitet? – Das ist der Fall. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
Dann eröffne ich die Abstimmung. fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
Haben alle Kolleginnen und Kollegen, die hier anwe- bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
send sind, ihre Stimme abgegeben? – Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Unter Nr. 6 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen ebenfalls später Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2322
bekannt gegeben.3) mit dem Titel „Unabhängige Patientenberatung in Regel-
angebot überführen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
Wir kommen nun zu weiteren Abstimmungen. Dazu empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich zu Ih- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
ren Plätzen zu begeben. CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3704. Wer Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt unter Nr. 7 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs- Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2324
antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge- mit dem Titel „Für ein modernes Preisbildungssystem
bei Arzneimitteln“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
1) Anlage 3 fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
2) Ergebnis Seite 7676 C Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsver-
3) Ergebnis Seite 7678 D hältnissen wie zuvor angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7675
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Unter Nr. 8 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Seehofer oder (C)
des Antrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen was?)
auf Drucksache 17/1418 mit dem Titel „Qualität und Si-
cherheit der Arzneimittelversorgung verbessern – Posi- Diese sollten Sie ernst nehmen. Wir wollen Sie beim
tivliste einführen – Arzneimittelpreise begrenzen“. Wer Wort nehmen. Sie sollten den Einstieg in die Rente erst
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt ab 67 zunächst einmal vier Jahre aussetzen; denn die Vo-
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung raussetzungen stimmen einfach nicht. Darum lassen Sie
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der uns gemeinsam ein Stoppzeichen setzen.
Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthal- (Beifall bei der LINKEN)
tung der SPD angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und
Unter Nr. 9 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt SPD, bereits vor vier Jahren, also 2006, wussten Sie,
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion dass die Rente erst ab 67 nicht mehr Arbeit im Alter,
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1985 mit sondern mehr Armut im Alter bringt. Das haben Sie klar
dem Titel „Unabhängige Patientenberatung ausbauen gesehen. Deswegen haben Sie die Einführung der Rente
und in die Regelversorgung überführen“. Wer stimmt für erst ab 67 mit Bedingungen verknüpft – ich zitiere aus
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – dem Gesetzentwurf –:
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf
Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und 67 Jahre ab dem Jahre 2012 setzt eine nachhaltige
Linken angenommen. Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voraus.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Das steht jetzt auch im Gesetz.
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weite- Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat kürzlich mit
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE deutlichen Worten daran erinnert – ich zitiere –:
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Ich werde meine Zustimmung zur Rente mit 67 auf-
derung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch kündigen, wenn die Wirtschaft Menschen, die über
und anderer Gesetze (RV-Altersgrenzenanpas- 50 sind, nicht beschäftigt.
sungs-Aussetzungsgesetz – RV-AgAG)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie müssen es in
– Drucksache 17/3546 – der Gesamtheit darstellen, Herr Birkwald!)
(B) Überweisungsvorschlag: (D)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Auch die SPD hat diese Position wiederentdeckt und
Innenausschuss die Einführung der Rente erst ab 67 unter Vorbehalt ge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stellt.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und (Anton Schaaf [SPD]: Wir haben es ins Gesetz
Technikfolgenabschätzung
geschrieben, Kollege Birkwald!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Kürzlich haben Sie, lieber Kollege Juratovic, deutlich
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
gemacht – ich zitiere –:
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Viele Arbeitnehmer können unter den heutigen Be-
Matthias Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort. dingungen nicht bis 65 arbeiten, geschweige denn
bis 67.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir Linke sagen: Sie haben vollkommen recht.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Selbst die Grünen – sonst strikte Befürworterinnen
Kollegen! Es ist kein Geheimnis: Die Linke lehnt die und Befürworter der Rente erst ab 67 – sehen die Gefahr
Rente erst ab 67 ab – drohender Altersarmut. Darauf hat Wolfgang
(Beifall bei der LINKEN) Strengmann-Kuhn vor zwei Wochen in der Aktuellen
Stunde hingewiesen. Recht hat er.
ohne Wenn und Aber. Gemeinsam mit der übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung, mit den Sozialverbänden und (Beifall bei der LINKEN)
mit den Gewerkschaften sagt die Linke als einzige Partei Die FDP hingegen traut sich leider nur in der Opposi-
in diesem Haus Nein zur Rente erst ab 67, und dabei tion, offen zu reden.
bleiben wir.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Kolb, 2006 haben Sie festgestellt – ich zitiere –:
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
selbst aus Ihren Reihen kommen Bedenken angesichts … dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder
der schlechten Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt. begleitender Arbeitsmarktreformen für die aller-
7676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Matthias W. Birkwald
(A) meisten Versicherten auf eine verkappte Rentenkür- sage Ihnen: Die werden diesen Sozialraub nicht akzep- (C)
zung hinauslaufen wird. tieren.
Wie recht Sie doch haben! (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Ich komme zum Schluss. Wir Linken nehmen Sie und
Kolb [FDP]: Das hat damals auch so ausgese-
die Bedenken aus Ihren Reihen gegen die Rente erst ab
hen! – Anton Schaaf [SPD], an den Abg.
67 ernst. Jetzt fehlt nur noch eines: Nehmen Sie sich
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] gewandt: Beein-
selbst beim Wort. Verschaffen Sie den Betroffenen Luft
druckend, Herr Kolb!)
und Ihren Bedenken Platz. Verschieben Sie den Einstieg
Doch heute reden Sie sich die Wirklichkeit schön. Sie in die Rente erst ab 67 um vier Jahre; denn jeder Schritt
behaupten, die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen in die richtige Richtung ist wichtig. Für uns bleibt das
habe sich „toll entwickelt“. Herr Kollege Kolb, auch ich Ziel klar: Die Linke ist ohne Wenn und Aber gegen die
finde es toll, wenn sich die Menschen auch über kleine Rente erst ab 67.
Dinge freuen können, aber hier ist das vollkommen
unangebracht. Ich sage Ihnen gerne, warum. Als Sie Vielen Dank.
Ende 2006 vor Rentenkürzungen durch die Rente erst ab
(Beifall bei der LINKEN)
67 gewarnt haben, gingen 179 000 64-Jährige einer Er-
werbstätigkeit nach; heute sind es 185 000. Das ist eine
Steigerung um gerade einmal 3 Prozent. Im gleichen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Zeitraum stieg der Anteil der 64-Jährigen, die einen Ich unterbreche die Debatte zu diesem Tagesord-
sozialversicherungspflichtigen Job haben, von knapp nungspunkt und teile die von den Schriftführerinnen und
7 Prozent auf knapp 10 Prozent. Bei den Vollzeitjobs Schriftführern ermittelten Ergebnisse der beiden na-
sieht es noch mickriger aus. Hier erhöhte sich der Anteil mentlichen Abstimmungen mit.
von knapp 5 Prozent im Jahr 2006 auf rund 6 Prozent im
Jahr 2009. Das, lieber Herr Dr. Kolb, finde ich nicht be- Ich komme zunächst zum Ergebnis der namentlichen
sonders toll. Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuord-
nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kranken-
(Beifall bei der LINKEN)
versicherung, AMNOG: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja
Erklären Sie das doch einmal den Menschen, die nach haben gestimmt 314, mit Nein haben gestimmt 269. Der
1947 geboren sind. Deren Rente wollen Sie kürzen. Ich Gesetzentwurf ist damit angenommen.

(B) (D)

Endgültiges Ergebnis Michael Brand Alois Gerig Karl Holmeier


Abgegebene Stimmen: 583; Dr. Reinhard Brandl Eberhard Gienger Franz-Josef Holzenkamp
davon Helmut Brandt Josef Göppel Joachim Hörster
Dr. Ralf Brauksiepe Peter Götz Anette Hübinger
ja: 314
Dr. Helge Braun Dr. Wolfgang Götzer Thomas Jarzombek
nein: 269 Heike Brehmer Reinhard Grindel Dieter Jasper
Ralph Brinkhaus Hermann Gröhe Dr. Franz Josef Jung
Ja Gitta Connemann Michael Grosse-Brömer Andreas Jung (Konstanz)
Leo Dautzenberg Markus Grübel Bartholomäus Kalb
CDU/CSU Alexander Dobrindt Manfred Grund Hans-Werner Kammer
Thomas Dörflinger Monika Grütters Steffen Kampeter
Ilse Aigner Marie-Luise Dött Dr. Karl-Theodor Freiherr Alois Karl
Peter Altmaier Dr. Thomas Feist zu Guttenberg Bernhard Kaster
Peter Aumer Enak Ferlemann Olav Gutting Siegfried Kauder (Villingen-
Dorothee Bär Ingrid Fischbach Florian Hahn Schwenningen)
Thomas Bareiß Hartwig Fischer (Göttingen) Holger Haibach Volker Kauder
Norbert Barthle Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Stephan Harbarth Dr. Stefan Kaufmann
Günter Baumann Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jürgen Hardt Roderich Kiesewetter
Ernst-Reinhard Beck Land) Gerda Hasselfeldt Eckart von Klaeden
(Reutlingen) Dr. Maria Flachsbarth Dr. Matthias Heider Ewa Klamt
Manfred Behrens (Börde) Klaus-Peter Flosbach Mechthild Heil Volkmar Klein
Veronika Bellmann Dr. Hans-Peter Friedrich Ursula Heinen-Esser Jürgen Klimke
Dr. Christoph Bergner (Hof) Frank Heinrich Julia Klöckner
Peter Beyer Michael Frieser Rudolf Henke Axel Knoerig
Steffen Bilger Erich G. Fritz Michael Hennrich Jens Koeppen
Clemens Binninger Dr. Michael Fuchs Jürgen Herrmann Dr. Kristina Schröder
Peter Bleser Hans-Joachim Fuchtel Ansgar Heveling Manfred Kolbe
Dr. Maria Böhmer Alexander Funk Ernst Hinsken Dr. Rolf Koschorrek
Wolfgang Börnsen Ingo Gädechens Peter Hintze Hartmut Koschyk
(Bönstrup) Dr. Thomas Gebhart Christian Hirte Thomas Kossendey
Norbert Brackmann Norbert Geis Robert Hochbaum Michael Kretschmer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7677
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Gunther Krichbaum Norbert Schindler Sylvia Canel Joachim Spatz (C)
Dr. Günter Krings Tankred Schipanski Helga Daub Dr. Max Stadler
Rüdiger Kruse Georg Schirmbeck Reiner Deutschmann Torsten Staffeldt
Bettina Kudla Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Rainer Stinner
Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder Patrick Döring Stephan Thomae
Günter Lach Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Dyckmans Florian Toncar
Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Rainer Erdel Serkan Tören
(Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Jörg van Essen Johannes Vogel
Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Ulrike Flach (Lüdenscheid)
Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Otto Fricke Dr. Daniel Volk
Katharina Landgraf Rhein) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Guido Westerwelle
Ulrich Lange Detlef Seif Hans-Michael Goldmann Dr. Claudia Winterstein
Dr. Max Lehmer Johannes Selle Heinz Golombeck Dr. Volker Wissing
Paul Lehrieder Reinhold Sendker Miriam Gruß Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Dr. Ursula von der Leyen Dr. Patrick Sensburg Joachim Günther (Plauen)
Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Dr. Christel Happach-Kasan Nein
Matthias Lietz Johannes Singhammer Heinz-Peter Haustein
Dr. Carsten Linnemann Jens Spahn Manuel Höferlin CDU/CSU
Patricia Lips Carola Stauche Elke Hoff
Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Frank Steffel Birgit Homburger Dr. Egon Jüttner
Dr. Michael Luther Erika Steinbach Dr. Werner Hoyer Bernd Siebert
Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Heiner Kamp
Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier Michael Kauch SPD
Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Dr. Lutz Knopek Ingrid Arndt-Brauer
Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Pascal Kober Rainer Arnold
Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Dr. Heinrich L. Kolb Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Michael Meister Karin Strenz Gudrun Kopp Doris Barnett
Maria Michalk Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. h. c. Hans Michelbach Lena Strothmann Sebastian Körber Klaus Barthel
Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Holger Krestel Sören Bartol
Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Patrick Kurth (Kyffhäuser) Bärbel Bas
Dietrich Monstadt Antje Tillmann Heinz Lanfermann Dirk Becker
Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl Sibylle Laurischk Uwe Beckmeyer
Stefan Müller (Erlangen) Arnold Vaatz Harald Leibrecht Lothar Binding (Heidelberg)
Nadine Schön (St. Wendel) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sabine Leutheusser- Gerd Bollmann
(B) Stefanie Vogelsang
(D)
Dr. Philipp Murmann Schnarrenberger Klaus Brandner
Bernd Neumann (Bremen) Andrea Astrid Voßhoff Lars Lindemann Willi Brase
Michaela Noll Dr. Johann Wadephul Christian Lindner Bernhard Brinkmann
Dr. Georg Nüßlein Marco Wanderwitz Dr. Martin Lindner (Berlin) (Hildesheim)
Franz Obermeier Kai Wegner Michael Link (Heilbronn) Edelgard Bulmahn
Henning Otte Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Erwin Lotter Ulla Burchardt
Dr. Michael Paul Peter Weiß (Emmendingen) Oliver Luksic Martin Burkert
Rita Pawelski Sabine Weiss (Wesel I) Horst Meierhofer Petra Crone
Ulrich Petzold Ingo Wellenreuther Patrick Meinhardt Dr. Peter Danckert
Dr. Joachim Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Gabriele Molitor Martin Dörmann
Sibylle Pfeiffer Peter Wichtel Petra Müller (Aachen) Elvira Drobinski-Weiß
Beatrix Philipp Annette Widmann-Mauz Burkhardt Müller-Sönksen Garrelt Duin
Ronald Pofalla Klaus-Peter Willsch Dr. Martin Neumann Sebastian Edathy
Christoph Poland Elisabeth Winkelmeier- (Lausitz) Siegmund Ehrmann
Ruprecht Polenz Becker Dirk Niebel Dr. h. c. Gernot Erler
Eckhard Pols Dagmar Wöhrl Hans-Joachim Otto Petra Ernstberger
Daniela Raab Dr. Matthias Zimmer (Frankfurt) Karin Evers-Meyer
Thomas Rachel Wolfgang Zöller Cornelia Pieper Elke Ferner
Dr. Peter Ramsauer Willi Zylajew Gisela Piltz Gabriele Fograscher
Eckhardt Rehberg Dr. Christiane Ratjen- Dr. Edgar Franke
Lothar Riebsamen FDP Damerau Dagmar Freitag
Josef Rief Christian Ahrendt Dr. Birgit Reinemund Peter Friedrich
Klaus Riegert Christine Aschenberg- Dr. Peter Röhlinger Sigmar Gabriel
Dr. Heinz Riesenhuber Dugnus Dr. Stefan Ruppert Michael Gerdes
Johannes Röring Daniel Bahr (Münster) Björn Sänger Martin Gerster
Dr. Norbert Röttgen Florian Bernschneider Frank Schäffler Iris Gleicke
Dr. Christian Ruck Sebastian Blumenthal Christoph Schnurr Günter Gloser
Erwin Rüddel Claudia Bögel Jimmy Schulz Ulrike Gottschalck
Albert Rupprecht (Weiden) Nicole Bracht-Bendt Marina Schuster Angelika Graf (Rosenheim)
Anita Schäfer (Saalstadt) Rainer Brüderle Dr. Erik Schweickert Kerstin Griese
Dr. Annette Schavan Angelika Brunkhorst Werner Simmling Michael Groß
Dr. Andreas Scheuer Ernst Burgbacher Judith Skudelny Wolfgang Gunkel
Karl Schiewerling Marco Buschmann Dr. Hermann Otto Solms Hans-Joachim Hacker
7678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Bettina Hagedorn Michael Roth (Heringen) Heike Hänsel Kai Gehring (C)
Klaus Hagemann Marlene Rupprecht Dr. Rosemarie Hein Katrin Göring-Eckardt
Michael Hartmann (Tuchenbach) Inge Höger Britta Haßelmann
(Wackernheim) Anton Schaaf Dr. Barbara Höll Bettina Herlitzius
Hubertus Heil (Peine) Axel Schäfer (Bochum) Andrej Hunko Winfried Hermann
Rolf Hempelmann Bernd Scheelen Ulla Jelpke Priska Hinz (Herborn)
Dr. Barbara Hendricks Marianne Schieder Katja Kipping Ulrike Höfken
Gustav Herzog (Schwandorf) Harald Koch Dr. Anton Hofreiter
Gabriele Hiller-Ohm Werner Schieder (Weiden) Jan Korte Bärbel Höhn
Petra Hinz (Essen) Ulla Schmidt (Aachen) Jutta Krellmann Ingrid Hönlinger
Frank Hofmann (Volkach) Silvia Schmidt (Eisleben) Katrin Kunert Thilo Hoppe
Dr. Eva Högl Carsten Schneider (Erfurt) Caren Lay Uwe Kekeritz
Christel Humme Olaf Scholz Sabine Leidig Katja Keul
Josip Juratovic Swen Schulz (Spandau) Ralph Lenkert Memet Kilic
Oliver Kaczmarek Ewald Schurer Michael Leutert Sven-Christian Kindler
Johannes Kahrs Frank Schwabe Ulla Lötzer Maria Klein-Schmeink
Dr. h. c. Susanne Kastner Rolf Schwanitz Dr. Gesine Lötzsch Ute Koczy
Ulrich Kelber Stefan Schwartze Thomas Lutze Tom Koenigs
Lars Klingbeil Rita Schwarzelühr-Sutter Ulrich Maurer Sylvia Kotting-Uhl
Hans-Ulrich Klose Sonja Steffen Dorothee Menzner Oliver Krischer
Dr. Bärbel Kofler Peer Steinbrück Cornelia Möhring Agnes Krumwiede
Daniela Kolbe (Leipzig) Christoph Strässer Kornelia Möller Fritz Kuhn
Fritz Rudolf Körper Kerstin Tack Wolfgang Nešković Stephan Kühn
Anette Kramme Dr. h. c. Wolfgang Thierse Thomas Nord Renate Künast
Nicolette Kressl Franz Thönnes Petra Pau Markus Kurth
Angelika Krüger-Leißner Wolfgang Tiefensee Jens Petermann Undine Kurth (Quedlinburg)
Ute Kumpf Rüdiger Veit Richard Pitterle Monika Lazar
Christine Lambrecht Ute Vogt Yvonne Ploetz Nicole Maisch
Christian Lange (Backnang) Dr. Marlies Volkmer Ingrid Remmers Agnes Malczak
Dr. Karl Lauterbach Heidemarie Wieczorek-Zeul Paul Schäfer (Köln)
Steffen-Claudio Lemme Jerzy Montag
Dr. Dieter Wiefelspütz Michael Schlecht Kerstin Müller (Köln)
Burkhard Lischka Waltraud Wolff Dr. Ilja Seifert
Gabriele Lösekrug-Möller Beate Müller-Gemmeke
(Wolmirstedt) Kathrin Senger-Schäfer Ingrid Nestle
Kirsten Lühmann Uta Zapf Raju Sharma
Caren Marks Dr. Konstantin von Notz
(B) Dagmar Ziegler Kersten Steinke Omid Nouripour (D)
Katja Mast Manfred Zöllmer Sabine Stüber
Hilde Mattheis Friedrich Ostendorff
Brigitte Zypries Alexander Süßmair Dr. Hermann Ott
Petra Merkel (Berlin) Dr. Kirsten Tackmann
Ullrich Meßmer Lisa Paus
DIE LINKE Frank Tempel Brigitte Pothmer
Dr. Matthias Miersch Dr. Axel Troost
Franz Müntefering Agnes Alpers Tabea Rößner
Dr. Dietmar Bartsch Kathrin Vogler Claudia Roth (Augsburg)
Dr. Rolf Mützenich Johanna Voß
Andrea Nahles Karin Binder Krista Sager
Matthias W. Birkwald Halina Wawzyniak Manuel Sarrazin
Dietmar Nietan Harald Weinberg
Manfred Nink Heidrun Bluhm Elisabeth Scharfenberg
Steffen Bockhahn Jörn Wunderlich Christine Scheel
Thomas Oppermann
Holger Ortel Eva Bulling-Schröter Dr. Gerhard Schick
BÜNDNIS 90/ Dr. Frithjof Schmidt
Aydan Özoğuz Dr. Martina Bunge
DIE GRÜNEN Dorothea Steiner
Heinz Paula Roland Claus
Johannes Pflug Sevim Dağdelen Marieluise Beck (Bremen) Dr. Wolfgang Strengmann-
Joachim Poß Dr. Diether Dehm Volker Beck (Köln) Kuhn
Dr. Wilhelm Priesmeier Heidrun Dittrich Cornelia Behm Hans-Christian Ströbele
Dr. Sascha Raabe Werner Dreibus Birgitt Bender Dr. Harald Terpe
Mechthild Rawert Dr. Dagmar Enkelmann Alexander Bonde Markus Tressel
Gerold Reichenbach Wolfgang Gehrcke Viola von Cramon-Taubadel Jürgen Trittin
Dr. Carola Reimann Nicole Gohlke Ekin Deligöz Daniela Wagner
Sönke Rix Diana Golze Katja Dörner Wolfgang Wieland
Dr. Ernst Dieter Rossmann Annette Groth Hans-Josef Fell Dr. Valerie Wilms
Karin Roth (Esslingen) Dr. Gregor Gysi Dr. Thomas Gambke Josef Philip Winkler

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur dritten Bera-
der FDP) tung ebendieses Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP, Drucksachen 17/2413 und 17/3698: abge-
Ich komme zum Ergebnis der namentlichen Abstim- gebene Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 203, mit
mung über den Entschließungsantrag der Abgeordneten Nein haben gestimmt 316, Enthaltungen 64. Der Ent-
Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner und weiterer schließungsantrag ist damit abgelehnt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7679
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Endgültiges Ergebnis Christel Humme Christoph Strässer Tabea Rößner (C)
Abgegebene Stimmen: 583; Josip Juratovic Kerstin Tack Claudia Roth (Augsburg)
davon Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Wolfgang Thierse Krista Sager
Johannes Kahrs Franz Thönnes Manuel Sarrazin
ja: 203
Dr. h. c. Susanne Kastner Wolfgang Tiefensee Elisabeth Scharfenberg
nein: 316 Ulrich Kelber Rüdiger Veit Christine Scheel
enthalten: 64 Lars Klingbeil Ute Vogt Dr. Gerhard Schick
Hans-Ulrich Klose Dr. Marlies Volkmer Dr. Frithjof Schmidt
Ja Dr. Bärbel Kofler Heidemarie Wieczorek-Zeul Dorothea Steiner
Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Wolfgang Strengmann-
SPD Fritz Rudolf Körper Waltraud Wolff Kuhn
Anette Kramme (Wolmirstedt) Hans-Christian Ströbele
Ingrid Arndt-Brauer Nicolette Kressl Uta Zapf Dr. Harald Terpe
Rainer Arnold Angelika Krüger-Leißner Dagmar Ziegler Markus Tressel
Heinz-Joachim Barchmann Ute Kumpf Manfred Zöllmer Jürgen Trittin
Doris Barnett Christine Lambrecht Brigitte Zypries Daniela Wagner
Dr. Hans-Peter Bartels Christian Lange (Backnang) Wolfgang Wieland
Klaus Barthel Dr. Karl Lauterbach BÜNDNIS 90/ Dr. Valerie Wilms
Sören Bartol Steffen-Claudio Lemme DIE GRÜNEN Josef Philip Winkler
Bärbel Bas Burkhard Lischka
Dirk Becker Marieluise Beck (Bremen)
Gabriele Lösekrug-Möller Volker Beck (Köln) Nein
Uwe Beckmeyer
Kirsten Lühmann Cornelia Behm
Lothar Binding (Heidelberg)
Caren Marks Birgitt Bender CDU/CSU
Gerd Bollmann
Katja Mast Alexander Bonde
Klaus Brandner Ilse Aigner
Hilde Mattheis Viola von Cramon-Taubadel
Willi Brase Peter Altmaier
Petra Merkel (Berlin) Ekin Deligöz
Bernhard Brinkmann Peter Aumer
Ullrich Meßmer Katja Dörner
(Hildesheim) Dorothee Bär
Dr. Matthias Miersch Hans-Josef Fell
Edelgard Bulmahn Thomas Bareiß
Ulla Burchardt Franz Müntefering Dr. Thomas Gambke Norbert Barthle
Martin Burkert Dr. Rolf Mützenich Kai Gehring Günter Baumann
Petra Crone Andrea Nahles Katrin Göring-Eckardt Ernst-Reinhard Beck
Dr. Peter Danckert Dietmar Nietan Britta Haßelmann (Reutlingen)
Martin Dörmann Manfred Nink Bettina Herlitzius Manfred Behrens (Börde)
Elvira Drobinski-Weiß Thomas Oppermann Winfried Hermann Veronika Bellmann
(B) Garrelt Duin Holger Ortel Priska Hinz (Herborn) Dr. Christoph Bergner (D)
Sebastian Edathy Aydan Özoğuz Ulrike Höfken Peter Beyer
Siegmund Ehrmann Heinz Paula Dr. Anton Hofreiter Steffen Bilger
Dr. h. c. Gernot Erler Johannes Pflug Bärbel Höhn Clemens Binninger
Petra Ernstberger Joachim Poß Ingrid Hönlinger Peter Bleser
Karin Evers-Meyer Dr. Wilhelm Priesmeier Thilo Hoppe Dr. Maria Böhmer
Elke Ferner Dr. Sascha Raabe Uwe Kekeritz Wolfgang Börnsen
Gabriele Fograscher Mechthild Rawert Katja Keul (Bönstrup)
Dr. Edgar Franke Gerold Reichenbach Memet Kilic Norbert Brackmann
Dagmar Freitag Dr. Carola Reimann Sven-Christian Kindler Michael Brand
Peter Friedrich Sönke Rix Maria Klein-Schmeink Dr. Reinhard Brandl
Sigmar Gabriel Dr. Ernst Dieter Rossmann Ute Koczy Helmut Brandt
Michael Gerdes Karin Roth (Esslingen) Tom Koenigs Dr. Ralf Brauksiepe
Martin Gerster Michael Roth (Heringen) Sylvia Kotting-Uhl Dr. Helge Braun
Iris Gleicke Marlene Rupprecht Oliver Krischer Heike Brehmer
Günter Gloser (Tuchenbach) Agnes Krumwiede Ralph Brinkhaus
Ulrike Gottschalck Anton Schaaf Fritz Kuhn Gitta Connemann
Angelika Graf (Rosenheim) Axel Schäfer (Bochum) Stephan Kühn Leo Dautzenberg
Kerstin Griese Bernd Scheelen Renate Künast Alexander Dobrindt
Michael Groß Marianne Schieder Markus Kurth Thomas Dörflinger
Wolfgang Gunkel (Schwandorf) Undine Kurth (Quedlinburg) Marie-Luise Dött
Hans-Joachim Hacker Werner Schieder (Weiden) Monika Lazar Dr. Thomas Feist
Bettina Hagedorn Ulla Schmidt (Aachen) Nicole Maisch Enak Ferlemann
Klaus Hagemann Silvia Schmidt (Eisleben) Agnes Malczak Ingrid Fischbach
Michael Hartmann Carsten Schneider (Erfurt) Jerzy Montag Hartwig Fischer (Göttingen)
(Wackernheim) Olaf Scholz Kerstin Müller (Köln) Dirk Fischer (Hamburg)
Hubertus Heil (Peine) Swen Schulz (Spandau) Beate Müller-Gemmeke Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Rolf Hempelmann Ewald Schurer Ingrid Nestle Land)
Dr. Barbara Hendricks Frank Schwabe Dr. Konstantin von Notz Dr. Maria Flachsbarth
Gustav Herzog Rolf Schwanitz Omid Nouripour Klaus-Peter Flosbach
Gabriele Hiller-Ohm Stefan Schwartze Friedrich Ostendorff Dr. Hans-Peter Friedrich
Petra Hinz (Essen) Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Hermann Ott (Hof)
Frank Hofmann (Volkach) Sonja Steffen Lisa Paus Michael Frieser
Dr. Eva Högl Peer Steinbrück Brigitte Pothmer Erich G. Fritz
7680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Dr. Michael Fuchs Michael Kretschmer Karl Schiewerling Ernst Burgbacher (C)
Hans-Joachim Fuchtel Gunther Krichbaum Norbert Schindler Marco Buschmann
Alexander Funk Dr. Günter Krings Tankred Schipanski Sylvia Canel
Ingo Gädechens Rüdiger Kruse Georg Schirmbeck Helga Daub
Dr. Thomas Gebhart Bettina Kudla Christian Schmidt (Fürth) Reiner Deutschmann
Norbert Geis Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder Dr. Bijan Djir-Sarai
Alois Gerig Günter Lach Dr. Andreas Schockenhoff Patrick Döring
Eberhard Gienger Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Mechthild Dyckmans
Josef Göppel (Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Rainer Erdel
Peter Götz Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Jörg van Essen
Dr. Wolfgang Götzer Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Ulrike Flach
Reinhard Grindel Katharina Landgraf Rhein) Otto Fricke
Hermann Gröhe Ulrich Lange Detlef Seif Dr. Edmund Peter Geisen
Michael Grosse-Brömer Dr. Max Lehmer Johannes Selle Hans-Michael Goldmann
Markus Grübel Paul Lehrieder Reinhold Sendker Heinz Golombeck
Manfred Grund Dr. Ursula von der Leyen Dr. Patrick Sensburg Miriam Gruß
Bernd Siebert Joachim Günther (Plauen)
Monika Grütters Ingbert Liebing
Thomas Silberhorn Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Karl-Theodor Freiherr Matthias Lietz
Johannes Singhammer Heinz-Peter Haustein
zu Guttenberg Dr. Carsten Linnemann
Manuel Höferlin
Olav Gutting Patricia Lips Jens Spahn
Elke Hoff
Florian Hahn Dr. Jan-Marco Luczak Carola Stauche
Birgit Homburger
Holger Haibach Dr. Michael Luther Dr. Frank Steffel
Dr. Werner Hoyer
Dr. Stephan Harbarth Karin Maag Erika Steinbach Heiner Kamp
Jürgen Hardt Dr. Thomas de Maizière Christian Freiherr von Stetten Michael Kauch
Gerda Hasselfeldt Hans-Georg von der Marwitz Dieter Stier Dr. Lutz Knopek
Dr. Matthias Heider Andreas Mattfeldt Gero Storjohann Pascal Kober
Mechthild Heil Stephan Mayer (Altötting) Stephan Stracke Dr. Heinrich L. Kolb
Ursula Heinen-Esser Dr. Michael Meister Max Straubinger Gudrun Kopp
Frank Heinrich Maria Michalk Karin Strenz Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Rudolf Henke Dr. h. c. Hans Michelbach Thomas Strobl (Heilbronn) Sebastian Körber
Michael Hennrich Dr. Mathias Middelberg Lena Strothmann Holger Krestel
Jürgen Herrmann Philipp Mißfelder Michael Stübgen Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Ansgar Heveling Dietrich Monstadt Dr. Peter Tauber Heinz Lanfermann
Ernst Hinsken Marlene Mortler Antje Tillmann Sibylle Laurischk
Peter Hintze Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hans-Peter Uhl Harald Leibrecht (D)
(B)
Christian Hirte Nadine Schön (St. Wendel) Arnold Vaatz Sabine Leutheusser-
Robert Hochbaum Dr. Philipp Murmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Schnarrenberger
Karl Holmeier Bernd Neumann (Bremen) Stefanie Vogelsang Lars Lindemann
Franz-Josef Holzenkamp Michaela Noll Andrea Astrid Voßhoff Christian Lindner
Joachim Hörster Dr. Georg Nüßlein Dr. Johann Wadephul Dr. Martin Lindner (Berlin)
Anette Hübinger Franz Obermeier Marco Wanderwitz Michael Link (Heilbronn)
Thomas Jarzombek Henning Otte Kai Wegner Dr. Erwin Lotter
Dieter Jasper Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg) Oliver Luksic
Dr. Franz Josef Jung Rita Pawelski Peter Weiß (Emmendingen) Horst Meierhofer
Andreas Jung (Konstanz) Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I) Patrick Meinhardt
Dr. Egon Jüttner Dr. Joachim Pfeiffer Ingo Wellenreuther Gabriele Molitor
Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Karl-Georg Wellmann Petra Müller (Aachen)
Hans-Werner Kammer Beatrix Philipp Peter Wichtel Burkhardt Müller-Sönksen
Steffen Kampeter Ronald Pofalla Annette Widmann-Mauz Dr. Martin Neumann
Klaus-Peter Willsch (Lausitz)
Alois Karl Christoph Poland
Elisabeth Winkelmeier- Dirk Niebel
Bernhard Kaster Ruprecht Polenz
Becker Hans-Joachim Otto
Siegfried Kauder (Villingen- Eckhard Pols
Dagmar Wöhrl (Frankfurt)
Schwenningen) Daniela Raab
Dr. Matthias Zimmer Cornelia Pieper
Volker Kauder Thomas Rachel Gisela Piltz
Dr. Stefan Kaufmann Dr. Peter Ramsauer Wolfgang Zöller
Willi Zylajew Dr. Christiane Ratjen-
Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg Damerau
Eckart von Klaeden Lothar Riebsamen Dr. Birgit Reinemund
Ewa Klamt Josef Rief FDP
Dr. Peter Röhlinger
Volkmar Klein Klaus Riegert Christian Ahrendt Dr. Stefan Ruppert
Jürgen Klimke Dr. Heinz Riesenhuber Christine Aschenberg- Björn Sänger
Julia Klöckner Johannes Röring Dugnus Frank Schäffler
Axel Knoerig Dr. Norbert Röttgen Daniel Bahr (Münster) Christoph Schnurr
Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Florian Bernschneider Jimmy Schulz
Dr. Kristina Schröder Erwin Rüddel Sebastian Blumenthal Marina Schuster
Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Claudia Bögel Dr. Erik Schweickert
Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Nicole Bracht-Bendt Werner Simmling
Hartmut Koschyk Dr. Annette Schavan Rainer Brüderle Judith Skudelny
Thomas Kossendey Dr. Andreas Scheuer Angelika Brunkhorst Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7681
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Joachim Spatz Karin Binder Andrej Hunko Jens Petermann (C)
Dr. Max Stadler Matthias W. Birkwald Ulla Jelpke Richard Pitterle
Torsten Staffeldt Heidrun Bluhm Katja Kipping Yvonne Ploetz
Dr. Rainer Stinner Steffen Bockhahn Harald Koch Ingrid Remmers
Stephan Thomae Eva Bulling-Schröter Jan Korte Paul Schäfer (Köln)
Florian Toncar Dr. Martina Bunge Jutta Krellmann Michael Schlecht
Serkan Tören Roland Claus Katrin Kunert Dr. Ilja Seifert
Johannes Vogel Sevim Dağdelen Caren Lay Kathrin Senger-Schäfer
(Lüdenscheid) Dr. Diether Dehm Sabine Leidig Raju Sharma
Dr. Daniel Volk Heidrun Dittrich Ralph Lenkert
Kersten Steinke
Dr. Guido Westerwelle Werner Dreibus Michael Leutert
Sabine Stüber
Dr. Claudia Winterstein Dr. Dagmar Enkelmann Ulla Lötzer
Wolfgang Gehrcke Dr. Gesine Lötzsch Alexander Süßmair
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Nicole Gohlke Thomas Lutze Dr. Kirsten Tackmann
Diana Golze Ulrich Maurer Frank Tempel
Annette Groth Dorothee Menzner Dr. Axel Troost
Enthalten Kathrin Vogler
Dr. Gregor Gysi Cornelia Möhring
Heike Hänsel Kornelia Möller Johanna Voß
DIE LINKE Halina Wawzyniak
Dr. Rosemarie Hein Wolfgang Nešković
Agnes Alpers Inge Höger Thomas Nord Harald Weinberg
Dr. Dietmar Bartsch Dr. Barbara Höll Petra Pau Jörn Wunderlich

Wir kehren zu unserem Tagesordnungspunkt zurück. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:


Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß für die CDU/
Kollegin Bunge?
CSU-Fraktion das Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
der FDP) Ja.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
(B) Es war schon eine interessante Rede, die Herr Birkwald Bitte schön. (D)
von den Linken gehalten hat. Er hat nämlich erklärt, die
Linke sei nach wie vor gegen die Rente mit 67. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Kollege Weiß, Sie haben eben unsere Zwiespältigkeit
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) dargelegt. Können Sie nachvollziehen, dass man ver-
Aber die Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht, sucht, Realpolitik zu machen,
über den heute diskutiert wird, mit dem die Rente mit 67 (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
eingeführt werden soll; aber das schrittweise Inkrafttre-
ten soll um vier Jahre gegenüber dem geltenden Gesetz und zwar zugunsten derjenigen, die unmittelbar dem-
hinausgeschoben werden. Was gilt jetzt? Sind Sie für die nächst betroffen sind? Wir haben das Ziel: keine Rente
Regelaltersgrenze von 67, oder sind Sie nicht dafür? erst ab 67. Das ist bei dieser Koalitionsregierung sicher
Wenn Herr Birkwald das ernst gemeint hätte, was er ge- eine Illusion. Hier muss aber die Notbremse gezogen
sagt hat, hätte er den Gesetzentwurf nicht einbringen werden. Deshalb haben wir heute einen Gesetzentwurf
dürfen. eingebracht, der Ihnen den Offenbarungseid abnötigt.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie hät- (Beifall bei der LINKEN)
ten dann vier Jahre zum Nachdenken gehabt!
Darum geht es!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Das zeigt eines: Es gibt nichts Unglaubwürdigeres in Frau Kollegin, wer hier einen Offenbarungseid geleis-
diesem Parlament als die Fraktion Die Linke. tet hat, ist die Linke mit ihrem Gesetzentwurf. Dieser
zeigt nämlich, dass Sie schlichtweg prinzipienlos sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias
W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsinn!) (Lachen bei der LINKEN)
Eine solche Vergackeierung des Parlaments und der Öf- Sie bringen diesen Gesetzentwurf übrigens aus einem
fentlichkeit, nämlich zu erklären, man sei dagegen, es einzigen Grund ein: um die Fraktion der SPD zu ärgern.
aber trotzdem zu beantragen, gibt es wahrlich selten. Auf
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!
die Linke – das ist klar – ist kein Verlass.
Wir wollen schon Sie ärgern! – Gegenruf von
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul der CDU/CSU: Aber natürlich! – Anton
Lehrieder [CDU/CSU]: Es war nie auf sie Ver- Schaaf [SPD]: So leicht bin ich nicht zu är-
lass!) gern!)
7682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) Ich muss schon sagen: Wenn man das Mandat, das ei- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (C)
nem die Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl verliehen Herr Kollege Weiß, da Sie hier Zahlen genannt haben:
haben, wirklich ernst nimmt, dann stellt man Anträge zur Können Sie widerlegen, dass im Jahr 2009 nur 3,7 Pro-
Sache und nicht, um andere zu ärgern. zent aller 64-jährigen Frauen einen sozialversicherungs-
pflichtigen Vollzeitjob hatten? Ich wiederhole: 3,7 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn
zent. Das sind in absoluten Zahlen 15 454.
Wunderlich [DIE LINKE]: Fasst euch mal an
die eigene Nase! – Matthias W. Birkwald [DIE
LINKE]: Der ist zur Sache!) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Birkwald, zur Beurteilung der Frauen-
Aber vielleicht dämmert es langsam auch der Frak- erwerbstätigkeit
tion der Linken, dass sie mit ihrer ursprünglich zur Ren-
tenpolitik eingenommenen Position auf dem falschen (Elke Ferner [SPD]: Wir sind ja sowieso
Weg ist. Es kommt nämlich nicht darauf an, was heute unwichtig!)
ist, sondern es kommt darauf an, wie sich die Entwick- muss man vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass sich in
lung bis zum Jahr 2029 voraussichtlich gestalten wird, den westlichen Bundesländern im Vergleich zu den östli-
was also in 20 Jahren sein wird, wenn die Regelalters- chen Bundesländern in den letzten Jahrzehnten eine et-
grenze von 67 Jahren tatsächlich in Kraft tritt. was andere Geschichte abgespielt hat.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie soll (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Isch
doch 2012 eingeführt werden!) komm aus Köln!)
Haben wir, was die Beschäftigung Älterer anbelangt, ei- – Das heißt noch lange nicht, dass Sie damit die Weisheit
nen negativen oder einen positiven Trend zu verzeich- mit Löffeln gefressen haben.
nen? Dazu darf ich ein paar Zahlen zur Kenntnis geben,
die man einfach nicht wegreden kann: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das se-
hen vielleicht ein paar Rheinländer anders! –
Im Dezember des Jahres 2000, also vor zehn Jahren, Zuruf von der FDP: Die neuen Länder existie-
waren nur 5,4 Millionen 50- bis 65-Jährige in Arbeit. ren dort trotzdem noch nicht! – Jörn
Aber heute, im Jahr 2010, sind es bereits 7,28 Millionen Wunderlich [DIE LINKE]: Aber auch in Köln
ältere Erwerbstätige, die Arbeit haben und nicht arbeits- gibt es Frauen! Kölsche Mädchen!)
los sind. Das ist ein positiver Trend.
– Das gibt es in der Tat. Gar keine Frage. Aber wir wol-
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ len jetzt nicht über die Schönheit von Frauen, sondern
DIE GRÜNEN]: Ja, aber noch zu dürftig!) über deren Erwerbstätigkeit diskutieren.
(B) (D)
Wenn man nur die 60- bis 65-Jährigen nimmt, so hat sich (Elke Ferner [SPD]: Das ist unterste
in dem gleichen Zeitraum von zehn Jahren die Erwerbs- Schublade!)
tätigenquote praktisch verdoppelt, und die Entwicklung
des Jahres 2010 zeigt, dass sie auch in diesem Jahr wei- – Entschuldigung, der Kollege Troost hat das Thema
ter ansteigt. Schönheit angesprochen. Darauf habe ich jetzt reagiert.
Übrigens gingen vor zehn Jahren nur 10 Prozent der (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es war
versicherungspflichtig Beschäftigten tatsächlich mit der Kollege Wunderlich, aber es ist egal! –
65 Jahren in Rente. Im vergangenen Jahr, 2009, waren es Elke Ferner [SPD]: Aber wie Sie reagiert ha-
aber bereits 30 Prozent. ben! Daran sieht man, welchen Stellenwert
Frauen bei Ihnen haben! – Gegenruf des Abg.
Das ist letztlich alles nicht zufriedenstellend, aber es
Patrick Döring [FDP]: Warum empören Sie
zeigt eines: Wir haben Gott sei Dank – das sollte man
sich denn so?)
auch einmal lobend und anerkennend erwähnen – einen
positiven Trend bei der Beschäftigung älterer Arbeitneh- – Frau Kollegin Ferner, ich will einfach noch einmal das
merinnen und Arbeitnehmer in unserem Land zu ver- berichten, was Sie ja auch wissen.
zeichnen. Älter zu werden ist kein Grund mehr dafür,
(Zuruf von der LINKEN: Frau Ferner hat
dass jemand entlassen oder in den Vorruhestand ge-
keine Frage gestellt!)
schickt wird, sondern ist für viele Unternehmen erst
recht ein Grund, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen Viele Frauen, gerade in den westlichen Bundeslän-
euch; bleibt bei uns in Arbeit. – Diesen Trend wollen wir dern, haben in den vergangenen Jahrzehnten ein Fami-
weiter verstärken. lienmodell praktiziert, bei dem sie, sobald Kinder auf die
Welt kamen, teilweise oder ganz aus dem Erwerbsleben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgestiegen sind und anschließend auch nicht wieder
eingestiegen sind.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal (Elke Ferner [SPD]: Weil sie nicht mehr
des Herrn Kollegen Birkwald? konnten!)
Deswegen haben wir bei den rentennahen Jahrgängen
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): historisch bedingt eine sehr niedrige Erwerbstätigkeits-
Bitte sehr. quote der Frauen. Allerdings – das sieht man bei den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7683
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Jüngeren, die jetzt nachkommen – verändert sich die Er- Wenn man sich selbst als Parlamentarier ernst nimmt (C)
werbstätigkeit von Frauen sehr, sodass wir in den kom- und wenn man die Menschen ernst nimmt, die auf klare
menden Jahrzehnten eine deutlich höhere Zahl von Entscheidungen von uns warten, dann sollte man
Frauen im Rentenalter erwarten können, die, Gott sei
Dank, einen eigenen Rentenanspruch erworben haben. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Neuwahlen
ansetzen!)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mit anderen
Worten: Sie können die Zahlen nicht widerle- die Worte aus der Bergpredigt ernst nehmen. Ich zitiere
gen!) Matthäus 5, 37:
Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere
– Man muss doch den Hintergrund von Zahlen erläutern.
stammt vom Bösen.
Nun zu dem Verschiebungsvorschlag. Was bedeutet
Vielen Dank.
das? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbür-
gerinnen und Mitbürger, die es betrifft: Wenn wir be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
schließen würden, den schrittweisen und langsamen An- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die
stieg des Renteneintrittsalters um jeweils einen Monat Überprüfung steht im Gesetz, nicht die Berg-
pro Jahrgang für vier Jahrgänge auszusetzen, dann be- predigt!)
deutete das – so lautet der Gesetzentwurf und auch die
Idee der SPD –, dass für die vier nachfolgenden Jahr-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gänge das Renteneintrittsalter umso schneller nach oben
geht. Das Wort erteile ich nun Kollegen Anton Schaaf für
die SPD-Fraktion.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein,
das steht bei uns nicht drin!) (Beifall bei der SPD)

Jetzt frage ich mich: Was ist das für ein Verständnis Anton Schaaf (SPD):
von Solidarität unter den Generationen, was ist das für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich
ein Gerechtigkeitsempfinden, wenn man vier Jahrgängen das eine oder andere zum Kollegen Peter Weiß sage, Fol-
sagt: „Für euch bleibt es bei der alten Regelalters- gendes: Heute ging um 13.36 Uhr eine Meldung über
grenze“, aber den vier nächsten Jahrgängen sagt: „Ihr den Ticker, die sich mit den Ergebnissen des im Rahmen
müsst umso länger arbeiten, weil wir den anderen das der Berichterstattungspflicht der Bundesregierung er-
geschenkt haben“? Das ist doch keine Solidarität. Das stellten Prüfberichts zum höheren Renteneintrittsalter
(B) hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Das ist das Ge- befasst, und zwar mit wörtlichen Zitaten und Zahlen. (D)
genteil von Solidarität und das Gegenteil von Gerechtig- Das heißt, die Öffentlichkeit hat Informationen bekom-
keit. Deswegen sind wir gegen diesen unsolidarischen men,
und ungerechten Vorschlag.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – noch nicht haben!)
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wer le-
sen kann, ist klar im Vorteil! – Elke Ferner die nach dem Gesetz zunächst einmal dem Parlament
[SPD]: Schauen Sie in den Spiegel, und sehen und den Parlamentariern zustehen.
Sie, was Sie für eine Politik machen!)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Überall wird jetzt über das Thema Fachkräftemangel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und darüber diskutiert, wie wir ihn beheben wollen. Ich
möchte für unsere Fraktion klar und deutlich sagen: Nach dem Gesetz hat die Bundesregierung die Be-
Denjenigen, die den Fachkräftemangel nur dadurch be- richterstattungspflicht gegenüber dem Parlament. Ent-
heben wollen, dass wir die Türen weit aufmachen und weder haben Sie anlässlich der Debatte über diese Pres-
jeder hierherkommen kann, sprich: dass die deutsche semeldung und das gezielte Durchstechen in der
Wirtschaft sich billige Arbeitskräfte aus dem Ausland Bevölkerung Stimmung für die Rente mit 67 machen
sucht, aber denjenigen, die in unserem Land keine Arbeit wollen, oder Sie haben Indiskretionen im Haus. Ich weiß
haben, immer noch keine Chance geben, werden wir nicht, was für Ihre Ministerin schlimmer ist, das Parla-
nicht nachgeben. Wir wollen als Allererstes mehr Quali- ment ignoriert zu haben oder ihren Laden nicht im Griff
fizierung für die, die heute arbeitslos sind, und mehr Be- zu haben. Aber das ist eine Sache, die Sie miteinander
schäftigungschancen für die ältere Generation, damit der ausmachen müssen. Ich bin der Meinung: Beides ist
Fachkräftemangel in Deutschland bekämpft werden schlimm genug.
kann. Das ist unsere Position. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W.
Birkwald [DIE LINKE]: Gucken Sie mal in Nun ja, ich habe dann im Büro des Parlamentarischen
den Einzelplan 11! Da machen Sie das Gegen- Staatssekretärs Fuchtel nachfragen lassen –
teil!)
Ich möchte zum Schluss – der Präsident zeigt mir, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dass meine Redezeit zu Ende ist – Folgendes sagen: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
7684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Anton Schaaf (SPD): gungsquote der über 60-Jährigen in den letzten zehn Jah- (C)
– einen Moment –, ob ich als Parlamentarier den Be- ren verdoppelt hat.
richt, wenn ihn schon die Öffentlichkeit, in diesem Falle (Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
AFP, hat, auch bekommen kann. Da wurde mir mitge-
teilt, dass dieser selbstverständlich bis zum Kabinettsbe- Wenn ich richtig gerechnet habe – ich glaube, das habe
schluss nächste Woche noch als Verschlusssache behan- ich einigermaßen richtig hinbekommen –, ist es so, dass
delt wird. zurzeit wohl 76,6 Prozent der über 60-Jährigen nicht so-
zialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört!
Hört!) (Josip Juratovic [SPD]: So viel dazu!)
Meine Damen und Herren, das heißt im Klartext: Die Wie man von einer Zahl von 23,4 Prozent ablesen kann,
Ministerin hat ihren Laden definitiv nicht im Griff. Et- dass die Rente mit 67 ab 2012 problemlos eingeführt
was anderes kann es nicht heißen. werden kann, ist mir schlichtweg ein Rätsel, meine Da-
men und Herren.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Jetzt kann Herr Kollege Straubinger natürlich sehr
gerne seine Zwischenfrage stellen. Herr Birkwald hat zwar freundlicherweise erwähnt,
dass wir die Einführung der Rente mit 67 ab 2012 mitbe-
schlossen haben, aber er hat auch sehr deutlich formu-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: liert, welche Sicherungen wir im Gesetz eingebaut ha-
Herr Kollege Straubinger, jetzt dürfen Sie ran. ben.
(Josip Juratovic [SPD]: Richtig!)
Max Straubinger (CDU/CSU):
Herr Kollege Schaaf, wenn Sie schon Zahlen parat Die Überprüfungsklausel, auf die wir uns jetzt berufen,
haben, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie diese Zahlen ist eine solche Sicherung und ist Bestandteil des Geset-
auch bekannt geben würden. Ich glaube, das wäre auch zes.
für die Öffentlichkeit interessant. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Damit wir ge- W. Birkwald [DIE LINKE]: Und nicht die
meinsam jubeln können!) Bergpredigt!)
Genau das ignorieren Sie.
(B) Anton Schaaf (SPD): (D)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Ich bin ja gerade dabei. Ich wollte nur diesen Sach- Nein! Wir wollen den Bericht erst einmal le-
verhalt einmal geklärt haben. sen!)
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mich würden Die arbeitsmarktpolitische Situation der Älteren gibt es
die Zahlen interessieren!) eben nicht her, ab 2012 die Rente mit 67 einzuführen.
Herr Straubinger, Sie hätten sich auch gerne dazu ver- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!
halten können, wie es eigentlich sein kann, dass eine Be- Das ist es! – Max Straubinger [CDU/CSU]:
richtspflicht gegenüber dem Parlament in einer derarti- Woher stammt die Erkenntnis?)
gen Art und Weise verletzt wird. Dazu hätten Sie sich
gerade verhalten können. Ich stelle nur noch einmal fest: Darauf berufen wir uns. Sie ignorieren diesen Teil des
Diese Chance haben Sie nicht wahrgenommen. Gesetzes in Gänze.
(Beifall bei der SPD) Wie Sie damit jetzt umgehen wollen, habe ich ja gese-
hen. Auf einmal handelt es sich nicht mehr um eine
Ich finde, so kann man mit dem Parlament nicht umge- Überprüfungspflicht, sondern nur noch um eine Bericht-
hen. Aber in den letzten Wochen haben wir ja bei ande- erstattung, die im Wesentlichen keine Relevanz mehr
ren Themen Ähnliches erlebt: habe.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Max
Straubinger [CDU/CSU]: So steht es im Ge-
Bei Atom, bei Gesundheit und bei anderen Themen durf-
setz!)
ten wir erleben, wie diese Regierung mit dem Parlament
umgeht. Ich halte es für gnadenlos schlecht, was Sie da Ich habe all diese Sprüche in den letzten Wochen gehört.
veranstalten. Aber gut, ich möchte es nicht weiter wer- Ich halte sie allesamt für falsch, wie meine Fraktion
ten. Ich wollte hier nur erwähnt haben, dass es so ist. auch. Die Rente mit 67 kann vor dem Hintergrund des
Istzustands bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
Im Pressebericht wird nun beispielsweise gesagt, dass
nehmern nicht ab 2012 eingeführt werden. An der Stelle
sich die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen
gebe ich den Linken recht. Die Einführung der Rente mit
sensationellerweise auf 23,4 Prozent erhöht hat. Wört-
67 muss also verschoben werden.
lich steht in dem Bericht, dass das Begründung genug
dafür ist, die Rente mit 67, beginnend ab dem Jahr 2012, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
einzuführen, weil sich damit ja schließlich die Beschäfti- Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7685
Anton Schaaf
(A) Welche Klimmzüge man macht, um sie trotzdem ein- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (C)
führen zu können, haben Sie, Herr Kollege Weiß, ja ge- Herr Kollege Schaaf, Sie haben soeben vorgetragen,
rade wieder dargestellt. Wenn man sich die Zahlen genau dass wir, Sozialdemokraten und CDU/CSU gemeinsam,
anschaut, dann stellt man fest: Zurzeit gehen von den 64- in der Großen Koalition 2007 das Gesetz zur Erhöhung
Jährigen nur 10 Prozent ohne Abschläge in Rente. Diese der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenver-
Zahl begründet vor dem Hintergrund dessen, was im Ge- sicherung auf 67 Jahre beschlossen haben und ebenso
setz steht, natürlich kein höheres Renteneintrittsalter. gemeinsam beschlossen haben, dass die Bundesregie-
Die Zahl von 23,4 Prozent sozialversicherungspflichtig rung verpflichtet wird, in diesem Jahr zum ersten Mal ei-
Beschäftigter bei den 60- bis 64-Jährigen liefert auch nen Bericht vorzulegen, wie sich die Beschäftigungssitu-
schwerlich ein Argument für die Einführung der Rente ation Älterer entwickelt, und in den Folgejahren alle vier
mit 67 ab 2012. Jahre erneut einen solchen Bericht vorzulegen.
Jetzt gehen Sie hin und nehmen statt der Zahl der 55- bis (Anton Schaaf [SPD]: Zitieren Sie zu Ende, was
65-Jährigen sogar die Zahl der 50- bis 65-Jährigen. Wa- darin steht! Sonst mache ich es gleich!)
rum nehmen Sie nicht gleich die Zahl der 35- bis 65-Jäh-
rigen? Warum tun Sie das nicht? Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, Herr
Kollege Schaaf: Dieser Bericht liegt uns – auch wenn es
(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] – Josip offensichtlich entsprechende Pressemeldungen gibt – bis
Juratovic [SPD]: Unredlich!) zur Stunde nicht vor. Vielmehr wird ihn das Kabinett vo-
Sie legen es sich gerade so zurecht, wie Sie es gerne hät- raussichtlich in der kommenden Woche verabschieden
ten, um Ihr Vorhaben einigermaßen durchhalten zu kön- und dann dem Parlament zuleiten.
nen. Deswegen frage ich Sie einfach: Warum halten Sie
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: eine solche Rede, wie Sie sie halten, indem Sie bereits
Nein!) feststellen, dass sich aus Ihrer Sicht die Beschäftigungs-
situation Älterer nicht gut genug entwickelt hat und in
Sie werden aber weder in der öffentlichen Darstellung den kommenden Jahren nicht weiter gut entwickeln
noch hier im Parlament die Leute tatsächlich verdumm- wird, wenn der Bericht überhaupt nicht vorliegt? Warum
teufeln können. Das schaffen Sie nicht, auch nicht mit ist nicht auch die sozialdemokratische Fraktion bereit,
der Zahlenspielerei, die Sie jetzt gerade hier auch wieder erst einmal den Bericht zu lesen – Sie haben ihn selbst
betrieben haben. beschlossen und in Auftrag gegeben – und anschließend
Wir haben für ein höheres Renteneintrittsalter ge- miteinander zu diskutieren?
stimmt und es auch nicht negiert. Ich habe auch bei an-
(B) (D)
deren Veranstaltungen immer gesagt: Wir werden nicht Anton Schaaf (SPD):
darum herumkommen, irgendwann ein höheres Renten- Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. – Zu-
eintrittsalter einzuführen. nächst einmal möchte ich das, was im Gesetz steht – das,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das was wir Überprüfungsklausel bzw. Berichterstattungs-
halten wir für falsch!) klausel nennen –,

Dabei bleibe ich auch; davon bin ich fest überzeugt. Das (Max Straubinger [CDU/CSU]: Fälschlicher-
hat etwas mit demografischer Entwicklung zu tun, aber weise!)
nicht mit finanzieller Entwicklung der Rentenversiche- zu Ende zitieren. Darin steht nämlich, dass die Regie-
rung, die man anders darstellen kann, sondern mit Leis- rung vor dem Hintergrund der erhobenen Daten dem
tungsfähigkeit der Gesellschaft. Parlament eine Empfehlung geben muss, das heißt mit-
Die Frage ist doch, ob die Voraussetzungen dafür jetzt teilen muss, ob es geboten ist, dass ab 2012 die Rente
gegeben sind. Sie sind nicht gegeben. Man muss den mit 67 eingeführt wird. Das steht ebenfalls in diesem
Menschen, die kaputt sind aufgrund der Arbeit – das Gesetzestext; das ist ein eigener Paragraf im Gesetz.
sind die Handwerker, das sind die Schichtarbeiter, das ist (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!)
die Krankenschwester, das sind viele andere –, bevor
man ein höheres Renteneintrittsalter einführt, eine Ant- Bevor jedoch irgendjemand hier in diesem Hause den
wort auf die Frage geben, was passiert, wenn sie auf- Bericht hat, bevor das Kabinett ihn beschlossen hat, ha-
grund ihrer Arbeit nicht mehr können. Diese Antwort ben Staatssekretär Brauksiepe und übrigens auch die
verweigern Sie schlichtweg, meine Damen und Herren Ministerin festgestellt, dass die Rente mit 67 ab 2012 auf
von der Koalition. jeden Fall kommen wird. Obwohl der Bericht nieman-
dem vorlag, haben sie das schon festgestellt.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Basta-
Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischen- Politik!)
frage des Kollegen Weiß? Die Zahlen, die ich gerade genannt habe, stammen
zum Teil von der BA; aber in diesem Fall ist es eine
Anton Schaaf (SPD): Pressemitteilung, in der aus dem Bericht zitiert wird und
Aber selbstverständlich. in dem die 23,4 Prozent als Bestandteil des Berichts ge-
7686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Anton Schaaf
(A) nannt werden. Das sind letzten Endes Ihre eigenen Zah- ner Sicht eine bemerkenswerte Bewegung, die Sie hier (C)
len, die ich hier zitiert habe, Herr Kollege Weiß; ich vollziehen.
danke Ihnen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich
dachte, Sie wollten den Bericht lesen!) In der Tat, Herr Kollege Schaaf, muss man Folgendes
feststellen: Als Franz Müntefering im März 2007 die
Hinsichtlich des Berichts habe ich schon das eine Rente mit 67 durchsetzte, waren 728 000 Menschen, die
oder andere gesagt. Sie haben sich gerade hier hinge- älter als 60 Jahre waren, sozialversicherungspflichtig be-
stellt, Herr Kollege Weiß, und haben die Rente mit 67 ab schäftigt. Im März 2010 – da war die Krise in diesem
2012 für möglich und berechtigt erklärt. Ich habe Zwei- Land noch in vollem Gange – hatten über 1 Million
fel daran, und ich habe dies anhand der Erwerbsminde- Menschen im Alter von über 60 Jahren eine sozialversi-
rungsrente verdeutlicht: Was machen wir mit denen, die cherungspflichtige Beschäftigung. Das ist ein Zuwachs
aus Arbeit nicht mehr können? Was ist mit den Zurech- von 38 Prozent. Ich frage Sie, Herr Schaaf – Herr
nungszeiten? Dazu habe ich bei Kollegen Straubinger Müntefering ist ja nicht anwesend –: Wie hat sich die
zumindest Verständnis herausgehört, dass man an dieser SPD die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen vorge-
Stelle etwas tun muss. Was ist mit dem Zugang in die Er- stellt? Wollten Sie 100 Prozent Zuwachs in drei Jahren?
werbsminderungsrente? Was ist mit flexiblen Übergän- Ich glaube nicht, dass Sie das als realistisch angesehen
gen? Was ist beispielsweise mit der Altersteilzeit? Die hätten. Wenn man Ihren Ansatz von damals zugrunde
geförderte Altersteilzeit wollten Sie ja nicht weiter fort- legt, ist es verantwortbar, schon zum jetzigen Zeitpunkt
führen. Was ist mit all diesen Fragen? über eine Anhebung des Renteneintrittsalters nachzu-
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ha- denken.
ben überhaupt kein Interesse, im Sinne der Arbeitneh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
merinnen und Arbeitnehmer diese zentralen Fragen zu Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 75 Pro-
beantworten. Nur dann aber, wenn man diese Fragen tat- zent lassen Sie im Regen stehen!)
sächlich beantwortet, wird man überhaupt jemals eine
Mehrheit bei der Akzeptanz für ein höheres Rentenein- Das Regelrenteneintrittsalter von 65 Jahren ist für
trittsalter finden. Vor dem Hintergrund dessen, was Sie Angestellte im Jahr 1911 und für Arbeiter im Jahr 1916
da tun, ist dies nicht möglich. Deswegen werden wir eingeführt worden. Darüber nachzudenken, nach 120
weiter fordern, die Einführung der Rente mit 67 zu- Jahren und einer um mindestens 30 Jahre gestiegenen
nächst einmal zu verschieben. Lebenserwartung das Regelrenteneintrittsalter um zwei
Jahre anzuheben, halte ich nicht für vollkommen abwe-
(B) Ich danke für die Aufmerksamkeit. gig. Das will ich an dieser Stelle sagen. (D)
(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
Warum haben sich die Dinge deutlich verändert? Weil
CSU]: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der
wir auf gesetzlichem Wege gehandelt haben. Sie haben
Linken damit zu?)
gesagt, wir hätten nur die beitragsgeförderte Altersteil-
zeit auslaufen lassen. Das war ein notwendiger und rich-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tiger Schritt, Herr Schaaf. Wenn man die Menschen mit
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak- 58 Jahren in Altersteilzeit schickt, dann darf man sich
tion. nämlich nicht wundern, dass sie mit 64 Jahren nicht
mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Wir sind darauf angewiesen, den Sachverstand und die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Kompetenz älterer Arbeitnehmer für unsere Gesellschaft
nächst einmal stelle ich tatsächliche Bewegung in die- und auch für unsere Volkswirtschaft zu erhalten. Deswe-
sem Hause fest; denn wie Kollege Weiß zu Recht gesagt gen war dies ein notwendiger und richtiger Schritt.
hat, kann auch ich den Gesetzentwurf der Linken nur so
verstehen, dass auch die Linke ihren Frieden mit der Da ich heute nur drei Minuten Redezeit habe und nie-
Rente mit 67 gemacht hat. mand eine Zwischenfrage gestellt hat, komme ich zum
Schluss.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das glauben
Sie doch im Traum nicht, Herr Kolb!) (Heiterkeit bei der FDP, der CDU/CSU und
– Doch, ich kann lesen und habe das nachgelesen und der SPD)
sämtliche Zahlenkolonnen in Ihrem Gesetzentwurf nach- Man darf es sich mit § 154 Abs. 4 SGB VI nicht zu ein-
vollzogen. Daraus ergibt sich eindeutig: Die Rente mit fach machen. Darin steht nicht, dass nach durchgeführter
67 stellen Sie nicht infrage, sondern nur ihr Inkrafttreten. Überprüfung mit entsprechendem Ergebnis nichts ge-
So ist Ihr Gesetzentwurf zu interpretieren. Sie verschie- macht werden muss. In § 154 Abs. 4 Satz 2 ist vielmehr
ben nur das Inkrafttreten, Sie fordern aber nicht die Aus- festgelegt, dass man über alternative Maßnahmen unter
setzung der damaligen Gesetzesänderung. Auch der Kol- Wahrung der Beitragsstabilität nachdenken muss.
lege Schaaf hat gesagt, wir kämen auf Dauer an der
Anhebung der Altersgrenze nicht vorbei. Es ist aus mei- (Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7687
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Das vermisse ich in Ihrem Antrag, Herr Birkwald. Sie mit dem heutigen Tag zu tun: Wir haben den 11.11., und (C)
sprechen von einer Beitragssatzsteigerung um 0,2 Pro- Sie kommen aus Köln.
zentpunkte. Aber Sie schlagen, entgegen der geltenden
Fassung des SGB VI, keine Maßnahmen vor, wie man (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber
diese Steigerung vermeiden könnte. ich bin hier, weil es um ernsthafte Politik
geht!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
stimmt doch nicht! Das steht im Gesetzent- – Genau, es geht hier um ernsthafte Politik. Ich habe Ih-
wurf! Das kostet 3 Euro!) ren Gesetzentwurf sehr ernst genommen. Er bedeutet:
Sie wollen die Rente mit 67 im Jahr 2035; Sie wollen die
Damit springen Sie zu kurz. Deswegen kann Ihr Gesetz- Regelaltersgrenze für Schwerbehinderte und Erwerbsge-
entwurf unsere Unterstützung nicht finden. minderte erhöhen. Ich habe eben meine Position dazu
gesagt. Zum ersten Punkt sage ich: Das ist ein Schritt in
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die richtige Richtung, auch wenn er nicht weit genug
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geht; denn wir sind für die Rente mit 67 ab 2031. Zum
zweiten Punkt sage ich: Wir lehnen ihn klar ab. Insofern
nehme ich Ihren Gesetzentwurf ernst, offensichtlich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ernster als Sie selber.
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für
Bündnis 90/Die Grünen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht
um vier Jahre zum Nachdenken!)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Ich glaube, es interessiert die Menschen nicht wirk-
DIE GRÜNEN): lich, ob die Rente mit 67 von 2031 auf 2035 verschoben
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wird. Die Menschen interessiert jenseits der Jahreszahl,
erleben heute eine historische Debatte; denn die Linke ob die Rente zum Leben ausreicht, bis wann sie arbeiten
hat sich von ihrem fundamentalistischen Nein zur Rente müssen, ob sie früher in Rente gehen können und, wenn
mit 67 verabschiedet und sich zu einer realpolitischen ja, unter welchen Bedingungen, und welche Arbeitsbe-
Position durchgerungen. dingungen herrschen. Die Menschen wollen gute Arbeit,
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist gut!) die es ermöglicht, länger und gesünder zu arbeiten.

Die Kollegin Bunge hat das eben noch einmal betont. Die Menschen interessiert es aber auch, ob die Rente
bezahlbar bleibt und wie hoch die Rentenversicherungs-
Es ist aus unserer Sicht ausdrücklich zu begrüßen, beiträge sein werden. Auch das müssen wir berücksichti-
(B) dass sich die Linke von diesem fundamentalistischen gen, wenn wir über die Rente mit 67 reden. Dieser As- (D)
Nein zur Rente mit 67 verabschiedet hat. In dem von Ih- pekt ist jetzt besonders wichtig geworden; denn die
nen vorgelegten Gesetzentwurf plädieren Sie für eine Rentenversicherungsbeiträge müssen aufgrund des Spar-
Rente mit 67 ab dem Jahre 2035. pakets der Bundesregierung erhöht werden. Das hat der
Sachverständigenrat gestern zu Recht kritisiert. So
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist schon schreibt der Sachverständigenrat für Wirtschaft in sei-
einmal was!) nem gestern vorgestellten Gutachten:
Diesen realpolitischen Schritt begrüßen wir. Wir sind Dennoch ist anzumerken, dass der Bundeshaushalt
nach wie vor für die Rente mit 67 ab 2031. Wir liegen auf Kosten der Beitragszahler der Gesetzlichen
also noch vier Jahre auseinander. Rentenversicherung entlastet wird. Bei der Strei-
Wir stimmen mit der Linken nicht darin überein, dass chung der Beiträge für Arbeitslosengeld II-Empfän-
die Anhebung der Altersgrenzen ohne Abschlag um ger handelt es sich … um reine „Verschiebebahn-
zwei Jahre auch für Erwerbsgeminderte und Schwerbe- höfe“.
hinderte erfolgen soll. So steht es aber in Ihrem Gesetz- Der Sachverständigenrat hat recht. Es ist richtig, auf die
entwurf. Das halten wir für völlig falsch. Wir haben Beitragsstabilität zu achten.
diese Anhebung immer für einen großen Fehler gehal-
ten. Das gilt auch für den Fall, dass die Anhebung, wie Wir müssen an die Probleme, die ich gerade genannt
im Gesetzentwurf der Linken vorgesehen, vier Jahre spä- habe, unbedingt herangehen.
ter stattfinden soll. Schließlich ist Erwerbsminderung
und Schwerbehinderung nichts, was sich die Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
aussuchen. Deswegen muss für diese Fälle das Renten- Auch der Sachverständigenrat mahnt das an. Wir müssen
eintrittsalter da bleiben, wo es heute ist, und darf nicht tatsächlich erreichen, dass die Menschen gesünder und
gemäß dem Gesetzentwurf der Linken erhöht werden. länger arbeiten können. Wir brauchen gute Arbeit für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – alle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tat-
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dazu sächlich früher als mit 67 in Rente gehen können. Dafür
gibt es einen eigenen Antrag!) müssen wir mehr flexible Übergangsmöglichkeiten
schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anhebung
– Lieber Matthias Birkwald, in der Rede kam all das der Regelarbeitsgrenze nicht zu zunehmender Armut
überhaupt nicht vor. Es stellt sich tatsächlich die Frage: führt. Wir müssen eine Untergrenze einführen: Wer sein
Wie ernst ist das gemeint? Vielleicht hat es doch etwas Leben lang gearbeitet hat, wer 30 Jahre oder mehr in die
7688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) Rentenversicherung einbezahlt hat, der soll nicht darauf Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (C)
angewiesen sein, erst sein Vermögen zu verbrauchen und Herr Kollege Straubinger, vielen Dank, dass Sie die
dann zum Sozialamt zu gehen. Wir wollen eine Garan- Zwischenfrage zugelassen haben. Ich danke auch dafür,
tierente für langjährig Versicherte, die über dem Niveau dass Sie deutlich gemacht haben, dass die Linke die
der Grundsicherung liegt. Rente erst ab 67 ablehnt und wir diesen Gesetzentwurf
eingebracht haben, damit Sie überlegen können, ob Ihr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vorhaben zur Realität passt.
Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Ich möchte Sie zweierlei fragen:
Da hilft kein Herumjonglieren mit irgendwelchen Jah-
reszahlen, wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
macht. dass mit der Verschiebung, die wir vorgeschlagen haben,
für Durchschnittsverdienende eine zusätzliche Belastung
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und an Sie, Herr von 3 Euro verbunden wäre? Zeigen Sie mir bitte einmal
Birkwald, Alaaf! einen Menschen, egal ob jung, mittelalt, älter oder alt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der nicht bereit wäre, 3 Euro zu bezahlen, damit er nicht
bis 67 arbeiten muss oder immense Kürzungen in Höhe
von durchschnittlich 117 Euro hinnehmen muss.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger für die (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE
CDU/CSU-Fraktion. LINKE])

(Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kennt-
nis zu nehmen, dass eine Partei wie die Ihre, die vorige
Woche in diesem Haus mit der Koalitionsmehrheit be-
Max Straubinger (CDU/CSU): schlossen hat, dass die nächsten 40 000 Generationen
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die strahlenden Atommüll hinnehmen müssen – zum Ver-
Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf gleich: 80 Generationen sind seit der Geburt Jesu Christi
zielt, den Beginn der Rente mit 67 zu verschieben. Da- vergangen –, beim Thema Generationengerechtigkeit
raus kann man natürlich ableiten, dass sich die Linke besser schweigen sollte?
mittlerweile mit der Rente mit 67 angefreundet hat; denn
sie will die Rente mit 67 nur um vier Jahre verschieben. (Beifall bei der LINKEN)
Das glaube ich Ihnen aber nicht. Letztendlich geht es Ih-
nen nur darum, die Rente mit 67 insgesamt infrage zu Max Straubinger (CDU/CSU):
(B) stellen. Um mit der zweiten Frage zu beginnen: Die Rente mit (D)
67 ist generationengerecht, und sie hat nichts mit irgend-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, Herr welchen Beschlüssen zur Energiepolitik zu tun. Zum
Straubinger hat verstanden! – Gegenruf des Thema Energiepolitik möchte ich sagen: Eigentlich
Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Max ist müssten alle in diesem Hause bereit sein, auch die End-
ein Linkenversteher! Ich merke das schon!) lagerfrage zu lösen. Sie sind dazu nicht bereit.
Ich möchte also nicht glauben, was manche in diesem (Anton Schaaf [SPD]: Die Bayern doch auch
Gesetzentwurf erkennen. Die Linke möchte hier eher die nicht!)
SPD in Bedrängnis bringen. Das ist der wahre Grund für
die Einbringung des Gesetzentwurfes. Wir haben erlebt, dass Sie in Gorleben mit gewalttätigen
Demonstranten paktiert haben, um eine Lösung für unser
Der Gesetzentwurf verstößt eklatant gegen die Gene- Land zu verhindern und
rationengerechtigkeit in unserem Land. Mit der Ver-
schiebung sind nämlich – Herr Kollege Birkwald, Sie (Beifall bei der CDU/CSU)
haben das verschämt verschwiegen – Beitragserhöhun- auch zukünftig Ihr parteipolitisches Süppchen kochen zu
gen verbunden. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, können. Das ist der entscheidende Punkt.
dadurch ergebe sich eine Erhöhung der Beiträge um nur
0,2 Prozentpunkte. Aber die Beiträge würden dann na- Wir alle stehen in der Verantwortung. Es gibt seit
türlich viel stärker steigen, und zwar um bis zu 0,5 Pro- 40 Jahren Atomkraftwerke. Sie wurden mit Unterstüt-
zentpunkte. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen es zung der SPD gebaut, von den Grünen zumindest gedul-
0,9 Prozentpunkte sein werden. Die gesamte Wahrheit det und vor allen Dingen in Ostdeutschland errichtet. Es
ist: Sie wollen bei der jüngeren Generation abkassieren, gibt eine breite Schicht, die für die Lösung der Frage der
um bei rentennahen Jahrgängen Eindruck zu schinden. Endlagerung von Abfällen aus der Atomwirtschaft ver-
antwortlich ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des DIE GRÜNEN]: Dann suchen Sie doch einmal
Kollegen Birkwald? in Bayern! Suchen Sie in Bayern?)
– Das ist keine Frage der Bundesländer. Es geht um den
Max Straubinger (CDU/CSU): besten Standort und die besten geologischen Vorausset-
Ja. zungen. Diese Frage ist nicht mit irgendeinem Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7689
Max Straubinger
(A) land zu verbinden. Wir brauchen sachgerechte Lösungen stärkere Beitragserhöhung geben, die zulasten der arbei- (C)
und dürfen das Problem nicht zwischen den Bundeslän- tenden Menschen gehen wird. Deshalb können wir
dern hin- und herschieben. Das wird sachgemäßen Lö- schon unter diesen Gesichtspunkten nicht zustimmen.
sungen nicht gerecht.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 3 Euro Weißbier!)
mehr Beitrag ist sachgemäß?)
Herr Kollege Birkwald, Sie haben auch ausgeführt,
Zweitens. Sie argumentieren, es seien nur 3 Euro, die unser Parteivorsitzender hätte sich für eine Änderung bei
mehr zu zahlen seien – das ist eine Durchschnittsrech- der Rente mit 67 ausgesprochen. Sie haben dies aber aus
nung –; andernfalls müssten die Rentnerinnen und Rent- dem Zusammenhang gerissen. Es geht nämlich um Fol-
ner enorme Abschläge in Kauf nehmen. Es handelt sich gendes: Die Wirtschaft fordert ständig, ausländische
um prozentuale Abschläge, aber nicht um einen Leis- Facharbeitskräfte – wohlgemerkt aus Drittstaaten – in
tungsabschlag. Wir erwarten, dass diejenigen, die mit 67 Deutschland zuzulassen und ihnen Zugang zu unserem
in Rente gehen, im Durchschnitt eine drei Jahre höhere Arbeitsmarkt zu eröffnen, gleichzeitig möchte sie aber
Lebenserwartung haben. Diese Menschen müssen aber die Leute früher in Rente schicken. Damit würde auf
nur zwei Jahre länger arbeiten. wertvolle Arbeitskräfte verzichtet werden, und das darf
nicht sein. Nur in diesem Zusammenhang ist das zu se-
Wir haben das Glück, in einem Land zu leben, in dem hen. Dann kann man nachher nicht sagen: So kann man
die allgemeine Lebenserwartung der Bevölkerung auf- auch die Rente mit 67 hier mit gutem Gewissen vertre-
grund einer guten medizinischen Versorgung zunimmt. ten.
Die Folgen der höheren Lebenserwartung müssen von
allen in unserer Gesellschaft getragen werden, von den Ein Letztes noch. In der gesamten Diskussion wird
rentennahen Jahrgängen ebenso wie von den Jungen in ständig dargelegt, dass man nicht so lange arbeiten kann.
unserer Gesellschaft. Das ist eine Frage der Generatio- Ich komme aus der Landwirtschaft. Mein Vater war zeit-
nengerechtigkeit. Die Jungen können nicht ständig über lebens Landwirt. Ich glaube, Landwirt ist ein Beruf, der
Gebühr belastet werden. durchaus Kraft erfordert und belastend ist. Mein Vater
hat bis zum 75. Lebensjahr aufgrund guter gesundheitli-
Herr Kollege Birkwald, der Bericht der Bundesregie- cher Voraussetzungen immer hart gearbeitet. Es ist also
rung wird hier ständig in Zweifel gezogen. Anton Schaaf bei guten Voraussetzungen durchaus möglich, bis zum
bezieht sich auf Pressemitteilungen, die wir uns nicht er- 67. Lebensjahr zu arbeiten.
klären können, die garantiert nicht vom Ministerium
stammen, sondern einfache Tickermeldungen sind, die Es wurde darauf hingewiesen, dass angeblich nur
(B) ich nicht kenne. Es wird manchmal von SPD-Kreisen so 3 Prozent der Frauen bis zum 65. Lebensjahr in sozialver- (D)
dargestellt, als ob es um die Überprüfung bzw. Revi- sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind.
sionsklausel ginge. Das geschah auch gestern bei einer Daher möchte ich auf das geltende Rentenrecht hinwei-
Gewerkschaftsveranstaltung, zu der unter dem Gesichts- sen, das es nämlich gestattet, bei einer entsprechenden
punkt einer Revisionsklausel eingeladen wurde. Inso- Versicherungszeit – ich glaube, 35 Jahre – früher in
weit wird hier ständig eine Falschinformation in die Be- Rente gehen zu können. Dies haben eben viele Frauen in
völkerung, in die Gewerkschaften und insgesamt auch in Anspruch genommen. Deshalb kann es auch keinen grö-
die Betriebsräte hineingetragen. Ich darf, Herr Präsident, ßeren Prozentsatz geben, Herr Kollege Birkwald.
den korrekten Wortlaut zitieren:
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und auch
Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Kör- Ihnen, Herr Präsident, für die – –
perschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über
die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeit- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
nehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber
abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze Großzügigkeit.
unter Berücksichtigung der Entwicklung der Ar- (Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU))
beitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und so-
zialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin ver- Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Vogel für die
tretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen FDP-Fraktion.
Regelungen bestehen bleiben können. In diesem
Bericht sind zur Beibehaltung eines Sicherungs- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
niveauziels vor Steuern von 46 vom Hundert über Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung ent- Vom Kollegen Straubinger habe ich heute wieder etwas
sprechende Maßnahmen unter Wahrung der Bei- gelernt, und zwar, wie lange man auf Zwischenfragen
tragssatzstabilität vorzuschlagen. antworten kann. Das sollte ich bei nächster Gelegenheit
Letzteren Satz vergessen Sie in der politischen Dar- auch versuchen.
stellung ständig. Das ist aber mit das Entscheidende. Es (Anton Schaaf [SPD]: Dafür müsste man erst
geht um Beitragssatzstabilität. Hier wird das Entlar- einmal eine Zwischenfrage bekommen!)
vende des Gesetzentwurfs der Linken offensichtlich. Sie
schreiben ja hinein, dass es eine Beitragserhöhung geben – Über eine Zwischenfrage von Ihnen freue ich mich im-
wird. Hier wird schon wieder kaschiert. Es wird eine mer besonders, Herr Kollege Schaaf.
7690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) An einer Stelle muss ich Ihnen jedoch widersprechen, – Lieber Kollege, diese Entwicklung müssen wir natür- (C)
Herr Kollege Straubinger. Auch ich finde, dass der lich fortsetzen; das ist richtig.
Antrag der Linken bemerkenswert ist. Lieber Herr
Aber es gibt doch auch positive Zeichen. Eine Um-
Birkwald, Sie sprechen von einer vierjährigen Denk-
frage des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass
pause. Wenn ich mir vergegenwärtige, was ich mir in ei-
sich das Bild älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
nigen Diskussionen mit Vertretern Ihrer Partei in den
mer in den Betrieben – gerade das Bild, das diejenigen
letzten Jahren zur Rentenpolitik anhören musste, beson-
haben, die sie einstellen – erheblich bessert. Natürlich ist
ders zur Rente mit 67, muss ich sagen, dass diese dort
das komplex. Es ist doch aber auch ein Beitrag der Poli-
ausschließlich als Rentenkürzungen bezeichnet wurde.
tik, dass wir klar sagen: Wir wollen eine schrittweise
Ich habe sogar den Ausdruck „Demografielüge“ gehört.
Anhebung des Renteneintrittsalters. Wir wollen wert-
Im Gesetzentwurf sind Sie hingegen sehr zurückhal- schätzen, was Ältere auf dem Arbeitsmarkt tun. Liebe
tend. Es wird nicht mehr infrage gestellt, dass es richtig Kolleginnen und Kollegen, Sie tun leider das Gegenteil.
ist, dass die Menschen, wenn sie im Durchschnitt älter
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
werden und länger fit bleiben, wohl auch länger arbeiten
werden müssen. Sie sagen nur, der Arbeitsmarkt sei da- An einer Stelle, Herr Birkwald – wir wollen ja auch
für noch nicht so weit. Bitte erlauben Sie mir, dass ich ein bisschen versöhnlich sein; das ist auch mein letzter
das als eine gewisse Fortentwicklung Ihrer Position, als Punkt, Herr Präsident –, denken Sie in die richtige Rich-
ein gewisses Umdenken, interpretiere, weil Sie wissen, tung. Ansonsten habe ich da nicht viel Richtiges gese-
dass es – eben wurde es Realpolitik genannt – realisti- hen. Beim Gesamtkomplex Altersvorsorge geht es zum
sche Politik ist. Es ist weltfremde Politik, zu glauben, Beispiel nicht mehr nur um die gesetzliche Rente, son-
dass das Renteneintrittsalter in den nächsten Jahren nicht dern wir wollen auch private Altersvorsorge. An einer
schrittweise steigen muss. Stelle in Ihrer Vorlage geht es jedoch um flexible Über-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gänge. Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Über fle-
der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: xible Übergänge – Kollege Kolb führt das gerne bei
Schauen Sie in unseren Antrag „Rente ab 67 anderer Gelegenheit noch ausführlicher aus; das hat er
vollständig zurücknehmen“!) schon häufiger getan – müssen wir nachdenken. Das ist
richtig; das sage ich für die FDP ausdrücklich.
– Den bringen Sie hier jetzt interessanterweise nicht ein.
Wir müssen übrigens auch darüber nachdenken, wa-
Schauen wir uns doch einmal die Situation auf dem rum man bei versicherungsmathematisch korrekten Zu-
Arbeitsmarkt an. Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben und Abschlägen nicht früher in Rente gehen und dann
gesagt, der Arbeitsmarkt sei nach Ihrer Kenntnis derzeit vielleicht einen anderen Job annehmen darf. Ich weiß
(B) (D)
noch nicht so weit. Wenn ich mir die Beschäftigtenzah- aus meiner eigenen Familie, dass beispielweise mein Va-
len der letzten vier Jahre anschaue, sehe ich: 30 Prozent ter das als unfair empfindet. Er ist früher in Rente gegan-
plus bei den 55- bis 59-Jährigen, 40 Prozent plus bei den gen – er hat ab dem 16. Lebensjahr gearbeitet – und
60- bis 65-Jährigen. Insgesamt gibt es bei den Älteren würde jetzt gern eine andere Tätigkeit ausüben. Dies
seit 1999 einen positiven Trend. Dieser ist mit einer Aus- wird ihm limitiert, weil er nur 400 Euro hinzuverdienen
nahme, dem Krisenjahr, ungebrochen. Lieber Kollege darf.
Schaaf, da muss ich mich fragen: Was haben Sie ge-
dacht? Womit haben Sie gerechnet, als Sie die Rente mit Beim Thema Flexibilität gebe ich Ihnen also recht.
67 eingeführt haben? Bei allem anderen muss ich sagen, dass Sie nicht in die
Zukunft denken. Ich habe mir das einmal angesehen.
(Anton Schaaf [SPD]: Mit Vernunft!)
Wenn Sie ganz ehrlich sind, konnten Sie eine noch bes- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sere Entwicklung doch gar nicht erwarten. Herr Kollege, jetzt nichts mehr ansehen. Sie müssen
wirklich zum Schluss kommen.
(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])
Wir sollten uns nächste Woche den Bericht anschauen. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Aber alles, was derzeit bekannt ist, die Zahlen von der Das ist der letzte Satz. – Das Durchschnittsalter Ihrer
Bundesagentur für Arbeit, die uns allen vorliegen, zei- Parteimitglieder liegt 35 Jahre über meinem Lebensalter.
gen eindeutig, dass die Situation der Älteren auf dem Ar- Leider scheint mir das auch die Perspektive Ihrer Ren-
beitsmarkt besser wird und dass es deshalb richtig ist, tenpolitik zu sein. Es geht in der Rentenpolitik jedoch
das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen. um die Zukunft und auch um die Altersvorsorge kom-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mender Generationen. Da haben Sie leider wenig anzu-
der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE bieten.
LINKE]: 24 Prozent sind beschäftigt!) Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
– Die Entwicklung können Sie trotzdem nicht in Abrede (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
stellen. der CDU/CSU)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wenn nur ei-
ner gearbeitet hätte, hätten wir heute Hundert- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tausende von Prozenten mehr!) Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7691
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
fes auf Drucksache 17/3546 an die in der Tagesordnung Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu höre keinen Wiederspruch. Dann ist das so beschlossen.
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
CSU und der FDP Bundesregierung misst der Förderung der Elektromobili-
Mobilität nachhaltig sichern – Elektromobili- tät eine hohe Priorität bei. Dies ist am 3. Mai dieses Jah-
tät fördern res deutlich geworden, als die Bundeskanzlerin mit
vielen weiteren Beteiligten die „Nationale Plattform
– Drucksache 17/3479 – Elektromobilität“ ins Leben gerufen hat. Sie, die Bun-
Überweisungsvorschlag: desregierung, hat das Ziel formuliert, dafür zu sorgen,
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss dass es bis zum Jahr 2020 in Deutschland 1 Million
Finanzausschuss Elektrofahrzeuge gibt. Die Koalitionsfraktionen haben
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie diese Initiative aufgegriffen, sie im Rahmen des Energie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und konzepts konkretisiert und durch das Ziel ergänzt, dass
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales wir bis zum Jahr 2030 dafür sorgen wollen, dass es in
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Deutschland 6 Millionen Elektrofahrzeuge gibt. Das
Ausschuss für Bildung, Forschung und sind ehrgeizige Ziele. Die CDU/CSU unterstützt diese
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Initiativen ausdrücklich.
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss Wir wollen mit Hochdruck zum Stromauto. Das ist
nicht so, weil wir glauben würden, dass diese Technolo-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine gie die einzige Zukunftstechnologie im Bereich der Mo-
Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weite- bilität ist. Das ist auch nicht so, weil wir glauben wür-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE den, dass dieser Weg alternativlos ist oder dieses Ziel
Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich möglicherweise sogar von heute auf morgen zu realisie-
mehr als Elektroautos ren ist. Nein, wir wissen: Selbst wenn wir bis 2020 das
ehrgeizige Ziel, für 1 Million Elektrofahrzeuge in
(B) – Drucksache 17/2022 – Deutschland zu sorgen, erreichen, wird zu diesem Zeit- (D)
Überweisungsvorschlag: punkt nach wie vor die große Mehrzahl der Autos aus
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss
dem konventionellen Bereich stammen. Deshalb brau-
Finanzausschuss chen wir selbstverständlich auch im konventionellen Be-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie reich Effizienzsteigerungen. Hier sehen wir erhebliche
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Potenziale, beispielsweise bei der Dieseltechnologie.
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales Wir verfolgen ausdrücklich einen Ansatz, der technolo-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gieoffen ist. Wir setzen auch auf die Hybridtechnologie,
Ausschuss für Bildung, Forschung und die Brennstoffzelle, Biokraftstoffe und Erdgas. All dies
Technikfolgenabschätzung wollen wir mit einbeziehen.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus Warum setzen wir gerade beim Thema Elektromobili-
Haushaltsausschuss
tät eine Priorität? Wir glauben, dass die Elektromobilität
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute einen wichtigen Beitrag zur Mobilität der Zukunft leis-
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, ten kann. Wir sind der Überzeugung, dass sie weltweit
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eine wichtige und zunehmend wichtiger werdende Rolle
Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobi- spielen wird. Deshalb wollen wir, dass Deutschland in
lität vorantreiben diesem Bereich an der Spitze steht. Deutschland soll
nicht nur Leitmarkt, sondern auch Leitanbieter werden.
– Drucksache 17/3647 – Die Wertschöpfung dieser Autos soll aus Deutschland
Überweisungsvorschlag: kommen.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dieses Thema stellt eine Herausforderung dar, ist eine
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Chance und bietet eine Perspektive für die Wirtschaft
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales und die Schaffung innovativer Arbeitsplätze. Wir in
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Deutschland leben zu einem guten Teil von der Automo-
Ausschuss für Bildung, Forschung und bilindustrie und dem Zulieferbereich. Das ist nicht
Technikfolgenabschätzung selbstverständlich, sondern hart erarbeitet worden. Heute
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus geht es darum, die Weichen dafür zu stellen, dass dies
Haushaltsausschuss auch morgen noch so sein wird. Wir wollen, dass Chine-
7692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Andreas Jung (Konstanz)


(A) sen, Amerikaner und Franzosen unsere Autos kaufen als mobile Speicher ein wichtiger Beitrag geleistet wer- (C)
und nicht umgekehrt. Deshalb schreiten wir auf diesem den.
Gebiet voran.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Die Schlüsselbereiche sind Forschung und Entwick-
lung. Deshalb setzen wir in unserem Antrag wie auch in Ich komme zum Schluss und sage ganz explizit: Wir
unserer Politik insgesamt an dieser Stelle einen besonde- wollen die Elektromobilität beim Automobil, aber eben
ren Schwerpunkt. Um unsere Ziele zu erreichen und in- nicht nur beim Automobil. Es geht auch um die Elektri-
ternational eine führende Position einzunehmen, müssen fizierung der Schiene.
wir im Bereich der Forschung klotzen und dürfen nicht
kleckern. Wir glauben, dass es richtig ist, auch von der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Industrie Beiträge zu verlangen. Auch sie muss Investi- SES 90/DIE GRÜNEN)
tionen in Forschung und Entwicklung tätigen. Wir sehen eine verkehrspolitische und ökologische
Wir glauben aber auch, dass die Politik die Aufgabe Chance auch in der Förderung und der weiteren Verbrei-
hat, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und tung von Elektrofahrrädern, Elektroscootern und Elek-
Entwicklungen anzuschieben. Deshalb war es richtig, trorollern, und wir fordern in unserem Antrag auch, ein
dass im Rahmen des Konjunkturpaketes II entschieden Modellprojekt im Bereich der elektrischen Schifffahrt zu
wurde, bis 2012 einen Betrag von 500 Millionen Euro prüfen. Auch dort können Elektromotoren, die mit er-
für Forschung und Entwicklung bzw. für die Elektromo- neuerbaren Energien betrieben werden, eine wichtige
bilität zur Verfügung zu stellen. Mit unserem Antrag Rolle spielen.
bringen wir zum Ausdruck: Das darf nicht das Ende (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sein. Diese Förderung darf nicht auslaufen. Diese Auf- NEN]: Die Elektrifizierung der Kanäle haben
gabe geht über das Jahr 2012 hinaus. Die Förderung die- wir verworfen!)
ses Bereiches muss in erheblichem Umfang fortgeführt
werden. Wir wollen mit der Fortführung der Forschung – Es geht beispielsweise um den Fährverkehr. Nicht nur
im internationalen Konzert mitspielen, wenn es um die bei uns am Bodensee, sondern auch im Wattenmeer gibt
Forschungsförderung im Bereich der Elektromobilität es ja Fährverbindungen, und es gibt ganz konkrete Über-
geht. legungen, den Antrieb der Fähren, die im öffentlichen
Nahverkehr eine wichtige Rolle spielen, auf Elektromo-
Die zentrale Aufgabe sehen wir dabei in der Beseiti- toren umzustellen. Wir meinen, dem sollte man nachge-
(B) gung technologischer Hürden, die heute der Elektromobi- hen; das sollte man prüfen und weiterverfolgen. (D)
lität als Massenmarkt noch entgegenstehen. Batterien und
alle Dinge, die damit im Zusammenhang stehen – die Es zeigt sich: Es gibt viele Fragen. Wir glauben, dass
Kosten, die Speicherfähigkeit, die Reichweite und die wir mit unserem Antrag einen wichtigen Beitrag für ei-
Sicherheit –, wollen wir hier besonders in den Fokus nen solch umfassenden Ansatz hin zur Elektromobilität
nehmen. Wir sind der Überzeugung: Das sind die The- leisten können.
men, die wir bearbeiten müssen. Die Batterie ist das
Herzlichen Dank.
Herz des Elektroautos. Wir wollen mit einem Konzept
von Forschung über Entwicklung bis hin zur Produktion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
dafür sorgen, dass dieses Herz in Deutschland schlägt. des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damit wollen wir die Weichen hin zu einer nachhalti- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gen und ökologischen Mobilität stellen, zu einer Mobili- Ich erteile Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.
tät, die nicht mehr durch fossile Energie, sondern durch
erneuerbare Energie sichergestellt wird. In unserem An- (Beifall bei der SPD)
trag verknüpfen wir die Elektromobilität explizit mit zu-
sätzlichen erneuerbaren Energien. Damit unterstreichen
Ute Kumpf (SPD):
wir unser Ziel: Wir wollen, dass der Treibstoff von mor-
gen Ökostrom ist. Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Kollege Jung, es war sehr erfreulich, so viel Be-
Das ist wichtig, um die Klimaziele tatsächlich zu er- kanntes von Ihnen zu hören, da wir das schon in der letz-
reichen und die Chancen für die Umwelt zu nutzen, die ten Legislaturperiode unter der Ägide der Kollegen
wir durch die Elektromobilität sehen. Dadurch kann ein Tiefensee und Gabriel auf den Weg gebracht haben. Im
weiterer Beitrag zum energiepolitischen Gesamtkonzept August 2009 wurde ja der Nationale Entwicklungsplan
geleistet werden, in dessen Zusammenhang wir gerade Elektromobilität der Bundesregierung beschlossen. Ich
auch folgende Fragen zu beantworten haben: Wie schaf- vermisse ein wenig Ehrgeiz. Außer dass Sie die Zahlen
fen wir es, dass Energie speicherfähig wird? Wie schaf- ausgetauscht haben – anstatt 2 Millionen Elektrofahr-
fen wir es, auf die flexiblen Anforderungen einer immer zeuge wollen Sie bis 2030 6 Millionen Elektrofahr-
mehr auf erneuerbare Energien gestützten Energiever- zeuge auf unseren Straßen haben –, haben Sie viele ver-
sorgung zu reagieren? Hier kann durch Elektrofahrzeuge traute Dinge präsentiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7693
Ute Kumpf
(A) Es liegen jetzt ja auch mehrere Anträge zu diesem politischen Rahmenbedingungen wir schaffen wollen, (C)
Thema Elektromobilität vor. Die Titel der Anträge sind statt, wie anscheinend gestern schon durch die Medien
immer ein bisschen anders gewählt. Sie wollen die Mo- an die Öffentlichkeit gelangte, einfach 4,5 Milliarden
bilität nachhaltig sichern, wir reden von einer nachhalti- Euro mehr für Forschung zu fordern und zu glauben,
gen Mobilität, die gefördert werden muss. Hier kann die dass das Problem damit behoben wäre. Wir müssen un-
Elektromobilität eine große Rolle spielen. Das ist schon sere Hausaufgaben machen.
ein kleiner anderer Zungenschlag, weil wir der Meinung
sind, dass wir uns auch an den Klimaschutzzielen orien- Wir haben sie in der Großen Koalition mit dem Er-
tieren müssen, wenn es um die Mobilität geht. Wir müs- neuerbare-Energien-Gesetz, mit NIP und NOW und dem
sen genau untersuchen, wie Elektromobilität und Mobi- Konjunkturprogramm für die Modellregionen gemacht.
lität insgesamt energieeffizienter, klimafreundlicher und Wir haben den Nationalen Plan vorgelegt. Jetzt braucht
klimaschonender sein können. es eine nationale Kraftanstrengung, um das Ziel, 1 Mil-
lion Elektroautos auf die Straße zu bringen, zu erreichen,
Elektromobilität – ich glaube, auch das ist sehr wich- wobei dieses Ziel angesichts der 42 Millionen Pkw, die
tig; das ist schon im Nationalen Plan aufgeführt – ist nur bei uns auf der Straße rollen, immer noch sehr klein ist.
dann sinnvoll, wenn der Strom, der aus der Steckdose
Daher haben wir in unserem Antrag deutlich formu-
kommt – darum kommen wir wahrscheinlich nicht he-
liert, dass wir einige Fragen zu beantworten haben: Wie
rum –, aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Wir
sieht unsere Industriepolitik aus? Welche Weichenstel-
müssen alle Anstrengungen unternehmen, Mobilitäts-
lungen wollen wir vornehmen, um die Elektromobilität
und Energiekonzepte sinnvoll miteinander zu verbinden.
in ein schlüssiges Energiekonzept einzubinden? Wie
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, den ich eingangs her-
sieht die Schwerpunktsetzung zwischen den vier Minis-
vorheben will. Denn wie Sie wissen, stammen 14 Pro-
terien aus, die bislang noch sehr lose miteinander in Ver-
zent der CO2-Emissionen alleine vom Pkw-Verkehr. An
bindung stehen – so erscheint es zumindest bei Auftrit-
dieser Schraube müssen wir drehen.
ten in der Öffentlichkeit –, damit die Kooperation
Lassen Sie mich auf einen kleinen Unterschied in zwischen den Ministerien für Umwelt, Wirtschaft, Ver-
dem eingehen, was uns wichtig ist: Mobilität muss be- kehr sowie Bildung und Forschung funktioniert? Eigent-
zahlbar und sicher bleiben. In der Frage, was Elektromo- lich müsste ministerienübergreifend eine Task Force
bilität insgesamt bedeutet, haben wir noch Nachholbe- Elektromobilität gebildet werden.
darf. Die Autos, die jetzt auf den Markt kommen, sind Wir müssen die finanzpolitischen Rahmenbedingun-
noch nicht bezahlbar. Wir führen Modellversuche in Mo- gen schaffen, damit sich auch kleine Unternehmen betei-
dellregionen durch, aber wir haben noch keine Produkte, ligen können und eine Entwicklungschance für sich se-
(B) die tatsächlich einen eminenten Beitrag zur Elektromo- hen. Die Zulieferindustrie wartet darauf. Dort gibt es (D)
bilität auf der Straße leisten können. Daher ist eine große große Unsicherheiten, wo sie ihren Platz finden könnte.
Kraftanstrengung notwendig, um in diesem Bereich zu
forschen und ihn zu fördern und weiterzuentwickeln. Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen in der Ver-
Darin sind wir, glaube ich, ganz an Ihrer Seite. kehrs- und Klimaschutzpolitik, um den Kommunen Ge-
staltungsspielraum zu geben. Notwendig ist auch eine
Es gibt, glaube ich, noch einen weiteren kleinen Un- Vorbildfunktion der öffentlichen Hand, damit Verwal-
terschied zu Ihrer Position. In der Automobilbranche tungen von Bund, Ländern und Kommunen in die Lage
insgesamt ist ein Strukturwandel zu erwarten. Ich versetzt werden, ihre Fuhrparks auf alternative Antriebe
komme aus einer Automobilregion. Das ist eine Region umzustellen.
der Premiumhersteller. Ich denke, nicht jeder kann sich
diese Autos leisten. Die Automobilindustrie bei uns hat Wir brauchen vor allem auch eine Analyse des zu-
zum Teil die Elektromobilität verschlafen. Sie hat sich künftigen Bedarfs an Fachkräften, die fehlen werden. Es
zu sehr auf den eigenen Markt verlassen. Dieser Markt zeigt sich jetzt schon, dass wir diesbezüglich an Kompe-
existiert aber nicht bei uns, sondern woanders. tenz verloren haben. Das fängt bei den Hochschulabsol-
venten an und reicht bis zu den Fachkräften am Band.
Von daher ist es, glaube ich, entscheidend, dass wir
eine Politik gestalten, die unseren Standort für Elektro- Außerdem brauchen wir innovative Mobilitätskonzepte
mobilität und die Automobilproduktion fit macht. Dabei in den Städten. Das betrifft zum Beispiel Carsharing, das
können wir uns nicht allein auf die Industrie verlassen. Fuhrparkmanagement im privaten Bereich, den Ausbau
Sie hat sich bisher darauf verlassen, dass sie ihre Pro- des Bus- und Bahnnetzes sowie die Elektrifizierung im
dukte für immer und ewig hier verkaufen kann. öffentlichen Sektor.

Von daher dürfen wir uns nicht darauf beschränken, Das ist eine Fülle von Maßnahmen. Ich freue mich
einen Elektromobilitätsgipfel durchzuführen und eine auf die Debatte in den Ausschüssen und hoffe, dass wir
Plattform zu schaffen, die außerdem sehr techniklastig unsere Anträge vielleicht auch zu einem gemeinsamen
ist, die Verbraucher nicht mitnimmt und bestimmte As- Antrag zusammenfügen können, um diese nationale
pekte nicht berücksichtigt. Es ist sicherlich auch nicht Kraftanstrengung auf den Weg zu bringen.
ratsam, sich allein von den Empfehlungen des Elektro- Danke.
mobilitätsgipfels und der Plattform die politischen Wei-
chenstellungen vorgeben zu lassen. Vielmehr sind wir im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Parlament gefordert, uns Gedanken zu machen, welche DIE GRÜNEN)
7694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gen von der Kraftfahrzeugsteuer über die bisher gelten- (C)
Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDP- den fünf Jahre hinaus darstellbar ist.
Fraktion. Der Erfolg von Elektromobilität hängt in großem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Maße davon ab, ob wir im Bereich der Forschung und
der CDU/CSU) Entwicklung von Energiespeichern erhebliche Fort-
schritte machen. Ich sage bewusst nicht „Batteriespei-
chertechnologie“, da es mir wichtig ist, dass wir techno-
Werner Simmling (FDP):
logieoffen forschen. Wir alle wissen heute nämlich nicht,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! wie die Automobile der Zukunft angetrieben werden.
Verehrte Frau Kollegin Kumpf, es ist doch äußerst er- Ebenso gehört dazu die Erforschung neuer Werkstoffe,
freulich, dass wir bei einem so wichtigen Thema einmal zum Beispiel der zukünftige Einsatz von Karbon im
weitestgehend übereinstimmen. Das kann ich nur begrü- Fahrzeugbau.
ßen.
Insbesondere bei der Grundlagenforschung kann der
Wir sind dabei, das Automobil nach 125 Jahren neu Staat die besten Impulse für die weitere Entwicklung set-
zu erfinden. Mit dem Elektromotor geben wir dem Auto zen. Bis 2011 geben wir 500 Millionen Euro dafür aus.
der Zukunft sozusagen ein neues Herz; das wurde schon Für die folgenden Jahre sind weitere Mittel in ähnlicher
angesprochen. Wir wollen mit unserem Antrag die kli- Höhe vorgesehen. Das ist wirklich sehr gut angelegtes
maschonende, nachhaltige Mobilität voranbringen. Elek- Geld.
trisches Fahren soll in Zukunft keine Utopie mehr sein.
Welche Technik sich schlussendlich durchsetzen wird, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
entscheidet aber der Markt. Wie Sie sehen, sind wir bei der Elektromobilität gut
Mit dem Antrag der christlich-liberalen Regierungs- aufgestellt.
koalition zeigen wir die Vielfalt und die Breite des The- Wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es wurde
mas auf. Elektromobilität ist nicht nur der Einbau eines schon gesagt: Bis zum Jahr 2020 sollen 1 Million Elek-
Elektromotors oder einer Brennstoffzelle. Eine Vielzahl trofahrzeuge auf unseren Straßen fahren. Wichtig für den
von Anpassungen und Veränderungen ist notwendig, Erfolg wird dabei auch sein, dass wir die Veränderungen
zum Beispiel in der Ordnungspolitik, in der Forschungs- in der Wertschöpfungskette langfristig organisieren.
politik, in der beruflichen und universitären Ausbildung
sowie in Fragen der Standardisierung. Mit unserem Antrag nehmen wir die große technolo-
gische Herausforderung an. Elektrisches Fahren wird zur
Die Ansprüche, die die Kunden an ein Elektrofahr- Realität werden. Unser Antrag leistet einen ersten wich-
(B) zeug haben werden, sind hoch. Sie werden sich hinsicht- (D)
tigen Beitrag zur Konkretisierung mit dem Ziel, dass
lich Unfallsicherheit, Kosten, Komfort, Gebrauchsnut- Deutschland auch in Zukunft das weltweit führende Au-
zen, Zuverlässigkeit und Reichweiten – um nur einige toland sein wird.
wenige Aspekte zu nennen – an den heute auf dem
Markt befindlichen Automobilen orientieren. Die Kun- Herzlichen Dank.
den werden kein Downsizing, also keinen Elektro-Trabi, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und auch keine Geschwindigkeitsbegrenzung von
120 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen, wie es die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert, akzeptieren. Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Linke.
Das kann auch nicht das Ziel einer Volkswirtschaft (Beifall bei der LINKEN)
wie der unsrigen sein, die bisher eine Spitzenstellung in
der Welt des Automobils einnimmt. Daher fordern wir in Sabine Leidig (DIE LINKE):
unserem Antrag konkret eine Vielzahl von Nutzeranrei- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
zen. Wir wollen zum Beispiel erreichen, dass den Kom- Antrag, den die Koalition hier vorgelegt hat, hat einen
munen im Rahmen von Sonderregelungen die Möglich- wirklich vielversprechenden Anfang, dem ich aus vol-
keit gegeben wird, eine bestimmte Anzahl von lem Herzen zustimmen kann. Ich zitiere:
Parkflächen für Elektrofahrzeuge zur Verfügung zu stel-
len, dass Elektrofahrzeuge die Busspur nutzen können, Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergibt sich die
dass die Aufhebung von lärmschutz- und zeitlich be- Chance, unsere Mobilität neu zu denken. Schwin-
dingten Zufahrtsverboten für den elektrischen Lieferver- dende Ressourcen und die Veränderung des Klimas
kehr vorgenommen wird und dass Kommunen im Rah- werfen die Frage auf, wie wir in Zukunft nachhal-
men des Stadtplanungsrechts den raschen Ausbau der tige und bezahlbare Mobilität gewährleisten wol-
entsprechenden Infrastruktur vorantreiben können. len.
Die Antwort allerdings, die Sie geben, ist völlig unbe-
Aber auch konkrete finanzielle Anreize wollen wir
friedigend. Konkret schreiben Sie:
prüfen, zum Beispiel welche Maßnahmen zur Förderung
der Installation der entsprechenden Tankinfrastruktur auf Ziel der Bundesregierung ist, dass bis zum
Firmen- und Kundenparkplätzen möglich sind. Ebenfalls Jahr 2020 mindestens eine Million Elektrofahr-
gilt es zu prüfen, ob die Befreiung von Elektrofahrzeu- zeuge auf deutschen Straßen fahren …
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7695
Sabine Leidig
(A) Als Tiger gesprungen und sogleich als Bettvorleger ge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (C)
landet. Das ist nicht komisch, sondern das ist ziemlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tragisch; denn tatsächlich wäre ein umfassendes Pro-
Wir fordern Sie auf, ein Programm zu entwickeln, wie
gramm notwendig, um die Mobilität nachhaltig zu ge-
diesem Autowahnsinn ein Ende bereitet werden kann.
stalten. Der Kollege Jung hat vorhin einiges davon ange-
Die Unternehmen haben hohe Renditen erzielt. Es ist
sprochen, aber in dem Antrag findet sich gar nichts. Es
nicht die Aufgabe des Staates, ihnen Entwicklungskos-
geht nämlich darum, dass auch in Zukunft alle Leute all
ten abzunehmen oder ihre Produkte zu subventionieren.
die Orte, an denen gesellschaftliches Leben stattfindet,
Stattdessen müssen die öffentlichen Mittel dorthin ge-
erreichen können, auch wenn das Benzin erheblich teu-
lenkt werden, wo Elektromobilität seit 120 Jahren Stan-
rer wird und ohne dass sie dabei das Klima und die Um-
dard ist, wo sie einen viel besseren Beitrag zum Klima-
welt zerstören. schutz leisten können: Ich denke an die Bahnen, die
(Beifall bei der LINKEN) Straßenbahnen und die Busse. Trolleybusse stellen übri-
gens eine hervorragende elektromobile Form dar. Ihr Be-
Es wären vor allen Dingen neue Perspektiven bei der trieb ist in unseren Städten eingestellt worden, sie erle-
Raumplanung und bei der regionalen Entwicklung not- ben aber in anderen Städten eine neue Blüte. Auf diese
wendig, damit die Wege kürzer werden und der Verkehr Weise würde Steuergeld vernünftig eingesetzt und allen
reduziert wird. Wir müssen die Zutaten für einen Joghurt zugutekommen, nicht nur den Kaufkräftigen, die sich ein
nicht aus ganz Europa herankarren, es muss auch nicht Elektroauto als Zweit- oder Drittwagen leisten können.
sein, dass die Kinder immer weitere Schulwege und die Besten Dank.
Eltern immer weitere Wege zur Arbeit haben.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: NIS 90/DIE GRÜNEN)
Früher ging es auch ohne Bananen!)
Das Schlimme ist aber, dass Sie daran festhalten, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
immer mehr, immer höher, immer schneller und immer Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun
weiter gefahren werden muss. Wir haben heute Morgen Winfried Hermann das Wort.
mit Verkehrsminister Ramsauer in der Sondersitzung zur
Überprüfung der Bedarfspläne für Straßen und Schienen Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gesessen. Auf der Grundlage dieser Bedarfspläne wird Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
entschieden, was mit Bundesmitteln gebaut wird. Sie und Kollegen! In diesen Tagen hat McKinsey ein Ran-
king der Länder beim Thema Elektromobilität vorgelegt. (D)
(B) stellen fest, dass weitere 5 500 Straßenkilometer beto-
niert werden sollen. Darin sind der Markt, das Angebot, die Nutzung, die
staatliche Förderung und die Rahmenbedingungen ver-
(Beifall des Abg. Dr. Reinhard Brandl [CDU/ gleichend untersucht worden. Für Deutschland ist hier-
CSU]) bei eines interessant: An erster Stelle stehen eindeutig
die USA, an zweiter Stelle steht Frankreich, deutlich vor
Sie gehen davon aus, dass unsere Bevölkerung in den China und Deutschland, die beide auf dem dritten Platz
nächsten 15 Jahren zwar schrumpft, dass aber die Zahl zu finden sind.
der Autos trotzdem um 13 Prozent zunimmt. Das heißt,
die 1 oder 2 Prozent Elektroautos, die Sie als Klimaretter Das muss uns in der Politik, aber auch der Industrie
preisen, werden glatt überrollt. Es ist nicht einmal ein zu denken geben. Wenn wir vom Leitmarkt Deutschland
Tropfen auf den heißen Stein, was Sie hier anbieten. sprechen, muss klar sein: Wir sind nicht der Leitmarkt,
sondern wir müssen erheblich mehr tun, damit wir es
Die Bundesregierung muss zügig und konsequent da- werden.
für sorgen, dass die im Straßenverkehr ausgestoßenen
CO2-Mengen reduziert werden, und zwar unabhängig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
von der Antriebstechnologie. Das Umweltbundesamt hat Ich habe bei der heutigen Debatte festgestellt, dass es
ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie man den einen großen Konsens gibt. Die wichtigsten Punkte will
Spritverbrauch mit der vorhandenen Technik um ich aus meiner Sicht noch einmal zusammenfassen.
30 Prozent reduzieren könnte. Aber Sie machen das Ge-
genteil: Sie verhindern, dass auf europäischer Ebene Alle haben gesagt: Es geht um Elektromobilität, weil
harte CO2-Obergrenzen festgelegt werden, damit die es um nachhaltige Mobilität geht. Es geht nicht nur um
das Auto, sondern es geht um die Elektrifizierung der
großen deutschen Autos weiter verkauft werden können.
Mobilität auch im ÖPNV, auch beim Fahrrad- oder Rol-
Sie denken überhaupt nicht daran, das Dienstwagenpri-
lerfahren. Das ist wichtig. Alle haben auch gesagt: Wir
vileg infrage zu stellen, obwohl damit auf Kosten der
brauchen dafür erneuerbare Energien, und es soll auch
Steuerzahler gerade die großen Maschinen gefördert
nicht fossiler Kraftstoff für die Erzeugung der Elektro-
werden, die einen hohen Spritverbrauch und einen hohen
energie eingesetzt werden. Das finde ich richtig. Die Un-
CO2-Ausstoß haben. Mit Ihrem Effizienzlabel, das Sie
terschiede sind aber ganz deutlich, wenn es darum geht,
wollen, bekommt sogar ein Porsche Cayenne, der
was wir tun und wie wir dies konkret umsetzen.
12 Liter pro 100 Kilometer verbraucht, die Bestnote.
Das finde ich ausgesprochen traurig. Das hat mit Nach- Mit Blick auf den ersten Teil, den Bekenntnisteil, des
haltigkeit überhaupt nichts zu tun. Antrags von CDU/CSU und FDP könnte man glatt sa-
7696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Winfried Hermann
(A) gen: Das ist ein grüner Antrag; es hat sich gelohnt, dass nes neuen klimaschonenden Energie- und Mobilitäts- (C)
wir vor einem halben Jahr hier einen Antrag eingebracht konzepts.
haben. Sie haben reichlich davon gekostet und sich be-
(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND-
dient. Wir gönnen Ihnen das. Das ist gut, und wir freuen
NIS 90/DIE GRÜNEN])
uns.
Es ist ebenfalls zwingend notwendig, dass man eine
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gütig!)
Reihe von ordnungsrechtlichen Fördermaßnahmen be-
Was uns allerdings wundert, ist, dass man ein halbes Jahr treibt und auch steuerlich etwas bewegt. Da sind Sie sehr
braucht, um dann über allgemeine Bekenntnisse nicht zurückhaltend, indem Sie sagen: Man könnte überlegen
hinauszukommen und in vielen Bereichen nicht konkret oder prüfen. – Aber wenn wir insofern nicht bessere
zu sagen, was man vorhat. Herr Simmling, Sie haben ge- Rahmenbedingungen setzen, werden wir nicht weiter-
sagt, Sie hätten da und dort Konkretes angesprochen. Ihr kommen.
Antrag enthält aber wenig Konkretes. Oftmals tauchen Zu guter Letzt: Wir Grünen haben als Einzige seit ei-
die Worte „prüfen“ oder „fördern“ auf, wobei ich mit niger Zeit gefordert: Wir brauchen ein Marktanreizpro-
dem schwäbischen Philosophen fragen würde: Prüfst du gramm. Wenn man diese Technologie überhaupt in den
noch, oder fährst du schon? Markt bringen und erreichen will, dass es zur Massen-
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ produktion und damit zur Verbilligung kommt, muss
DIE GRÜNEN) man in der Anfangsphase fördern – auch das wieder kos-
tenneutral, nämlich durch eine Änderung der Kfz-Steuer,
Es reicht nicht aus, dass wir dies oder jenes prüfen. durch eine Bonus-Malus-Regelung; Spritschlucker zah-
Wir müssen endlich mehr tun. Ich werde Ihnen auch len mehr – und klimafreundliche Autos fördern. Nicht
gleich sagen, in welcher Richtung man, wie wir Grünen nur elektromobile, sondern alle Autos mit einem Aus-
glauben, mehr tun muss. stoß von weniger als 60 Gramm CO2 pro Kilometer wol-
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den beiden ande- len wir fördern, technikneutral. So wollen wir alle klima-
ren Anträgen. Den Tenor des SPD-Antrags können wir freundlichen Technologien fördern. Das würde wirklich
weitgehend teilen. Ich finde es auch richtig, auf die so- einen massiven Push geben.
zialen Elemente von nachhaltiger und Elektromobilität Diese Forderung – das sage ich Ihnen voraus – wird
hinzuweisen. von der deutschen Automobilindustrie kommen, und Sie
(Beifall des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD]) werden sie aufgreifen, und zwar in zwei Jahren, wenn
die Industrie so weit ist; sie will nicht, dass es heute los-
Auch dazu gibt es nachher noch eine Antwort von uns geht. Wenn wir klimaschonende Technologiepolitik vo-
(B) Grünen. (D)
rantreiben wollen, müssen wir aber jetzt ansetzen, jetzt
Zur Linken muss ich sagen: Bei aller berechtigten anreizen und damit auch die deutsche Automobilindus-
Kritik an einer Fokussierung der Elektromobilität auf trie nach vorn schieben; die hat das Projekt nicht nur
das Auto, die tatsächlich im Antrag von CDU/CSU und verschlafen, sondern lange bekämpft.
FDP im Detail enthalten ist – denn dort hat man etwa die Vielen Dank.
allgemeine Förderung des ÖPNV vergessen –, unter-
schätzen Sie aber die Wichtigkeit der Transformation der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Automobilindustrie in Deutschland. Dabei geht es um
viele Arbeitsplätze, um viel Wertschöpfung, um Klima- Vizepräsidentin Petra Pau:
schutz und um Wirtschaftlichkeit. Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bilger das
Wort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Was ist aus grüner Sicht zu tun? Wir haben bekannt- neten der FDP)
lich vor einem halben Jahr bereits einen Antrag vorge-
legt. Ich will noch einmal dessen wichtigste Elemente
Steffen Bilger (CDU/CSU):
zusammenfassen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In weni-
Wir glauben, dass es in jedem Fall zwingend notwen- gen Tagen, Ende dieses Monats, legt die Nationale Platt-
dig ist, die staatliche Forschungsförderung zu verstär- form Elektromobilität ihren Zwischenbericht vor. Daher
ken. Das ist auch eine öffentliche Aufgabe und nicht nur bin ich auch davon überzeugt, dass der Zeitpunkt unserer
Sache der Automobilindustrie. Diese Transformation zu Debatte kaum besser gewählt sein könnte. Ich möchte
erreichen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Indus- überhaupt feststellen: Die Häufigkeit unserer Diskussio-
trie muss dann selber noch etwas drauflegen. Wir sagen: nen über Elektromobilität im Deutschen Bundestag und
Es müssen zehn Jahre lang 500 Millionen Euro bereitge- in den beteiligten Ausschüssen zeigt, dass die Bedeutung
stellt werden, übrigens durch die Abschmelzung des dieses Themas und die damit verbundenen Chancen zu-
Dienstwagenprivilegs, also neutral, finanziert. Das ist mindest von den meisten Fraktionen dieses Hauses er-
ganz wichtig. kannt wurden.
Wir glauben auch, dass man diese Elektromobilität Im Antrag der Koalitionsfraktionen werden viele die-
zwingend in ein neues Energie- und Klimaschutzkonzept ser Diskussionen aufgegriffen. Er ist umfassend, präzise
integrieren muss, als Speicherpuffer und als Element ei- und realistisch umsetzbar. Er macht dazu unseren Füh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7697
Steffen Bilger
(A) rungsanspruch in diesem Bereich deutlich und reiht sich passiert, verkennt internationale Entwicklungen. Alle (C)
nahtlos in die Kette ein: Förderung durch das großen Automobilnationen und -hersteller investieren
Konjunkturpaket II, Nationaler Entwicklungsplan Elek- Milliarden in diese Technologie. Alle Experten sehen
tromobilität, Koalitionsvertrag, öffentliches Fraktions- diesen Trend und das unaufhaltbare Kommen der Elek-
fachgespräch im April, Kanzlergipfel am 3. Mai und tromobilität. Diesen Trend zu ignorieren, hieße, die Au-
jetzt diese Debatte im Bundestag. gen vor der Zukunft zu verschließen.
Als Mitglied des Verkehrsausschusses will ich beson- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ders unterstreichen, welche Bedeutung die Elektromobi- NEN]: Dann machen Sie doch etwas Vernünf-
lität für die Zukunft der Mobilität hat. Eines muss uns al- tiges!)
len gerade im Autoland Deutschland klar sein: Die
Wende im Automobilbau wird kommen. Das wird dau- Nicht zuletzt begleiten viele Bürger die Entwicklun-
ern – auch der Verbrennungsmotor hat weiterhin Zukunft –, gen mit großem Interesse und großer Begeisterung. Dass
aber unweigerlich wird die Bedeutung alternativer An- nun die nötigen Mittel für den Fortbestand der Modellre-
triebe, nicht nur der Elektromobilität, zunehmen. gionen bereitgestellt werden, ist eine gute Nachricht.
Gerade die Modellregionen haben dazu beigetragen,
Elektromobilität führt zu völlig neuen Möglichkeiten, Schwerpunkte zu setzen und Fortschritte zu erzielen so-
beispielsweise zu solchen der Verkehrssteuerung. Schon wie die Akzeptanz der Elektromobilität zu erhöhen und
jetzt rücken diese Chancen mehr und mehr in den Mittel- die Menschen daran teilhaben zu lassen. Darum beken-
punkt. Eine sinnvolle Koordinierung des Straßenver- nen wir uns auch ohne Wenn und Aber zum Fortbestand
kehrs schont die Umwelt, sorgt für mehr Sicherheit, für der Modellregionen.
mehr Effizienz und ermöglicht es, dass vorhandene In-
frastruktur sinnvoll genutzt wird. Wir als Koalitionsfraktionen sehen in der Elektromo-
bilität eine große Chance für Verkehr, Umwelt und Wirt-
Der Antrag der Linken gibt mir Gelegenheit, einige schaft in Deutschland. Darum bleiben wir dran und bit-
Dinge noch einmal zu verdeutlichen bzw. richtigzustel- ten um Unterstützung für unseren Antrag.
len. Dass auch die Schiene zur Elektromobilität gehört
und Elektromobilität selbstverständlich mehr ist als nur Vielen Dank.
Elektroautos, dürfte jedem auch so klar sein. Das sind
Banalitäten. Es hat auch niemand behauptet, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mit unserem Ansatz, wie wir Elektromobilität verstehen,
das Klima komplett schützen ließe. Es ist ein Puzzle- Vizepräsidentin Petra Pau:
stein, aber ein für die Umwelt, für die Mobilität und Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
(B) nicht zuletzt für Arbeitsplätze in Deutschland wichtiger Wolfgang Tiefensee. (D)
Puzzlestein. Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten,
auch in diesem Zusammenhang, ist zumindest für uns
ein wichtiges Thema, Frau Leidig. Wolfgang Tiefensee (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele der Vor-
des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ redner haben einen Konsens im Bereich der Elektro-
DIE GRÜNEN]) mobilität konstatiert. Kollege Hermann, es ist ein Ver-
Darüber hinaus ist es schlichtweg falsch, zu behaup- gnügen, wieder einmal zu demselben Sachverhalt hier
ten, dass die Bundesregierung sich bei der umwelt- im Plenum zu sprechen. Ich möchte meine Redezeit nut-
gerechten Verkehrspolitik nur auf die Förderung von zen, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Man kann es
Elektroautos beschränken würde. Wer sich das Energie- sich nämlich nicht so einfach machen, zu sagen, dass alle
konzept der Bundesregierung auch nur grob angeschaut an einem Strang ziehen.
hat, konnte darin von Wasserstoff, Biokraftstoffen der Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist danach zu be-
sogenannten zweiten Generation, einer neu zu ordnen- urteilen, ob er den Anforderungen eines gnadenlosen
den Lkw-Maut usw. lesen. Auch im Bereich der Nutz- Wettbewerbs auf dem weltweiten Markt der Elektromo-
fahrzeuge wollen wir eine ambitionierte, aber realisti- bilität gerecht wird und ob die konkreten Maßnahmen,
sche Ausgestaltung der CO2-Grenzwerte. die im letzten Jahr ergriffen wurden, dem entsprechen.
Außerdem wird die Bundesregierung die Investitio- Hier gibt es – das muss ich deutlich sagen – erhebliche
nen in die Schieneninfrastruktur ausbauen. Dazu stehen Defizite, die ich im Einzelnen benennen will.
wir, auch wenn gerade Sie bei jeder Gelegenheit beim
Wir befinden uns im Jahr 2010. Die USA und die
Protest gegen den Ausbau der Schieneninfrastruktur da-
asiatischen Staaten, insbesondere China, arbeiten an die-
bei sind, meine Damen und Herren von den Linken.
sem Thema mit einem weitaus höheren Tempo, mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – besserer finanzieller Ausstattung, mit einer stärkeren
Sabine Leidig [DIE LINKE]: Da haben Sie strategischen Ausrichtung als Deutschland. Wir als SPD-
aber ganz schlecht aufgepasst!) Fraktion empfinden, dass die Bundesregierung lieblos an
dieses Thema herangeht.
Wer das aktuelle Interesse an der Elektromobilität mit
dem Hinweis herabwürdigt, schon in früheren Zeiten sei (Beifall bei der SPD – Dr. Reinhard Brandl
diese Mobilitätsform beschworen worden und nichts sei [CDU/CSU]: Wie bitte?)
7698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Wolfgang Tiefensee
(A) Erstens. Was tun Sie strategisch? Es kann doch nicht investieren. Ich vermute, meine sehr geehrten Damen (C)
sein, dass wir bei dem Ziel, 1 Million Elektrofahrzeuge und Herren von der FDP, dass Ihnen Ihr schräges Staats-
bis 2020 auf deutsche Straßen zu bringen, stehen bleiben. verständnis im Wege steht, hier wirklich beherzt vorzu-
Vielmehr müssen wir gleichzeitig fordern, dass diese Zahl gehen.
an Fahrzeugen aus deutscher Produktion stammt und es
Schließlich geht es darum, dass wir den Kommunen
mindestens 1 Million Fahrzeuge sind. Es kann nicht
Sicherheit geben müssen, wie es mit den Standards und
sein, dass wir für das Jahr 2030 nur eine Zahl von 6 Mil-
mit der Infrastruktur – Ladestationen, Induktionsschlei-
lionen Fahrzeugen anstreben. Das ist viel zu wenig. So
fen usw. – weitergeht.
wird es zu keiner Revolution auf diesem Sektor kom-
men. Ihre Strategie ist also ungenügend. Darüber hinaus – dies als letzter Gedanke – konsta-
tiere ich totale Fehlanzeige, wenn es darum geht, dieses
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Projekt als ein europäisches zu begreifen. Wir werden es
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
alleine nicht schaffen. Wo bleibt neben der vielen Gipfe-
Hinzu kommt, dass wir uns mit Blick auf den Klima- lei ein Pakt Elektromobilität auf europäischer Ebene im
schutz überlegen müssen, woher der Strom kommen Wettbewerb zu Asien und Amerika?
soll. Kollege Hermann hat diese Frage angesprochen. Es
Überall Fehlanzeige! Deshalb, meine sehr verehrten
ist völlig falsch, in der einen Woche Beschlüsse zur
Damen und Herren: Die wohlfeilen Aussagen in den An-
Atomenergie in der Weise zu fassen, wie Sie es getan ha-
trägen haben wir zur Kenntnis genommen. Wichtig ist,
ben, und zwei Wochen später davon zu reden, dass man
dass jetzt endlich, ähnlich wie in der Zeit zuvor, Nägel
mehr Elektromobilität brauche.
mit Köpfen gemacht werden, damit wir in diesem Wett-
(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das gehört bewerb obsiegen und nicht hintanstehen.
zusammen!)
Vielen Dank.
Nein, zu dieser Strategie muss auch gehören, auf erneuer-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bare Energien zu setzen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau:
Zum Zweiten: Kompetenzgerangel ohne Ende. Seit Für die FDP spricht nun der Kollege Michael Kauch.
einem Jahr streitet sich die Bundesregierung darum, wel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ches Ressort nun eigentlich die Federführung überneh- der CDU/CSU)
men soll, wo die Nationale Plattform Elektromobilität (D)
(B)
anzusiedeln ist. Es handelt sich um Nickligkeiten und
Michael Kauch (FDP):
Eifersüchteleien, die ja ganz nett wären; aber wir müssen
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
in einem Wettbewerb bestehen, in dem wir nicht beste-
Tiefensee, ich glaube, die FDP hat kein schräges Staats-
hen können, wenn man sich gegenseitig vor die Beine
verständnis, sondern Sie haben ein schräges Verständnis
tritt. Deshalb brauchen wir eine strategische Ausrich-
von dem, wofür Sie politische Verantwortung tragen.
tung, die auch die Strukturen umfasst.
Wenn Sie fragen, wo dies und das bleibe und warum
Zum Dritten. Ganz finster sieht es aus, wenn es um die man dieses und jenes nicht gemacht habe, dann kann ich
Finanzen geht. Darf ich Sie daran erinnern, dass durch den nur sagen: Sie waren der Verkehrsminister, Sie hätten es
Deutschland-Plan von Frank-Walter Steinmeier, dass machen können. Wir machen jetzt, was Sie nicht ge-
durch die Brennstoffzelleninitiative und dass durch die schafft haben.
Konjunkturpakete I und II Geld für diese Thematik be-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
reitgestellt wurde? Was lesen wir jetzt? Im Wirtschafts-
ausschuss bekommen wir einen Ergebnisbericht zur Na- Ich kann Ihnen nur sagen: Viel Geld hilft nicht immer
tionalen Plattform Elektromobilität vorgelegt, in dem viel. Vielmehr haben wir im Interesse kommender Gene-
steht: Es ist anzustreben, die Modellregionen in Zukunft rationen einen Haushalt zu konsolidieren.
auf ähnlichem finanziellen Niveau zu fördern. – Nein,
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wollt ihr
das ist nicht anzustreben. Hier braucht es klare Aussa-
das ohne Geld machen? Das ist ja auch interes-
gen, ob wir uns an der Summe der USA von 22,2 Mil-
sant!)
liarden Euro pro anno oder an der der Chinesen von
3,3 Milliarden Euro pro anno orientieren wollen. Ich for- Dabei kommt es darauf an, was hinten herauskommt,
dere Sie auf, zu einer finanziellen Verstetigung zu kom- nicht aber darauf, möglichst viel Geld hineinzustecken,
men um sich anschließend für die großen Etats abfeiern zu
lassen. Intelligenter Mitteleinsatz, das ist das Gebot der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Stunde auch bei der Elektromobilität.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und mittelfristig – nicht jetzt, Herr Kollege Hermann,
aber mittelfristig – auch über Tax Credits und Incentives Produktinnovation von Automobilkonzernen für sich
nachzudenken, die wir setzen müssen, damit diese Autos genommen ist keine staatliche Aufgabe. Dies ist zu-
gekauft werden. Wir brauchen diese Gelder, um in eine nächst einmal die Aufgabe der Unternehmen. Warum
anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu also machen wir Politik für Elektromobilität? Wir ma-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7699
Michael Kauch
(A) chen dies, weil es unsere Chance ist, in großem Umfang Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): (C)
erneuerbare Energien in die Fahrzeuge zu bringen. Nur Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
so werden wir die Klimaschutzziele erreichen, die sich gen! Wir stehen am Beginn eines Zeitenwechsels: weg
diese Bundesregierung mit dem Energiekonzept gesetzt von einer Mobilität im Straßenverkehr, die im Wesentli-
hat: Reduktion der Treibhausgasemissionen um 80 bis chen auf der Verbrennung von fossilen Brennstoffen
95 Prozent bis 2050, 50 Prozent erneuerbare Energien basiert, hin zu einer CO2-armen oder gar CO2-freien Mo-
am Primärenergieverbrauch, 80 Prozent beim Strom. bilität, basierend auf hybriden oder rein elektrischen An-
Das sind ambitionierte Ziele; für deren Erreichung brau- trieben mit Strom aus erneuerbaren Energien. Das ist
chen wir Elektromobilität. Allein das ist die Begründung Teil unseres Energiekonzeptes und unseres heutigen An-
dafür, dass der Staat an dieser Stelle in den Markt ein- trages. Gerade mit Blick auf das Klima und die zur
greifen kann. Neige gehenden fossilen Brennstoffe ist dieser Weg al-
ternativlos. Dieser Zeitenwechsel wird sich über Jahr-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zehnte hinziehen. Er wird uns, das Autoland Deutsch-
der CDU/CSU) land, mehr als die meisten anderen Länder treffen; denn
an seinem Ende wird eine andere Automobilindustrie
Wir sollten aber auch nicht so tun, als bedeuteten al- mit völlig neuen Wertschöpfungsketten stehen.
ternative Antriebe und erneuerbare Energien im Verkehr
ausschließlich batteriegetriebene Elektroautos. Viel- Die Industrie hat die Herausforderung bereits ange-
mehr zählen auch Brennstoffzellenfahrzeuge dazu. Wir nommen. Jeder deutsche Hersteller arbeitet mit Hoch-
werden für Langstreckenfahrzeuge und für Lkw Ver- druck an hybriden oder rein elektrischen Antriebskon-
brennungsmotoren benötigen. Deshalb brauchen wir zepten. Gestern hat zum Beispiel die Firma Audi in
auch bessere und neue Biokraftstoffe. Das gehört zusam- Ingolstadt ein neues, 65 Millionen Euro teures Entwick-
men. Wir werden noch heute im Deutschen Bundestag lungs- und Prüfzentrum für Elektroantriebe eingeweiht.
über das Thema Biomethan im Verkehrssektor diskutie- Die Bundesregierung hat die Herausforderung ebenfalls
ren. Es muss eine Gesamtstrategie verfolgt werden. Es angenommen und die wichtigsten Akteure der Nationa-
len Plattform Elektromobilität an einen Tisch geholt. Der
darf kein Kästchendenken geben. Wir müssen insgesamt
erste Zwischenbericht wird in Kürze vorliegen.
eine Politik, die sich für erneuerbare Energien im Ver-
kehr einsetzt, betreiben. Das ist die Strategie der christ- Wir von der christlich-liberalen Koalition haben diese
lich-liberalen Koalition. Herausforderung auch angenommen und arbeiten seit
Monaten mit Sachverständigen an den richtigen politi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen Rahmenbedingungen. Ein Ergebnis dieser Arbeit
(B) liegt heute in Form unseres Antrags dem Deutschen (D)
Wir müssen die Grenzen zwischen Stromerzeugung
Bundestag zur Beratung vor. Es kann uns nur gemein-
und Mobilität aufheben. Wir müssen beide Bereiche
sam gelingen, unsere führende Weltmarktposition bei
gleichermaßen in unsere Überlegungen einbeziehen.
den konventionellen Antrieben in das Zeitalter der Elek-
Elektromobilität ist Teil der Netzintegration erneuerba- tromobilität zu übertragen.
rer Energien. Wir können Schwankungen im Stromnetz
aufgrund der Nutzung erneuerbarer Energien abfangen, Die Karten werden neu gemischt. Wir müssen aner-
indem wir zum einen in intelligenten Netzen die Elektro- kennen, dass im Bereich Forschung und Technologie vor
autos zum Bestandteil des Lastmanagements machen. allem die asiatischen Länder wie Japan, Korea und
Zum anderen können wir – das hat die christlich-liberale China im Moment die Nase vorn haben. Das letzte EFI-
Koalition bei der letzten Reform der Solarförderung ge- Gutachten zur technologischen Leistungsfähigkeit
macht – Anreize dafür setzen, dass selbstproduzierter Deutschlands hat uns das eindrucksvoll aufgezeigt.
Photovoltaikstrom möglichst für die eigenen Elektro- An diesem Punkt stehen wir als Staat in der Verantwor-
autos verwendet wird. Zum Beispiel können die Autos tung. Wir müssen die Wissenschaft und die Industrie da-
der Mitarbeiter, die acht Stunden auf dem Parkplatz des bei unterstützen, den Rückstand im Bereich der Grundla-
Unternehmens stehen, in dieser Zeit aufgeladen werden. genforschung aufzuholen. Die Bundesregierung macht
Die erzeugte Energie sollte nicht einfach dem Netzbe- dies bereits im großen Umfang. Allein das Bundesminis-
treiber sozusagen vor die Füße geworfen werden. Im terium für Bildung und Forschung stellt im Rahmen der
Zuge der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Hightech-Strategie jedes Jahr rund 100 Millionen Euro
Jahr 2012 müssen wir diesen Punkt weiterentwickeln. an Fördermitteln zur Verfügung. Ein Leuchtturmprojekt
Daran werden wir arbeiten. ist die groß angelegte Innovationsallianz „Lithium-Ionen-
Batterie“, in der 57 Projektpartner aus 27 Forschungsein-
Vielen Dank. richtungen sowie 30 Unternehmen gemeinsam an dieser
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schlüsseltechnologie arbeiten. Das Projekt läuft bis
2015. Das BMBF fördert es mit 60 Millionen Euro. Die
Industrie gibt zusätzlich 360 Millionen Euro, sodass al-
Vizepräsidentin Petra Pau: lein für dieses Vorhaben insgesamt 420 Millionen Euro
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege investiert werden. Auch die Hochschulen leisten ihren
Dr. Reinhard Brandl. Beitrag. Beispielsweise hat die TU München das Wis-
senschaftszentrum Elektromobilität eingerichtet, in dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 36 Lehrstühle aus fünf Fakultäten das Thema interdiszi-
7700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Reinhard Brandl


(A) plinär bearbeiten und in Forschung und Lehre veran- kreischende Kinder; es geht um Kinder, die ihre Welt er- (C)
kern. – Das sind nur zwei Beispiele für Initiativen, die obern und entdecken. Kindergeräusche – man kann es si-
dazu beitragen, unseren technologischen Rückstand auf- cherlich auch Kinderlärm nennen – sollten eigentlich das
zuholen. Diesen Weg müssen wir unbedingt fortsetzen. Normalste auf der Welt sein; aber leider ist es nicht so.
Leider mehren sich gerichtliche Auseinandersetzungen
Nichtsdestotrotz stehen wir erst am Anfang des Zei-
wegen Kinderlärms, und zwar im Zusammenhang mit
tenwechsels. Unser Ziel ist es, die Zahl der Elektrofahr-
dem Ausbau von Ganztagsschulen und Kitas, leider auch
zeuge auf deutschen Straßen von heute praktisch null auf
vermehrt im Zusammenhang mit Jugendeinrichtungen.
mindestens 1 Million im Jahr 2020 zu erhöhen. Das ist
Diese Entwicklung muss uns sehr große Sorgen bereiten.
ambitioniert. Gemessen an der Zahl von heute circa
50 Millionen Fahrzeugen in Deutschland läge der Anteil Einige von Ihnen kennen vielleicht das Zeit-Magazin
der Elektrofahrzeuge dann trotzdem nur bei 2 Prozent. vom Juli dieses Jahres. Darin findet sich eine wirklich
Deswegen ist es wichtig, heute keine überzogenen Er- erschreckende Reportage über die Versuche, in Hamburg
wartungen in der Bevölkerung zu wecken, die später neue Kitas zu gründen. Allein im Jahre 2009 sind nur in
vielleicht enttäuscht werden, und vor allem nicht die Hamburg 20 Kindergartenprojekte verschiedenster Trä-
weitere Optimierung des Verbrennungsmotors zu ver- ger ins Sperrfeuer der Nachbarschaft geraten. Einige die-
nachlässigen. Der Verbrennungsmotor wird auf abseh- ser Projekte wurden gar nicht realisiert, andere wurden
bare Zeit noch den allergrößten Anteil unserer Fahr- nur unter sehr strengen Auflagen genehmigt; nur manche
zeuge antreiben. konnten tatsächlich wie geplant umgesetzt werden. Ähn-
Das elektromobile Zeitalter kommt; aber es kommt liche Berichte erreichen uns aus den unterschiedlichsten
nicht von heute auf morgen. Wir brauchen einen langen Ecken der Republik.
Atem und eine langfristige Strategie, die uns auch in der Es ist sehr ärgerlich, wenn derartige gegen Kinder, Ju-
Phase nach der Euphorie kontinuierlich weiter nach gendliche und Familien gerichtete Auseinandersetzun-
vorne bringt. Dazu leisten wir heute unseren Beitrag. gen auch noch von einigen Politikern befördert werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Beispielsweise hat der CDU-Sozialsenator von Hamburg
im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Kita-Aus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bau gesagt, er könne den Ärger der Anwohner verstehen.
Der Vorsitzende der Senioren-Union in Nordrhein-West-
Vizepräsidentin Petra Pau: falen sah sogar den sozialen Frieden durch den Lärm von
Ich schließe die Aussprache. Kindergärten gefährdet. Ich finde, derartige Äußerungen
müssen ganz entschieden zurückgewiesen werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
(B) auf den Drucksachen 17/3479, 17/2022 und 17/3647 an (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- bei der SPD und der LINKEN)
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich darf wohl davon ausgehen, dass wir uns in dieser
Runde darüber einig sind – ich zitiere, was im Koali-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: tionsvertrag von Schwarz-Gelb festgehalten worden ist –,
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja dass Kinderlärm „keinen Anlass für gerichtliche Aus-
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab- einandersetzungen geben“ darf.
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vorrang für Kinder – Auch beim Lärmschutz Dieser Konsens ist nicht neu. Die FDP beispielsweise
hat schon im Januar 2009 einen Antrag mit dieser Ziel-
– Drucksache 17/2925 – richtung vorgelegt. Die damalige Große Koalition hat im
Überweisungsvorschlag: Juni 2009 einen quasi inhaltsgleichen Antrag im Plenum
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) beraten lassen. Dann kam der Koalitionsvertrag; das ist
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend jetzt ungefähr ein Jahr her.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Hinzu kommt: Wir wissen schon lange, was wir ge-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die setzgeberisch machen müssten. Vor allem ist § 3 der
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Baunutzungsverordnung um die Zulässigkeit von Kin-
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. dertageseinrichtungen in reinen Wohngebieten zu ergän-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- zen. Ferner ist die Privilegierung des Kinderlärms im
gin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Lärmschutzrecht erforderlich. Wichtig ist auch – das
nen. stellen wir in dem Antrag, den wir heute eingebracht ha-
ben, heraus –, eine Möglichkeit zu finden, um bereits be-
stehende Einrichtungen vor gerichtlichen Auseinander-
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): setzungen wegen Kinderlärms zu schützen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Eigentlich ist das Thema, über das wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
jetzt sprechen, ein schönes Thema. Es geht um Geräu- sowie der Abg. Ute Vogt [SPD] und der Abg.
sche, die Kinder machen, um spielende, lärmende und Sabine Stüber [DIE LINKE])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7701
Katja Dörner
(A) Jetzt haben wir November 2011. Wir müssen konsta- sung zuführen; denn die Konflikte werden eher zu- als (C)
tieren: Es ist überhaupt noch nichts passiert. Uns läuft abnehmen. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe zu
die Zeit davon, insbesondere mit Blick auf den Ausbau nennen: Zum einen sind wir eine alternde Gesellschaft.
der Kitas, der unbedingt notwendig ist, um dem im Ge- Daher wird der Lärm von Kindern – leider – immer sel-
setz verankerten Rechtsanspruch, der ab 2013 besteht, tener und deshalb auch nicht mehr als so selbstverständ-
entsprechen zu können. Fakt ist: Das Thema Kinderlärm lich angesehen, wie es in früheren Jahren vielleicht der
soll erst im Rahmen einer breit angelegten Novelle zum Fall war. Zum Zweiten haben wir, um die Gesellschaft
Bauplanungsrecht aufgegriffen werden. Die Eckpunkte kinderfreundlicher zu machen, um die Vereinbarkeit von
sollen im nächsten Sommer vorgelegt werden. Frühes- Familie und Beruf zu ermöglichen, ehrgeizige Ausbau-
tens 2012 werden wir ein Gesetzgebungsverfahren ha- pläne, was Kindertagesstätten und Kindergärten angeht.
ben. Das Ganze dauert einfach viel zu lange. Das spricht dafür, dass die Konflikte eher zu- als abneh-
men.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abg. Sabine Stüber [DIE LINKE]) Der Bundestag hat hier bereits in der letzten Legisla-
Unser Antrag ist nicht nur ein Plädoyer für Kinder- turperiode Handlungsbedarf festgestellt. Ich darf an die-
lärm als Zukunftsmusik, sondern stellt auch einen ganz ser Stelle übrigens konstatieren – die Kollegen von der
konkreten Handlungsauftrag an die Regierung dar, sich SPD sind ja nicht so zahlreich vertreten –, dass die Um-
beim Thema Kinderlärm endlich an die Arbeit zu ma- setzung dessen natürlich vom damaligen Umweltminis-
chen und nicht länger auf Zeit zu spielen. Ich denke, das ter Sigmar Gabriel hätte erfolgen müssen,
ist in unser aller Interesse. (Ute Vogt [SPD]: Im Juli war der Beschluss!)
Vielen Dank.
der für das Immissionsschutzrecht Verantwortung getra-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen hat. Ich kann feststellen: Das ist nicht geschehen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Koali-
Vizepräsidentin Petra Pau: tionsvertrag eine Rechtsänderung zugunsten der Kinder
Für die Union spricht nun der Kollege Dr. Michael verabredet. Wir werden dies auch umsetzen; dafür brau-
Paul. chen wir den Antrag der Grünen nicht. Der Antrag der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Grünen ist insofern weder besonders kreativ noch beson-
der FDP) ders fantasievoll.
(B) (D)
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Ihren Taten werden Sie gemessen!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Dörner, Sie haben eine Reihe vernünftiger Punkte ge- Wie wird der Rechtsrahmen neu gestaltet werden
nannt. Ich darf Sie trösten: Die Koalition braucht nicht müssen? Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang
den Anstoß der Grünen. Wir setzen den Koalitionsver- hervorzuheben. Zum einen brauchen wir die Klarstel-
trag Punkt für Punkt um. lung im Bundes-Immissionsschutzgesetz, dass Kinder-
lärm – anders als der Lärm, der von Industriemaschinen
Kinder müssen in Deutschland spielen können. Das ausgeht – im Regelfall keine schädliche Umwelteinwir-
gehört zu ihrer Entwicklung, und das müssen wir als kin- kung darstellt. Dadurch können wir den Klagen, die von
derfreundliche Gesellschaft sicherstellen. Natürlich ma- Nachbarn im Wege des Zivilrechts erhoben werden, den
chen spielende Kinder auch Lärm. Aber dieses Geräusch Boden entziehen; denn das Immissionsschutzrecht hat
ist anders als das, das von Industriemaschinen herrührt. auch Ausstrahlungswirkung auf das Zivilrecht. Ebenso
(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius wird dadurch die Zahl der Klagen im öffentlichen Recht
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) abnehmen. Wir müssen aber die weitere Entwicklung in
der Rechtsprechung sehr genau daraufhin beobachten,
Natürlich müssen wir feststellen, dass es in den letz- ob es weiteren Klarstellungsbedarf gibt. Klar ist – das
ten Jahren Urteile gegeben hat, die einiges Aufsehen er- will ich an dieser Stelle ebenfalls sagen –, dass auch in
regt haben. Was war passiert? Nachbarn haben durch Zukunft eine gerichtliche Überprüfung im Einzelfall
Klagen vor verschiedenen Gerichten durchgesetzt, dass möglich sein muss; denn schließlich leben wir in einem
verschiedene Kindergärten oder Kindertagesstätten we- Rechtsstaat. Die neue Regelung wird aber Rechtssicher-
gen des von ihnen ausgehenden Lärms schließen muss- heit schaffen.
ten bzw. gar nicht erst errichtet werden konnten. Diese
Entwicklung darf man aber nicht dramatisieren. Wenn Zum anderen werden wir sicherstellen, dass Kinder-
man sich die Entscheidungen anschaut, stellt man fest, gärten und Kindertagesstätten dort sein werden, wo Kin-
dass die Gerichte nur in Einzelfällen zulasten der Kinder der sind. Bisher haben wir das Problem im Baurecht,
entschieden haben. In der Mehrzahl der Fälle haben die dass in reinen Wohngebieten grundsätzlich keine Kitas
Gerichte bis heute zugunsten der Kinder entschieden. zulässig sind.
Trotzdem zeigen die Verfahren, dass es sich um einen (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Konflikt handelt. Diesen Konflikt müssen wir einer Lö- NEN]: Das stimmt nicht)
7702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Michael Paul


(A) Wir werden im Rahmen der anstehenden Bauplanungs- leider nicht weiterverfolgen und nicht tätig werden. Sie (C)
rechtsnovelle die Baunutzungsverordnung an dieser waren letztes Mal in der Regierung und sind es jetzt er-
Stelle ändern, sodass dies auch in reinen Wohngebieten neut seit einigen Monaten. Sie haben sich diesem Thema
grundsätzlich möglich wird. Wir werden uns auch nicht aber bislang nicht genähert und noch nicht einmal einen
darauf beschränken, dies auf zukünftig ausgewiesene Gesetzentwurf vorgelegt.
Wohngebiete zu beziehen; vielmehr sollen auch beste-
Aus meiner Sicht drängt die Zeit; denn nach dem Kin-
hende Bebauungspläne erfasst werden. Dazu wird das
derförderungsgesetz müssen bis 2013 35 Prozent aller
Baurecht entsprechend geändert werden.
Kleinkinder einen Platz in einer Kindertagesstätte be-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem kommen können. Das ist gut so. Wir sind stolz darauf,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass wir dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben.
Gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung. Seit (Beifall bei der SPD)
meine Frau und ich vor sieben Wochen eine Tochter be-
Dieses Gesetz bedeutet, bundesweit 750 000 Plätze in
kamen, ist unser Verständnis für beide Positionen – die
Kindertagesstätten zu schaffen. Das bedeutet in der Kon-
Eltern auf der einen Seite und die Nachbarn auf der an-
sequenz die Verdoppelung der Zahl der heute bestehen-
deren Seite – deutlich gewachsen. Es gibt hier keine
den Betreuungsplätze. Die Bundesregierung nimmt nun
reine Schwarz-Weiß-Situation. Wir brauchen vielmehr
den Kommunen das Geld aus der Tasche. Nach Aussa-
eine ausgewogene Lösung, die auf die Interessen beider
gen des Städte- und Gemeindebundes werden in diesem
Seiten Rücksicht nimmt. Das Maßnahmenbündel, das
Jahr etwa 14 Milliarden Euro fehlen, die dringend not-
ich Ihnen gerade vorgestellt habe und das die Koalition
wendig wären, um etwas für die Kinderbetreuung zu tun.
auf den Weg bringen wird, wird genau diesen Interessen-
ausgleich sicherstellen. Deshalb freue ich mich schon Nicht einmal das, was Sie kein Geld kosten würde,
auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen. bringen Sie auf den Weg. Stellen Sie sich einmal die Si-
Herzlichen Dank. tuation vor: Die Kommunen müssen bauen, müssen zu-
sätzliche Plätze schaffen. Wenn allerorten geklagt wird,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerichtsverfahren drohen, Kindertagesstätten gar nicht
entstehen dürfen oder dort, wo sie schon vorhanden sind,
Vizepräsidentin Petra Pau: nicht vernünftig betrieben werden können, weil die
Herzlichen Glückwunsch, Kollege Paul! Rechtslage relativ viele Klagemöglichkeiten bietet, wird
die Schaffung der zusätzlichen Betreuungsplätze nicht
Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Frak- nur finanziell, sondern auch durch die praktischen Rah-
tion. menbedingungen erschwert. Dafür trägt Ihre Bundesre-
(B) (D)
(Beifall bei der SPD) gierung die Verantwortung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ute Vogt (SPD): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Mit Baurecht allein kann man diese Probleme sicher-
Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Paul, ich glaube, lich nicht lösen. Es geht auch um gesellschaftliche Ak-
es geht hier nicht darum, in einen Wettbewerb um die
zeptanz. Die Gesellschaft wird älter. Es gibt mehr Kin-
kreativsten Anträge einzutreten, sondern schlicht darum,
derlose, die vielleicht weniger Bezug zu Kindern haben
ein drängendes Problem zu lösen, und das hat Ihre Re- und es nicht so sehen, dass Kinderlärm Zukunft bedeu-
gierung bis zum heutigen Tag trotz vieler wohlfeiler
tet. Daher muss man politisch umso stärker Signale set-
Worte zu diesem Thema schlicht versäumt. Sie haben
zen, dass Platz für Kinder in der Gesellschaft gewollt ist.
sich außer dem einen Satz im Koalitionsvertrag noch
nicht einmal im Ansatz diesem Problem genähert. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich sagen – hier
gehen wir sogar weiter als die Grünen in ihrem Antrag;
Wir beschäftigen uns heute bereits mit der dritten Ini-
aber auch da gibt es eine Übereinstimmung –, dass es
tiative zu diesem Thema in diesem Parlament, und alle
nicht nur darum geht, etwas für Kindertagesstätten und
drei Initiativen stammen aus den Reihen der Opposition.
Kinderbetreuungseinrichtungen zu tun, sondern auch da-
Es gab im März einen Antrag der Sozialdemokratischen
rum, etwas für eine Gruppe zu tun, die noch weniger
Partei. Im Mai gab es einen Antrag der Partei Die Linke
Lobby hat als Kinder, nämlich die Jugendlichen. Das be-
mit dem Schwerpunkt auf Sportstätten. Heute liegt ein
trifft nicht nur die Jugendlichen in Sportvereinen, son-
Antrag der Grünen vor. In dem Anliegen sind wir uns
dern zum Beispiel auch die, die auf Bolzplätzen spielen.
alle einig. Auch Sie haben dem Anliegen nicht wider-
sprochen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der
Es ist richtig: Bereits Ende der letzten Legislatur-
Abg. Judith Skudelny [FDP])
periode hat dieses Haus der Bundesregierung den ganz
klaren Auftrag gegeben, die Bewegungsräume für Kin- Vor allem in größeren Städten erleben wir, dass dort, wo
der und Jugendliche auszuweiten und die Zahl der Ge- sich die Bebauung Bolzplätzen nähert, die Anwohner
richtsverfahren zu verringern. Herr Kollege Paul, wir klagen und recht bekommen. Bei uns in Stuttgart gibt es
hätten damals sehr gerne diesen Auftrag des ganzen Bolzplätze, die um 18 Uhr geschlossen werden müssen,
Hauses umgesetzt. Die Wählerinnen und Wähler haben obwohl die Kinder aufgrund der Schulorganisation
dann aber anders entschieden. Daher konnten wir dies manchmal erst um 17.30 Uhr die Chance haben, auf die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7703
Ute Vogt
(A) Straße zu gehen. Das können wir auf Dauer nicht zulas- Erst einmal zum Inhalt Ihres Antrags, zur Neurege- (C)
sen. Deshalb wünschen wir, dass Sie hier nicht nur lung der Baunutzungsverordnung. Die Baunutzungsver-
freundliche Worte finden, sondern dass Sie dem Ganzen ordnung stellt beim Ausbau einer Kindertagesstätte ei-
auch Taten folgen lassen. Wir sollten die nächste Debatte gentlich gar nicht so sehr ein Problem dar. Es ist richtig:
nicht wieder über eine weitere Initiative aus den Reihen In Wohngebieten können nur ausnahmsweise Genehmi-
der Opposition führen müssen. Wir werden in der nächs- gungen erteilt werden. In aller Regel werden sie erteilt.
ten Sitzung des Umweltausschusses beantragen, eine Wenn man Prävention betreibt, muss in allen Gebieten
Anhörung durchzuführen, um uns diesem Thema ge- auch ein Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern ge-
meinsam zu nähern. führt werden; aktuell wird er übrigens geführt. Deswe-
gen ist die Änderung der BauNVO eigentlich gar nicht
Ich hoffe, dass Sie dabei sind, wenn wir jetzt in das vorrangige Problem.
schnellen Schritten vorangehen, und dass wir die nächste
Debatte eben nicht mehr über schöne Anträge, die den
Kindern und den Eltern am Ende nicht helfen, sondern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zeitnah über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung Frau Skudelny, der Kollege Liebich hat den Wunsch
führen. Dann sind wir gerne bereit, Ihnen zu applaudie- nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zulassen?
ren. Machen Sie aber bitte vorher Ihre Hausaufgaben zu
diesem Thema. Judith Skudelny (FDP):
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gerne.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die FDP-Fraktion hat Judith Skudelny jetzt das Stefan Liebich (DIE LINKE):
Wort. Sehr geehrte Frau Skudelny, Sie sagten, dass Sie uns
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten immer einen Schritt voraus sind. Es ist mittlerweile neun
der CDU/CSU) Monate her, dass im Bundesland Berlin das geänderte
Landes-Immissionsschutzgesetz in Kraft getreten ist. All
das, worüber wir heute reden, gilt im Land Berlin be-
Judith Skudelny (FDP):
reits. Sie haben das Land Berlin damals kritisiert, weil es
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und das im Alleingang gemacht hat, und gesagt, das sei eine
(B) Herren! Frau Vogt, Sie sollten mir zuhören. (D)
Bundeskompetenz. Wann dürfen wir denn damit rech-
(Ute Vogt [SPD]: Ich höre!) nen, dass Sie im Rahmen der Bundeskompetenz han-
deln?
Denn ich werde gleich ganz viele der Punkte, die Sie
heute angesprochen haben, erklären. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Mit dem heute vorliegenden Antrag der Grünen ist GRÜNEN)
der Kinderlärm nun auch bei dieser Partei als Thema an-
gekommen.
Judith Skudelny (FDP):
(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Sehr geehrter Herr Kollege, hätten Sie bis zum Ende
DIE GRÜNEN) meiner Rede gewartet, hätten Sie eine Antwort auf diese
Frage bekommen – diesen Teil meiner Rede kann ich
Ich darf Ihnen gratulieren: Ihr Antrag ist in einem Punkt
jetzt streichen –: Wir planen, das bis Ende dieses Jahres
besser als der, den die SPD im März dieses Jahres vorge-
zu tun.
legt hat; denn er ist zumindest verfassungskonform.
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall des Abg. Dr. Michael Paul [CDU/
NEN]: Ende dieses Jahres? Oh! – Bettina
CSU])
Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie
Da Sie aus unserem Koalitionsvertrag zitiert haben, meinen wohl: bis Ende nächsten Jahres!)
gehe ich stark davon aus, dass Sie meinen, uns ein wenig
vor sich hertreiben zu müssen. – Lassen Sie mich doch in Ruhe weiterreden. Im An-
schluss können Sie Fragen stellen.
(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist doch ganz offensichtlich so! – Das Problem im Zusammenhang mit der Baunut-
Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zungsverordnung ist im Moment Folgendes – das wer-
NEN]: Laufen Sie doch erst mal los! Wir holen den Ihnen alle Baurechtler bestätigen –: Wenn eine Än-
Sie schon ein!) derung der Baunutzungsverordnung erfolgt, müssen die
Gemeinden, Städte, Anwälte und Gerichte jeweils die
Das wird Ihnen auch heute leider nicht gelingen, weil aktuelle Form und alle alten Fassungen behalten.
wir Ihnen wieder einen Schritt voraus sind.
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) NEN]: Ja, genau!)
7704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Judith Skudelny
(A) Einzeländerungen sollte man also nur dann vornehmen, (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
wenn ein wahnsinnig großes Problem besteht. Wie ich NEN]: Sie sind ja schnell!)
bereits dargelegt habe, ist das Hauptproblem nicht die
– Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. – Ich
Baunutzungsverordnung. Deswegen werden wir die da-
freue mich, dass sie schon jetzt ankündigen, konstruktiv
rin vorgesehenen Änderungen, nämlich die Klarstellung,
mitzuarbeiten.
dass kurze Wege und kurze Beine zusammengehören,
dass Kinder also in Wohngebiete gehören, im Rahmen (Ute Vogt [SPD]: Das machen wir immer!)
der Gesamtnovellierung der Baunutzungsverordnung im
Jahre 2011 vornehmen, damit das nicht zu kompliziert Deswegen freue ich mich auch auf den Dialog.
und zu formalistisch wird. Bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und Gor-
Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, ist leben haben Sie versucht, einen Zug aufzuhalten. Dieses
die Bürgerbeteiligung. Hier unterschätzen Sie unsere Mal sind Sie hinter einen fahrenden Zug gesprungen
Städte und Gemeinden. Jeder Stadtrat und jeder Gemein- (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
derat weiß, dass ein Projekt wie der Bau eines Kinder- Wir schieben den Zug von hinten an!)
gartens nur dann verwirklicht werden kann, wenn die
Anwohner und die Bevölkerung in der Gegend einbezo- und wieder auf den Schienen gelandet.
gen werden. Die Art und Weise, in der sie über das schon Wir werden bis Ende des Jahres den Gesetzentwurf
bekannte Planungsrecht hinaus einbezogen werden, ist – ganz in Ihrem Sinne – auf den Weg bringen. Sie haben
Angelegenheit der Städte und Gemeinden. Das muss aus recht: Kinder sind ein Zukunftsthema. Dieses Zukunfts-
meiner Sicht nicht im Bundesrecht geregelt werden. thema besetzt die Koalition hervorragend, und sie
Hierzu hat jede Stadt und jede Gemeinde eigene Wege, braucht dabei nicht Ihre Hilfestellung.
eigene Foren und eigene Ideen. Die Beteiligung der Bür-
gerinnen und Bürger befürworte ich. Eine diesbezügli- Vielen Dank.
che Gesetzgebung des Bundes halte ich aber für nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
notwendig, zumal die Städte und Gemeinden dies schon Christian Lange [Backnang] [SPD]: War das
heute sehr gut machen. eine schlechte Rede! – Bettina Herlitzius
Die Intention Ihres Antrags ist durchaus richtig. Es [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das begeis-
wird deutlich: Kinderlärm ist gewollt, Kinderlärm ist ge- tert uns nicht!)
wünscht, Kinderlärm ist richtig. Aber in diesem Zusam-
menhang muss man auch den Anwohnern, der älter wer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
denden Generation und allen anderen Menschen, gerecht Jetzt hat Sabine Stüber das Wort, die es vorzieht, mit (D)
(B)
werden. Richtig ist, dass Kinderlärm nicht mit Baulärm, uns gemeinsam ihren Geburtstag zu feiern. Dazu gratu-
nicht mit Maschinenlärm und nicht mit Straßenlärm ver- lieren wir herzlich.
glichen werden kann. Kinderlärm kann auch nicht in
dB(A) gemessen und in Durchschnittswerten angegeben (Beifall)
werden. Die Stärke des Kinderlärms ist jeweils vor Ort,
also dort, wo er entsteht – jetzt bitte Achtung –, in Kin- Sabine Stüber (DIE LINKE):
dertagesstätten, auf Kinderspielplätzen und, Frau Vogt, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
auf Ballspielplätzen, zu prüfen. legen! Kinder brauchen einen Freiraum, in dem sie spie-
len, rennen und toben können. Das gehört zu einer ge-
Gestern haben wir uns mit der Union auf Rahmenbe-
sunden Entwicklung. Es kann auch laut sein. Bei dem
dingungen geeinigt. Im März dieses Jahres haben wir
französischen Philosophen und Pädagogen Rousseau
das noch nicht geschafft. Wir haben nicht schnell gehan-
hörte sich das im 18. Jahrhundert so an: „Die Natur will,
delt, weil wir eine Regelung treffen wollten, die verfas-
dass Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsen werden.“ In
sungskonform, ausgewogen und für die gesamte Gesell-
einem japanischen Sprichwort heißt es: „Kinder, die
schaft tragbar ist. Deswegen haben wir uns vielleicht die
schreien, werden groß.“ Vergangene Zeiten, verschie-
eine oder andere Woche länger Zeit gelassen. Wir woll-
dene Kulturkreise – und doch wusste man, was Kinder
ten nämlich eine Regelung treffen, die sicherstellt, dass
brauchen.
es so wenige Klagen wie möglich gibt.
Bei uns hingegen bedarf es einer gesetzlichen Klä-
Der Vorschlag der SPD, Klagen gegen Kinderlärm
rung, damit Kinderlärm nicht mehr als schädliche Um-
grundsätzlich auszuschließen, ist nicht verfassungskon-
weltauswirkung für Nachbarn bewertet werden darf. Ei-
form. Kinderlärm kann nämlich auch mitten in der Nacht
nen Beschluss des Bundestages dazu gibt es seit über
auftreten, weil Eltern ihre Kinder einfach brüllen lassen.
einem Jahr. Für Anwohner sollen Klagen gegen Kitas
Wir wollten keine Regelung treffen, die auch einen sol-
oder Spielplätze schwieriger werden. Betreiber von Kin-
chen Fall umfasst. In diesem Fall muss nach wie vor der
dereinrichtungen brauchen dringend Rechtssicherheit.
Klageweg möglich sein. Im Hinblick auf Kindertages-
stätten gilt dies natürlich nicht. Es muss aber nach wie Noch ist aber nichts passiert. Noch erhalten Kitas in
Wohngebieten jede Menge Auflagen. Bis hin zur Schlie-
vor eine Ausgewogenheit in der Gesellschaft vorhanden
ßung ist alles möglich, wenn sich Anwohner belästigt
sein.
fühlen. Mit dem Kinderfördergesetz sollen bis 2013 fa-
Wir planen, bis Ende dieses Jahres einen entsprechen- milienfreundlichere Bedingungen geschaffen werden.
den Gesetzentwurf zur Diskussion zu stellen. Dazu sind mehr Betreuungsplätze die Voraussetzung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7705
Sabine Stüber
(A) Eine Kindertagesstätte, ein Spielplatz vor der Haustür: haben zu Recht gesagt, liebe Kollegin: Wenn sie (C)
Wie würde dadurch der Alltag für Kinder und Eltern er- schreien, werden sie groß.
leichtert werden?
Dass sich dennoch immer wieder Menschen finden,
In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden die gegen und wegen Kinderlärm klagen, ist, vorsichtig
alle guten Ansätze der verschiedenen Fraktionen, die in ausgedrückt, bemerkenswert. Dass es dann aber auch
den letzten zwei Jahren zum Thema Kinderlärm einge- noch Richter gibt, die diesen Menschen recht geben,
bracht wurden, zusammengefasst. Ergänzend sollen kann einen, gelinde gesagt, nur wütend machen.
Spielflächen schon bei der Planung berücksichtigt wer-
den. Das befürworten wir als Linke voll und ganz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des
(Beifall bei der LINKEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mögliche Konflikte sollen durch die Beteiligung der Be- Auch deshalb findet sich in unserem Koalitionsvertrag
troffenen im Vorfeld geklärt werden. Auch das unterstüt- der schon viel zitierte Satz:
zen wir. Trotzdem frage ich mich, warum Kinderlärm
eine so große Belastung ist. Verkehrslärm ist mit Ab- Kinderlärm darf keinen Anlass für gerichtliche
stand unerträglicher. Was ist los in diesem Land? Warum Auseinandersetzungen geben. Wir werden die Ge-
wird es Familien immer noch so schwer gemacht? Die setzeslage entsprechend ändern.
überalterte Gesellschaft fühlt sich von den Kindern, die Dafür bedarf des Änderungen im Baurecht, Lärmschutz-
später die Rente erarbeiten sollen, belästigt? Das ist doch recht und auch ganz allgemein im Zivilrecht. Ich kann
eine verkehrte Welt. Ihnen mitteilen – so der Stand von heute Mittag –: Die
baurechtlichen Gesetzesänderungen sind geklärt. Das fe-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
derführende Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtent-
Daniela Raab [CDU/CSU])
wicklung wird bereits Anfang 2011 das Gesetzgebungs-
Natürlich nerven Kinder auch einmal, aber sie sind die verfahren einleiten, um das gesamte Bauplanungsrecht
Zukunft unserer Gesellschaft. Viele Menschen in unse- zu novellieren. Ein Bestandteil dieser Novelle ist auch
rem Land sehen das genauso. Belästigt fühlen sich nur die Regelung zum Kinderlärm.
einige.
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Wunderbar!)
Im Auftrag des Onlineportals Immowelt wurden
Ich bin froh, dass wir das Verfahren beschleunigen
kürzlich 1 042 Personen befragt. Die Toleranz gegen-
konnten. Das alleine reicht aber nicht; auch das ist schon
über tobenden Kindern ist größer als man denkt: Für
(B) 86 Prozent der Befragten gehört Lärm, der durch Kinder gesagt worden. Notwendig ist eine absolute Toleranz ge- (D)
genüber Kindergeräuschen, und zwar nicht nur im Bun-
entsteht, zum Leben einfach dazu. Ein weiteres Ergebnis
des-Immissionsschutzgesetz, sondern auch im Bürgerli-
ist allerdings, dass 19 Prozent der sogenannten Besser-
chen Gesetzbuch.
verdienenden kein Verständnis dafür haben. Rund ein
Drittel davon lebt in kinderlosen Haushalten. Genau für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
diese Klientel sind dann auch solche Inserate gedacht: neten der FDP)
Kinderlärm? Anwälte leisten telefonische Rechtsbera-
tung sofort: 8 bis 24 Uhr! – Lassen Sie uns dafür sorgen, Bei der von mir schon angesprochenen Änderung des
dass sich solche Angebote bald erübrigen. Bundes-Immissionsschutzgesetzes wird deshalb aus-
drücklich eine entsprechende Ausstrahlwirkung für das
Danke. Bürgerliche Gesetzbuch festgeschrieben. Denn – ich
glaube, darin sind wir uns alle einig – es darf kein Hin-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute
tertürchen offen bleiben, um den Bau von Kindertages-
Vogt [SPD])
stätten, Spielplätzen, Bolzplätzen oder ähnlichen Ju-
gendeinrichtungen zu verhindern.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Wort hat Daniela Raab für die CDU/CSU-Frak-
tion. Kitas und Kindergärten müssen selbstverständlich
auch in reinen Wohngebieten gebaut werden dürfen. Wo
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind wir denn? Kinder gehören nicht in Gewerbegebiete,
sondern in unsere Mitte. Es darf nicht der Eindruck ent-
Daniela Raab (CDU/CSU): stehen, dass wir sie abschieben, um so wenig wie mög-
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- lich von ihnen mitzubekommen. Deswegen arbeitet das
legen! Kinder machen natürlich Geräusche. Sie machen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
manchmal auch Lärm. Das ist gewollt. Ich glaube, das lung daran, das Bauplanungsrecht dahin gehend zu än-
wird auch in dieser Debatte deutlich. Zu viel Konfronta- dern, dass eine generelle Zulässigkeit von Kindertages-
tion bei diesem konsensualen Thema schadet deshalb stätten in reinen Wohngebieten ermöglicht wird. An
nur. Es ist von uns allen gesagt worden: Es ist gewollt, dieser Stelle möchte ich ausdrücklich den Ministerien
dass Kinder toben, kreischen, schreien, weinen und auch für Umwelt, Justiz und Verkehr – einer der Minister ist
mal zur Unzeit brüllen dürfen. Die Uhrzeit interessiert anwesend – für die konstruktive Zusammenarbeit in die-
ein Kind eher selten. Es sind schließlich Kinder, und Sie sem Punkt danken.
7706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Daniela Raab
(A) Weil die einzelnen Bundesländer angesprochen wur- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (C)
den, darf ich mein Bundesland Bayern erwähnen. Das schusses (6. Ausschuss)
bayerische Kabinett hat am 26. Oktober einem Gesetz-
entwurf zugestimmt, nach dem Kinderlärm künftig – Drucksache 17/3693 –
grundsätzlich als sozial angemessen hingenommen wer- Berichterstattung:
den muss. Dadurch sollen Einrichtungen für Kinder Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
schneller gebaut werden können. Nachbarn dürfen in Dr. Peter Danckert
Zukunft nicht mehr darauf vertrauen, dass der Freistaat Christian Ahrendt
aus Lärmschutzgründen gegen Kindereinrichtungen vor- Halina Wawzyniak
geht. Das betrifft ausdrücklich auch Freizeiteinrichtun- Jerzy Montag
gen für Jugendliche wie Bolzplätze, Skateranlagen und
BMX-Bahnen; Sie kennen das alles genauso gut wie ich. Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Auch diese Anlagen sollen nach dem Gesetzentwurf im Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
Hinblick auf Lärm bevorzugt behandelt werden. der Fraktion Die Linke vor. Verabredet ist, eine halbe
Stunde dazu zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich
Ich denke, auch hierbei wird klar, dass wir nicht nur keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
über Kinderinteressen, sondern selbstverständlich auch
über Jugendinteressen reden. Sie müssen bei dieser Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundes-
gesetzgeberischen Regelung immer Vorrang vor allem ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das
anderen haben. In Bayern bedeutet das konkret, dass wir Wort.
bei der Berechnung von Abständen zum Beispiel zwi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schen einer neu zu bauenden Jugendeinrichtung und der der CDU/CSU)
Wohnbebauung direkt daneben die besonderen Regelun-
gen für Ruhezeiten komplett aussetzen. Die Bebauungs-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
abstände können künftig fast halbiert werden. Ich finde
ministerin der Justiz:
es schön, dass es Bundesländer gibt, die das machen.
Dabei ist es mir völlig egal, welche Bundesländer das Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
sind und von wem sie regiert werden. Hauptsache, es legen! Damit Bürgerinnen und Bürger nicht nur recht ha-
wird gemacht. Sie haben die Berliner Brille erwähnt, ben, sondern auch zu ihrem Recht kommen können, ist
Herr Kollege. In diesem Sinne möchte ich Ihnen auch eines unverzichtbar: eine unabhängige, die Mandanten
gerne die bayerische Brille mit auf den Weg geben. und damit die Bürgerinnen und Bürger beratende An-
waltschaft. Anwältinnen und Anwälte können ihre wich-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tige Aufgabe als Organ der Rechtspflege nur dann erfül- (D)
neten der FDP) len, wenn die Mandanten ihnen auch vertrauen können.
Auf allen Ebenen einen Ausgleich zu schaffen, be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
deutet aber nicht nur – lassen Sie mich das abschließend
Der Bürger, der einen Anwalt um Rat bittet, muss sicher
feststellen –, politische Beschlüsse zu fassen, schöne Re-
sein, dass das, was er dem Anwalt erzählt, auch wirklich
den zu halten und gegebenenfalls die Gesetze zu ändern,
nur zwischen ihm und dem Anwalt bleibt und Informa-
wo dies nötig ist; vielmehr muss jeder Einzelne von uns
tionen, Erkenntnisse, Aussagen sowie Anvertrautes bei
Kinder als solche statt als kleine Erwachsene sehen. Wir
diesem vertraulich behandelt werden.
müssen ihnen ohne Vorurteile begegnen und sie Kinder
sein lassen. Vor allem dürfen wir nicht gegen sie klagen. (Beifall bei der FDP)
Denn ich denke, es gilt immer noch: Kinderlärm ist Zu-
kunftsmusik. Wenn ein Mandant nicht die Gewähr hat, dass er mit
seinem Anwalt frei und unbelauscht sprechen kann,
Vielen herzlichen Dank. wenn er befürchten muss, dass etwa bei einem Telefonat
der Staat in der Leitung mithört, dann ist das Entstehen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Vertrauen gefährdet und dann ist auch nicht gesi-
chert, dass ein Anwalt seiner Funktion im Rechtsstaat in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vollem Umfang nachkommen kann. Deshalb muss der
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/2925 Rechtsstaat um seiner selbst willen die freie und unge-
an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesord- hinderte Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt
nung aufgeführt sind. Sind Sie damit einverstanden? – respektieren und garantieren. Genau das ist das Ziel des
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Gesetzentwurfes, der heute in zweiter und dritter Lesung
verabschiedet werden soll.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
(Beifall bei der FDP)
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dieser Gesetzentwurf nimmt eine Korrektur früherer
zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensver- Gesetzgebung vor. Nach dem durch den Gesetzentwurf
hältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozess- geänderten § 160 a der Strafprozessordnung sollen alle
recht Rechtsanwälte und nicht allein Strafverteidiger vor Er-
mittlungsmaßnahmen des Staates geschützt sein, soweit
– Drucksache 17/2637 – es um Erkenntnisse geht, hinsichtlich derer sie das Zeug-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7707
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) nis verweigern dürfen. Damit kein Missverständnis ent- tenden Regelung auf andere beratende Berufe sind. Ich (C)
steht: Wenn es um den konkreten Verdacht geht, dass der hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiode einen weite-
Anwalt selbst eine Straftat begangen hat – das ist nicht der ren Schritt gehen können.
Bereich, den wir mit dem geänderten Gesetz regeln –,
dann kann natürlich ermittelt werden. Vielen Dank.

Mit dieser Änderung schaffen wir wieder eine gute (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Balance zwischen den Rechten von Anwälten, die ver- des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
teidigen und beraten, auf der einen Seite und der Effekti- DIE GRÜNEN])
vität der Strafrechtspflege auf der anderen Seite.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Dr. Peter Danckert hat seine Rede zu
Die Arbeit von Justiz und Polizei wird durch diese maß- Protokoll gegeben, weil er im Haushaltsausschuss ist.1)
volle Erweiterung des absoluten Schutzes vor Ermitt-
lungsmaßnahmen wirklich nicht nennenswert beein- Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Sensburg für
trächtigt. Dies haben die Sachverständigen sowie die die CDU/CSU-Fraktion.
Länder und Verbände bestätigt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wichtig ist, dass wir mit diesem Schritt die bisherige
künstliche Aufspaltung zwischen Strafverteidigern und Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
anderen Anwälten beenden. Diese Abgrenzung lässt sich
in der Realität sowieso nicht punktgenau treffen. Gerade Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
bei komplexen Beratungsmandaten bestehen häufig enge Damen und Herren! Ich kann der Justizministerin nur
Verflechtungen zu strafrechtlichen Fragen. zustimmen: Es ist gut, dass wir mit der Neuregelung des
§ 160 a eine Regelung gefunden haben, die einen erwei-
Der Übergang von beratender zu verteidigender Tä- terten Schutz des Vertrauensverhältnisses von Rechtsan-
tigkeit ist oft fließend. Künftig gilt daher, bezogen auf wälten zu ihren Mandanten gewährleistet, und wir damit
alle Anwälte, ein absolutes Verbot der Erhebung und eine Regelungslücke schließen, die im Kern nicht zu
Verwertung von Informationen. Gegen Anwälte dürfen rechtfertigen war. Das betrifft die Fälle, in denen es ei-
sich deshalb keine strafrechtlichen Ermittlungsmaßnah- nen Übergang vom Anwaltsmandat zum Strafverteidi-
men mehr richten, wenn damit Informationen erfasst germandat gibt. Es ist gerade aus Sicht der Mandanten
würden, die vom Zeugnisverweigerungsrecht des An- nicht nachvollziehbar, wann der Zeitpunkt eintritt, ab
walts umfasst wären. Schutz vor Durchsuchungen oder dem das Anwaltsmandat zum Strafverteidigermandat
(B) Beschlagnahmen in Kanzleien gibt es bereits. Aber wir wird. Daher ist es eine richtige Entscheidung gewesen, (D)
müssen sicherstellen, dass Telefone oder die E-Mail- Klarheit zu schaffen, den absoluten Schutz einzuführen
Kommunikation nicht überwacht werden. Wir tragen da- und damit insbesondere für den Mandanten sicherzustel-
mit natürlich auch dem Wandel Rechnung, der das an- len, dass das Vertrauensverhältnis umfänglich geschützt
waltliche Berufsbild betrifft; denn zum einen wird elek- ist.
tronische Kommunikation immer wichtiger, zum
anderen gibt es immer mehr Sozietäten, in denen Straf- (Beifall bei der CDU/CSU)
verteidiger mit Anwälten anderer Fachrichtungen zu- Man muss nämlich wissen, dass § 160 a ein gestuftes
sammenarbeiten. Auch dieser Realität wird mit der Ge- Schutzverhältnis vorsieht. Es gibt einen absoluten
setzesänderung Rechnung getragen. Schutz und einen relativen Schutz. Alle Berufsgeheim-
Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf ein wichtiges nisträger genießen bereits den relativen Schutz des
Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Ich bin froh, § 160 a Abs. 2. Es fällt also niemand durch das Raster.
dass die Beratungen gezeigt haben, dass es dafür inner- Es gibt bestimmte Bereiche mit einem absoluten Schutz.
halb und außerhalb des Parlaments eine breite Unterstüt- Es war folgerichtig, keine Trennung zwischen Verteidi-
zung gibt. Ich verstehe das nicht nur als ein gutes Zei- germandat und Anwaltsmandat zu schaffen. Das hat die
chen, sondern auch als Rückenwind für die christlich-liberale Koalition richtig entschieden. Ich
Bemühungen, weiterzuarbeiten. Im Koalitionsvertrag freue mich, dass über die Fraktionsgrenzen hinweg da-
war nur ein Prüfungsauftrag vorgesehen, um zu sehen, rüber Konsens herrscht, den Schritt gemeinsam zu ge-
wie man weitergehen kann. Dazu gibt es die Anträge hen, und ich freue mich über das Signal der anderen
von Bündnis 90/Die Grünen, über die beraten wird und Fraktionen.
die natürlich die Sympathien der FDP haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was mich nicht gefreut hat, war das Verfahren. Das
Lieber Herr Montag, wir sind froh, dass wir bei diesem muss ich ganz ehrlich sagen.
Vorhaben den richtigen Schritt gehen, auf den wir uns in
der Koalitionsvereinbarung verständigt haben. Es ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-
eine Korrektur. Für die gab es auch damals eine Mehr- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
heit. Es ist gut, dass wir uns in dieser sachlichen Atmo- NEN)
sphäre damit befassen. Natürlich prüfen wir weiter auch
im Hinblick darauf, wie die Auswirkungen der dann gel- 1) Anlage 5
7708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Patrick Sensburg


(A) – Warten Sie ab, es kommt noch etwas. Herr Kollege Mir scheint, dass Sie hier Prävention mit Repression (C)
Montag, wir wollen einmal sehen, ob auch Sie gleich gleichsetzen wollen. Bei der Prävention haben Sie mehr
klatschen. – Rechte, und diese Rechte haben wir auch in § 20 u des
Bundeskriminalamtgesetzes statuiert. In der Prävention
Wir haben im Ausschuss ein erweitertes Bericht- kann ich ganz anders vorgehen.
erstattergespräch organisiert und auch vorbereitet.
Schauen wir uns einmal den Zeitablauf an. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Warum eigentlich? Da ist doch nicht
Am 30. September fand die erste Lesung im Plenum einmal eine Straftat passiert!)
statt. Am 6. Oktober haben wir im Rechtsausschuss be-
raten. Am 18. Oktober wurden dann alle Berichterstatter Wenn ich solche Beispiele wie jetzt aktuell die Brief-
unterrichtet. Im Vorfeld habe ich bereits den einen oder bomben diskutiere, so geht es darum, Gefahren für Bür-
anderen Berichterstatter bezüglich des erweiterten Be- ger möglichst effektiv und schnell abzuwehren. Dabei
richterstattungsgesprächs angesprochen. Erst am 26. Ok- muss ich anders vorgehen, als wenn ich im Nachhinein
tober, also mit ausreichend Vorlauf, erfolgte dann das er- ermittle. Das müsste Ihnen bekannt sein.
weiterte Berichterstattergespräch, an dem leider nicht Nun hat jemand gefragt: Warum eigentlich? Ich
alle Fraktionen teilgenommen haben. denke, wir haben heute nicht die Zeit, das ausgiebig zu
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber die diskutieren.
Linke!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ganz im Gegenteil: Es wurde gesagt, die Vorbereitungs- NEN]: Sonst erzählen Sie hier doch auch jeden
zeit sei zu kurz gewesen – und das bei einem Thema, das Unsinn! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE
schon in der letzten Wahlperiode zu Diskussionen ge- GRÜNEN]: Doch, Sie haben die Zeit!)
führt hatte und auch jetzt breit diskutiert worden war. Dann führen Sie auch noch § 23 a des Zollfahndungs-
Aber diese Vorbereitungszeit reichte anscheinend eini- dienstgesetzes ein, in dem es um Militärwaffen, Kriegs-
gen Fraktionen nicht, und es wurden dementsprechend waffen bis hin zu Flugkörpern für Atomwaffen geht.
Anträge gestellt, das erweiterte Berichterstattergespräch Wenn Sie diese Gefahren auch noch herausnehmen wol-
zu diesem Thema abzusetzen. len, dann frage ich mich schon: Haben Sie den Unter-
Ich kann nur sagen: In dieser Woche sind offensicht- schied nicht verstanden?
lich das Anträgestellen und der Formalismus etwas mit Der Rechtsausschuss hat Ihren Antrag zu Recht abge-
Ihnen durchgegangen. Den Umweltausschuss torpedier- lehnt. Schauen Sie einmal in § 161 Abs. 2 der StPO.
ten Sie in dieser Woche mit Geschäftsordnungsanträgen Dann wird Ihnen diese Unterscheidung ganz deutlich,
(B) und 21 Änderungsanträgen, und bei diesem Thema ver- (D)
und Sie erkennen, dass die Maßnahmen, die präventiv
suchten Sie es dann auch. stattgefunden haben, gar nicht ohne Weiteres repressiv
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eingebracht werden können. Da wird ja hinterher die
NEN]: Ach!) Unterscheidung zum Schutz des Beschuldigten getrof-
fen. Dieses fein austarierte System scheint Ihnen egal zu
Ich glaube, das war nicht das richtige Verfahren. Wir sein. Das wiederum scheint mir einer gewissen Richtung
sollten bei einem solchen Thema doch eine gemeinsame verhaftet zu sein.
Entscheidung in der Sache treffen können. Das war nicht
besonders kooperativ, muss ich sagen. Wir schaffen ein System, fein austariert zwischen prä-
ventiven und repressiven Rechten. Damit stärken wir das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vertrauensverhältnis zu Anwälten. Aber wir sehen
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gleichzeitig die Aufgabe des Staates, Gefahren effektiv
Die Koalition klatscht gegen den Bundestags- zu bekämpfen. Das ist uns mindestens genauso wichtig.
präsidenten!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Herr Kollege Montag, obwohl ich Sie sehr schätze, neten der FDP)
muss ich sagen: Inhaltlich ist Ihr Antrag mager. Ich
glaube, Sie haben den Unterschied zwischen präventiven Auch die Ausdehnung auf sonstige Berufsgruppen ist
und repressiven Rechten nicht erkannt. falsch.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein!)
NEN]: Na, so was! Habe ich das wirklich – Ich erkläre es Ihnen ja gerade. –
übersehen? Das gibt es doch nicht! –
Christoph Strässer [SPD]: Das geht doch gar (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und da-
nicht!) nach erkläre ich es!)

Ihnen geht es um präventive Rechte, nämlich um die Die Ausdehnung auf Ärzte und Journalisten ist abzuleh-
§§ 20 a ff., um die präventive Abwehr von Gefahren ge- nen. Das hat das Expertengespräch, das erweiterte Be-
gen den internationalen Terrorismus, nicht um Repres- richterstattergespräch, gezeigt. Beide Berichterstatter ha-
sion. ben gesagt: Das Ausdehnen über Berufsgruppen, die vor
Gericht auftreten, hinaus ist nicht angezeigt. Ich habe
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schon am 30. September das Verfassungsgericht zitiert.
NEN]: Bitte, Herr Professor!) Ich zitiere es noch einmal; denn dies ist eine ganz ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7709
Dr. Patrick Sensburg
(A) scheidende Passage. Auch das Bundesverfassungsge- Herr Sensburg, Sie haben das Verfahren angesprochen. (C)
richt hat gesagt: Ich war bei dem Berichterstattergespräch. Sie haben aber
leider vergessen, zu erwähnen, dass Sie eigentlich vorhat-
Der Gesetzgeber ist weder gehalten noch steht es ten, unmittelbar nach dem Berichterstattergespräch im
ihm frei, der Presse- und Rundfunkfreiheit absolu- Rechtsausschuss darüber zu entscheiden, also binnen
ten Vorrang vor anderen wichtigen Gemeinschafts- 24 Stunden. Vielleicht bekommen Sie das mit mehreren
gütern einzuräumen. Er hat insbesondere auch den Hundert Abgeordneten hin; für kleinere Fraktionen ist
Erfordernissen der Rechtspflege Rechnung zu tra- das eher etwas, was man auch unter den Begriff „Mob-
gen. bing“ fassen könnte.
Man kann also nicht einfach sagen: Da wollen wir ei-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Machen
nen absoluten Schutz haben. Wir haben den relativen
wir nicht!)
Schutz, und das ist genau das, was uns das Bundesver-
fassungsgericht vorgibt. Im Berichterstattergespräch, bei dem ich, wie gesagt,
war, ist nicht einleuchtend erklärt worden, zumindest für
Zur Frage der Steuerberater kann ich nur sagen: Hier
mich nicht, weshalb in der vorgesehenen Fassung des
unterstütze ich das, was die Bundesjustizministerin ge-
§ 160 a StPO nicht alle in § 53 StPO genannten Gruppen
sagt hat. Wir müssen uns fragen, ob wir weitere Berufs-
in den Anwendungsbereich einbezogen werden.
gruppen mit einbeziehen. Das werden wir untersuchen;
denn auch für Steuerberater gibt es die Möglichkeit, dass Die Unterteilung in absolute und relative Verbote von
sie strafverteidigend vor Gericht auftreten. Dann lassen Ermittlungsmaßnahmen ist nicht nachvollziehbar.
Sie uns doch einmal schauen, ob es in den nächsten Jah-
ren wirklich Anwendungsfälle auch bei Steuerberatern Wir begrüßen die Erweiterung auf Rechtsanwälte,
gibt. Derzeit ist mir kein einziger Fall bekannt. Von da- aber wir finden, dass auch andere Vertrauensverhältnisse
her würde ich mich schon fragen: Warum sollen wir die schützenswert sind. Jetzt gilt das absolute Verbot für
Steuerberater einbeziehen? Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger und Abgeordnete.

Lassen Sie uns das untersuchen, lassen Sie uns (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Geistliche,
schauen, ob es Anwendungsfälle auch für Steuerberater das ist gut!)
gibt, und dann können wir darüber diskutieren, ob es Das ist eine Unterteilung in Berufsgeheimnisträger erster
notwendig ist, den absoluten Schutz auch auf die Steuer- und zweiter Klasse. Den Unterschied zwischen erster
berater auszudehnen, die strafverteidigend tätig sein und zweiter Klasse können Sie nicht erklären.
können. Wenn es aber keine Anwendungsfälle gibt, dann
(Beifall bei der LINKEN)
(B) müssen wir anerkennen, dass der Schutz des Staates für (D)
seine Bürger und damit das Strafverfolgungsinteresse Nennen Sie mir nur einen Grund dafür, dass beispiels-
vorgehen. weise Geistliche und Abgeordnete unter den absoluten
Unsere Rechtspolitik orientiert sich an der Praxis. Schutz fallen, aber Ärztinnen und Ärzte sowie Thera-
Deswegen ist es folgerichtig, diesen Entwurf heute zur peutinnen und Therapeuten nicht. Im Rahmen einer plu-
zweiten und dritten Lesung vorzulegen. Ich würde mich ralistischen Gesellschaft, in der Menschen wie ich viel-
freuen, wenn Sie diesen Entwurf heute mit uns beschlie- leicht eher zu einem Therapeuten als zu einem
ßen könnten. Ich glaube, er ist ausgewogen, was die Seelsorger gehen, ist dies nicht nachvollziehbar.
Schutzrechte und das Strafverfolgungsinteresse des (Beifall bei der LINKEN)
Staates angeht, aber auch was das Vertrauensverhältnis
angeht, das wir zwischen Mandant und Anwalt brau- Wieso erfassen Sie Journalistinnen und Journalisten
chen. nicht? Ein absoluter Vertrauensschutz dient der Gewähr-
leistung der in einer freien Gesellschaft notwendigen kri-
Ich danke Ihnen. tischen, mutigen und aufklärerischen Berichterstattung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Schutz ist durch das relative Verbot nicht gege-
ben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: § 53 StPO dient dem Schutz des Vertrauensverhältnis-
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion ses. Das meint eine angstfreie Inanspruchnahme von Rat
Die Linke. und Hilfe bei bestimmten Berufsgruppen durch diejeni-
gen, die sich an diese Berufsgruppen wenden. Die Norm
(Beifall bei der LINKEN) folgt der Erkenntnis, dass bestimmte Berufsgruppen in
einem besonders sensiblen Bereich agieren. Deshalb
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): wäre es logisch, den § 160 a StPO spiegelbildlich zum
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Zeugnisverweigerungsrecht auszugestalten. Wie soll
Herren! Frau Justizministerin, der Entwurf geht in die Ärztinnen und Ärzten gegenüber, Therapeutinnen und
richtige Richtung; er greift aber zu kurz. Die Linke wird Therapeuten gegenüber, Journalistinnen und Journalis-
sich enthalten, Ihnen aber den Rücken stärken, wenn Sie ten gegenüber Vertrauen aufgebaut werden, wenn die
die Union davon überzeugen wollen, dass der Koali- Gefahr besteht, dass Ermittlungsmaßnahmen stattfin-
tionsvertrag umgesetzt werden soll. den?
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
7710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Halina Wawzyniak
(A) Wie soll ich mich auf das Zeugnisverweigerungsrecht rechtlich tätige Anwälte stehen nicht dem Strafver- (C)
verlassen, wenn die Gefahr besteht, dass Ermittlungs- teidiger gleich.
maßnahmen stattfinden?
Vor zwei Jahren also hat die CDU/CSU etwas abge-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Dann lehnt, was sie jetzt für vernünftig und richtig hält.
muss doch ein Anfangsverdacht da sein! Sonst
geht es doch gar nicht!) (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nur teil-
weise!)
– Zum Anfangsverdacht komme ich noch.
– Ja, bezüglich der Rechtsanwälte.- Sie stellen sich heute
Ist durch das relative Verbot nicht die Gefahr gege- hin und sagen, es sei vorzüglich, was nun gemacht
ben, dass Zeugnisverweigerungsrechte umgangen wer- werde. Das habe man schon immer so gewollt. Es ist
den? Solange eine Abwägung möglich ist, besteht die keine zwei Jahre her, da wollten Sie das Gegenteil. Das
Gefahr, dass erst einmal alles ermittelt wird, um die ge- trifft im Übrigen auch auf die SPD zu. Da hat ihr damali-
wünschten Informationen zu bekommen. Ein Rechts- ger rechtspolitischer Sprecher Stünker gesprochen.
staat ist aber auf Freiräume angewiesen, in denen Betrof-
fene und Berufsgeheimnisträger völlig frei miteinander (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
reden können. NEN]: Oje!)

Kommen wir zu einem letzten Kritikpunkt. Der Ich erspare mir, das entsprechende Zitat zu verlesen. Ich
§ 160 a Abs. 4 StPO bleibt so, wie er ist, bestehen. Darin habe es allerdings dabei. Auch die SPD war damals da-
heißt es, dass der Schutz, auch der absolute Schutz, nicht gegen.
gilt, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begrün- (Christoph Strässer [SPD]: Kann gar nicht
den, dass eine Beteiligung der Betroffenen vorliegt. Ich sein!)
finde, wir sollten hier noch einmal intensiv darüber
nachdenken, ob es nicht angebrachter ist, zu schreiben, Sie wechseln also Ihre Positionen zu dem Thema nach
dass es eines dringenden Tatverdachtes bedarf, und nicht der jeweiligen Koalitionssituation, in der Sie sich befin-
einfach eines Verdachtes. den.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nach der
Herren, der Entschließungsantrag der Linken berück- Praxis!)
sichtigt all diese Kritikpunkte. Deswegen kann zumin- Sie verhalten sich in dieser Debatte nicht kohärent, Sie
dest auch die FDP diesem Antrag zustimmen. bleiben nicht kohärent bei Ihren Argumenten und haben
(Beifall bei der LINKEN) damit auch nicht die richtigen.
(B) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jerzy Montag hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü- Zu der Frage, meine Damen und Herren, warum es
nen. richtig ist, alle Berufsgeheimnisträger gleichzustellen.
Die Polizei ermittelt im Grundsatz in einem offenen Er-
mittlungsverfahren. Wir haben zum Glück immer noch
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
die Situation, dass geheime Ermittlungstätigkeiten die
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausnahme sind. Wenn die Ermittlungsbehörden bei ihrer
Der vorgelegte Gesetzentwurf regelt die entsprechende offenen generellen Ermittlungstätigkeit an die Berufsge-
Materie richtig. Es ist überhaupt keine Frage: Das ist et- heimnisträger herantreten und sie fragen, haben alle
was, was wir schon seit Jahren wollen. Deswegen wer- diese ein absolutes Recht, die Aussage über die Angele-
den wir dem Gesetzentwurf zustimmen. genheiten zu verweigern, von denen sie in Ausübung ih-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) res Berufes Kenntnis erhalten haben.
Wir wollten aber schon immer mehr. Wir wollen es Jetzt will die Polizei Kenntnis über das, was sie wis-
auch heute. Ich werde auch begründen, warum. Aber be- sen will – das ist ja berechtigt –, durch Beschlagnahme
vor ich dazu komme, will ich an etwas erinnern: Es ist erlangen. Wenn sie eine Beschlagnahme durchführt, darf
keine zwei Jahre her – es war am 21. Januar 2009 –, da sie aber all das, was sie nicht erfragen kann, auch nicht
wurde hier in diesem Hause über einen Antrag der FDP beschlagnahmen – § 97 StPO. Nun sagt sich die Polizei:
diskutiert. Darin beantragte die FDP den Schutz der Beschlagnahmen kann ich es auch nicht, dann installiere
Rechtsanwälte, aber auch der Ärzte und noch weiterer ich eben ein paar Wanzen. Wie steht es um die Abhörung
Berufsgeheimnisträger. Herr Sensburg, da waren Sie des gesprochenen Wortes auf diese Weise? Auch in die-
noch nicht dabei. Deswegen ist es wichtig, dass man Ih- sem Fall sind alle Berufsgeheimnisträger gleichgestellt.
nen vorliest, was Ihr Kollege Kauder zu diesem Antrag Die Polizei kommt immer noch nicht weiter.
der FDP bezüglich der Materie „Einbeziehung der
Nun beschließt sie, das Telefon abzuhören. In diesem
Rechtsanwälte“ sagte – ich zitiere –:
Fall, sagen Sie, meine Damen und Herren, soll es Unter-
(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ich habe schiede geben. Das ist von der Systematik des Rechts
es mir durchgelesen!) her nicht nachzuvollziehen.
Journalisten stehen nicht Abgeordneten gleich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ärzte stehen nicht Geistlichen gleich, und zivil- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7711
Jerzy Montag
(A) Es gibt keinen qualitativen Unterschied – es handelt sich längerung der straf- und zivilrechtlichen Ver- (C)
lediglich um eine andere Materie – zwischen dem Ver- jährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von
trauensverhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandan- Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-
ten und dem Vertrauensverhältnis, das ein Arzt zu sei- nen
nem Patienten hat. Sie, Herr Sensburg, können auch
einmal Patient werden. Stellen Sie sich einmal vor, was – Drucksache 17/3646 –
es bedeutet, wenn Ihr Arzt über Ihre Angelegenheiten Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
kein absolutes Aussageverweigerungsrecht mehr hat. Innenausschuss
Deswegen sage ich Ihnen: Der Antrag ist richtig, den wir Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
als Grüne gestellt haben. Wir werden diesen Antrag hier Ausschuss für Gesundheit
im Hause auch wieder und wieder stellen und schauen,
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
inwieweit Sie sich belehren lassen. Heute jedenfalls wer-
tieren. – Dazu höre und sehe ich keinen Widerspruch.
den wir die Rechtsanwälte den Strafverteidigern gleich-
Dann ist es so beschlossen.
stellen.
Danke schön. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Christine Lambrecht (SPD):
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Wir bringen heute einen Gesetzentwurf zu einem Thema
Rechtsanwälten im Strafprozessrecht. Der Rechtsaus- ein, das – dessen bin ich mir sicher – uns alle berührt.
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Wir alle machen uns darüber Gedanken, wie wir mit die-
Drucksache 17/3693, den Gesetzentwurf der Bundes- sem Thema sinnvoll und vor allen Dingen im Interesse
regierung auf Drucksache 17/2637 anzunehmen. der Opfer umgehen können. Als zahlreiche Miss-
brauchsfälle aus den letzten Jahrzehnten, aber auch bis
Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ in die heutige Zeit hinein insbesondere sowohl in kon-
Die Grünen, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt fessionellen als auch in nichtkonfessionellen Einrichtun-
für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/3705? – Ge- gen zu Anfang dieses Jahres bekannt wurden, ist ein
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag Tabu gebrochen, und das ist auch gut so.
ist abgelehnt. Dafür haben die einbringende Fraktion
(B) und Die Linke gestimmt, die SPD-Fraktion hat sich ent- Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber reden, was (D)
halten, dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. in den Institutionen falsch gemacht wurde und was man
hätte anders machen können, weil wir alle wissen, dass
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- es nicht nur um Institutionen geht. Tatort für sexuellen
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- Missbrauch können auch die Familie und das nähere
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf Umfeld sein. Heute geht es eher darum – dies ist in
bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd- rechtspolitischen Debatten nicht immer so –, dass wir
nis 90/Die Grünen angenommen. Die Fraktion Die uns fragen, wie wir dem Opfer helfen können. Meistens
Linke hat sich enthalten. beschäftigen wir uns eher damit, was wir mit den Tätern
Ich komme zur machen. Heute sollten wir uns damit beschäftigen, wie
wir dafür sorgen können, dass den Opfern solcher Fälle
dritten Beratung Gerechtigkeit widerfährt.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – der CDU/CSU)
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit demselben Stimmenver- Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der SPD-
hältnis wie vorher angenommen. Fraktion haben wir uns lange über diese Probleme unter-
halten und uns überlegt, was man denn tun könne. Es
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der gibt nicht allzu viele Möglichkeiten. In all den Diskus-
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3706. Wer stimmt sionen sind wir aber auf ein Problem gestoßen, das sich
für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – ständig wiederholt: die Frage der Verjährungsfristen. Sie
Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei machen es vielen Opfern unmöglich, die Täter juristisch
Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt. zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Taten eben oft Jahr-
Dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt; SPD zehnte zurückliegen. Die Gründe dafür sind vielfältig:
und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Die Opfer sind traumatisiert und haben das Geschehene
verdrängt. Sie leiden Jahrzehnte physisch und psychisch
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf:
und wissen zum Teil überhaupt nicht, warum. Zum Teil
Erste Beratung des von den Abgeordneten bringen erst Therapien das, was in der Kindheit passiert
Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, ist, wieder in das Bewusstsein zurück. Dieser Schock
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD muss meistens mit professioneller Hilfe verarbeitet wer-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- den. Andere schweigen jahrzehntelang, weil sie sich
7712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Christine Lambrecht
(A) schämen, die Folgen fürchten oder die Erfahrung ge- ben, dass es im Alter von 24 Jahren keine Möglichkeit (C)
macht haben, dass ihnen ohnehin niemand glaubt. mehr gibt, Ansprüche geltend zu machen.
Wenn dann das Schweigen gebrochen ist, ist es ein er- Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, wol-
neuter Schock für jedes Opfer, erfahren zu müssen, dass len wir die strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem
der Täter in keiner Weise mehr zur Rechenschaft gezo- Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbe-
gen werden kann, weil die Tat verjährt ist. Die Verjäh- fohlenen auf 20 Jahre erhöhen. Die zivilrechtliche Ver-
rung hat in unserem Rechtssystem die Funktion, Rechts- jährungsfrist soll auf 30 Jahre angehoben werden. Es
sicherheit und Rechtsfrieden herzustellen; das ist richtig. geht nicht um die Erhöhung des Strafmaßes, sondern um
Aber in diesen Fällen und Konstellationen schafft sie nur die Möglichkeit, Ansprüche länger geltend zu machen.
noch Rechtssicherheit und Frieden für einen, nämlich für
den Täter. Ich glaube, wir können das nicht länger hin- Ich weiß, dass die Frau Ministerin – sie ist nicht an-
nehmen. wesend; Herr Stadler, Sie werden diese Punkte sicherlich
an sie weiterleiten – Bedenken gegen diesen Gesetzent-
Ich möchte Ihnen zwei Fälle darstellen, die sehr deut- wurf hat. Diese Bedenken hat sie in einer Zeitschrift aus-
lich machen, dass wir entsprechend handeln müssen. geführt. Ich weiß auch, dass die Beweisführung nach ei-
Der erste Fall betrifft einen Mann, der heute 41 Jahre alt ner solch langen Zeit ein Problem sein wird. Aber dieses
ist, verheiratet ist und ein Kind hat. Im Alter von 37 Jahren Problem gibt es auch schon heute, wenn es sich um eine
wurde er regelmäßig von Albträumen geplagt. Diese ha- Vergewaltigung handelt, für die eine 20-jährige Verjäh-
ben zu Schreianfällen, Angstzuständen und Herzrasen rungsfrist gilt. Wir sehen an einem ganz aktuellen Fall,
geführt. Ärztliche Untersuchungen haben kein Ergebnis dass die Beweislage selbst dann sehr schwierig sein
erbracht. Körperlich war alles in Ordnung. Erst eine kann, wenn die Vorgänge noch nicht allzu lange zurück-
Hypnosebehandlung hat zutage gefördert, was der ei- liegen. Es ist eine Frage, die im Einzelfall von einem
gentliche Grund für seine Albträume ist: Er wurde als Gericht geklärt werden muss.
Kind jahrelang von seinem Vater sexuell missbraucht. In Es geht darum, den Opfern die Möglichkeit zu eröff-
einer Therapie arbeitet er jetzt das Geschehene auf. Es nen, sich für eine Strafverfolgung zu entscheiden. Ich
war völlig belanglos, ob er gegen den Vater juristisch weiß, die Frau Ministerin hält das zeitnahe Nachgehen
vorgehen wollte oder nicht; denn nach der jetzigen von Missbrauchsvorwürfen für die sinnvollere Möglich-
Rechtslage ist ihm jede Möglichkeit dazu verwehrt. keit. Ich sage Ihnen: Wir sollten das eine tun, ohne das
Der zweite Fall betrifft eine damals 36-jährige Frau, andere zu lassen. Selbstverständlich ist es wichtig und
die ebenfalls regelmäßig von ihrem Vater missbraucht sinnvoll, zeitnah auf Missbrauchsvorwürfe zu reagieren.
wurde und eine Schwangerschaft vertuschen musste. Wir sollten aber für all die Menschen, die sich im Zuge
(B)
Nach einer langen Zeit der Auseinandersetzung mit sich der Debatte, die in den letzten Monaten stattgefunden (D)
selbst und Therapien hat sie sich 2007 doch dazu ent- hat, endlich getraut haben, sich zu outen, ein Signal set-
schieden, ihren Vater anzuzeigen. Aber es war nach der zen. Schauen Sie sich einmal die Aufzeichnungen von
geltenden Rechtslage zu spät. Frau Bergmann dazu an, wie viele sich jetzt geoutet ha-
ben, wie viele im Zuge dieser Welle das Gefühl hatten:
Die Opferverbände haben in den Diskussionen, die Ich bin kein Einzelfall; ich bin nicht schuld; anderen
wir in den verschiedensten Konstellationen – beispiels- ging es genauso. Wir sollten diesen Menschen zeigen,
weise an einem runden Tisch – geführt haben, gefordert, dass wir bereit sind, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen,
dass die Verjährungsfristen verlängert werden sollten. ihre Ansprüche geltend zu machen.
Wir müssen uns die momentan geltenden Verjäh- (Beifall bei der SPD)
rungsfristen einmal genauer anschauen. Im Falle von
Vergewaltigungen und sexueller Nötigung betragen sie Ich kann Sie nur auffordern, in dieser Frage nicht dem
derzeit 20 Jahre. Dagegen verjährt der sexuelle Miss- Parteiengezänk zu verfallen; ich möchte hier nicht von
brauch von Kindern bereits nach 10 Jahren und der sexu- juristischem Fundamentalismus sprechen. Lassen Sie
elle Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen uns wirklich darüber nachdenken, wie wir diesen Men-
verjährt sogar schon nach 5 Jahren. Zwar ruht im Straf- schen sinnvollerweise helfen können. Wir haben dazu ei-
recht die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebens- nen Vorschlag unterbreitet. Ich finde, wir sollten die an-
jahres – damit soll zu Recht dem Umstand Rechnung ge- stehende Diskussion dafür nutzen, unser aller Anliegen,
tragen werden, dass der Entschluss zur Anzeige solcher Opfern von sexuellem Missbrauch unterstützend zur
Straftaten erst nach dem Ende der altersbedingten und Seite zu stehen, gerecht zu werden.
familiären Abhängigkeit gefasst werden kann –, aber die
konkreten Einzelfälle, die ich Ihnen beschrieben habe, Ich danke Ihnen und freue mich auf angeregte Dis-
können auch mit dieser Regelung nicht mehr erfasst wer- kussionen im Rechtsausschuss.
den. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr zur rechtli- (Beifall bei der SPD)
chen Verfolgung.
Zivilrechtliche Ansprüche von Opfern sexuellen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Missbrauchs auf Schadensersatz und Schmerzensgeld Ansgar Heveling hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
verjähren regelmäßig nach nur 3 Jahren. Die Verjäh- das Wort.
rungsfrist beginnt bei Sexualdelikten zwar mit Vollen-
dung des 21. Lebensjahres. Aber das kann zur Folge ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7713

(A) Ansgar Heveling (CDU/CSU): über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit sexuellem Missbrauch ebenso reden müssen wie
Keine Frage: Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Entwurf ei- über die zivilrechtlichen, insbesondere die schadenser-
nes Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtli- satzrechtlichen Fragen. Die schrecklichen Vorkomm-
chen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von nisse, die landauf, landab Ende des vergangenen Jahres
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ein ernstes und zu Beginn dieses Jahres bekannt geworden sind, ma-
Thema aufgegriffen. Ohne Zweifel: Wir sollten eine ernst- chen es erforderlich, den Dreizehnten Abschnitt des Be-
hafte Debatte darüber führen; denn das Anliegen ist insbe- sonderen Teils des Strafgesetzbuchs, die Straftaten ge-
sondere aus dem Blickwinkel der Opfer zu wichtig, als gen die sexuelle Selbstbestimmung, aus einem neuen
dass wir es für parteipolitische Spielchen nutzen sollten. Blickwinkel zu betrachten. Der sexuelle Kindesmiss-
Da gebe ich Ihnen, Frau Kollegin Lambrecht, vollkom- brauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in pri-
men recht. Ich habe das Gefühl, dass Ihnen der Gesetzent- vaten und öffentlichen Einrichtungen ist zwar schon
wurf ein ernsthaftes Anliegen ist. lange Gegenstand der strafrechtlichen Schutznorm – das
steht außer Frage –, die Dimension langjährig unent-
Ich stelle mir allerdings – bevor ich zur Sache komme – deckter Straftaten hat den Rahmen des für uns Vorstell-
trotzdem die Frage, ob der heutige Tag der richtige Zeit- baren indes gesprengt. Das zeigt, dass Handlungsbedarf
punkt für die Einbringung des Gesetzentwurfs und für besteht.
die ohne Zweifel notwendige Debatte ist. Der Gesetzent-
wurf befasst sich mit einem Problemkreis, der auch zen- Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber ei-
traler Gegenstand der Diskussionen des runden Tisches nes bedenken: Das Strafgesetzbuch ist ein vielfältig in-
„Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und einandergreifendes Räderwerk von aufeinander abge-
Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrich- stimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz
tungen und im familiären Bereich“ ist. Seit Ende April nicht zuletzt wesentlich darauf beruht, dass jedermann
befasst sich der runde Tisch mit sämtlichen Facetten des seine Systematik durchschauen kann, wenn er es denn
Problemkreises des sexuellen Missbrauchs. Er ist aufge- will. Das gilt nicht zuletzt für die Opfer. Auch sie müs-
fordert, Handlungsoptionen für Regierung und Politik zu sen auf das System vertrauen können. Ständige Durch-
erarbeiten. Die Fragen der zivil- und strafrechtlichen brechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich.
Verjährung spielen dabei eine zentrale Rolle. Von allen Das sollten wir bei der Diskussion zumindest bedenken.
Beteiligten des runden Tisches und auch von der Politik Wir wollen schließlich nicht nur debattieren und irgend-
wurde von Beginn an betont, dass es wichtig sei, die Be- welche Regelungen beschließen, sondern wir wollen Re-
troffenen ins Zentrum zu rücken. Auch Sie von der SPD- gelungen beschließen, die möglichst effektiv und nach-
Fraktion haben in einem Positionspapier darauf hinge- vollziehbar sind.
(B) wiesen – ich darf zitieren –: (D)
Die Debatte heute kann verständlicherweise nur dazu
Die Arbeit des runden Tisches wird nur erfolgreich dienen, den gesamten Problemkomplex anzureißen und
sein können, wenn vor allem auch die Betroffenen aufzuzeigen, dass mit dem Gesetzentwurf mehr grundle-
sexueller Gewalt am runden Tisch umfassend Ge- gende Fragen verbunden sind, als der siebenseitige Ge-
hör finden. setzentwurf und die fünf relativ kompakt erscheinenden
Das ist absolut richtig; das war und ist das Ziel des run- Artikel vermuten lassen.
den Tisches. Es ist auch ein wesentlicher Teil der Aufga- Zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Perspek-
ben der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung tive des Gesetzentwurfs ist grundsätzlich richtig. Der
des sexuellen Kindesmissbrauchs. strafrechtliche Umgang mit sexuellem Missbrauch von
Wenn es aber darauf ankommt, den Betroffenen am Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ist in
runden Tisch umfassend Gehör zu verschaffen und sie den vergangenen 15, 20 Jahren mehrfach Gegenstand
ins Zentrum zu rücken, dann sollten wir das aus meiner der rechtspolitischen Debatte gewesen, auch hier im
Sicht insofern respektieren, dass wir den runden Tisch Deutschen Bundestag. Es hat dazu eine ganze Reihe Ent-
erst einmal in Ruhe zu Ende arbeiten lassen, bevor wir scheidungen gegeben. Wenn man sich die Gesetzesbe-
hier im Deutschen Bundestag anfangen, aus dem Ge- gründungen und Plenarprotokolle aus dieser Zeit an-
samtkontext herausgelöst über Einzelthemen zu debat- schaut, lässt sich feststellen, dass der Blickwinkel stets
tieren. Ich meine, das hätte der Respekt vor dem runden auf die Tatumstände gerichtet war, bei denen von einer
Tisch durchaus geboten. familiären und sozialen Nähebeziehung zwischen Opfer
und Täter und daraus resultierenden Abhängigkeiten
Soweit es mir bekannt ist, ist die nächste Sitzung des ausgegangen wurde.
runden Tisches für den 1. Dezember angesetzt. In dieser
Sitzung soll ein Zwischenbericht an die Bundesregie- Institutionenbedingte Abhängigkeiten haben in der
rung verabschiedet werden. Ich bin mir sicher, dass ein Diskussion der vergangenen Jahre eher eine untergeord-
Zuwarten von einigen Tagen dem nachvollziehbaren An- nete Rolle gespielt. Zum Beispiel bei der Neufassung
liegen der SPD nicht geschadet hätte. von § 78 b des Strafgesetzbuchs durch das 30. Straf-
rechtsänderungsgesetz im Jahr 1994 wurde als Begrün-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
dung für das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung
GRÜNEN]: Gute Bemerkung!)
des 18. Lebensjahres insbesondere darauf abgestellt,
Das hätte schon deswegen nicht geschadet, weil wir, dass – ich zitiere aus der Begründung – die Täter, die
so glaube ich, in allen Fraktionen anerkennen, dass wir überwiegend der Familie des Opfers oder dem Bekann-
7714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Ansgar Heveling
(A) tenkreis der Familie angehören, die Opfer unter Druck Keine Frage: Wenn wir in eine Debatte über den (C)
setzten und daher eine Verfolgung der Straftat erst er- Strafrahmen einsteigen sollten und damit in die Diskus-
möglicht werde, wenn sich das Opfer aus der Nähebezie- sion um die Aufstufung von Straftatbeständen zu Verbre-
hung in tatsächlicher Hinsicht herauslöse. chen, etwa beim § 176 Strafgesetzbuch, dann reden wir
über eine größere Dimension als bloß über die Neufas-
Angesichts der jetzt im Fokus stehenden Fälle, insbe- sung von Verjährungsfristen. Systematisch ist es aber
sondere in Schulen, müssen wir einsehen, dass die Taten vielleicht die bessere Stelle, darüber nachzudenken.
im familiären und sozialen Nahfeld sicherlich immer Denn bei der Diskussion über den Strafrahmen geht es
noch die größte Gruppe ausmachen, die Fälle in Institu- materiell um die Schuldbewertung und nicht um im Kern
tionen aber nicht aus dem Blick gelassen werden dürfen. prozessuale Regelungen wie bei den Verjährungsvor-
Auch hier wirken Abhängigkeits- und Machtverhält- schriften.
nisse, die von den Tätern ausgenutzt werden. Aber sie
wirken anders als im familiären und sozialen Nahfeld. Sollten wir bei der Diskussion um die Verlängerung
von Verjährungsfristen bleiben, dann müssen wir aber
Wir müssen auch einsehen, dass sich unsere Erkennt- auch abwägen und uns die Frage stellen: Wird den Op-
nisse verändert haben. Sie haben sich dahin gehend wei- fern wirklich geholfen, wenn die Verjährung auf einen
terentwickelt, dass es nicht nur auf das Herauslösen des langen Zeitraum verlängert wird? Es gehört zur Typik
Opfers aus der Nähebeziehung zwischen Täter und Op- der Tatumstände in besonderen Näheverhältnissen und
fer ankommt, sondern dass es oftmals so ist – Frau Kol- in den betroffenen Institutionen, dass Beweisschwierig-
legin Lambrecht, Sie haben zwei Fälle aufgezeigt; inso- keiten auftreten können. Das mag nach der langen Zeit
fern ist die Grundannahme Ihres Gesetzentwurfs die Beweisführung erschweren. Am Ende kann dann
vollkommen richtig –, dass die Opfer durch das Gesche- zwar stehen, dass ein Verfahren eingeleitet wird, es aber
hen oftmals so schwer traumatisiert sind, dass sie erst im nicht mehr mit dem vom Opfer erhofften Abschluss, den
fortgeschrittenen Erwachsenenalter in der Lage sind, ihr Täter seiner gerechten Strafe überantwortet zu sehen, en-
Schweigen zu brechen. Insofern ist der Ausgangspunkt det. Hier müssen wir sehr genau hinschauen und überle-
des Gesetzentwurfs richtig; das erkennen wir an. Wir gen.
müssen in der Tat überlegen, ob aus den neuen Erkennt- Das heißt nicht von vornherein, dass der Weg nicht
nissen die Handlungsnotwendigkeit erwächst, neue trotz der Beweiserschwerung richtig sein mag. Mögli-
strafrechtliche Regelungen im Strafgesetzbuch zu tref- cherweise geben uns hier die Ergebnisse des runden Ti-
fen. sches oder die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten
hilfreiche Hinweise. Genauso ist es nicht auszuschlie-
Wenn wir die Notwendigkeit sehen, im Strafgesetz- ßen, dass es den Opfern hilft, wenn sie sehen, dass sich
(B) buch Änderungen vorzunehmen, sollten wir uns genau (D)
die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht inhaltlich mit der
überlegen, welche Lösung systematisch vorzugswürdig Sache befassen, dass es nicht aus formalen Gründen
ist. Sie schlagen die Einführung einer neuen, bisher nicht scheitert und dass das Verfahren abgeschlossen wird.
bekannten Sonderverjährungsvorschrift für die Strafta-
ten nach §§ 174 bis 174 c und § 176 Strafgesetzbuch vor. (Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist ein denkbarer Lösungsansatz. Fazit: Der Gesetzentwurf der SPD greift ein wichtiges
Aber wir müssen sehen: Durch eine Sonderverjäh- Anliegen auf. Darüber sind wir uns einig. Wir müssen
rungsvorschrift wird die Systematik der Verjährungsvor- über den strafrechtlichen Umgang mit sexuellem Miss-
schriften nach § 78 Abs. 3 Strafgesetzbuch durchbro- brauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-
chen. Das kann man durch eine Spezialvorschrift nen beraten. Aber das Diskussionsfeld ist aus unserer
sicherlich einmal tun. Das kann man auch zweimal tun. Sicht weiter, als der vorliegende Gesetzentwurf es zeigt.
Der Druck, es zu tun, wächst natürlich. Wenn man es Vielen Dank.
mehrmals tut und es zur x-ten Durchbrechung kommt,
wird es unsystematisch. Das sollte zumindest sehr wohl (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
abgewogen sein.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir sollten uns aber auch mit der Frage befassen, ob Halina Wawzyniak hat das Wort für die Fraktion Die
es nicht andere Möglichkeiten gibt, dem Anliegen ge- Linke.
recht zu werden. Da ist aus meiner Sicht an die Rechts-
folgenseite und damit an den Strafrahmen zu denken. (Beifall bei der LINKEN)
Auch das ist keine neue Diskussion; diese Debatte ist
hier im Bundestag schon häufiger geführt worden. Das Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Ganze hat schon bei den früheren Debatten um den Drei- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
zehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetz- Herren! Der Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung
buchs eine Rolle gespielt, so bei der Diskussion über das der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjähri-
gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung gen Schutzbefohlenen ist gut gemeint. Wir tendieren
anderer Vorschriften im Jahr 2003. Auf diesen Gesetz- dazu, ihm zuzustimmen. Wir tun dies, weil wir die Situa-
entwurf nehmen Sie in Ihrem jetzigen Gesetzentwurf tion von Opfern ernst nehmen. Wir tun dies, weil wir
ausdrücklich Bezug. insbesondere den Anspruch der Opfer auf zivilrechtli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7715
Halina Wawzyniak
(A) chen Schadensersatz unterstützen wollen. Ich bin sehr Tatsache verschlimmert häufig noch das Gefühl des (C)
froh, dass im Gesetzentwurf deutlich formuliert wird, Ausgeliefertseins. Die vornehmliche Frage lautet also:
dass den Opfern mit weiteren Straftatbeständen und ei- Wie können wir potenzielle Täter, im Regelfall Männer,
ner Verschärfung von Strafandrohungen nicht geholfen erreichen und motivieren, keine Übergriffe zu begehen?
ist. Es geht darum, zu begreifen, was erwachsene Männer zu
Tätern werden lässt und wie wir darauf reagieren kön-
(Beifall bei der LINKEN)
nen.
Tatsächlich – das zeigte auch die Debatte am runden
Hier kann ein bewusster Blick auf unsere noch immer
Tisch der Justizministerin, die Herr Heveling schon er-
patriarchal strukturierte Gesellschaft hilfreich sein, eine
wähnt hat – muss es im Interesse der Opfer um mehr ge-
Gesellschaft, in der immer noch männlich dominierte
hen als um Verjährungsfristen und deren Verlängerung.
Rollenbilder existieren und das Aufwachsen der Jungen
Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich bestimmen. Auch antiquierte Rollenbilder fördern sol-
eine Bitte äußern: Lassen Sie uns in Zukunft nicht von che Taten. An dieser Stelle möchte ich auf die ausge-
sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohle- zeichnete Studie von Professor Volker Linneweber aus
nen sprechen, sondern von sexualisierter Gewalt. dem Jahr 1998 hinweisen, in der er unter anderem diese
Rollenbilder als tatfördernd bezeichnet hat.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!
Genau!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Jungen-
arbeit muss gezielt ausgebaut werden. Der Bereich Män-
Denn das Wort „Missbrauch“ impliziert immer, es gebe nerforschung sollte gezielt gefördert werden, an Schu-
auch einen „richtigen“ sexuellen Gebrauch an Kindern. len, Kitas und Universitäten. All dies kostet Geld. Aber
Wir stimmen dem vorliegenden Gesetzentwurf, zu- dieses Geld sollten wir ausgeben, um einen wirklichen
mindest in seiner Tendenz, zu, weil wir dieses Thema Opferschutz zu erreichen.
dadurch so in die Öffentlichkeit bringen wollen, dass (Beifall bei der LINKEN)
eine angemessene öffentliche Diskussion stattfindet und
potenziellen Tätern weiter gehende, vor allem präven-
tive Angebote unterbreitet werden können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Christian Ahrendt spricht für die FDP-Fraktion.
Aus unserer Sicht sind dabei zwei Richtungen zu un-
terscheiden: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Zum einen muss den Opfern geholfen werden. Aber
nachsorgende Opferhilfe hilft den Opfern nur bei der Be-
(B) Christian Ahrendt (FDP): (D)
wältigung dieser traumatisierenden Erfahrungen. Sie
hilft nicht beim Schutz vor einer solchen Erfahrung. Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns in einem Punkt einig: Der Miss-
Zum anderen muss man dafür sorgen, dass es gar brauch, dessen Ausmaß wir Anfang dieses Jahres zur
nicht erst zu einer solchen Straftat kommt. Wichtig ist Kenntnis nehmen mussten, hat uns alle schockiert. Wir
also präventive Opferhilfe. Diese erreicht man nur durch haben festgestellt, dass dieses Thema in kirchlichen und
präventive Täterhilfe. Wenn wir verhindern, dass Men- nichtkirchlichen Einrichtungen relevant ist. Wir haben
schen zu Tätern werden, bewahren wir andere Menschen auch festgestellt, dass Missbrauch von Kindern überall,
davor, Opfer zu werden. in jeder gesellschaftlichen Gruppe, stattfinden kann. Wir
wissen, wie beklemmend diese Situation ist. Überall
(Beifall bei der LINKEN)
dort, wo sich ein Kind eigentlich Geborgenheit und
Es geht darum, dieses Thema aus sozialpsychologi- Schutz erhofft, wird es in seiner Integrität zutiefst ver-
scher Sicht zu beleuchten und Vorschläge zur Prävention letzt.
zu entwickeln. Deshalb ist es gut, dass die Mittel für das
Die Bundesregierung hat klug reagiert. Sie hat einen
Projekt „Kein Täter werden“ von Professor Beier von
runden Tisch eingesetzt und alle gesellschaftlich rele-
der Berliner Charité aufgestockt werden.
vanten Gruppen an der Diskussion beteiligt, wie man mit
Ein Blick auf die Ursachen sexualisierter Gewalt diesem Thema umgeht, wie man sich den Problemen, die
könnte für die Entwicklung von Therapieangeboten hilf- mit diesem Thema verbunden sind, nähert und welche
reich sein. Zu 60 Prozent handelt es sich um sogenannte Erkenntnisse wichtig sind, um die richtigen Schlüsse zu
Ersatzhandlungen nicht kernpädophiler Männer. 90 Pro- ziehen.
zent der Taten finden im familiären und bekannten Nah-
An einer Stelle möchte ich Ihnen widersprechen. Ich
bereich statt. Und: Es sind alle sozialen Schichten be-
glaube, in Bezug auf die Frage, was zu tun ist, hat der
troffen.
runde Tisch bereits viele Vorschläge erarbeitet. Hierzu
Entgegen allgemein vorherrschenden Vorstellungen gehört – dies ist ein entscheidender Aspekt, um den Op-
ist der Täter eines sexualisierten Übergriffs nicht der fern einen Ausweg aus der Situation, in der sie gefangen
fremde Psychopath, der einem nachts im Park auflauert, sind, zu ermöglichen –, Mehrfachvernehmungen von
sondern – im Gegenteil – es handelt sich bei den Tätern Opfern, die sich getraut haben, eine Tat anzuzeigen, zu
meist um Personen, die den Betroffenen bekannt oder vermeiden. Wenn Opfer sich zu einer Anzeige entschlos-
mit ihnen verwandt sind. Die Tat findet also häufig zu sen haben, müssen sie zunächst einmal die dadurch auf-
Hause statt, wo sich die Betroffenen sicher fühlen. Diese tretenden Probleme überwinden.
7716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 21. Lebensjahr, während es im Strafrecht nur ein Ruhen (C)
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Olaf bis zum 18. Lebensjahr gibt. Auch hier kann man etwas
Scholz zu? tun.
Wir werden auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll
Christian Ahrendt (FDP): ist, die Verjährungsvorschriften im Strafrecht auszuwei-
Gerne. ten. Bei schwerem Missbrauch beträgt die Verjährungs-
frist bereits 20 Jahre. Ob das am Ende des Tages die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richtige Lösung ist, muss sich während der Beratungen
Bitte schön. zeigen. Sie selber haben es in Ihrer Rede angesprochen,
Frau Lambrecht: Je länger eine Tat zurückliegt, umso
schwieriger wird die Beweiswürdigung. Deswegen ist es
Olaf Scholz (SPD):
ganz entscheidend, erst einmal die Mittel zu stärken,
Herr Kollege, ich habe ein paar kurze Fragen: Stim- durch die den Opfern aus ihrer Gefangenensituation he-
men Sie mir zu, dass die Gesetze im Deutschen Bundes- rausgeholfen wird, was dazu führt, dass die Tat früh an-
tag gemacht werden? Stimmen Sie mir zu, dass es sich gezeigt und aufgeklärt wird und dass das Opfer durch
bei dem runden Tisch um eine Regierungskommission eine Bestrafung des Täters früh Gerechtigkeit erfährt.
handelt? Stimmen Sie mir auch zu, dass ursprünglich gar
nicht geplant war, Vertreter des Deutschen Bundestages Ich denke, dass die Regierung aufgrund der Erkennt-
hinzuzuziehen, und dass dies erst passiert ist, nachdem nisse, die sie durch die Arbeit des runden Tischs gewon-
die Justizministerin einem Vorschlag von mir in einer nen hat, ein gutes Gesamtkonzept vorlegen wird. Ihre
Debatte in diesem Haus gefolgt ist? Vorschläge werden wir in den Beratungen gerne aufneh-
men.
Christian Ahrendt (FDP): Ich danke Ihnen.
Ich stimme Ihnen zu, dass die Gesetze im Deutschen
Bundestag gemacht werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich stimme Ihnen auch zu, dass der runde Tisch eine Das Wort hat Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grü-
sinnvolle Einrichtung ist. Selbstverständlich hat die Jus- nen.
tizministerin, die den runden Tisch als Erste ins Ge-
spräch gebracht hat, auch Sorge dafür getragen, dass alle Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) Abgeordneten dieses Hauses gemeinsam beteiligt wer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
den. Ich glaube, es gab am runden Tisch gute Beratun- Das ist wahrhaftig ein ernstes Thema. Ich will an dieser
gen, und wir sollten uns jetzt an dieser Stelle des Verfah- Stelle sagen: Ich war ebenfalls entsetzt, als ich Anfang
rens nicht kleinlich über Einzelheiten streiten. dieses Jahres immer wieder lesen musste, zu welchen se-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE xuellen Übergriffen und zu welchem sexuellen Miss-
GRÜNEN]: Dieser Wettbewerb zwischen den brauch es vor langer Zeit in den unterschiedlichsten In-
Ministerinnen ist doch unsäglich!) stitutionen in Deutschland gekommen ist.

Lassen Sie mich noch einmal auf die entscheidende Ich war nicht so sehr entsetzt über die Straftaten – ich
Frage zurückkommen, welche Erkenntnisse wir durch bin Strafverteidiger und habe in meinem beruflichen Le-
die Arbeit des runden Tischs gewonnen haben. Neben ben erlebt, wozu Menschen fähig sind –, sondern ich war
der Lösung des Problems der Mehrfachvernehmung ha- vor allem entsetzt darüber, in welchem Ausmaß diese
ben wir auch erarbeitet, dass wir den Opferschutz bei- Sexualstraftaten über Jahrzehnte hinweg verniedlicht
spielsweise dadurch verbessern müssen, dass den Be- und vertuscht worden sind. Das fängt damit an, dass es
troffenen früh ein Opferanwalt zur Verfügung gestellt ein Tabu gab und gibt, darüber nicht zu reden, auch nicht
wird. Wir haben auch gesagt, dass wir die Rechte der in der Familie, mit niemandem. Man musste sich als Op-
Nebenkläger stärken müssen. fer schämen. Es gab aber auch die manchmal sogar per-
fide Perfektion, mit der in den unterschiedlichsten Insti-
Es ist unbestritten, dass Sie mit Ihrem Antrag, auch tutionen die Täter geschützt und gedeckt worden sind
wenn Sie an dieser Stelle wirklich nur ein ganz kleines und auf Opfer und ihre Familien Druck ausgeübt worden
Feld dessen bearbeiten, was man tun muss, ein richtiges ist, nichts preiszugeben.
Anliegen verfolgen. Ich glaube, wir sind uns darin einig,
Ich glaube, der richtige Ansatz, um zu verhindern,
dass eine Verjährungsfrist von drei Jahren für die Gel-
dass sich so etwas in Zukunft bei uns wiederholt, besteht
tendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zivil-
darin, in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür zu sor-
recht mitnichten ausreicht. Die Koalitionsfraktionen
gen, dass über solche Straftaten gesprochen wird, dass
haben sich schon sehr früh, im März, in einem gemeinsa-
Opfer und ihre Familien das Gefühl bekommen, sie müs-
men Papier darauf geeinigt, diese Verjährungsfrist zu
sen sich nicht schämen, wenn sie etwas offenlegen, und
verlängern.
dass die Institutionen von den Kirchen bis zu den Schu-
Wir haben uns auch auf Folgendes geeinigt: Die Ver- len und den freien Trägern ein entsprechendes Klima
jährungsfristen müssen vom gleichen Zeitpunkt an gel- schaffen und sich in ihren organisatorischen Zusammen-
ten. Im Zivilrecht gibt es eine Hemmung bis zum hängen verpflichten, mit der Polizei und der Staats-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7717
Jerzy Montag
(A) anwaltschaft zusammenzuarbeiten und diese Dinge von b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE (C)
Anfang an zu klären, statt sie zu vertuschen.
Durch einen humanitären Akt Frieden beför-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern – Gilad Schalit freilassen
und bei der SPD)
– Drucksache 17/3431 –
In den allermeisten Fällen war es nicht so, als ob man
zum Zeitpunkt der Tatbegehung in den 60er- und 70er- Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
Jahren davon nichts gewusst hätte. Es gab auch damals ren.
Fälle, in denen die Tat nur Tätern und Opfern bekannt
war. Doch in den allermeisten Fällen war es in den Schu- Der erste Redner in der Debatte ist Philipp Mißfelder
len, Kollegs oder wo auch immer bekannt; aber es wurde für die CDU/CSU-Fraktion.
vertuscht. Ich halte den eingangs beschriebenen Weg,
wie wir in Zukunft mit diesem Thema umgehen sollen, Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
für richtig. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Ich warne ausdrücklich davor, das Pferd von hinten Herren! Wir beraten heute einen Antrag, der dem Aus-
aufzuzäumen und bei der Verlängerung der Verjährungs- wärtigen Ausschuss insgesamt sehr am Herzen liegt und
fristen anzusetzen. Ich habe heute nicht genug Zeit, von dem wir uns eine Wirkung in Richtung Israel sowie
werde in den Beratungen im Rechtsausschuss aber noch in Richtung all derjenigen versprechen, die weltweit das
erläutern, aus welchen fachlichen Gründen ich der Auf- dramatische Schicksal des jungen Soldaten Gilad Schalit
fassung bin, dass die Kolleginnen und Kollegen von der verfolgen.
SPD mit ihren Vorschlägen nicht richtig liegen.
Verschiedene andere Parlamente auf der Welt haben
An dieser Stelle will ich auch als Praktiker vor Ge- sich dieses Themas schon angenommen und deutlich ge-
richt eines sagen: Wir geben den Opfern Steine statt macht, dass sie sich für die Freilassung von Gilad Schalit
Brot, wenn wir ihnen noch nach 20 oder 25 Jahren er- einsetzen. Das wollen wir heute mit der Verabschiedung
möglichen, einen Zivilprozess anzustrengen und bei der des vorliegenden Antrags ebenfalls tun. Ich danke des-
Polizei Anzeige zu erstatten. Diese Opfer werden wegen halb allen Fraktionen, dass sie sich dieses Themas ange-
der unglaublich schwierigen und schlechten Beweis- nommen haben. Ich bedanke mich außerdem bei den
situation in den allermeisten Fällen nur eine Klageab- Obleuten und bei allen anderen Beteiligten für die große
weisung im Zivilverfahren oder einen Freispruch für den Ernsthaftigkeit, mit der wir dieses Zeichen heute in die-
Beschuldigten erreichen. Was haben die Opfer davon, sem Haus gemeinsam setzen wollen. Ich rufe all denjeni-
(B) wenn man ihnen suggeriert, sie könnten mit den Mitteln gen, die sich diesem Thema verpflichtet fühlen oder (D)
der Justiz zu ihrem Recht kommen, obwohl wir genau diese Debatte aus Interesse verfolgen, zu, dass wir ein-
wissen, dass das nach 20, 25 oder 30 Jahren so gut wie mütig für die Freiheit von Gilad Schalit einstehen sowie
nicht mehr möglich ist? dafür werben und kämpfen wollen, dass er freigelassen
wird.
Es gibt Vorschläge – auch wir werden welche vorle-
gen –, wie man am geltenden Recht Verbesserungen vor- (Beifall im ganzen Hause)
nehmen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass
wir uns zuallerletzt mit der Verlängerung der Verjäh- Gilad Schalit ist als junger Soldat in die Gefangen-
rungsfristen befassen sollten. schaft der Hamas geraten. Die Hamas ist eine Terror-
organisation; dies gilt es anlässlich dieser Debatte deut-
Danke schön. lich zu machen. Es ist vor dem Hintergrund der
Bedrängnis, in der sich das Volk Israel und der jüdische
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Staat befinden, eine besondere Form der Kriegsführung,
DIE GRÜNEN und der LINKEN) wenn das Leid von Gilad Schalit in Videos öffentlich zur
Schau gestellt wird. Es ist inhuman, dass seit Jahren kein
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zugang des Roten Kreuzes möglich ist und dass die El-
Ich schließe die Aussprache. tern in trauriger Ungewissheit über das Wohl ihres Soh-
nes leben müssen. Sie wissen nicht, ob er lebt und, wenn
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- ja, unter welchen Bedingungen. Wir fordern heute als
wurfs auf Drucksache 17/3646 an die in der Tagesord- humanen Akt einen uneingeschränkten Zugang des Ro-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ten Kreuzes.
dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist so beschlossen. Ich bitte diejenigen, die der Hamas nahestehen und
die heutige Debatte verfolgen, sowie diejenigen, die in-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: nerhalb der Hamas politische Verantwortung wahrneh-
men und immer sehr genau beobachten, was wir in die-
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, sem Hause diskutieren, um diesen humanen Akt: Setzen
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sich für Gilad Schalit ein und ermöglichen Sie zu-
Freiheit für Gilad Schalit mindest den Zugang des Roten Kreuzes, um seinen El-
tern zumindest ein Stück weit Gewissheit zurückzuge-
– Drucksache 17/3422 – ben.
7718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Philipp Mißfelder
(A) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem gesichts der Tatsache, dass in anderen Ländern größere (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Zweifel an der Politik Israels geäußert werden. Auch wir
geordneten der SPD und der LINKEN) sind nicht frei von Kritik, und unter Freunden ist es auch
möglich, offen und kritisch zu diskutieren. Ich sage aber
Das ganze israelische Volk wartet auf die Heimkehr
auch: Die Erwartungshaltung der israelischen Gesell-
von Gilad Schalit. Um dies auch denjenigen nahezubrin-
schaft und der israelischen Politik gegenüber der deut-
gen, die heute das erste Mal den Namen dieses im Alter
schen Politik ist riesig groß. Sie ist wahrscheinlich viel
von 19 Jahren entführten israelischen Soldaten hören:
größer, als die Erwartungshaltung früher gegenüber den
Das gesamte israelische Volk diskutiert diese Frage mit
Vereinigten Staaten war; denn Israel hat gemerkt, dass es
sehr großer Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffen-
voller Sorge die Entwicklung in Amerika beobachten
heit. Wir alle können uns das nicht wirklich vorstellen,
muss. Vor diesem Hintergrund müssen wir hier sehr
weil wir als Deutsche nicht in einer solchen Situation le-
ernsthaft und aufrichtig diskutieren. Ich kann für mich
ben müssen. Die Umstände, unter denen junge Rekruten
persönlich sagen – ich weiß, dass ich nicht für alle in
in Deutschland zur Bundeswehr kommen, sind ganz an-
diesem Haus spreche –, dass Deutschland nicht einfach
dere als diejenigen, unter denen junge israelische Män-
ein neutraler Vermittler ist, sondern dass Deutschland in
ner zur Armee kommen. Gilad Schalit hat sich in einem
diesem Konflikt Partei ist, nämlich Partei Israels.
tapferen Kampf der Sache seines Landes und der Sicher-
heit der Bürger in Israel verpflichtet gefühlt. Er hat dafür Heute geht es nicht nur darum, für eine Zwei-Staaten-
ein großes persönliches Risiko auf sich genommen und Lösung und ein friedliches Miteinander im Nahen Osten
bislang bitter dafür bezahlt. Deshalb nimmt sich das is- zu werben, sondern es geht vor allem darum, ein Zeichen
raelische Volk dieses einzelnen Soldaten so engagiert an. für einen jungen Mann zu setzen, der sich für sein
Staatswesen eingesetzt hat, für Gilad Schalit, dessen
Mancher mag sagen, dass es doch nur ein Soldat ist.
Freilassung wir heute hier fordern.
Aber von Anfang an ging es nicht nur um einen Solda-
ten, sondern auch um die große Symbolik dahinter. Herzlichen Dank.
Wenn man sich anschaut, wie in der Gedenktradition Is-
raels mit toten Soldaten umgegangen wird, erkennt man, (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
dass der Umgang mit diesem einzelnen Soldaten auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.
kulturell eine besonders wichtige Frage ist. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD] und Dr. Gesine
Lötzsch [DIE LINKE])
Das setzt die Terrororganisation Hamas bewusst ein,
um die israelische Gesellschaft in Angst und Schrecken Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zu versetzen, um die Soldaten zu demoralisieren und da-
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange für (D)
(B) mit die Wehrhaftigkeit der israelischen Gesellschaft in-
frage zu stellen. Das lassen wir nicht zu. Wir, die Bun- die SPD-Fraktion.
desrepublik Deutschland und der Deutsche Bundestag,
setzen uns nicht nur heute, sondern auch bei vielen ande- Christian Lange (Backnang) (SPD):
ren Gelegenheiten für die Freilassung von Gilad Schalit Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
und darüber hinaus für die Anerkennung des Existenz- Herren! Seit über vier Jahren ist Gilad Schalit in den
rechts Israels als jüdischer Staat sowie dafür ein, dass Händen von Terroristen; besser gesagt: genau seit
der Friedensprozess in Gang kommt. Auch unser Bun- 1 600 Tagen. Er wurde bei einem Angriff der Hamas und
desaußenminister hat das vor wenigen Tagen getan, als weiterer radikaler palästinensischer Terrorgruppen auf
er den Vater von Gilad Schalit in Israel besucht hat. einen Posten der israelischen Armee am 25. Juni 2006
bei Kerem Schalom entführt. Zwei Kameraden von
Diese Themen haben wir in diesem Hause schon oft Gilad Schalit wurden bei dem Angriff getötet. Der da-
beraten, und das wollen wir auch in Zukunft tun. Das mals 19-jährige Schalit wurde verletzt und entführt.
Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass Deutschland
aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrung sowie der Zur Erinnerung: Schalit befand sich auf israelischem
Verantwortung, die sich daraus ableitet, eine besondere Territorium, als er entführt wurde, nicht auf palästinensi-
Rolle einnimmt. schem Gebiet. Der Entführte ist israelischer Staatsbürger
und besitzt auch die französische Staatsangehörigkeit.
Wir können zumindest aus meiner Sicht keine neu-
Auch wir Europäer sind also zumindest mittelbar davon
trale Position einnehmen. Wir stehen vielmehr fest an
betroffen. Wir erinnern uns alle an die unmittelbaren
der Seite Israels. Die Bundeskanzlerin hat am 18. März
Folgen der Entführung, als Israel 2006 mit verschiede-
2008 in ihrer bemerkenswerten Rede vor der Knesset
nen Militäraktionen versuchte, die Hamas zu besiegen
zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ge-
und Schalit zu befreien. Ohne Erfolg. Tote und Verletzte
sagt:
auf beiden Seiten waren die Folge. Der Friedensprozess
… das Bewusstsein für die historische Verantwor- war erneut unterminiert, und Hass und Gewalt waren er-
tung und das Eintreten für unsere gemeinsamen neut erzeugt.
Werte – das bildet das Fundament der deutsch-is-
Wir alle wissen, dass normalerweise individuelle
raelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis
Fälle nicht Gegenstand eines Antrags im Deutschen
heute.
Bundestag sind. Ansonsten hätten wir vermutlich wö-
Das hat sich seit 2008 nicht geändert, ganz im Gegenteil: chentlich Anträge über aus politischen Gründen ent-
Die Bande sind sogar noch enger geworden, gerade an- führte Menschen zu behandeln. Doch diese menschliche
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7719
Christian Lange (Backnang)
(A) Katastrophe können wir als Deutscher Bundestag wie sie sogar persönlich in Israel dem Vater Schalits über- (C)
auch viele andere Parlamente der Welt – mein Vorredner reicht.
hat es erwähnt – nicht einfach ignorieren. Deshalb mel-
Trotz des traurigen Anlasses ist diese Solidarität je-
den wir uns heute hier zu Wort.
doch auch ein Zeichen dafür, dass die deutsch-israeli-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP schen Beziehungen weiterhin intensiv und lebendig sind,
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie nicht nur auf politischer Ebene, sondern eben auch vor
bei Abgeordneten der LINKEN) Ort. Ich denke, dass man unseren Bürgerinnen und Bür-
gern für ihr Engagement und ihre Solidarität für Gilad
Deshalb sage ich auch ganz deutlich: Die Freilassung Schalit an dieser Stelle von ganzem Herzen danken
von Gilad Schalit muss bedingungslos erfolgen. Seit über sollte.
vier Jahren ist Gilad Schalit in den Händen von Terroris-
ten. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz erhält (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Zugang zu ihm. Die Hamas unterbindet sogar entgegen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der dritten Genfer Konvention von 1949 jegliche Kom- bei Abgeordneten der LINKEN)
munikation mit seiner Familie. Das letzte Lebenszeichen Meine Damen und Herren, ich möchte mich der Reso-
– wir erinnern uns alle – war ein ziemlich genau vor ei- lution des US-Kongresses anschließen, die eine bedin-
nem Jahr veröffentlichtes, etwa zweiminütiges Video, auf gungslose Freilassung von Schalit fordert. Auch das
dem der verzweifelte Schalit um seine Freilassung bat. Nahostquartett hat am 30. Mai 2007 in Berlin eine um-
Im Gegenzug für das Lebenszeichen ließ die israelische gehende Freilassung des israelischen Stabsgefreiten
Regierung insgesamt 20 Palästinenserinnen aus dem Ge- ohne Vorbedingungen gefordert.
fängnis frei. Zuvor konnte im Oktober 2008 über den
französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, den syri- Ich begrüße auch die Reise des Bundesaußenminis-
schen Präsidenten Assad und den katarischen Emir ein ters Westerwelle in den Gazastreifen. Mit seinem Besuch
Brief der Familie an Schalit übermittelt werden. hat er die moderaten Kräfte in Gaza unterstützt, ohne mit
der Hamas zu sprechen, und zugleich deutlich gemacht,
Seit etlichen Jahren bin ich selbst oft mehrmals im dass sich Deutschland für eine Verbesserung der wirt-
Jahr in Israel und in den palästinensischen Gebieten und schaftlichen und sozialen Situation Gazas einsetzt. Er
stehe in vielerlei Kontakt zu israelischen Vertretern aus war auch, was ich für wichtig halte, in Sderot. Ich bin im
Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Jeder, der in Frühjahr ebenfalls dort gewesen. Seit Jahren wird die
den vergangenen Jahren in Israel gewesen ist, weiß, wie Bevölkerung Sderots durch die Raketenangriffe aus dem
groß die Solidarität mit dem entführten Gilad Schalit ist. Gazastreifen terrorisiert.
An Autoantennen, an Koffern, an Rucksäcken oder
(B) Handtaschen sieht man gelbe Bänder, die an Schalit erin- Wir sagen Ja zu Israel, wir sagen Ja zum Existenz- (D)
nern sollen; an Häusern und an Stellwänden kleben Pos- recht Israels, und wir sagen Ja zur Zwei-Staaten-Rege-
ter mit dem Foto Schalits und den Schriftzügen, dass lung. Ich meine, das gehört zusammen. Deshalb will ich
man ihn nicht vergesse. Das Schicksal Schalits eint in es an dieser Stelle auch erwähnt haben.
der Tat alle Israelis, egal ob sie säkular oder religiös (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
sind, ob sie sich politisch links oder rechts verorten. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Heute konnten wir in der israelischen Onlinezeitung Heute freilich geht es um einen jungen israelischen
Ynet einen Brief der Mutter, Aviva Schalit, an Premier- Mann, der seit über vier Jahren von Terroristen gefangen
minister Netanjahu lesen. Ich will die dort zitierten gehalten wird, ohne Kontakte zur Außenwelt, ohne Kon-
Worte einfach wiederholen. Sie schrieb an den israeli- takte zur seiner Familie, ohne Zugang zum Internationa-
schen Premierminister: len Roten Kreuz.
Gilad ist am Leben, in Gaza. Ich weiß nicht, ob er Deshalb ist unser gemeinsamer Antrag auch so wich-
morgen noch am Leben sein wird. Sie und nur Sie tig, dem jeder hier im Bundestag zustimmen kann und
sind für sein Leben verantwortlich. Bitte geben Sie sollte. Die Bundesregierung soll sich auch weiterhin ge-
diese Verantwortung nicht an Kabinette oder Gene- meinsam mit ihren Partnern mit größtem Nachdruck für
räle ab, nur um sie selbst los zu sein. die Freilassung Schalits einsetzen, und ich bin mir si-
cher, sie wird dies auch tun. Schalit muss endlich, nach
Ich denke, wir können diese Worte einer verzweifel- 1 600 Tagen, zu seiner Familie und in die Freiheit zu-
ten Mutter gut nachvollziehen. rückkehren dürfen.
Ich will ebenso sagen: Auch viele Palästinenser, mit Herzlichen Dank.
denen ich gesprochen habe, verurteilen die Entführung
Schalits und das Verhalten der Hamas aufs Schärfste und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
haben Mitgefühl mit der Familie Schalits. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der LINKEN)
Aber nicht nur in Israel, sondern auch bei uns in
Europa solidarisieren sich Tausende von Menschen mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dem entführten jungen Mann, und das nicht „nur“ in der
Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist nun der nächste
jüdischen Gemeinde. Auch in meinem Wahlkreis, in
Redner für die FDP-Fraktion.
meiner Heimatgemeinde Backnang zum Beispiel, haben
Bürgerinnen und Bürger Unterschriften gesammelt und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
7720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Dr. Rainer Stinner (FDP): gegenüber der Hamas eine deutliche Sprache gespro- (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen, und er hat in Israel deutlich gesagt, was unsere An-
Wir behandeln heute ein Thema mit hoher Symbolkraft forderungen an die israelische Politik sind. Wir sehen
und großer politischer Sprengkraft. Wir reden über eine natürlich, dass eine Friedenslösung nur erreicht werden
einzelne Person. Jawohl. Aber diese Person steht für ein kann, wenn beide Seiten die für beide Seiten, wie wir
persönliches Schicksal in einem furchtbaren Konflikt, alle wissen, bitteren Kompromisse eingehen werden.
der seit Jahren auf beiden Seiten viele Opfer fordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen uns als
Diese Person steht für die Unmenschlichkeit der Hamas, Deutscher Bundestag in guter Gesellschaft, in Gesell-
die sich weigert, das Überlebens- und Menschenrecht schaft von Kolleginnen und Kollegen Parlamentariern in
des israelischen Volkes, das über 2 000 Jahre geschun- vielen Ländern der Welt, in den Vereinigten Staaten, in
den worden ist, anzuerkennen. Dieses Thema steht für beiden Häusern des Kongresses, aber auch im Europäi-
die unmenschliche Hamas, die Menschenrechte mit Fü- schen Parlament. Wir fordern gemeinsam, dass Gilad
ßen tritt, der das Leben von anderen Menschen nichts Schalit freigelassen wird, dass Gilad Schalit die Basis-
wert ist und die dennoch glaubt, dafür internationale Zu- menschenrechte, auf die jeder Mensch auf dieser Erde
stimmung zu bekommen. ein Recht hat, zugestanden werden und dass die Hamas
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch von von ihrem schändlichen Handeln – sie verweigert ihm
meiner Fraktion sagen wir der Hamas ganz deutlich: Sie diese Menschenrechte – ablässt.
kann von uns für ihre Belange, für die Belange des pa- Wir wissen, dass wir hier nicht aufrechnen können
lästinensischen Volkes, keine Unterstützung verlangen, und sollen. Deshalb sage ich Ihnen auch, meine Damen
solange sie in dieser Weise Politik gegen Israel betreibt. und Herren: Es bringt überhaupt nichts, diesen Fall mit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) anderen Situationen zu vergleichen. Gilad Schalit ist ein
Fall für sich, und diesen Fall behandeln wir heute in die-
Die Hamas muss wissen – das sage ich auch sehr sem Antrag. Das tun wir fraktionsübergreifend. Ich be-
deutlich –, dass sie eigentlich gegen die eigenen Interes- danke mich dafür. Ich hoffe, dass diese Botschaft, die
sen der Palästinenser verstößt. Was sind die Interessen einvernehmliche Botschaft des Deutschen Bundestages,
der Palästinenser? Die Interessen der Palästinenser be- gehört wird: von der Hamas, in Israel, von all denjenigen
stehen darin – dem stimmen wir alle zu –, dass auch Pa- in dieser Welt, die guten Willens sind, diesen Konflikt
lästina hoffentlich eines nicht zu fernen Tages in einem einer Lösung nahe zu bringen. Dazu wollen wir auch un-
eigenen Staatswesen in sicheren Grenzen leben und sein seren deutschen Beitrag leisten.
Schicksal selbst bestimmen kann. Das wird aber nur ge-
(B) lingen können – das rufen wir der Hamas von hier aus Herzlichen Dank. (D)
heute Abend gemeinsam zu –, wenn die Hamas ihre Ein- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
stellung, ihre Position zur Existenz Israels deutlich än- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
dert. der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
geordneten der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
Wir nehmen die heutige Debatte zum Anlass, um dies
deutlich zum Ausdruck zu bringen. Ich bin Ihnen, liebe (Beifall bei der LINKEN)
Kolleginnen und Kollegen, Herr Lange, Herr Mißfelder,
sehr dankbar dafür, dass wir das hier gemeinsam in der- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
selben Tonalität, im selben Geist vortragen. Ich finde es Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der is-
sehr gut, dass wir im Deutschen Bundestag gegenüber raelische Soldat Gilad Schalit ist seit dem 25. Juni 2006
der Öffentlichkeit in unserem Land, gegenüber der Öf- Gefangener der Hamas im Gazastreifen. Keine Angehö-
fentlichkeit in Israel, aber natürlich auch gegenüber der rigen, kein internationaler Beobachter konnten ihn seit
Öffentlichkeit in Palästina deutlich machen, auf welcher über vier Jahren sehen oder sprechen. Wir fordern die
Seite wir stehen: auf der Seite der Menschlichkeit und bedingungslose Freilassung von Gilad Schalit als einen
auf der Seite einer zukunftsfähigen gemeinsamen Zwei- wichtigen Akt der Humanität.
Staaten-Lösung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist nur recht NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
einseitig!) ten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Bis zur Freilassung muss die Hamas unverzüglich einen
Die Behandlung des Antrags erfolgt in einer, wie wir
Zugang für Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes
alle wissen, sehr komplizierten und konfliktbeladenen
und für Familienangehörige gewähren. Dies ist ein ge-
Zeit in dieser Region. Ich darf mich dem Dank von Ih-
meinsames Anliegen aller Bundestagsfraktionen, das auf
nen, lieber Herr Lange, an unseren Außenminister an-
Initiative der Linken zustande kam.
schließen, der eine, wie ich finde, sehr erfolgreiche
Reise im Nahen Osten durchgeführt hat und der genau Die Union hat sich aber entschieden, zwar die Initia-
das Richtige getan hat. Er hat nämlich im Gazastreifen tive der Linken aufzugreifen, aber den Antrag nur mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7721
Dr. Gregor Gysi
(A) FDP, SPD und Grünen ohne uns vorzulegen. Wir wurden Linke!“, dann reihen Sie sich bei ihr ein. Es trifft Sie so- (C)
auch an der Beratung des Textes nicht beteiligt. Letzte- mit dieselbe Verantwortung.
res merkt man; denn der Antrag ist laienhaft und falsch
Anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels
formuliert.
bin ich auf Einladung von Präsident Schimon Peres zu-
(Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ sammen mit dem Abgeordneten Jerzy Montag dort ge-
DIE GRÜNEN] – Karl-Georg Wellmann wesen und habe auch mit der Lebenspartnerin von Gilad
[CDU/CSU]: Überheblich!) Schalit gesprochen und ihr versprochen, etwas zu unter-
nehmen.
– Hören Sie mir zu! – Sie sprechen von einer Entführung
des israelischen Soldaten durch die Hamas, die Sie Wenn Sie darüber hinaus nur eine Minute – nur eine
selbstverständlich auch verurteilen. Danach handelte es Minute! – über das Schicksal meiner Familie nachge-
sich also um einen kriminellen Akt. Geiselnehmer lassen dacht hätten, verstünden Sie, weshalb ich ausnahms-
nirgendwo auf der Welt das Rote Kreuz oder Familien- weise diese Ausgrenzung auch persönlich als besonders
angehörige ihre Geiseln besuchen. Für sie gilt auch kein unverfroren ansehe und ansehen muss.
Völkerrecht, mithin auch nicht die dritte Genfer Kon-
(Beifall bei der LINKEN)
vention, auf die Sie sich berufen. Geiselnehmer kann
man höchstens mit geringerer späterer Strafzumessung Aber ich habe wohl zu akzeptieren, dass das bei Union,
locken, wobei wir darauf nicht den geringsten Einfluss SPD, FDP und Grünen, das heißt, in der deutschen Poli-
hätten. tik, so ist.
In Wirklichkeit ist es so, dass die Hamas Israel den Das Wichtigste aber bleibt: Gilad Schalit muss unver-
Krieg erklärt hat. Israel begründet damit seine militäri- züglich freigelassen werden, ohne Wenn und Aber, ohne
schen Schritte gegen den Gazastreifen. Nach dem militä- Bedingungen. Und wir sagen klar: Das wäre auch ein
rischen Überfall Israels auf den Gazastreifen stellte die wichtiges humanitäres Zeichen für die notwendige Frei-
UNO Völkerrechtsverletzungen vor allem durch Israel, lassung vieler palästinensischer politischer Gefangener
aber auch durch die Hamas fest. Letzteres konnte die durch Israel.
UNO nur feststellen, weil sie die Hamas als Kriegspartei
anerkannte. Anderenfalls gälte für diese nicht das Völ- Wer Frieden im Nahen Osten will, muss solche huma-
kerrecht, wären ihr mithin auch keine Völkerrechtsver- nitären Schritte gehen,
letzungen vorzuwerfen. Im Krieg werden leider Soldaten (Beifall bei der LINKEN)
erschossen und andere Soldaten gefangen genommen.
Dann und nur dann gilt die von Ihnen und uns genannte muss mit allen gewählten Vertreterinnen und Vertretern
(B) dritte Genfer Konvention auch für die Hamas. Dann und in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen reden, (D)
nur dann sind Ihre und unsere Forderungen berechtigt, muss den jüdischen Staat Israel und seine Sicherheitsbe-
dem Internationalen Roten Kreuz und Familienangehöri- dürfnisse anerkennen und respektieren, den Siedlungs-
gen endlich Zugang zu dem israelischen Soldaten zu ge- bau im künftigen Palästina unverzüglich einstellen, die
währen und schnellstens die Beendigung der Gefangen- Blockade des Gazastreifens aufgeben und Palästina end-
schaft einzuleiten. lich in den Grenzen von 1967 lebensfähig gründen und
anerkennen, muss also nicht nur seine Interessen, son-
Sie müssten Ihren Antrag korrigieren. Sie könnten dern auch die Interessen des anderen sehen und berück-
auch unserem zustimmen. Bleibt Ihr Antrag, wie er ist, sichtigen.
können wir uns bei ihm nur enthalten.
Danke.
Noch etwas zum Ausschluss der Linken durch die
Union und die anderen Fraktionen. Die CDU/CSU-Frak- (Lebhafter Beifall bei der LINKEN)
tion setzt den Kalten Krieg fort, hat noch nicht mitbe-
kommen, dass es den Staatssozialismus in Europa und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die DDR seit über 20 Jahren nicht mehr gibt. Unser Aus- Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Müller für die
schluss ist eine besondere Unverschämtheit, weil es um Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
das Leben, die Gesundheit und die Freiheit eines jungen
Menschen geht. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der LINKEN) NEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist der ungeeignetste Fall für die alten, überkomme- Verehrter Herr Gysi, ich finde es auch falsch – meine
nen kalten Kriegsspiele der Union. Fraktion hat dies sehr deutlich gesagt, ich glaube, auch
Die FDP meint, wegen der Koalition mitmachen zu die Kolleginnen und Kollegen von der SPD –, dass die
müssen. Linke bei diesen Beratungen wieder einmal ausgeschlos-
sen wurde. Dies sind absolut überflüssige Spielchen, die
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur hier leider vor allen Dingen der Unionsfraktion anzulas-
deshalb!) ten sind. Sie sind der Sache nicht angemessen; das war
ein großer Fehler.
Die SPD und die Grünen haben nicht einmal dieses Pro-
blem. Sie verhalten sich aber gegenüber der Union un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
terwürfig und willfährig. Wenn diese befiehlt: „Ohne die bei der SPD und der LINKEN)
7722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) Da Herr Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen Es ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen, dass die (C)
Ausschusses, gleich auch noch sprechen wird, nehme ich Hamas sogar dem Internationalen Roten Kreuz den Zu-
eines vorweg: Herr Polenz hat anlässlich des Gaza-An- gang zu ihm verweigert. Das heißt, dass die Hamas
trages, den wir hier gemeinsam beschlossen haben – da Gilad Schalit sogar die rudimentärsten Rechte verwei-
haben Sie sich klüger verhalten; Sie haben dem nämlich gert, die ihm nach dem humanitären Völkerrecht zuste-
zugestimmt –, im Ausschuss noch einmal angemahnt, hen, also die Sicherstellung der medizinischen Versor-
dass man bei Anträgen, bei denen es eine große Überein- gung, und selbst den ungehinderten Kontakt zur Familie,
stimmung gibt, bitte auch zu einem gemeinsamen An- die seit 2009 kein Lebenszeichen von ihm bekommen
trag im Deutschen Bundestag kommen sollte, weil man hat. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeheuer-
– so haben Sie es wahrscheinlich gemeint – so dem An- lich.
liegen mehr Gewicht verleiht. Schade, schade, Herr
Polenz, dass die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Frak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
tion diesem Rat, diesem Appell hier nicht gefolgt sind. bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändern wird. geordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Für diese klaren Aussagen, Herr Gysi, braucht man
bei der SPD und der LINKEN) Schalit nicht zum Kriegsgefangenen zu machen, womit
man auch die Hamas als legitime Kriegspartei aufwertet,
Ich will aber auch zu Ihnen – Sie haben schon vorab was diese übrigens gar nicht will. Wenn es darum geht,
in der Presse einen ziemlichen Wirbel um diese ganze Schalit die rudimentärsten Rechte zu gewähren, gilt die
Geschichte gemacht –, Herr Gysi, Folgendes sagen: Ihre
dritte Genfer Konvention ganz klar: Sie verbietet Geisel-
eigene Partei und Fraktion ist in der Nahostfrage sehr
nahmen und gesteht Gefangenen unabhängig von ihrem
zerstritten, und Ihr Verhältnis zu Israel ist nicht geklärt.
Rechtsstatus alle Rechte nach Art. 3 dieser Konvention
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr zu. Was soll das also? Man braucht das nicht. Ich glaube,
richtig!) die Debatte, die Sie hier führen, und der Wirbel, den Sie
vorher gemacht haben, haben leider sehr wenig mit
Sie haben, glaube ich, zwei Stunden in geschlossener Schalit und viel mehr mit den Problemen zu tun, die Sie
Sitzung darüber beraten, ob der Antrag Ihrer eigenen in Ihrer Fraktion und Ihrer Partei zu regeln haben.
Kollegen überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion findet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
bei der CDU/CSU und der FDP sowie des
Spielen Sie Mäuschen bei uns?)
Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])
(B) Er musste nachher auch noch geändert werden, damit er (D)
eine Mehrheit findet. Ich wünsche mir, dass von hier heute eine möglichst
geschlossene Botschaft ausgeht, wie wir es beim Gaza-
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Falsche Antrag auch gemacht haben. Ich glaube, dass sich dieses
Behauptung!) Thema überhaupt nicht für Parteienstreit zwischen Op-
position und Regierung eignet, auch nicht für rot-grün-
Man musste die Konstruktion mit den Kriegsgefangenen
rote Anträge. Letzteres ist nicht nötig, weil wir uns in
wählen, damit er eine Mehrheit findet.
den Forderungen einig sind. Das ist dafür ein ungeeigne-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie tes Thema. Wenn hier alle der gleichen Meinung sind
kommen Sie denn darauf? – Gegenruf des – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das
Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Habe war ja auch Ihr Vorschlag in der PGF-Runde, wenn ich
ich aber auch gehört!) mich richtig erinnere –, dann hätten Sie doch einfach ei-
nen gleichlautenden Antrag einbringen können und hät-
Angesichts solcher Konflikte halte ich es für ziemlich ten unserem zugestimmt, und SPD und Grüne hätten Ih-
unangemessen, wie Sie hier aufgetreten sind und wel- rem zugestimmt. Dann wäre völlig klar gewesen, wer
chen Wirbel Sie in den Medien um diese Geschichte ge- hier – nämlich Teile der Union – wen unnötigerweise
macht haben. ausgrenzt. Aber leider haben Sie sich nicht so geschickt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, verhalten. Das bedaure ich sehr. Ich finde, dieses Thema
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- ist wirklich ungeeignet, einen solchen Wirbel zu ma-
geordneten der SPD) chen.
Es wäre nämlich eigentlich ganz einfach. Wir sind Ich hoffe für Gilad Schalit und für seine Familie, dass
uns in der Sache hier einig – auch das haben Sie zu An- nicht nur die Nahostverhandlungen, sondern auch die
fang Ihrer Rede gesagt, und dafür haben Sie von allen Verhandlungen zu seiner Freilassung – vielleicht sogar
Beifall bekommen –, dass der von der Hamas vor vier mit deutscher Hilfe und unserer Unterstützung – bald zu
Jahren von israelischem Boden entführte und seither ge- einem Erfolg führen werden.
fangen gehaltene junge Soldat Gilad Schalit umgehend
und ohne Wenn und Aber freizulassen ist. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
geordneten der SPD und der LINKEN) CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7723

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Generell basiert das Herrschaftssystem darauf, dass (C)
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz für man die eigenen Anhänger hemmungslos begünstigt und
die CDU/CSU-Fraktion. alle anderen Palästinenser im Gazastreifen benachteiligt.
Gewalt und Menschenrechtsverletzungen haben deshalb
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Popularität der Hamas, die stolz verkündet hatte,
neten der FDP) dass sie bei den Wahlen gewonnen hat, sehr stark gemin-
dert. Wie sie heute bei Wahlen abschneiden würde, ist
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): die entscheidende Frage.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun will die Hamas eine Rolle spielen. Es ist auch
Freiheit für Gilad Schalit – ich denke, diese Forderung klar, unter welchen Bedingungen das möglich ist: keine
eint uns, die wir heute Abend im Plenum des Deutschen Gewaltanwendung, Anerkennung der bisherigen Ab-
Bundestages sitzen. Deshalb möchte ich zur Sache spre- kommen der PLO mit Israel und – das ist damit einge-
chen. schlossen – prinzipielle Anerkennung Israels staatlicher
Als ich vor wenigen Wochen das letzte Mal in Jerusa- Existenz. Der Fall Schalit ist so etwas wie ein Lackmus-
lem war, habe ich vor dem Amtssitz von Ministerpräsi- test für die Anerkennung von Recht und Gesetz und des
dent Netanjahu mehrere Zelte gesehen, in denen die Fa- Völkerrechts – auch des humanitären Völkerrechts –
milie von Gilad Schalit mit Plakaten und Transparenten durch die Hamas sowie für das Rechtsverständnis der
auf das Schicksal ihres Angehörigen aufmerksam macht. Hamas und ihre Bereitschaft, sich internationalen Re-
Es ist gerade noch einmal darauf hingewiesen worden, geln zu unterwerfen.
wie viele Israelis durch Poster, Buttons und Ähnliches an Ich möchte in dieser Debatte aber nicht nur auf das
sein Schicksal erinnern. Ich glaube, dass dies der Schicksal von Gilad Schalit hinweisen. Ich möchte auch
Hauptzweck unserer heutigen Debatte und der Entschlie- an Ron Arad erinnern, der bereits seit 1986 verschollen,
ßung ist, die wir verabschieden. Wir wollen deutlich ma- verschwunden ist. Man weiß nicht genau, ob er noch
chen: Sein Schicksal gerät auch nach über vier Jahren lebt; es gibt Vermutungen, dass er noch lebt. Auch das
nicht in Vergessenheit. Wir schauen auf das, was in der ist ein Schicksal, an das man in dieser Debatte erinnern
Region passiert, und auch auf das, was mit einzelnen sollte.
Personen geschieht. Wir schauen aber auch sehr genau
auf die Praxis der Hamas. Ein letztes Wort zu den Unterstützern der Hamas. Ich
war bei meinem Besuch in Syrien mit der Nachricht
Wir haben schon bei anderer Gelegenheit über die – dem Wunsch – konfrontiert, dass Syrien sehr daran in-
Frage diskutiert, wie wir mit der Hamas umgehen wol- teressiert ist, auch auf höherer Ebene wieder diploma-
(B) len. Da gab es relativ weitgehende Empfehlungen, sie tisch mit Deutschland zu kommunizieren. Wahrschein- (D)
quasi als Gesprächspartner wie jeden anderen zu behan- lich kommt der syrische Außenminister in Kürze nach
deln, weil ohne die Hamas in der Region letztlich nichts Berlin. Ich will nur sagen: Syrien hätte eine Möglichkeit,
zu erreichen sei. Deshalb möchte ich aus Anlass dieser hier beispielsweise durch Einflussnahme auf die Hamas
Debatte schlaglichtartig beleuchten, wie es 2007 nach ein Signal zu setzen und zu zeigen, dass es versteht, wel-
der gewaltsamen Machtergreifung durch die Hamas im che symbolische Bedeutung diese Frage hat, die mit dem
Gazastreifen weitergegangen ist. einzelnen Schicksal dieses armen jungen Mannes ver-
bunden ist. Ich möchte deshalb an dieser Stelle nicht nur
Es gab zunächst eine bürgerkriegsartige Auseinander- die Hamas mit dem Appell „Freiheit für Gilad Schalit“
setzung mit den konkurrierenden Kräften von Fatah und konfrontieren, sondern auch Syrien.
anderen. Als sich Hamas dann durchgesetzt hatte, hat sie
– das gilt bis heute – eine sehr konsequente Gleichschal- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
tungspolitik, so muss man es nennen, im Gazastreifen
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LIN-
betrieben. Die palästinensische Nachrichtenagentur
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
WAFA, die noch den Mut hatte, über Korruptionsvor-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
würfe gegen die Hamas und gegen Hamas-Politiker zu
berichten, wurde eingeschüchtert und unter Druck ge-
setzt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, erteile ich
Es gab eine schleichende Islamisierung. Hamas ist ja das Wort für eine persönliche Erklärung nach § 31 unse-
eine islamistische Organisation, die den Muslimbrüdern rer Geschäftsordnung der Kollegin Bettina Kudla.
aus Ägypten entstammt. Die Bekleidungsvorschriften
werden zunehmend rigoros durchgesetzt. In den Schu- Bettina Kudla (CDU/CSU):
len, wo die Hamas Einfluss hat, aber auch in den UN-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
Schulen wird versucht, sicherzustellen, dass über den
und Herren! Ich stimme dem Antrag der Fraktionen der
Holocaust nicht berichtet, darüber nicht gelehrt und
CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grü-
nicht informiert wird. Die Organisationen der Zivilge-
nen mit dem Titel „Freiheit für Gilad Schalit“ auf Druck-
sellschaft, die noch nicht unter der Kontrolle der Hamas
sache 17/3422 wegen Punkt I.3 des Antrages nicht zu.
stehen, werden gezwungen, so lange neue Mitglieder,
die der Hamas angehören, aufzunehmen, bis man in der Punkt I.3 des Antrages begrüßt die „die Entschlie-
Lage ist, durch Mehrheitsbeschlüsse diese Gesellschaft ßung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2010,
zu übernehmen. die die Freilassung von Gilad Schalit“ fordert. Ich er-
7724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Bettina Kudla
(A) achte insbesondere Punkt G.5 des gemeinsamen Ent- trag ist abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Die (C)
schließungsantrags des Europäischen Parlamentes für Linke. Dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktio-
kritikwürdig. Dieser Punkt des gemeinsamen Entschlie- nen. Enthalten haben sich die Fraktion der SPD und die
ßungsantrages des Europäischen Parlamentes zur Frei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
lassung von Gilad Schalit vom 11. März 2010
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
… hebt hervor, dass beiderseitige vertrauensbil-
dende Maßnahmen aller Parteien, einschließlich der Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Freilassung einer bedeutenden Anzahl von palästi- Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weite-
nensischen Gefangenen, dazu beitragen könnten, rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
eine konstruktive Atmosphäre zu schaffen, die zur Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
Freilassung von Unteroffizier Schalit führt … durch eine transparente Bemessung der Regel-
Diesen Punkt der EU-Entschließung lehne ich entschie- sätze und eine Förderung der Teilhabe von
den ab. Die Freilassung des Soldaten ist ohne jegliche Kindern umsetzen
Vorbedingungen zu fordern. – Drucksache 17/3648 –
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag:
GRÜNEN]: Das ist in der Entschließung des Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Parlaments nicht als Bedingung formuliert! Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ganz eindeutig nicht!) Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der Antrag des Bundestages ist daher nicht eindeutig. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es besteht folglich das Risiko, dass die an dem Antrag Ausschuss für Gesundheit
beteiligten Fraktionen den Antrag unterschiedlich inter- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
pretieren. Auch die öffentliche Diskussion in den letzten Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Monaten über die Annahme des fraktionsübergreifenden Haushaltsausschuss
Bundestagsantrags „Ereignisse um die Gaza-Flottille
aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Nahost-Friedensprozess unterstützen“ hat dies gezeigt. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Ich sehe keine Basis für den heutigen fraktionsübergrei- Sie sind damit einverstanden. Diejenigen, die der weite-
fenden Antrag. ren Debatte folgen wollen, bitte ich, Platz zu nehmen.

(B) Meine Erklärung erfolgt auch vor dem Hintergrund, Ich eröffne die Aussprache. Wir wollen uns auf die (D)
dass bekannt ist – das geht auch aus Punkt II des Antrags erste Rede konzentrieren, die von der Kollegin Gabriele
„Freiheit für Gilad Schalit“ auf Drucksache 17/3422 her- Hiller-Ohm aus der SPD-Fraktion gehalten wird.
vor –, dass sich die Bundesregierung bereits seit länge-
rem für die Freilassung des Soldaten Gilad Schalit ein- (Beifall bei der SPD)
setzt und weiterhin einsetzen wird.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es liegt eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung Heute haben wir aufgrund unseres Antrags erneut Gele-
nach § 31 unserer Geschäftsordnung von der Kollegin genheit, über die Regelsätze zu debattieren. Viele Forde-
Marie-Luise Beck vor.1) rungen haben wir schon im März gestellt. Leider haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
Nun kommen wir zur Abstimmung über Tagesord- FDP, bisher nichts davon aufgegriffen.
nungspunkt 11 a, über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/ Die Fraktionsspitzen von SPD und Bündnis 90/Die
Die Grünen auf Drucksache 17/3422 mit dem Titel Grünen haben in einem gemeinsamen Brief vom
„Freiheit für Gilad Schalit“. Wer stimmt für diesen An- 22. Oktober 2010 die Kanzlerin um ein Gespräch über
trag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der An- den Gesetzentwurf zu den Regelsätzen gebeten – bisher
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen – bei ohne Erfolg. Das ist nicht zu verstehen; denn die Bun-
einer Ausnahme –, mit den Stimmen der SPD-Fraktion desregierung braucht die Zustimmung der SPD im Bun-
und den Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen desrat.
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und einer Gegen- Es geht immerhin um mehr als 7,7 Millionen Men-
stimme angenommen. schen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, und um
Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um den An- 2 Millionen arme Kinder, denen die Karlsruher Richter
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3431 mit ein individuelles Recht auf Teilhabe an Bildung und
dem Titel „Durch einen humanitären Akt Frieden beför- Kultur zugestanden haben. Wo, so frage ich Sie, bleibt
dern – Gilad Schalit freilassen“. Wer stimmt für diesen die Kanzlerin? Wir sehen einmal mehr, welch geringen
Antrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der An- Stellenwert die Sozialpolitik für diese Bundesregierung
hat.
1) Anlage 4 (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7725
Gabriele Hiller-Ohm
(A) Im Gegensatz zu Bankern, der Pharmaindustrie, Ener- dern, dass Menschen überhaupt auf Sozialleistungen an- (C)
giekonzernen und Hoteliers haben arme Kinder und de- gewiesen sind.
ren Eltern keine Lobby.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Der Gesetzentwurf muss dringend überarbeitet wer-
Das erreichen wir mit existenzsichernder guter Arbeit.
den. Wir sind dazu bereit.
Nur ein gesetzlicher Mindestlohn kann hier helfen. Ab
(Beifall bei der SPD) 1. Mai 2011 werden wir in der EU vollständige Arbeit-
nehmerfreizügigkeit haben.
Es gibt einiges zu besprechen. Im Gegensatz zu Ihnen
sind wir nicht der Überzeugung, dass Ihre Berechnung
der Regelsätze verfassungsfest ist. Warum legen Sie bei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der Berechnung der Erwachsenenregelsätze nicht, wie Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
bisher, die unteren 20 Prozent der Einkommen zugrunde,
und warum beziehen Sie Menschen, die aufstockende Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Sozialleistungen erhalten, in die Referenzgruppe ein? Ja. – Spätestens dann wird sich der Druck auf den
Wir halten das für falsch. Niedriglohnbereich weiter erhöhen. Hoffentlich begrei-
fen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und FDP, schon vorher, dass es ohne den Mindestlohn
der LINKEN) nicht gehen wird.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es dem Urteil (Beifall bei der SPD)
der Verfassungsrichter entspricht, wenn Sie bei Ver-
brauchspositionen willkürlich Abschläge oder Strei-
chungen vornehmen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten
Wir kritisieren ferner Ihre Berechnung der Kinder- Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
regelsätze. Wir fordern einen Expertenkreis und Vor-
schläge für eine bessere Berechnungsmethode. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Es ist ein Fortschritt und eine Riesenchance für unser Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU):
Land, dass Kinder aufgrund ihrer Armut nicht länger Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
von einer gerechten Teilhabe an Bildung, Sport und Kul- vor allen Dingen liebe Kolleginnen und Kollegen von
(B) tur ausgeschlossen werden dürfen. Wir Bundestagsabge- der SPD! Herzlichen Dank für den Antrag. Er ist diesmal (D)
ordnete haben jetzt die Verantwortung, gleiche Bil- 15 Seiten lang. Der Antrag ist – das muss ich zugeben –
dungschancen sicherzustellen. Bisher war dies allein eine gute Basis für eine sachliche Auseinandersetzung.
Aufgabe der Länder. Wir fordern eine gemeinsame Bil- Sie loben uns zuweilen, Sie kritisieren uns zuweilen, und
dungsoffensive von Bund, Ländern und Kommunen. am Ende legen Sie konkrete Vorschläge auf den Tisch.
(Beifall bei der SPD) Wir sollten uns hier jetzt aber nicht nur über Gemein-
samkeiten austauschen, sondern wir sollten auch, weil
Wir dürfen es uns nicht leisten, auf das Können und Sie die Themen – Mindestlohn und andere – so ange-
die Begabung auch nur eines unserer Kinder zu verzich- sprochen haben, wie Sie es getan haben, die fundamenta-
ten. Das dürfen wir nicht zulassen. Deutschland gibt ins- len Unterschiede herausstellen. Frau Hiller-Ohm, ich
gesamt nur 4,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für kann jetzt natürlich nicht auf jeden Punkt eingehen, aber
Bildung aus. Wir liegen damit deutlich unter dem es gibt auf der ersten Seite des Antrags eine schöne Prä-
OECD-Durchschnitt. Island und die USA investieren ambel, in der Sie die drei großen Punkte zum Ausdruck
fast 8 Prozent. Nur mit mehr und besserer Bildung und bringen. Sie schreiben erstens, dass Sie daran zweifeln,
Ausbildung können wir das ändern und dem drohenden dass das, was berechnet wird, verfassungsgemäß ist.
Fachkräftemangel begegnen. Zweitens fordern Sie die Einführung eines Mindest-
(Beifall bei der SPD) lohns, auch um – das hatten Sie gesagt – dem Problem
der Aufstocker zu begegnen. Der dritte Punkt bezieht
Dies gelingt nur, wenn wir alle Kinder und Jugendli- sich auf das Bildungs- und Teilhabepaket.
che mitnehmen. Deshalb fordern wir dazu auf, dass auch
Kinder von Geringverdienenden in das Bildungspaket Ich möchte gerne auf diese Punkte eingehen. Der
und die Versorgung mit warmen Mittagessen einbezogen erste Punkt betrifft das Existenzminimum. Wir haben bei
werden. Gerechte Teilhabe ist nur möglich, wenn Ganz- der Berechnung nicht viel anders gemacht als Sie da-
tagsschulen und Kitas bedarfsdeckend ausgebaut wer- mals. Wir haben die existenzsichernden Positionen ge-
den. Kinder und Angebote müssen zusammengebracht nommen, die neuen Positionen, und – jetzt kommt es –
werden. Mit einem Ausbau der Sozialarbeit an Schulen wir haben Wertentscheidungen getroffen. Wenn Sie jetzt
und Kitas kann das gelingen. in diesem Antrag fordern, dass wir für diese Wertent-
scheidung eine Sonderauswertung brauchen, haben Sie,
In unserem Antrag geht es aber nicht nur darum, Be- glaube ich, das Urteil aus Karlsruhe nicht richtig ver-
dürftigen eine verfassungsfeste und menschenwürdige standen. Denn die Karlsruher Richter haben gesagt, dass
Grundsicherung zu gewährleisten. Wir müssen verhin- diese Wertentscheidung eine politische Entscheidung ist.
7726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Carsten Linnemann


(A) Genauso wie Sie damals entschieden haben, dass Frau Hiller-Ohm, Sie haben es angesprochen: Die (C)
Glücksspiel und Flugreisen nicht zum Regelsatz gehö- kommunalen Strukturen bzw. die Kommunen müssen
ren, haben wir jetzt entschieden, dass auch Alkohol und eingebunden werden. Das ist ein konstruktiver Vor-
Zigaretten nicht dazugehören. Das sind Wertentschei- schlag. Wir sehen das genauso.
dungen; da bedarf es keiner Sonderauswertung.
(Elke Ferner [SPD]: Aha! Das Ministerium
(Elke Ferner [SPD]: Sie rechnen sie aber sah das aber anders!)
falsch heraus!)
Man muss Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit
Diese Wertentscheidung war vielmehr eine politische und mit dem Ministerium führen. Man muss aber auch
Entscheidung. Es war richtig, dass wir sie getroffen ha- Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden füh-
ben. ren, um sie einzubinden; das sehen wir genauso. Wenn
wir die Zeit nutzen, auch im Rahmen der Anhörung,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
werden wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Zum Mindestlohn und zur Aufstockerdebatte. Ich bin Will man konstruktiv zusammenarbeiten, muss man über
Ihnen ein bisschen dankbar, dass Sie das ansprechen. In diese Themen sprechen.
meiner Zeit als Abgeordneter gibt es kaum ein Thema in
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Dann laden Sie
der Arbeitsmarktpolitik, bei dem die veröffentlichte
uns doch mal ein!)
Meinung bzw. die öffentliche Meinung und die tatsächli-
che Gemengelage so weit auseinanderliegen wie bei der Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Aufstockerproblematik, die Sie gerne mit einem Min-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
destlohn beheben wollen.
Ich habe hier die druckfrischen Zahlen der Bundes- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
agentur für Arbeit, den Monatsbericht Oktober. Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katja
(Elke Ferner [SPD]: Oh! Wie beeindruckend! – Kipping das Wort.
Weiterer Zuruf von der SPD: Sie sind ja der (Beifall bei der LINKEN)
Klassenprimus!)
– Ja, ich bin gut vorbereitet. – Demnach gibt es in Katja Kipping (DIE LINKE):
Deutschland 1,37 Millionen Aufstocker. Rund 684 000, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Fe-
also knapp 700 000 der Aufstocker haben einen Job, in bruar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht
dem sie bis zu 400 Euro pro Monat verdienen. 225 000 geurteilt, dass die Hartz-IV-Regelsätze nicht der Men-
(B) von ihnen haben einen sogenannten Midijob und verdie- schenwürde entsprechen (D)
nen zwischen 400 und 800 Euro im Monat. Zusammen
machen sie rund 75 Prozent aller Aufstocker aus. (Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Das hat in
Karlsruhe niemand entschieden!)
Diese Menschen können von ihrem Lohn nicht leben,
und transparent neu zu berechnen sind. Der Gesetzent-
weil sie zu wenige Stunden arbeiten. Bei den restlichen
wurf von Schwarz-Gelb wird dem nicht gerecht. Ich
334 000 Menschen, die einen Vollzeitjob haben, handelt
finde, daran muss noch vieles geändert werden.
es sich in der Regel um Menschen mit Familien. Da Sie
sich auf die Ergebnisse der Studien des IAB und des IZA (Beifall bei der LINKEN)
berufen, müssten Sie so redlich sein, diese Personen he-
rauszurechnen. Das geht. Würden Sie das tun, müssten Alle drei Oppositionsfraktionen – Sie werden wahr-
Sie allerdings nicht einen Mindestlohn von 8,50 Euro scheinlich sagen, dass das zu erwarten war –, aber auch
pro Stunde, sondern einen Mindestlohn von 12 oder alle Sozialverbände kritisieren, dass sich die Regierung
13 Euro pro Stunde fordern. Dann wären die Aufstocker gegenüber dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
herausgerechnet. sehr ignorant verhält. Oder können Sie mir auch nur ei-
nen Sozialverband nennen, der den vorliegenden Gesetz-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der entwurf als mit dem Urteil des Bundesverfassungsge-
LINKEN – Anette Kramme [SPD]: Aber Sie richts völlig übereinstimmend bezeichnet? Sollte Ihnen
werden doch wohl nicht bestreiten, dass das nicht zu denken geben, dass Sie nicht einen einzigen So-
eine Entlastung bringt!) zialverband, der sich unterstützend an Ihre Seite stellt,
nennen können?
– Frau Kramme, das waren die Zahlen der Bundesagen-
tur für Arbeit. Diese Zahlen sind seriös und aktuell. Ich Klar ist: Die Herangehensweise von Schwarz-Gelb ist
wollte sie Ihnen nur ganz sachlich präsentieren, damit voller Tricks und voller Abschläge. Die vier Minuten
wir diese Debatte auf der richtigen Grundlage führen. Redezeit, die ich habe, reichen nicht aus, um alle Tricks
auch nur zu nennen.
(Anette Kramme [SPD]: Leider erklären Sie
aber immer wieder den gleichen Mist!) Um eine Ungereimtheit zu erläutern: Die Regelsatz-
höhe wird auf Grundlage der Einkommens- und Ver-
– Frau Kramme, ich kann Ihnen gerne entgegenkom-
brauchsstichprobe errechnet. Zur Erläuterung: Einkom-
men. Wenn Sie das wollen, kann ich auch einen versöhn-
mens- und Verbrauchsstichprobe meint, dass viele
lichen Abschluss finden.
Haushalte drei Monate lang ihre Ausgaben in einem
(Anette Kramme [SPD]: Oh ja! Unbedingt!) Haushaltsbuch festhalten, und daraus wird dann der Re-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7727
Katja Kipping
(A) gelsatz abgeleitet. Interessanterweise sind in die jetzige (Beifall bei der LINKEN) (C)
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vier Personen
eingeflossen, die für Ernährung bzw. Nahrungsmittel In dem vorliegenden Antrag wird das schwarz-gelbe
0 Cent ausgegeben haben. Nur zur Erinnerung: Wir re- Herangehen zu Recht kritisiert; denn der Gesetzentwurf
den über einen Zeitraum von drei Monaten. von Schwarz-Gelb enthält auch jede Menge Verschlech-
terungen. Sie führen zum Beispiel eine neue Regelbe-
Als ich diesen Umstand im Ausschuss ansprach, war darfsstufe 3 ein, das heißt, für Erwachsene, die mit ande-
der Staatssekretär ganz überrascht, weil er ihm selbst of- ren Erwachsenen zusammen im Haushalt leben, sollen
fensichtlich nicht aufgefallen war. nur noch 80 Prozent des Regelsatzes gezahlt werden.
Hinter diesem spröden Begriff „Regelbedarfsstufe 3“
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wie verstecken sich womöglich schlimme Verschlechterun-
signifikant ist denn das?) gen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderung. Be-
Seine Mitarbeiter haben dann bestätigt: Ja, es gibt vier hindertenverbände befürchten, dass erwachsene Behin-
Haushalte, die über drei Monate hinweg 0 Cent für Nah- derte, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung weiter bei
rungsmittel ausgegeben haben. Meine Damen und Her- ihren Eltern leben, in Zukunft nicht mehr 100 Prozent
ren, ich kenne einige Leute, die ab und zu fasten. Aber des Regelsatzes bekommen, sondern nur noch 80 Pro-
ich kenne niemanden, der es ausgehalten hat, drei Mo- zent. Das wären immerhin 73 Euro im Monat weniger.
nate lang nur von Luft und Liebe zu leben. Hier müssten Ich habe im Ausschuss dreimal nachgefragt, ob Sie
auch Sie stutzig werden und sagen: In der EVS gibt es ausschließen können, dass es zu Verschlechterungen
Ungereimtheiten. – Diese Zahlen kann man doch nicht kommt.
blind übernehmen!
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das sind nicht-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias öffentliche Ausschusssitzungen!)
Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Ihnen doch im
Ausschuss erklärt worden! Warum wiederho- Ich habe ausschweifende Antworten gehört, aber Sie ha-
len Sie das hier?) ben nicht klar gesagt: Ja, das können wir ausschließen.
Deswegen fordere ich Sie auf: Stellen Sie hier eindeutig
– Im Ausschuss ist mir recht gegeben worden, Herr fest, dass nicht geplant ist, dass es zu Verschlechterun-
Zimmer. gen für Behinderte kommt, die auf Hartz IV angewiesen
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Oh nein!) sind. Diese Menschen haben es ohnehin nicht leicht.

Sie berufen sich auf die Abschläge für Alkohol und (Beifall bei der LINKEN)
(B) spielen dabei mit Vorurteilen, die gegenüber Erwerbslo- Um das zusammenzufassen und zum Abschluss zu (D)
sen bestehen. Ich will in Erinnerung rufen, dass man kommen, kann ich nur sagen: Wir sagen Nein zu den
dazu auch eine andere Meinung haben kann. Herr schwarz-gelben Rechentricks, damit wir Ja zu dem
Straubinger von der CSU zum Beispiel hat im Ausschuss Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe sagen können.
gesagt: In Bayern gehört Bier zu den Grundnahrungsmit- Die Linke meint: Wenn man das Urteil ernst nimmt,
teln. Ich würde nicht so weit gehen, Bier als Grundnah- dann muss man erstens die Sanktionen abschaffen, zwei-
rungsmittel zu bezeichnen. Aber ich finde, zum kulturel- tens die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand stellen
len Standard unserer Gesellschaft gehört, dass man bei und drittens den Regelsatz deutlich erhöhen;
einer Familienfeier ein Glas Wein ausgeben oder bei ei-
nem Treffen mit Freunden ein Bier trinken darf. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das steht aber
nicht im Urteil!)
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder
[CDU/CSU]: Das verbietet niemand!) denn ein Regelsatz, der ohne Rechentricks berechnet
worden ist und der sowohl für gesunde Ernährung als
Im Übrigen: Durch die Kürzung des Regelsatzes um auch für ein Monatsticket ausreicht, muss deutlich höher
16 Euro werden eben nicht nur die Menschen getroffen, sein.
die trinken und rauchen, sondern auch die Menschen, die
sich mit dem Geld einfach richtig gesund ernähren oder Danke schön.
Spielsachen für Kinder kaufen wollen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ten der SPD)
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
Sie tun hier so, als ob es bei den Abschlägen immer FDP-Fraktion.
nur um Zigaretten und Alkohol geht. Man muss hier
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
doch noch einmal in Erinnerung rufen, dass es in sehr
vielen Bereichen Abschläge gibt. Sie sind zum Beispiel
der Meinung, wer auf Hartz IV angewiesen sei, der habe Pascal Kober (FDP):
kein Anrecht auf eine Hausratversicherung, der müsse Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
kein Geld für Blumen ausgeben usw. Diese Herange- Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es freut mich,
hensweise und dieses Menschenbild teilen wir Linke dass Sie sich nun auch konkret in die Debatte einbrin-
nicht. gen. Allein das Wie überzeugt mich nicht.
7728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Pascal Kober
(A) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das haben wir gründung dafür, die sich auch im Gesetzentwurf der Ko- (C)
schon immer gemacht!) alitionsfraktionen findet.
Sie werfen der Regierungskoalition Fehler bei der Be- (Elke Ferner [SPD]: Das wusste auch das Ver-
rechnung der Regelsätze vor und sprechen davon, dass fassungsgericht und hat es trotzdem ange-
die Regelbedarfe nicht transparent und nicht in einem mahnt!)
methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt worden sind. Ich zitiere aus der Begründung:
(Anette Kramme [SPD]: Sie könnten eigent- Hinzu kommt, dass aufgrund der Vielgestaltigkeit
lich einen Kassettenrekorder laufen lassen! der Einkünfte von Haushalten eine Einzelfallaus-
Das erzählen Sie jedes Mal!) wertung der Haushalte erfolgen müsste, die weder
Diese Aussage ist schlichtweg falsch, liebe Frau durch Wissenschaft noch durch das Statistische
Kramme. Bundesamt zu leisten wäre.

Innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht ge- (Anette Kramme [SPD]: Sie haben das Gegen-
währten Zeit haben wir die Vorgaben des Bundesverfas- teil gesagt! Sie haben gesagt, Sie können es!)
sungsgerichts mithilfe der Einkommens- und Ver- In Verdachtsfällen müssten die zuständigen Träger
brauchsstichprobe aus dem Jahr 2008 umgesetzt. Noch nach dem SGB II oder dem SGB XII eine Einkom-
nie wurden in der Politik die Regelsätze so nachvollzieh- mens- und Vermögensprüfung durchführen, um
bar und transparent ermittelt, wie dies nun die Regie- festzustellen, ob eine Person beziehungsweise ein
rungskoalition getan hat. Haushalt hilfebedürftig ist.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, man
Ferner [SPD]: Das ist ja lächerlich!) kann zwar vieles für wünschenswert erachten, dabei
sollte man jedoch auch versuchen, seinen Wunsch und
Sie kritisieren die Einkommens- und Verbrauchsstich- die gestaltbare Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
probe als Berechnungsgrundlage für die Referenz-
gruppe. (Elke Ferner [SPD]: Es geht nicht um Wün-
sche! Es geht um Verfassungskonformität! –
(Elke Ferner [SPD]: Ja!) Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer
Bei den Paarhaushalten mit Kind bleiben nach dem He- [CDU/CSU]: Sie ist verfassungskonform!)
rausrechnen derjenigen, die komplett von Transferleis- Dies gelingt Ihnen mit Ihren Forderungen zum jetzigen
tungen leben, die untersten 20 Prozent der Haushaltsnet- Zeitpunkt aber noch nicht. (D)
(B)
toeinkommen übrig. Dabei kommen wir beim
Nettoeinkommen auf einen Grenzwert von über 2 500 (Beifall bei der FDP)
Euro. Ich finde, dass wir diese Zahl ruhig mehr in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, sodann kritisieren
Mittelpunkt der Debatte stellen sollten. Für die Berech- Sie die Fortschreibung der Regelsätze, wie sie die Koali-
nung des Regelsatzes orientieren wir uns an den Ausga- tion plant, nämlich die Orientierung an der Nettolohn-
ben, die Haushalte tätigen, die über ein Nettoeinkommen entwicklung zu 30 Prozent und an der regelsatzrelevan-
von bis zu 2 500 Euro verfügen. ten Preisentwicklung zu 70 Prozent. Sie halten die
Bei den Einpersonenhaushalten haben wir zur Ermitt- teilweise Koppelung an die Nettolöhne für falsch.
lung des Grenzwertes der Nettoeinkommen die unteren Doch wie war die Regelung in den letzten Jahren?
23,6 Prozent der Nettoeinkommen berücksichtigt. Rech-
net man hier die Empfänger heraus, die vollständig von (Elke Ferner [SPD]: Sie ist ja vom Verfas-
Transferleistungen leben, dann wird die Referenzgruppe sungsgericht verworfen worden!)
in der Tat kleiner. Der für die Höhe des Regelsatzes aber Es war eine Koppelung an die Rentenentwicklung, die
im Besonderen maßgebliche Grenzwert der Nettoein- wiederum von den Nettolöhnen abhängt. Eine Koppe-
kommen bleibt dadurch hingegen unverändert. lung über das Vehikel der Rentenentwicklung fanden Sie
(Anette Kramme [SPD]: Das stimmt doch gar die letzten Jahre über in Ordnung. Einen Mischindex
nicht! – Elke Ferner [SPD]: Warum haben Sie halten Sie jetzt für falsch.
ausgerechnet 23,6 Prozent genommen?) (Elke Ferner [SPD]: Das ist der Unterschied zwi-
schen Rentenanpassung und Nettolöhnen!)
Das ist nicht willkürlich festgelegt, sondern das steht
vollkommen in Einklang mit dem Urteil des Bundesver- Das glauben Ihnen die Menschen nicht, zumal wir ge-
fassungsgerichts. genwärtig auch nur eine Übergangslösung brauchen, bis
die laufende Wirtschaftsrechnung die Grundlage für die
Des Weiteren kritisieren Sie, dass das Phänomen der Anpassung sein kann.
sogenannten verschämten Armut – dabei geht es um die-
jenigen, die eigentlich Sozialleistungen erhalten könnten, (Zuruf der Abg. Anette Kramme [SPD])
dies aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht tun –
– Anscheinend treffen Sie meine Worte, Frau Kramme,
nicht berücksichtigt wird. Das ist zunächst richtig. Aber
so aufgeregt wie Sie heute sind. –
Sie übersehen oder verschweigen wieder einmal den
Hintergrund. Denn es gibt eine nachvollziehbare Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7729
Pascal Kober
(A) Sie wird in den kommenden Jahren breiter und differen- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
zierter aufgestellt und schneller ausgewertet werden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
können. Dann werden wir sie für die Fortschreibung des Kober, ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, hier mit
Regelsatzes nutzen. Zurzeit geht es um eine Übergangs- dem Finger auf andere zu zeigen. Die Verantwortlichkei-
lösung. ten und Fehler, die sicherlich gemacht worden sind, sind
von fast allen Fraktionen im Hause gemeinsam gemacht
Abschließend möchte ich noch zu den Bildungs- und worden. Denn die Regelsatzverordnung ist von der Bun-
Teilhabechancen von Kindern kommen. Die Koalition desregierung und den Landesregierungen verabschiedet
hat jetzt zum ersten Mal den Regelbedarf von Kindern worden. So viel zur historischen Wahrheit.
eigenständig und transparent berechnet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Caren Marks [SPD]: Das stimmt ja gar nicht!) und bei der SPD)
Wir schnüren das Bildungspaket von 620 Millionen Wenn an dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf
Euro pro Jahr. Wir sorgen dafür, dass Kinder dort, wo es eines transparent und nachvollziehbar ist, Herr Kober,
gemeinsames Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen dann ist es Ihre Absicht, die Bezieherinnen und Bezieher
können. Sie werden am kulturellen und sportlichen Le- von Arbeitslosengeld II zu diskriminieren.
ben teilhaben können, und sie haben in Zukunft die
Möglichkeit, auch an eintägigen Klassenfahrten teilneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
men zu können. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit geben wir jedem
Kind die Möglichkeit zur Entwicklung seiner Fähigkei- Das wird an verschiedenen Stellen in dem Gesetzent-
ten. Es darf nicht durch die persönliche Lebenssituation wurf deutlich, zuvörderst im Bereich der Regelleistun-
seiner Eltern beeinträchtigt werden. gen, indem Sie zum Beispiel eine vollkommen aner-
kannte und übliche Kulturdroge, nämlich den Alkohol,
Aber was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Regelleistung herausnehmen. Es ist schon ein
der SPD, in den Jahren Ihrer Regierungszeit für die Kin- starkes Stück, Herr Linnemann, das mit Flugreisen zu
der getan? vergleichen.
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Da waren die Diskriminierend ist auch, dass Sie etwa Arbeitslosen-
Länder zuständig!) geld II beziehenden Eltern nicht zugestehen wollen, mit
ihrem Kind in die Eisdiele zu gehen und sich ein Eis zu
Sie kritisieren heute, dass nicht jedes Kind von den zu- kaufen.
(B) sätzlich zur Verfügung stehenden Geldern ein Musikin- (D)
strument kaufen kann. Das ist richtig: zumindest nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
jedes Musikinstrument. DIE GRÜNEN und der SPD)
(Elke Ferner [SPD]: Welches denn? Eine Es gibt noch eine Reihe von Regelungen, die einem
Maultrommel vielleicht?) zwar nicht direkt ins Auge stechen, die aber auch zeigen,
dass Sie im Sozialrecht jetzt mit zweierlei Maß messen.
Aber was haben Sie in den letzten Jahren in dieser Rich- Zum Beispiel wollen Sie laut Ihrem Gesetzentwurf Dar-
tung gemacht? Nichts haben Sie gemacht. lehen als Einkommen anrechnen.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Lüge, und das (Anette Kramme [SPD]: Pfui!)
wissen Sie auch!)
Das ist ein glatter Bruch mit den bisherigen Prinzipien
Sie kritisieren hier, dass die Koalition nicht genug ge- der Einkommensanrechnung in bedürftigkeitsabhängi-
macht hat. Aber Sie müssen dann auch offen sagen, dass gen Sozialsystemen. Wissen Sie, was das zur Folge ha-
Sie das Thema der Chancen von Kindern im Rechtskreis ben wird? Der Bezieher von Arbeitslosgengeld II, des-
des SGB II in den letzten Jahren überhaupt nicht interes- sen Kühlschrank kaputtgeht und der die Gelegenheit hat,
siert hat. sich von einem Freund 100 Euro zu leihen, um einen ge-
brauchten Kühlschrank zu kaufen, wird diese Gelegen-
Diese Koalition handelt für die Kinder. Ihr Antrag
heit in Zukunft nicht mehr wahrnehmen können. Er wird
hingegen will nur von Ihren Fehlern in der Vergangen-
zur Bundesagentur für Arbeit gehen, einen umfänglichen
heit ablenken. Das aber gelingt Ihnen nicht.
Streit darüber führen, ob der entsprechende Bedarf unab-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. weisbar ist oder nicht, und sein Darlehen schließlich von
der Bundesagentur für Arbeit bekommen. Möglicher-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke weise gibt es obendrein noch ein Sozialgerichtsverfah-
Ferner [SPD]: Wenn es nach Ihnen gegangen ren.
wäre, hätten sie gar nichts gekriegt!)
Was wollen Sie denn eigentlich? Reichen Ihnen die
1,1 Millionen Darlehen, die die BA jetzt schon verwal-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ten muss, nicht aus? Wollen Sie sie noch weiter zur
Das Wort hat nun der Kollege Markus Kurth für die größten Bad Bank für Arme machen? Das ist doch ab-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. surd!
7730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Markus Kurth
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C)
bei der SPD und der LINKEN – Pascal Kober Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
[FDP]: Von der falschen Annahme ausgehend, liebe Kollegen! Lieber Herr Kurth, liebe Frau Kollegin
dass die Menschen dauerhaft in Bezug von Hiller-Ohm, wenn man Sie reden hört, hält man es nicht
ALG II sind!) für möglich, dass Sie bei Einführung der SGB-II-Rege-
lungen in der bis vor kurzer Zeit geltenden Form tatsäch-
Eine weitere diskriminierende Regelung ist die Ver- lich an der Regierung waren.
kürzung der Nachzahlungspflicht bei falschen Beschei-
den von vier Jahren auf ein Jahr. Allen anderen Sozial- (Anette Kramme [SPD]: Wir lernen im Gegen-
leistungsbeziehern – etwa Rentnerinnen und Rentnern – satz zu Ihnen dazu!)
werden bei einem falschen Bescheid die Leistungen für Sie, Herr Kurth, rufen: „Haltet den Dieb!“, haben uns
vier Jahre nachgezahlt. Nur bei Beziehern von Arbeitslo- das aber selbst mit eingebrockt. Es stünde uns allen gut
sengeld II soll das jetzt nur noch für ein Jahr gelten. an, liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, einfach zu sagen:
Auch das ist eine Diskriminierung, ebenso wie der Ver- Wir haben es nicht richtig gemacht, wir sind jetzt aber
zicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung auf dem Weg, es besser zu machen.
von Sanktionen. Es ist vollkommen unerheblich, ob es
sich um sogenannte Wiederholungstäter handelt oder (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das brauchen
nicht. Es wird ein Spezialrecht für Bezieher von Arbeits- wir nicht! Das gibt doch das Verfassungsge-
losengeld II eingeführt. Wie kann man das anders als richtsurteil vor!)
Diskriminierung bezeichnen? In Ihrem Antrag vom 10. November 2010 heißt es –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich zitiere –:
und bei der SPD) Der Bundestag wolle beschließen:
Den größten Fehler drohen Sie zu begehen, indem Sie I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Sachleistungen und Gutscheine für Kinder einführen. Es
zeichnet sich immer offensichtlicher ab, dass dies in Wi- Der Bundestag bedauert …
derspruch zu den vorhandenen Strukturen der Kinder- Sie wünschen, dass wir beschließen, dass wir feststellen,
und Jugendhilfe steht. Möglicherweise erzielen Sie so- dass wir bedauern sollen. Ist das richtig?
gar kontraproduktive Effekte, wenn derzeit ermäßigte
oder kostenfreie Regelangebote der Kinder- und Jugend- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
hilfe einfach mit dem Gutschein verrechnet werden und wie des Abg. Pascal Kober [FDP])
unter dem Strich kein Ausbau von Infrastruktur und För- Ich glaube, dass diesem Antrag zu Recht keine Mehrheit (D)
(B) derangeboten erfolgt.
beschieden sein wird.
Das alles ist überhaupt nicht durchdacht. Sie haben in Zum Inhalt. In Ihrem Antrag steht – ich zitiere –:
der Sommerpause überlegt, wie Sie glänzen können. Die
Ministerin hielt dann die Chipkarte für eine gute Idee. Die Regelbedarfe werden nicht transparent und in
Im harten Licht der Praxis zeigt sich jetzt aber, wie einem methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt.
schwierig das ist. Vor allen Dingen zeigt sich jetzt die fa- Sie werden auf Grundlage der EVS transparent ermit-
tale Wirkung des Kooperationsverbots, das die Große telt; das wissen Sie doch. Sie werden in einem metho-
Koalition mit der Föderalismusreform beschlossen hat. disch schlüssigen Verfahren ermittelt. Entsprechend der
zutreffenden Kritik des Bundesverfassungsgerichts an
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Pauschalierung der Regelsätze für Kinder werden die
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Abschläge für Kinder erstmalig transparent gemacht;
Katja Kipping [DIE LINKE] – Gabriele Hiller- dies wird mit eigenen Bedarfssätzen für Kinder unter-
Ohm [SPD]: Leider! Leider!) legt.
Anstelle eines möglicherweise diskriminierenden Ein-
zelgutscheins wäre das Zusammenwirken von Kommu- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nen, Ländern und Bund im Bereich von Bildung und Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Die Kollegin
Kinderförderung außerordentlich dringend notwendig. Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich hoffe, dass Sie diesbezüglich noch einmal in sich ge-
hen und zu Einsicht gelangen. Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Vielen Dank. Ja, selbstverständlich. – Ich wäre ohnehin noch zu Ih-
nen gekommen – rhetorisch natürlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Lehrieder, Sie haben unterstrichen, dass die Re-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gelsätze transparent berechnet werden. Können Sie er-
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für läutern, warum Ihre Fraktion und die FDP-Fraktion im
die Fraktion der CDU/CSU. Ausschuss allen Oppositionsfraktionen verwehrt haben,
alternative Berechnungen in Auftrag zu geben? Es ging
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns nur um alternative Berechnungen, die erst einmal In-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7731
Katja Kipping
(A) formationen darüber geliefert hätten, was es überhaupt desverfassungsgericht habe höhere Bedarfssätze vorge- (C)
bedeutet, wenn verdeckt Arme herausgerechnet werden. schrieben. Das stimmt schlichtweg nicht. Ich habe das
Sie können sich nicht wie der Kollege Kober hinter dem schon einmal in einer Rede vor diesem Hause vorgetra-
Statistischen Bundesamt verstecken; denn wir wissen gen.
sehr wohl, dass das Statistische Bundesamt in der Lage
wäre, Haushalte aus der Referenzgruppe herauszurech- (Elke Ferner [SPD]: Sie wollen doch nicht be-
nen, die nur einen minimalen Hinzuverdienst haben. Sie streiten, dass die Datensätze, die Sie jetzt er-
wollten das nicht. Jetzt sagen Sie mir einmal bitte, wie mittelt haben, auf statistisch sehr invalider Da-
das Verweigern von alternativen Berechnungen mit tenbasis beruhen!)
Transparenz zu vereinbaren ist. – Stellen Sie mir eine Zwischenfrage. Ich verstehe Sie so
schlecht.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
(Elke Ferner [SPD]: Ich verstehe Sie trotzdem! –
Frau Kollegin Kipping, Sie selber wissen, dass zur Anette Kramme [SPD]: Keine zusätzliche Re-
Vermeidung von Zirkelschlüssen die Betroffenen ohne- dezeit für Herrn Lehrieder!)
hin herausgerechnet worden sind.
Im Übrigen hätte die Neuberechnung zu einer geringfü-
(Elke Ferner [SPD]: Aber nicht alle!) gigen Senkung der Regelsätze für Kinder und Jugendli-
– Über die 13 Prozent bzw. die 20 Prozent kann man che führen müssen. Auch das wissen Sie. Darüber haben
sich trefflich streiten. – Wir können natürlich die Be- wir im Ausschuss gesprochen. Ausgerechnet worden
rechnungsmethoden infrage stellen und für alternative sind für Kinder von 0 bis 6 Jahren 213 Euro – das wären
Berechnungen plädieren. Es handelt sich um Kohorten, 2 Euro weniger als heute –, für Kinder von 6 bis 14 Jah-
die bis zu einem gewissen Grad auf kleine Gruppen be- ren 242 Euro – das wären 9 Euro weniger als heute – und
schränkt werden können. Sie werden aber nicht jeden in- für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren – das ist die neu
dividuellen Fall in der Berechnung abbilden können, eingeführte Gruppe – 275 Euro, also 12 Euro weniger
Frau Kollegin Kipping. als derzeit. Wir haben die Beträge natürlich nicht redu-
ziert, weil wir die Kinder und Jugendlichen in der Ge-
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das Statistische sellschaft stärker unterstützen wollen. Die betroffenen
Bundesamt kann das! Sie lassen das nicht zu!) Familien genießen Vertrauensschutz.
Sie müssten versuchen, für jeden Einzelfall eine ge- Herr Kollege Strengmann-Kuhn möchte mich etwas
rechte Lösung zu finden, was mit einem nicht mehr zu fragen.
rechtfertigenden Verwaltungsaufwand verbunden wäre. (D)
(B)
Die EVS ist zugrunde gelegt worden, die im Übrigen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nicht wir erfunden haben, sondern die wir fortentwickelt
haben. Sie hat in der letzten Zeit zutreffende Ergebnisse Ich habe es gerade gesehen. – Bitte.
geliefert. Der von Ihnen in der Frage aufgeworfene (Anette Kramme [SPD]: Muss das sein, die zu-
Sachverhalt, warum die Angaben der Haushalte mehrere sätzliche Redezeit?)
Monate keinen Betrag für Lebensmittel enthalten haben,
erschließt sich mir auch nicht.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
(Elke Ferner [SPD]: Langsamer! Sprechen Sie DIE GRÜNEN):
deutlicher! Denken Sie doch mal an die Steno- Herr Kollege Lehrieder, Sie haben gesagt, dass es un-
grafen!) weigerlich so war, dass die Regelsätze für die Kinder ge-
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass man hier eine ringer ausfallen als bisher. Können Sie mir Folgendes er-
größere Menge eingekauft hat, die vielleicht noch im klären? Bei den 14- bis 18-Jährigen sind Sie in Ihren
Keller liegt. Man kann natürlich Alternativberechnungen Berechnungen davon ausgegangen, dass sie genauso viel
durchführen bis zum Gehtnichtmehr. Es ist das Vorrecht Alkohol und Tabak konsumieren wie Erwachsene. Bei
der Opposition, das zu fordern und pauschal auf Alterna- den jüngeren Kindern wurden diese Posten durch ent-
tiven hinzuweisen. Wir haben aber ein schlüssiges, vom sprechende Beträge für Nahrungsmittel ersetzt. Ansätze
Bundesverfassungsgericht nicht beanstandetes Verfahren für Alkohol und Tabak gab es nur für die Eltern. Mit
zur Ermittlung der Regelsätze angewandt. Das wird auch welcher Begründung gehen Sie davon aus, dass 14- bis
in Zukunft vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand 18-Jährige genauso viel Tabak und Alkohol konsumie-
haben. Damit habe ich kein Problem. ren wie Erwachsene?

(Elke Ferner [SPD]: Die Stenografen können


Paul Lehrieder (CDU/CSU):
einem nur leidtun!)
Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen so gut wie ich,
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht da- dass wir bisher in den Pauschalbeträgen – ob 60, 70 oder
rüber hinaus, dass nicht festgestellt werden kann, dass 80 Prozent des Erwachsenenbedarfssatzes – auch für
der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres Kleinkinder bis sechs Jahre immer einen anteiligen Satz
geltende Betrag von 207 Euro – das war der damals für Tabak und Alkohol gehabt haben. Ich kenne kein
einheitlich geltende Betrag – ein menschenwürdiges fünfjähriges Kind, das mit der Kippe durch die Gegend
Existenzminimum nicht ermöglicht. Sie sagen, das Bun- läuft.
7732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Paul Lehrieder
(A) (Elke Ferner [SPD]: Wir sind uns aber schon und Jugendlichen gleiche Bedingungen für die beste Bil- (C)
einig, dass sie unter 18 Jahren gar keine Ziga- dung zu ermöglichen. Deshalb müssen wir die Grund-
rette rauchen sollen?) sicherung künftig so ausrichten, dass Kinder von Lang-
zeitarbeitslosen bessere Bildungschancen und mehr
Es waren also Bedarfssätze dabei, die einfach nicht ge- Aussicht auf ein Leben in Arbeit haben als ihre Eltern.
passt haben. Diese sind jetzt nicht mehr dabei.
Es ist richtig: Erstmalig ist künftig ein Bildungsansatz
Wir haben insgesamt eine Wertung getroffen – Kol- mit Bildungsangeboten enthalten. Es geht nicht nur um
lege Linnemann hat darauf hingewiesen –, die uns vom die Absicherung der materiellen Bedürfnisse, sondern es
Verfassungsgericht auch zugestanden wurde, und haben geht vielmehr auch um die Absicherung der immateriel-
gesagt: Zur Existenzsicherung gehören Genussmittel len Bedürfnisse, es geht, wie das Verfassungsgericht so
eben nicht in diesem Umfang. schön schreibt, um die Teilhabe an der Gesellschaft. Da-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei geht es nicht nur um Kinder, deren Eltern Hartz IV
NEN]: Sie machen 14-Jährige zu Rauchern beziehen, sondern auch um die Kinder der Geringverdie-
und zu Trinkern!) ner, der Aufstocker. Bei unseren Berechnungen dürfen
wir auch diese nicht aus dem Blick verlieren. Auch ih-
Als Franke aus einer Weinbauregion sehe ich das na- nen müssen wir Perspektiven eröffnen; denn in jedem
türlich mit gemischten Gefühlen. Ich bin froh, wenn un- Kind stecken Hoffnungen, Begabungen und Fähigkeiten.
ser Silvaner und die guten Schoppen aus Franken ver-
kauft werden können. Aber Wein ist nicht existenziell Wir werden die jetzt laufende Diskussion über den
notwendig. Ich kann mich auch von Mineralwasser, von sich abzeichnenden Facharbeitermangel auch dazu nut-
Grundnahrungsmitteln ernähren. zen müssen, um zu fragen: Wie können wir das errei-
chen, was unsere Arbeitsministerin in ihrer Zeit als Fa-
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber es ging milienministerin immer gesagt hat? Sie hat gesagt: Kein
um das soziokulturelle Existenzminimum und Kind darf verloren gehen. Wir sollten uns gemeinsam
nicht um das physische! – Zuruf der Abg. Elke anstrengen – das gilt auch für die Kollegen von der SPD –,
Ferner [SPD]) dass wir die Kinder bestmöglich fördern. Wir brauchen
Deshalb ist das, wie ich es gesagt habe, herausgerech- sie in den nächsten Jahren in unserer Gesellschaft.
net worden; deshalb haben wir den Tabak und den Alko- (Elke Ferner [SPD]: „Bestmöglich“ ist aber et-
hol komplett herausgerechnet. Sie werden die EVS was anderes!)
durchschauen können, wie Sie wollen, dort findet sich
auch kein eigener Bedarfssatz für Schokolade oder für Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Große
(B) Pralinés. Der eine mag es und gibt sein Geld dafür aus. Koalition hatte schon das Schulstarterpaket eingeführt. (D)
Die individuelle Kaufentscheidung des einzelnen Emp-
fängers können, wollen und werden wir nicht beeinflus- (Elke Ferner [SPD]: Gegen Ihren Widerstand!)
sen. Das heißt, ob er sich Schnaps dafür kauft oder eine – Darauf können Sie doch ein bisschen stolz sein. Jetzt
Urlaubsreise davon finanziert, ob er sich Pralinés kauft, tun Sie so, als sei das, was wir damals zusammen ge-
kann er doch selbst entscheiden. macht haben, alles falsch gewesen. Seien Sie froh. Das
(Elke Ferner [SPD]: Deshalb nehmen Sie das haben wir doch gut gemacht.
Geld für Tabak und Alkohol weg!) (Elke Ferner [SPD]: Sie wollten es doch zuerst
– Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen gar nicht! Geben Sie es doch wenigstens zu! –
muss. Gegenruf von der CDU/CSU: Es war Ihr Fi-
nanzminister, der dagegen war! – Gegenruf
Die Altersstufe zwischen 6 und 14 Jahren haben wir der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das stimmt über-
kürzlich neu eingeführt und hier nun 70 Prozent des Re- haupt nicht!)
gelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen – bisher
60 Prozent – vorgesehen. Das bedeutet immerhin pro – Wir haben uns eben von Ihnen ein Stück weit begeis-
Kind 35 Euro mehr. tern lassen.

Etwa 1,6 Millionen Kinder leben von den Regelleis- (Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/
tungen des SGB II. Darunter sind viele Kinder, deren Fa- DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi-
milien bereits in der dritten oder vierten Generation von schenfrage)
staatlicher Unterstützung leben. Auch das ist Ihnen be- – Die Kollegin Müller-Gemmeke möchte gerne etwas
kannt. Das soll nicht so bleiben. Deshalb sehe ich unsere fragen. Ich würde die Zwischenfrage zulassen.
zentrale Aufgabe darin, Menschen wieder in Beschäfti-
gung zu bringen und Kindern aus diesen Familien eine (Katja Kipping [DIE LINKE]: Herr Kollege
Perspektive zu geben. Das sollte unser vorrangiges Ziel Lehrieder, könnten Sie bitte bei Ihrer Antwort
sein. langsamer reden? Man versteht Sie so
schlecht! – Elke Ferner [SPD]: Langsamer und
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, inso- deutlicher!)
weit muss ich der Seite 1 Ihres Antrags widersprechen.
Die Bundesregierung begreift die Vorgabe des Bundes- – Ich wollte nur im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit
verfassungsgerichts eben doch als Chance, allen Kindern nicht allzu lange reden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7733

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Natürlich, wo es nötig ist. Das müssen wir herausarbei- (C)
Bitte sehr, Frau Müller-Gemmeke. ten. Das wird sich finden. Das werden wir definieren
können.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Kurth hat in seinem Beitrag vorhin ge-
NEN): sagt, er habe große Bedenken, weil bestehende Angebote
Herr Kollege Lehrieder, ich muss einmal nachfragen, zurückgefahren werden könnten. Ich habe mir das extra
weil Sie gerade gesagt haben, es solle kein Kind verloren einmal von meiner Sing- und Musikschule in Würzburg
gehen. Nun gibt es aber doch die Anweisung, dass für herausgesucht.
Kinder aus dem SGB-II-Bereich gelten soll: Wenn ein
Kind die Prognose hat, dass es die nächste Klassenstufe (Iris Gleicke [SPD]: Das sind lange sechs
nicht erreicht, wird die Lernförderung nicht genehmigt. Minuten!)
Wenn ein Kind Lernförderung erhalten soll, damit es auf – Das waren mehrere Fragen, Frau Kollegin. Wenn Sie
eine höhere Schule gehen kann, gibt es auch keine Lern- noch eine Frage stellen, können es noch längere sechs
förderung. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie Minuten werden. – Da gibt es schon Sozialtarife. Bei ei-
eben gesagt haben, dass nämlich speziell diese Kinder nem bestimmten Einkommen zahlt das Kind bereits
eine besondere Lernförderung erhalten und dass sie heute nicht für den Unterricht in der Sing- und Musik-
wirklich bessere Chancen haben sollen? schule. Das ist aber noch nicht flächendeckend so. Auch
beim warmen Mittagessen ist das noch nicht flächende-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ckend so.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Schulaufwands-
Frau Kollegin, Sie wissen so gut wie ich, dass es träger sich leichter tut, ein warmes Schulmittagessen an-
Nachhilfe in verschiedenen Situationen gibt. Einmal gibt zubieten, wenn eine bestimmte Nachfrage realistisch zu
es Nachhilfe, wenn das Kind Hilfe braucht, um über- erwarten ist. Von daher tun wir damit etwas für die be-
haupt im laufenden Unterricht mitzukommen. Auf der dürftigen Kinder, helfen darüber hinaus aber auch den
anderen Seite ist es oft genug so, dass die Eltern sagen: Schulen ein Stück weit, das entsprechend zu planen.
Mein Kind muss unbedingt auf die und die Schule kom- Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Lassen Sie
men. – Da muss man also in Absprache mit der Lehrer- uns das gemeinsam konstruktiv weiterentwickeln!
schaft differenzieren und schauen: Wo ist der Bedarf?
Wo kann eine Lernförderung gewährt werden? (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann müssen Sie auch mal etwas
Dass die Entscheidung darüber, wo eine Lernförde- annehmen, sonst ist das nicht konstruktiv!)
(B) rung zu gewähren ist, nicht im Jobcenter getroffen wer- (D)
den kann, sollte uns klar sein. Da gilt das, was der Kol- Wir haben Fehler der Vergangenheit ausgemerzt. Die
lege Linnemann vorhin gesagt hat und was, wie ich Fehler haben wir auf unsere gemeinsame Kappe zu neh-
annehme, Kollegin Lösekrug-Möller am Schluss harmo- men. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns an die Betroffe-
nisierend darstellen wird: Wir sind gut beraten, hier mit nen denken, an die bedürftigen Familien, an die bedürfti-
den bestehenden Einrichtungen der Jugendhilfe, der gen Kinder! Wir sollten uns hier nicht nur streiten,
Kommunen, aber auch mit den Schulen in Kontakt zu sondern das so fortentwickeln, dass die wirklich etwas
treten, um zu erreichen, dass unsere Gelder zielgenau an- davon haben.
kommen. Herzlichen Dank.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNEN]: Es geht um die Anweisung! Wer
kriegt es und wer nicht?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– Welche Kinder welche Förderung brauchen, muss he- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
rausgearbeitet werden. Wir müssen sehen, wo hier pass- Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
genau eine Chance für das Kind besteht, sodass es nicht (Beifall bei der SPD)
durchs Raster fallen kann.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
NEN]: Sie weichen der Frage aus! – Beate Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wa-
Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren gerade Zuhörer einer kleinen Deutschstunde. Paul
NEN]: Sie weichen der Frage tatsächlich aus! Lehrieder, wo liegt der Unterschied zwischen „Wir las-
Das war keine Antwort!) sen kein Kind zurück“ und „Das Kind kommt eben nicht
mit“? In der Differenz liegt eine Menge Politik.
– Ein Kind, das das Gymnasium vielleicht ohnehin nicht
schafft, für das die Eltern, auch wenn sie normal verdie- (Zuruf von der SPD: Allerdings!)
nen würden, keine Nachhilfe bezahlen würden, kann ich
nicht auf Staatskosten durchzuboxen versuchen. Mein Eindruck ist, dass es Schwarz-Gelb mit dem
Gesetzentwurf gelungen ist, ein bestehendes Gesetz
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE nach einem Verfassungsgerichtsurteil zu verändern, lei-
GRÜNEN]: Es geht um die Kinder, wo es der zu verschlimmbessern. Das ist meine Einschätzung
möglich ist!) von dem, was vorliegt.
7734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Gabriele Lösekrug-Möller
(A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem übernehmen. In diesem Fall wäre Abschreiben eine gute (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Leistung.
der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/
CSU]: Wir brauchen die Reparatur von Rot- Im Übrigen, meine Damen und Herren, haben wir
Grün!) gestern Schützenhilfe vom Sachverständigenrat zur Be-
gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung er-
Lassen Sie uns zu so später Stunde doch noch einmal halten. Man höre und staune! Das Gutachten trägt den
einen kleinen Rückblick wagen! Gehen wir zurück in Titel „Chancen für einen stabilen Aufschwung“. Man
den Februar 2010. Da hat nämlich Karlsruhe entschie- muss nur bis Seite 5 lesen, um Folgendes zu finden – ich
den, dass wir bestimmte Sachen deutlich anders und bes- zitiere –:
ser machen müssen. Dann kam das Frühjahr. Dann ging
Eine Bildungsoffensive muss zum einen das allge-
das Frühjahr. Es passierte gar nichts. Im Juni war die
meine Bildungsniveau in Deutschland … anheben.
ganze Republik gerührt. Warum? Weil unsere Ministerin
Zum anderen besteht die Notwendigkeit, Chancen-
sich für ein warmes Mittagessen für Kinder aussprach.
gleichheit, insbesondere für Kinder und Jugendli-
Im Juli stand die Zukunft kurz bevor; dank einer elektro-
che aus bildungsfernen Elternhäusern, bei der Er-
nischen Karte sollte nämlich Mehmet im Fußballverein
langung höherer Bildungsabschlüsse herzustellen.
klarkommen und Maria Klavier spielen. Dann kamen die
Sommerferien, und die Spannung wuchs: Wird es denn (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Genau das
mit der Nachhilfe für die, die das brauchen, klappen? machen wir! Bildungspaket!)
Werden Jobcenter Erziehungslotsen haben? Das hat die
Nation bewegt. Dann kam der Herbst; Sie sagen ja: der Recht hat der Sachverständigenrat. Zu Recht fordert er
Herbst der Entscheidungen. In der Tat! Da kam der Ge- mehr als diese zaghafte Teilchenhabe.
setzentwurf, und die Mehrheit war enttäuscht, nicht Sie (Beifall bei der SPD)
als Mehrheit im Parlament, aber die Mehrheit in der Ge-
sellschaft. Die Kirchen waren entsetzt. Die Wohlfahrts- Meine Damen und Herren, ich will Ihnen nur sagen:
verbände haben nicht verstanden, was das sein sollte. Wenn es schon sozialpolitisch nicht reicht, dann müsste
Die Sozialverbände standen kopf. Auch die SPD-Frak- es doch wenigstens volkswirtschaftlich ein Einsehen ge-
tion wurde beinahe ratlos – beinahe. ben.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist nicht Vielen Dank.
neu! Das kommt öfter vor! – Weiterer Zuruf
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja
von der CDU/CSU: Sie blieb es!)
Kipping [DIE LINKE])
(B) Der Traum war kurz. Er dauerte nur einen Sommer lang. (D)
Für mehr hat es nicht gereicht. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Vorlage auf
Ich will das am Beispiel des warmen Mittagessens er-
Drucksache 17/3648 an die in der Tagesordnung aufge-
klären. Wie viele Schulen bieten es eigentlich an? We-
führten Ausschüsse überwiesen werden soll. – Sie sind
nige; denn nur wenige Schulen in Deutschland sind
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei-
Ganztagsschulen. Statt einen großen Aufschlag zur Ver-
sung so beschlossen.
besserung der Bildungsinfrastruktur zu machen, begnü-
gen Sie sich damit, Kindern im Sozialgeldbezug, natür- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
lich nicht bar ausgezahlt, einen Zuschuss zu gewähren. auf:
Wie vielen Kindern werden Sie am Ende wirklich damit
helfen können? Gehen wir von 1 Million schulpflichtiger a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
Kinder im Sozialgeldbezug aus und nehmen wir an, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wenigstens jede fünfte Schule bietet warmes Mittag- 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonven-
essen an, dann beschränkt sich der „große Wurf“ auf tion
200 000 Kinder. Und die übrigen 800 000? Die haben
eben Pech gehabt, weil unsere Betreuungsinfrastruktur – Drucksache 17/3423 –
für sie nicht das bietet, was sie brauchen.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hunko, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, weite-
DIE GRÜNEN) rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das ist nicht Teilhabe; das ist Teilchenhabe. Deshalb 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonven-
sind wir damit überhaupt nicht einverstanden. Deshalb tion – Menschenrechte stärken, schützen und
verknüpfen wir in unserem Antrag die notwendigen Ver- durchsetzen
besserungsvorschläge zu den Regelsätzen mit Leistun- – Drucksache 17/3658 –
gen für Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendli-
chen. Deshalb streben wir einen nationalen Bildungspakt Die Fraktionen haben vereinbart, dass darüber etwa
an, der konkrete Ziele festschreibt. Die Einzelheiten eine halbe Stunde diskutiert wird. – Dazu höre ich kei-
dazu finden Sie in unserem Antrag. Sie könnten sie glatt nen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7735
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- cken, die sich auf gemeinsame und über Kulturunter- (C)
ner dem Kollegen Joachim Hörster für die CDU/CSU- schiede hinausgehende Werte gründete. Wenn Sie so
Fraktion das Wort. wollen, war er eine Art Vorläufer der Europäischen
Union.
Joachim Hörster (CDU/CSU): Der Europarat hat eine sehr wichtige Rolle beim Bei-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tritt der mittel- und osteuropäischen Staaten gespielt;
Herren! Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und denn er hat diesen Staaten mit deren Aufnahme Hilfe-
Bündnis 90/Die Grünen haben einen gemeinsamen An- stellung bei der Transformation von früher kommunis-
trag aus Anlass von 60 Jahren Existenz der Europäischen tisch organisierten hin zu marktwirtschaftlich organisier-
Menschenrechtskonvention eingebracht. ten Staaten gegeben, Staaten, die ein Justizsystem
Der Antrag ist so gut abgefasst, dass ich auf die Histo- einführen, das diesen Namen verdient, und die den Ver-
rie nur noch kurz eingehen muss. Ein paar wenige Dinge such unternehmen, die Menschenrechte zu achten, ob-
will ich aber doch dazu sagen; denn der Europarat ist die wohl dies in diesen Beitrittsländern so selbstverständlich
älteste europäische Institution von allen Organisationen, nicht war. 21 mittel- und osteuropäische Staaten sind
die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden dem Europarat seit dem Fall der Mauer beigetreten. Un-
sind. Sein Statut ist infolge einer visionären Entschei- garn war das erste Land des ehemaligen Ostblocks, das
dung von europäischen Regierungschefs am 5. Mai 1949 am 6. November 1990 beitrat.
unterzeichnet worden, und die Konvention der Gründer- Heute gehören zum Beispiel Aserbaidschan, Arme-
staaten zum Schutz der Menschenrechte und der Grund- nien und Georgien zum Europarat, sehr konfliktbeladene
rechte ist im November 1950 unterzeichnet worden. So Länder, die große Minderheitenprobleme haben, in de-
alt ist also dieses Vertragswerk. nen es Besetzungen und Vertreibungen gegeben hat, in
Dieses Vertragswerk hat im Laufe der Jahre einige denen auch die russische Großmacht noch überall die
Veränderungen erfahren. Am 3. September 1953 trat die Finger im Spiel hat und eine besondere Rolle spielt.
Konvention in Kraft, weil die Abwicklung all dessen Dem Europarat gehören auch Länder wie Zypern an, das
auch eine gewisse Zeit benötigte. Seitdem wurden geteilt und dessen nördlicher Teil durch die türkische Ar-
14 Protokollergänzungen vorgenommen. Heute gehören mee besetzt ist. Es gibt also fortdauernde Baustellen, die
47 Staaten dem Europarat an. sorgfältig beobachtet und bearbeitet werden müssen, um
die damit verbundenen Verletzungen der Europaratskon-
Die wichtigste Ergänzung der Europaratsvereinba- vention zu beseitigen, sodass die Staaten zur Normalität
rung war das Zusatzprotokoll Nr. 11 von 1992, weil da- zurückkehren können.
rin der Grundstein für den Europäischen Menschen-
(B) rechtsgerichtshof gelegt wurde, die wohl wichtigste Aber auch für die praktische Arbeit, für praktische (D)
Entscheidungen, die wir zu treffen haben, spielen die Er-
Einrichtung, die der Europarat neben seiner Parlamenta-
kenntnisse des Europarates eine erhebliche Rolle. Die
rischen Versammlung hat. Für die Menschen ist dieser
Türkei gehört zu denjenigen Mitgliedern des Europarats,
Gerichtshof aber viel wichtiger als die Parlamentarische
die die Menschenrechtskonvention schon am längsten
Versammlung, weil sich jeder an diesen Europäischen
unterschrieben haben; aber zu dem, wozu sie verpflichtet
Menschenrechtsgerichtshof wenden kann. Er nahm 1998
ist – die Achtung der Menschenrechte und der religiösen
seine Arbeit auf, und er ist aus der europäischen politi-
Grundfreiheiten sowie anderes mehr –, ist sie bis heute
schen Landschaft überhaupt nicht mehr wegzudenken.
nicht gelangt.
Die Gründung des Europarates war auch in Deutsch-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
land kein Selbstläufer. Sie war ziemlich umstritten, und
der FDP)
es gab heftige Diskussionen darüber, ob der Beitritt der
Bundesrepublik Deutschland zum Europarat nicht die Wenn wir angesichts dessen, dass die Türkei Mitglied
Wiedervereinigung behindern könnte. Deswegen gab es der Europäischen Union werden will, betrachten, welche
nicht nur Befürworter wie Konrad Adenauer, der massiv Entwicklung sie seit 1950 genommen hat, dann kann die
für den Beitritt zum Europarat eintrat, sondern auch Kri- Hoffnung nicht allzu groß sein, dass sie rechtzeitig zu ei-
tiker, beispielsweise Jakob Kaiser aus der CDU oder die nem Beitritt zur Europäischen Union all die Schwierig-
Sozialdemokratische Partei, die Befürchtungen in ähnli- keiten beseitigt hat, die gegenwärtig vorhanden sind.
cher Richtung hatte. Über die Grünen kann ich in diesem
Zusammenhang nichts sagen; sie waren noch nicht in (Beifall der Abg. Erika Steinbach [CDU/
Sicht. CSU])

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ich will darauf aufmerksam machen, dass es – obwohl
GRÜNEN]: Wir waren damals schon dafür! – doch angeblich die Menschenrechte in der Türkei einge-
Heiterkeit) halten werden – nicht ganz verständlich ist, dass noch
heute der größte Teil der Asylbewerber in der Bundesre-
Der Europarat wurde gegründet, um die Menschen- publik Deutschland aus der Türkei stammt. Diese kön-
rechte und die parlamentarische Demokratie zu schüt- nen nicht in ihr Land zurückgebracht werden, weil zu
zen. Er wurde als europaweites Abkommen zur Harmo- befürchten ist, dass mit ihnen dort nicht menschenrechts-
nisierung der sozialen und rechtlichen Praktiken der würdig umgegangen wird und dass sie vor Gericht nicht
Mitgliedstaaten gegründet, und er wurde in dem Be- fair behandelt werden. Auch in Bezug auf diese Ent-
wusstsein begründet, eine europäische Identität zu we- scheidungen kann man den Europarat befragen.
7736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Joachim Hörster
(A) Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch mit an- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (C)
deren Ländern Probleme haben. Die kleinen Länder und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
lasse ich einmal außen vor; ich greife nur ein großes
Land wie Russland heraus. In diesem Zusammenhang Herr Kollege Hörster, ich möchte Ihre Stellungnahme
hat es verdienstvolle Berichte von deutschen Mitgliedern kurz ergänzen und auch eine kritische Anmerkung an-
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bringen. Die Unterzeichnung der Europäischen Men-
mit dem Ziel gegeben, die Einhaltung der Menschen- schenrechtskonvention wurde kurz nach der Gründung
rechte und die Beachtung der Pressefreiheit und der poli- des Europarates von seinen Gründungsmitgliedern voll-
tischen Freiheiten in Russland zu erreichen. zogen. Das waren zehn Länder. Es gab zwei Länder, die
noch nicht Mitglied des Europarates waren, die aber die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wäre Ihnen als Europäische Menschenrechtskonvention gezeichnet ha-
Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentari- ben. Das waren interessanterweise die Bundesrepublik
schen Versammlung des Europarates von Herzen dank- Deutschland und die Türkei. Sie haben gesagt – dem
bar, wenn Sie die Kolleginnen und Kollegen, die in der kann man nicht ernsthaft widersprechen –, dass die Ent-
Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch wicklung in der Türkei anders verlaufen ist als in
für unser Land ihren Dienst leisten, in ihrer Arbeit unter-
Deutschland. Aber ich glaube – das ist die für mich
stützen würden. Wir waren sehr dankbar, als die Bundes-
wichtigere Erkenntnis –, dass die Entwicklung in der
kanzlerin am 15. April 2008 den Europarat besucht hat,
Türkei ohne den Europarat noch einmal anders verlaufen
vor der Parlamentarischen Versammlung geredet hat und
wäre. Ohne damit die Frage zu entscheiden, ob die Ko-
auch mit den Kolleginnen und Kollegen, die die Europa-
penhagener Kriterien für den Beitritt der Türkei zur EU
ratsdelegation bilden, gesprochen hat. Wir haben uns da-
erfüllt sind, muss man darüber reden, dass in der Türkei
rüber gefreut, dass Bundesaußenminister Dr. Westerwelle
am 4. Oktober 2010 in Straßburg gewesen ist und zu den im Bereich der Demokratie und der Menschenrechte in
Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung des den letzten 60 Jahren Fortschritte erzielt worden sind.
Europarates gesprochen hat. Das sind Zeichen, die Mut Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über diese
machen und die unterstreichen, dass der Europarat und Dinge reden. Das ist ein Verdienst der Kontrollen, die es
seine Einrichtungen, insbesondere der Europäische Ge- in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonven-
richtshof für Menschenrechte, auch von den regierungs- tion gegeben hat.
amtlichen Stellen geachtet und geschätzt werden. Wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sich diese Anerkennung etwas mehr verbreitet und wir DIE GRÜNEN)
uns nicht nur Neid ausgesetzt sehen, weil wir ab und zu
in Straßburg und nicht in Berlin tagen, dann wäre das für Wenn wir uns schon mit den Erweiterungen der letz-
(B) die Entwicklung der gesamten Institution hilfreich. ten 20 Jahre befassen, möchte ich ein zweites Beispiel (D)
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. nennen – auch das ist wichtig –: Russland. Was im Mo-
ment in Russland im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie läuft – wir haben das gerade noch einmal intern bespro-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- chen –, ist auch 20 Jahre nach der Transformation weiß
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Gott nicht das, was man sich vorstellen könnte. Die Pro-
zesse, die wir verfolgen – nicht nur die prominenten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Prozesse –, entbehren jeder rechtsstaatlichen Grundlage,
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die unabhängig von der Tatsache, dass wir nicht mit dem
SPD-Fraktion. Finger auf diese Länder zeigen. Es ist auch ein großes
Verdienst der Parlamentarischen Versammlung des Eu-
Christoph Strässer (SPD): roparates – und dabei sollte es bleiben –, dass wir wis-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sen, unter welchen Bedingungen Menschen auch in
Ich glaube, es ist ein guter Brauch, dass im Deutschen Russland inhaftiert sind, dass wir das aufdecken und da-
Bundestag öfter als anderswo über den Europarat und rüber reden können.
über die Europäische Menschenrechtskonvention ge-
sprochen wird. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention ist
– man kann es nachvollziehen – eine große Tradition, die Auf der anderen Seite – auch das möchte ich anführen –
auf der ganzen Welt einmalig ist. Das kann man mit Fug ist es gut und richtig, dass Russland Mitglied des Euro-
und Recht behaupten. Es tut manchmal ein wenig weh, parats ist. Wir haben anzuerkennen, dass der langwierige
wenn man in Debatten über den Europarat und über den Prozess der Ratifizierung des Protokolls Nr. 14 zur Kon-
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hört: vention zum Schutze der Menschenrechte und Grund-
„Ach, der Europäische Rat“ und „Ach, der EuGH“. Das freiheiten letztendlich in der Duma vollzogen worden
haben der Europarat und auch diejenigen, die sich in die- ist. Man sollte dem einen oder anderen Kollegen aus der
ser Institution engagieren, nicht verdient. Europa mit sei- Duma sagen: Das habt ihr gut gemacht; denn damit ist
nen 47 Mitgliedstaaten des Europarates würde heute ein Hindernis für die Arbeit des Europäischen Gerichts-
ganz anders aussehen, wenn es die Institution Europarat hofs für Menschenrechte beseitigt worden, der – Kollege
und die EMRK nicht geben würde. Das sollten wir ganz Hörster hat darauf hingewiesen – das Kernstück des
deutlich nach außen kommunizieren. Europarates und seiner Arbeit ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7737
Christoph Strässer
(A) Ich möchte auf den Europäischen Gerichtshof für Ich sage es noch einmal: Kritik ist völlig in Ordnung. (C)
Menschenrechte eingehen. Sie haben die Zahlen ge- Mit dieser Äußerung wird aber aus meiner Sicht die
nannt. Es gibt bei uns in Deutschland ein Sprichwort: Es Funktionsweise des Europäischen Gerichtshofs für Men-
gibt Institutionen, Menschen und Gruppen, die an ihrem schenrechte missachtet; denn es geht gerade nicht da-
Erfolg zu ersticken drohen. Ich meine, man muss sich rum, auf das nationale Recht Bezug zu nehmen. Stellen
das einmal vor Augen führen: Der Europäische Gerichts- Sie sich vor, wie wir argumentieren würden, wenn die
hof für Menschenrechte erhält pro Jahr 50 000 Eingaben. Russen oder die Türken ein Urteil mit der Begründung
Insgesamt gibt es 90 000 unerledigte Fälle. ablehnen würden, dass sich der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte nicht ausreichend mit den Grundla-
Die Einrichtung des Gerichtshofs ist für die betroffe- gen des jeweiligen materiellen Strafrechts befasst habe.
nen Menschen eine positive Entwicklung. Sie haben die Ich sage: Es geht bei der Rechtsprechung des Europäi-
Möglichkeit, sich zu beschweren, was gegebenenfalls in schen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht um be-
den nationalen Parlamenten und auf den nationalen stimmte nationale Rechtssysteme – wo auch immer sie
Rechtswegen nicht möglich ist. Sie können sich als Indi- sind –, sondern um die Ergebnisse der nationalen Recht-
viduen auf die Grundrechte beziehen, die in der Europäi- sprechung. Wenn Menschen ohne ausreichende entspre-
schen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind. Ich chende Rechtsgrundlage ihrer Freiheit beraubt werden,
glaube, das ist ein Quantensprung für den Menschen- dann ist das ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Das
rechtsschutz in Europa; der Gerichtshof ist ein Vorbild muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
für viele andere Regionen. Ich denke, man muss den Ge- rügen, wenn er seine Glaubwürdigkeit bewahren will.
richtshof unterstützen. Da muss die Bundesregierung Deshalb ist dieses Urteil aus meiner Sicht richtig.
Poahl halten – das haben alle Bundesregierungen getan,
auch die jetzige –, also diese Institution stärken und ihr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den Stellenwert geben, den sie verdient. Das ist die erste DIE GRÜNEN)
Botschaft zu diesem Straßburger Gerichtshof. Ich komme mit einer Bemerkung, die für unsere zu-
künftigen Debatten vielleicht wichtig ist, zum Schluss.
Sie haben gesagt, dass fast die Hälfte der Eingaben
Es geht um den Beitritt der Europäischen Union zur Eu-
aus vier großen Ländern stammt, aus Russland, Rumä-
ropäischen Menschenrechtskonvention. Ich bitte all die-
nien, der Ukraine und der Türkei. Das ist richtig. Ich
jenigen, die damit befasst sind, insbesondere all diejeni-
möchte an dieser Stelle aber einmal darauf hinweisen, gen, die bei den Verhandlungen aktiv sind, ganz
dass auch wir in Deutschland vom Europäischen Ge- herzlich: Bei diesen Debatten darf es nicht zu einem un-
richtshof für Menschenrechte verurteilt werden, zum nötigen Konkurrenzkampf kommen. Es darf nicht dazu
Beispiel aufgrund zu langer Verfahren. kommen, dass Institutionen ohne Mehrwert für die Men- (D)
(B)
(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!) schenrechtsarbeit geschaffen werden. Wenn der Prozess
erfolgreich sein soll und wir einen lückenlosen, guten
Ich möchte eine Entwicklung darstellen, die hier in der Menschenrechtsschutz in Europa etablieren wollen, auch
letzten Sitzungswoche bei der Debatte über die Verände- in der EU, dann müssen wir – nur dadurch kann das ge-
rung der Rechtsgrundlagen für die Sicherungsverwah- schehen – die Institutionen des Europarates, den Euro-
rung eine Rolle gespielt hat. Da hat es ein Urteil des Eu- päischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Kom-
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegeben, missar für Menschenrechte, stärken und nicht schwä-
das ich persönlich für richtig halte. Natürlich kann und chen. So werden wir für den Bereich, für den die EU
muss man – davor ist auch dieser Gerichtshof nicht ge- bzw. der Europarat zuständig ist, ein gutes Ergebnis im
feit – Kritik an Entscheidungen dieses Gerichtes üben Sinne der Menschen erreichen.
können. Ich bedauere, dass der Kollege Dr. Krings, der Herzlichen Dank.
hier in der letzten Woche gesprochen hat und ausdrück-
lich bedauert hat, dass es nicht möglich war, in der letz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ten Sitzungswoche zu prominenter Zeit über diese The- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
men zu sprechen, nicht hier ist. Ich finde, seine Kritik CDU/CSU und der FDP)
am Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte gründet auf einem fundamentalen Missverständ- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nis der Arbeit des Gerichtshofs. Er hat gesagt – ich Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster
zitiere das mit Erlaubnis aus dem Protokoll –: für die FDP-Fraktion.
Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu
tun, dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten
Marina Schuster (FDP):
nicht ausreichend mit der Praxis und dem System
des deutschen Strafrechts befasst hat. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 4. November 1950 wurde Geschichte ge-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schrieben. Damals haben die zehn Gründungsstaaten des
NEN]: Das Gegenteil ist richtig!) Europarates die Europäische Menschenrechtskonven-
tion, die EMRK, unterzeichnet. Damit wurden im Völ-
Das ist bei der Bewertung des Umstandes genau der fal- kerrecht erstmals Grund- und Freiheitsrechte als einklag-
sche Ansatz. bare individuelle Rechte kodifiziert: das Verbot der
7738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Marina Schuster
(A) Folter und der unmenschlichen Behandlung, das Recht terrichtungen dazu statt; denn das ist ein wirklich kom- (C)
auf Freiheit und Sicherheit, aber auch politische Rechte plexes Thema. Wir sind der Meinung, dass wir das
wie das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Reli- hinbekommen, man aber sehr genau auf das Vertrags-
gionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und werk achten muss. Deswegen hat das Justizministerium
auf Versammlungsfreiheit. Aber auch umfangreiche jus- unsere volle Unterstützung.
tizielle Grundrechte sowie ein Diskriminierungsverbot
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
wurden festgeschrieben. Daran zeigt sich der besondere
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Wert der Europäischen Menschenrechtskonvention.
GRÜNEN)
Sie ist heute in 47 Staaten gültig. Für fast 1 Milliarde
Ich freue mich sehr, dass wir anlässlich des Jubiläums
Menschen ist die EMRK somit ein ganz wichtiger Pfei-
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“ ei-
ler des Menschenrechtssystems. Wir haben nach wie vor
nen interfraktionellen Antrag vorliegen haben. Das ist
die Aufgabe, die EMRK insbesondere in den Ländern zu
ein starkes Signal der Geschlossenheit, vor allem an die
stärken, in denen sie keine Geltung entfaltet, in denen sie
Mitunterzeichner der Konvention, aber auch an die Staa-
vernachlässigt wird. Deswegen dürfen wir bei Gesprä-
ten, die Defizite haben, die das Niveau der EMRK noch
chen, die wir mit Abgeordneten der jeweiligen Länder
nicht erreicht haben.
führen, nicht nachlassen, darauf zu drängen, dass die
EMRK eingehalten wird. Deshalb war es wichtig und Russland wurde schon erwähnt. Allein 38 000 Ver-
richtig, dass Guido Westerwelle bei seiner Rede vor der fahren gegen Russland sind anhängig. Das zeigt, dass
Parlamentarischen Versammlung des Europarates am das Justizsystem in Russland nach wie vor von erschre-
4. Oktober 2010 die Menschenrechtsschutzsysteme und ckenden Defiziten geprägt ist. Es ist durchzogen von
die Menschenrechtspolitik erwähnt und herausgestellt politischer Einflussnahme, von Korruption und Willkür.
hat. Es ist wichtig, dass den Worten Taten folgen. Gerade Die Prozesse gegen Chodorkowski und Lebedew sind
diejenigen, die Teil der Parlamentarischen Versammlung natürlich sehr prominente Fälle, aber bei weitem nicht
sind, müssen sich mit der Kritik auseinandersetzen. die einzigen. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, über die
gar nicht berichtet wird. Wir dürfen bei unserer Arbeit
Für uns ist die ERMK auch Verpflichtung, jeden Tag
nicht lockerlassen und müssen solche Verfahren aufde-
für die kodifizierten Rechte einzutreten und dafür zu sor-
cken und Rechtsstaatlichkeit einfordern.
gen, dass zum Beispiel der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte seine Arbeit auch wirklich machen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
kann. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Vor diesem Hintergrund möchte ich ganz besonders
(B) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie auf das Schicksal des russischen Rechtsanwalts Sergej (D)
bei Abgeordneten der LINKEN) Magnitskij hinweisen, der im Alter von 37 Jahren im
Gefängnis gestorben ist, weil ihm medizinische Hilfe
Kollege Strässer hat zu Recht die Beschwerdeflut und
verwehrt wurde. Er wurde aufgrund konstruierter Vor-
die entsprechenden Zahlen erwähnt. Bei der Reform des
würfe in Untersuchungshaft genommen, weil er den
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss es
größten Steuerbetrug in der russischen Geschichte auf-
jetzt darum gehen, das Prozedere so zu gestalten, dass
gedeckt und publik gemacht hat. Er hat sich nicht von
die Verfahren handhabbar sind, dass Urteile gesprochen
Repressalien beugen lassen. Das hat er mit seinem Le-
werden und die Menschen nicht zu lange auf das Urteil
ben bezahlt. Medwedew hat eine Untersuchung des Falls
warten müssen. Unsere Justizministerin, Frau Leutheusser-
versprochen. Bisher ist es nicht zu einer Anklage ge-
Schnarrenberger, hat im Zusammenhang mit dem soge-
kommen. Auch da sieht man, wie wichtig es ist, dass die
nannten Interlaken-Prozess eigene Vorschläge dazu ein-
EMRK Geltung erlangt, dass wir weiterhin Druck ma-
gebracht.
chen. Sie ist vor allem für die Menschen in der Zivilge-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem sellschaft ein ganz wichtiger Hoffnungsanker. Die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. EMRK ist aktueller denn je. Wir müssen unsere Bemü-
Christoph Strässer [SPD]) hungen fortsetzen. Deswegen ist unser Antrag so wichtig
und richtig.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass mit den Vorschlägen,
die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingebracht hat, Vielen Dank.
der Weg zu mehr Rechtsschutz gut beschritten werden (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
kann. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch der Kollege Strässer hat einen Punkt angespro-
chen, über den wir im Ausschuss mehrmals debattiert Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
haben, nämlich den Beitritt der EU zur EMRK. Wir ha- Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
ben es hier mit einem juristisch nicht einfachen Fahrwas- Andrej Hunko.
ser zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
(Christoph Strässer [SPD]: Schaffen wir aber!)
Deswegen ist es mir ganz wichtig, im Namen meiner Andrej Hunko (DIE LINKE):
Fraktion zu sagen: Hier muss der Grundsatz „Gründlich- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
keit vor Schnelligkeit“ gelten. Es fanden mehrmals Un- Schuster, Sie sprachen eben von einem interfraktionellen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7739
Andrej Hunko
(A) Antrag. Darunter verstehe ich einen Antrag aller Fraktio- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
nen. Das ist nicht der Fall. Die Linke ist wieder einmal Herr Kollege Haibach würde Ihnen gerne eine Zwi-
außen vor gelassen worden. Wir haben einen eigenen schenfrage stellen. Gestatten Sie diese?
Antrag eingebracht; diesen möchte ich jetzt begründen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde Andrej Hunko (DIE LINKE):
vor 60 Jahren vor dem Hintergrund der Verbrechen des Ja.
Holocaust und zweier Weltkriege entwickelt. Die mitt-
lerweile 47 Staaten des Europarates haben die Konven-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tion unterzeichnet. Auch wenn die Rechte an vielen Or-
ten nur unvollständig umgesetzt wurden, verdient die Bitte.
Europäische Menschenrechtskonvention jede Unterstüt-
zung und Bekräftigung. Holger Haibach (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Kollege Hunko, auch wenn die
Zeit schon fortgeschritten ist: Sie haben gerade gesagt,
Sie garantiert negative Abwehrrechte wie das Verbot von der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK werde
Folter, politische Rechte wie die Versammlungs- und im Antrag der vier Fraktionen nicht erwähnt. Ich darf Sie
Vereinigungsfreiheit und auch justizielle Grundrechte fragen, welche Bedeutung dann Punkt 10, den ich mit
wie das Recht auf ein faires Verfahren. Die Europäische Erlaubnis der Präsidentin gerne zitieren würde, hat. Dort
Menschenrechtskonvention wurde durch 14 Zusatzpro- steht:
tokolle weiterentwickelt. Es ist mit Menschenrechten
ähnlich wie mit der Demokratie. Das wird nicht einmal … den Prozess des Beitritts der Europäischen
festgelegt und ist dann für alle Zeit so, sondern es ist Union zur Europäischen Menschenrechtskonven-
eher ein Prozess, der sich immer weiter entfalten sollte. tion unterstützend zu begleiten, dabei dafür Sorge
zu tragen, dass die Rechte der Parlamentarischen
Hier liegen jetzt zwei Anträge vor: einer der Linken Versammlung des Europarates in vollem Umfang
und einer der anderen vier Fraktionen. Lassen Sie mich Berücksichtigung finden, und diesen Prozess für
kurz die drei Hauptgründe nennen, warum wir dem An- menschenrechtliche Bildungsarbeit zu nutzen, ins-
trag der anderen Fraktionen nicht zustimmen können, besondere durch Informationsmaßnahmen in Zu-
auch wenn er einige richtige Aspekte enthält. sammenarbeit mit Universitäten und der Zivilge-
Erstens. In der ersten Forderung im Antrag verlangen sellschaft …
die vier Fraktionen von der Bundesregierung Ich glaube, viel deutlicher kann man auf den Beitritt der
(B)
alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um durch Europäischen Union zur EMRK nicht Bezug nehmen. (D)
Maßnahmen der Konfliktverhütung und -regelung Würden Sie mir da zustimmen?
die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen früh-
zeitig zu bannen … Andrej Hunko (DIE LINKE):
Nach dem Jugoslawien-Krieg 1999, dem Afghanistan- Was Sie gesagt haben ist richtig. Aber der eigentliche
Krieg seit 2001 und weiteren Kriegen zur angeblichen Punkt ist: Die Kompetenzen im Hinblick auf das Ver-
Verteidigung von Menschenrechten kann ich die Forde- hältnis zwischen Europäischem Gerichtshof für Men-
rung nur so lesen, dass der Einsatz militärischer Mittel schenrechte und Europäischem Gerichtshof werden
als Möglichkeit angesehen wird. nicht benannt. Ich denke, sie sollten genannt werden.
(Christoph Strässer [SPD]: Ja!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ziemlich
hilflos, Herr Kollege!)
Den Missbrauch der Menschenrechte zur Legitimation
von Kriegen lehnt die Linke ab. – Das mag Ihnen so erscheinen. – Wir jedenfalls wollen
(Beifall bei der LINKEN) nicht, dass soziale Grundrechte, wie in den EuGH-Urtei-
len in den Fällen Viking, Laval, Rüffert und Luxem-
Wir fordern in unserem Antrag explizit zivile Konflikt- bourg, auf dem Altar der wirtschaftlichen Grundfreihei-
prävention; denn Krieg ist immer eine der schlimmsten ten geopfert werden.
Menschenrechtsverletzungen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN – Christoph Strässer GRÜNEN]: Ach! Der Europarat tritt doch
[SPD]: Ja, die Leute, die bei der zivilen Kon- nicht der EU bei!)
fliktprävention über die Wupper gehen, inte-
ressieren uns nicht!) Dieses Konfliktpotenzial bleibt bestehen. Die EU tritt
der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Es
Zweitens. Der angestrebte Beitritt der EU zur Euro- wird eine Kompetenzauseinandersetzung zwischen dem
päischen Menschenrechtskonvention – Herr Strässer, Sie Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem
haben ihn angesprochen – wird in Ihrem Antrag leider EuGH geben.
gar nicht behandelt. Wie soll zum Beispiel das Verhältnis
zwischen dem Europäischen Gerichtshof, also der EU, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, NEN]: Die Urteile des EuGH haben Sie gar
also dem Europarat, gestaltet werden? nicht verstanden!)
7740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Andrej Hunko
(A) Drittens. Im Antrag der vier Fraktionen wird gefor- mente, um die Länder, die dem Europarat und der (C)
dert, dass neue Mitgliedstaaten des Europarates die Euro- EMRK neu beigetreten sind, auf dem Weg in Richtung
päische Menschenrechtskonvention und die Zusatzproto- Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Respektierung der
kolle umfassend ratifizieren. Dabei hat Deutschland die Menschenrechte voranzubringen. Auf die Frage: „Wel-
Zusatzprotokolle 7 und 12 selbst nicht ratifiziert; cher ist der einzige Gerichtshof in Russland, vor dem
man recht bekommen kann?“ antworten meine Freunde
(Christoph Strässer [SPD]: Stimmt!)
in Russland immer: der Europäische Gerichtshof für
das wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt. Da- Menschenrechte in Straßburg. Deshalb werden in Straß-
bei geht es unter anderem um verfahrensrechtliche burg auch so viele Fälle aus Russland verhandelt. Für die
Schutzvorschriften im Fall der Abschiebung von Mi- Freunde, die für die gleichen Werte und Ziele wie wir in
granten und um das Diskriminierungsverbot. Wir for- diesem Hohen Hause eintreten, ist dies die einzige
dern in unserem Antrag, dass auch Deutschland endlich Chance auf Rechtsgewährung. Für diejenigen, die sich in
alle Zusatzprotokolle ratifiziert. persönlich gefährlichen Auseinandersetzungen befinden,
ist es wirklich fatal, dass die Verfahren so bitter lange
Meine Damen und Herren, die Europäische Men- dauern,
schenrechtskonvention und der Europarat dürfen nicht
nur Gegenstand schöner Sonntagsreden sein. Sie dürfen (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/
niemals zu einer Hülse oder gar zu einem beliebigen In- DIE GRÜNEN]: So ist es!)
strument außenpolitischer Interessen verkommen. Ob-
gleich ich kein Christ bin, fällt mir beim Umgang der obwohl der Europäische Gerichtshof gerade dies bei den
Bundesregierung mit dem Thema Menschenrechte oft nationalen Gerichten immer wieder zu Recht rügt. Trotz
das Neue Testament, Matthäus 7,3 und 7,5, ein: der Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK
durch Russland schaffen wir nicht die Voraussetzungen
Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bru- dafür, dass er diese Arbeit bewältigen kann.
ders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du
nicht? … Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus Wir müssen ihn besser ausstatten und wahrscheinlich
deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Split- auch noch über bestimmte Verfahrensvereinfachungen
ter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. reden. Das allein wird aber nicht reichen, weil aufgrund
der Masse der Menschenrechtsverletzungen in den Län-
Vielen Dank. dern viele Fälle dort verhandelt werden. Dass sie dort
(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: verhandelt werden, ist natürlich gut für die Menschen,
Christen können das auswendig!) deren Menschenrechte verletzt wurden, weil sie dadurch
wenigstens die Chance haben, sich zur Wehr zu setzen.
(B) Das sollten wir unterstützen. (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Einen Gedanken in Ihrer Rede fand ich richtig, Herr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Hunko, nämlich das Bibelwort zum Schluss. Es ist nie
man vom letzten Redebeitrag absieht, ist in dieser De- falsch, im Deutschen Bundestag die Bibel zu zitieren.
batte viel Richtiges gesagt worden. Trotzdem möchte ich Das kann ich als Christ nur unterstützen.
einige weitere Aspekte, auch wenn sie nicht ganz so fei-
erlich sind, betonen, um die weitere Arbeit zur Vertie- Ich finde, wir sollten uns auch die Urteile zu Herzen
fung der Prinzipien, die die Europäische Menschen- nehmen, die gegen uns ergehen, wie das Urteil zur Si-
rechtskonvention formuliert hat, voranzubringen. cherungsverwahrung, und sie nicht zerpflücken und
Von Ihnen wurden zu Recht die Initiativen der Justiz- nicht dagegen opponieren. Wir sollten die Überlegungen
ministerin in Interlaken erwähnt. Sie sagen, dass Sie den zu den Menschenrechten, die dahinterstehen, ernst neh-
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straß- men und anerkennen, dass die Sicherungsverwahrung
burg und den Europarat und seine Parlamentarische Ver- keine Strafe ist, und für eine andere Ausgestaltung sor-
sammlung stärken wollen. Dazu passt aber nicht, dass im gen.
Haushalt – die Bereinigungssitzung des Haushaltsaus- Wir müssen uns aber auch die Urteile gegen andere
schusses findet gerade statt – die Mittel für den Europa- Länder genau anschauen, die für Probleme verurteilt
rat gesenkt werden. worden sind, die wir auch haben, ohne dass dazu bisher
(Christoph Strässer [SPD]: Was?) ein Urteil ergangen ist. Dabei müssen wir prüfen, ob sich
unsere Rechtspraxis an den Standards messen lassen
Reden und Handeln sollten zusammenpassen. kann. Schauen Sie sich zum Beispiel das Urteil gegen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Republik Italien zu den Kruzifixen an. Das Gericht
und bei der SPD) hat sehr klar definiert, was negative Glaubensfreiheit be-
deutet. Man muss sich einem fremden Glauben nicht
Ich sage Ihnen eines: Der Europäische Gerichtshof aussetzen – man muss also sozusagen nicht gehorchen –,
für Menschenrechte und das Verfahren der Individualbe- sondern man kann selber wählen, was man glaubt, und
schwerde nach der EMRK waren entscheidende Instru- sich von fremden Vorstellungen freihalten. Das hat das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7741
Volker Beck (Köln)
(A) Gericht gut formuliert. Diese Prinzipien gelten nicht nur allen am Herzen liegen. Ich freue mich in jeder Debatte, (C)
für Italien, sondern auch im katholischen Bayern, in der wenn auch Nichtchristen die Bibel zitieren. Das nährt
islamisch geprägten Republik Türkei und im laizisti- die Hoffnung, dass der richtige Weg gefunden und gege-
schen Frankreich. benenfalls auch eingeschlagen werden kann. Es gehört
sicherlich auch zur Glaubensfreiheit, sich zu den Grund-
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Was ist denn sätzen dieses Buches zu bekennen, wie ich es tue, aber
mit dem evangelischen Bayern?) nicht unbedingt zu dem, was noch dahinter steht. Viel-
Wir müssen uns hier an die Brust fassen und uns fra- leicht können wir auch etwas anderes machen.
gen, ob wir das auch immer so ernst nehmen.
Wir haben sehr viel gehört. Ich versuche als letzter
Ich nenne ein weiteres Beispiel. In einem Sorge- Redner, einen ganz anderen Gedanken zu verfolgen. Er-
rechtsverfahren gegen die Republik Portugal, bei dem es lauben Sie mir das als direkt gewähltem Abgeordneten
um die Themen Familienrecht und Homosexualität ging, der Stadt Nürnberg. Diese Stadt trägt nicht umsonst den
hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Ho- Titel „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. In-
mosexuelle im Familienrecht – dabei geht es um Adop- sofern verheben wir uns nicht, wenn wir sagen, dass es
tionen, um das Sorgerecht usw. – nicht diskriminiert an dieser Stelle geschichtlich zu einer Art Katalysatoren-
werden dürfen. Deshalb wird das Adoptionsverbot in funktion gekommen ist. Vielleicht war dies nicht ge-
Deutschland keinen Bestand haben. wollt, aber es ist passiert.
Wenn wir die Prinzipien ernst nehmen, die die Straß- In einem Europa, das aus den Trümmern des Zweiten
burger Judikatur formuliert, dann müssen wir uns auf Weltkrieges entstanden ist, war es eine unglaubliche
unseren Hosenboden setzen und unsere Defizite aufar- Frage, wie es dazu kommen konnte. Im September 1935
beiten und dürfen nicht nur auf andere zeigen. Zu an- wurden in der dunkelsten Epoche die Nürnberger Rasse-
ständiger Menschenrechtsarbeit gehört aber auch, uns gesetze und damit die Gesetze beschlossen, die als juris-
gegenüber den Menschen, die in anderen Ländern ver- tische Untermauerung eines Systems gegolten haben.
folgt werden, solidarisch zu verhalten und mit der Kritik Man kann heute fast sagen: Sie waren das ins Wort ge-
nicht hinter dem Berg zu halten. gossene Menschenunrecht. Auch solche Jahrestage bren-
nen sich ins Gedächtnis; das ist vielleicht auch sinnvoll.
Zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK. Ich Das ist eine Folge der Nürnberger Rassegesetze, die
finde es ganz wichtig, dass wir diesen Beitritt vorantrei- letztendlich zu einer verheerenden Entwicklung geführt
ben und das nicht so kritisch sehen wie Sie, nach dem haben. Daraus ist das Bewusstsein entstanden, gerade
Motto: Das wollen wir eigentlich lieber nicht. – Schauen was die Suche nach Menschenrechten und allgemeinen
Sie sich an, was FRONTEX an den Grenzen der Euro- unverbrüchlichen Rechten betrifft, einen europäischen (D)
(B) päischen Union veranstaltet. Dort werden die Menschen-
Grundkonsens einzugehen. Insofern musste man einen
rechte von Drittstaatsbürgern massenhaft missachtet. Weg finden, wie die Vergangenheit, die Deutschland und
Wenn wir der EMRK beitreten, dann muss dies abge- darüber hinaus weite Teile der Welt ins Verderben ge-
stellt werden. Die Menschen, die von diesen Menschen- stürzt hat, judiziert werden konnte. Deshalb ist es in dem
rechtsverletzungen betroffen sind, haben dann die recht- weltberühmten Saal 600 des Nürnberger Landgerichtes
liche Möglichkeit, in Straßburg gegen FRONTEX zu den Nürnberger Prozessen gekommen. Auch an die-
vorzugehen. Dadurch wird der Flüchtlingsschutz ge- ser Stelle gab es eine Katalysatorenfunktion, weil dort
stärkt. die Wiege eines modernen Völkerstrafrechts lag. Daraus
(Beifall des Abg. Andrej Hunko [DIE folgt wieder ein Gedenktag zu 65 Jahren Nürnberger
LINKE]) Prinzipien. Man hat nämlich, wenn schon keinen rechts-
staatlichen Prozess, dann zumindest einen Prozess nach
Deshalb bin ich ganz energisch für das, was die Union rechtsstaatlichen Prinzipien durchzuführen versucht, um
gemeinsam mit uns in diesem Antrag formuliert hat. Wir Recht durchzusetzen – unverbrüchliche Rechte für alle
wollen diesen Beitritt voranbringen, weil wir dann in bedeuten Frieden –, ohne Ansehen der Tatsache, dass es
Bezug auf das Flüchtlingsrecht manches klarstellen kön- einst staatliche Repräsentanten waren. Europa gab sich
nen, was uns in Brüssel über die Bundesregierung nicht die Nürnberger Prinzipien. Auch dabei sollte man sich
gelingt. nicht verheben. Es gibt genug Beweggründe für die Eu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ropäische Menschenrechtskonvention, aber gerade die
und bei der SPD) Nürnberger Prinzipien haben dazu geführt, dass es zu
keiner Verletzung der Menschenrechte mehr kommen
sollte.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Interessant ist, dass wir die entsprechende Passage in
Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. der Europäischen Menschenrechtskonvention wenige
Jahre später wiederfinden. Der Gedanke des Art. 7
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abs. 2 geht genau davon aus. Nulla poene sine lege ist
einer der bedeutendsten Rechtsgrundsätze. Das heißt,
Michael Frieser (CDU/CSU): dass niemand bestraft werden soll, wenn es zum Tatzeit-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und punkt kein entsprechendes Gesetz gab. Bei den Nürnber-
Herren Kollegen! 60 Jahre MRK bieten die Möglichkeit ger Prozessen musste ein schwieriger juristischer Kniff
zu einer Tour d’Horizon über sehr viele Themen, die uns angewandt werden. Heute finden wir diesen Gedanken
7742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Michael Frieser
(A) in Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention der Fraktion Die Linke, dagegen die Fraktionen der (C)
wieder. Denn nun müssen sich auch Potentaten bzw. Re- CDU/CSU, FDP und SPD. Enthalten hat sich die Frak-
präsentanten von Staaten daran messen lassen, wenn zu tion Bündnis 90/Die Grünen.
dem Tatzeitpunkt, der vorwerfbar ist, etwas weltweit als
Wir haben jetzt eine Reihe von Abstimmungen zu Ta-
Menschenrechtsverletzung anzusehen ist.
gesordnungspunkten, zu denen die Reden zu Protokoll
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem gegeben wurden. Es wurde interfraktionell vereinbart,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dass auf die Nennung der Namen dieser Redner verzich-
geordneten der SPD) tet wird; das beschleunigt die ganze Angelegenheit. Ich
gehe davon aus, dass ich nicht bei jedem Tagesord-
Mir ist es wichtig, diesen Weg aufzuzeigen und deut- nungspunkt darauf hinweisen muss, dass eine interfrak-
lich zu machen, dass es wieder eine ganze Zeit gedauert tionelle Vereinbarung über die zu Protokoll gegebenen
hat, bis wir diesen Rechtsgedanken bei der Gründung Reden vorliegt.
des Internationalen Strafgerichtshofes wiedergefunden
haben. Mit der Kollegin Schuster hatte ich das Vergnü- Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:1)
gen, dort wenigstens eineinhalb Tage zu verweilen, um Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
uns über eine schwierige Frage zu unterhalten. Beim Eu- Korte, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer
ropäischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es so viele Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Eingaben, dass es manchmal ein Problem ist, sie abzuar-
beiten. Beim Internationalen Strafgerichtshof möchte Widerstand von Kommunistinnen und Kom-
man auch gerne mehr tun. Dort allerdings sind es einige munisten gegen das NS-Regime anerkennen
wenige Prozesse. Auch dort ist es nur die Spitze des Eis- – Drucksache 17/2201 –
berges.
Überweisungsvorschlag:
Insofern kann man nur sagen, dass diese Trias – die Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
nicht nur bedauernswerten, sondern tragischen Nürnber- Ausschuss für Kultur und Medien
ger Rassegesetze, das Aufstellen und Erkämpfen der Haushaltsausschuss
Nürnberger Prinzipien und das Ratifizieren der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention – zu einem europäi- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
schen Grundkonsens geführt hat, der uns dazu verpflich- Drucksache 17/2201 an die in der Tagesordnung aufge-
tet, über Europa hinaus maßgeblich eine neue Rolle zu führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
spielen – und zwar ohne eurozentristischen Führungsan- soll beim Innenausschuss liegen. – Sie sind damit ein-
spruch –, an der man sich ein Beispiel nehmen soll. Das verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
(B) ist die Aufgabe der nächsten Jahre. Es geht darum, dass beschlossen. (D)
man durchsetzbare Ansprüche weltweit erkämpfen muss Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:2)
und dass wir immer mit Augenmaß und ohne Ermüdung
für die Menschenrechtspolitik kämpfen. Dann können Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
wir am Ende auch sagen, dass wir das in unserer Macht richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
Stehende getan haben. Deshalb ist unser Antrag so sinn- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)
voll. zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck,
Danke schön. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bildung in Entwicklungs- und Schwellenlän-
Ich schließe die Aussprache.
dern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der und wirksamer gestalten
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ – Drucksachen 17/2134, 17/3622 –
Die Grünen auf Drucksache 17/3423 mit dem Titel
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“. Berichterstattung:
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Abgeordnete Anette Hübinger
Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen mit den Dr. Bärbel Kofler
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen von Harald Leibrecht
SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Niema Movassat
Fraktion Die Linke. Ute Koczy
Nun zum Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
che 17/3658 mit dem Titel „60 Jahre Europäische Men- und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
schenrechtskonvention – Menschenrechte stärken, lung auf Drucksache 17/3622, den Antrag der Fraktio-
schützen und durchsetzen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag 1) Anlage 6
ist abgelehnt. Dafür haben gestimmt die Kollegen von 2) Anlage 7
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7743
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/2134 Ausschuss für Arbeit und Soziales (C)
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- Technikfolgenabschätzung
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- Haushaltsausschuss
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke und Enthal- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. den Drucksachen 17/2621 und 17/3663 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: 1) Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Markus Kurth, Cornelia Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: 3)
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Rohstoffförderung im Meer – Aus der Kata- Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und
strophe lernen der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
– Drucksache 17/3662 – neten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abge-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
ordneter und der Fraktion der FDP
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus Existenzgründungen aus Forschung und Wis-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union senschaft fördern – Für einen starken deut-
schen Innovationsstandort
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3662 an die in der Tagesordnung aufge- – Drucksache 17/3480 –
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- Überweisungsvorschlag:
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
beschlossen. Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 5 Technikfolgenabschätzung
auf: 2) Haushaltsausschuss

17 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
(B) gierung Drucksache 17/3480 an die in der Tagesordnung aufge- (D)
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
Bericht der Bundesregierung über den Stand des verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an beschlossen.
Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jah-
ren für das Berichtsjahr 2009 Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: 4)
(Erster Zwischenbericht zur Evaluation des Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Kinderförderungsgesetzes) Röspel, Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
– Drucksache 17/2621 – tion der SPD
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxono-
Haushaltsausschuss mie in der Biologie stärken
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten – Drucksache 17/3484 –
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg
(Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Technikfolgenabschätzung (f)
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak- Verbraucherschutz
tion der FDP Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Faire Teilhabechancen von Anfang an – Früh- Haushaltsausschuss
kindliche Betreuung und Bildung fördern
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
– Drucksache 17/3663 – Drucksache 17/3484 an die in der Tagesordnung aufge-
Überweisungsvorschlag:
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
Innenausschuss schlossen.

1) Anlage 8 3) Anlage 10
2) Anlage 9 4) Anlage 11
7744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: 1) kommunalen Anliegen besondere Aufmerksamkeit ge- (C)
schenkt.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass gleich eines
zung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung vorneweg sagen: Die derzeit häufig geäußerten Sorgen,
der Nutzung von Energie aus erneuerbaren die im Bundestag beschlossene Laufzeitverlängerung
Quellen (Europarechtsanpassungsgesetz Er- der Kernkraftwerke habe nachteilige Auswirkungen auf
neuerbare Energien – EAG EE) den Wettbewerb im Energiesektor und schade damit den
Stadtwerken, sind unbegründet. Durch die neue Kern-
– Drucksache 17/3629 – brennstoffsteuer und weitere Zahlungen der Kernkraft-
Überweisungsvorschlag: werksbetreiber für den Energie- und Klimafonds wird
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) der überwiegende Teil der Zusatzgewinne abgeschöpft.
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Das sind mehr als 30 Milliarden Euro. Damit wird einer
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und wirtschaftlichen Besserstellung dieser Energieunter-
Verbraucherschutz nehmen durch die Laufzeitverlängerung vorgebeugt.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Darüber hinaus wird das Bundesministerium für Wirt-
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
schaft und Technologie regelmäßig zur Entwicklung des
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Wettbewerbs im Energiesektor unter besonderer Berück-
wurfs auf Drucksache 17/3629 an die in der Tagesord- sichtigung der Laufzeitverlängerung berichten und ge-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch gebenenfalls geeignete Maßnahmen vorschlagen.
darüber besteht Einverständnis. Die Überweisung ist so
beschlossen. Als weitere Maßnahme ist im Energiekonzept festge-
legt, die im europäischen Energie- und Klimapaket ver-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: einbarte Möglichkeit zu nutzen, den Neubau hoch effi-
zienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke zu
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf fördern. Die Förderung wird schwerpunktmäßig für
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich KWK-Anlagen und nur für Kraftwerksbetreiber mit ei-
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nem Anteil an den deutschen Erzeugungskapazitäten
der SPD von weniger als 5 Prozent gewährt. Dies kommt vor al-
Die Energieversorgung in kommunaler Hand lem den Stadtwerken zugute und leistet einen Beitrag,
den Wettbewerb auf dem Erzeugungsmarkt weiter zu in-
– Drucksache 17/3649 – tensivieren. Nicht zuletzt wird im Rahmen des Zehn-
(B) Überweisungsvorschlag: Punkte-Sofortprogramms eine neue Markttransparenz- (D)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) stelle für den Großhandel mit Strom und Gas eingerichtet,
Innenausschuss die beim Bundeskartellamt angesiedelt und von den Kom-
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
munen ausdrücklich gelobt wird. Sie soll laufend marktre-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit levante Daten erheben, sammeln und analysieren, was
der effektiveren Aufdeckung möglichen Fehlverhaltens
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla bei der Preisbildung dient. Dadurch werden das Ver-
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, trauen der Marktteilnehmer in die Großhandelsmärkte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE der Wettbewerb und Energieverbraucherinteressen ge-
LINKE stärkt.
Energienetze in die öffentliche Hand – Kom- Beim Thema Wettbewerb ist abschließend noch zu er-
munalisierung der Energieversorgung erleich- gänzen, dass kommunale Versorger sich bereits heute im
tern – Transparenz und demokratische Kon- Bereich der erneuerbaren Energien stark engagieren.
trolle stärken Deshalb sind auch die kommunalen Versorger die
– Drucksache 17/3671 – Adressaten der Ausbaupläne der erneuerbaren Ener-
gien. Für bestehende und neue Investitionen in erneuer-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
bare Energien ist die bevorzugte Einspeisung durch das
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Erneuerbare-Energien-Gesetz garantiert. Für Investitio-
nen in KWK-Anlagen, die für Stadtwerke besonders rele-
vant sind, besteht ebenfalls ein Einspeisevorrang. Daher
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
besteht hier in keinster Weise die Gefahr einer wettbe-
Heute beraten wir über zwei Anträge der Opposition, werblichen Schlechterstellung.
die sich beide im Kern mit der Bedeutung der Kommu-
nen für unsere Energieversorgung befassen. Die Stadtwerke werden daher als Marktteilnehmer im
Wettbewerb auch zukünftig ihren festen Platz in der Ener-
Vorab möchte ich klarstellen, dass aus meiner Sicht giebranche in Deutschland haben. Zu bedenken ist im
die Städte und Gemeinden bei der Energieversorgung Übrigen, dass nur etwa ein Drittel aller Stadtwerke über-
eine ganz besondere Rolle übernehmen müssen. Aus die- haupt eine eigene Stromerzeugung haben. Die anderen
sem Grund haben wir in unserem Energiekonzept den zwei Drittel sind sehr daran interessiert, an der Börse
günstigen Strom für die Belieferung ihrer Endkunden
1) Anlage 12 einzukaufen. Die Laufzeitverlängerung, die auch zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7745
Thomas Bareiß
(A) günstigeren Strompreisen führt, kommt den Stadtwerken steht die Gefahr, dass weitreichende finanzielle Belas- (C)
daher durchaus entgegen. tungen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf
nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen
Darüber hinaus profitieren kommunale Stadtwerke
mit dieser Aufgabe übernehmen. Grundsätzlich bin ich
besonders von Förderprogrammen, die wir beschlossen zudem der Meinung, dass bestehende vertragliche Rege-
haben. Der neu geschaffene „Energie- und Klimafonds“
lungen zu achten sind. Die Politik sollte nur eingreifen,
wird aus der Gewinnabschöpfung der Laufzeitverlänge-
wenn dies zwingend notwendig ist. Daher müssen wir si-
rung und den Erlösen aus der Versteigerung der CO2- cherlich genau prüfen, in welcher Weise dies notwendig
Zertifikate gespeist und hat damit, wie gesagt, ein Volu-
sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die Informa-
men von über 30 Milliarden Euro. Damit wird unter an-
tionspflicht über Zustand und Wert der Netze und nenne
derem der Energieeffizienzfonds finanziert, der explizit
das Stichwort Transparenz.
der Förderung kommunaler Belange in den Aktionsfel-
dern Energieeffizienz und erneuerbare Energien zugute- Wir haben aber ohnehin vor, im nächsten Jahr im Zuge
kommt. Die Bundesregierung wird auf diesem Wege bei- der Umsetzung des 3. Binnenmarktpakets das Energie-
spielsweise anspruchsvolle und innovative kommunale wirtschaftsgesetz zu novellieren. In diesem Zusammen-
Effizienzmaßnahmen, die Entwicklung von Modellpro- hang werden wir in aller Ruhe über die Notwendigkeit
jekten und die Information und Fortbildung in allen re- gesetzgeberischen Handels entscheiden. Wirklich erfor-
levanten Bereichen unterstützen. Außerdem werden zu- derliche Änderungen des dafür relevanten § 46 des
sätzlich Mittel für die Nationale Klimaschutzinitiative Energiewirtschaftsgesetzes werden dann auch vorge-
bereitgestellt, die die erfolgreiche Finanzierung von nommen. Zum jetzigen Zeitpunkt hier vorschnell zu
Maßnahmen von Stadtwerken auf eine bessere und vor agieren, halte ich aber für überflüssig.
allem auch verlässliche Basis stellen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, um noch etwas
Die Nationale Klimaschutzinitiative wird Stadtwerke Grundsätzliches zur aktuellen Energiepolitik in
bei der Planung und Durchführung von ambitionierten Deutschland zu sagen. Die Opposition lässt keine Gele-
Klimaschutzkonzepten unterstützen. Auch die Aufsto- genheit ungenutzt, um unsere energiepolitischen Maß-
ckung des Marktanreizprogramms für erneuerbare Ener- nahmen anzuprangern. Dabei sind wir die Ersten, die
gien und teilweise auch des CO2-Gebäudesanierungs- seit nunmehr 20 Jahren ein energiepolitisches Gesamt-
programms der KfW liegt sehr stark im Interesse der konzept vorgelegt haben, in welchem wir die Maßnah-
Stadtwerke. Schließlich wird die KfW ein Programm men aufzeigen, wie wir den Umstieg auf regenerative
„Energetische Stadtsanierung“ auflegen, von dem auch Energien schaffen können. Ein solches Konzept hat Rot-
Stadtwerke besonders profitieren können. Grün trotz aller klimapolitischer Predigten niemals in
(B) In dem SPD-Antrag wird eine Reihe von Forderungen Angriff genommen. Unter Rot-Grün gab es energiepoli- (D)
formuliert, wie den Kommunen verstärkt unter die Arme tischen Stillstand. Wir sind es, die nun die Verantwor-
gegriffen werden müsste. So sprechen Sie unter anderem tung übernehmen. Wir haben ein Gesamtkonzept, dass
die auslaufenden Konzessionsverträge und die damit alle Stellschrauben darstellt und gleichzeitig sogar Fi-
einhergehenden Probleme, aber auch andere Bereiche nanzierungswege aufzeigt – sei es beim notwendigen
wie den Zugang von Speicheranlagen zum Regelener- Ausbau unseres Stromnetzes oder der Nutzung unserer
giemarkt an. Gerne würde ich alle Punkte im Einzelnen Energieeffizienzpotenziale, vor allem im Bereich der
aufgreifen, was meine Redezeit aber nicht zulässt. Daher energetischen Gebäudesanierung.
möchte ich Ihnen anhand des letzten Punkts exempla- Gerade beim Stromnetzausbau haben wir enormen
risch darlegen, warum Ihr Antrag überflüssig ist. Handlungsbedarf. Die in Kürze erscheinende dena-
Lesen Sie unser Energiekonzept einmal genau durch, Netzstudie II wird aufzeigen, dass wir einen zusätzlichen
dann werden Sie feststellen, dass Punkte wie dieser von Ausbaubedarf von 3 500 Kilometern in Deutschland ha-
uns längst berücksichtigt sind. So werden wir den Zu- ben. Zusammen mit dem jetzt schon bestehenden Aus-
gang von Batteriespeichern zum Regelenergiemarkt im baubedarf kommen wir damit auf etwa 4 300 Kilometer.
Zuge der im nächsten Jahr anstehenden Novelle des Ener- Hintergrund ist die deutliche Zunahme der Stromerzeu-
giewirtschaftsgesetzes ermöglichen. In derselben Novelle gung auf See und in den Küstenregionen. Der Bau von
werden wir auch Ihre Bedenken bei den auslaufenden leistungsfähigen Nord-Süd-Verbindungen wird daher
Konzessionsverträgen aufgreifen. Des Weiteren werden immer wichtiger werden. Darüber hinaus werden viele
wir im nächsten Jahr unter anderem das Erneuerbare- dezentrale Erzeugungsanlagen, wie Photovoltaik und
Energien-Gesetz novellieren. Auch hierbei werden wir Biomasse, Strom in das Netz einspeisen. Auch den Aus-
den Bedürfnissen der Kommunen stets hohe Priorität bau der Verteilnetze dürfen wir daher nicht aus den Au-
einräumen. gen verlieren. Die Tatsache, dass in den letzten fünf Jah-
ren gerade einmal rund 90 Kilometer Stromnetzausbau
Der Punkt der auslaufenden Konzessionsverträge in Deutschland realisiert wurden, sollte uns, wie ich
wird auch in dem Antrag der Fraktion Die Linke ange- finde, Warnung genug sein.
sprochen. Grundsätzlich plädiere auch ich dafür, die Si-
tuation vor dem Hintergrund der rund 2 000 auslaufen- Überdies wird Deutschland aufgrund seiner geogra-
den Konzessionsverträge kritisch zu prüfen. Lassen Sie fischen Lage zunehmend am Stromaustausch in Europa
mich dazu aber Folgendes ergänzen. Zunächst einmal teilnehmen. In diesem Zusammenhang spielt die in die-
möchte ich grundsätzlich die Kommunen davor warnen, ser Woche von EU-Kommissar Günther H. Oettinger
mit den Netzen „Energiepolitik zu machen“. Hier be- vorgestellte Energiestrategie 2020 eine wichtige Rolle.

Zu Protokoll gegebene Reden


7746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Thomas Bareiß
(A) Darin wird für die nächsten zehn Jahre ein notwendiges In den kommenden Jahren laufen in der Bundesrepu- (C)
Investitionsvolumen von rund 1 Billion Euro dargestellt. blik viele Konzessionsverträge aus. Dies ist für die Kom-
Dies zeigt, vor welch großen Herausforderungen wir vor munen eine Chance, wieder Einfluss auf ihre örtliche
allem im Bereich der Energieinfrastrukturen stehen. Das Energieinfrastruktur zu gewinnen. Deshalb setzt sich die
gilt für die EU-Ebene ebenso wie für die kommunale SPD-Bundestagsfraktion mit diesem Antrag dafür ein,
Ebene. Ich will es an dieser Stelle nochmals deutlich sa- dass die kommunalen Unternehmen die gleichen Aus-
gen: Ohne Netzausbau kein Ausbau erneuerbarer Ener- gangsbedingungen haben wie die großen Energieversor-
gien. Das muss uns allen bewusst sein. Damit einher ge- ger. Hierzu bedarf es einer Novellierung des Energie-
hen natürlich massive Kosten, die auf uns zukommen. wirtschaftsgesetzes sowie einer Reform der Netzzu-
Daher stehen die Politik und die Wirtschaft gleicherma- gangs- bzw. Netzentgeltverordnungen für Strom und
ßen in der Verantwortung, für mehr Akzeptanz in der Be- Gas. Unserer Überzeugung nach ist es notwendig und
völkerung zu sorgen. Mit unserem Energiekonzept stel- auch fair, dass die Kommune darüber entscheidet, ob
len wir uns dieser Verantwortung. das Netz nach Auslaufen eines Konzessionsvertrages
rückerworben wird. Damit die Kommunen ihre Ent-
Einen Bärendienst erweisen uns in diesem Zusam-
scheidungen auf der Basis von Fakten treffen können,
menhang Politiker der Oppositionsparteien, die bewusst
fordern wir, dass der kaufinteressierten Kommune alle
Ängste schüren und sich Protestbewegungen anschlie-
maßgeblichen Informationen über die technische und
ßen, um notwendige Infrastrukturprojekte vor Ort zu
wirtschaftliche Situation der Netze rechtzeitig zur Verfü-
torpedieren. Dies ist ein unverantwortliches Verhalten
gung gestellt werden.
und beweist die energiepolitische Planlosigkeit der Op-
position. Ein großes Hindernis für einen Rückkauf des Netzes
Ich sehe keine Gründe, weshalb dem Antrag der SPD- durch die Kommune ist die Tatsache, dass sich Verkäufer
Fraktion zugestimmt werden sollte. Gleiches gilt für den und Kommunen nicht auf einen angemessenen Kaufpreis
Antrag der Fraktion Die Linke. Mit dem von uns jüngst einigen können. Deshalb muss der Gesetzgeber dafür
beschlossenen energiepolitischen Gesamtkonzept haben sorgen, dass der Netzkaufpreis im Rahmen eines Er-
wir einen Fahrplan aufgestellt, der uns den Umstieg auf tragswertverfahrens unter Berücksichtigung des Tages-
regenerative Energien ermöglicht. Wir werden nun Stück neuwerts gerichtsfest bestimmt wird. Gleichzeitig sollen
für Stück die einzelnen Maßnahmen in den anstehenden beide Seiten dazu verpflichtet werden, bei verzögerter
Gesetzen wie zum Beispiel der Novelle des Energiewirt- Verfahrensdauer eine Schlichtungsstelle anzurufen.
schaftsgesetztes oder der Novelle des Erneuerbare- Wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir
Energien-Gesetzes abarbeiten. Dabei achten wir stets auch morgen noch eine Energieversorgung haben möch-
auf ein Gleichgewicht zwischen einer sauberen, sicheren ten, die sicher, bezahlbar und klimaverträglich ist. Zu (D)
(B)
und bezahlbaren Energieversorgung unter besonderer diesen Herausforderungen zählt unter anderen die
Berücksichtigung der kommunalen Anliegen. Markt- und Netzintegration der erneuerbaren Energien.
Diese gelingt einerseits mit der Entwicklung und dem
Rolf Hempelmann (SPD): Einsatz leistungsfähiger und flexibler Speicher, anderer-
Bei der heutigen Debatte zum Antrag der SPD-Bun- seits mit einer Zusammenführung der Einspeisung der
destagsfraktion reden wir über eine tragende Säule un- volatilen Wind- und Sonnenenergie und der Nachfrage
serer zukünftigen Energieversorgung. Die kommunalen durch die Kunden. Hierzu bedarf es des Aufbaus intelli-
Unternehmen sind der Motor des Umbaus unseres Ener- genter Netze, die eine flexible Ein- und Ausspeisung des
giesystems von einem reinen Versorgungs- hin zu einem Stroms ermöglichen und somit die Erzeugung mit der
Energiedienstleistungssystem. Denn dieser notwendige Verbrauchskurve verbinden und die Speicherung steu-
Umbau wird von den Energieunternehmen in den Städ- ern.
ten und Gemeinden getragen und organisiert und nicht
von jenen, die unbedingt am Status quo festhalten wollen Zu dem notwendigen Umbau unseres Energiesystems
und darauf auch in der Politik drängen, zum Beispiel gehören auch Investitionen in dezentrale Energieversor-
durch eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. gungsstrukturen wie flexible Kraftwerke und den Aus-
bau der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK. Denn die Kraft-
Die kommunalen Unternehmen sind es, die einen we- Wärme-Kopplung ist die effizienteste Form der Energie-
sentlichen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge umwandlung und kann deshalb einen beachtlichen
leisten und durch ihre Nähe zum Kunden am ehesten in Beitrag zur Erreichung der deutschen und europäischen
der Lage und willens sind, die notwendigen Energie- Energieeffizienzziele leisten. Insbesondere der Ausbau
dienstleistungen anzubieten und die Effizienz zu erhö- der KWK in Blockheizkraftwerken, eingebettet in eine
hen. Eher als große, zentral organisierte Konzerne kön- regionale Konzeption aus Energieeinsparung und Nahwär-
nen und müssen sie den Gemeinwohlinteressen den meversorgung, kann dezentral die Stromnetze entlasten
Vorrang vor Gewinnmaximierungsstrategien einräu- und ausreichend Stromreserven bereitstellen.
men. Denn um einen zukunftsfähigen Umbau der Ener-
gieinfrastruktur zu ermöglichen, muss eine nachhaltige All dies können wir nur durch den Aufbau intelligen-
Nutzung im Vordergrund stehen. Zudem kann eine Re- ter Netze, der sogenannten Smart Grids, erreichen.
kommunalisierung der Netze auch einen wichtigen Bei- Hierzu bedarf es erheblicher Investitionen, die aus unse-
trag zur regionalen Wertschöpfung und Stärkung der rer Sicht durch den Regulierer ermöglicht und als nicht
kommunalen Haushalte bedeuten. Denn die Gewinne beeinflussbare Kosten anerkannt werden müssen. Auch
aus dem Netzbetrieb bleiben in der Region. für den von mir angeführten notwendigen Ausbau der

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7747
Rolf Hempelmann
(A) Kraft-Wärme-Kopplung muss der Gesetzgeber den ent- auch, und zwar im Sinne des Fortschritts. Ihr Anteil an (C)
sprechenden Rahmen setzen. Hierzu zählt eine Verlänge- der selbst erzeugten Stromversorgung liegt bei 8 Pro-
rung der Förderung von KWK-Anlagen bis zum Jahr zent, Tendenz steigend. Dabei haben sie die Unterstüt-
2020, analog zu den Regeln für die Wärmenetze. Zudem zung der bürgerlichen Koalition aus CDU/CSU und
ist die Ausweitung von Nahwärmenetzen zu erleichtern. FDP. Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm des Energie-
konzeptes macht es den Stadtwerken einfacher, sich an
Bei der Umsetzung der in unserem Antrag formulier- Offshore-Windparks zu beteiligen. Zudem wird für sie
ten Maßnahmen dürfen wir im Sinne der Kommunen in der Bau CCS-fähiger fossiler Kraftwerke unterstützt
diesem Land keine Zeit verlieren. Denn bereits heute hat
in vielen Städten und Gemeinden die Diskussion über Ein auslaufender Konzessionsvertrag, der nicht ver-
die Zukunft der Verteilnetze begonnen. So überlegen in längert wird, und eine Kommune, die ihr Netz selbst wie-
Baden-Württemberg einige der 9 Landkreise und 167 Ge- der betreiben kann – beide Faktoren ändern nichts an
meinden im Neckarraum, die regionalen Stromnetze, die den Regeln für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt.
bisher vom Neckar-Elektrizitätsverband betrieben wer- Netz und Vertrieb ist dabei strikt zu trennen. Die Ge-
den, wieder in kommunale Hand zu überführen. Auch in winne im Netz sind streng reguliert. Über den Erfolg des
Berlin ist die Diskussion über den zukünftigen Eigentü- Stromvertriebs entscheidet hingegen der Wettbewerb.
mer der Strom- und Gasnetze in vollem Gange. Jeder Kunde kann schon heute seinen Energielieferan-
ten frei wählen. Wer das Netz betreibt, ist dabei vollkom-
Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
men irrelevant. In Ihrem Antrag aber loben Sie, dass
Kollegen, stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen
kommunale Unternehmen das Gemeinwohl vor Gewinn-
Sie für die Kommunen in diesem Land faire Bedingun-
maximierungsstrategien stellen. Dass man dann ein
gen, damit diese ihre wichtige Aufgabe auf dem Weg zu
schlechteres Standing im Wettbewerb hat, ist klar.
einem modernen und nachhaltigen Energiesystem wahr-
nehmen können. Blicken wir einmal zurück. Weshalb haben die Kom-
munen in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert? Aus
Klaus Breil (FDP): Geldnot! Cash wurde in die Kassen gespült und man
Die hier zu beratenden Anträge der SPD und der Lin- leaste die Netze von einem Investor zurück. Wovon wol-
ken nehmen vieles dessen auf, was die Grünen vor gut len die Kommunen ihre Rückkäufe denn bezahlen? Ich
einem Monat schon als Gesetzentwurf vorgelegt haben. fürchte, dass man sich hier kräftig überschätzt. Von den
Daher lehnen wir auch diese Anträge ab. Verbänden hören wir nämlich zeitgleich, dass die
Netzentgelte zu niedrig sind.
Fakt ist, dass in den kommenden Monaten Tausende
(B) von Konzessionsverträgen im Strom- und Gasnetzbe- Fassen wir zusammen: Rot und Dunkelrot möchten, (D)
reich auslaufen werden. Wenn Kommunen durch Über- dass die Kommunen wieder Eigentümer der Netze wer-
nahme von Netzen Effizienzvorteile durch Vergrößerung den. Wir möchten einen echten Wettbewerb um die Kon-
des Gebietes oder Synergieeffekte durch Betrieb eines zessionen. Die Gemeinde ist auf der Grundlage europäi-
zusätzlichen Netzes realisieren wollen, kann das im Zeit- schen Rechts an die allgemeinen Grundsätze der
alter der Anreizregulierung sicher sinnvoll sein. Auch Gleichbehandlung und Transparenz gebunden, die im
für die Durchführung von Investitionen kann der Zusam- EU-Vertrag festgeschrieben sind. Auch das nationale
menschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebs- Kartellrecht verpflichtet sie, ihre marktbeherrschende
führung Vorteile bringen. Pauschal aber einer Rekom- Stellung bei der Vergabe des Wegenutzungsrechts nicht
munalisierung das Wort zu reden, wie es die Anträge zu missbrauchen.
tun, liegt nicht im Interesse der Allgemeinheit und oft-
Das Energiewirtschaftsgesetz darf kein Schutzgesetz
mals auch nicht im Interesse der Kommunen.
für die Kommunen werden. Effizienz ist das Stichwort:
Ich bin ziemlich sicher, dass der Drang zum eigenen Der effizienteste Netzbetreiber soll sich im Wettbewerb
Stadtwerk gerade bei kleineren Kommunen vielfach dem um die Konzessionen durchsetzen. Das setzt Transpa-
Wunsch entspringt, endlich die in der Vergangenheit renz und Gleichbehandlung gleichermaßen für alle
versäumte Stadtwerkshoheit nachzuholen. Dabei werden Bewerber voraus. Kommunen dürfen sich bei einer Neu-
die heutigen komplexen Regulierungsmechanismen und ausschreibung nicht bevorzugen. Übrigens: Die Kom-
deutlich gestiegenen Geschäftsrisiken gerader kleiner munen können selbst etwas zur Besserung der Situation
Versorgungsunternehmen verkannt. Wenn die Kommune beitragen, denn sie sind die Herren des Verfahrens. Jede
die Kosten und die künftig anstehenden Aufrüstungen Kommune kann die Konzessionäre vertraglich verpflich-
gerade der Verteilnetze mit intelligenter Regelungstech- ten, bei Auslaufen der alten Konzession alle potenziellen
nik unterschätzt, tut sie weder den Bürgern noch sich Mitbewerber mit Informationen zu versorgen.
selbst einen Gefallen.
Noch etwas zum Thema Eigentum: Beim Wechsel des
Ebenso wenig legitim ist der Wunsch, durch den Netz- Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen Versorgung“
erwerb einen größeren Einfluss auf das Energieportfolio gibt es im EnWG eine Überlassungspflicht. Entgegen Ih-
auszuüben – auf dass dieses umweltfreundlicher werde, rer Argumentation gibt es darin sehr wohl eine eindeu-
ganz im Sinne des ökologischen Zeitgeistes. Aber das ist tige Regelung zur Übertragung der Anlagen an einen
ein Trugschluss: Kommunen haben auch so schon die Neukonzessionär. Allerdings sieht man davon ab, eine
Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösungen und er- ausdrückliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung
neuerbare Energien zu investieren, und das machen sie aufzunehmen.

Zu Protokoll gegebene Reden


7748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Klaus Breil
(A) Die FDP will keine Staatsnetze. Eine Verpflichtung großen Energiekonzerne und ihrer Tochterunternehmen (C)
zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeignetes, stoßen. Mit großem juristischem Aufwand versuchen
aber weitaus milderes Mittel. Wir lehnen beide Anträge diese, Ungenauigkeiten im Gesetz zu nutzen, um die Re-
ab. kommunalisierung zu verzögern, zu verteuern und zu
verhindern. Man denke nur an die jahrelangen Aus-
Ulla Lötzer (DIE LINKE):
einandersetzungen um die Rückkaufkosten für die Ener-
gieverteilnetze. Da stehen sich oft David und Goliath ge-
Was wir derzeit erleben, ist an Dreistigkeit kaum noch genüber, wobei – wie sollte es auch anders sein – David
zu überbieten. Die vier großen Energiekonzerne E.ON, gewinnt, wenn ihm nicht vorher die Puste ausgeht. Mit
RWE, EnBW und Vattenfall bestimmen die Energiepoli- den vorgelegten Änderungen des Energiewirtschaftsge-
tik in unserem Land nach ihrem Gutdünken und ihren setzes werden die Unklarheiten beseitigt und die Rekom-
Profitinteressen, und Sie von der Bundesregierung las- munalisierung wird erleichtert.
sen sich zu ihrem Büttel machen. Wenn wir die
Machtstrukturen nicht ändern, stecken wir in einer Doch öffentliches Eigentum alleine ist noch keine Ga-
Sackgasse fest, in der Atomkraft und Kohle weiterhin die rantie für eine bürgernahe Energieversorgung. Jede und
Energieversorgung dominieren und der Ausbau erneu- jeder von uns kennt Beispiele von schlechten Entschei-
erbaren Energien behindert wird. Das Ziel einer Ener- dungen von Stadtwerken über die Köpfe der Bürgerinnen
giepolitik im Dienste der Gesellschaft muss eine und Bürger hinweg. Deshalb ist es dringend notwendig,
effiziente, umweltfreundliche und bezahlbare Energie- die Transparenz und demokratische Kontrolle öffentli-
versorgung auf Basis von Energieeinsparung, erneuer- cher und gemischtwirtschaftlicher Unternehmen deut-
baren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung sein. Dies lich zu verbessern. Die Gemeinwohlverpflichtung muss
kann nur gelingen, wenn die vier Energiekonzerne ent- Priorität erhalten, die Bürgerinnen und Bürger müssen
machtet und die Energieversorgung in die öffentliche über Beiräte Informationen erhalten und mitgestalten
und kommunale Hand gegeben wird. Deshalb wollen können. Es geht schließlich um ihren Strom und um ihre
wir einerseits die Übertragungsnetze vergesellschaften Wärme, um ihre Lebensqualität und um ihre Umwelt.
und andererseits die Rekommunalisierung vereinfachen.
Auf Druck der EU-Kommission haben E.ON und Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vattenfall ihre Höchstspannungsnetze verkauft. RWE Ich begrüße es sehr, dass wir nur wenige Wochen,
will sich von seinem Gasnetz und von 75 Prozent des nachdem wir unseren Entwurf zur Änderung des Ener-
Übertragungsnetzes trennen. Es kann nur als höchst giewirtschaftsgesetzes in den Bundestag eingebracht
fahrlässig bezeichnet werden, dass die Bundesregierung haben, uns erneut mit dem aus meiner Sicht wichtigen
(B) diese Chance nicht genutzt und eine Netzgesellschaft in Thema der Rekommunalisierung hier befassen. Wir tun (D)
öffentlicher Hand gegründet hat. Unisono wird derzeit dies, da auch SPD und Linke Anträge zu diesem Thema
– auch von Ihnen von der Regierungsbank – die Bedeu- vorgelegt haben. Ich begrüße es im Interesse der vielen
tung der Netze und ihres Aus- und Umbaus betont. Doch Kommunen in Deutschland, deren Konzessionsverträge
steuernd eingreifen wollen Sie nicht. Stattdessen über- in den kommenden Jahren auslaufen werden. Es besteht
lassen Sie die Netze Staatsunternehmen aus dem Aus- ganz offensichtlich ein großer Handlungsdruck, die
land und Finanzinvestoren, deren einziges Interesse die Rahmenbedingungen für die Neuvergabe der Konzes-
größtmögliche Rendite ist. Die Netze sind jedoch die Le- sionen so zu setzen, dass Kommunen in die Lage versetzt
bensadern einer sicheren und ökologischen Energiever- werden, ihre Netze selbst betreiben zu können. Hier müs-
sorgung. Sie sind ein natürliches Monopol, dessen Miss- sen wir handeln!
brauch viel Schaden anrichten kann. Deshalb müssen
sie vergesellschaftet werden. Angesichts der gültigen Gesetzeslage können sie
heute die Netze nämlich praktisch nicht selbst überneh-
Darüber hinaus müssen wir die Energieversorgung men oder einen anderen Netzbetreiber wählen, ohne sich
zurück in die Kommunen holen. Die Kommune ist dem gerichtlich mit dem bisherigen Netzbetreiber – in der
Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge verpflichtet. Des- Regel einem der bekannten Energiekonzerne – aus-
halb sind Stadtwerke auch der richtige Ort für eine so- einandersetzen zu müssen. Dies ist eine Auseinanderset-
ziale und ökologische Energieversorgung. Ich will nur zung, die natürlich gerade kleinere Kommunen scheuen.
ein Beispiel nennen. Jedem vernünftigen Menschen Selbst elementare, notwenige Informationen über den
leuchtet ein, dass es ein Irrsinn ist, auf der einen Seite Zustand des Netzes muss der bisherige Netzbetreiber der
Erzeugungsanlagen für Strom und auf der anderen für Kommune nach der heutigen Rechtslage nicht liefern,
Wärme zu betreiben. Wo immer es geht, müssen kombi- und er tut es in aller Regel auch nicht. Ursache sind die
nierte Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen betrieben wer- unklaren Formulierungen in § 46 des Energiewirt-
den. Hier sind die Stadtwerke heute schon Vorreiter. schaftsgesetzes und die daraus resultierende Rechtsun-
Während die KWK in Deutschland nur 12 Prozent aus- sicherheit.
macht, werden Dreiviertel der Erzeugungsanlagen der
Stadtwerke in Kraft-Wärme-Kopplung betrieben. Wir müssen uns bewusst machen, dass ein Großteil
der Konzessionen in Deutschland in den nächsten Jah-
Die Kommunen haben spätestens bei Ablauf der Kon- ren neu vergeben wird. Das bedeutet, es gilt jetzt, bes-
zessionsverträge die Möglichkeit, die Energieversor- sere Rahmenbedingungen für die Netzübernahmen
gung in ihre Hand zu nehmen. Die Erfahrungen zeigen durch Kommunen zu schaffen und den Wettbewerb um
aber, dass sie dabei immer wieder auf Widerstand der die Netze im Sinne der Kommunen und der Verbrauche-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7749
Oliver Krischer
(A) rinnen und Verbraucher zu ermöglichen, bevor viele der Linken das auch so sehen – sollte es sein, den Kom- (C)
Kommunen angesichts der Rechtsunsicherheiten am munen die Rechtssicherheit zu geben, damit sie ein star-
Ende doch wieder die Konzession an den Energiekon- ker Akteur bei der nachhaltigen Umgestaltung der Ener-
zern vergeben müssen. gieversorgung sein können. Dass sie dies sein wollen
und können, zeigen Hunderte kommunaler Stadtwerke
Wir wollen jetzt handeln und haben deshalb einen
überall in der Republik. Sie haben das Know-how, sind
konkreten Gesetzentwurf eingebracht, da wir davon
nah am Kunden und stehen vor allem für eine dezent-
überzeugt sind, dass die Kommunen beim dringend not-
rale, klimaschonende und nachhaltige Energieerzeu-
wendigen Umbau der Energieversorgung ein wichtiger
gung mit erneuerbaren Energien und KWK, aber nicht
Akteur sein werden und vor allem auch die Verbrauche-
für kurzfristige Renditeerwartungen oder die Sicherung
rinnen und Verbraucher in diesem Land davon profitie-
einer Monopolstellung. Meine Damen und Herren, las-
ren werden. Den Kommunen werden dadurch neue
sen Sie uns handeln und diese dringend notwendigen
Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Daseinsvor-
Gesetzesänderungen nicht auf die lange Bank schieben.
sorge und Wertschöpfung vor Ort ermöglicht.
Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion in den
Die energiewirtschaftliche Herausforderung wird in Ausschüssen.
den kommenden Jahren darin bestehen, zentrale Erzeu-
gungsstrukturen mit Kohle- und Atomkraftwerken durch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dezentrale Strukturen mit erneuerbaren Energien und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
Kraft-Wärme-Kopplung zu ersetzen. Dies stellt auch die auf Drucksache 17/3649 und 17/3671 an die in der Ta-
Verteilnetze vor große Herausforderungen: Smart Grids, gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Kombikraftwerke, Speichertechnologien, ein Bedarfs- Damit sind Sie einverstanden. Die Überweisung ist so
management, das der fluktuierenden Einspeisung aus beschlossen.
Wind und Sonne Rechnung trägt, wird auch hier zu gro-
ßen Veränderungen führen. Den Anträgen von SPD und Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Linken entnehme ich, dass diese Auffassung auch von
den Kolleginnen und Kollegen im Grundsatz geteilt Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
wird. Und genau wie sie halten auch wir die Kommunen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
für die richtigen Akteure, diese Aufgaben anzugehen. rung des Vormundschafts- und Betreuungs-
rechts
Es gibt bereits etliche Positivbeispiele in Deutschland
für erfolgreiche Netzübernahmen durch Kommunen – – Drucksache 17/3617 –
trotz der bis heute geltenden Widrigkeiten des Energie- Überweisungsvorschlag:
(B) wirtschaftsgesetzes. Rechtsausschuss (f) (D)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Allein die Bundesregierung interessiert das alles bis-
her offenbar wenig. Sie hat auf eine Anfrage von mir ge- Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
antwortet, dass sie keinen Veränderungsbedarf in § 46 Wir beraten heute in erster Lesung die Reform des
Energiewirtschaftsgesetz im Sinne der Kommunen sieht. Vormundschafts- und Betreuungsrechts.
Auf diese Bundesregierung können die Kommunen also
wieder einmal nicht zählen. Die Interessen der Energie- Unter Vormundschaft versteht man die gesetzlich ge-
konzerne haben offensichtlich einen höheren Stellen- regelte Fürsorge für eine minderjährige, unmündige
wert. Das kennen wir auch von anderen, hinlänglich be- Person, die vom Gericht angeordnet werden kann, wenn
kannten Entscheidungen dieser Regierung. beispielsweise die Eltern des betroffenen Kindes ver-
storben sind oder ihnen das Sorgerecht entzogen wurde.
Die Koalitionsfraktionen wollen sich – wenn über-
In der Praxis werden Vormundschaften daher vor allem
haupt – erst im Rahmen der Umsetzung der europäi-
dann angeordnet, wenn Eltern nicht in der Lage oder
schen Binnenmarktrichtlinie mit diesem Thema beschäf-
willens sind, ihrer elterlichen Verantwortung und Erzie-
tigen – wohl wissend, dass sie damit den Zustand der
hungspflicht gerecht zu werden. Was auf den ersten Blick
Rechtsunsicherheit für die Kommunen auf lange Zeit
eher technisch klingt, hat für das betroffene Kind weit-
nicht beseitigen. Wir hoffen, dass die Diskussion im Aus-
reichende Folgen. In rechtlicher Hinsicht übernimmt
schuss und vielleicht auch eine Anhörung über unseren
der staatliche Vormund die Aufgaben und Pflichten der
Gesetzentwurf und die heute hier vorliegenden Anträge
leiblichen Eltern. Das Kind ist damit in besonderer
den Handlungsbedarf noch einmal deutlich machen.
Weise auf den Schutz und die Fürsorge des Staates im
Dort können wir dann auch Detailfragen klären: So Allgemeinen und des Vormunds im Besonderen angewie-
liegen zum Beispiel für die Bestimmung des Netzkauf- sen.
preises mittlerweile mehrere ähnliche, im Detail aber
Leider wird die geltende Praxis diesem Anspruch
unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch. Hier bedarf
nicht immer gerecht. Die erschütternden und bestürzen-
es aus meiner Sicht noch einer detaillierten Diskussion
den Berichte über Eltern, die ihre Kinder misshandeln
unter Einbeziehung externer Expertise. Wir sind hier of-
oder vernachlässigen, haben in den vergangenen Jahren
fen und werden die angemessenste Lösung im Sinne der
signifikant zugenommen. Nicht zuletzt der schreckliche
Kommunen unterstützen.
Tod des kleinen Kevin aus Bremen hat uns sehr deutlich
Unser gemeinsames Ziel – und ich bin erfreut, dass unsere Verantwortung als Gemeinschaft und Staat für
zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD und diese Kinder vor Augen geführt. Ohne die Ergebnisse
7750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Andrea Astrid Voßhoff


(A) entsprechender gerichtlicher Untersuchungen vorweg- gen dem Vormund so gut wie unmöglich ist, sich dem (C)
nehmen zu wollen, können wir doch davon ausgehen, einzelnen Mündel in ausreichendem Umfang persönlich
dass ein intensiverer und persönlicher Kontakt zwischen zuzuwenden. Allein rein rechnerisch kann sich ein sol-
Amtsvormund und Kind zumindest einige dieser tragi- cher Vormund nicht einmal eine Stunde pro Monat um
schen Fälle hätten vermeiden können. sein Mündel kümmern. Rechnet man die Verwaltungstä-
tigkeit und Fahrtzeit ab, wird einem schnell klar, wie we-
An dieser Stelle knüpft der Regierungsentwurf an:
nig Zeit am Ende wirklich bleibt, um sich nur ansatz-
Durch einen häufigeren persönlichen Kontakt zwischen
weise von der Lebenssituation und den Bedürfnissen der
Vormund und Mündel soll der Schutz der betroffenen
Kinder ein realistisches Bild zu verschaffen.
Kinder nachhaltig verbessert werden – eine Forderung,
die insbesondere auch von Experten wiederholt an den Sofern wir den Anspruch ernst nehmen, dass der Vor-
Gesetzgeber herangetragen wurde. mund entsprechend der gesetzlichen Vorgaben in der
Das Bundesjustizministerium hat im Jahr 2006 vor Lage sein muss, frühzeitig Fehlentwicklungen entgegen-
dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Fällen des zuwirken, muss er einen realistischen und kontinuier-
Kindesmissbrauchs- und der Kindesvernachlässigung lichen Einblick in die Lebenssituation des Mündels
die Expertengruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen haben. Nur so kann er Probleme erkennen, geeignete
bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, die im No- Maßnahmen im Interesse des Mündels veranlassen und
vember 2006 eine Reihe von Vorschlägen zur Optimie- diese auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Das ist in der
rung der familienrechtlichen Praxis vorgelegt hat. Praxis der entscheidende Punkt, und genau hier setzt
der Regierungsentwurf an.
Auf Grundlage dieser Empfehlungen hat bereits die
damalige schwarz-rote Koalition im Jahr 2008 das Ge- Wie von den Experten empfohlen, sollen nun gesetz-
setz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnah- lich verbindliche Regelungen zum persönlichen Kontakt
men bei Gefährdung des Kindeswohls verabschiedet, zwischen Vormund und Mündel vorgegeben sowie Vor-
das in Fällen des Kindesmissbrauchs und der Vernach- gaben zur persönlichen Überwachung von Pflege und
lässigung von Kindern ein frühzeitigeres und niedrig- Erziehung des Mündels gemacht werden. Zudem sollen
schwelligeres Eingreifen der Familiengerichte ermög- Berichtspflichten des Vormunds gegenüber dem Fami-
licht und so den Kinderschutz deutlich effektiver liengericht festgelegt und Letztere ihrerseits verpflichtet
gemacht hat. werden, ausdrücklich auch den persönlichen Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu überwachen. Wegen
Damals ging es uns lediglich um eine erste schnelle der Parallelen zwischen Vormundschafts- und Betreu-
Maßnahme, wobei uns allerdings bewusst war, dass zeit- ungsrecht sieht der Regierungsentwurf zudem vor, die
nah weitere Schritte folgen müssen. Die Expertengruppe geplanten Neuregelungen zur Berichtspflicht sowie zur (D)
(B)
ist daraufhin erneut zusammengetreten, um sich nun vor Aufsichtspflicht des Gerichts auch entsprechend auf die
allem mit der Frage der Zusammenarbeit zwischen Fa- persönlichen Kontakte zwischen Betreuter und Betreu-
miliengerichten und Jugendämtern zu befassen und zu tem anzuwenden.
klären, ob und wie gesetzgeberische Maßnahmen diese
Zusammenarbeit optimieren können. Die zentrale und wichtigste Neuregelung besteht aber
darin, die Zahl der Amtsvormundschaften – ausgehend
Der Bericht der Arbeitsgruppe enthält folglich eine von einer Vollzeitstelle – auf höchstens 50 pro Vormund
Reihe weiterer Empfehlungen an den Gesetzgeber. Diese zu begrenzen. Das würde im Vergleich zur geltenden
betreffen die Themenkomplexe Fortbildung, interdiszi- Praxis, in der, wie gesagt, ein Amtsvormund bis zu
plinäre Zusammenarbeit und Pflegefamilien. Darüber 200 Mündel zu betreuen hat, eine deutliche und spür-
hinaus hat sich eine eigene Unterarbeitsgruppe mit dem bare Verbesserung darstellen. Bei maximal 50 Mündeln
besonders wichtigen Komplex der Vormundschaft be- könnte der Vormund dann einen regelmäßigen und aus-
fasst und auch hierzu zahlreiche Empfehlungen an den reichenden Kontakt zu dem Kind aufbauen und seine Er-
Gesetzgeber gerichtet, die jetzt von der Koalition aufge- ziehungsaufgabe wahrnehmen, sodass Pflege und Erzie-
griffen wurden. hung des Kindes im gesetzlichen Maße gewährleistet
Bereits die geltende Rechtslage setzt eigentlich den wären.
persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mündel vo-
Lediglich der Vollständigkeit halber weise ich darauf
raus. Denn ohne diesen Kontakt kann der Vormund das
hin, dass der jetzt zur Beratung stehende Gesetzentwurf
Kind weder im erforderlichen Maße beaufsichtigen und
die Expertenempfehlungen noch nicht abschließend auf-
beobachten noch hat er die Möglichkeit, die für eine ge-
greift. Mittelfristig soll eine grundlegende Modernisie-
deihliche Entwicklung erforderlichen erzieherischen
rung des Vormundschaftsrechts folgen. Bekanntlich
Maßnahmen zu ergreifen. So weit zumindest die Theorie.
stammt die Grundkonzeption des Vormundschaftsrechts
Leider ist die Praxis – wie so oft – eine gänzlich andere.
noch aus dem 19. Jahrhundert und bedarf daher in vie-
Wir alle wissen, dass es in den Jugendämtern zum Teil len Bereichen struktureller Anpassungen an die geän-
erhebliche finanzielle und personelle Engpässe gibt, die derten Rechts- und Lebensverhältnisse. Wir planen,
eine ausreichende, den gesetzlichen Vorgaben entspre- einen entsprechenden Gesetzentwurf noch in der laufen-
chende Betreuung durch den Vormund nicht zulassen. den Legislaturperiode zu erarbeiten und auf den Weg zu
Ein Amtsvormund ist zuweilen – so auch im Fall des bringen. Für den Moment beschränken wir uns aber auf
kleinen Kevin – für über 200 Mündel zuständig und ver- die dringendsten Probleme und zeitnah realisierbaren
antwortlich. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingun- Maßnahmen. Unser Ansatz lautet also: kurzfristig in ei-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7751
Andrea Astrid Voßhoff
(A) nem ersten Schritt sicherstellen, dass die gesetzlichen Kinder trägt, darf seine Schützlinge nicht nur aus Akten (C)
Qualitätsvorgaben für die Vormundschaft gewährleistet kennen. Ein direkter Kontakt zum Kind und Einblicke in
sind, und dann in einem zweiten Schritt die Strukturen das persönliche Umfeld sind unverzichtbar, um Gefah-
anpassen. ren frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. In der Pra-
xis muss ein Amtsvormund gegenwärtig in vielen Fällen
Was die Einzelheiten angeht, so sehen auch wir noch bis zu 120 Kinder gleichzeitig im Blick haben, bei
eine Reihe von Punkten, über die in den kommenden Wo- Kevins Vormund in Bremen waren es mehr als 200. Der
chen zu diskutieren sein wird. Die zentrale politische persönliche Kontakt ist dadurch oft nicht mehr möglich.
Frage ist dabei sicherlich die neue Obergrenze für Vor- Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Sommer die-
mundschaften. Die Forderungen reichen hier von einer ses Jahres einen Antrag zur Änderung des Vormund-
flexibleren, das heißt weniger starren Obergrenze bis zu schaftsrechts eingebracht, dessen Inhalte erfreulicher-
einer noch niedrigeren Obergrenze. weise teilweise in dem Entwurf der Bundesregierung
Natürlich dürfen wir uns hier keinen Illusionen hin- ihren Niederschlag gefunden haben. Der Entwurf sieht
geben. Die allgemeine Haushaltslage in Deutschland ist vor, die Zahl der Amtsvormünder auf 50 Vormundschaf-
äußerst angespannt und dürfte sich in den nächsten Jah- ten zu begrenzen. Aus unserer Sicht sollte jedoch die von
ren eher noch weiter verschärfen. Vor allem Städte mit einer Vollzeitkraft zu bearbeitenden Vormundschaften
sozialen Brennpunkten, in denen überdurchschnittlich auf 40 Fälle begrenzt werden, damit eine individuelle
viele der gefährdeten Kinder leben, stehen finanziell mit Betreuung ermöglicht werden kann.
dem Rücken zur Wand und haben kaum Spielräume. Da-
Ein erfreulicher Aspekt des Entwurfes ist die aus-
her kann die Forderung nach einer flexibleren Ober-
drückliche Verankerung der regelmäßigen persönlichen
grenze seitens des Bundesrates kaum überraschen.
Kontakte des Vormundes mit dem Mündel. In der Regel
Als Parlament und Gesetzgeber müssen wir uns aber sollten diese persönlichen Kontakte einmal im Monat
stets bewusst sein, dass gerade diese Kinder, die im be- stattfinden, aber, je nach Einzelfall, flexibel gehandhabt
sonderen Maße unseres Schutzes bedürfen, eine schwa- werden. Hier hat die Bundesregierung den Vorschlag
che Lobby haben. Daher stehen gerade wir in besonde- der SPD-Fraktion aufgenommen und die vorgesehenen
rer Verantwortung, im Interesse der betroffenen Kinder Kontakte des Vormunds zu seinem Mündel nicht mehr
die richtigen Prioritäten zu setzen. Wir reden oft davon, nur auf die übliche Umgebung des Mündels beschränkt.
dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer politischen Insbesondere wenn sich das Kind in einer Konfliktsitua-
Bemühungen steht. Wir haben jetzt die Gelegenheit und tion mit seinen Pflegeeltern oder Heimmitarbeitern be-
Pflicht, zu beweisen, dass es sich hierbei nicht um bloße findet, sollte der Kontaktbesuch besser an einem neutra-
Lippenbekenntnisse handelt. len Ort stattfinden.
(B) (D)
Der Regierungsentwurf ist eine gute Grundlage für Die Kontrolle der persönlichen Kontakte zwischen
die weiteren Beratungen. Soweit es hier auch um ganz Vormund und Mündel sind bei den Familiengerichten
praktische Fragen – etwa die Obergrenze für Amtsvor- richtig angesiedelt. Allerdings sollten die Amtsvormün-
mundschaften – geht, werden wir auch in Erwägung zie- der dem Familiengericht auch über die Förderung und
hen, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung externes Überwachung der Pflege und Erziehung des Mündels
Fachwissen in unsere Meinungsbildung einzubeziehen. berichten müssen. Insofern sollte eine Ergänzung des
Wir werden in diesem Zusammenhang selbstverständ- Entwurfes erfolgen.
lich auch die Sorgen und Argumente der Bundesländer
sorgfältig prüfen. Weitere Punkte, die aus der Sicht der SPD-Fraktion
im weiteren parlamentarischen Verfahren geprüft und
Ich lade Sie daher alle ein, gemeinsam mit uns nach eventuell Eingang in die Gesamtreform des Vormund-
Lösungen zu suchen, und freue mich auf offene und kon- schaftsrechtes finden sollten, sind: die Einführung einer
struktive Beratungen. Beschwerdeinstanz, an die sich das Mündel bei Unzu-
friedenheit mit dem Vormund wenden kann, eine ver-
Sonja Steffen (SPD): stärkte Förderung und ein Vorrang unabhängiger Ein-
zelvormünder, auch zur finanziellen und personellen
Wir befassen uns heute mit dem Regierungsentwurf
Entlastung der Jugendämter, eine namentliche Bestel-
der Reform des Vormundschaftsrechts, der einen verbes-
lung der Amtsvormünder, da nur eine Person – und nicht
serten Kinderschutz zum Ziel hat.
ein Amt – dazu imstande ist, eine Beziehung zum Mündel
Unsere Kinder sind die schwächsten Mitglieder unse- aufzubauen, und eine Anhebung der beruflichen Qualifi-
rer Gesellschaft, und nicht jedes Kind wächst behütet in kation der Amtsvormünder auf das Niveau eines Fach-
der eigenen Familie auf. Schlimme Fälle von Kindesver- hochschulabschlusses im Bereich Sozialpädagogik oder
nachlässigung sind uns allen in schrecklicher Erinne- Heilpädagogik.
rung. Wir alle hoffen, dass Änderungen im Vormund-
schaftsrecht dazu beitragen können, Missbrauch und Schließlich sollte sorgfältig geprüft werden, ob das
Vernachlässigung von Kindern zu verhindern. Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Dies
hat der Bundesrat selbst in seiner Stellungnahme vom
Wird Eltern das Sorgerecht entzogen, übernimmt ein 15. Oktober 2010 bereits angemahnt. Die Begrenzung
Vormund die volle Verantwortung für das Kind. In drei der Zahl der Vormundschaften auf 50 wird einen erhöh-
von vier Fällen liegt die Vormundschaft bei den Jugend- ten Personalbedarf in den Jugendämtern gegenüber
ämtern als „Amtsvormund“. Wer Verantwortung für dem bisherigen Zustand mit sich bringen. Ob hier der

Zu Protokoll gegebene Reden


7752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Sonja Steffen
(A) Art. 104 a GG greift und damit eine Zustimmungspflicht chen Mehrausgaben Länder und Kommunen zu rechnen (C)
besteht, sollte im Rechtsausschuss geprüft werden. haben und wie die Finanzierung gestaltet werden soll.
Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht nur, neue
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Gesetze zu schaffen, sondern auch deren Durchsetzbar-
Der vorgelegte Gesetzentwurf kommt den Bedürfnis- keit zu gewährleisten. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
sen der Wirklichkeit nach. Nach den bekannt geworde- wurf stiehlt sich die Regierung einmal mehr aus der Ver-
nen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässi- antwortung, denn sie überträgt den Ländern und
gung sieht sich die Regierung genötigt, endlich aktiv zu Kommunen weitere Aufgaben – wohlwissend, dass die
werden. Die Probleme werden damit allerdings nicht be- dafür erforderlichen finanziellen Mittel bei den Kommu-
hoben, es soll jedoch Schadensminimierung betrieben nen nicht vorhanden sind. Damit wird den Bedürfnissen
werden. der Betroffenen nicht Rechnung getragen. Ich hoffe,
dass wir im Ausschuss entsprechende Lösungen noch
Vom Ansatz her ist der Gesetzentwurf auch in seiner konstruktiv erarbeiten können.
Zielrichtung begrüßenswert. So soll der schon jetzt er-
forderliche persönliche Kontakt zum Mündel durch den Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vormund gesetzlich festgeschrieben werden. Dies wird
Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der
auch der Kontrolle des Familiengerichts unterstellt, in-
Bundesregierung zum Vormundschafts- und Betreuungs-
dem der Vormund dem Familiengericht über die persön-
recht. Zunächst möchte ich auf das Vormundschaftsrecht
lichen Kontakte, welche mindestens monatlich erfolgen
eingehen.
müssen, berichten soll. Fraglich ist, wie es sich in der
Praxis darstellen soll, dass der Vormund die Pflege und Nach den bedrückenden Vorkommnissen in der Ver-
Erziehung persönlich fördern und gewährleisten soll. gangenheit ist es dringend notwendig, die Situation von
Kindern unter Vormundschaft zu verbessern. Insbeson-
Schön ist, dass im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dere der traurige Fall des Kindes Kevin aus Bremen, das
SGB VIII, die Zahl der zu übernehmenden Vormund- im Jahr 2006 zu Tode gekommen ist, hat die Öffentlich-
schaftsfälle bei hauptamtlichen Beschäftigten auf 50 be- keit sensibilisiert. Der Amtsvormund, der für Kevin zu-
grenzt werden soll, wobei sich aber bereits bei dieser ständig war, hatte zu diesem Zeitpunkt 200 Mündel in
Anzahl die Frage nach effektiver Pflege und Erziehung seiner Betreuung. Aufgrund der großen Arbeitsbelas-
stellt. Hier wird Druck aufs Personal ausgeübt, was der tung hatte er keinen persönlichen Kontakt zu Kevin.
Qualität zuwiderläuft. Bei der zulässigen Maximalzahl Deshalb fehlte ihm die eigene Kenntnis von den kata-
stünde pro Mündel ein halber Tag pro Monat zur Verfü- strophalen Verhältnissen, in denen sein Mündel lebte.
(B) gung, im Grunde ist abzusehen, dass diese Zeit kaum Wie können wir den Schutz von Mündeln realistisch ver- (D)
ausreicht, um der Zielstellung des Gesetzes gerecht zu bessern und die Qualität der Vormundschaft sichern?
werden. Dies gilt abgesehen davon, dass die Kosten, Das ist eine Kernfrage bei der Reform des Vormund-
welche auf die Kommunen zukommen, angeblich nicht schaftsrechts.
beziffert werden können.
Der Maßstab für das Handeln des Vormunds kann
Die Zahl der Stellen in den Kommunen dürften im Be- nur das Kindeswohl des Mündels sein. Wir sind uns da-
reich der Amtsvormundschaft zum Teil, so sagt es der rüber einig, dass dazu der persönliche Kontakt des Vor-
Gesetzentwurf ja selbst aus, bis zu 100 Prozent erhöht munds mit dem Mündel unerlässlich ist. Auch sind wir
werden, und dabei muss es sich um qualifiziertes Perso- uns einig darüber, dass die Fallzahlen für die tatsächli-
nal handeln. Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang, chen Betreuungen erheblich reduziert werden müssen.
wie die Kommunen in Zeiten knapper Kassen und Wie können wir das realistisch umsetzen? Der Gesetz-
schwindender Landeszuweisungen diese Kosten tragen entwurf der Bundesregierung sieht vor, die Fallzahlen in
sollen, ohne dass in den Ämtern an anderer Stelle ge- der Amtsvormundschaft auf 50 Vormundschaften je Mit-
spart wird. Hinsichtlich der Änderung zu § 1840 BGB arbeiter zu begrenzen. Ferner soll der persönliche Kon-
(Jahresbericht) scheint dies entbehrlich zu sein, zumal takt in der Regel einmal im Monat stattfinden, wenn
der Vormund dem Gericht laufend über die persönlichen nicht im Einzelfall andere Besuchsabstände erforderlich
Kontakte entsprechend § 1837 BGB zu berichten hat. sind. Ob ein Vormund so eine echte und intensive Be-
treuung gewährleisten kann, ist fraglich. Würde der
In diesem Kontext dürfte auch ein erhöhter Arbeits- Amtsvormund bei einer Fallzahl von bis zu 50 Vormund-
aufwand bei der Justiz anfallen, da sämtliche Fälle von schaften jeweils einen monatlichen Kontakt zum Mündel
Amtsvormundschaften permanent kontrolliert werden herstellen wollen, müsste er jährlich 600 Kontakte
müssen, um notfalls auch den Amtsvormund abzubestel- wahrnehmen. Dies wäre zusätzlich zu den festgeschrie-
len, falls dieser seiner monatlichen Kontaktpflicht nicht benen und neben den übrigen für sein Mündel zu leisten-
nachkommt. Von daher sind nicht nur die Gebietskörper- den Aufgaben nicht realisierbar. Dem Kindeswohl wird
schaften, wie der Gesetzentwurf nahelegt, sondern auch das nicht gerecht.
die Länder selbst im Rahmen der Stellen in der Justiz be-
troffen – wenn auch nicht in dem Maße wie die Jugend- Wir fordern daher, dass im Gesetz die Festschreibung
ämter. Zur Ermittlung der genauen Kosten dürfte es ei- der Vormundschaften auf eine angemessene Fallzahl re-
nigermaßen problemlos sein, die entsprechenden Zahlen duziert wird. Jede Fachkraft sollte nur so viele Vor-
von den Landesjustizverwaltungen und Landesjugend- mundschaften führen, wie dies mit Blick auf die Erfül-
ämtern einzuholen, um dann hochzurechnen, mit wel- lung ihrer gesamten Verpflichtungen gegenüber dem

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7753
Ingrid Hönlinger
(A) Mündel möglich ist. In der Gesetzesbegründung sollte erst recht nicht, wenn der Aspekt aus dem Gesamtzusam- (C)
vorgesehen werden, dass sich die Vormundschaften ei- menhang gerissen wird. Ich möchte darauf aufmerksam
ner Vollzeitkraft in einem Rahmen von 30 bis 50 Fällen machen, dass wir zum Betreuungsrecht an die Bundesre-
bewegen. 50 Fälle je Vollzeitkraft sollten die absolute gierung eine Große Anfrage gestellt haben. Davon sind
Obergrenze sein. noch viele Fragen offen.
Einen anderen zentralen Punkt sehen wir in dem Mit- Abschließend ist zu sagen, dass der Ansatz der Bun-
spracherecht des Mündels. Wie kann das Mündel in die desregierung zum Vormundschaftsrecht zu begrüßen ist.
Entscheidungen seines Vormunds miteinbezogen wer- Allerdings bestehen erhebliche Bedenken im Hinblick
den? Wir begrüßen die Einführung der mündlichen An- auf eine Umsetzung, die eine echte und intensive Betreu-
hörung des Mündels vor Bestellung des Beamten oder ung gewährleisten würde. Die wichtige Frage der Kos-
Angestellten des Jugendamts zum Vormund. Dennoch ten ist nicht geklärt. Wir sehen darin auch eine große
geht uns diese Einbeziehung des Mündels nicht weit ge- Gefahr für die Qualität der Vormundschaft. Daher lehnt
nug. Wie im Betreuungsrecht könnte je nach Alter des meine Fraktion den Antrag ab.
Mündels eine Beteiligung an Entscheidungen des Vor-
munds – vgl. § 1901 Abs. 3 Satz 3 BGB – aufgenommen
oder dem Mündel eine Beschwerdemöglichkeit einge- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
räumt werden. desministerin der Justiz:
Kinderschutz ist ein zentrales Thema, das wir alle
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Qualität der Vor- sehr ernst nehmen. Ein wichtiger Bestandteil des Kin-
mundschaft. Wie kann die Aus- und Weiterbildung für derschutzes in unserer Rechtsordnung ist das Vormund-
diese Vielzahl an neuen Amtsvormündern gewährleistet schaftsrecht. In der Vergangenheit haben Fälle von Kin-
und umgesetzt werden? Es ist nicht hinreichend geklärt, desmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen mit
inwiefern die Jugendämter ausreichend qualifizierte Todesfolge oder mit der Folge erheblicher Körperverlet-
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kürze der Zeit zung gezeigt, dass leider in der Praxis des Vormund-
finden. Es muss zeitnah mit der Schulung und Qualifizie- schaftsrechts Defizite bestehen. Auch ein bestellter Vor-
rung potenzieller neuer Vormünder begonnen werden. mund hat die ihm anvertrauten Kinder – hier sei nur an
Zusätzlich werden erhebliche Kosten auf die Kommunen den kleinen Kevin aus Bremen erinnert – nicht immer
zukommen. Die Kommunen sind schon durch andere hinreichend vor den Gefährdungen aus ihrem Le-
Pflichtaufgaben am Rande ihrer finanziellen Leistungs- bensumfeld geschützt.
fähigkeit angekommen und sind finanziell nicht in der
Lage, die Kosten dieser neuen Maßnahmen alleine zu Das Bundesministerium der Justiz hat als Reaktion
tragen. Im Gesetzentwurf fehlt eine genaue Kalkulation auf die bekannt gewordenen Fälle von Kindesvernach-
(B)
der anfallenden Kosten. Es besteht die Gefahr, dass Gel- lässigungen die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche (D)
der aus anderen wichtigen Bereichen der Jugendhilfe Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls – § 1666
abgezogen werden. Auch sieht der Gesetzentwurf keine BGB“ einberufen. Diese hat festgestellt, dass eine der
Übergangsvorschrift vor. Es ist von besonderer Bedeu- Hauptursachen dafür, dass Missstände und Vernachläs-
tung, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die sigungen nicht abgestellt worden sind, vor allem die zu
Qualität der Vormundschaften gesichert ist. Wir sehen hohe Fallzahl bei den Amtsvormündern ist. Übrigens
darin einen wichtigen Aspekt für die Gewährleistung des haben mehrere Vertreter der Länder an der Arbeits-
Kindeswohls. Das gibt der Gesetzentwurf nicht her. gruppe mitgewirkt. Die Amtsvormünder kennen ange-
sichts hoher Fallzahlen ihre Mündel oftmals im Wesent-
Abschließend möchte ich den Fokus auf das Betreu- lichen nur aus den Akten. Einige Amtsvormünder sind
ungsrecht richten. Auch hier stellt sich die Frage: Wie für über 200 Mündel zuständig. So war es im Fall Kevin.
kann die Qualität der beruflichen Betreuung verbessert Das Landgericht Bremen hat das Strafverfahren gegen
werden? Die Bundesregierung möchte die Besuchsse- den Amtsvormund im August dieses Jahres gegen die
quenz des Betreuers beim Betreuten auf das sogenannte Zahlung eines Geldbetrages eingestellt. Der Amtsvor-
erforderliche Maß festlegen. Als Sanktion sieht sie die mund habe unter starker Arbeitsbelastung gestanden
Entlassung des Betreuers vor. und trage deshalb nur geringe persönliche Schuld an
Der Evaluationsbericht zum Zweiten Betreuungs- dem tragischen Vorfall. Ein Sachverständiger hatte zu-
rechtsänderungsgesetz nennt zwar die Besuchshäufig- vor im Gerichtsverfahren bestätigt, dass jeder Bremer
keit als einen möglichen Faktor, um die Qualität der Amtsvormund für durchschnittlich 240 Kinder zuständig
Betreuung zu messen. Der Bericht empfiehlt aber gleich- gewesen sei und sich praktisch nur zwei Minuten pro
zeitig, andere Faktoren zur Qualität heranzuziehen, die Woche um die Einzelfälle habe kümmern können, meist
mitunter noch eruiert werden müssen. Auch in der fach- nur nach Aktenlage. Überlastungsanzeigen der Behör-
lichen Debatte spielt die Besuchshäufigkeit als Quali- denmitarbeiter seien „teilweise unbeantwortet geblie-
tätskriterium eine untergeordnete Rolle. Zu nennen sind ben“.
hier insbesondere Kontrolle der Betreuungen, fachliche
Hier setzen wir mit unserem Gesetzgebungsvorhaben
Qualifikation der Betreuer, leistungsgerechte Vergütung
an. Die Bundesregierung will, dass Kinder durch die
und so weiter.
Rechtsordnung bestmöglich vor Vernachlässigung, Gewalt
Das Betreuungsrecht muss insgesamt reformiert wer- und Missbrauch geschützt werden. Gerade die Vormünder,
den. Der persönliche Kontakt ist nur ein kleiner Be- also auch die Amtsvormünder, müssen als Verantwortliche
standteil und sollte nicht einzeln geregelt werden. Dies für die Personensorge der ihnen anvertrauten Kinder an-

Zu Protokoll gegebene Reden


7754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) gehalten werden, sich selbst in jedem Fall direkt mit der kreten Pflichten für Vormünder und Kommunen, damit (C)
Situation auseinanderzusetzen und sich nicht nur auf die zukünftig Kindern wie dem kleinen Kevin auch tatsäch-
Aussagen von anderen zu verlassen. lich ein besserer Schutz gewährt werden kann.
Der Gesetzentwurf hat das zentrale Ziel, den Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu stärken, damit der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Vormund Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
frühzeitig erkennen und dagegen einschreiten kann. Be- wurfs auf Drucksache 17/3617 an die in der Tagesord-
reits das geltende Recht setzt den persönlichen Kontakt nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
des Vormunds zu dem Mündel voraus. Ohne persönli- damit einverstanden. Die Überweisung ist so beschlos-
chen Kontakt kann der Vormund die Pflicht und das sen.
Recht, die Pflege und Erziehung des Mündels zu fördern Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
und zu gewährleisten, nicht wahrnehmen. Das geltende
Recht setzt auch eine Begrenzung der Fallzahlen voraus, Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
da nur so sichergestellt ist, dass der Vormund die ihm Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch,
übertragenen Aufgaben verantwortungsbewusst aus- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
üben kann. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landes- LINKE
jugendämter hat hierfür bereits im Jahr 2000 eine Ober-
Beziehung der Europäischen Union mit Afrika
grenze von 50 Vormundschaften und Pflegschaften pro
solidarisch und gerecht gestalten
vollzeitbeschäftigtem Mitarbeiter empfohlen.
– Drucksache 17/3672 –
In der Praxis werden diese Pflichten und Empfehlun-
gen aber offenbar nicht in jedem Fall ernst genug ge- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
nommen. Es ist daher unerlässlich, klare Zahlen – so- Entwicklung (f)
wohl bei der Kontakthäufigkeit als auch bei den Auswärtiger Ausschuss
Fallzahlen – ins Gesetz zu schreiben. Nur so können wir Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
nach meiner festen Überzeugung tatsächlich eine Ände- Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
rung im Verhalten mancher Vormünder und in der Aus- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
gestaltung mancher Amtsvormundschaften bewirken. Es
geht uns nicht darum, neue Vorgaben und Pflichten für
den Vormund einzuführen, sondern es soll stattdessen Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):
klargestellt und festgeschrieben werden, wie es eigent- Wir debattieren heute den Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Beziehungen der Europäischen
(B) lich schon nach dem geltenden Recht in der Vormund- (D)
schaft laufen sollte. Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten“ in
erster Lesung. Ich muss Ihnen sagen: Der Inhalt und die
Wir sind uns darüber im Klaren, dass es bei der Um- Forderungen des Antrages überraschen mich in keinster
setzung des Gesetzentwurfes zu Mehrkosten für einige Weise. Nein, sie waren sogar zu erwarten. Sie schreiben
Kommunen kommen kann. Einige Kommunen, Länder in Ihrem Antrag wieder einmal von kolonialen Domi-
und auch die Bundesvereinigung der kommunalen Spit- nanzverhältnissen, von Durchsetzung von Rohstoff- und
zenverbände haben hierauf auch ausdrücklich hingewie- Wirtschaftsinteressen, von Fluchtursachen und von ver-
sen und sich mit entsprechenden Schreiben an Mitglieder netzter Sicherheit. Meine Damen und Herren von der
des Deutschen Bundestages gewandt. Die Bundesregie- Linken, ich finde es außerordentlich traurig, dass Sie
rung hat dies bei der Ausarbeitung der Gegenäußerung wieder einmal das so wichtige Thema Afrika für Ihre
zu der Stellungnahme des Bundesrates nochmals über- ideologischen Forderungen missbrauchen und dem
dacht. Wir sind der Auffassung, dass an der Fallzahl von Thema damit bei weitem nicht gerecht werden. Auch hat
50 nicht gerüttelt werden sollte. Die vorgeschlagene man das Gefühl, dass Sie Forderungen, die Sie zum Bei-
Fallzahl entspricht den fachlichen Empfehlungen. Der spiel zu Afghanistan aufgestellt haben, unisono auf den
Bundesrat selbst geht in seiner Begründung davon aus, afrikanischen Kontinent übertragen haben und somit
dass „ein Orientierungsrahmen von 50 Vormundschaf- komplett an der Realität vorbeigehen. Also hören Sie
ten oder Pflegschaften angemessen ist“. Ohne die aus- bitte auf, Ihre ideellen Generalansichten auf alles und
drückliche Festschreibung im Gesetz ist – wie die derzei- jeden zu projizieren, und befassen Sie sich endlich ein-
tige Praxis zeigt – nicht hinreichend sichergestellt, dass mal im Detail mit diesem wichtigen Kontinent Afrika.
die fachlichen Empfehlungen in der Praxis umgesetzt
werden. Ich halte die Mehrkosten deshalb für akzeptabel. Bevor ich nun im Detail auf Ihre Feststellungen und
Ein verbesserter Kinderschutz durch mehr persönliche Forderungen eingehe, lassen sie mich bitte noch eine
Zuwendung eines Vormundes zu seinen Mündeln ist eben generelle Anmerkung zu Ihrem Antrag machen. Sie ma-
nicht zum Nulltarif zu haben. Viele Kommunen kommen chen in diesem Antrag wieder einmal den Fehler, dass
ihren Verpflichtungen schon jetzt nach. Die Mehrkosten Sie immer nur von dem Kontinent Afrika sprechen und
betreffen also nur die Kommunen, die bislang ihre Amts- so zum Beispiel in Ihrem Antrag fordern, dass Deutsch-
vormünder mit einer zu hohen Zahl von Mündeln belastet land eine Neuausrichtung der Beziehung zu Afrika
haben. durchführt. Genau da liegt Ihr Fehler. Man kann nicht
von einer Beziehung zwischen Deutschland und Afrika
Ich bitte Sie daher bei den Beratungen um Unterstüt- sprechen; vielmehr besteht Afrika aus 54 eigenständigen
zung unseres Gesetzentwurfes gerade auch mit den kon- Staaten, die eigene Interessen, Bedürfnisse, aber auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7755
Hartwig Fischer (Göttingen)
(A) Probleme haben. Genau dies macht es ja so schwierig, die Rohstoffe wie China im Tausch gegen Waffen auf (C)
eine einheitliche EU-Afrika-Strategie durchzusetzen; dem Schwarzmarkt erwerben, sondern unterstützen die
denn die afrikanischen Staaten unterscheiden sich von- afrikanischen Staaten bei ihren Bemühungen, die Roh-
einander genauso wie die europäischen oder asiatischen stoffe zertifiziert abzubauen und auf dem Weltmarkt zu
untereinander. Ihre Kritik, dass die EU und Deutschland Weltmarktkonditionen und Weltmarktpreisen zu verkau-
mit Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen Ab- fen. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die
kommen geschlossen hat, geht vollkommen ins Leere; Wertschöpfung aus dem Verkauf der Rohstoffe im Erzeu-
denn die Voraussetzungen der Zusammenarbeit sind für gerland bleibt und somit der Bevölkerung zugutekommt.
jedes Land unterschiedlich und müssen für jeden einzel- Als Beispiel sei hier nur Botswana genannt, das es auf-
nen Fall geprüft werden. Wir begehen nicht den Fehler grund der Zertifizierung von Rohstoffen geschafft hat, in
wie Sie, alle afrikanischen Länder in einen Topf zu circa zwölf Jahren seinen Haushalt von hoher Geberfi-
schmeißen und alle gleich zu behandeln. Für uns gibt es nanzierung auf weitestgehende Eigenfinanzierung um-
große Unterschiede zwischen Staaten wie Sudan und auf zustellen.
der anderen Seite zum Beispiel Tansania. Auch kann
Diesem guten Beispiel folgend unterstützen wir die
man bei diesen Verträgen nicht von einem kolonialen
Transparenzinitiative EITI und führen gemeinsam mit
Dominanzverhältnis sprechen; denn in Wirklichkeit ist
unserer Gesellschaft für technische Zusammenarbeit
es doch so, dass unsere Partnerländer mit ihren Wün-
und Entwicklung, GtZ, und der Bundesanstalt für Geo-
schen im Rahmen der Regierungsverhandlungen auf uns
wissenschaften und Rohstoffe, BGR, eine Innovationsin-
zukommen und wir dann diskutieren, wie wir als Bun-
itiative zur Rohstoffzertifizierung im Osten der DR
desrepublik Deutschland bei der Erreichung der Wün-
Kongo durch. Denn nur so schaffen wir es, vielen Rebel-
sche und Ziele helfen können. Dies passiert auf Augen-
lengruppen die Einnahmequellen zu nehmen, um somit
höhe und nicht, wie Sie glauben.
Frieden und Sicherheit in viele unsichere Gegenden zu
Aber nun zu Ihren eigentlichen Forderungen. Sie wer- bringen.
fen in Ihrem Antrag der deutschen Entwicklungspolitik In einer weiteren Forderung kritisieren Sie das Kon-
vor, der Durchsetzung von Wirtschafts- und Rohstoffin- zept der vernetzten Sicherheit und die Ausbildung von
teressen zu dienen und diese auch zu militarisieren. Da- Sicherheitskräften, die auch mit deutscher Unterstüt-
bei benennen Sie explizit den deutschen Beitrag zur zung vor Ort gewährleistet wird. Es wird Sie sicherlich
„Atalanta“-Mission. Ich war im Februar 2009 in Dschi- nicht überraschen, wenn ich nun sage: Ja, wir bilden
buti und konnte mich vor Ort über den Beitrag der deut- Sicherheitskräfte aus. – Aber warum tun wir dies, und
schen Fregatten informieren. Das Bundeskabinett hat wie geschieht das? Die Bundesrepublik Deutschland hat
am gestrigen Tage die Verlängerung des „Atalanta“- sich im Jahre 2010 mit 1 Million US-Dollar an der Aus- (D)
(B) Mandates beschlossen, und wir werden daher bald hier
bildung von 1 000 somalischen Polizisten in Äthiopien
im Deutschen Bundestag die Möglichkeit haben, aus- beteiligt. Ferner stellt Deutschland nach Beendigung
führlich darüber zu diskutieren. Daher nur so viel: Die dieser Ausbildung an UNDP der Vereinten Nationen
somalische Bevölkerung leidet noch immer unter den 600 000 Dollar für Soldzahlungen an diese Polizisten
Folgen des Bürgerkriegs. Nach Angaben der Vereinten zur Verfügung. Seit dem April 2010 beteiligt sich
Nationen sind rund 3,2 Millionen Menschen im Land auf Deutschland im Rahmen der europäischen Initiative
humanitäre Hilfe angewiesen. Im laufenden Jahr er- EUTM, die auf Wunsch der Vereinten Nationen gebildet
reichten Somalia bislang an die 90 000 Tonnen Nah- wurde, mit 13 Ausbildern an der Ausbildung von 2 000
rungsmittel und andere Hilfsgüter. Dies reichte, um bis somalischen Soldaten in Uganda. Wie Sie sehen können,
zu 1,8 Millionen Menschen zu versorgen. Die Hilfsgüter werden alle Ausbildungsmissionen im Rahmen oder auf
kommen fast ausschließlich auf dem Seeweg: im Auftrag Wunsch der Vereinten Nationen durchgeführt und dienen
des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, allein der Stabilisierung und Unterstützung der derzeiti-
der Mission der Afrikanischen Union in Somalia und an- gen somalischen Übergangsregierung. Dies schafft
derer Hilfsorganisationen. Sie führen die notwendigen Frieden und Stabilität in dem von Krieg und Elend so
Schiffstransporte ins Land durch. Immer wieder waren geschüttelten Land Somalia. Daher kann ich beim bes-
die Schiffstransporte das Ziel von Piratenüberfällen. ten Willen nicht verstehen, wie Sie in Ihrem Antrag for-
Seit Beginn von „Atalanta“ hat es aber keinen Übergriff dern können, alle polizeilichen und militärischen Ko-
mehr auf Hilfstransporte gegeben. Alle 86 im Auftrag operationen mit unseren afrikanischen Partnerländern
des Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffs- sofort zu stoppen. Dies zeigt, wes Geistes Kind Sie sind.
transporte kamen sicher an. Insgesamt gelangten so fast Akzeptieren Sie endlich, dass wir, obwohl es Ihnen nicht
470 000 Tonnen Nahrungsmittel nach Somalia. Dies passt, den Menschen helfen und sie nicht, wie Sie es wol-
zeigt, dass diese Mission und der deutsche Beitrag len, dem Sterben überlassen. Sie erkennen weder die
hierzu das Leiden und Sterben der Menschen und somit Einsätze der Vereinten Nationen im Sudan noch in der
die von Ihnen so oft diskutierten Fluchtursachen in So- DR Kongo an, sondern schieben lieber Ihre ideologi-
malia lindern und verhindern, und es wird langsam Zeit, schen „Hirngespinste“ – wie auch in Afghanistan – vor
dass Sie das auch einmal zur Kenntnis nehmen und ver- sich her und riskieren somit den sinnlosen Tod von Tau-
stehen. senden von Menschen.
Aber in einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Deutsch- Zum Abschluss möchte ich die Kolleginnen und Kol-
land als Exportnation hat ein Interesse an den Rohstof- legen der Fraktion Die Linke auffordern, endlich ihre
fen afrikanischer Länder. Aber wir wollen gerade nicht ideologische Brille abzunehmen und der Realität auf

Zu Protokoll gegebene Reden


7756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Hartwig Fischer (Göttingen)


(A) dem afrikanischen Kontinent ins Auge zu blicken. Wir stützt, weil sie auch dazu beitragen, Arbeitsplätze zu (C)
sehen auf unseren gemeinsamen Delegationsreisen vor schaffen, von denen man leben kann. Die Menschen in
Ort die Probleme und Sorgen der Menschen. Wir sehen, Afrika sind in die Lage zu versetzen, durch eigene Arbeit
was gut läuft und was weniger, und die erkannten Miss- und – ganz wichtig – durch die Erzielung eines existenz-
stände versuchen wir nach unserer Rückkehr sofort ab- sichernden Einkommens der Armut zu entkommen.
zustellen. Aber dies gelingt uns nicht mit solchen ideolo-
Die Stärkung der sozialen Sicherung – in Verbindung
gisch geprägten Anträgen, die komplett an der Realität
mit wirtschaftlichem Wachstum – ist eine der großen He-
vorbeigehen.
rausforderungen, die aber mit gemeinsamem Know-
how-Transfer zu schaffen sind. Deshalb geht es zualler-
Karin Roth (Esslingen) (SPD): erst um Good Governance für eine ökosoziale Markt-
Am 29. und 30. November 2010 findet in Libyen das wirtschaft. Eigenverantwortung als wichtiger Anspruch
dritte Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union für demokratische Entwicklungsprozesse gilt es zu för-
und den afrikanischen Staaten statt. Die Vorzeichen sind dern, aber auch zu fordern. Dabei ist der Kampf gegen
vielversprechend: Der Gipfel soll ganz im Zeichen einer Korruption eine wichtige Voraussetzung, um Investitio-
Partnerschaft auf Augenhöhe für eine bessere gemein- nen in afrikanischen Staaten zu ermöglichen.
same Zukunft stehen. Die Herausforderungen sind je-
doch gewaltig. Es geht um nichts weniger als Armutsbe- Es geht um die Förderung und Gleichstellung von
kämpfung, Frieden, Sicherheit, Demokratie, Menschen- Frauen in den afrikanischen Ländern. Denn die Frauen
rechte, Global Governance und Klimawandel. Damit sind es, die für den wirtschaftlichen und sozialen Auf-
bietet sich der internationalen Staatengemeinschaft gut bruch in den Ländern Subsahara-Afrikas stehen. Sie
zwei Monate nach der Millenniumskonferenz der Verein- sind der Motor einer erfolgreichen europäischen Ent-
ten Nationen in New York die einmalige Gelegenheit, wicklungspolitik in und mit Afrika. Und es geht um Bil-
weitere verbindliche Schritte bei der Bekämpfung der dung als Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes
Armut in Afrika zu gehen. Eines muss aber klar sein: Leben ohne Armut. In dem Antrag der Linken zum be-
Dieser EU-Afrika-Gipfel darf keine reine Handelsrunde vorstehenden EU-Afrika-Gipfel, mit dem wir uns heute
werden. Er darf nicht zu einem Wettlauf um die besten beschäftigen, ist von all diesen Punkten nichts zu finden.
Rohstoff- und Energievorkommen in Afrika führen. Die Erwartungen und Forderungen der SPD-Bundes-
tagsfraktion an die 80 Staats- und Regierungschefs auf
Natürlich verfolgen wir alle die umfangreichen Akti-
dem EU-Afrika-Gipfel hingegen sind sehr viel weitrei-
vitäten Chinas zur Sicherung seiner eigenen Rohstoffbe-
chender und ehrgeiziger. Die Erreichung der Millenni-
darfe auf dem afrikanischen Kontinent mit großer Sorge.
umsentwicklungsziele in den Ländern Afrika steht nach
Vieles erinnert an kolonialstaatlichen Habitus, den wir
(B) wie vor im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit. Die (D)
im 21. Jahrhundert schon hinter uns glaubten. Deshalb
bisherige Bilanz ist ungenügend. Deshalb müssen die
muss die Europäische Union auf eine gemeinwohlorien-
Europäische Union und die nationalen EU-Geberländer
tierte Regulierung von Ressourcen mit den jeweiligen
ihre Anstrengungen besser koordinieren, wirksamer ge-
Ländern setzen und diese bei der Zertifizierung und dem
stalten, aber auch materiell verstärken. Hier wünsche
Ressourcen-Management unterstützen. Auch das schafft
ich mehr gegenseitige Absprachen und Prioritätenset-
Arbeit, ist nachhaltig und im Interesse der gesamten
zung innerhalb der Europäischen Union.
Weltgemeinschaft. Ich begrüße ausdrücklich den Vor-
schlag der EU-Kommission im Rahmen des Rohstoffma- Um nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum voran-
nagements, die sogenannte Initiative zur Verbesserung zubringen, bedarf es – wie bereits in der Mitteilung der
der Transparenz in der Rohstoffindustrie, EITI, einzu- EU-Kommission vom 10. November zum EU-Afrika-
schalten, damit ein wirksames Controlling aufgebaut Gipfel angekündigt – verschiedener Initiativen. Aus-
werden kann. Das übergeordnete Ziel des Gipfels ist drücklich begrüßen wir den Vorschlag einer echten Ko-
„Wachstum, Investition und Schaffung von Arbeitsplät- härenz in der Entwicklungspolitik. Dabei geht es um
zen“. Ich bin der Kommission dankbar, dass die Bezie- bessere Rahmenbedingungen zur Finanzierung von In-
hungen zwischen Europa und Afrika damit entkoppelt vestitionen der europäischen Privatwirtschaft, aber
werden von einer rein entwicklungspolitischen Dimen- auch um die Unterstützung von Kleinkrediten zum Auf-
sion. Denn es geht tatsächlich um mehr. bau kleiner Unternehmen – zum Beispiel durch Mikrofi-
nanzkredite. Damit konnten bereits zahlreiche Arbeits-
Die im Jahr 2007 in Lissabon verabschiedete EU- plätze geschaffen werden. Dieses Instrument aus-
Afrika-Strategie, die ganz wesentlich vom damaligen zubauen und dabei gleichzeitig Ausbildung und Qualifi-
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der Ent- zierung zu unterstützen, wird zu erheblichem regionalem
wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Wachstum beitragen.
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorbe-
reitet wurde, bietet eine gute Grundlage für die weitere Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie kon-
Vertiefung und den Ausbau der europäisch-afrikani- struktiv die Erweiterung und Vertiefung der Beziehun-
schen Partnerschaft. Es geht darum, gemeinsam mit den gen der Europäischen Union mit den afrikanischen
afrikanischen Partnern eine Strukturpolitik zu unterstüt- Staaten unterstützt. Allerdings – und das sage ich ganz
zen, die den Klimaschutz und ein nachhaltiges Wachs- ehrlich – habe ich da so meine berechtigten Zweifel. Seit
tum fördert, um aus der Armutsfalle herauszukommen. zwölf Monaten beschränkt sich die deutsche Entwick-
Die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission zur so- lungspolitik auf die Umsteuerung von multilateraler Zu-
zialen Kohäsion werden von uns ausdrücklich unter- sammenarbeit auf bilaterale Projekte und erschwert

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7757
Karin Roth (Esslingen)
(A) damit die Koordinierung, besonders in den afrikani- Ausbeutung und fördert Nachhaltigkeit von wirtschaftli- (C)
schen Staaten. Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag chem Wachstum. Viertens. Die handelsverzerrenden
führt insofern eher in die Irre, anstatt mit der Europäi- Subventionen vor allem im Agrarbereich sind zu beseiti-
schen Union eine entwicklungspolitische Kohärenz her- gen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gehen
zustellen. Auch das ständige Erzählen über die Förde- den Entwicklungsländern aufgrund unfairer Handelsbe-
rung deutscher Wirtschaftsprojekte ist nicht glaub- ziehungen jährlich rund 700 Milliarden Dollar verloren.
würdig, wenn gleichzeitig die ODA-Quote nicht erreicht Das ist etwa das Sechsfache der gesamten Entwick-
wird und sich Finanzversprechen auf internationalen lungsmittel.
Gipfeln nicht im Haushalt der Bundesregierung wieder-
finden. Fünftens. Die EU muss mit den afrikanischen Part-
nern eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Kor-
Die Kanzlerin hat beim G-8-Gipfel 2010 in Kanada ruption und Einhaltung der Menschenrechte verabreden
zur Bekämpfung der Kinder- und Müttersterblichkeit und umsetzen. Sechstens. Die Gleichberechtigung von
400 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre – und Frauen, die Förderung von Frauenrechten und die Be-
damit jährlich 80 Millionen Euro – versprochen. Im rücksichtigung der besonderen Belange von Frauen,
Haushalt sind aber nur 22 Millionen Euro vorgesehen. zum Beispiel im Bereich der sexuellen und reproduktiven
Die Kanzlerin ist damit wenig glaubwürdig. Das bleibt Gesundheit, muss in einem konkreten Gender-Aktions-
auch in Tripolis kein Geheimnis. plan umgesetzt werden. Siebtens. Von dem EU-Afrika-
Gipfel muss ein ganz klares Signal zur Bekämpfung des
Und es wird nicht besser. So hatte sich Deutschland Klimawandels und der Umweltzerstörung – für den zeit-
verpflichtet, die öffentliche Entwicklungshilfe – die so- gleich beginnenden UN-Klimagipfel in Cancun – ausge-
genannte ODA-Quote – im Jahr 2010 auf 0,51 Prozent hen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt deshalb
des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind wir die Festlegung auf eine gemeinsame Position in einer
weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu separaten Gipfel-Erklärung.
kommen, wird diese Bundesregierung – wenn sie so wei-
ter macht – nie und nimmer erreichen. Wir alle wollen, dass europäische und deutsche Poli-
tik größtmögliche Wirkung bei der Bekämpfung der Ar-
Besonders ignorant verhält sich der zuständige mut in der Welt erzielt. Nehmen Sie sich deshalb vor al-
Minister für Entwicklungszusammenarbeit. Zulasten in- lem die Mahnung der EU-Kommission zu Herzen:
ternationaler Zusagen wollte er nur bis 2011 den Globa-
len Fonds zur Bekämpfung von Aids/HIV, Tuberkulose In Europa sind es die konkurrierenden nationalen
und Malaria mit 200 Millionen Euro unterstützen. Erst Interessen, die unkoordinierten bilateralen Initiati-
auf Druck der SPD und der Nichtregierungsorganisatio- ven und die fehlende Koordinierung der Instru-
(B) nen wurde hier in letzter Sekunde zurückgerudert. Jetzt mente, welche die Sichtbarkeit und Zugkraft der (D)
gibt es wenigsten sogenannte Verpflichtungsermächti- Politik untergraben.
gungen in Höhe von 400 Millionen Euro für die Jahre Das schreibe ich der Bundesregierung ins Stamm-
2012 und 2013. Bei diesem Fonds geht es um die Ret- buch.
tung von Menschenleben. 67 Prozent der schätzungs-
weise 33,4 Millionen mit dem HI-Virus infizierten Men-
schen leben in den Ländern Subsahara-Afrikas. Wer Joachim Günther (Plauen) (FDP):
also wirtschaftliche Entwicklung will, muss auch dafür Der rund eintägige EU-Afrika-Gipfel vom 29. bis
sorgen, dass die Menschen gesund werden und bleiben. 30. November 2010 in Tripolis ist nach Kairo im Jahr
2000 und Lissabon 2007 der dritte Gipfel, der den
1,5 Milliarden Menschen in 80 Ländern in der Euro- Staats- und Regierungschefs beider Kontinente eine
päischen Union und Afrika haben ein Recht darauf, dass Möglichkeit zum Austausch bietet. Unter dem Titel „In-
die europäisch-afrikanische Partnerschaft auf einer ver- vestition, Wachstum und Beschäftigung“ steht er im
lässlichen Grundlage vertieft wird. Die SPD-Bundes- Kontext der EU-Afrika-Strategie, die in Lissabon den
tagsfraktion erwartet deshalb, dass sich die Bundesre- Grundstein für die strategische Partnerschaft zwischen
gierung für folgende Prioritäten einsetzt. Erstens. Die den beiden Kontinenten begründet hat. Angesichts der
Afrikanische Union, ihre Vertretung in allen internatio- Kürze dieses hochrangigen Gipfels, bei dem Deutsch-
nalen Gremien, sowohl im UN-Sicherheitsrat und in den land nach aktueller Planung am ersten Konferenztag
G 20, als auch das Panafrikanische Parlament sind zu durch die Kanzlerin vertreten wird, geht es vor allem um
stärken und zu unterstützen. Zweitens. Die Millenniums- ein politisches Signal. Auch Deutschland möchte die
entwicklungsziele sind in Afrika bis 2015 durch beson- traditionell starken, auch historisch gewachsenen Bezie-
dere Initiativen zu erreichen. Drittens. Bei Wirtschafts- hungen zu Afrika zunehmend zu einem freundschaftli-
und Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist chen und strategischen Verhältnis auf Augenhöhe entwi-
sicherzustellen, dass die von der Internationen Arbeits- ckeln. Die Partnerschaft soll über die klassischen EZ-
organisation (ILO) vorgegebenen Sozialstandards – die Beziehungen hinausgehen, auch zivilgesellschaftliche,
sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen – verbindlich fest- private Akteure sowie Parlamente einbeziehen und ein
geschrieben werden. Das Allgemeine Präferenzsystem Forum bieten, gemeinsame Positionen von Afrika und
ist daraufhin zu überprüfen und anzupassen. Das gilt in EU zu globalen Fragen, Klima, MDGs etc. zu entwi-
gleichem Maße auch für ökologische Mindeststandards. ckeln. Wir hoffen, dass neben einem kurzen Gipfeldoku-
Zu unterstützen ist zudem eine gemeinwohlorientierte ment, Tripoli Declaration, auch der 2. Aktionsplan zur
Regulierung zur Nutzung von Ressourcen. Sie verhindert Umsetzung der Afrika-EU-Strategie verabschiedet wer-

Zu Protokoll gegebene Reden


7758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Joachim Günther (Plauen)


(A) den kann. Hierbei hat sich die Bundesregierung im Rah- Hilfsorganisationen sind ein wichtiger Garant für den (C)
men der EU dafür eingesetzt, sich im neuen Aktionsplan Aufbau einer Zivilgesellschaft und der gesamtwirt-
auf eine pragmatische Umsetzung zu konzentrieren. schaftlichen Entwicklung. Hierbei von vornherein eine
zivil-militärische Zusammenarbeit und die Ausbildung
Die Umsetzung der strategischen Partnerschaft er- von Sicherheitskräften auszuschließen, wäre das absolut
folgt bisher über acht thematische Partnerschaften wie falsche Signal. Die Forderungen dieses Antrags sind aus
der Partnerschaft zu Frieden und Sicherheit, zu demo-
unserer Sicht realitätsfern und deshalb lehnen wir die-
kratischer Regierungsführung und Menschenrechten, zu
sen ab.
Handel und regionaler Integration, zu den Millenniums-
entwicklungszielen, zu Energie, zum Klimawandel wie
auch zu Migration, Mobilität und Beschäftigung. Eine Annette Groth (DIE LINKE):
auf dem kommenden EU-Afrika-Gipfel angestrebte se- Das dritte Gipfeltreffen der Europäischen Union mit
parate Erklärung aller Partnerstaaten zum Klimawan- den afrikanischen Staaten am 29. und 30. November
del wäre ein deutliches Signal der Umsetzung des ge- 2010 in Tripolis findet in einer Zeit statt, in der 17 afri-
meinsamen Geistes von Tripolis. kanische Länder den 50. Jahrestag ihre staatlichen Sou-
Anlässlich des Rates der Außenminister im Format veränität feiern. In vielen dieser Staaten fällt die Bilanz
der Handelsminister am 10. September 2010 fand eine der letzten 50 Jahres sehr unterschiedlich aus. In allen
Orientierungsaussprache zum gegenwärtigen Stand der afrikanischen Staaten zeigt sich jedoch überdeutlich,
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen-Verhandlungen mit dass auch 50 Jahre nach der erlangten Souveränität die
den AKP-Staaten statt mit dem Ziel, einen gemeinsamen kolonialen Dominanzverhältnisse fortbestehen. Dadurch
neuen Ansatz für die weiteren WPA-Verhandlungen vorzu- wird eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaft-
bereiten, die zuletzt ins Stocken geraten waren. Dabei liche Entwicklung in Afrika erschwert. In vielen Staaten
schätzte die Kommission unter Handelsminister De hat sich heute eine neue Machtelite herausgebildet, die
Gucht und Entwicklungskommissar Piebalgs unter an- in enger Zusammenarbeit mit den westlichen Mächten
derem die Aussichten für einen erfolgreichen Abschluss und Großkonzernen ihre jeweils eigenen Interessen ver-
der WPA-Verhandlungen für die afrikanischen Regionen folgen. Die Mehrzahl der Menschen und auch die Um-
unterschiedlich ein. Während in der Ostafrikanischen welt bleiben dadurch auf der Strecke.
Gemeinschaft wohl noch eine größere Zahl von Nach-
verhandlungen nötig ist, könnte es in Westafrika – bei Auch mit der „Gemeinsamen EU-Afrika-Strategie“
entsprechendem politischen Willen – zügig zu einem um- setzt die EU ihre bisherige Politik der einseitigen Verfol-
fassenden WPA – Abschluss kommen. Für die Region gung von Wirtschaftsinteressen großer Konzerne massiv
(B) Südliches Afrika wurde bislang ein subregionales Inte- fort. Es zeigt sich überdeutlich, dass bei den Verhand- (D)
rimsabkommen abgeschlossen, das außer Namibia von lungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
allen Staaten unterzeichnet wurde. mit den AKP-Staaten nicht die Entwicklungsinteressen
dieser Staaten im Mittelpunkt der Verhandlungsstrategie
Die Bundesregierung und vor allem der Bundeswirt- der EU stehen, sondern einseitig die weitgehende Libe-
schaftsminister haben angekündigt, auf dem Gebiet der ralisierung des Güterhandels und die Liberalisierung
Rohstoffpartnerschaften mit den Entwicklungsländern der öffentlichen Beschaffungsmärkte zur Erschließung
einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Dies ist von neuen Märkten. Es wird bewusst in Kauf genommen,
angesichts der Weltlage und vor allem der chinesischen dass regionale Märkte zerstört und regionale Handels-
Entwicklungspolitik mit dem Aufkauf der Rohstoffvor- strukturen zugunsten der Profite der transnationalen
kommen unumgänglich. Die Kooperation mit den Ent- Konzerne zerschlagen werden.
wicklungsländern soll nicht nur eine reibungslose Ver-
sorgung mit Metallen und Mineralien für unser Land Die Verhandlungen werden von der EU mit einem
sichern, sondern auch in den Entwicklungsländern massiven politischen und wirtschaftlichen Druck auf die
durch Investitionen in die Infrastruktur und die Technik afrikanischen Staaten geführt. Offene Drohungen gegen
eine spürbare Weiterentwicklung der Länder bringen. die AKP-Staaten und das Einfrieren bereits zugesagter
Unter all diesen Betrachtungen und unter Berück- Finanzhilfen haben dazu geführt, dass die EU mit den
sichtigung der gegenwärtigen Arbeit unserer Entwick- Staaten der Karibik bereits neue Wirtschaftspartner-
lungshilfeorganisationen ist der vorliegende Antrag der schaftsabkommen abschließen konnte. Die Linke hat
Linken ein Schritt in die Vergangenheit. Wer im Antrag hier immer wieder deutlich gemacht, dass diese neolibe-
fordert, dass die Europäische Union und die Afrikani- ralen Wirtschaftsabkommen ein schwerer Rückschlag
schen Staaten sich auf Augenhöhe begegnen müssen und für die soziale und ökologische Entwicklung dieser Re-
wenige Zeilen weiter erklärt, die Beziehungen der EU gionen sind und der Entwicklung von regionaler ökono-
und Deutschland zu Afrika dürfen nicht im Interesse der mischer und sozialer Integration erheblichen Schaden
deutschen und europäischen Wirtschaft sein, sondern zugefügt wird. Die Linke unterstützt den zunehmenden
müssen die sozialen Herausforderungen Afrikas in den Widerstand von Regierungen und sozialen Organisatio-
Mittelpunkt stellen, der beschreitet einen Weg des Un- nen in den afrikanischen AKP-Staaten gegen diese Ab-
gleichgewichtes. Dieser Weg wird nicht funktionieren. kommen. Die Entscheidung einiger Regierungen, auch
Gleiches trifft auf die Forderungen der Linken über die die Interimsabkommen nicht zu unterzeichnen, halten
vernetzte Sicherheit in Afrika zu. Freies Handeln und wir für einen richtigen und wichtigen Schritt, um zu Ver-
Seewege, die Sicherheit der Mitarbeiter in den zivilen handlungen auf gleicher Augenhöhe zurückzukehren.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7759
Annette Groth
(A) Mit den geplanten Rohstoffpartnerschaften versucht Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
die EU, Entwicklungshilfe an den Zugang der europäi- NEN):
schen Konzerne zu Rohstoffvorkommen zu koppeln. Da- Am 29. November findet zum dritten Mal der EU-
mit missbraucht die EU ihre wirtschaftliche Macht, um Afrika-Gipfel statt. Mit keiner anderen Großregion
die Staaten Afrikas zu erpressen. Mit dieser Politik wird pflegt die EU derart umfassende Beziehungen auf
die Ausrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicher- Grundlage einer gemeinsam beschlossenen Strategie.
heitspolitik, die im Vertrag von Lissabon unter massiver Mit kaum einer anderen Region gibt es aber auch derart
Mithilfe der Bundesregierung die Sicherung des Zugangs enge historische Bande. Als ich kürzlich im Rahmen der
zu Rohstoffen für die deutsche Wirtschaft als integralen Delegationsreise des Unterausschusses Zivile Krisen-
Teil der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik for- prävention den Kommissionspräsidenten der Afrikani-
muliert hat, festgeschrieben. Eine solche Vermischung schen Union, Jean Ping, in Addis Abeba traf, sagte er
von Wirtschaftsinteressen und Entwicklungspolitik ist sehr deutlich: „Europa ist für uns so nah, China mit sei-
völlig inakzeptabel. nen unterschiedlichen Wertvorstellungen so fern.“
In Afrika leben 380 Millionen Menschen in absoluter Das sollte uns anspornen. Gerade jetzt im „Afrikani-
Armut, mehr als ein Drittel der Afrikanerinnen und Afri- schen Jahr“, in dem Afrika die Unabhängigkeit von
kaner ist unterernährt. Die Erreichung der Millenniums- 17 Staaten vor 50 Jahren feiert, müssen wir endlich das
entwicklungsziele bis 2015 ist äußerst zweifelhaft. alte Denken vom schwarzen Kontinent über Bord werfen
Durch die imperiale Rohstoffstrategie der EU werden und die Chance nutzen, die Beziehungen zu normalisie-
die Interessen dieser Menschen ignoriert und für die ren und den Aufbau einer ehrlichen Partnerschaft vo-
wirtschaftlichen Interessen der Konzerne geopfert. ranzutreiben. Denn das war die Idee, als vor zehn Jah-
ren die Staats- und Regierungschefs in Kairo das erste
Die Linke hat immer wieder deutlich aufgezeigt, dass Mal zusammenkamen.
die Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit
Ländern wie Libyen völlig inakzeptabel sind. Sie dienen Dass der Gipfel, wie vor drei Jahren geplant, stattfin-
einzig und alleine dazu, die Festung Europas weiter aus- det, zeigt, dass zumindest der gegenseitige Respekt in
zubauen. Diese Abkommen sind Teil einer inhumanen den letzten Jahren gewachsen ist. Hatte früher noch der
Flüchtlingspolitik der EU, die mit Menschenrechten und Streit um Mugabe den Prozess sieben Jahre lang ge-
Humanität nicht zu vereinbaren sind. Libyen hat weder lähmt, ist heute die „Causa Baschir“, trotz allem Dis-
die Genfer Flüchtlingskonvention noch den Koopera- sens über den Haftbefehl des IStGH, kein Grund mehr,
tionsvertrag mit dem Büro des Hohen Flüchtlingskom- den Gipfel platzen zu lassen.
missariats der UN unterzeichnet. Gleichzeitig hat Li- Aber wir dürfen uns nicht mit einer oberflächlichen
byen das UNHCR-Büro in Tripolis geschlossen. Mit Normalisierung zufriedengeben. Gerade der Dissens (D)
(B)
ihrer hochtechnisierten Grenzkontrolle und dem Einsatz über den Haftbefehl gegen Baschir wie generell auch die
von FRONTEX werden hilfesuchende Menschen von der Frage des Kampfes gegen die Straflosigkeit dürfen jetzt
EU nach Libyen abgedrängt. Dort werden sie in kata- nicht von einer windelweichen Gipfelerklärung über-
strophale soziale und humanitäre Situationen abgescho- tüncht werden, wie es gerade passiert. Für mich ist klar:
ben. Mehrfach wurden Fälle bekannt, in denen Migran- Baschir gehört nach Den Haag vor den IStGH. Für mich
tinnen und Migranten Vergewaltigung und Gewalt ist aber auch klar: Wir müssen in Zukunft im Dialog viel
ausgesetzt waren. Viele von ihnen werden von den liby- aktiver für den IStGH werben und gemeinsam Wege fin-
schen Sicherheitskräften ohne Essen und Wasser mitten den, um ihn mit dem AU-Menschenrechtsgerichtshof, den
in der Wüste ausgesetzt. Statt Fluchtursachen zu beseiti- regionalen und nationalen Justizsystemen sowie den afri-
gen, bekämpft die EU die afrikanischen Flüchtlinge und kanischen Versöhnungstraditionen sinnvoll zu verbinden.
zwingt diese auf immer gefährlichere Migrationsrouten. Das ist für mich ein entscheidender Punkt, neben der
Damit ist die EU – und mit ihr alle Mitgliedstaaten der Stärkung demokratischer Institutionen, dem Umgang mit
EU – für den Tod von Migrantinnen und Migranten in Konfliktrohstoffen und gerechten Wirtschaftspartner-
der Wüste und auf hoher See mitverantwortlich. schaftsabkommen, um weiteren Krisen vorzubeugen und
ein nachhaltiges Peacebuilding voranzubringen.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ihre bis-
herige Politik, die Abwehr von Flüchtlingen als Teil der All dies setzt aber voraus, dass wir auch mehr Tief-
Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen, sofort zu gang in der Partnerschaft „Frieden und Sicherheit“ hin-
beenden. Wir verlangen von der Bundesregierung, dass bekommen. Denn ohne das kann es kein Peacebuilding
sie nicht die Flüchtlinge bekämpft, sondern sich endlich geben. Auch deshalb hat die AU für das Jahr 2010 selbst
um die Beseitigung der wirtschaftlichen, ökologischen die Losung herausgegeben: „Make Peace Happen“.
und sozialen Ursachen der Migration kümmert. Die Be- Doch ausgerechnet hier gibt es eine gefährliche
ziehungen zwischen der EU und Afrika müssen zuguns- Schieflage. Das musste ich kürzlich im Hauptquartier
ten einer wirklichen Partnerschaft verändert werden. der Afrikanischen Union selbst erfahren. Während mili-
Der EU-Afrika-Gipfel steht hierfür jedoch unter völlig tärische Teile der Afrikanischen Eingreiftruppe bis Ende
falschen politischen Vorzeichen durch die EU. Die Linke des Jahres einsatzfähig sein werden, ist der Aufbau zivi-
wird sich deshalb auch in Zukunft dafür einsetzen, dass ler Fähigkeiten kaum vorangekommen. Auch Gender-
sich die Staaten Afrikas gegen diese Bevormundung Fragen entlang der Sicherheitsratsresolutionen 1325
durch die EU zur Wehr setzen können. Wir wollen eine oder 1820 spielen keine Rolle. Die EU und ihre Mit-
wirkliche Entwicklungspartnerschaft zwischen Afrika gliedstaaten stützen viel zu einseitig das militärische
und der EU erreichen. Standbein der AU-Sicherheitsarchitektur. UNO-Einsätze

Zu Protokoll gegebene Reden


7760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) wie im Kongo müssten uns doch lange klar gemacht ha- Clemens Binninger (CDU/CSU): (C)
ben, wie wichtig fähige Polizistinnen und Polizisten, Die Kommunikation über das Internet ist aus dem
Justiz- und Verwaltungsfachleute, Wahlbeobachterinnen Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Deutlich
und -beobachter oder Konfliktmediatorinnen und -me- mehr als zwei Drittel aller Haushalte in Deutschland
diatoren für Friedensprozesse sind, um letztlich auch haben inzwischen einen Internetzugang. Die Mehrzahl
den rechtsfreien Raum für die schrecklichen Vergewalti- der Bürgerinnen und Bürger nimmt gerne die Angebote
gungen zu schließen. an, die das Netz bietet. Die elektronische Kommunika-
Das ständige Ownership-Credo bleibt nichts als eine tion ist besonders beliebt, weil sie schnell und günstig
hohle Phrase, wenn wir einerseits selbst nicht bereit ist. Alle Beteiligten profitieren von den Vorteilen, die sie
sind, mehr Zivilpersonal in Missionen zu schicken, an- mit sich bringt, gleichermaßen. Dies gilt für Bürgerin-
dererseits aber auch die nötige Unterstützung bei der nen und Bürger, Unternehmen und Behörden.
Ausbildung versagen. Das laufende Polizeiprogramm Allerdings werden die technischen Möglichkeiten des
der GTZ in Addis Abeba oder die deutsche Polizeiaus- Internets noch nicht in dem Maße genutzt, wie sich das
bildung im Kofi-Annan-Peacekeeping-Center in Accra viele Bürgerinnen und Bürger wünschen. Staatliche
sind dabei im Ansatz zwar richtig und wichtig. Doch Ämter und Behörden versenden anstatt E-Mails meist
bleiben diese Ansätze ohne einen Ausbau und eine ge- Papierpost. Auch für Unternehmen wie Banken und Ver-
zielte Kooperation mit den übrigen EU-Staaten nur ein sicherungen ist der klassische Brief häufig erste Wahl.
Tropfen auf den heißen Stein.
Dies hat gute Gründe: Konventionelle E-Mails sind
Die AU braucht dringend mehr Unterstützung beim etwa so sicher wie Postkarten. Sie können mitgelesen,
Aufbau eines zivilen Personalpools für Friedensmissio- manipuliert oder komplett gefälscht werden.
nen und für das Peacebuilding, der auch den Bedürfnis-
sen der Frauen gerecht wird. Wir sollten daran denken, Technische Verfahren, E-Mails zu verschlüsseln und zu
dass wir dabei auf die hervorragende Expertise des ZIF signieren, gibt es schon fast so lange, wie es die E-Mail
zurückgreifen können, vorausgesetzt, wir stellen dafür selbst gibt. Bürgerinnen und Bürger können sich bei-
auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung. spielsweise auf der Homepage des Deutschen Bundesta-
ges Schlüssel herunterladen, um Abgeordneten ver-
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, dass schlüsselte E-Mails zu senden. Doch seien wir ehrlich,
Sie jetzt in Ihrem Antrag auch noch polizeiliche Frie- verehrte Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Bürger
densmissionen verdammen, kann ich überhaupt nicht nutzt diese Möglichkeit. Wir erhalten als Abgeordnete
nachvollziehen. Was glauben Sie eigentlich, wo die Poli- von Bürgerinnen und Bürgern fast täglich E-Mails mit
zisten, wie sie vom Kofi-Annan-Peacekeeping-Center vertraulichen Inhalten, die weder verschlüsselt noch si-
ausgebildet werden, nach ihrem UNO- oder AU-Einsatz gniert sind.
(B) für Sicherheit und Ordnung sorgen? Genau, in ihren (D)
Herkunftsländern. Das habe ich im Fall von Sierra Dies zeigt uns zweierlei: erstens, dass viele Bürgerin-
Leone selbst gesehen. Die leidgeprüften Menschen dort nen und Bürger elektronisch kommunizieren möchten,
sind froh über ihre hervorragend ausgebildeten Polizis- sei es mit staatlichen Institutionen oder mit Unterneh-
tinnen und Polizisten, wenn sie nach ihrem Darfur-Ein- men. Zu diesem Ergebnis kam auch das De-Mail-Pilot-
satz nach Sierra Leone zurückkommen. projekt in Friedrichshafen. Es zeigt uns aber zum Zwei-
ten auch, dass bestehende Möglichkeiten für die sichere
Wir sollten den kommenden Gipfel für ein ehrliches elektronische Kommunikation nicht genutzt werden.
Resümee der Zusammenarbeit von EU und AU nutzen
Aufgabe des Deutschen Bundestages ist es daher, gesetz-
und die notwendigen Weichen stellen, damit wir vom
liche Rahmenbedingungen für eine sichere elektronische
oberflächlichen Respekt füreinander zu einer ehrlichen
Kommunikation zu schaffen, die einfach und nutzer-
Partnerschaft mit Tiefgang gelangen.
freundlich ist. Genau das tun wir mit dem De-Mail-Ge-
setz.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Das De-Mail-Gesetz setzt einen Wettbewerbsrahmen
Drucksache 17/3672 an die in der Tagesordnung aufge- für Unternehmen, die ihren Kunden sichere elektroni-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind sche Kommunikation anbieten wollen. Jedes Unter-
Sie einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen. nehmen, das staatlich definierten und überprüften
Standards genügt, kann sich als De-Mail-Anbieter ak-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: kreditieren lassen. Das Bundesamt für Sicherheit in der
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Informationstechnik hat dazu technische Richtlinien er-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- arbeitet. Ähnlich wie die Straßenverkehrszulassungs-
lung von De-Mail-Diensten und zur Änderung ordnung Sicherheitsstandards für den Straßenverkehr
weiterer Vorschriften setzt, wollen wir so auch für die elektronische Kommuni-
kation verbindliche Rahmenbedingungen schaffen. In-
– Drucksache 17/3630 – nerhalb dieses Wettbewerbsrahmens sind dann private
Überweisungsvorschlag: Unternehmen gefordert, selbst Geschäftsmodelle und
Innenausschuss (f) Produkte zu entwickeln.
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Staatlich definierte und überprüfte Standards sind für
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz die Bürgerinnen und Bürger unter mehreren Gesichts-
Haushaltsausschuss punkten vorteilhaft: Wenn sich alle Anbieter an die sel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7761
Clemens Binninger
(A) ben technischen Standards halten, ist für Interoperabili- zugestellt, wenn sie nur den Server einer Behörde ver- (C)
tät gesorgt. Ein De-Mail-Kunde der Deutschen Telekom lasse. Hätten sie den Gesetzentwurf der Bundesregie-
kann mit Kunden von United Internet oder der Deut- rung aufmerksam gelesen, wüssten auch Sie, dass zum
schen Post sicher kommunizieren. Die Deutsche Post Nachweis der elektronischen Zustellung einer Behör-
hat ja bereits angekündigt, ihren E-Postbrief als De- den-De-Mail eine Abholbestätigung notwendig ist. Eine
Mail-konform akkreditieren zu lassen. Bürgerinnen und solche Abholbestätigung generiert der De-Mail-Anbie-
Bürger erkennen außerdem sofort, dass ihr Anbieter hohen ter des Empfängers jedoch erst, nachdem sich der Emp-
Sicherheitsstandards genügt, wenn er das De-Mail-Sie- fänger an sein De-Mail-Konto angemeldet hat, wenn er
gel erhalten hat. also sieht, dass er Post von einer Behörde in seinem
Posteingang hat.
Ein Grund für die geringe Verbreitung von bestehen-
den Verschlüsslungslösungen ist, dass sich die große Trotzdem gilt für die Nutzerinnen und Nutzer, dass sie
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Installa- ihr De-Mail-Postfach regelmäßig überprüfen sollten. Es
tion und Bedienung von Verschlüsslungsprogrammen wird faktisch die selbe Bedeutung erlangen wie der
wie PGP oder GnuPG nicht beschäftigen möchte oder Briefkasten am Haus, der ja schon aus eigenem Inte-
kann. Den meisten dürften schon die Begriffe schlicht- resse regelmäßig gelehrt wird, um keine Fristen zu ver-
weg unbekannt sein. Die De-Mail-Standards sind des- säumen. Im Gegensatz zum konventionellen Briefkasten
halb so konzipiert, dass in einer Basisvariante keine kann man sein De-Mail-Postfach allerdings von jedem
zusätzlichen Verschlüsslungsprogramme auf den Com- Computer mit Internetzugang aus abrufen, also auch bei
putern der Anwender notwendig sind. Die Verschlüss- Geschäftsreisen oder im Urlaub.
lung der De-Mails übernimmt der De-Mail-Anbieter.
De-Mail bietet also sichere Kommunikation für jeder- Werte Kolleginnen und Kollegen, mit der De-Mail
mann, was ein weiterer Vorteil ist. wollen wir auf dem Weg zu einer digitalen Raumordnung
ein Stück weiter vorankommen. Wir schaffen die rechtli-
Denjenigen, die noch mehr Sicherheit wünschen, chen Voraussetzungen, dass zukünftig weniger Briefe
müssen die De-Mail-Anbieter eine Premiumvariante mit ausgedruckt werden müssen, sondern elektronisch ver-
erhöhter Sicherheit zur Verfügung stellen. Das De-Mail- sandt werden können. Viele Bürgerinnen und Bürger
Gesetz verpflichtet die Anbieter dazu, auf Wunsch die wünschen sich diese Ausweitung elektronischer Kommu-
noch sicherere Ende-zu-Ende-Verschlüsslung von Nach- nikation. Doch nur wenn elektronische Kommunika-
richten zu ermöglichen. Jedem, der noch mehr Sicher- tionsdienste hohen Standards hinsichtlich Sicherheit
heit möchte, empfehle ich, diese Premiumvariante zu und Datenschutz genügen, finden sie das Vertrauen der
nutzen. Dafür sind dann allerdings auf dem eigenen Bürgerinnen und Bürger. Nur wenn krimineller Miss-
(B) Computer Vorkehrungen zu treffen. De-Mail hat zum brauch ausgeschlossen ist, sind Unternehmen und Be- (D)
Ziel, der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung zum Durchbruch hörden dazu bereit, den Bürgerinnen und Bürgern ihre
zu verhelfen. Dabei setzen wir aber nicht auf Zwang, Dienste auch elektronisch anzubieten. Diesen hohen An-
sondern auf die Einsicht der Nutzer und fördern die frei- sprüchen genügt De-Mail.
willige Anwendung der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung.
De-Mail ist ein wichtiger Baustein beim Aufbau einer
De-Mail bietet noch einen weiteren wichtigen Vorteil, digitalen Raumordnung. De-Mail ergänzt und erweitert
der rechtlicher Natur ist: Wenn es zu Rechtsstreitigkei- bestehende Bausteine wie den elektronischen Personal-
ten kommt, wird einer konventionellen E-Mail in der Re- ausweis und die qualifizierte elektronische Signatur
gel überhaupt kein Beweiswert zugemessen. Doch auch sinnvoll. E-Government und E-Business werden davon
bei der klassischen Papierpost kann es zu Unklarheiten profitieren. Wir stärken so den IT-Standort Deutschland
kommen, wenn ein Empfänger glaubhaft macht, dass er und bauen unsere Vorreiterrolle aus, die wir durch die
ein Schreiben nicht erhalten hat. Selbst bei Dokumenten, Einführung des elektronischen Personalausweises ge-
die per Einschreiben verschickt werden, kann ein Emp- wonnen haben.
fänger den Zugang bestreiten, indem er behauptet, auf-
grund eines Büroversehens nur einen leeren Umschlag
erhalten zu haben. Sowohl im Vergleich zur Papierpost Gerold Reichenbach (SPD):
als auch mit der konventionellen E-Mail hat De-Mail Mit dem eingebrachten Gesetz zur Regelung von
hier einen großen Vorteil: De-Mail bietet eine beweissi- De-Mail-Diensten soll im Massenkommunikationsmit-
chere Eingangsbestätigung, die nicht nur den Eingang tel E-Mail ein sicherer, und zwar auch rechtssicherer
einer Nachricht nachweist, sondern über Prüfsummen Dienst und der vertrauliche Transport von Dokumenten
auch deren Inhalt. Per De-Mail können Dokumente also ermöglicht werden. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.
rechtsverbindlich und nachweisbar verschickt werden.
Frau Kollegin Piltz hat noch im Februar 2009 das
Während im geschäftlichen Bereich eine einfache De-Mail-Projekt als „neues Mammutprojekt ohne kon-
Eingangsbestätigung genügt, ist für die förmliche Zu- kreten Mehrwert“ der damaligen schwarz-roten Bundes-
stellung im hoheitlichen Bereich eine Abholbestätigung regierung bezeichnet. Und nachdem es dann bereits die
notwendig. Diese hohe Hürde haben wir ganz bewusst schwarz-gelbe Bundesregierung Ende 2009 gab – die
für die Zustellung von Amts wegen gesetzt. In diesem Zu- Betonung liegt auf „gelb“ – hat der Bundestag auf Be-
sammenhang möchte ich das Wort auch an die Adresse treiben der FDP sogar noch eine Haushaltssperre für
der Grünen richten. Sie, Herr Kollege von Notz, behaup- das Projekt De-Mail in den Haushaltsplan 2010 des
ten, eine De-Mail gelte nach drei Tagen als rechtskräftig Bundesinnenministeriums eingetragen, die die „Ausga-

Zu Protokoll gegebene Reden


7762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Gerold Reichenbach
(A) ben zum Zwecke der Verwirklichung des Projekts De- Aufgabe eines De-Mail-Gesetzes muss es sein, klare (C)
Mail“ untersagt. und eindeutige Regelungen zur Sicherung solch großer
Datenbanken zu treffen. Dies gilt sowohl für die Voraus-
Vor diesem Hintergrund ist es schon seltsam, dass setzung von staatlichen Eingriffen als auch für den
jetzt schnell ein entsprechendes Gesetz durch das Schutz vor kriminellen Übergriffen. Die jüngsten Erfah-
schwarz-gelbe Kabinett in den Bundestag eingebracht rungen mit dem elektronischen Personalausweis sind da
wird und man sogar davon spricht, dass das ganze in nicht gerade ermutigend.
diesem Jahr noch über die Bühne gehen soll. Mal ganz
davon abgesehen, ob der Gesetzentwurf entsprechend Es gibt weiteren Klärungsbedarf: etwa bei der Frage
ausgereift ist oder nicht. Das Mammutprojekt hat sich der Rechtsicherheit. So soll die De-Mail mit dem Ein-
also nun die FDP zu eigen gemacht, nachdem sie auf der gang im Postfach des Empfängers entsprechend dem im
Regierungswolke schwebt? Haben Sie denn, sehr ge- Entwurf geänderten Verwaltungszustellungsgesetz drei
ehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun des- Tage nach Absendung als zugestellt gelten. Was aber ist,
sen Mehrwert erkannt?! wenn der Empfänger nicht aufgrund von eigenem, son-
dern aufgrund von Fremdverschulden längere Zeit nicht
Ich kann Sie deshalb nur auffordern, sehr geehrte über den üblichen Zugang zu seinem De-Mail-Postfach
Mitglieder der Koalition: Machen Sie es bitte richtig! verfügen kann?
Lassen Sie das Parlament keine halbgaren Sachen bera-
ten und verabschieden, deren Nachbesserung dann wie- Bei einem Bekannten von mir war es erst kürzlich fast
der mehr Zeit braucht, als das ursprüngliche Gesetz an anderthalb Wochen nicht möglich, den ausgefallenen In-
Zeitaufwand gekostet hat. ternetzugang wiederherzustellen, weil Netzanbieter,
Diensteanbieter und Systembetreuer jeweils die Verant-
Bei dem von der Bundesregierung im Bundestag zur wortung für den Ausfall bei dem anderen verorteten. Ein
Beratung eingebrachten Entwurf sehen wir noch erheb- – wie mir berichtet wurde – nicht ganz seltenes Problem.
lichen Beratungs- und Nachbesserungsbedarf, insbe-
sondere mit Blick auf Transparenz, Vertrauenswürdig- Liegen dann das Verschulden und die Beweislast al-
keit, Sicherheit und Nutzerrechte. lein beim Empfänger? Das Problem lässt sich sehr
schön im Vergleich zur derzeitigen Zustellung durch Be-
Für uns stehen im Vordergrund eines solchen Geset- hörden deutlich machen. Wenn die Behörde per Post mit
zes und des Projektes, einen sicheren Kommunikations- Einschreiben zustellt, dann liegt die Nachweispflicht
weg und ein sicheres Kommunikationsmittel für den hinsichtlich der Zustellung nach dem Verwaltungszustel-
Rechtsverkehr zu schaffen, der Schutz der Verbrauche- lungsgesetz bei der Behörde. Bei einem Verwaltungsakt
rinnen und Verbraucher als Nutzer und nicht zuvorderst – der ja dann auch per De-Mail zugestellt werden
(B) die Einsparungs- und Vermarktungsinteressen von Wirt- könnte – hat ebenfalls die Behörde im Zweifel die Be- (D)
schaftszweigen. weislast. Der Eingang im Postfach kann dann zwar
nachgewiesen werden, wenn aber im Falle von De-Mail
Nur, wenn die Verbraucher dieses – ich sage einmal
ein E-Mail-Zugang eben aus technischen oder sonstigen
„neuartige“ – Kommunikationsmittel auch annehmen
Gründen nicht möglich ist und die Mail nicht abgerufen
und nutzen, kann das De-Mail-Projekt ein Erfolg werden
werden kann, soll das dann das alleinige Problem des
und eine Erleichterung für Behörden und Bürgerinnen
Empfängers sein?
und Bürger gleichermaßen mit sich bringen. Fragen Sie
sich doch mal: Wie würden Sie als Verbraucher gerne Auch aus diesem Grunde sollte sich der Gesetzgeber
eine De-Mail ausgestaltet und gesichert sehen? Unab- viel eher die Frage stellen, ob die Zustellungsfiktion, die
hängig von einem technikneutral formulierten Gesetz aus den guten alten Zeiten der zuverlässigen Beamten-
müssen dem Nutzer die technischen Voraussetzungen post stammt, überhaupt noch den Realitäten im heutigen
klar sein. Doch dies ist nach dem vorliegenden Gesetz- Zustellungsbetrieb entspricht, statt sie ungeprüft und mit
entwurf nicht der Fall. der Beweislast für den Empfänger auf den neuen Dienst
zu übertragen.
Überzeugen müssen Sie – sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Regierungsfraktionen – die Ver- Auch bei den Voraussetzungen für die staatlichen
braucherinnen und Verbraucher auch beim Stichwort Eingriffsmöglichkeiten besteht noch erheblicher Erörte-
Akkreditierung. Zeigen Sie transparent auf, wie die Ak- rungsbedarf. Verfassungsschutz, Polizei, Strafverfol-
kreditierung für die Unternehmen vonstatten geht, die gungsbehörden, BND oder MAD können unter sehr
diese Dienste anbieten dürfen. Und verstecken Sie dies niedrigen Voraussetzungen auf die Postfächer zugreifen,
nicht hinter schwammigen Formulierungen, die der ein- da Kennung und Passwörter auf Anordnung herauszu-
fache Bürger nicht nachvollziehen kann. geben sind. Hierfür bedarf es nach dem TKG keiner
richterlichen Anordnung. Ich habe erhebliche Zweifel,
Nach den Datenschutzskandalen und den Überwa- ob die Eingriffsschwelle für den Grundrechtseingriff so
chungsaffären der Vergangenheit sind zumindest Zweifel niedrig angesetzt werden kann bei einem Dienst, der
erlaubt, ob das Fernmeldegeheimnis von den Dienstean- auch den alten vertrauensvollen Postverkehr, der dem
bietern beachtet wird. Wie wir ja alle wissen, sind große Post-/Briefgeheimnis unterliegt, ersetzen soll.
Datenmengen sehr verlockend, weil man sie verkaufen
und damit Geld verdienen kann. Darum fordern wir So- Hier müssen die Hürden für Grundrechtseingriffe
zialdemokraten, dass der Verbraucher- sowie der Da- entsprechend hoch sein. Dies gilt ganz besonders auch
tenschutz stärker in den Vordergrund gerückt werden. im Hinblick darauf, dass der De-Mail-Dienst durch

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7763
Gerold Reichenbach
(A) neueste Telekommunikationstechnik gleichzeitig eine rungsscheinen und Verträgen, stehen in Ihren Schrän- (C)
Schnittstelle auch zum Fernmeldegeheimnis hat. Eine ken? Und wie oft wiederholt sich das Prozedere:
Herausgabe der Erkennungs- und Zugangsdaten, die Bescheid erhalten, Antwort oder Widerspruch am Com-
dann einer Verletzung des Post-/Briefgeheimnisses Tür puter verfassen, ausdrucken, unterschreiben, Brief-
und Tor öffnen dürfte, kann nicht im Sinne des Gesetzge- marke aufkleben und zur Post bringen, Schriftwechsel
bers sein – unabhängig davon, dass dies auch daten- abheften, bei Ihnen im Jahr?
schutzrechtlich bedenklich wäre.
Allein die staatliche Verwaltung versendet im Jahr
Zwei weitere Aspekte möchte ich noch ansprechen: circa 1,3 Milliarden Briefe, von denen ungefähr ein
Viertel genauso gut auf elektronischem Weg befördert
Um den Datentransfer bei De-Mail für kriminelle werden könnten. Das sind Briefe, die bei Ihnen im
Machenschaften nicht angreifbar zu machen, ist es Schrank stehen und Sie als Steuerzahler einen zweistel-
wichtig, dass für die von der Bundesregierung verspro- ligen Millionenbetrag kosten. Bisher war und ist auf-
chene sichere, datengeschützte und vertrauenswürdige grund fehlender Rechtssicherheit von einer elektroni-
Kommunikation gesetzlich verbindlich festgelegt wird, schen Kommunikation zwischen Bürgern, Behörden und
dass eine derartige Garantie nur durch eine durchge- Unternehmen weitgehend abgesehen worden. Auch ist
hend starke Ende-zu-Ende-Verschlüsselung erreicht das Vertrauen in die E-Mail nicht sehr groß: Man kann
werden kann. nie ganz sicher sein, ob der Absender auch derjenige ist,
Aus Gründen der Erkennbarkeit und des Verbrau- für den man ihn hält. Auch lässt sich die Zustellung ei-
cherschutzes muss im Rahmen des Gesetzgebungsver- ner E-Mail nur schwer nachweisen, was juristische Kon-
fahrens noch einmal die Frage einer einheitlichen Kenn- sequenzen haben kann. Nicht zuletzt ist die Vertraulich-
zeichnung der Adressen durch alle Diensteanbieter auf keit der E-Mail nicht immer gewährleistet.
den Prüfstand. Dies hätte für den Nutzer den Vorteil der Das De-Mail-Gesetz schafft nun den rechtlichen Rah-
einfachen Erkennbarkeit gegenüber einer unverschlüs- men für einen vertrauenswürdigen Mailverkehr. Es re-
selten E-Mail. Gleichfalls sollte im Sinne der Verbrau- gelt Anforderungen, die ein Provider erfüllen muss, um
cherfreundlichkeit eine Portierbarkeit der Mail-Adres- sichere E-Mails versenden und Dokumente auf einem
sen zwischen den Diensteanbietern geklärt werden. Nutzerkonto speichern zu können.
Denn wer will ständig – nur weil er den Anbieter wech-
selt – seine De-Mail-Adresse ändern? Dies ist mit Tele- Ich will Ihnen die wichtigsten Regelungen kurz vor-
fonnummern möglich, so muss es doch auch mit E-Mail- stellen:
Adressen möglich sein. Erstens. Vor der Kontoeröffnung muss der Provider,
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die SPD-Bun- also der Dienstleister, der De-Mail anbietet, die Identi-
(B) (D)
destagsfraktion grundsätzlich aufgeschlossen gegen- tät der Nutzer zweifelsfrei feststellen. Er muss auch fort-
über einer verbraucherfreundlichen, vertrauenswürdi- laufend für die Richtigkeit dieser Angaben sorgen.
gen, sicheren sowie staatlich gestützten E-Mail- Zweites. Der Provider muss für eine sichere Anmel-
Kommunikation ist. Doch die gesetzlichen Regelungen dung und für eine verschlüsselte Verbindung zwischen
müssen klar strukturiert, technikneutral und verbrau- dem Nutzer und dessen Konto sorgen.
cherfreundlich sein sowie höchsten Datenschutzstan-
dards genügen. Drittens. Der Provider muss eine rechtssichere Zu-
stellung, die der Prozessordnung und der Verwaltungs-
Sehr geehrte Damen und Herren Kolleginnen und zustellungsgesetze genügen, gewährleisten. Darüber hi-
Kollegen der Regierungsfraktionen, bitte begehen Sie naus muss der Provider auf Anfrage den Eingang einer
also nicht den „Dauerfehler“ Ihrer Koalition, nur weil Nachricht in das Postfach des Empfängers und ihre Ab-
man sich einmal mehr wieder uneins war, ein mit heißer holung bestätigen.
Nadel ausgearbeitetes Gesetz zu verabschieden, und
lassen Sie uns die aufgeworfenen Fragen im Gesetzge- Viertens. Wenn der Nutzer das wünscht, kann der Pro-
bungsverfahren gewissenhaft angehen. Unsere Bereit- vider ihm auch eine Dokumentenablage zur Verfügung
schaft dazu haben Sie. stellen.
Fünftens. Um als De-Mail-Provider zertifiziert zu
Manuel Höferlin (FDP): werden, müssen Voraussetzungen gegeben sein, wie die
Der Koalitionsvertrag sieht eine weitere Förderung Erfüllung der datenschutzrechtlichen, technischen und
des E-Governments vor. Wir haben uns vorgenommen, organisatorischen Anforderungen sowie eine ausrei-
Voraussetzungen für eine sichere Kommunikation zwi- chende Deckungsvorsorge im Schadensfall. Das Bun-
schen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und der desamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird
Verwaltung zu schaffen. die Zertifizierung durchführen und die Einhaltung der
Kriterien überwachen.
Das De-Mail-Gesetz ist nun ein weiterer Baustein zur
Umsetzung dieser Aufgabe. Was regelt De-Mail? Wofür Der Bürger kann sich sicher sein, mit wem er kommu-
brauchen wir dieses Gesetz? niziert, da dessen Identität vorher festgestellt worden ist.
Darüber hinaus bieten das De-Mail-Gesetz in Verbin-
Ich möchte Sie kurz in Ihre eigenen Arbeitszimmer dung mit dem Signaturgesetz eine sichere Ende-zu-
entführen. Wie viele Aktenordner, gut gefüllt mit Behör- Ende-Verschlüsselung und damit eine vertrauliche Kom-
denbescheiden, gerichtlichen Unterlagen, Versiche- munikation. Behörden können wie bei der Postzustel-

Zu Protokoll gegebene Reden


7764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Manuel Höferlin
(A) lungsurkunde nachweisen, wann ein Dokument zuge- Schauen wir uns einmal an, was im Antragstext als (C)
gangen ist und auf diese Weise Fristen genau berechnen. Ziel des Gesetzes angegeben ist. Es soll die Vorteile der
E-Mail mit Sicherheit und Datenschutz verbinden und
Nicht zu vernachlässigen sind die Einsparungspoten- dafür sorgen, „die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz
ziale für alle Beteiligten. Damit meine ich nicht nur Zeit der elektronischen Kommunikation trotz steigender In-
und Aufwand für Bearbeitung und den Gang zum Brief- ternetkriminalität und wachsender Datenschutzpro-
kasten für den Bürger, sondern auch ganz konkrete Sum- bleme zu erhalten und auszubauen“. Ich möchte gerne
men: Das Bundesinnenministerium rechnet mit Einspa- einmal wissen, wer in diesem Raum hier davon ausgeht,
rungen in den ersten fünf Jahren nach der Einführung dass die elektronische Kommunikation derart gefährdet
von De-Mail von bis zu 40 Millionen Euro jährlich. sei, dass man sie erhalten müsse. Es müsste mir jemand
Aus liberaler Sicht ist das De-Mail-Gesetz ein Schritt einmal erklären, ob es einen Grund gibt, Yahoo, Face-
in die richtige Richtung: mehr Vertraulichkeit, mehr Da- book, Google und Co. nun praktisch in eine Rote Liste
tenschutz und Unabhängigkeit von aufwändiger Büro- aufzunehmen. Das Internet und die Kommunikations-
kratie. Dabei regulieren wir aber nur das, was wirklich möglichkeiten, die es bietet, erfreuen sich im Gegenteil
regulierungswürdig ist, um dem Markt die Ausgestal- einer stetig steigenden Beliebtheit, und das ist wohl der
tung des Angebots zu überlassen. Darüber hinaus trägt eigentliche Grund für diesen Gesetzentwurf: Der Staat
De-Mail zu Einsparungen auf kommunaler, Länder- und und die Wirtschaft haben ein Interesse daran, offizielle
Bundesverwaltungsebene bei – auch ein von uns gesetz- Vorgänge, seien es behördliche oder wirtschaftliche,
tes Ziel. über das Internet abzuwickeln und dadurch Kosten zu
sparen, Profite zu maximieren und Kontrollmechanis-
Dennoch werden wir an vorliegendem Entwurf der men auszubauen.
Bundesregierung noch etwas arbeiten: Zum einen setzen
wir Liberale uns für wirtschaftlichen Wettbewerb ein Auch eine sichere Identifizierung der Kommunika-
und achten insbesondere auf die kleinen und mittelstän- tionspartner ist ein Ziel des Gesetzentwurfes. Diese Ziel-
dischen Unternehmen. Die Hürden für eine Zertifizie- setzung geht meines Erachtens an der Realität im In-
rung sollen zwar sicherheitstechnisch hoch sein, den- ternet völlig vorbei. Im Internet funktioniert die
noch müssen sie auch für kleine Unternehmen mit Kommunikation per E-Mail, ebenso der Austausch in
geringerem Investitionsvolumen zu nehmen sein. Zum Foren und in sozialen Netzwerken bislang auch ohne
anderen darf die staatliche Zertifizierung nicht den eine solche sichere Identifikation. Das ist den Nutzerin-
freien Markt, den freien Wettbewerb behindern oder gar nen und Nutzern nicht nur bekannt, gerade die durch die
verzerren. Vielmehr soll die Zertifizierung den Nutzern Verwendung von Synonymen mögliche Wahrung der ei-
genen Privatsphäre ist ein wesentliches Qualitätsmerk-
(B) Sicherheit geben sowie den rechtlichen Rahmen zur mal für die Kommunikation im Netz. Bei geschäftlichen (D)
freien Ausgestaltung des De-Mail-Dienstes durch die
Provider setzen. Vorgängen haben Nutzerinnen und Nutzer die Möglich-
keit, unabhängig von in E-Mail-Adressen verwendeten
Auf unser Betreiben hin wird nun auch Licht ins Di- Synonymen ihre Klarnamen und Adressen anzugeben
ckicht der Einzelfallregelungen der Schriftformerforder- und ihre wahre Identität nur denjenigen mitzuteilen, die
nis gebracht. Niemand kann bisher sicher sein, ob und sie benötigen. Die Umsätze der bekannten Onlineshop-
wann er ein Schriftstück tatsächlich unterschreiben und pingportale zeigen, dass dieses Prinzip funktioniert.
als Papierpost versenden muss. Deshalb haben wir uns
im Zuge des De-Mail-Gesetzes dafür eingesetzt, hie- In der eingangs zitierten Zielsetzung werden die zu-
rüber Klarheit zu schaffen. Unser Ziel ist Transparenz nehmende Internetkriminalität und Datenschutzpro-
und eine Kommunikation aller Beteiligten auf Augen- bleme benannt. Auch darauf möchte ich eingehen. Na-
höhe, sodass der überwiegende Teil des Briefverkehrs türlich steigt mit der Nutzung eines Mediums wie des
durch De-Mail elektronisch abgedeckt werden kann – Internets auch die missbräuchliche Nutzung. Wie bei je-
ohne analoges Ausdrucken, Unterschreiben und an- der schnellen gesellschaftlichen oder technischen Ent-
schließendes In-den-Briefkasten-Werfen. Insgesamt ha- wicklung hinkt der Staat mit seinen Kontrollmechanis-
ben wir aus der Perspektive des Verbraucherschutzes men nicht nur hinterher, es ist noch absurder: Der Staat
streng darauf geachtet, dass der Bürger und Nutzer von selbst fördert mit seinen nicht ausgereiften Großprojekten
De-Mail keine rechtlichen Nachteile gegenüber dem den Markt für unsichere Techniken, wie zum Beispiel
herkömmlichen System der Papierpost hat. Wir wollen beim elektronischen Personalausweis. Gut eine Woche
weg von der Generation Aktenordner hin zur freien digi- auf dem Markt, ist die „AusweisApp“, das Programm, mit
talen Gesellschaft. dessen Hilfe sich Nutzerinnen und Nutzer des E-Perso im
Netz identifizieren sollen, schon manipuliert worden.
Genau genommen hat es sogar weniger als 24 Stunden
Jan Korte (DIE LINKE): gedauert, um die laut Bundesinnenminister de Maizière
Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetz, dessen angeblich sicherste elektronische Identitätskarte, die es
Nutzen für Bürgerinnen und Bürger zweifelhaft ist, ob- auf dem Markt gibt, zu überwinden. Das bezieht sich auf
wohl es unter dem Label der Sicherheit im E-Mail-Ver- ein Projekt, das ebenfalls ausdrücklich der Sicherheit im
kehr verkauft wird. Der Gesetzentwurf zur Regelung von Netz dienen sollte und nunmehr einem Feldversuch unter
De-Mail-Diensten geht an den Ansprüchen der realen Realbedingungen gleicht. Genauso wie beim E-Perso
wie der virtuellen Welt vorbei und ist nicht nur überflüs- droht bei der De-Mail der Identitätsdiebstahl, wenn Nut-
sig, sondern auch bürgerrechtlich bedenklich. zerinnen und Nutzer keine sichere Rechnerumgebung

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7765
Jan Korte
(A) herstellen können oder ihr Passwort nicht genügend per Mail zuzustellen. Mit dem Zeitpunkt des nachge- (C)
sichern. Ein unsicheres Medium ist die herkömmliche wiesenen Empfangs beginnt also die Frist zur Bezah-
E-Mail auch, kann man jetzt einwenden. Das Problem lung einer Rechnung oder die Frist, gegen einen Be-
bei De-Mail ist nun aber, dass damit für die Bürgerinnen scheid Einspruch einzulegen, allerdings ohne dass die
und Bürger rechtsverbindliche Verträge abgeschlossen Empfängerin oder der Empfänger überhaupt von der
werden können und sie bei missbräuchlicher Nutzung ih- Mail Kenntnis genommen haben muss. Bei den Massen
res Accounts beweisen müssen, dass sie es nicht waren. an E-Mails, die einen am Tag erreichen, kann es im
Die Schadenshaftung wird komplett auf den Nutzer ab- schlimmsten Fall sein, dass man seinen Posteingang
gewälzt. aufräumt und vor der Haustür schon die Abrissbagger
stehen. Der Deutsche Notarverein kritisiert zu Recht,
Auch zum Datenschutz trägt De-Mail nicht viel bei. dass das angestrebte De-Mail-Verfahren das Risiko
Im Gegensatz zum Verfahren mit elektronischer Signatur birgt, dass der Rechtsschutz von Bürgerinnen und Bür-
verlangt der Gesetzentwurf keine Verschlüsselung von gern gegen die Wirtschaft und die Verwaltung beschnit-
Absender bis zum Empfänger. De-Mail gleicht daher, so ten wird.
hat es der IT-Experte der Bundesrechtsanwaltskammer,
Thomas Lapp, ausgedrückt, einem Brief, der bis zu zwei- Die Bundesregierung bewirbt die De-Mail als kom-
mal unterwegs geöffnet und in ein neues Kuvert gesteckt fortable Alternative zum Brief. Komfortabel wird es al-
wird. Dass das Bundesinnenministerium darauf ver- lerdings auch für die Sicherheitsbehörden: Nach § 113
weist, dass die Anbieter, die dies machen, überprüft wür- des Telekommunikationsgesetzes können sie sich bei An-
den, ist angesichts der selbstgenerierten Sicherheits- bietern nun auch persönliche Daten aus offiziellem Ge-
lücken beim E-Perso ein schwacher Trost und kann nicht schäftsverkehr, der Bankkommunikation oder aus be-
darüber hinwegtäuschen, dass zum Beispiel das Bank- hördlichen Schreiben einsehen, also Daten, die sie sonst
geheimnis im De-Mail-Verkehr nicht gewahrt bleibt. Die nur in einer Hausdurchsuchung nach richterlichem Be-
technisch bedingte Ver- und Entschlüsselung der De- schluss gewinnen können. Der hier vorliegende Gesetz-
Mails beim Provider ist aus datenschutzrechtlicher Sicht entwurf schafft dadurch ganz neue Möglichkeiten für
fragwürdig und mit dem Signaturgesetz nicht in Ein- Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, wieder einmal
klang zu bringen. Darauf wird von Experten seit Mona- mit den Stimmen der FDP. Das sollte uns oder die Bür-
ten hingewiesen, und genauso lange ignoriert die Bun- gerinnen und Bürger nicht mehr wundern.
desregierung diese Einwände.
Die schwarz-gelbe Koalition macht dort weiter, wo
So viel zu den nicht erfüllbaren Verheißungen, die die die letzte aufgehört hat. Identitätssicherung heißt auch
Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf macht. Was sie bei ihr eine umfassende Personalisierung, Registrierung
(B) hingegen alles nicht macht, habe ich gerade schon be- und Kontrolle. Sie unterstellt mit ihrem Gesetzentwurf, (D)
schrieben, und da kommt ein wichtiger Punkt hinzu: Sie dass nicht identifizierbare Internetuser pauschal etwas
schreibt Anbietern im Internet, die De-Mails akzeptie- auf dem Kerbholz haben, weil sie ihre Identität im Netz
ren, nicht vor, auch herkömmliche Mails im Geschäfts- nicht preisgeben und ihre Privatsphäre schützen wollen.
verkehr zuzulassen. Die offiziell verkündete Freiwillig- Die Linke versteht unter Identitätssicherung auch die
keit der Verwendung von De-Mail ist dann hinfällig, Sicherung individueller Freiheit, Freizügigkeit und Pri-
wenn es Nachteile mit sich bringt, sie nicht zu nutzen, vatsphäre bei gleichzeitigem Schutz vor Identitätsdieb-
beispielsweise beim Abschluss von günstigeren Online- stahl und Datensammlungen, ob vonseiten der Wirt-
tarifen. Wenn aus dem Extra ein Standard wird, wovon schaft oder des Staates.
die Berechnungen der Bundesregierung im Antrag ja
ausgehen, bedeutet dies nicht nur eine einseitige Belas- Wir sollen hier ein Gesetz beschließen, das Bürgerin-
tung von Bürgerinnen und Bürgern, sondern eine Kom- nen und Bürgern nicht nur nichts bringt, sondern sie
merzialisierung der Kommunikation im Netz. auch massiv in ihren Rechten beschneidet. Das ist mit
der Linken nicht zu machen; deshalb lehnen wir den Ge-
Damit kommen wir zu den Kosten und Nutzen des setzentwurf ab.
Projekts. Die Bundesregierung verspricht sich von der
Einführung der De-Mail Einsparungen für Wirtschaft,
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Verwaltung und Verbraucher in Millionenhöhe, ohne sa-
NEN):
gen zu können, wie hoch die Kosten für die Anpassung
von Verfahren sind. Auch wie viel eine De-Mail kosten Bei dem uns vorliegenden Entwurf eines De-Mail-
wird, kann sie nicht beziffern. Sie traut sich aber immer- Dienste-Gesetzes handelt es sich um eine in entschei-
hin, in einer beispiellosen Konkretheit zu sagen, es wäre denden Teilen unveränderte Neuauflage des in der ver-
„nicht auszuschließen, dass der Preis pro De-Mail- gangenen Legislaturperiode dem Diskontinuitätsprinzip
Nachricht unter den heute üblichen Portokosten liegt“. zum Opfer gefallenen Bürgerportalgesetzes. Schon da-
Wenn man sich also über die Kosten gar nicht so sicher mals hagelte es Kritik von allen Seiten. Nicht anders ist
ist, so klingt das für mich jedenfalls, sollte man sich we- es jetzt dem De-Mail-Gesetz ergangen, auf dessen Män-
nigstens beim Nutzen sicher sein. Der liegt allerdings gel unter anderem die Verbraucherzentrale Bundesver-
komplett auf der Seite von Anbietern und Behörden. band, der Deutsche Anwaltverein und der AK Vorrat
aufmerksam gemacht haben. Ich möchte Ihnen im Fol-
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf soll es er- genden erläutern, warum es kein Zufall sein dürfte,
möglicht werden, zum Beispiel Rechnungen, behördliche warum der zunächst ja vielversprechende, weil die Bür-
Schreiben oder amtliche Bescheide rechtsverbindlich gerinnnen und Bürger als mögliche Nutznießer einbezie-

Zu Protokoll gegebene Reden


7766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Konstantin von Notz


(A) hende Begriff Bürgerportalgesetz ebenfalls die letzte die weitgehende Fassung der Vorgaben in einem Gesetz (C)
Wahlperiode nicht überlebt hat. Denn es dürfte mittler- anstelle einer Verordnung verdienen Anerkennung.
weile zu deutlich geworden sein, dass der erwartete
Mehrwert von De-Mail gerade nicht bei den Bürgerin- Im Kern aber werden besonders kritikwürdige Grund-
nen und Bürgern liegen wird. entscheidungen beibehalten:

Vorweg möchte ich betonen, dass wir Grüne das ge- Erstens. De-Mail schafft eine Kommunikationsinfra-
setzgeberische Ziel der Ermöglichung sicherer, vertrau- struktur, die zwar die Möglichkeit der Vertraulichkeit
enswürdiger und rechtssicherer E-Mail-Kommunikation der Kommunikation nach höchsten Standards offenhält,
ausdrücklich unterstützen. Es liegt nahe, die durch die aber nicht selbst voranbringt und gewährleistet. De-
enorme gesellschaftliche Verbreitung der E-Mail-Kom- Mail zielt zwar auf ein Mehr an Sicherheit, verweigert
munikation sich bietenden Potenziale nutzen zu wollen, diese aber an entscheidender Stelle, indem es die Ende-
und es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei in erster zu-Ende-Verschlüsselung der Kommunikation zwischen
Linie um Rationalisierungspotenziale, sei es für die Sender und Empfänger nicht von Grund auf, gemäß den
Wirtschaft, für die Verwaltung, aber potenziell auch für Datenschutzprinzipien eines Privacy by Design, um-
die Verbraucherinnen und Verbraucher, handelt. Diese setzt. Denn die ermöglichenden Webmail-Anbieter er-
können jedoch nur Wirkung entfalten, wenn die typi- halten auf ihren Servern den vollen Zugriff auf E-Mail-
schen Merkmale heutigen E-Mail-Verkehrs, insbeson- Inhalte, um Schadprogramme herauszufiltern. Sie sind
dere die Unsicherheit über den tatsächlichen Kommu- dafür im Besitz der Schlüssel. Während dieses Zeitraums
nikationspartner und die Möglichkeit des Mitlesens der sind die Inhalte potenziell dem Risiko des Zugriffs durch
E-Mail-Inhalte während des Transports durch das Inter- unberechtigte Dritte ausgesetzt. Dieses Risiko ist trotz
net, tatsächlich beseitigt werden. Erst damit wird der ge- BSI-Zertifizierung der Rechenzentren – man hat ja ge-
genseitige elektronische Geschäftsverkehr per E-Mail rade beim E-Perso und der AusweisApp gesehen, dass
abgesichert. Zwar ist es zutreffend, dass bereits einzelne auch diese nicht immer hilft – unserer Auffassung nach
Insellösungen geschaffen wurden, insbesondere im Be- nicht hinnehmbar. Angesichts der Tatsache, dass mit De-
reich innerbetrieblicher Kommunikation, um dieses Ziel Mail ja gerade auch so sensible Vorgänge wie Behör-
denkommunikationen oder der Austausch mit Kranken-
zu erreichen. Es ist ebenfalls zutreffend, dass einzelne
versicherungen zukünftig online stattfinden sollen, muss
Anbieter vom Ansatz her Dienste anbieten, die bereits in
man aber das Maximum an Datenschutz zum Standard
die Richtung von De-Mail laufen. Ebenso zutreffend
machen. Wir würden es auch nicht hinnehmen – und das
aber ist es, dass für diese Angebote bislang keine grö-
wäre auch rechtswidrig –, wenn ein postalischer Brief –
ßere Akzeptanz entstanden ist. Dies könnte sich dann än-
und sei es aus technischen Gründen – auf der Hälfte des
dern, wenn die großen bundesdeutschen Webmail-An-
(B) bieter, wie von der Bundesregierung erhofft, mit ihrer Weges geöffnet würde. (D)
Marktmacht die Nutzung zertifizierter De-Mail-Dienste Zweitens. De-Mail verschiebt das bestehende verwal-
zum Standard werden lassen. Zwar verfügt die Deutsche tungsverfahrensrechtliche und prozessuale Gleichge-
Post AG mit ihrem sogenannten E-Postbrief seit Mitte wicht zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen respek-
dieses Jahres über ein auf dem Markt bereits verfügba- tive Unternehmen einseitig zulasten der Bürgerinnen
res Angebot, welches aus Sicht des Unternehmens alle und Bürger. Wer sich auf De-Mail einlässt, dem muss
zentralen Anforderungen des De-Mail-Projektes bereits klar sein, dass die Zeit des gelegentlichen Umgangs mit
erfüllt. Nahezu 1 Million Kunden soll davon bereits Ge- dem Medium E-Mail endgültig vorbei ist. Denn die vor-
brauch machen. Gleichwohl ist derzeit noch ungewiss, gesehenen gesetzlichen Veränderungen zwingen ihn
ob der mit diesem Projekt beabsichtigte Sprung ins dazu, sich regelmäßig, beinahe täglich, in seinem De-
21. Jahrhundert tatsächlich gelingen wird. Mail-Postfach anzumelden und auch die technische
Infrastruktur stets funktionsfähig zu halten, um nicht
Die Akzeptanz von De-Mail-Diensten ist nicht allein etwa Gefahr zu laufen, unanfechtbaren gerichtlichen
durch schiere Marktabdeckung zu erreichen. Entschei- oder behördlichen Entscheidungen ausgesetzt zu sein.
dend wird vielmehr sein, ob die Angebote das Vertrauen Das Argument, die Teilnahme an dem Verfahren sei frei-
der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Vertrauen ba- willig, läuft ins Leere: Wer als Bürgerin oder Bürger von
siert auf klaren Anzeichen dafür, dass ein sicheres und De-Mail profitieren will, darf keine Nachteile gegenüber
für alle Seiten faires und verlässliches Angebot geschaf- der bisherigen Post haben. Anders als beim heimischen
fen wird. Wir Grüne sind allerdings der Auffassung, dass Briefkasten und der heimischen Wohnung ist die Leerung
das Projekt De-Mail den Bürgerinnen und Bürgern in des Briefkastens aber bei De-Mail nicht delegierbar,
seiner gegenwärtigen Fassung diesen „fairen Deal“ weil der Zugang höchstpersönlich ausgestaltet ist. Im
verweigert und unter seinen Möglichkeiten bleibt. Urlaub bleibt man damit praktisch gezwungen, regelmä-
ßig nachzuschauen, ob relevante Nachrichten eingegan-
Ich möchte jedoch zunächst nicht zögern, zu betonen, gen sind. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass die
dass mit De-Mail erhebliche Verbesserungen gegenüber FDP-Fraktion in der Person von Frau Piltz ebenfalls
dem Bürgerportalgesetz der letzten Wahlperiode er- genau auf diesen Punkt bei der ersten Lesung des Bür-
reicht werden. Die verbesserte Sicherheit der Anmel- gerportalgesetzes am 23. April 2009 hingewiesen hat,
dungsmodalitäten, die Klarstellung des Inhaltes der während sie uns heute gemeinsam mit ihren Kollegen
Vertraulichkeitsverpflichtung für alle zertifizierten An- der CDU/CSU-Fraktion dieses Gesetz schmackhaft ma-
bieter, die Verschlüsselungsmöglichkeit der Dokumenten- chen will. So schnell ändern sich die Zeiten, Frau Piltz,
ablage, die erweiterten Transparenzpflichten und auch nicht wahr? Aber es kommt noch schlimmer: Sie sagten

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7767
Dr. Konstantin von Notz
(A) damals wörtlich: „Mit De-Mail schafft sich der Staat im Finanzausschuss (C)
Übrigen ein neues Anwendungsfeld für den E-Personal- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
ausweis. Da dieser Voraussetzung zur Nutzung von De- Verbraucherschutz
Mail sein wird, wird die Freiwilligkeit der Funktionen, Haushaltsausschuss
die nur in Verbindung mit der Speicherung biometri- Federführung strittig
scher Daten vorhanden ist, zur Farce.“ Das ist ja nun
nicht ganz zutreffend, weil es auch andere Möglichkeiten Christian Hirte (CDU/CSU):
der Registrierung geben wird. Gleichwohl entbehrt es
Die Stromversorgung in Deutschland beruht auf einer
nicht einiger Ironie, dass ausgerechnet Sie, liebe Frau
breiten Mischung von Energieträgern. Vor allem Kohle
Piltz, als ausgewiesene Kritikerin des Pannen-App-Per-
und Kernenergie sichern die Versorgungssicherheit.
sonalausweises, sich nun in tragender Rolle zu dessen
Durchsetzung wiederfinden. Auch Kohle und Kernkraft werden noch eine Weile zum
Strommix gehören, aber insgesamt wird die Stromver-
Hat man sich einmal für De-Mail entschieden, gibt es sorgung drastisch umgebaut. Der Anteil der erneuerba-
kein Wahlrecht mehr, das es in die Hände der Nutzerin- ren Energien macht derzeit etwa 16 Prozent vom Strom-
nen und Nutzer legen würde, ob sie De-Mail als Mittel mix aus und soll weiter steigen, bis er im Jahr 2050 etwa
für öffentliche Zustellungen zulassen wollen oder eben 80 Prozent erreicht. Energie aus Sonne, Wind, Biomasse
nicht. Die Zustellungsfiktion des im Gesetzentwurf – da ist sich diese Bundesregierung einig – wird unsere
modifizierten Verwaltungszustellungsgesetzes greift so- zukünftige Energieversorgung bestimmen.
mit unabhängig von Sonn- und Feiertagen drei Tage,
nachdem der Behördenserver die Nachricht verschickt Die Hoffnungsträgerin Nummer eins, die Windkraft,
hat. Für die Betroffenen bedeutet das unter dem Strich trägt unter den alternativen Energien mit 6,3 Prozent
eine Verkürzung der ihnen eingeräumten Reaktionszeit schon heute am meisten zur Stromerzeugung bei. Trotz-
und das Problem, eine elektronische Nichtzustellung selbst dem hält sie bislang noch nicht, was sie verspricht. Bis-
nachweisen zu müssen. Wie schwierig das für Nichtsys- her blieb die Leistung der Offshore-Windanlagen hinter
temadministratoren sein dürfte, können wir uns alle hier den Erwartungen zurück, wohingegen die Windräder an
lebhaft vorstellen. Land mehr Strom lieferten als angenommen. Doch selbst
wenn die Technologie ausgereift sein wird, bleibt der
Drittens. Eine Prognose der voraussichtlichen kon- Wind unzuverlässig. Tendenziell weht er in Nord-
kreten Kosten für die Nutzung der einzelnen Angebote deutschland häufiger, obwohl die Ballungszentren im
von De-Mail wagt auch die Bundesregierung bislang Süden und Westen am meisten Strom verbrauchen. Prak-
nicht – wahrscheinlich aus gutem Grund. Im Gegenteil: tikable Speicher für Windenergie existieren noch nicht,
Sie sieht sich gezwungen, diesen Punkt offenzulassen, ebensowenig die notwendige Netzinfrastruktur. Damit
(B) weil De-Mail grundsätzlich eben über private Betreiber ist sie momentan nicht grundlastfähig. (D)
angeboten werden soll und wiederum deren Bereitschaft
zum Angebot von De-Mail-akkreditierten Diensten nicht Den zweitgrößten Anteil unter den erneuerbaren
gestört werden soll. Der Preis aber ist höchst verbrau- Energien hat derzeit die Biomasse mit 4,3 Prozent am
cherrelevant. Die Akzeptanz durch die Nutzerinnen und Stromverbrauch. Im Vergleich zur Windenergie hat Bio-
Nutzer dürfte ganz wesentlich davon abhängen, welche masse aber einen entscheidenden Vorteil. Sie ist bereits
Kosten diese für die Inanspruchnahme eines Mediums gespeicherte Energie, die man nach Bedarf freisetzen
zu erwarten haben werden, das ihnen bislang als mehr kann. Daher wird sie eine wichtige Rolle im Energiesys-
oder weniger kostenlos vorgekommen sein dürfte. tem übernehmen. Dem trägt auch das von Ihnen, meine
Nach alledem ist das vorgelegte De-Mail-Konzept Damen und Herren von der Opposition, so geschmähte
nach wie vor unzureichend und muss in dieser Form, so- Energiekonzept unserer Koalition Rechnung.
fern es nicht von Ihnen weiterentwickelt wird, von uns So fasse ich den Antrag der SPD zur Förderung von
leider abgelehnt werden. Biomassekraftstoffen gewissermaßen als nachträglichen
Ritterschlag für unser Energiekonzept auf. Denn dort
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: heißt es: Die Bioenergie soll als bedeutender erneuerba-
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- rer Energieträger in allen drei Nutzungspfaden
wurfs auf Drucksache 17/3630 an die in der Tagesord- „Wärme“, „Strom“ und „Kraftstoffe“ weiter ausgebaut
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind werden. Hierbei wird die Bundesregierung ihren bereits
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese eingeschlagenen Weg der nachhaltigen Nutzung von
Überweisung beschlossen. Biomasse für eine umweltfreundliche und sichere Ener-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: gieversorgung konsequent fortsetzen. Dabei sind fol-
gende Elemente für eine nachhaltige Biomassenutzung
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk wesentlich: Erstens müssen die heimischen Bioenergie-
Becker, Ulrich Kelber, Gerd Bollmann, weiterer potenziale unter Vermeidung von Nutzungskonkurrenzen
Abgeordneter und der Fraktion der SPD durch verstärkte Verwendung organischer Rest- und Ab-
Biomethan im Verkehrssektor fördern fallstoffe, landwirtschaftlicher Koppelprodukte, von
Landschaftspflegematerial und von Holz aus Kurzum-
– Drucksache 17/3651 – triebsplantagen ausgeschöpft werden.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Zweitens kann eine Steigerung der Energie- und Flä-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) cheneffizienz nur durch verbesserte Bewirtschaftungs-
7768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Christian Hirte
(A) formen, eine stärkere Biomasseverwertung in Kraft- vorzulegenden Erfahrungsberichts zum Erneuerbare- (C)
Wärme-Kopplungsanlagen sowie durch Verbesserung Energien-Wärmegesetz. Dessen Ergebnisse werden uns
der steuerbaren Stromproduktion aus Biomasse gewähr- sicher einen sichereren Standpunkt für das weitere Vor-
leistet werden. Dabei müssen auch die integrierten Bio- gehen liefern können.
massenutzungskonzepte weiterentwickelt werden. Drit-
tens kann eine stärkere Nutzung von Biomethan nur Zur Frage von Biomethan als Kraftstoff: Mit der Bio-
durch Schaffung weiterer Einspeisemöglichkeiten ins kraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung (Biokraft-NachV)
Erdgasnetz gefördert werden. wurden bereits Regelungen für eine nachhaltige Erzeu-
gung der zur Biogaserzeugung eingesetzten Biomasse
Nichts anderes steht sinngemäß im Antrag der SPD. geschaffen, die ab dem 1. Januar 2011 für die Verwen-
Ich hege daher für Ihr Anliegen eine gewisse Sympathie. dung von Biogas als Kraftstoff verpflichtend einzuhalten
Aber während Sie noch Forderungen aufstellen, sind wir sind und für deren Umsetzung bereits zwei Zertifizie-
mit dem Energiekonzept bereits an die Umsetzung ge- rungssysteme und zwölf Zertifizierungsstellen vorläufig
gangen. Und falls Sie sich die Mühe machen wollen, ei- anerkannt wurden. Die mittlerweile auf nationaler und
nen Blick in den am 4. August dieses Jahres von der internationaler Ebene formulierten Ansätze zum Einsatz
Bundesregierung beschlossenen Nationalen Aktionsplan von Erdgas und Biomethan als Kraftstoff unterstreichen,
für erneuerbare Energie zu werfen, so wäre Ihnen sicher dass diese Technologie zur Erreichung der Klimaschutz-
aufgefallen, dass dort bereits konkrete Maßnahmenpa- ziele auch langfristig relevant ist.
kete zur Förderung von Biomethan beschrieben werden.
Als besonders schwierig erweist sich dabei aber die
So steht unter Punkt 4.2.8. „Einspeisung von Biogas große Anzahl unterschiedlicher Akteursgruppen. Her-
in das Gasnetz (Art. 16 Abs. 7, 9 und 10 der Richtlinie steller und Händler von Fahrzeugen, Forschungsinsti-
2009/28/EG)“, dass verbesserte Einspeisevoraussetzun- tute, Gaswirtschaft (inklusive Biomethanproduzenten),
gen für auf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas (auch Mineralölwirtschaft mit ihrem Tankstellennetz und letzt-
Biomethan genannt) in das Erdgasnetz mit der Verord- lich die Endkunden mit stark differenzierten Mobilitäts-
nung zur Förderung der Biogaseinspeisung in das beste- bedürfnissen machen die Implementierung von Biogas
hende Netz am 8. April 2008 geschaffen worden sind. Es im Verkehrssektor so schwierig. Nicht umsonst sind die
wurden unter anderem Änderungen der Gasnetzzu- Ergebnisse der letzten Jahre nicht so, wie wir uns das
gangsverordnung, GasNZV, der Gasnetzentgeltverord- vorgestellt haben.
nung, GasNEV, und der Anreizregulierungsverordnung, Von allen in Deutschland im Straßenverkehr zugelas-
ARegV, vorgenommen. Weiterhin wurde das Energie- senen 50 Millionen Fahrzeugen werden aktuell circa
wirtschaftsgesetz, EnWG, entsprechend angepasst. Das 85 000 mit Erdgas betrieben. Der Absatz von Erdgas als
(B) Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, das Bundes-Im- Kraftstoff betrug im Jahr 2009 etwa 1,7 Milliarden Kilo- (D)
missionsschutzgesetz, BImSchG, und das Erneuerbare- wattstunden. Das entspricht einem Anteil von Erdgas am
Energien-Wärmegesetz, EEWärmeG, sind bereits gute Gesamtkraftstoffverbrauch von 0,3 Prozent. Zur
Anreize, um die Nachfrage nach Biomethan zu stärken. Abdeckung von 1 Prozent, wie ihn die Kraftstoffverwen-
Daraus ergibt sich folgendes Gesamtbild: keine Be- dungsmatrix für 2010 anstrebt, ist der Absatz von circa
nachteiligung für Biomethan (aufbereitet auf Erdgasqua- 540 000 Tonnen bzw. 7 Milliarden Kilowattstunden Erd-
lität), sondern Vorzugsrechte, vorrangiger Gasnetzzu- gas an den Tankstellen erforderlich. Für 4 Prozent in
gang von Biomethan, wenn technisch und wirtschaftlich 2020 sind etwa 2,2 Millionen Tonnen bzw. 28 Milliarden
zumutbar, Gasnetzanschlusspflicht des Gasnetzbetrei- Kilowattstunden nötig. Ausgehend vom bestehenden
bers, wenn technisch und wirtschaftlich zumutbar, und Fahrzeugmix müsste der Fahrzeugbestand zur Errei-
ein Biogasbilanzausgleich von 12 Monaten mit 25 Pro- chung des 4-Prozent-Zieles in 2020 auf rund 1,4 Millio-
zent Flexibilitätsrahmen. Dies stellt eine weitere Verein- nen Fahrzeuge anwachsen, auf damit etwa 2,6 Prozent
fachung des Transportes von aufbereitetem Biogas im des derzeitigen Fahrzeugbestands. Das wären etwa
Erdgasnetz dar. 1,1 Millionen Pkw, 250 000 leichte und circa 30 000
Sollten sich Probleme bei der praktischen Implemen- schwere Nutzfahrzeuge. Jährlich müssten dafür circa
tierung ergeben, werden diese durch die zuständigen 29 Prozent des jeweiligen Vorjahresbestands der Erd-
Ministerien geprüft und mit entsprechenden For- gasneufahrzeuge neu zugelassen werden – fast eine Ver-
schungsvorhaben begleitet. Am 19. Mai 2010 hat das dreifachung der Wachstumsrate gegenüber 2009. Das
Bundeskabinett den vom BMWi vorgelegten Entwurf zur macht deutlich, vor welcher Herausforderung wir ste-
Neufassung der Gasnetzzugangsverordnung vorgelegt. hen. So sehr ich das Interesse der SPD an diesem Thema
Dieser Entwurf enthält Änderungsvorschläge betreffend schätze, so sehr ist der Antrag bereits in seinem Ansatz
den Rechtsrahmen für die Biogaseinspeisung, mit denen überflüssig. Er beschreibt ein Problem, welches die
die Voraussetzungen für die Einspeisung von Biogas Bundesregierung längst erkannt und zu lösen begonnen
verbessert und weiterentwickelt werden. Der Bundesrat hat.
hat diesem Entwurf der Bundesregierung am 9. Juli Ich lade Sie aber gerne ein, mit uns in den nächsten
2010 zugestimmt. Jahren an konstruktiven Lösungen zu arbeiten.
Ich bin der Meinung, dass man den getroffenen Maß-
nahmen auch ein wenig Zeit lassen muss, um zu sehen, Dirk Becker (SPD):
ob und wie sie sich in de Praxis bewähren. Dies gilt vor Mit dem vorliegenden Antrag der SPD beschäftigt
allem vor dem Hintergrund des für das nächste Jahr sich dieses Haus erstmals mit einem Thema, an dem kein

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7769
Dirk Becker
(A) Weg vorbei führt, wenn man sich mit der Frage beschäf- die Bundesregierung bislang keinerlei Maßnahmen, um (C)
tigt, wie der Individual- und Güterverkehr klimascho- Anreize für Automobilhersteller zu setzen, Gasfahrzeuge
nender gestaltet werden kann. Fahrzeuge mit einem verstärkt zu vermarkten beziehungsweise Bürgerinnen
Gasantrieb und einem hohen Anteil an Biomethan wei- und Bürger zu einem Umstieg auf ein mit Biomethan be-
sen nicht nur hohe CO2-Einsparpotenziale auf, sie triebenes Fahrzeug zu bewegen, um so die Einspeise-
schlagen auch die bislang zur Verfügung stehenden flüs- menge von Biomethan zu erhöhen. Stattdessen setzen
sigen biogenen Kraftstoffe wie Bioethanol oder Biodie- Merkel, Ramsauer, Röttgen und Co. auf Elektromobili-
sel um Längen. Dies gilt sowohl für das CO2-Reduk- tät, ohne dass die Technik ausgereift oder die Infrastruk-
tionspotenzial als auch für den Energieertrag. Wenn tur vorhanden wäre. Elektromobilität wird zukünftig mit
also Biomethan verstärkt im Verkehrssektor eingesetzt Sicherheit eine große Rolle spielen. Wichtig ist dabei,
wird, leistet dies einen Beitrag zur Verringerung des dass Elektrofahrzeuge zu 100 Prozent mit Strom aus er-
CO2-Ausstoßes. Gleichzeitig nutzen wir das wertvolle neuerbaren Energien beladen werden, denn nur dann
Gut Biomasse, aus dem Biomethan, das heißt auf Erd- leisten sie einen Beitrag für den Klimaschutz.
gasqualität aufbereitetes Biogas, hergestellt wird, auf
Wir können jedoch sofort etwas im Verkehrssektor für
hocheffiziente Art und Weise. Wie die Fachagentur
das Klima tun. Die Bundesregierung muss, um Biome-
Nachwachsende Rohstoffe e. V. jüngst berechnet hat,
than im Verkehrssektor zu fördern, endlich bestimmte
legt bei einem Einsatz von einem Hektar Ackerland ein
Maßnahmen ergreifen und so Hindernisse eines Um-
mit Bioethanol betriebener Pkw rund 22 000 Kilometern
stiegs auf Gasfahrzeuge abbauen.
zurück, wohingegen ein vergleichbarer, vollständig mit
Biomethan betankter Pkw auf eine Reichweite von rund Bitte gestatten Sie mir, die Maßnahmen, die im vorlie-
68 000 Kilometern kommt. Die wertvollen Ackerflächen genden Antrag beschrieben werden, kurz zu erläutern.
werden also geschont, wenn wir statt flüssiger Kraft- Eine der meines Erachtens wichtigsten Forderungen be-
stoffe vermehrt Biomethan verwenden. Zieht man da- steht in der Umstellung bzw. Harmonisierung der
rüber hinaus vermehrt Reststoffe und Koppelprodukte in Preisauszeichnung sämtlicher Kraftstoffarten auf Kilo-
Kaskadennutzung zur Produktion von Biomethan heran, wattstunden. Momentan haben Verbraucher nicht die
können die Landnutzungskonflikte noch weiter ent- Möglichkeit, den Preisvorteil von Erdgas bzw. Biome-
schärft werden. than an Tankstellen zu erkennen, da die Kraftstoffarten
unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen unterliegen,
Ein weiterer großer Vorteil liegt in der ausgereiften
nämlich Litern und Kilogramm. Auch im Hinblick auf
und marktfähigen Technik gasbetriebener Fahrzeuge.
die flächendeckende Einführung von Elektrofahrzeugen
Diese Autos gibt es schon seit Jahren im Handel. Sie
führt kein Weg daran vorbei, alle Kraftstoffarten an
sind zwar bislang noch etwas teurer als solche mit her-
Tankstellen mit derselben Messgröße, anhand des Ener-
(B) kömmlichem Otto- oder Dieselmotor, aber die Anschaf- (D)
giegehalts, zu bepreisen. So können die Verbraucher die
fungskosten amortisieren sich durch die geringeren
Preise der unterschiedlichen Kraftstoffarten direkt mit-
Tankkosten bereits nach wenigen Jahre, wobei die
einander vergleichen. Ich fordere die Bundesregierung
Amortisationsdauer von der Fahrleistung pro Jahr ab-
daher dazu auf, eine dementsprechende Novelle des
hängt.
Eichgesetzes umzusetzen.
Ein Umstieg auf Fahrzeuge mit Biomethanantrieb ist
Zweitens entsteht, sollte die Bundesregierung nicht
kurzfristig möglich und kann zum Klimaschutz beitra-
frühzeitig gegensteuern, ab 2016 die widersinnige Situa-
gen. Diese Einsicht ist nicht neu – schon in dem von der
tion, dass Biomethan mit dem vollen Energiesteuersatz
letzten Bundesregierung beschlossenen Integrierten
besteuert wird, wohingegen Erdgas bis 2018 von einem
Energie- und Klimaprogramm, IEKP, wurde festgelegt,
erniedrigten Steuersatz profitiert. Biomethan beinahe
dass man mit dem Ziel, den Treibhausgasausstoß zu re-
doppelt so hoch zu besteuern wie das klimaschädlichere
duzieren, unter anderem den Anteil von Biomethan im
Erdgas, macht klimapolitisch keinen Sinn. Deshalb for-
Erdgasnetz erhöhen muss. In der Gasnetzzugangsver-
dern wir die Bundesregierung dazu auf, Biomethan ab
ordnung wurden daher Einspeiseziele festgeschrieben.
2016 mit Erdgas steuerlich gleichzustellen und die
So sollten jährlich bis zum Jahr 2020 6 Milliarden Ku-
Steuerermäßigung bis 2020 zu verlängern. So wird den
bikmeter und 10 Milliarden Kubikmeter jährlich bis
höheren CO2-Reduktionspotenzialen von Biomethan
2030 an Biomethan in das Erdgasnetz eingespeist wer-
Rechnung getragen.
den. Bislang liegen die tatsächlichen Einspeisemengen
weit hinter den formulierten Zielen zurück: Ende 2009 Außerdem wird derzeit das im Volksmund „Autogas“
fuhren nur rund 85 000 der insgesamt rund 50 Millionen genannte Flüssiggas de facto steuerlich besser gestellt
Fahrzeuge mit Erdgas und beigemischtem Biomethan. als Erdgas, obwohl Autogas eine schlechtere Gesamtbi-
Der Anteil des Erdgas-Biomethan-Mix am Kraftstoffver- lanz aufweist. Deshalb muss die Bundesregierung drit-
brauch liegt bei lediglich circa 0,3 Prozent. Theoretisch tens die zukünftige Besteuerung von Flüssiggas im Ener-
könnten sämtliche Erdgasfahrzeuge bis 2020 mit reinem giesteuergesetz überprüfen.
Biomethan betrieben werden, bislang geht die Beimi-
schung von Biomethan an Erdgastankstellen jedoch nur Beim Energielabelling von Fahrzeugen ist es des Wei-
schleppend voran. Es gilt daher, Maßnahmen zu ergrei- teren aus Klimaschutzgründen absolut notwendig, dass
fen, um die Nachfrage nach Biomethan zu erhöhen. nicht nur die Abgase, sondern der Treibhausgasausstoß
während des gesamten Produktions- und Lebenszyklus
Trotz der vielen Vorteile von Fahrzeugen, die mit ei- des Fahrzeugs sowie des eingesetzten Kraftstoffs mit
nem Biomethan-Erdgas-Mix betrieben werden, ergreift eingerechnet wird. Außerdem ist im Biokraftstoffquoten-

Zu Protokoll gegebene Reden


7770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dirk Becker
(A) gesetz festgelegt, dass Biomethan zur Erreichung der reichen. Wir können es uns nicht erlauben, mit dem Kli- (C)
Beimischungsquote angerechnet werden kann. Da Bio- maschutz im Verkehrsbereich zu warten, bis Elektroau-
methan eine bessere Klimabilanz aufweist als andere tos marktreif sind, allein schon, weil es kurzfristig
Biokraftstoffe, fordern wir die Bundesregierung fünftens wirksame Alternativen zur Elektromobilität gibt. Ich
dazu auf, den Anrechnungsfaktor von Biomethan zur Er- appelliere daher an Sie, den vorliegenden Antrag zu un-
reichung der Quote zu verdoppeln, um so dazu anzure- terstützen.
gen, vermehrt Biomethan hinzuzukaufen und so die Bei-
mischungsquote an Erdgastankstellen zu erhöhen.
Michael Kauch (FDP):
Sechstens muss die Bundesregierung die ertragsteu- Die FDP-Fraktion teilt das Ziel des vorliegenden An-
erliche Berücksichtigung der Fahrzeugnutzung über- trags der SPD: Biogas muss auch im Verkehr bessere
denken. Die Besteuerung des privaten Nutzungsanteils Rahmenbedingungen bekommen. Biomethan hat es noch
von Dienstwagen und der Betriebsausgabenabzug von sehr schwer, sich als Energieträger auf dem Markt zu
Firmenwagen sind stärker an ökologischen Gesichts- etablieren. Dies ist umso bedauerlicher, als dass Bio-
punkten auszurichten. methan eine ausgesprochen gute Klimabilanz aufweist,
auch im Vergleich zu anderen Biokraftstoffen.
Darüber hinaus muss die Bundesregierung siebtens
den spezifischen Belangen von Kraftstoffen wie Biome- Die Analyse des Antrags, den wir hier debattieren,
than mit besonders hohem Treibhausgasminderungs- teile ich. Die Nutzung von Biogas im Verkehr ist eine
potenzial in der deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie sinnvolle Anwendung. Erdgasfahrzeuge sind technolo-
2009/33/EG für die Beschaffung von sauberen Fahrzeu- gisch ausgereift. Die Beimischung von Biomethan, aber
gen Rechnung tragen. So könnte zum Beispiel bei der auch der Betrieb mit 100 Prozent Biogas stellt für die
Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht festge- Motoren kein Problem dar. Deshalb birgt insbesondere
legt werden, dass die Gesamtbilanz von Biokraftstoffen, der Verkehr ein großes Potenzial für die Etablierung von
und nicht etwa lediglich der Ausstoß am Fahrzeug, zur Biomethan auf dem Markt der Energieträger.
Anrechnung herhalten muss.
Bei der Gestaltung der Mobilität der Zukunft sollten
Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Absatz von wir uns allerdings nicht auf einzelne Technologien fixie-
gasbetriebenen Fahrzeugen in Deutschland so schlep-
ren. Wir müssen die Nutzung von erneuerbaren Energien
pend voran geht, liegt meiner Ansicht nach darin, dass
im Verkehr und die Einführung alternativer Antriebs-
die Automobilhersteller gar keinen Anlass sehen, die kli-
techniken technologieoffen vorantreiben. Dabei sollten
maschonenden Fahrzeuge zu verkaufen. Warum sollten
wir Biomethan, neben den flüssigen Biokraftstoffen,
(B) sie auch? Hinter den herkömmlich betriebenen Autos nicht aus dem Auge verlieren. Neben Elektromobilität (D)
steht eine ganze Mineralölindustrie, die wiederum ihre
und Brennstoffzellentechnologie wird es zukünftig eine
Interessen verfolgt. Deshalb ist es nötig, dass wir genau
dort, bei den Automobilherstellern und ihren Händlern, zentrale Rolle spielen können. Insbesondere im Lang-
gezielte Anreize setzen, um mit Biomethan betriebene streckenbetrieb und bei Lkws brauchen wir auch auf
Fahrzeuge zu vermarkten. Ich fordere die Bundesregie- längere Sicht Verbrennungsmotoren – dann aber mit
rung achtens auf, die Gesamtbilanz der Fahrzeuge und biogenen Kraftstoffen.
des verwendeten Kraftstoffs auf den Flottendurchschnitt Die FDP tritt dafür ein, die Biomasse möglichst dort
für CO2-Emissionen anzurechnen. So hätten Automobil- einzusetzen, wo sie das jeweils höchste CO2-Einsparpo-
hersteller einen Anreiz, vermehrt gasbetriebene Fahr- tenzial hat oder CO2-neutrale Alternativen fehlen. Da-
zeuge zu produzieren, und somit auch einen Anreiz, ver- bei ist die Nutzungskonkurrenz von Biogas im Verkehr,
mehrt solche Fahrzeuge zu verkaufen. Unser Ziel muss im Wärmebereich und bei der Verstromung derzeit nur
es sein, die Beimischungsquote von Biomethan an Erd-
theoretischer Natur, weil die mögliche Angebotsmenge
gastankstellen stetig anzuheben, um immer bessere
von Biogas die Nachfrage bei weitem überschreitet.
Treibhausgasreduktionswerte zu erzielen. Daher fordere
Deshalb empfiehlt sich derzeit eine Förderung von Bio-
ich die Bundesregierung grundsätzlich dazu auf, zu prü-
gas in allen Bereichen.
fen, wie eine höhere Beimischung an Tankstellen über
die beschriebenen Forderungen hinaus erreicht werden Der vorliegende Antrag enthält einige Anregungen
kann. zur Etablierung von Biomethan im Verkehrssektor. Die
Zu guter Letzt werden auch umweltbewusste Verbrau- Praxistauglichkeit dieser Vorschläge muss kritisch ge-
cher nicht von einem herkömmlichen Auto auf ein gas- prüft werden. Insbesondere sollte dafür Sorge getragen
betriebenes Fahrzeug umsteigen, solange sie nicht über werden, dass keine steuerliche Benachteiligung von Bio-
die Klimafreundlichkeit dieses Antriebstyps informiert methan im Vergleich zu anderen Kraftstoffen erfolgt. Die
sind. Die Bundesregierung muss daher eine breite und anstehende Überarbeitung der Kraftstoffstrategie muss
dauerhafte Informationskampagne über die Vorteile die- neuen Schwung für das Biomethan bringen. Das Ziel des
ser Fahrzeugart starten, um ein Bewusstsein hierfür in Energiekonzeptes, Biomethan in die Fahrzeuge zu brin-
der Bevölkerung zu schaffen. gen, muss zeitnah mit konkreten Maßnahmen unterlegt
werden. Diese sollen möglichst marktorientiert, aber
Es ist jetzt an der Zeit, zu handeln. Wenn wir jetzt eben auch wirksam sein. Die FDP lädt alle Interessier-
nicht gegensteuern, werden wir die Ziele, die sich die ten dazu ein, Vorschläge für die künftige Gesetzgebung
letzte Bundesregierung im IEKP gesteckt hatte, nicht er- zu unterbreiten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7771

(A) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Konkurrenz zur Nahrungsmittelerzeugung kann (C)
Bio ist schick, Biomethan natürlich auch. Wer Klima- derzeit vor allem in Norddeutschland betrachtet werden.
schutz will, braucht Biotreibstoffe für den Verkehr, das Hier gibt es regelrechte „Maiswüsten“. Viele Landwirte
weiß doch nun wirklich jedes Kind. Ist Biomasse aber klagen darüber, dass die Pachtpreise seit der massiven
wirklich die Lösung aller Probleme? Maisanbau für Förderung der Biomasse enorm gestiegen sind. Wenn
Strom, Holz für Heizungen und Industrie, Raps für Die- Energieunternehmen jetzt vermehrt in die Biomethaner-
sel und Kartoffeln für Verpackungen und so weiter und zeugung einsteigen, wird sich das Problem weiter ver-
so weiter. All diese Anwendungen für nachwachsende schärfen. Als Konsequenz wird der wirtschaftliche
Rohstoffe brauchen eines: Landfläche – genauso wie der Druck zum Anbau von Energiepflanzen statt Nahrungs-
Anbau von Getreide, Kartoffeln, Obst, Gemüse und Tier- mitteln immer weiter zunehmen. Biomethan steht nicht
unbegrenzt aus nachhaltig erzeugter Produktion zur
futter. Wegen der politischen Vorgaben der EU stieg der
Verfügung. Ein bestimmter Anteil der Agrarflächen kann
Preis für Raps zwischen 2008 bis 2010 von 280 auf 450
vor allem in Osteuropa dafür genutzt werden. Dies wird
Euro je Tonne. Die gesamte deutsche Rapsernte 2010
jedoch mit Sicherheit nicht ausreichen, um den Verkehr
muss als Biodiesel in die Tanks fließen, wenn die EU-
in Zukunft mit Biomethan zu fahren.
Richtlinie eingehalten werden soll – mit fatalen Auswir-
kungen, denn für Rapsöl, Viehfutter oder die Lebensmit- Es bräuchte daher ein integriertes Biomethankonzept
telindustrie ist jetzt kein einheimischer Raps mehr da. im Rahmen eines Energiekonzepts. Hier muss die Nah-
rungsmittelkonkurrenz ausgeschlossen werden. Dazu
Der Antrag der SPD-Fraktion, Biomethan für Hei- brauchen wir eine sorgfältige Abwägung, in welchen
zungen und den Pkw-Einsatz massiv zu fördern, ist des- Verkehrsbereichen Biomethan bevorzugt zum Einsatz
halb wegen einer weiteren Überbelastung der Anbauflä- kommen sollte. Das sind vor allem die Bereiche, in de-
chen schädlich. Preissteigerungen bei allen Bio- nen es langfristig kaum Alternativen zum Verbrennungs-
Anwendungen, vor allen Dingen auch bei Lebensmitteln, motor gibt, also Lkws und Busse im Fernverkehr. Für
werden erfolgen. Die Verbraucher sind die Verlierer. Pkws hingegen stehen mit Hybridantrieben, Plug-In-
Der Antrag in dieser Form bringt auch keine Planungs- Hybriden und rein batterieelektrischen Fahrzeugen al-
sicherheit für Biomethananwendungen, weil die Be- ternative Entwicklungspfade zur Verfügung, um erneu-
schaffungspreise agrarischer Rohstoffe einfach zu teuer erbare Energien in den Straßenverkehr zu bringen.
und unkalkulierbar werden. Biomethan wird zukünftig
eine wichtige Rolle spielen. Aus Sicht der Linken muss Zum einen ist dies sehr viel effizienter: Elektromoto-
man die Anwendung dann fördern, wenn das Methan aus ren können bis zu 90 Prozent der Energie in Vortrieb
Abfällen entsteht. Soll es aber direkt gewonnen werden, umwandeln. Bei Verbrennungsmotoren – auch solchen
(B) ist es meist eher abzulehnen. Sinnvoll wäre es beispiels- mit Biomethan – verpufft dagegen der größte Teil als (D)
weise für eng umgrenzte regionale Anwendungen wie Wärme. Zum anderen will ich auf Folgendes hinweisen:
die Landwirtschaft. Fraktionsübergreifend sind wir uns einig, dass eine in-
telligente Verknüpfung der Elektromobilität mit Strom
Der Antrag der SPD ist einseitig zugunsten des aus zusätzlichen erneuerbaren Energien einen wichtigen
Biomethans gestellt. Es wäre zwar für Maschinenbau- Beitrag für ein besseres Lastmanagement der Strom-
konzerne und Autohersteller eine neue Profitquelle er- netze bietet. Dies wird mit Zunahme der Einspeisung von
schlossen, aber steigende Verbraucherpreise in Europa Offshore-Wind und anderen unstetigen Energiequellen
und sich ausweitende Hungersnöte in der Dritten Welt immer wichtiger werden.
würden die Folge sein. Ob unter dem Strich global
betrachtet tatsächlich eine Verbesserung des Umwelt- Ein solches Konzept hat auch die Koalition bisher
schutzes herauskommt, ist außerdem mehr als zwei- nicht vorzuweisen. Deswegen wird der Ansatz des SPD-
felhaft. Gedient wird ausschließlich den Klimaschutz- Antrags, das Thema politisch stärker auf die Agenda zu
vorgaben der EU. Der globale Sinn wird jedoch verfehlt, setzen, von uns ausdrücklich begrüßt. Bei der vorge-
da die weltweite Konkurrenz um Biomasse letztlich Ur- schlagenen Lösung wird jedoch zu kurz gesprungen.
wälder vernichtet. Eine solche Politik hilft dem Klima-
schutz nicht. Geschädigt wird jedoch das Ansehen alter- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nativer Energien. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3651 an die in der Tagesordnung aufge-
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wün-
Biomethan steht in einer doppelten Nutzungskonkur- schen Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau
renz. Zum einen wird Biomethan überwiegend aus An- und Stadtentwicklung. Die Fraktion der SPD wünscht
baubiomasse gewonnen und steht dabei in Konkurrenz Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
zur Nahrungsmittelerzeugung. Zum anderen gibt es eine und Reaktorsicherheit.
enorme Nachfrage nach der Stromproduktion aus Bio-
masse, welche idealerweise an eine sinnvolle Verwen- Wir stimmen zuerst über den Vorschlag der Fraktion
dung entstehender Wärme gekoppelt ist. Bei steigenden der SPD – Federführung beim Ausschuss für Umwelt,
Anteilen erneuerbarer Energien, vor allem aus Wind und Naturschutz und Reaktorsicherheit – ab. Wer ist für die-
Sonne, kommt Biogaskraftwerken beim Lastausgleich im sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Gibt
Stromnetz eine zunehmend wichtigere Rolle zu. es Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit
7772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- christlich-liberalen Koalition und der Bildungspolitik (C)
men der Oppositionsfraktionen abgelehnt. der Union. Um das zu gewährleisten, setzen wir auf eine
Diversifizierung der Studienförderung. Es ist unser Ziel,
Wir stimmen nun über den Überweisungsvorschlag
neben dem Ausbau des BAföG und der Bildungsdarle-
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung
hen eine Stipendienkultur in Deutschland zu schaffen. In
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung –
den USA, Japan oder Südkorea finanzieren private
ab. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Geldgeber bis zu zwei Drittel der Ausgaben für den
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
Hochschulbereich – unter anderem durch Stipendien-
vorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
programme. Im OECD-Schnitt stammen 27,4 Prozent
angenommen.
des Bildungsbudgets aus nicht öffentlichen Quellen. In
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: Deutschland dagegen finanzierten private Geldgeber im
Jahr 2007 von insgesamt 25,6 Milliarden Euro für den
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Hochschulbereich lediglich 15 Prozent. 84 Prozent steu-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten erten Bund, Länder und Gemeinden bei. Rund 1 Prozent
Gesetzes zur Änderung des Stipendienpro- der Mittel stammten aus dem Ausland. Das ist auch vor
gramm-Gesetzes (1. StipG-ÄndG) dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs um
– Drucksache 17/3359 – die klügsten Köpfe und der aktuellen Diskussion um den
Fachkräftemangel nicht hinnehmbar.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Die Union setzt hier mit dem nationalen Stipendien-
schätzung (18. Ausschuss) programm an. Es bietet jungen Menschen ein zusätzli-
ches Finanzierungsinstrument für mehr Bildungsgerech-
– Drucksache 17/3699 –
tigkeit. Dabei wird das Deutschlandstipendium nicht auf
Berichterstattung: das BAföG angerechnet. Studierende können beide För-
Abgeordnete Tankred Schipanski derungen gleichzeitig ohne Abzüge in Anspruch neh-
Marianne Schieder (Schwandorf) men. Die Stipendien in Höhe von 300 Euro sollen von
Patrick Meinhardt privaten Geldgebern wie Stiftungen, Unternehmen, Pri-
Nicole Gohlke vatpersonen und Alumni auf der einen Seite und dem
Priska Hinz (Herborn) Bund auf der anderen Seite gemeinsam finanziert wer-
den.
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung Die Stipendien werden von den einzelnen Hochschu-
(B) – Drucksache 17/3701 – len nach Leistung und Begabung vergeben. Neben der (D)
erbrachten Leistung zählen auch gesellschaftliches En-
Berichterstattung: gagement, die Bereitschaft Verantwortung zu überneh-
Abgeordnete Eckhardt Rehberg men oder besondere persönliche Gründe, die sich bei-
Klaus Hagemann spielsweise aus der familiären Herkunft oder einer
Ulrike Flach Migrationsherkunft ergeben können. Dies ist der Ein-
Michael Leutert stieg in die Mobilisierung neuer Begabungsreserven und
Priska Hinz (Herborn) die Erschließung bisher unterrepräsentierter Studieren-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dengruppen.
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Mittelfristig sollen 8 Prozent der Studierenden in
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Deutschland, also rund 160 000 junge Frauen und Män-
zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, ner, gefördert werden. In einem ersten Schritt werden ab
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeord- Sommersemester 2011 rund 10 000 Stipendiaten starten.
neter und der Fraktion DIE LINKE Der Bund übernimmt dabei den gesamten öffentlichen
Mittel des Nationalen Stipendienprogramms Finanzierungsanteil, das heißt 150 Euro pro Stipendium
für eine Erhöhung des BAföG nutzen pro Monat, wenn die jeweilige Hochschule den gleichen
Beitrag von privater Seite einwirbt. Damit wollen wir
– Drucksachen 17/2427, 17/3699 – auch eine engere Vernetzung der Hochschulen mit ihrem
Berichterstattung: gesellschaftlichen Umfeld schaffen, die zu einer größe-
Abgeordnete Tankred Schipanski ren Beteiligung der Privatwirtschaft führt. Gerade bei
Marianne Schieder (Schwandorf) der Ausbildung der künftigen Generation ist es nicht
Patrick Meinhardt einzusehen, dass der Staat die Finanzierung alleine
Nicole Gohlke übernimmt, während sich Unternehmen und Wirtschaft
Priska Hinz (Herborn) nicht beteiligen. Das Zusammenspiel aus privaten und
staatlichen Geldern macht deutlich, dass Unternehmen,
Stiftungen und vermögende Privatpersonen eine beson-
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): dere Verantwortung für die Ausbildung von jungen Men-
Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und der FDP, sind schen haben.
der festen Überzeugung, dass der Bildungsaufstieg jun-
ger Menschen nicht an finanziellen Hürden scheitern Für eine schnelle Umsetzung plant die unionsge-
darf. Aufstieg durch Bildung ist die Kernbotschaft der führte Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen, um den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7773
Dr. Stefan Kaufmann
(A) Start des Stipendienprogramms erfolgreich zu begleiten. Wir haben jedoch die Pflicht, die Ausgewogenheit sozia- (C)
Unter anderem wird die Bundesregierung die Hochschu- ler Leistungen sicherzustellen. Dies sind wir dem Steuer-
len bei den Akquisekosten mit einer Programmkosten- zahler schuldig, der die Kosten von knapp 2,5 Milliarden
pauschale unterstützen. Dazu zählen Kosten für das Euro jährlich für das BAföG trägt. Hier sehe ich eher
Personal, das die privaten Stipendienmittel einwirbt. eine große Chance im Deutschlandstipendium, die In-
Die Pauschale beträgt 7 Prozent der Mittel, die die formationslücke bei den sozial schwächeren und bil-
Hochschule von privater Seite einwerben könnte. Außer- dungsfernen Familien zu schließen. Die Vorteile des Sti-
dem wird das Bundesministerium für Bildung und For- pendienprogramms liegen auf der Hand. Neben den
schung Schulungen für Mitarbeiter der Hochschulen an- bisherigen Finanzierungsinstrumenten BAföG und Bil-
bieten, die künftig für das Einwerben von Mitteln für die dungsdarlehen wird den Studierenden ein zusätzliches
Deutschlandstipendien verantwortlich sind. Dies um- Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit gegeben.
fasst auch ein kostenloses Softwareprogramm zur besse-
ren Datenerfassung. Die ersten Reaktionen auf das Programm fallen posi-
tiv aus. Der Präsident des Deutschen Hochschulverban-
Wie Sie alle wissen, wollten die Bundesländer die des, Professor Dr. Kempen, beschreibt das Deutschland-
hälftige Mitfinanzierung des staatlichen Anteils am stipendium als hervorragendes Projekt, dessen Vorteile
Deutschlandstipendium nicht mittragen. Die Opposition bislang nicht ausreichend erkannt und dessen Probleme
torpediert das Stipendiengesetz aus ideologischen Grün- bislang überbewertet wurden. Der Rektor der RWTH
den und verweigert jedes konstruktive Handeln für die Aachen, Professor Dr. Schmachtenberg, meldet sehr po-
Studierenden in Deutschland. Die Bundesregierung hin- sitive Erfahrungen mit Stipendien in NRW. Er bestätigt,
gegen handelt verantwortlich und hat sich im Vermitt- dass das Stipendienprogramm die Vernetzung zwischen
lungsverfahren bereit erklärt, die Kosten des Stipendien- der Hochschule und der Wirtschaft nachhaltig unter-
programms vollständig zu übernehmen. Den Ländern stützt hat und dass sich aus den Kontakten über das Sti-
wiederum werden dadurch Spielräume für eigene Kon- pendienprogramm hinausgehende Kooperationen erge-
zepte zur Förderung der Studienneigung und der Begab- ben haben. Die Deutsche Telekom hat sich bereit erklärt,
tenförderung eingeräumt. Die Länder können nun be- in den kommenden vier Jahren 360 junge Frauen in
weisen, dass Sie diese Spielräume in ihrer Verant- MINT-Studiengängen zu fördern. Diese positiven Rück-
wortung nutzen. meldungen aus der Wirtschaft zeigen, dass das Stipen-
dienprogramm auf einem guten Weg ist.
Da die Länder nunmehr 0 Prozent zur Finanzierung
des Stipendienprogramms beitragen, ist es nur folge- Lassen Sie uns das Deutschlandstipendium erfolg-
richtig, dass die Festlegung der Höchstförderquoten reich beginnen und somit einen weiteren Schritt für mehr
künftig auch ohne Zustimmung des Bundesrates möglich Wettbewerbsfähigkeit und Bildungsgerechtigkeit künfti- (D)
(B)
ist. Deshalb bedarf es bei dem Stipendiengesetz einer ger Generationen gehen! Deshalb werbe ich um Ihre Zu-
Änderung. Denn es gilt: Wer bezahlt, bestimmt. Aus die- stimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
sem Grund haben wir als Regierungsfraktionen einen
Änderungsantrag zum vorliegenden Änderungsgesetz Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD):
eingebracht. Es handelt sich hier letztlich um rein redak- Das nationale Stipendienprogramm, mit dem die Bun-
tionelle Änderungen neben der Umsetzung der gemach- desregierung ursprünglich bis zu 160 000 zusätzliche
ten Zusagen im Vermittlungsausschuss. Die Festlegung Stipendien schaffen wollte, ist bildungspolitisch in der
der Höchstförderquoten soll das Bundesministerium für Sache gescheitert. Das Festhalten der Bundesregierung
Bildung und Forschung zukünftig im Einvernehmen mit an dem „Deutschland-Stipendium“ für nicht einmal
dem Bundesministerium der Finanzen treffen. Im 10 000 Stipendien dient allein der Gesichtswahrung. Bil-
Jahr 2011 soll die Höchstgrenze der Förderung gemäß dungspolitisch ist sowohl das Gesetz entbehrlich als
§ 11 Abs. 4 zunächst 0,45 Prozent der Studierenden je auch die zur Abstimmung vorliegende Novellierung un-
Hochschule betragen. Die vorgesehene Pauschalierung akzeptabel.
der Erstattung vereinfacht das Verfahren, vermeidet
Auseinandersetzungen und gibt den Hochschulen Pla- Es reicht nicht aus, dass diese Bundesregierung
nungssicherheit. Mit den genannten Maßnahmen zeigt Klientelpolitik in höchstem Maße betreibt. Sie erkauft
der Bund Verantwortung für die Förderung des wissen- sich jetzt auch noch Mehrheiten für Projekte, die immer
schaftlichen Nachwuchses und honoriert wissenschaftli- weniger das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben
che Spitzenleistungen. Zugleich schafft er Anreize für werden. Um sich in der letzten Sitzung des Bundesrates
private Stipendiengeber, sich auf diesem Feld zu enga- mit schwarz-gelber Mehrheit im Sommer nicht zu bla-
gieren und fördert den Aufbau einer Stipendienkultur in mieren, wurde in einer Nacht- und Nebelaktion von Frau
Deutschland. Schavan und Frau Merkel den Ländern die Kostenüber-
nahme für das nationale Stipendienprogramm durch den
Die Oppositionsfraktionen SPD, Linke und Grüne fa- Bund versprochen. Andernfalls hätten sogar die eigenen
vorisieren hingegen eine massive Erhöhung der Ausga- Ministerpräsidenten der Regierungskoalition das Vor-
ben für die Sozialleistung BAföG. Dieser Ansatz findet in haben scheitern lassen.
der Regierungskoalition keine Zustimmung. Er ent-
spricht im Wesentlichen der Sozialpolitik der 70er- Mit der von der Bundesregierung im vorliegenden
Jahre. Die von Ihnen angestrebte Erhöhung über den Gesetzentwurf vorgeschlagenen Übernahme der Kosten-
festgestellten Bedarf hinaus würde das BAföG außerdem anteile der öffentlichen Hand durch den Bund konnte
in eine Schieflage zu anderen Sozialleistungen bringen. zwar die Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat

Zu Protokoll gegebene Reden


7774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Marianne Schieder (Schwandorf)


(A) erwirkt werden. Sie ist allerdings geeignet, den mühsam ist bereits absehbar, dass die im Gesetzentwurf vorge- (C)
aufrechterhaltenen Grundsatz einer gemeinsamen Bund- schlagene Übernahme von Verwaltungskosten bis zu ei-
Länder-Verantwortung in der Bildungsförderung weiter ner Höhe von 10 Prozent völlig unzureichend ist. In der
zu gefährden und ist daher abzulehnen. Das Vermitt- schon oben zitiert Expertenanhörung wurden bereits
lungsverfahren zur 23. Novelle des Bundesausbildungs- rund 30 Prozent veranschlagt. Die Kostenzusagen des
förderungsgesetzes hat verdeutlicht, welche Risiken das Bundes sind somit völlig unzureichend.
willkürliche und ziellose Handeln der Bundesregierung
bei der notdürftigen Rettungsoperation für das Stipen- Mit der Begründung, dass der Bund nunmehr den ge-
dienprogramm-Gesetz im Bundesrat für das Bildungs- samten öffentlichen Anteil an den Mitteln, die für Stipen-
fördersystem insgesamt heraufbeschwört. dien aufgebracht werden, allein trage, soll die Verord-
nungsermächtigung des § 14 Nr. 7 StipG geändert
Zur Ehrenrettung der Bundesregierung könnte man werden. Demnach soll die Zustimmung des Bundesrates
nun noch sagen, dass man mit der Novelle den finanziell wegfallen, wenn die Bundesregierung festlegt, wie die
angeschlagenen Ländern entgegenkommen wollte. Stellt Höchstquote in § 11 Abs. 4 StipG erreicht werden soll.
sich allerdings die Frage, warum die Bundesregierung Hierbei wird außer Acht gelassen, dass die Bundeslän-
bei der zeitgleich verhandelten BAföG-Novelle über- der nach wie vor einen Großteil der Verwaltungskosten
haupt keinen Spielraum sah, den Ländern finanziell unter für das Stipendienprogramm tragen müssen. Die Risiken
die Arme zu greifen? Dadurch wird deutlich, dass es mit der nach wie vor bestehenden Unterfinanzierung drohen
der Finanzierungszusage beim Stipendienprogramm le- sich mit jedem Ausbauschritt des Stipendienangebots zu
diglich darum ging, ein Prestigeprojekt zu sichern. Die vervielfachen, sodass eine direkte Betroffenheit der Län-
Finanzsituation der Länder und Kommunen ist dieser der gegeben und damit die Zustimmungspflicht begrün-
Bundesregierung egal. Das hat sie in den letzten zwölf det ist. Allein deshalb ist die Novelle abzulehnen.
Monaten schon mehrfach bewiesen.
Frau Schavan, gestehen Sie doch endlich ein, dass
Bereits die Expertenanhörung zum Stipendienpro- das Stipendienprogramm eine fixe Idee aus den Koali-
gramm im Frühjahr hat gezeigt, dass das Vorhaben tionsverhandlungen ist, für die es besser wäre, sie jetzt in
Stückwerk ist. Die Fachleute haben insbesondere vor den Papierkorb zu werfen, um weitere unnötige Kosten
Verwerfungen in der Hochschullandschaft und einer Be- zu vermeiden. Dann könnte man endlich das Geld, dass
nachteiligung von Hochschulen in strukturschwächeren für das Stipendienprogramm blockiert wird, in einen ver-
Regionen unseres Landes gewarnt. Die Begründung der nünftigen Ausbau des BAföG stecken, was die SPD-Frak-
Bundesregierung, mit dem Programm für gleichwertige tion von Anfang an gefordert hat. In diese Richtung geht
Lebensbedingungen im Bundesgebiet zu sorgen, ist reine auch der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute eben-
(B) Farce. Das Programm ist nach Einschätzung zahlrei- falls zur Abstimmung steht. Leider ist dieser Antrag ge- (D)
cher Fachleute mehr ein Instrument zur Förderung des genstandslos, nachdem die Bundesregierung die Zustim-
Wettbewerbs unter den Hochschulen als ein geeignetes mung für das Stipendienprogramm im Bundesrat durch
Mittel zur Förderung von Studierenden. die Finanzierungszusage erwirkt hat. Da aber die grund-
sätzliche Ausrichtung richtig wäre, wird sich unsere
Schon damals waren sich alle Experten auch einig, Fraktion bei der Abstimmung enthalten.
dass es völlig utopisch sei, in absehbarer Zeit 8 Prozent
aller Studierenden über dieses Programm zu fördern. Die 1. Novelle des Stipendienprogramm-Gesetzes
Nun soll der öffentliche Anteil der Stipendien zu werden wir jedoch ablehnen. Denn sie ist nicht mehr als
100 Prozent vom Bund kommen, aber die Mittel im ein Taschenspielertrick. Es bleiben die grundsätzlichen
Haushalt werden nicht verändert. Ich frage Sie, Frau Mängel des Stipendienprogramms bestehen. Trotz der
Schavan, wie will man so auf die im Gesetz angestrebte Novelle bleiben die offensichtlichen konzeptionellen,
Zahl der geförderten Studentinnen und Studenten kom- handwerklichen und auch bildungspolitischen Mängel
men? Hat da jemand in Mathematik oder beim Formu- des Programms. Es ist daher weiter davon auszugehen,
lieren der Novelle nicht aufgepasst? Oder ist das der dass die soziale Selektivität in der Hochschulbildung
Versuch, ganz heimlich und langsam das Programm gar verfestigt und die regionalen Unterschiede hinsichtlich
nicht richtig auf den Weg zu bringen? Scheinbar reicht der Lebensverhältnisse weiter verstärkt werden. Da-
es, wenn ein paar wenige Privilegierte für vergleichs- rüber hinaus gibt es kein gesetzlich normiertes Verfah-
weise hohe Verwaltungskosten gefördert werden und die ren bzw. für rechtsfeste Förderbescheide der Hoch-
Bundesregierung vollmundig in der Öffentlichkeit ver- schulen hinreichende Entscheidungskriterien für die
künden kann: Wir fördern die Stipendienkultur – auch Ausbildungsförderung durch das nationale Stipendien-
wenn es nicht stimmt. Ähnliches hatten wir ja schon programm. Die Liste der offenen Fragen und Probleme
beim Praktikantenprogramm Technikum. Hier verkün- rund um das Programm bleibt weiterhin bestehen. Die
dete die Bildungsministerin auch großspurig Ziele in der vorgelegte Novelle bietet keine einzige Lösung dafür an.
Öffentlichkeit, die man jetzt nur noch wie unter den Vielmehr sorgt sie dafür, dass die im Gesetz festgehalte-
Tisch gefallene Brotkrumen findet. nen Ziele noch unrealistischer werden und noch mehr
Geld aus dem Bundeshaushalt für noch weniger Bil-
Trotz der geplanten vollständigen Finanzierung des dungsförderung vergeudet wird.
öffentlichen Anteils der Stipendien nach dem Stipendien-
programm-Gesetz durch den Bund bleiben für die Län- Ich appelliere an die Bundesregierung und die
der als Träger der Grundfinanzierung der Hochschulen schwarz-gelbe Koalition: Zeigen Sie endlich Vernunft.
weiterhin erhebliche finanzielle Umsetzungsrisiken. So Lassen Sie das Stipendienprogramm sein und bauen Sie

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7775
Marianne Schieder (Schwandorf)
(A) mit uns eine sozial gerechtere Studienförderung über ganz überproportional Studierende an Fachhochschulen (C)
das BAföG aus. Bei der Masse der Wählerinnen und von der Förderung profitieren, die bisher vernachlässigt
Wähler käme dies auch besser an, als die vermeintliche wurden. Die Studien zeigen auch, dass ganz überpropor-
Versprechung, die Stipendienkultur zu fördern. Nehmen tional Studierende aus Elternhäusern ohne akademi-
Sie Ihr Versprechen, eine Bildungsrepublik zu schaffen, schen Hintergrund von den Leistungen profitieren. Und
endlich ernst. Wer immer wieder das christliche Profil sie zeigen, dass ganz überproportional BAföG-Empfän-
strapaziert, sollte vor allem klar wissen, dass im Chris- ger von den Leistungen des Stipendienprogramms profi-
tentum die gleiche Würde aller Menschen grundlegend tieren. Doch statt einer solchen ehrlichen Analyse be-
ist. Daraus resultiert, dass alle die gleiche Chance be- schränken Sie Ihren Blick auf einen Teilbereich der
kommen sollen, insbesondere wenn es um Entwicklungs- Studienfinanzierung, nur weil es besser in Ihre ideologi-
möglichkeiten geht. Daher ist es höchste Zeit, dass sche Sicht passt.
Bildung nicht länger von den Möglichkeiten und Poten-
zialen des Elternhauses abhängig ist. Fühlen Sie sich, Wir als Koalition der Mitte bauen dagegen die beste-
liebe Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Ko- henden Fördermöglichkeiten weiter aus und ergänzen
alition, Ihrem viel zitierten christlichen Werteverständ- sie um eine weitere Säule in das nationale Stipendien-
nis endlich verpflichtet und sorgen Sie mit uns für eine programm. Die BAföG-Leistungen werden ausgeweitet
sozial gerechte Bildungspolitik, in der wirklich alle die und modernisiert, die Elternfreibeträge werden ange-
gleichen Chancen haben. passt, sodass mehr Studierende BAföG erhalten können,
und die Mittel für die Begabtenförderwerke werden er-
höht.
Patrick Meinhardt (FDP):
Die Koalition der Mitte macht heute gegen zahlreiche Alleine die BAföG-Leistungen steigen dank dieser
Widerstände aus dem linken Lager den Weg frei für eine Koalition der Mitte im Jahr 2011 um etwa 500 Millionen
modernere, gerechtere und leistungsfördernde Studienfi- Euro. Dies ist ein klares Zeichen für mehr Bildungsge-
nanzierung in Deutschland. Wir schaffen damit die Vo- rechtigkeit. Dies ist eine Erhöhung der Leistungen, die
raussetzungen für mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr jeder Berechtigte auch wirklich finanziell spürt. Sie da-
Spielraum bei der Studienfinanzierung für die Studieren- gegen stellen die „großzügige“ Forderung in den Raum,
den in unserem Land. man müsse auf das nationale Stipendienprogramm ver-
zichten und die Mittel stattdessen den BAföG-Empfän-
Mit dem nationalen Stipendienprogramm fördern wir
gern zukommen lassen. Aber was käme denn heraus,
die individuelle Leistungsbereitschaft, jedoch auch ge-
wenn man die im Haushaltsplan 2011 vorgesehenen Mit-
sellschaftliches Engagement in Vereinen, Kirchen und
tel von 10 Millionen Euro an die Studierenden weiterge-
Verbänden. Das nationale Stipendienprogramm ist eine
(B) Trendwende in der Begabtenförderung. ben würde, die BAföG erhalten? Um ganze 1,50 Euro (D)
pro Monat würden die Leistungen steigen – dies bedarf
Umso heuchlerischer ist der Vorwurf der linken Seite keines weiteren Kommentars. Dies zeigt, dass Ihre For-
des Hauses, der ja auch im Antrag der Linken aufgegrif- derung nicht nur populistisch, sondern schlichtweg
fen wird, das nationale Stipendienprogramm käme heuchlerisch ist.
hauptsächlich Studierenden aus Akademikerfamilien
und sogenannten Besserverdienerhaushalten zugute. Nein, wir gehen mit unserem Konzept zur Bildungs-
Dies ist nicht nur unverschämt, weil Sie damit indirekt finanzierung genau den richtigen Weg. Unser Ziel
die Behauptung aufstellen, Kinder aus bildungsfernen bleibt, dass 10 Prozent der Studierenden in Deutschland
Schichten würden keine Leistung erbringen und sich ein Stipendium erhalten. Die ersten 10 000 werden hier-
auch nicht gesellschaftlich engagieren; es ist, wie alle von bereits im kommenden Jahr profitieren. Dies ist ein
seriösen Studien zeigen, schlichtweg falsch. gutes und richtiges Signal für die Zukunftsfähigkeit un-
serer Hochschulen.
Sie führen in Ihrem Antrag aus, dass die Begabtenför-
derungswerke – zu diesen zählt im Übrigen auch die Mit dem nationalen Stipendienprogramm stärken wir
Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Ihrer Partei nahesteht – die Autonomie unserer Hochschulen, weil wir ihnen die
überproportional Studierende aus hohen und gehobenen Möglichkeit geben, die Stipendiaten selbst auszuwählen.
sozialen Schichten fördern. Hier widerspreche ich Ihnen Wir stärken damit Wissenschaft und Forschung an unse-
auch nicht: Ja, wir brauchen mehr Begabtenförderung ren Hochschulen, weil wir den Kontakt zur Wirtschaft
für Menschen, die aus bildungsfernen Schichten kom- und zu Unternehmen fördern. Und wir stärken nicht zu-
men. Genau dies ist eine der Grundmotivationen dafür, letzt auch den Aufbau von Ehemaligennetzwerken an un-
auch den individuellen Bildungsweg, die Überwindung seren Hochschulen; auch dies ist ein wichtiger Standort-
von Schwierigkeiten auf dem Weg zum Studium mitzube- vorteil für Universitäten und Fachhochschulen im
rücksichtigen. Blenden Sie doch nicht immer aus, dass internationalen Wettbewerb.
gerade dieses Bildungsprogramm Leistungsorientierung
und soziale Orientierung zusammenbringt. Bei aller Freude über dieses positive Ergebnis
möchte ich auch nicht verhehlen, dass ich das Verhalten
Hätten Sie eine ehrliche Analyse vorgenommen, dann der Länder, insbesondere der A-Länder, für falsch und
hätten Sie das von der FDP/CDU-Landesregierung ein- bedauernswert halte. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen,
geführte Stipendienprogramm in Nordrhein-Westfalen wenn wir das nationale Stipendienprogramm als wirk-
untersucht. Dann wären Sie zu ganz anderen Ergebnis- liches nationales Zukunftsprogramm von Bund und Län-
sen gekommen. Alle Studien zeigen nämlich, dass dort dern gemeinsam umgesetzt hätten. Hierzu fehlte auf der

Zu Protokoll gegebene Reden


7776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Patrick Meinhardt
(A) Länderseite, zum Teil aus ideologischer Verblendung, dienprogramm wird zum Taschengeld für die ohnehin (C)
leider der Mut. Privilegierten werden. Die Bundesregierung wird das
nicht schrecken: Ihr Ziel ist es ja gerade, eine Elite zu
Aber ich sehe hierin auch positive Aspekte. Es ist gut, züchten und bei der Masse zu kürzen. Die Linke will das
dass wir nun, da der Bund die Kosten alleine trägt, ein nicht. Deshalb wollen wir das Stipendienprogramm
solides Finanzierungskonzept und keine Mischfinanzie- streichen und die Mittel für eine Erhöhung des BAföGs
rung haben. Die Verantwortlichkeiten sind damit klar einsetzen. Die BAföG-Erhöhung muss allerdings noch
getrennt, und wir müssen bei einem möglichen späteren deutlicher ausfallen. Nur dann wird das eigentliche Ziel
Ausbau des Programms keine neuen Kompromisse mit des BAföGs erreicht, dass niemand aus finanziellen
SPD-geführten Landesregierungen eingehen. Gründen vom Studium ausgeschlossen ist. Dafür bitte
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio- ich Sie um Zustimmung zum Antrag der Linken.
nen haben dagegen den Mut und die Entschlossenheit
bewiesen, dass sie die Studienfinanzierung in Deutsch- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
land moderner und gerechter gestalten wollen. Dies ist Obwohl noch kein Student vom schwarz-gelben Sti-
ein hervorragender Tag – nicht nur für uns Bildungs- pendiengesetz profitiert hat, ist schon die erste Novelle
politiker, sondern vor allem für unsere Hochschulen und erforderlich. Ein Meisterstück politischer Handwerks-
ganz besonders für die Studierenden in Deutschland. kunst sieht definitiv anders aus.
Die grüne Bundestagsfraktion lehnt den schwarz-gel-
Nicole Gohlke (DIE LINKE):
ben Stipendienmurks weiterhin klar ab und wird auch
Kaum ist das Stipendienprogramm beschlossen, dem Änderungsgesetz nicht zustimmen. Das nationale
schon muss es wieder geändert werden. Erstens hat die Stipendienprogramm mit seinem Deutschlandstipen-
Bundesregierung einsehen müssen, dass die Länder dium wird nicht besser, nur weil der Bund für dieses
nicht bereit sind, auch nur einen einzigen Euro beizutra- Prestigeobjekt allein die Zeche zahlt.
gen. Zweitens muss die Regierung den Hochschulen ei-
nen Teil der Verwaltungskosten erstatten, damit diese Das Stipendiengesetz ist ein schwarz-gelbes Exklu-
auf die mühsame Betteltour zu den Unternehmen gehen sivprogramm für ohnehin chancenreiche Akademiker-
können. Hier zeigt sich die ganze Misere ihres Stipendi- kinder. Anstatt gezielt in die Bildungspotenziale von
enprogramms. Es überzeugt nicht. Die meisten Studie- Nichtakademikerkindern zu investieren, leistet das Pro-
renden lehnen es ab, die meisten Hochschulen lehnen es gramm keinerlei Beitrag zur dringend notwendigen so-
ab, die meisten Bundesländer lehnen es ab. Ihre Landes- zialen Öffnung der Hochschulen. Schlimmer noch: Zu
regierungen – bei der entscheidenden Abstimmung hatte befürchten ist, dass es die soziale Schieflage beim Cam-
(B) die Regierungskoalition im Bundesrat ja noch eine puszugang noch weiter verschärft. (D)
Mehrheit – sprechen zwar nicht dagegen, sie bezahlen
aber auch nicht dafür. Der einzige – wenn auch minimale – positive Aspekt
der heutigen Not-Novelle des schwarz-gelben Stipen-
Ursprünglich hieß es einmal, die Hälfte der Kosten dienprogramms ist, dass die Hochschulen mit den Büro-
würden über private Spenden finanziert. Dabei hat die kratiekosten nun doch nicht komplett alleine gelassen
Regierung wohl übersehen oder übersehen wollen, dass werden sollen. Diese marginale Verbesserung heilt aber
die Unternehmen ihre Spenden von der Steuer absetzen nicht die gravierenden Fehler und Mängel ihres Elite-
können. Damit war der private Beitrag schon auf ein förderkonzepts. Die Novelle ist – genauso wie der Ände-
Drittel zusammengeschrumpft. Mit ihrer Gesetzesände- rungsantrag der Koalitionsfraktionen zum Änderungs-
rung erkennt die Bundesregierung nun an, dass mindes- gesetz – vor allem ein Beleg dafür, wie handwerklich
tens weitere 7 Prozent dieser Summe bei den Hochschu- schlecht dieses unsinnige Erbe der schwarz-gelben
len dafür draufgeht, die Spenden einzutreiben und das NRW-Regierung gemacht ist. Außer dem ehemaligen
Programm zu verwalten. Der Stifterverband hält diese NRW-Landesminister und Urheber Pinkwart haben Sie
Zahl sogar für weit untertrieben. Wahrscheinlich kostet von der Koalition in den Ländern doch so gut wie keine
die Verwaltung 20 bis 25 Prozent der Spendensumme. Unterstützerinnen oder Unterstützer für das Stipendien-
Mit anderen Worten: Sie geben viel öffentliches Geld da- programm des Bundes. Ohne eine 100-prozentige Fi-
für aus, dass Unternehmen sich als Gönner der Studie- nanzierung durch den Bund und ein massives Abspecken
renden aufspielen können, ohne allzu viel eigenes Geld des Programms mit einem Abschied vom 8-Prozent-Ziel
dafür einzusetzen. Lange Zeit lief es deutlich anders. wäre es komplett gescheitert. Ein Scheitern hätte durch-
Unternehmen und Vermögende wurden nicht angebet- aus mehr Bildungsaufstieg bedeutet, wenn das Geld für
telt, sondern spürbar besteuert. Die Hochschulen wur- ihre Deutschlandstipendien ins BAföG hätte umge-
den öffentlich finanziert und konzentrierten sich auf schichtet werden können. Für Chancengleichheit und
Lehre und Forschung. Jetzt soll jede Hochschule bei den Bildungsgerechtigkeit wären diese Steuermittel dort de-
Unternehmen selbst vorstellig werden. Ihre wichtigsten finitiv sehr viel besser investiert gewesen als in ihrem
Aufgaben werden Marketing und Fundraising. Gartenzwergprogramm.
Die größte Änderung betrifft jedoch die Studierenden Auch nach dieser Novelle bedeutet das Stipendien-
selbst. Im Rahmen des BAföG haben sie einen Rechts- programm, dass der Bund Mittel für ein sozial ungerech-
anspruch auf Förderung nach sozialen Kriterien. Im tes und überdimensioniertes Gesetz bereitstellt. Das
Rahmen des Stipendienprogramms gibt es keinen Konzept stößt bei Studierenden, Stipendiaten, Hoch-
Rechtsanspruch und keine sozialen Kriterien. Ihr Stipen- schulen und Wirtschaft zu Recht auf breite Ablehnung.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7777
Kai Gehring
(A) Wir setzen statt Eliteförderung auf sozial gerechte Brei- Tagesordnungspunkt 28 b. Der Ausschuss für Bil- (C)
tenförderung und auf Stipendien, die die Bildungsge- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp-
rechtigkeit erhöhen und nicht verringern. fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den An-
trag der Fraktion die Linke auf Drucksache 17/2427
Schwarz-Gelb setzt die falschen Prioritäten: Die star- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
ken Schultern werden gestärkt, die schwachen Schultern lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
werden geschwächt. Opfer der falschen Prioritätenset- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
zung sind der Ausbau und die Weiterentwicklung einer fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion die Linke bei
gesicherten staatlichen Studienfinanzierung. Erst nach Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
einer monatelangen Hängepartie und unwürdigem Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Bund-Länder-Geschacher gab es eine kleine BAföG-No-
velle. Das Aufatmen über den Kompromiss kann jedoch Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
nicht vergessen machen, dass die 23. BAföG-Novelle we-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
der zukunftstauglich noch ambitioniert ist.
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
Die Studienfinanzierung braucht tiefgreifende Ver- nologie (9. Ausschuss)
besserungen und muss endlich allen Bildungsaufstei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
gern offenstehen. Dazu braucht es ein Zwei-Säulen-Mo- Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
dell, das einen Sockel für alle mit einem Zuschuss für weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Studierende aus einkommensschwachen Haushalten SPD
kombiniert.
Betroffene Kultureinrichtungen nach Fre-
Die Bundesregierung hat zu verantworten, dass die quenzumstellung für drahtlose Mikrofone
Bund-Länder-Finanzbeziehungen durch gescheiterte angemessen entschädigen
Bildungsgipfel und den Studienfinanzierungsstreit zer-
rüttet sind. Falls Schwarz-Gelb überhaupt noch die – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kraft für eine große BAföG-Reform in den verbleiben- Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra
den drei Regierungsjahren hat, dann muss Ministerin Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Schavan die von ihr selbst verursachten tiefen Gräben DIE LINKE
im Bund-Länder-Verhältnis bei der Bildungsfinanzie- Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden
rung kitten. Denn Bund und Länder müssen gemeinsam aus der Frequenzversteigerung der digitalen
für eine bessere Finanzierung des Bildungssystems sor- Dividende bewahren
gen. Daher muss nicht nur das Kooperationsverbot des
(B) Grundgesetzes für den Bildungsbereich aufgehoben – zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea (D)
werden, sondern auch die Angriffe des Bundes auf Län- Rößner, Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, wei-
derhaushalte durch Steuergeschenke an Atom- und terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Pharmalobby, Hotels und reiche Erben müssen zurück- NIS 90/DIE GRÜNEN
genommen werden.
Kultur und Rundfunk nicht durch die Fre-
quenzumstellung schädigen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– Drucksachen 17/3177, 17/2416, 17/2920,
Tagesordnungspunkt 28 a. Wir kommen zuerst zur Ab-
17/3694 –
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Berichterstattung:
zung auf Drucksache 17/3699. Der Ausschuss für Abgeordnete Ulla Lötzer
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Ge- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3359
Wir beraten heute über Anträge der Oppositionsfrak-
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
tionen, deren Inhalte eigentlich überflüssig sind. Denn
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
die aufgestellten Forderungen sind entweder bereits
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
weitgehend Realität oder im Falle des Antrages der
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
Linken schlicht maßlos. Jedoch freut es mich auch, dass
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
die Fraktionen der SPD und der Grünen in ihren An-
tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen an-
tragsbegründungen sich zum Verfahren der „Digitalen
genommen.
Dividende“ und zum Ausbau der mobilen Breitbandan-
Dritte Beratung wendungen bekennen. So technikfreundlich kenn ich sie
gar nicht. Die Linken verzichten ganz auf eine Begrün-
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem dung ihres Antrages. So wichtig kann Ihnen das ganze
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Thema also nicht sein.
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der Aber worum geht es? Die Versteigerung des bislang
zweiten Lesung angenommen. größten Frequenzpaketes in Deutschland durch die Bun-
desnetzagentur bietet große Chancen für den notwendi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen Netzausbau und eine bessere Breitbandversorgung
7778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Andreas G. Lämmel
(A) auch in ländlichen Regionen sowie zur Erweiterung der ben, sollten wir offene Punkte klären und technische Lö- (C)
Netze im Mobilfunk. Gerade im Mobilfunk steigen die sungen im technischen Bereich suchen.
Kapazitätsbedarfe stetig. Die Mobilfunkunternehmen,
die entsprechende Frequenzen ersteigert haben, können Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
nun die Einführung der Long-Term-Evolution-Technolo- schaft und Technologie ist daher zu folgen und die An-
gie vorantreiben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zu- träge der Oppositionsfraktionen sind abzulehnen.
dem bieten die Frequenzen der „Digitalen Dividende“
in den Bereichen von 790 bis 862 Megahertz die Mög- Johannes Selle (CDU/CSU):
lichkeit, Lücken in der Breitbandversorgung zu schlie- Uns liegen die Anträge der Fraktionen SPD – 17/3177 –,
ßen. Die Linke – 17/2416 – und Bündnis 90/Die Grünen
Die in den Anträgen beschriebenen Risiken sind be- – 17/2920 – sowie eine Protokollerklärung der Fraktio-
kannt. Daher wurde die Frage der Kostenerstattung nen CDU/CSU und FDP vor. Alle drei Anträge der Op-
bereits im Jahr 2009 im Bundesrat im Rahmen der positionsparteien enthalten die Forderung, den Nutzern
Frequenzbereichzuweisungsplan-Verordnung beraten. der drahtlosen Produktionstechniken einen Rechts-
Diese Verordnung enthält die Voraussetzungen für die anspruch auf Erstattung der Folgekosten der Frequenz-
Versteigerung der Frequenzen. Darüber hinaus gibt es umstellung zu schaffen.
die Absprachen zwischen dem Bund und den Bundeslän- Umstritten ist nicht, dass die Bundesregierung richti-
dern zur Thematik der Umstellungskosten. Zwischen gerweise mit ihrer Breitbandstrategie eine flächende-
Bund und Ländern wurde vereinbart, die Kosten aus ckende Versorgung aller Regionen mit leistungsfähigen
notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende 2015 bei Internetverbindungen realisieren will. Um dieses Ziel zu
denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Mega- erreichen, sind die Frequenzen im Bereich 790 bis
hertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. Wir hal- 862 Megaherz neu zugeteilt worden. Sie sind bisher dem
ten fest: Es bestehen bereits Regelungen zur Entschädi- Rundfunkdienst zugewiesen und werden nun dem Mobil-
gung, sofern konkrete Störungen auftreten. funkdienst zugeordnet. Dies regelt die Frequenzbe-
Und das ist der entscheidende Punkt! Wenn konkrete reichszuweisungsplan-Verordnung, die am 4. März 2009
Störungen auftreten, dann sollen die entsprechenden vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Ein Teil des
Einrichtungen eine Entschädigung für notwendige Er- versteigerten Frequenzspektrums – nämlich die genann-
satzaufwendungen erhalten. Festzuhalten bleibt jedoch: ten Bereiche 790 bis 862 Megaherz – werden auch bei
Es besteht kein Rechtsanspruch auf Entschädigungsleis- der drahtlosen Produktionstechnik bei Veranstaltungen,
tungen. Bisher ist auch noch kein Fall bekannt, bei der in Kirchen, in Theatern und Ähnlichem mitgenutzt.
die Frequenzumstellung zu konkreten Störungen geführt Nach dem 31. Dezember 2015 stehen den Nutzern (D)
(B)
hat. Dies hat die Bundesnetzagentur auf Anfrage mitge- drahtloser Mikrofonanlagen diese Frequenzen nicht
teilt. Darüber hinaus ist auch einzuschätzen, wie hoch mehr zur Verfügung. Folge könnte sein, dass Kosten für
der Grad der Störung ist und ob es denn technische Neuanschaffungen oder Umstellung auf andere Fre-
Möglichkeiten gibt, diese Störungen zu unterbinden oder quenzbereiche entstehen. Manche Anlagen werden um-
zu beheben. Manche Dinge kann man auch ohne viel gestellt werden können, manche nicht. Betroffen hiervon
Geld reparieren. Die Bundesnetzagentur bereitet bei- sind sowohl öffentliche als auch private Kultureinrich-
spielsweise seit Anfang 2010 eine Verlagerung der ent- tungen.
sprechenden Nutzung in alternative Frequenzbereiche
vor. Sollte diese Frequenzverlagerung notwendig wer- Der Bundesrat hat im Juni 2009 die Initiative der
den und dadurch Kosten entstehen, so gibt es die Zusage Frequenzumstellung begrüßt, weil dadurch die Möglich-
der Bundesregierung, eine angemessene Entschädigung keit entsteht, den ländlichen Raum durch schnelle Da-
zu zahlen. Dies ist im Vergleich zu Neuanschaffungen si- tenverbindungen zu erschließen und damit seine Attrak-
cher der günstigere Weg. tivität zu erhöhen. Die Zustimmung ist ihm leicht
gefallen, da die Bundesregierung, vertreten durch den
Was ist zu tun, bevor der Bund zahlt? Wenn die eben Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte,
erwähnten Voraussetzungen für Entschädigungsleistun- zugesagt hat, „die Kosten, die sich nachweislich aus
gen eintreten, dann muss vorab sichergestellt werden, notwendigen Umstellungen bis Ende des Jahres 2015 bei
dass die ausgezahlten Mittel entsprechend eingesetzt denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis
werden und bei den Kultureinrichtungen ankommen. 862 Megahertz bisher nutzen, Rundfunksendeunterneh-
Klar umrissen muss auch der Kreis der möglichen Ent- men und Sekundärnutzer, insbesondere Kultur- und Bil-
schädigungsempfänger werden. Aus unserer Sicht gibt dungseinrichtungen, in angemessener Form zu tragen“.
es keinen Grund, warum ausschließlich öffentliche Ein-
richtungen entschädigt werden sollen. Schließlich muss Die Bundesregierung steht nach wie vor zu dieser Zu-
der Einsatz der Mittel auch nachvollziehbar und kon- sage. Mit den Anträgen der Opposition sollen Rechtsan-
trollierbar sein. Missbrauch von Steuermitteln darf es sprüche auf Übernahme der Kosten geschaffen werden.
nicht geben. Die Bundesministerien für Wirtschaft und Ein solcher Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle Zah-
Finanzen arbeiten an Regeln mit dem Ziel, die Höhe der len, angefangen von infrage kommenden Anlagen bis zur
anrechenbaren Kosten sowie das Verfahren zur Abwick- Frage einer möglichen Umstellung oder Neuanschaf-
lung festzulegen. Diese geballte Fachkompetenz wird sicher fung, einigermaßen verlässlich vorliegen sollten. In
unabhängig von oppositionellem Aktionismus zu einer manchen Fällen wird es sogar möglich sein, Lösungen
Lösung führen. Bevor wir also pauschal viel Geld ausge- mit den Mobilfunkbetreibern zu finden.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7779
Johannes Selle
(A) Aus den Anträgen der Opposition allein ist schon er- dass die Bundesregierung einen Großteil der betroffenen (C)
sichtlich, dass das Feststellen der Zahlen nicht so ein- Einrichtungen mehr oder weniger im Regen stehen lässt.
fach ist. Hier geht die Spannbreite von einigen Millionen
bis zu mehreren Milliarden. Wir als Bundestagsabgeord- Worum geht es hierbei? Zum einen entstehen den
nete sind dafür verantwortlich, dem Bundeshaushalt un- Rundfunksendernetzbetreibern, die bislang einen Teil
nötige Ausgaben zu ersparen. Das trifft jedenfalls auf der ersteigerten Frequenzen genutzt haben, Kosten aus
die Regierungsfraktionen zu. Deshalb ist es nicht mög- technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Um-
lich, einfach Forderungen der Länder zu übernehmen. rüstungen.

Eine Einigung über die Höhe der bereitzuhaltenden Vor allem aber sind auch Kultur- und Bildungsein-
Mittel sollte bis zur morgigen Bereinigungssitzung vor- richtungen betroffen, die den Frequenzbereich bislang
liegen. Wir bedauern, dass dieses Ziel nicht erreicht für Datendienste und Funkmikrofone nutzen. Dabei geht
wurde. Die Lücke zwischen den Erwartungen der Län- es beispielsweise um Bühnenproduktionen, Fernsehauf-
der und den Vorstellungen der Bundesregierung konnte zeichnungen und sonstige öffentliche Veranstaltungen in
noch nicht geschlossen werden. Mit der Protokollerklä- Opernhäusern, Theatern oder auch in Kirchen.
rung der Koalitionsfraktionen zeigen wir, dass wir das Die SPD hat stets darauf gedrängt, dass für alle Be-
Anliegen teilen und durch die „Digitale Dividende“ Be- troffenen angemessene Lösungen gefunden werden müs-
nachteiligungen, aber auch Überkompensationen ver- sen. Wie ist insofern der Sachstand?
meiden wollen.
Der Bund plant Folgendes: Bezüglich der Rundfunk-
In einem persönlichen Brief an den Bundeswirt- sendernetzbetreiber ist eine pauschale Erstattung der
schaftsminister habe ich – zusammen mit meinem Kolle- Kosten aus technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffun-
gen Poland – auf die Wichtigkeit der Entschädigung für gen oder Umrüstungen angeboten worden.
die Kultureinrichtungen hingewiesen. Weitere Kollegen
haben sich ebenfalls beim Wirtschaftsministerium in Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendi-
diesem Sinne eingesetzt. Ich bin überzeugt, dass die be- ger Umstellungskosten bei drahtlosen Mikrofonen – um
troffenen Produktionsstätten mit angemessenen Ent- diese geht es hier im Besonderen – soll in Abhängigkeit
schädigungen rechnen können. Den Anträgen der Oppo- vom tatsächlichen Ausbau der neuen Mobilfunkanwen-
sition können wir nicht zustimmen. dungen bis maximal 2015 durch das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entsprechend einer in
Martin Dörmann (SPD): Vorbereitung befindlichen Verwaltungsanweisung erfol-
Durch die im Mai dieses Jahres durchgeführte Ver- gen.
(B) steigerung von Funkfrequenzen an die Mobilfunkunter- Nun ist es so, dass weder der bislang geplante finan- (D)
nehmen werden diese in die Lage versetzt, den Ausbau zielle Beitrag des Bundes noch das damit verbundene
der neuen Funktechnologie LTE voranzutreiben, die Entschädigungsverfahren ausreichend bzw. geeignet er-
hohe Bandbreiten ermöglicht. Dies bietet große Chan- scheinen, um das Problem angemessen zu lösen.
cen für den notwendigen Netzausbau im Mobilfunk und
insbesondere für eine bessere Breitbandversorgung Nach heutigem Stand hat der Bund bislang lediglich
auch in ländlichen Räumen. In den Frequenznutzungs- Mittel in Höhe von etwas über 100 Millionen Euro zur
bedingungen wurden – auch auf hartnäckiges Drängen Speisung des Fonds angeboten. Ich kenne keinen Exper-
der SPD – Ausbauverpflichtungen festgelegt, nach de- ten, der diese Summe für ausreichend hält. Die Länder
nen nun schrittweise in unterschiedlichen Stufen jeweils beispielsweise gehen von rund 800 Millionen Euro not-
mindestens 90 Prozent der Bevölkerung angeschlossen wendiger Umstellungskosten aus. Auf jeden Fall wird
werden müssen. wohl ein höherer dreistelliger Millionenbetrag erforder-
lich sein. Das bisherige Angebot der Bundesregierung
Um die Versteigerung der Frequenzen zu ermögli- liegt weit dahinter zurück. Es ist zu hoffen, dass in der
chen, wurde im vergangenen Jahr die Frequenzbereichs- heute stattfindenden Bereinigungssitzung des Haus-
zuweisungsplanverordnung im Bundesrat verabschie- haltsausschusses ein besseres Ergebnis erzielt werden
det. Bei den seinerzeitigen Verhandlungen zwischen den kann. Bislang sieht es nicht danach aus.
Ländern und dem Bund gab es eine Vereinbarung, die im
Protokoll der damaligen Bundesratssitzung Nieder- Auch das angestrebte Verfahren ist problematisch,
schlag gefunden hat. Danach hat sich der Bund ver- insbesondere, wenn der Fonds nicht mit ausreichenden
pflichtet, die Kosten aus notwendigen Umstellungen, die Mitteln bestückt wird. So plant das Finanzministerium,
sich bis Ende des Jahres 2015 bei denjenigen ergeben, entsprechend der Abwrackprämie einmalig eine Ge-
die bislang die betroffenen Frequenzen 790 bis 862 Me- samtsumme für die Erstattung der Umstellungskosten
gahertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. für drahtlose Produktionsmittel in den Bundeshaushalt
einzustellen. Sind die Mittel aufgebraucht, werden die
Die SPD-Bundestagsfraktion will mit ihrem Antrag, Antragsteller, die erst zu einem späteren Zeitpunkt die
den wir heute debattieren, sicherstellen, dass der Bund Mittel beantragen, nicht mehr berücksichtigt.
seine Zusagen tatsächlich einlöst. Vor allem auch des-
halb, weil ansonsten viele städtische Kultureinrichtun- Da es voraussichtlich Voraussetzung für den
gen oder auch kleine private Theater die Leidtragenden Anspruch sein wird, dass eine Störung aufgrund der
wären. Nach dem aktuellen Stand der Gespräche zwi- Nutzung entweder bereits eingetreten ist oder aber in
schen Bund und den Ländern ist nämlich zu befürchten, absehbarer Zeit erfolgt, würde Folgendes passieren:

Zu Protokoll gegebene Reden


7780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Martin Dörmann
(A) Diejenigen, bei denen die Umstellung schon bald er- Theater nicht im Regen stehen! Ich bitte Sie vor diesem (C)
folgt, hätten noch Glück gehabt, weil sie Geldmittel aus Hintergrund um Zustimmung zu unserem Antrag.
dem Topf beziehen könnten. Ist jedoch der Fonds erst
einmal leer geräumt, würden alle anderen in die Röhre
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
schauen. Somit benachteiligt dieses Verfahren alle Un-
ternehmen und öffentlichen Einrichtungen, die erst im Die „Digitale Dividende“ ist ein zentraler Bestandteil
weiteren Verlauf der Umstellungsfrist konkret von Stö- unserer Breitbandstrategie, weil sie den Telekommunika-
rungen betroffen sind. tionsunternehmen eigene wirtschaftliche Anreize gibt,
in die flächendeckende Versorgung gerade der länd-
Erschwerend kommt hinzu, dass öffentliche Einrich- lichen Regionen mit leistungsfähigen Internetanschlüs-
tungen besonders benachteiligt sind. Denn aufgrund der sen zu investieren. Denn nur wenn neben modernen,
verwaltungs- und haushaltsrechtlichen Vorgaben benö- leitungsgebundenen Netzen auch leistungsstarke Funk-
tigen sie mehr Zeit, bevor sie einen Antrag stellen kön- technologien zum Einsatz kommen, das zur Verfügung
nen. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass die mit stehende Spektrum an Funkfrequenzen also effizient ge-
öffentlichen Mitteln finanzierten Einrichtungen erst nutzt wird, können die sogenannten „weißen Flecken“
recht leer ausgehen müssten. im ländlichen Raum Deutschlands geschlossen und die
europäische Strategie eines digitalen Binnenmarkts um-
Von daher ist es notwendig, ein differenziertes Verfah- gesetzt werden.
ren zu entwickeln, das allen Anspruchsberechtigten eine
faire Chance einräumt und nicht diejenigen bevorzugt, Das fragliche Frequenzspektrum ist begrenzt. Damit
die nach dem Windhundprinzip als Erste einen Antrag es im Sinne der Breitbandstrategie genutzt wird, darf die
stellen können. Da gerade auch viele kommunale Ein- Nutzungsmöglichkeit nicht allein den Kräften des Mo-
richtungen betroffen sind, würden ansonsten insbeson- bilfunkmarktes überlassen werden. Die Bundesnetz-
dere die Kommunalfinanzen zusätzlich belastet. agentur reguliert den Wirtschaftsmarkt auf diesem Sek-
tor deshalb pro-aktiv unter Berücksichtigung aller
In diesem Zusammenhang sei ergänzend folgendes Interessen, also gleichermaßen wirtschaftlicher wie
Problem erwähnt: Die Betreiber drahtloser Produk- ideeller. Ziel unserer Frequenzpolitik ist die Sicherstel-
tionsmittel werden darauf angewiesen sein, dass die Mo- lung einer effizienten und störungsfreien Frequenznut-
bilfunkunternehmen möglichst frühzeitig über ihre Pla- zung unter Gewährleistung eines chancengleichen und
nungen für den jeweiligen Ausbau informieren. Nur so funktionsfähigen Wettbewerbs.
können sie rechtzeitig die Umstellung der Mikrofone
oder aber die notwendige Neubeschaffung einplanen. Durch die jüngste Zuteilung im August dieses Jahres
(B) Insofern tragen auch die Mobilfunkunternehmen eine wurden sowohl ehemals militärisch genutzte als auch (D)
Verantwortung dafür, dass die Umstellungen reibungs- die durch die Umstellung auf digitalen Rundfunk frei ge-
los erfolgen können und Nachteile für alle Beteiligten wordenen Frequenzen als sogenannte „Digitale Divi-
unterbleiben. Die Unternehmen sind daher aufgefordert, dende“ zur Umsetzung der Breitbandstrategie an die
die Gespräche mit den Betroffenen möglichst zeitnah Mobilfunkunternehmen vergeben. Hiervon eingeschlossen
und transparent zu führen. Hier scheint es noch erhebli- waren auch Frequenzen im Bereich 790 bis 862 Mega-
chen Kommunikationsbedarf zu geben. herz, die als wichtiges Element einer unterstützenden
Frequenzpolitik Engpässe ausgleichen sollen. Noch bis
Nun wird seitens der Bundesregierung argumentiert, 2015 stehen diese Frequenzen auf Grundlage einer All-
die Frequenzumstellung diene ja auch den Ländern und gemeinzuteilung der Bundesnetzagentur dem Rundfunk
Kommunen, weil hierdurch der Ausbau mobiler Breit- sowie den Nutzern drahtloser Produktionstechnik, wie
bandanwendungen vorangetrieben werden könne, von eben Funkmikrofonanlagen es sind, zur Verfügung.
denen alle profitieren. Deshalb sei es angemessen, dass
sich auch die Länder an den Kosten beteiligen. Diese Für den Zeitraum ab 2015 hat die Bundesnetzagentur
Argumentation verkennt jedoch Folgendes: Zum einen alternative Frequenzen zur Nutzung durch Funkmikro-
hat sich der Bund ausdrücklich dazu verpflichtet, alle fontechnik zugeteilt und veröffentlicht. Frequenzen im
notwenige Umstellungskosten in angemessener Höhe al- Bereich von 1785 bis 1800 Megaherz standen ohnehin
leine zu übernehmen. Zum anderen ist es auch gerecht- schon vor der Neuzuteilung an die Mobilfunkunterneh-
fertigt, dass diese Kosten gänzlich vom Bund getragen men als Alternative zur Verfügung.
werden. Denn der Bund hat finanziell erheblich von der
Frequenzversteigerung profitiert. Alleine durch den be- Insofern beugt die Bundesregierung bereits im Vor-
troffenen Frequenzbereich der sogenannten digitalen feld der tatsächlichen Nutzung durch den Mobilfunk im
Dividende wurden Versteigerungserlöse in Höhe von Jahr 2015 Störungen vor, und es bleibt jedem Funkmi-
rund 3,6 Milliarden Euro erzielt, die in den Bundeshaus- krofonbetreiber unbenommen, bei der Bundesnetzagen-
halt und eben nicht in die Länderhaushalte fließen. Von tur sehr kostengünstig Einzelzuteilungen in anderen
daher ist es mehr als gerechtfertigt, dass der Bund einen Frequenzbereichen zu beantragen. Hierfür kommt na-
Teil dieser Erlöse dafür aufwendet, die Folgekosten zu mentlich der untere UHF-Bereich zwischen 470 bis
bewältigen. 790 Megaherz in Betracht, mit Ausnahme von 606 bis
614 Megaherz. Innerhalb dieses Bereiches können die
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ihrer tatsächlichen Betriebsfrequenzen in dem jeweils zuge-
Verantwortung gerecht zu werden und gegebene Zusa- teilten Frequenzbereich durch den Zuteilungsinhaber
gen einzuhalten. Lassen Sie die Kommunen und kleinen selbst ausgewählt werden, sofern vorrangige Anwen-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7781
Burkhardt Müller-Sönksen
(A) dungen, insbesondere der Fernsehempfang, nicht ge- mit den Ländern ein Verfahren der Kostenermittlung. (C)
stört werden. Wir wollen dieser Arbeitsgruppe nicht vorgreifen und
insbesondere keine Vorfestlegung auf die Ermittlung des
Damit ist ein wichtiges Ziel erreicht: Die Nutzer
Buchwerts treffen. Dies wäre ohnehin nur bei gewerbli-
drahtloser Produktionstechnik haben auch für den Zeit-
chen Nutzern möglich; es gibt aber auch eine Reihe von
raum nach 2015 Planungssicherheit bezüglich der
nicht gewerblichen Nutzern – Amateurtheater, kirchli-
Frage, auf welchen Frequenzen drahtlose Mikrofone
che Einrichtungen und Ähnliche –, für die eine solche
und andere Bühnentechnik künftig funken dürfen.
Kostenermittlung nicht anwendbar wäre. Die Kostener-
Im Übrigen ergab sich auch aus der geltenden Allge- mittlungsmethode muss vielmehr auf alle Nutzer glei-
meinzuteilung keinesfalls Bestandsschutz für die bishe- chermaßen anwendbar sein.
rigen Nutzer. Denn es ist der Frequenzzuteilung imma-
nent, dass sie nur befristet erfolgt, um flexibel auf Im Ergebnis kann nur eine Kostenerstattung von kau-
technische Entwicklungen reagieren zu können. Aller- salen Kosten der Umstellung erfolgen; eine Überkom-
dings soll den bisherigen Nutzern auch kein Nachteil pensationen gilt es dabei zu vermeiden.
durch den Wechsel auf andere Frequenzen entstehen.
Katrin Kunert (DIE LINKE):
Bereits im Vorfeld der Frequenzzuteilung zeichnete
sich ab, dass einige Rundfunksendeunternehmen und Se- Heute beraten wir in diesem Hause abschließend
kundärnutzer, nämlich insbesondere Kultur- und Bil- unseren Antrag, kulturelle Einrichtungen vor Folge-
dungseinrichtungen, ihre Technik umrüsten oder sogar schäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
gänzlich erneuern müssen, weil ihre Technik sich nicht Dividende zu bewahren. Zur Erinnerung seien die wich-
in einen anderen Frequenzbereich umschalten lässt. Wir tigsten Fakten nochmals in aller Kürze zusammenge-
unterstützen ausdrücklich die Zusage seitens des Bundes- fasst. Die Bundesnetzagentur hat Frequenzen, die durch
wirtschaftsministeriums, in diesen Fällen eine Zuwen- die Umstellung der terrestrischen Fernsehübertragung
dung nach § 23 BHO zu gewähren. von anlog auf digital frei geworden sind, für insgesamt
4,38 Milliarden Euro versteigert. Die mit diesem Vor-
Diese Zusage war aber bereits ein wesentlicher gang verbundene Umwidmung des betreffenden Fre-
Bestandteil des Kompromisses mit den Ländern zur Bun- quenzbereichs führt dazu, dass die in Kultureinrichtun-
desratsentscheidung über die Frequenzbereichszuwei- gen derzeit üblichen drahtlosen Mikrofone nicht mehr
sungsplanverordnung, sodass die Frage, ob es Entschä- genutzt werden können. Die Kosten für eine entspre-
digungen geben wird, längst entschieden ist: Der Bund chende Umrüstung werden auf bundesweit bis zu
wird die Umstellungskosten insbesondere der Kultur- 3,3 Milliarden Euro geschätzt.
und Bildungseinrichtungen in angemessener Form tra-
(B)
gen. Wenn die Bundesregierung angesichts dieses Sach- (D)
verhalts erklärt, sie wolle die betroffenen Einrichtungen
Was in diesem Zusammenhang angemessen ist, ist na- grundsätzlich für die erforderlichen Um- und Nachrüs-
turgemäß umstritten. Die Höhe der Zuwendungen wird tungen entschädigen, ist dies als erster kleiner Schritt in
derzeit zwischen Bund und Ländern verhandelt. Wir ha- die richtige Richtung natürlich zu begrüßen. Wir sind al-
ben bereits bei der Beratung der vorliegenden Anträge lerdings nach wie vor der Ansicht, dass die Bundesregie-
im Kulturausschuss deutlich gemacht, dass Nachteile rung mehr tun muss. Zunächst muss klargestellt werden,
gerade für Kultur- und Bildungseinrichtungen vermie- dass ein etwaiger Ausgleich von Kosten für Um- und
den werden müssen. Nachrüstung nicht unter einen Vorbehalt gestellt wird.
Angesichts der Bemühungen aller Ressorts, den Nicht nachvollziehbar ist für uns in diesem Zusammen-
Haushalt zu konsolidieren, werden wir aber weder das hang das Argument, ein vollumfänglicher Ersatz der
Füllhorn noch die Gießkanne ausschütten. Vielmehr for- notwendigen Um- und Nachrüstkosten sei wegen der
dern wir von den betroffenen Einrichtungen den konkre- Haushaltslage des Bundes nicht möglich. Wie bereits
ten Kostennachweis und interpretieren die dem Antrag eingangs ausgeführt, sind dem Bundeshaushalt durch
der Linksfraktion zugrunde liegenden Zahlen als Hoff- die Versteigerung Mittel zugeflossen, die deutlich über
nung auf umfassende Sanierungszuschüsse. Denn aus dem Wert liegen, der für einen vollumfänglichen Ersatz
Gesprächen mit Betroffenen kann ich berichten, dass der Umrüstkosten angesetzt wird. Auch wenn die Ver-
viele Einrichtungen auf die Umrüstungen eingestellt steigerungserlöse haushaltsrechtlich nicht an einen be-
sind und entsprechende Rücklagen gebildet haben. De- stimmten Zweck gebunden werden dürfen, darf bei der
ren Nachteile durch die nötigen vorzeitigen Neuinvesti- Diskussion nicht außer Acht bleiben, dass der Bund
tionen sollen mit den geplanten Zuwendungen ausgegli- durch die Versteigerung immerhin zusätzliche Einnah-
chen werden, ohne sie aus ihrer betriebswirtschaftlichen men erzielt hat.
Verantwortung für die Instandhaltungskosten zu entlas-
Nicht hinnehmbar ist für uns auch die Einschrän-
sen. Insofern fordern wir als Voraussetzung einer Zu-
kung, dass der Bund – wenn überhaupt – lediglich Ent-
wendung den Nachweis, dass die betroffene Einrichtung
schädigungen in angemessener Höhe leisten will. Der
ihre Technik nur aufgrund der Frequenzzuteilung um-
Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundes-
rüsten muss, obwohl sie im Übrigen funktionstauglich
tagsfraktion spricht in diesem Zusammenhang bedauer-
ist.
licherweise ebenfalls nur von einer angemessenen Ent-
Derzeit erarbeitet eine Arbeitsgruppe von Bundes- schädigung. Für uns kann nur dann sichergestellt
wirtschaftsministerium und Bundesfinanzministerium werden, dass kulturelle Einrichtungen an dieser Stelle

Zu Protokoll gegebene Reden


7782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Katrin Kunert
(A) nicht zu Leidtragenden der technischen Entwicklung zubinden. Auf dem Funkweg sollen die weißen Flecken (C)
werden, wenn durch den Bund in voller Höhe Ersatz für der Breitbandversorgung geschlossen werden. Das ist
die tatsächlich anfallenden Kosten geleistet wird. Inso- eine Chance, das Internet in ländliche Regionen zu brin-
weit besteht Übereinstimmung mit den Kolleginnen und gen. Denn es ist teuer, Breitbandkabel bis an jede Haus-
Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die die- tür zu verlegen. Bis heute sind immer noch Tausende
ses Ziel durch Schaffung einer entsprechenden gesetzli- Haushalte vom schnellen Internet – wenn sie überhaupt
chen Grundlage ebenfalls erreichen wollen. Geradezu einen Internetzugang haben – ausgeschlossen. Gerade
absurd sind die Vorstellungen, die offenbar bei einigen in ländlichen Regionen ist das ein gravierender Stand-
Mitgliedern der Regierungskoalition bestehen, es sei mit ortnachteil für die Bevölkerung und vor allem auch für
einem Missbrauch von Bundesgeldern durch die kultu- die regionale Wirtschaft. Nicht nur in meinem Bundes-
rellen Einrichtungen zu rechnen. Gleiches gilt für Be- land ist das ein großes Problem.
fürchtungen, es könnte zu einer Überkompensation kom-
men. Was aber passiert, wenn man Frequenzen neu zuteilt?
Welche Folgen hat dies für die bisherigen Nutzer, also
Wenig zielführend sind auch Verdachtsäußerungen, beispielsweise die Theater- und Musikbühnen, die zu-
die Länder könnten versuchen, die Situation der Fre- künftig andere Frequenzen nutzen müssen? Das ist so,
quenzumstellung zu nutzen, um die Übernahme von oh- als würde der Bahn ein neues Schienennetz zugewiesen
nehin notwendigen Investitionen durch den Bund zu werden, bei dem beispielsweise der Abstand zwischen
erreichen, um so zu Einsparungen in ihren eigenen Kul- den Gleisen geringer wäre. Dann müsste die Bahn ihre
turetats zu kommen. Es sei gerade in diesem Zusammen- Züge umkonstruieren oder neue erwerben, um das
hang nochmals daran erinnert, dass die Träger der kul- Schienennetz nutzen zu können. Diese Umstellung ist
turellen Einrichtungen in vielen Fällen die Kommunen ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.
sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass finanzielle Strei-
tigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern im Er- So ähnlich geht es den bisherigen Nutzern der im
gebnis dazu führen, dass das schwächste Glied in der April versteigerten Frequenzen. Diese bekommen nun
Kette, nämlich die Kommunen, auf den Kosten – auf einen neuen Platz im Äther zugewiesen. Allerdings kön-
deren Entstehung sie keinen Einfluss hatten – sitzen blei- nen die alten Geräte nicht alle einfach auf einen neuen
ben. Bei der aktuellen Finanzkrise fällt es vielen Kom- Frequenzbereich umgestellt werden und müssen neu er-
munen ohnehin schwer, ihr Angebot an kulturellen Ein- worben werden. Diese Folgekosten, die in der Summe
richtungen für die Bürger aufrechtzuerhalten. Um- und die Milliardengrenze überschreiten können, wurden lei-
Nachrüstkosten, die im Einzelfall auch einen sechsstelli- der bei der Entscheidung der Frequenzumwidmung
gen Betrag erreichen, können in Kommunen mit ange- nicht ehrlich angesprochen. Sicher ist aber, dass wir
(B) spannter Haushaltslage für einzelne kulturelle Einrich- heute ein Problem haben. Deshalb haben die Fraktionen (D)
tungen schnell zu einem existenziellen Problem werden. der Opposition Anträge zu diesem Thema gestellt.

Es geht mithin auch darum, die finanziellen Voraus- Auch der Rundfunk ist von der Umverteilung der Fre-
setzungen dafür zu schaffen, dass ein vielfältiges kultu- quenzen betroffen. Der Rundfunk hat diese Frequenzen
relles Angebot weiterhin bestehen kann. Ich bitte daher zuvor genutzt – benötigt nun aber durch die Digitalisie-
um Zustimmung zu unserem Antrag. rung weniger davon. Deshalb haben Rundfunknutzer
Platz gemacht, damit die Frequenzen anders genutzt
werden können. Allerdings kann der Rundfunk jetzt von
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Störungen betroffen sein. Denn die mobilen Endgeräte,
Frequenzen sind ein knappes Gut. Fernsehen, Radios, zum Beispiel Smartphones, können die Übertragung von
Theater, Musikbühnen, Kongresszentren und natürlich Rundfunk via DVB-T stören. Mann stelle sich vor: Mein
Mobilfunkbetreiber nutzen Frequenzen, und für sie alle Nachbar geht mit dem Handy ins Internet und deshalb
sind Frequenzen ebenso elementar wie die Schienen für krisselt dann möglicherweise der Bildschirm meines
die Eisenbahn. Ohne Frequenzen könnten wir Fernseh- Fernsehers. Auch diese Folgen zu beheben, wird Geld
programme nur über Kabel empfangen, unterwegs kein kosten.
Radio hören, wir könnten unsere Handys nicht nutzen
und auf der Musikbühne müssten Sänger mit Kabeln he- Ich hoffe, diese Beispiele machen Ihnen deutlich, wel-
rumlaufen. Kurzum: Drahtlose Dienste sind nur mit Fre- che Folgen wir durch diese Entscheidung haben. Die
quenzen nutzbar, so wie die Eisenbahn Schienen zum Bundesregierung wird ihrer Verantwortung hier nicht
Fahren braucht. Für die Nutzung von Frequenzen muss gerecht. Die Bundesregierung hat den Ländern bei den
– genauso wie bei der Bahn – die richtige Infrastruktur Verhandlungen zwar die Kostenerstattung zugesagt, war
geschaffen werden, und das kostet Geld. So haben viele aber geschickt genug, diese nicht als Rechtsanspruch
Bühnen Mikrofonanlagen angeschafft, um drahtlose festzulegen. Die Länder, die für die Frequenzzuteilung
Dienste zu nutzen und so mit der Zeit zu gehen. zuständig sind und nur unter der Bedingung zugestimmt
hatten, entsprechend entschädigt zu werden, führen
Im Frühjahr dieses Jahres wurde nun für rund 4 Mil- deshalb nun zähe Verhandlungen mit unserer Bundesre-
liarden Euro ein Teil dieses knappen Guts versteigert. gierung. Sie müssen um Geld bitten, das der Bund über-
Um es hier deutlich zu sagen: Es war die richtige Ent- haupt nicht hätte, wenn der Rundfunk und die Funk-
scheidung, dieses Frequenzspektrum an den Mobilfunk mikrofonnutzer nicht ihren Platz geräumt hätten. Der
zu geben, und zwar unter der Bedingung, den ländlichen Bund hat durch die Versteigerung der Frequenzen im
Raum auf dem mobilen Weg an das schnelle Internet an- Frühjahr rund 4 Milliarden Euro eingenommen, stellt

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7783
Tabea Rößner
(A) aber bislang nur eine Entschädigungssumme von Fraktion die Linke sowie bei Enthaltung der SPD-Frak- (C)
125 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist eine Schief- tion angenommen.
lage und geht zulasten der Kommunen, die vom Bund
durch die Politik der letzten Jahre ohnehin schon in eine Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
miserable finanzielle Lage gebracht wurden. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Wir Grüne setzen uns für einen schnellen Ausbau von Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetz-
Breitband im ländlichen Raum ein. Deshalb haben wir buch
es begrüßt, dieses Ziel mit der Vergabe von Frequenzen
an den Mobilfunk zu verknüpfen. Allerdings haben wir – Drucksachen 17/3631, 17/3683 –
ein Problem damit, dass sich der Bund die Einnahmen Überweisungsvorschlag:
aus der Versteigerung in die Tasche steckt und die Leid- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
tragenden der Frequenzumstellung im Regen stehen Innenausschuss
lässt. Mit unserem grünen Antrag fordern wir deshalb, Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
den Geschädigten der Frequenzumstellung einen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsanspruch auf Entschädigung einzuräumen, damit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
diese nicht auf den Kosten für die Umstellung sitzen
bleiben. Nur auf diesem Weg bekommen Theater, Kon-
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
zerthäuser und Rundfunkveranstalter die nötige finan-
zielle Sicherheit. Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zu einem Siebten Gesetz zur Änderung des
Die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie- Sozialgesetzbuchs II; konkret geht es dabei um die
rung, die sich bei der Bahn um die entsprechende Infra- Frage, wie und in welcher Höhe die Beteiligung des
struktur kümmern, bitte ich: Setzen Sie die Kultur wieder Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung für
aufs richtige Gleis, damit Rundfunk und Bühnen freie das Jahr 2011 geregelt werden soll.
Fahrt haben. Deshalb bitte ich um die Unterstützung un- Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll die
seres Antrags. Beteiligung des Bundes um 1,5 Prozentpunkte auf dann
durchschnittlich 25,1 Prozent steigen. Das führt zu einer
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro und
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- leistet damit einen deutlichen Beitrag zur Verbesserung
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- der finanziellen Situation in den Kommunen. Damit lösen
die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
(B) logie auf Drucksache 17/3694. Der Ausschuss empfiehlt aus Union und FDP auch eine Zusage aus dem Koali- (D)
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck- tionsvertrag ein, was in der gegenwärtig durchaus ange-
sache 17/3177 mit dem Titel „Betroffene Kultureinrich- spannten Finanzlage sowohl des Bundes als auch der
tungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone Kommunen ein beachtenswerter Vorgang ist.
angemessen entschädigen“. Wer stimmt für diese Be- Nach den Vorgaben des § 46 Abs. 7 und 8 SGB II ist
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – die Höhe der Bundesbeteiligung an den Kosten von Un-
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- terkunft und Heizung ab 2008 dann anzupassen, wenn
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion die Veränderung in der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Jahresdurchschnitt mehr als 0,5 Prozent beträgt. Das
und der Fraktion die Linke angenommen. Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat eine sol-
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- che Veränderung von 2,2 Prozent errechnet. Damit sind
nung des Antrags der Fraktion die Linke auf Drucksache die Voraussetzungen für eine Anpassung gegeben.
17/2416 mit dem Titel „Kulturelle Einrichtungen vor Fol- Wenn ich mir die Diskussionen zum Thema Kosten
geschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen der Unterkunft im Ausschuss für Arbeit und Soziales,
Dividende bewahren“. Wer stimmt für diese Beschluss- etwa die am 30. November des Vorjahres durchgeführte
empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Anhörung, ins Gedächtnis zurückrufe, ist wohl zu erwar-
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- ten, dass wir nach dieser ersten Lesung im Ausschuss
tionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion neben der Höhe der Bundesbeteiligung auch wieder die
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion grundsätzliche Frage diskutieren, ob die Veränderung in
die Linke angenommen. der Zahl der Bedarfsgemeinschaften der richtige Be-
rechnungsmodus ist oder nicht. Deswegen will ich
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- gleich an dieser Stelle eine Bemerkung zur Genese die-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des ser Berechnungsmethode machen:
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/2920 mit dem Titel „Kultur und Rundfunk Die Anpassungsformel wurde 2007 von der Großen
nicht durch die Frequenzumstellung schädigen“. Wer Koalition aus Union und SPD unter der Federführung
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- des seinerzeitigen Arbeitsministers Olaf Scholz einge-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist führt. Seinerzeit bestand Konsens darüber, dass die Zahl
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- der Bedarfsgemeinschaften respektive deren zahlenmä-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der ßige Veränderung die Grundlage für die Berechnung des
7784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Thomas Dörflinger
(A) Bundesanteils bilden soll. Ich bin gespannt, wie sich unser Die Beteiligung des Bundes an den Leistungen für Un- (C)
früherer Koalitionspartner SPD in der anstehenden Dis- terkunft und Heizung in Höhe von bundesdurchschnitt-
kussion einlässt, wenn die christlich-liberale Koalition lich 25,1 Prozent im Jahr 2011 gewährleistet, dass die
nun die Fortsetzung eines damals gemeinsam als richtig Kommunen entsprechend § 46 Abs. 5 SGB II in angemes-
erkannten Weges beschreitet. senem Umfang entlastet werden. Für den Bund würden
diese Beteiligungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu
Und ich füge an: Sollte sich auch an diesem Punkt einer finanziellen Belastung in Höhe von rund 3,6 Mil-
zeigen – wie etwa bei der heute Nachmittag geführten liarden Euro führen. Gegenüber dem Haushaltssoll 2010
Debatte um die Rente mit 67 –, dass Sie Ihre eigene Ver- von 3,4 Milliarden Euro wird der Bund damit um rund
gangenheit als Bundesregierung herzlich wenig interes- 0,2 Milliarden Euro mehr belastet.
siert, wenn es darum geht, die Linkspartei links überholen
zu wollen, dann ist dies alles andere als glaubwürdig. In diesem Zusammenhang möchte ich nur erwähnen:
Sie sollten die Menschen nicht für vergesslicher halten, Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement
als sie tatsächlich sind. war der Meinung, der Bund müsse sich nicht an den
Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligen, weil die
Mir ist wohl bewusst, dass es bei der grundsätzlichen Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
Frage, ob die Berechnungsmethode geeignet ist, bei- schon ohne die Bundesbeteiligung erreicht werde. Dem
spielsweise zwischen dem Deutschen Landkreistag und hat die Union immer widersprochen. Sie hat in der Gro-
den Koalitionsfraktionen aus Union und FDP unter- ßen Koalition durchgesetzt, dass sich der Bund ange-
schiedliche Auffassungen gibt. Nur: Wer vor drei Jahren messen an den Kosten beteiligt.
als Bundesregierung dem Deutschen Landkreistag wider-
Das in § 46 SGB II ursprünglich vorgesehene Verfah-
sprochen hat, kann ihm heute als Opposition schlecht
ren, die Höhe der Bundesbeteiligung auf der Grundlage
beipflichten. So etwas fällt auf.
einer jährlichen Be- und Entlastungsrechnung für die
Um einen Satz zu der Berechnungsmethode selbst zu Kommunen anzupassen, wie es in den ersten beiden Jah-
sagen: Ich habe nach wie vor meine deutlichen Zweifel, ren praktiziert wurde, hatte sich als nicht zweckmäßig
ob die Orientierung an den tatsächlichen kommunalen erwiesen. Dennoch waren alle Beteiligten der Auffas-
Ausgaben für Unterkunft und Heizung den zielführende- sung, dass auf eine jährliche Anpassung der erforderli-
ren Weg darstellt. Es ist wohl schlecht zu bestreiten, dass chen Höhe der Bundesbeteiligung nicht verzichtet wer-
dieser Weg hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes, um den kann. Aus diesem Grund haben Bund und Länder
es einmal vorsichtig zu formulieren, der anspruchsvol- gemeinsam nach intensiven Verhandlungen Ende 2006
lere ist. Wenn wir an anderer Stelle, etwa beim Thema einen Kompromiss mit zwei wesentlichen Elementen ge-
funden. Dieser wurde anschließend im SGB-II-Ände-
(B) Steuerrecht, aus meiner Sicht richtigerweise den Weg (D)
über eine Ausweitung von Pauschalen diskutieren, um rungsgesetz vom 22. Dezember 2006 festgehalten und
insbesondere die Bürokratiekosten für alle Beteiligten gab dem § 46 SGB II seine derzeitige Fassung.
im Zaum zu halten, dann sollten wir beim Thema Kosten Der Kompromiss von 2006 war mit einem finanziellen
der Unterkunft nicht das konkrete Gegenteil dessen tun. Entgegenkommen des Bundes verbunden: Die Bundes-
beteiligung für das Jahr 2007 wurde auf durchschnitt-
Ich fasse zusammen: Der Bund wird mit dem vorge-
lich 31,8 Prozent festgelegt. Dies entsprach einem sei-
legten Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums
nerzeit erwarteten Finanzvolumen von rund 4,3 Milli-
seiner im SGB II festgelegten Verantwortung zur
arden Euro, das auch tatsächlich erreicht wurde. Allein
Kofinanzierung der Kosten für Unterkunft und Heizung
in der letzten politischen Abstimmungsrunde hat der
gerecht. Der Bund leistet mit den sich aus der Kostenbe-
Bund ein Zugeständnis von 400 Millionen Euro ge-
teiligung ergebenden finanziellen Entlastung der Kom-
macht. Darüber hinaus hat der Bund damals der Forde-
munen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro trotz eigener
rung der Länder nach gesonderten Länderquoten nach-
Haushaltsnöte, die wir in diesen Stunden bei der Berei-
gegeben.
nigungssitzung des Haushaltsausschusses deutlich erle-
ben können, einen wichtigen und guten Beitrag zur Sta- Das andere wesentliche Element des Kompromisses
bilisierung der kommunalen Kassen. Es ist ein Beitrag, war, dass die Höhe der Bundesbeteiligung in den Jahren
der gleichzeitig Armut und sozialer Ausgrenzung vor- ab 2008 nach einer belastbaren und gemeinsam festge-
beugt und damit den sozialen Zusammenhalt in unserem legten Formel berechnet wird. Der Bundesrat hat am
Land stärkt. 15. Dezember 2006 mit breiter Mehrheit dieser Formel
zugestimmt, wonach die Höhe der Bundesbeteiligung
Ich freue mich auf konstruktive und zügige Beratun- jährlich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Zahl
gen im Ausschuss für Arbeit und Soziales, damit das Ge- der Bedarfsgemeinschaften verändert wird.
setz pünktlich zum 1. Januar des kommenden Jahres in
Kraft treten kann. Bund und Länder haben sich im Übrigen 2008 auf die
unbefristete Beibehaltung der Anpassungsformel ver-
ständigt. Diese Verständigung erfolgte im Rahmen wei-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): terer zusätzlicher Entlastungen der Kommunen durch
Zur jährlichen Anpassung der Unterkunftskosten rei- den Ausbau gegenüber dem Arbeitslosengeld II vorran-
ben sich Bund und Länder immer wieder aneinander, so giger Leistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld.
auch im Vorfeld des Siebten Gesetzes zur Änderung des Dadurch konnten die rund 70 000 Bedarfsgemeinschaf-
SGB II. ten, die ausschließlich aufstockende Wohnleistungen der

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7785
Paul Lehrieder
(A) Kommunen bezogen, die Hilfebedürftigkeit verlassen. Steigt die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfs- (C)
Darüber hinaus war die Entfristung der Anpassungsfor- gemeinschaften um mehr als 0,5 Prozent, dann ist die
mel mit einer weiteren zusätzlichen Entlastung bei der Höhe der Bundesbeteiligung zwingend nach der im
Bundesbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und SGB II ausgewiesenen Formel neu zu berechnen und zu
bei Erwerbsminderung nach § 46 a SGB XII verbunden. erhöhen. Bei einer Veränderung der Bedarfsgemein-
schaften um plusminus 1 Prozent erfolgt eine Anpassung
Indem er sich bewusst an der Zahl der Bedarfsge- des Beteiligungssatzes um plusminus 0,7 Prozent.
meinschaften orientiert, trägt der Bund das arbeits-
marktliche Risiko. Demgegenüber sind die anfallenden Mit dieser Anpassungsformel haben wir uns schon
Kosten der Unterkunft und Heizung der einzelnen Be- des Öfteren beschäftigt. Zunächst war sie befristet, seit
darfsgemeinschaften vor Ort von den Kommunen zu 2008 gilt sie unbefristet. Auch wenn sie die Länder und
steuern. Die Prüfung, ob und wie angemessen die Wohn- der Bund einvernehmlich beschlossen haben, so führt
kosten in den Einzelfällen sind, ihre Steuerung und sie doch immer wieder zu Unmut bei den Kommunen,
Finanzierung sind Aufgabe der Kommunen. Das zeich- weil dort die Kosten entstehen.
net die Kommunen mit ihren speziellen Orts- und Fach-
kompetenzen, aber auch mit der damit verbundenen Ver- Der vorliegende Entwurf sieht für 2011 Änderungen
antwortung aus. vor. Die Kommunen bekommen mehr Geld! – Das ist
Fakt. Ursache ist aber nicht das Wohlwollen der Regie-
Eine Anpassung der Bundesbeteiligung an die tat- rungskoalition, sondern die Berechnungsgrundlage,
sächlichen Aufwendungen der Kommunen wäre nicht nämlich die durchschnittliche Zahl der Bedarfsgemein-
sachgerecht. Zunächst würden hierdurch jegliche Kos- schaften. Sie hat sich im Jahresdurchschnitt im Ver-
tenschwankungen bei den Wohnkosten durch den Bund gleich der Betrachtungszeiträume Juli 2008 bis Juni
getragen werden. Das würde auch solche einschließen, 2009 und Juli 2009 bis Juni 2010 bundesweit von
die die Kommunen ohne die Einführung der Grund- 3 528 362 auf 3 606 032 Millionen erhöht – also um
sicherung für Arbeitsuchende ohnehin hätten überneh- 2,2 Prozent.
men müssen, zum Beispiel allgemeine Preissteigerun-
gen. Des Weiteren würde eine solche Berechnungsbasis Dementsprechend muss die Bundesbeteiligung bei
die Anreize der Kommunen, die Angemessenheit der den Kosten der Unterkunft steigen: Für 2011 bedeutet
Wohnkosten zu prüfen, erheblich reduzieren. das eine Erhöhung um 1,5 Prozent.

Aus dieser Position heraus ist auch für 2011 keine Al- Für 14 Bundesländer – darunter Brandenburg, aus
ternative zur Anwendung der gesetzlich festgelegten An- dem ich komme – heißt das, dass der Beteiligungssatz
passungsformel zu sehen. Um eine gesetzliche Grund- von aktuell 23,0 Prozent auf 24,5 Prozent steigt. Ausnah-
(B) lage für die Bundesbeteiligung für 2011 sicherzustellen, men gibt es nach wie vor für die Länder Rheinland-Pfalz (D)
hat das Kabinett am 13. Oktober 2010 dem Entwurf für und Baden-Württemberg. Der Beteiligungssatz für
ein Siebtes Gesetz zur Änderung des SGB II zuge- Rheinland-Pfalz steigt von 33,0 auf 34,5 Prozent, die
stimmt. Demnach wird die Bundesbeteiligung im Jahr Bundesbeteiligung für Baden-Württemberg von 27,0 auf
2011 auf bundesdurchschnittlich 25,1 Prozent steigen. 28,5 Prozent. Auch darüber gibt es Einvernehmen mit
dem Bundesrat. Für den Bund führen diese Beteili-
Ich will zusammenfassen: Der vorliegende Anpas- gungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu einem An-
sungsentwurf ist sachgerecht. Dabei nehmen wir die fi- stieg der finanziellen Belastung um mindestens 0,2 Mil-
nanziellen Sorgen der Kommunen sehr ernst. Bei allen liarden Euro, sodass sich der Haushaltsansatz von
Änderungen, die es in den letzten Jahren gegeben hat, derzeit 3,4 Milliarden Euro erhöhen muss. So weit die
hat der Bund immer wieder Zugeständnisse an die kom- aktuelle Rechtslage und die Fakten wie sie sich aus dem
munale Seite gemacht. Dieser Bundesregierung sind das SGB II ableiten. Doch nur auf den ersten Blick scheinen
Miteinander mit den Kommunen und ein partnerschaft- dem Gesetzentwurf mit seinen Änderungen zur Höhe der
licher Umgang sehr wichtig. Bundesbeteiligung keine Bedenken entgegenzustehen.
Rein rechnerisch ist die Vorlage nicht zu beanstanden.
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Sie ergibt sich aus dem Gesetz. So ist es beschlossen.
Die Höhe der Bundesbeteiligung bei den Kosten der Auf den zweiten Blick – und ich möchte ihn als „Blick
Unterkunft ist ein wichtiges, ständig wiederkehrendes hinter die Kulissen“ formulieren – sieht sich der Gesetz-
Thema. Hintergrund ist die gesetzlich festgeschriebene entwurf der Bundesregierung aber erheblicher Kritik
Anpassungsformel gemäß § 46 Absatz 7 und 8 SGB II. ausgesetzt. Dabei geht es allerdings um Grundsätzliches
und nicht um die konkrete Höhe der prozentualen Betei-
Das haben so die Länder und der Bund 2007 verein- ligung, wie sie für das Jahr 2011 berechnet werden
bart. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes- muss. Der „Haken“ liegt vielmehr in der Anpassungs-
regierung soll der Beteiligungssatz des Bundes für die formel selbst. Die Gegenvorstellungen zur derzeitigen
zweckgebundenen Leistungen der kommunalen Träger Regelung sind nicht neu. Die wesentlichen Kritikpunkte
für Unterkunft und Heizung nun erneut angepasst wer- aus den vorangegangenen Diskussionen, vorgetragen
den. Das geschieht nicht zum ersten Mal, denn wir ha- vor allem von den Ländern, möchte ich deshalb wie folgt
ben uns bei der Festlegung der Beteiligung bewusst da- zusammenfassen:
für entschieden, dass regelmäßig, nämlich Jahr für Jahr,
eine Überprüfung der Höhe und gegebenenfalls eine Erstens. Es wird eine Änderung der Anpassungsfor-
Neubemessung erfolgen muss. mel gefordert. Die Höhe der Bundesbeteiligung soll sich

Zu Protokoll gegebene Reden


7786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Angelika Krüger-Leißner
(A) danach nicht mehr an der Entwicklung der Bedarfsge- bringen unsere Haushälter heute Abend in die Haus- (C)
meinschaften orientieren. Stattdessen wollen die Länder haltsausschusssitzung ein. Und dann sehen wir weiter.
die Berechnung des Beteiligungssatzes entsprechend der
Mittel- und langfristig muss es uns gelingen, dass die
tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung.
Kommunen stabile Einnahmequellen haben. Dazu ge-
Zweitens. Der bisherige Beteiligungssatz des Bundes
hört eine gut funktionierende Gewerbesteuer. Das ist die
– und so auch der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wichtigste Grundlage. Dazu gehört auch, dass die Betei-
für 2011 neu angepasste – spiegele nicht die tatsächliche
ligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft der
Kostenentwicklung wider. Die gesetzlich vorgeschrie-
Kommunen sich zukünftig mehr und mehr an den tat-
bene Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Mil- sächlichen Kosten zu orientieren hat. Wir müssen einen
liarden werde nicht erreicht. angemessenen Abrechnungsmechanismus finden. Dazu
Beides hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu sind alle Fraktionen und die Länder aufgerufen. Sie se-
dem Gesetzentwurf vom 5. November wieder sehr klar hen, der vorliegende Gesetzentwurf löst damit nicht das
und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. finanzielle Problem der Kommunen. Die Verschärfung
der Probleme hat diese Regierung mit ihren Gesetzen in
Ich nehme die Kritik der Länder sehr ernst. Wenn in diesem Jahr geschaffen.
den Jahren 2007 bis 2010 aufgrund der derzeitigen ge-
setzlichen Anpassungsformel Finanzierungslücken ent- Pascal Kober (FDP):
standen sind, die zulasten der kommunalen Haushalte Jedes Jahr aufs Neue seit 2005 ist der Gesetzgeber
gehen, sind wir aufgefordert, die Neubemessung anhand damit beauftragt, den Anteil des Bundes an den Kosten
der jahresdurchschnittlichen Veränderung der Zahl der der Unterkunft und Heizung für Personen in der Grund-
Bedarfsgemeinschaften zu überdenken. Wie in vielen an- sicherung neu festzulegen. Seit dem Sechsten Gesetz zur
deren Bereichen ist auch hier die Überprüfung geboten, Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ist ein
wenn sich Probleme zeigen. Eine einmal gefundene und knappes Jahr vergangen. Das damals beschlossene Ge-
im Gesetz seit 2007 verankerte Formel ist nicht für alle setz ist noch immer im Vermittlungsverfahren, und damit
Zeiten festgeschrieben. Sie muss jederzeit änderbar ist die Höhe der Beteiligung des Bundes an den Kosten
sein, wenn dies gerechtfertigt ist. Die vom Gesetzgeber der Unterkunft und Heizung bis heute noch nicht ab-
2004 ausdrücklich im Rahmen der Beteiligung des Bun- schließend für das Jahr 2010 geregelt.
des an den Kosten der Unterkunft gewollte Entlastung
der Kommunen muss in der Realität auch sichergestellt Obwohl wir noch immer keine Einigung für das Jahr
werden. 2010 erzielt haben, müssen wir als Gesetzgeber heute
schon für das Jahr 2011 handeln; denn die Kommunen
(B) Nach den Berechnungen des Deutschen Landkreista- brauchen Planungssicherheit, soweit dies irgend mög- (D)
ges, auf die sich der Bundesrat stützt, müsste der Betei- lich ist.
ligungssatz bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kos- Die Zeichen vonseiten der Länder, dass das Siebte
ten immerhin bei 35,9 Prozent liegen! – Im Verhältnis Gesetz angenommen werden wird, sind positiver als im
zur aktuellen Berechnung für 2011 mit bundesdurch- vergangenen Jahr gegenüber dem sechsten Gesetz. Da-
schnittlich 25,1 Prozent also ein Unterschied von her bin ich zuversichtlich, dass der vorliegende Gesetz-
10,8 Prozent! Gründe dafür gibt es viele: gestiegene entwurf bald verabschiedet wird und in Kraft treten kann
Energiekosten, höhere Mieten usw. und nicht so lange Zeit im Vermittlungsausschuss brau-
chen wird.
Aber viel gravierender ist der finanzielle Einschnitt
für die Kommunen durch das Wachstumsbeschleuni- Für dieses Jahr steht ein Haushaltssoll von 3,4 Mil-
gungsgesetz. Das hat Schwarz-Gelb beschlossen. Die liarden Euro im Gesetz; diese Summe ist vonseiten des
Folge sind Einnahmeausfälle bei den Kommunen in Höhe Bundes eingeplant. Mit dem Siebten Gesetz zur Ände-
von rund 1,6 Milliarden Euro. Diese müssen die Kommu- rung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch soll dieser
nen allein vollständig kompensieren. Dass dies unmög- Ansatz für das Jahr 2011 auf 3,6 Milliarden erhöht wer-
lich ist, haben wir erkannt und mit unserem Antrag „Ret- den.
tungsschirm für Kommunen“ mit vielen Forderungen im
Die Erhöhung der Mittel geschieht selbstverständlich
März dieses Jahres in den Deutschen Bundestag einge-
nicht willkürlich. Gerade wir als christlich-liberale Ko-
bracht. Unser Ziel muss es sein, handlungsfähige Städte,
alition übernehmen die Verantwortung für den Bundes-
Gemeinden und Landkreise zu haben. Das ist die Basis un-
haushalt im Sinne künftiger Generationen.
serer Demokratie. Die Steuergesetzgebung der schwarz-
gelben Koalition hat aber die extrem angespannte finan- Die Länder haben der Formel, die die Grundlage für
zielle Situation der Kommunen dramatisch verschärft. die Berechnung der Bundesbeteiligung ist, zugestimmt
Um den Umfang kommunaler Aufgaben und Ausgaben und sie als dauerhaft sachgerecht und handhabbar ein-
mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in Einklang zu geschätzt.
bringen, verlangen wir als kurzfristige Maßnahmen den
Die Höhe der bundesdurchschnittlichen Beteiligung
Verzicht auf weitere Steuergeschenke, die zu zusätzli-
wird 2011 bei 25,1 Prozent liegen und ist damit um
chen Belastungen der Kommunen führen. Darüber hi-
1,5 Prozentpunkte höher als 2010.
naus haben wir festgelegt, dass der Bund seine Beteili-
gung an den Kosten der Unterkunft um 3 Prozentpunkte In den vergangenen Jahren wurde die Bundespolitik
anhebt und dies für zwei Jahre befristet. Genau dies oftmals vonseiten der Länder und Kommunen kritisiert.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7787
Pascal Kober
(A) Die Kritik war damit begründet, dass der Bund weniger Diese Regierung handelt verantwortlich, planbar und (C)
Mittel für die Bundesbeteiligung an den Kosten der Un- verlässlich. Dies wird auch mit diesem Gesetzentwurf
terkunft bereitgestellt hat. Das aber hatte einen Grund. wieder klar.
Es war durch die sinkende Zahl der Bedarfsgemein-
schaften völlig begründet. Damit war der Vorwurf, dass Katrin Kunert (DIE LINKE):
sich die Bundespolitik aus der Verantwortung ziehen
Der uns vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-
will, unberechtigt.
rung legt die Bundesbeteiligung an den Wohnkosten für
Dass sich der Bund seiner Verantwortung bewusst ist, Haushalte von ALG-II-Beziehenden für das Jahr 2011
zeigt die christlich-liberale Koalition auch mit diesem fest. Der Beteiligungssatz des Bundes soll für das Jahr
Gesetzentwurf. Denn weil die Zahl der Bedarfsgemein- 2011 für Baden-Württemberg auf 28,5 Prozent, für
schaften im kommenden Jahr, bedingt durch die Wirt- Rheinland-Pfalz auf 34,5 Prozent und für die übrigen
schafts- und Finanzkrise, leider wieder steigen wird, er- Länder auf 24,5 Prozent festgesetzt werden. Damit liegt
höht der Bund auch seine Kostenbeteiligung. Dies die Bundesbeteiligung 2011 bundesdurchschnittlich bei
verdeutlicht, dass diese Regierungskoalition ihre Ver- 25,1 Prozent.
antwortung gegenüber den Kommunen wahrnimmt und
Die Höhe der Bundesbeteiligung muss seit dem Jahr
ein zuverlässiger und berechenbarer Partner ist.
2008 auf Grundlage der Anpassungsformel nach § 46
Ich möchte jedoch auch die Gelegenheit nutzen, da- Abs. 7 SGB II jährlich angepasst werden, sofern die Ver-
rauf zu verweisen, wie gut wir die Krise bisher bewältigt änderung der jahresdurchschnittlichen Zahl der Be-
haben. Es war vor zwölf Monaten noch nicht abzusehen, darfsgemeinschaften mehr als 0,5 Prozent beträgt. Da
dass wir nur einen so geringen Anstieg der Zahl der Be- sich die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfsge-
darfsgemeinschaften zu erwarten haben würden. meinschaften im Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009
um 2,2 Prozent erhöht hat, ist eine gesetzliche Anpas-
Im September 2010 gab es in Deutschland 3 545 212 sung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2011 erforder-
Bedarfsgemeinschaften. Im September 2009 waren es lich.
noch 19 169 mehr. Die Auswirkungen der Krise schla-
gen auf das SGB II immer mit etwas Verzögerung durch, Soweit zum Sachverhalt. Es ist schon beeindruckend,
da Menschen, wenn sie ihre Arbeit verlieren, zunächst wie beratungsresistent die Bundesregierung in Sachen
für mindestens zwölf Monate im Rechtskreis des SGB III Kosten der Unterkunft gegenüber der nunmehr seit meh-
geführt werden. Daher werden wir im kommenden Jahr reren Jahren anhaltenden massiven Kritik der Kommu-
trotz der hervorragenden Entwicklung am Arbeitsmarkt nen und Länder ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass die
mit einer etwas höheren Zahl an Bedarfsgemeinschaften Bundesregierung daran festhält, sich nicht angemessen
(B) rechnen müssen. an der Finanzierung der Kosten der Unterkunft für (D)
ALG-II-Beziehende zu beteiligen? Die Linke will die
Die positive wirtschaftliche Prognose für das kom- Bundesregierung nicht ungeschoren davonkommen las-
mende Jahr mit einer erwarteten durchschnittlichen Ar- sen. Daher haben wir beantragt, den Gesetzentwurf
beitslosenzahl von unter 3 Millionen und einem erwarte- nicht stillschweigend durchgehen zu lassen.
ten Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent wird dazu
führen, dass wir in den kommenden Jahren wieder deut- Auch wenn sich die Bundesbeteiligung für das Jahr
lich weniger Bedarfsgemeinschaften haben werden. 2011 um bundesdurchschnittlich 1,5 Prozent erhöhen
soll, entspricht dies bei weitem nicht dem eigentlich zu
Das ist eine gute Nachricht für die künftigen Auswir- zahlenden Anteil des Bundes. Würden die realen Ausga-
kungen auf den Bundeshaushalt, vor allem aber für die ben für Kosten der Unterkunft und Heizung zugrunde
Menschen. Denn hinter dem Begriff „Bedarfsgemein- gelegt werden, müsste sich der Bund im Jahr 2010 mit
schaft“ stehen konkrete Menschen und konkrete Schick- 35,8 Prozent und im Jahr 2011 mit 37,7 Prozent beteili-
sale. Jede Bedarfsgemeinschaft weniger bedeutet kon- gen. Das hat der Landkreistag auf der Grundlage lang-
kret, dass Menschen aus dem SGB II in Beschäftigung fristiger Betrachtungen des realen Kostenverlaufs er-
gekommen sind. rechnet.
Das ist die wahre positive Botschaft hinter den Zah- Der Bund ist nach wie vor nicht bereit, sich angemes-
len. Eine Verringerung der Zahl der Bedarfsgemein- sen an der Finanzierung der Wohnkosten für Hartz-IV-
schaften bedeutet nicht nur sinkende Ausgaben für den Beziehende zu beteiligen. Seit Jahren zieht er sich aus
Bund und auch für die Kommunen, sie ist auch ein Indiz der Finanzierung der Wohnkosten zurück. Betrug der
für die Qualität der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die- Bundesanteil im Jahr 2007 noch 4,36 Milliarden Euro
ser Bundesregierung. – 31,8 Prozent –, so sollte er für das Jahr 2010 nur noch
3,7 Milliarden Euro – 23,6 Prozent – betragen. Der Bun-
Wir können heute sehen, dass die Maßnahmen dieser desrat hatte sich dagegen ausgesprochen und am
Regierung, selbstverständlich auch der Regierung und 18. Dezember 2009 den Vermittlungsausschuss angeru-
Opposition der vergangenen Jahre, dazu beigetragen fen. Eine Einigung wurde bis dato nicht erreicht.
haben, Deutschland sicher durch die Krise zu führen.
Auch das von der Opposition so heftig kritisierte Wachs- Ich habe das Scheitern des Sechsten Gesetzes zur Än-
tumsbeschleunigungsgesetz hat nachweislich zur Stabi- derung des SGB II über die Kosten der Unterkunft im
lisierung der wirtschaftlichen Lage und zum Wachstum Bundesrat ausdrücklich begrüßt. Mit der Ablehnung
beigetragen. wird die Isolierung der Bundesregierung in dieser Frage

Zu Protokoll gegebene Reden


7788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Katrin Kunert
(A) offensichtlich. All diejenigen, die mit den sozialen Pro- müssen, nicht so wichtig sind wie die von Hoteliers. (C)
blemen direkt konfrontiert sind, schätzen schon lange, Sonst würde die Bundesregierung nicht auf die Idee
dass die Politik der Bundesregierung die Probleme ver- kommen, den Kommunen die Möglichkeit einzuräumen,
schärft, statt sie zu lösen. Aber all das scheint die Bun- per Satzungsrecht die Angemessenheit der Kosten der
desregierung nicht zu stören, ansonsten hätte sie heute Unterkunft zu regeln. Was die Bundesregierung damit
dem Bundestag einen anderen Entwurf eines Siebten Ge- riskiert, ist der massenhafte Rechtsbruch vor Ort auf
setzes zur Änderung des SGB II zur Regelung des Bun- Kosten der Armen in Deutschland. Ein unbestimmter
desanteils vorgelegt. Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ soll nach dem Wil-
len der Bundesregierung nicht vom Bundesgesetzgeber
Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich die Rea- definiert werden, der dafür zuständig ist, wie das Bun-
lität sozialer Spaltung zur Kenntnis nehmen und ihre desverfassungsgericht es am 9. Februar noch einmal im
Politik darauf ausrichten. Der Bundesanteil an der Fi- seinem Urteil zu den Grundsicherungsleistungen festge-
nanzierung der Kosten der Unterkunft muss deutlich er- stellt hat. Vielmehr will die Bundesregierung die ange-
höht werden. Der Bund darf sich nicht länger zulasten messenen Wohnkosten als wichtigen Teil des Existenzmi-
der Kommunen und der Hartz-IV-Beziehenden sanieren. nimums dem freien Spiel zwischen Kämmerer und
Die Kommunen brauchen endlich eine solide Finanz- Sozialdezernenten überlassen. Wer in diesem Kräfte-
ausstattung, damit die Einwohnerinnen und Einwohner messen in einer Kommune obsiegen wird, die etwa unter
ein würdevolles Leben führen können, wozu auch eine der Haushaltssicherung steht, lässt sich unschwer vor-
menschenwürdige Wohnung gehört.
hersagen. Zu befürchten ist außerdem bei unangemesse-
Ich fordere die Bundesregierung auf, ihren Gesetzent- nen oder gar rechtswidrigen Satzungslösungen eine
wurf zurückzuziehen und dem Bundestag umgehend ei- erneute Klageflut vor den ohnehin überlasteten Sozial-
nen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. In dem neuen Ge- gerichten.
setzentwurf ist erstens die Anpassungsformel dahin
Schwarz-Gelb bleibt sich mit diesem Gesetzentwurf
gehend zu ändern, dass die Berechnung der Bundesbe-
treu. Anstatt endlich die Reform der Übernahme der
teiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung in
§ 46 Abs. 7 SGB II auf der Basis der tatsächlichen Ausga- Kosten der Unterkunft solidarisch zu gestalten oder an-
ben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II derweitige Kompensationslösungen zu suchen, werden
erfolgt. Zweitens ist auf der Grundlage dieser veränder- wieder die Kommunen einseitig belastet. Sinnvoll wäre
ten Formel eine Neuberechnung der Bundesbeteiligung eine andere Lastenverteilung, die wir als Grüne auch
an den Kosten der Unterkunft und Heizung für die Jahre vorschlagen.
2010 und 2011 vorzunehmen. Um die gesetzlich vorgesehene Entlastung der Kom-
(B) munen durch die Einführung des Vierten Gesetzes für (D)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt um jährlich
Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz- 2,5 Milliarden Euro zu gewährleisten, müssen wir die
entwurf ist gegenüber unseren Städten und Gemeinden Anpassungsformel ändern und die Bundesbeteiligung
nichts anderes als eine Zumutung. entsprechend der tatsächlichen Entwicklung der Ausga-
ben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Zwei-
Bei verständiger Würdigung des Komplexes „Kosten tes Buch Sozialgesetzbuch berechnen. Das fordert auch
der Unterkunft“ kann eigentlich niemandem entgehen, der Bundesrat, und er hat den Vermittlungsausschuss
dass die derzeitige Formel zur Berechnung des Bundes- hierzu angerufen – Bundesratsdrucksache 864/09.
anteils an den Wohnkosten von Menschen im Bezug der
Grundsicherung für Arbeitssuchende die Kommunen Die Länder berufen sich auf Berechnungen des Deut-
über Gebühr belastet. Erstens kann niemand erklären, schen Landkreistages, wonach unter Berücksichtigung
warum Extrawürste für Rheinland-Pfalz und Baden- der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung für
Württemberg gebraten werden. Zweitens erschließt sich das Jahr 2010 eine Bundesbeteiligung von 35,9 Prozent
auch nicht, warum nicht die tatsächlichen Kosten Maß- geleistet werden müsste. Für das Haushaltsjahr 2011
stab der Berechnungen sind, sondern stattdessen die An- beträgt bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten-
zahl der Bedarfsgemeinschaften. Die Tatsache, dass die entwicklung nach Berechnungen des Deutschen Land-
Bundesländer diesen Berechnungsschlüssel seinerzeit kreistages der Bundesanteil 37,7 Prozent. Ausgehend
selbst beschlossen haben, macht die Sache nicht besser. von voraussichtlichen Unterkunftskosten in Höhe von
Ganz offensichtlich haben die Bundesländer und der 14,3 Milliarden Euro im Haushaltsjahr 2011 beträgt der
Bund ein Geschäft zulasten Dritter – nämlich der Kom- Bundesanteil 5,4 Milliarden Euro statt der aktuell ange-
munen – gemacht. setzten 3,6 Milliarden Euro. Der Haushaltsansatz wäre
demnach um 1,8 Milliarden Euro zu erhöhen.
Aber ob dies die Bundesregierung interessiert? Wir
wissen von der schwarz-gelben Koalition, dass sie die Sicherlich müssen die Zahlen des Landkreistages
Belange der Kommunen ziemlich in den Hintergrund noch einmal auf ihre Richtigkeit und Plausibilität hin
stellt, weshalb Sie von der Bundesregierung allen Erns- überprüft werden. Immerhin ist nicht auszuschließen,
tes über die Abschaffung der Gewerbesteuer fabulieren dass der Deutsche Landkreistag sein Rohdatenmaterial
und die Mittel zur Städtebauförderung kürzen. Wir wis- auch interessengeleitet hochrechnet. Dennoch: Der
sen von Schwarz-Gelb aber auch, dass Ihnen die Be- Bund darf sich vor seiner Verantwortung nicht drücken
lange der Menschen, die von Sozialleistungen leben und die Kommunen nicht im Regen stehen lassen.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7789

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: würde, wenn man diesen Bericht unterschreibt oder ihn (C)
Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf sonstwie anerkennt. Deshalb hat die Bundesregierung
Drucksache 17/3631 und 17/3683 an die in der Tages- auch völlig zu Recht von einer förmlichen Unterschrift
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da- abgesehen.
mit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisun-
An dieser Stelle möchte ich nun kurz auf die inhaltli-
gen so beschlossen.
che Qualität des Berichts eingehen. Das große Ziel des
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf: Weltagrarberichts, „die Verminderung von Hunger, Ar-
mut und Mittellosigkeit und die Verbesserung der Le-
Beratung des Antrags der Abgeordneten bensverhältnisse in ländlichen Räumen samt der Ge-
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan sundheit“ ist ohne Wenn und Aber zu unterstützen.
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- Damit beschreiben wir die größte Herausforderung des
tion DIE LINKE 21. Jahrhunderts. Wir wollen Hunger und Elend be-
Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur kämpfen, und ein Schlüssel dazu ist die Landwirtschaft.
Grundlage deutscher, europäischer und inter- Die Ernährungskrise im Jahr 2007 hat das Thema Welt-
nationaler Agrar- und Entwicklungspolitik ernährung ganz nach oben auf die politische Agenda ge-
machen bracht und einen auch dringend notwendigen Schwung
in die Debatte gebracht. Auch hier hat sicherlich der
– Drucksache 17/3542 – Weltagrarbericht einen positiven Beitrag geleistet.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Positiv zu sehen ist auch, dass man versucht hat, tief
Verbraucherschutz (f) in die Debatte einzusteigen, man eine nach Regionen un-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe terschiedliche Analyse der Probleme angefertigt und
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
sich auch bemüht hat, Handlungsempfehlungen zu ge-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ben. Es ist richtig, dass man die Stärkung lokaler Märkte
anstrebt. Es ist der richtige Ansatz, das Thema „Recht
auf Land- und Wassernutzung“ zu betonen oder das
Johannes Röring (CDU/CSU):
Thema „Landwirtschaft und Klimawandel“ in den
Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und sogar
Blickpunkt zu nehmen. In der abschließenden Analyse
Jahren den Weltagrarbericht immer wieder auf der poli-
sehe ich allerdings die große Schwäche des Berichts, der
tischen Tagesordnung gehabt. Er wird von den Opposi-
mich zu deutlicher Kritik kommen lässt.
tionsparteien, egal ob ich hier die Linken, die Grünen
oder unseren ehemaligen Koalitionspartner, die SPD, Es findet beinahe durchgängig eine ideologisch ge-
(B) nenne, als das Zukunftswerk für die weltweite Gestal- prägte Betrachtungsweise statt, die sich ausschließlich (D)
tung und Entwicklung der Landwirtschaft propagiert. In am Ideal eines ökologischen Landbaus orientiert und
selbem Maße haben Entwicklungshilfeinstitutionen, eine moderne, industrialisierte Form der bäuerlichen
NGOs oder Vertreter einer ökologisch-biologischen Landwirtschaft ablehnt. Doch dabei wird vergessen,
Landwirtschaft sich für die Akzeptanz des Berichts ein- dass besonders Merkmale wie Effizienz, Ressourcen-
gesetzt und versucht, Druck auf die Bundesregierung schonung, Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfung
auszuüben, um den Weltagrarbericht zu unterschreiben eine moderne Landwirtschaft prägen. Ich möchte diese
und ihn damit als ein offizielles Dokument zu legitimie- Position aber nicht nur abstrakt darstellen, sondern
ren. Bei all dieser Euphorie und Anpreisung des Welt- auch exemplarisch an eine persönlich erlebte Erfahrung
agrarberichts darf man allerdings nicht vergessen, wel- anknüpfen, die mich in meiner Überzeugung noch mehr
che formelle Basis hinter diesem Bericht steht, ohne sich gestärkt hat.
an dieser Stelle schon mit Inhalten auseinanderzusetzen.
Ich war vor kurzem mit dem Agrarausschuss in den
Der Weltagrarbericht ist entstanden auf der Basis ei- ostafrikanischen Ländern Kenia, Uganda und Äthiopien
nes Netzwerks internationaler Agrarwissenschaftler. zu Gast und habe mir die Situation der Menschen, be-
Ihm lag kein Auftrag irgendeiner internationalen Orga- sonders in der Landwirtschaft, angeschaut. Ich habe
nisation zugrunde, auch wenn dies immer wieder von viele neue Erkenntnisse gesammelt, und ich musste mit
den Beteiligten behauptet wird. Es gab zwar finanzielle großer Enttäuschung feststellen, welches Elend dort
und personelle Unterstützung durch die FAO, die Welt- vielfach herrscht.
bank und andere Einrichtungen der Vereinten Nationen;
Ich habe dort in vielen Gesprächen mit Hilfsorgani-
aber selbst die FAO sieht den Weltagrarbericht nicht als
sationen, die sich ebenfalls in die Arbeit am Weltagrar-
Grundlage für ihr politisches und strategisches Han-
bericht eingebracht haben, erfahren, dass diese eine In-
deln.
dustrialisierung der Landwirtschaft nach europäischem
Ergänzend muss man feststellen, dass viele Akteure Vorbild für Afrika ablehnen. So wird es abgelehnt, neue
der weltweiten Agrarpolitik in keiner Weise am Diskus- Arten anzubauen oder Mineraldünger einzusetzen. Das
sionsprozess beteiligt waren bzw. sich im Laufe der Ver- Ergebnis ist, dass viele Menschen hungern. Das Ganze
handlungen zurückgezogen haben, da eine zu einseitige ist ein furchtbarer Zynismus. Europa hat vor über hun-
und nicht ergebnisoffene, sondern vielmehr ideologisch dert Jahren begonnen, durch verstärkten Maschinenein-
geprägte Diskussion bei der Lösung der identifizierten satz und den Einsatz mineralischen Düngers seine land-
Probleme stattgefunden hat. Aufgrund dieses Sachver- wirtschaftlichen Erträge zu steigern. Dadurch wurden
halts muss jedem klar sein, dass es zu nichts verpflichten auch bei uns der Hunger besiegt und der Wohlstand ge-
7790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Johannes Röring
(A) mehrt. Lassen wir doch die Afrikaner selbst entscheiden, sind eingeflossen in den Weltagrarbericht, der 2008 ver- (C)
was sie wollen, und sie dann unterstützen. Warum lassen öffentlicht wurde. Ich möchte an dieser Stelle nochmals
wir denn kein wirtschaftliches Wachstum im Nahrungs- daran erinnern, dass mit maßgeblicher Unterstützung
mittelbereich zu? Im Bericht des Weltagrarrates und in der SPD der Weltagrarbericht ins Deutsche übersetzt,
den Papieren von vielen Organisationen ist von Stützung und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekanntge-
der kleinbäuerlichen Struktur die Rede. Warum helfen macht werden konnte.
wir den Bauern dort nicht, Unternehmer zu werden?
Der Weltagrarbericht hat wichtige Impulse für die
Warum helfen wir nicht, etwa durch bessere Ausbildung,
Diskussion über die Armutsbekämpfung gegeben. Wir
durch Gründung von Bauernverbänden, durch den Bau
unterstützen die Ergebnisse des Berichtes. Obwohl
von Lagerstätten von der Subsistenzwirtschaft wegzu-
Deutschland den 2008 erschienenen Bericht nicht unter-
kommen und etwa mit Agrargütern oder Nahrungsmit-
zeichnet hat, sind viele Erkenntnisse aus dem Bericht in
teln Handel zu treiben? Stattdessen wird erklärt, die
konkrete SPD-Anträge eingeflossen. Ich erinnere in die-
Afrikaner wollten nur mit Ochs und Esel ihr Stückchen
sem Zusammenhang an unseren Antrag „Hunger und
Land bestellen; dann seien sie glücklich. Ich glaube das
Armut in Entwicklungsländern durch die Förderung von
nicht.
ländlicher Entwicklung nachhaltig bekämpfen“ vom
Die moderne Landwirtschaft wird mit ihren vielfälti- 28. November 2008. An dieser Stelle möchte ich nur die
gen Möglichkeiten bei Ertragssteigerung und Ertragssi- wesentlichen Erkenntnisse und unsere Forderungen wie-
cherheit eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der derholen:
Welternährungskrise einnehmen, überall auf der Welt.
Bisher produzierten die Mehrzahl der Kleinbauern in
Bei allen notwendigen Diskussionen über faire Han- ungefähr 400 Millionen Betrieben mit weniger als zwei
delsbeziehungen und bei der Debatte um die verschie- Hektar Land pro Betrieb nur das Nötigste zum Überle-
densten Gründe für die Verteuerung der Nahrungsmittel ben. Zeitweise sind sie selber auf den Zukauf von Nah-
kommen wir an einem Fakt nicht vorbei: Die Nachfrage rungsmitteln oder – das ist schlimmer – auf Nahrungs-
nach Agrarrohstoffen, nach Getreide, Ölsaaten und vie- mittelhilfe angewiesen. Wir müssen die Produktivität der
lem mehr wird sich in absehbarer Zeit fast verdoppeln. Landwirtschaft durch strukturelle und verbesserte poli-
Um diese auf uns zukommende Herausforderung meis- tische Rahmenbedingungen stärken. Die ländliche Ent-
tern zu können, müssen wir jetzt die Weichen richtig stel- wicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern
len. Denn dieses Mehr an Nachfrage müssen wir durch muss nach unseren Vorstellungen vor allem dem Ziel
Produktion auf der jetzt vorhandenden und kaum ver- dienen, den Zugang zu produktiven Ressourcen zu ver-
mehrbaren Fläche an weltweitem Ackerland erreichen; bessern. Parallel dazu muss die Funktionsfähigkeit der
denn wir wollen ja bewusst unsere schützenswerten Ur- regionalen Märkte für landwirtschaftliche Produkt- und
(B) (D)
und Regenwälder unangetastet lassen. Dies wird dann Faktormärkte verbessert werden.
funktionieren, wenn wir eine moderne bäuerliche Land-
Dabei sind die strukturellen Ursachen der unzurei-
wirtschaft als Basis für diese verantwortungsvolle Auf-
chenden ländlichen Entwicklung in erster Linie durch
gabe ermöglichen; denn dies ist ein entscheidender Lö-
die jeweiligen Länder, aber auch durch die Hilfe der in-
sungsansatz und damit ein Segen für die Menschheit.
ternationalen Gemeinschaft zu bekämpfen. Ziel der
Zum Abschluss möchte ich gerne aus dem Weltent- ländlichen Entwicklung kann es nicht in erster Linie
wicklungsbericht 2008 der Weltbank zitieren, der an vie- sein, den Zwei-Hektar-Betrieben nachhaltig ihre Subsis-
len Stellen den kleinbäuerlichen Landwirt als Unterneh- tenzwirtschaft zu sichern. Das steht auch so nicht im
mer sieht und der die obige These mehr als stützt: Weltagrarbericht. Leider kann ich nicht erkennen, wo-
her Sie Ihre Aussagen zur Fokussierung auf kleinbäuer-
Die Nutzung der Agrarwirtschaft als Basis für Wirt- liche Strukturen nehmen.
schaftswachstum in Agrarländern setzt eine Pro-
duktivitätsrevolution im kleinbäuerlichen Farmbe- Entwicklungspolitik steht heute vor der Herausforde-
trieb voraus. rung, einerseits die kleinbäuerlichen Strukturen zu
stärken, aber andererseits auch den notwendigen Struk-
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
turwandel sozial abzufedern. Wirtschaftlichere Betriebs-
größen werden in den betroffenen Regionen unter-
Im Jahr 2003 haben die Weltbank und die Vereinten schiedlich ausgeprägt sein. Die Menschen vor Ort
Nationen bzw. die FAO einen internationalen Prozess werden wissen, wie die bäuerliche Produktivität erhöht
initiiert: das International Assessment of Agricultural werden kann.
Knowledge, Science and Technology for Development,
das IAASTD, bekannt geworden als Weltagrarrat. Über Unklar bleibt für mich, was die Kolleginnen und Kol-
500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller legen von der Linken mit ihrem Antrag zum jetzigen
Kontinente und unterschiedlicher Fachrichtungen ha- Zeitpunkt bezwecken. Die Aussagen bleiben zwar aktu-
ben vier Jahre lang zusammengearbeitet, um die folgen- ell, aber wir sollten doch einmal genau hinschauen, wo
den Fragen zu beantworten: Wie können wir landwirt- wir die wirkliche Entwicklungsarbeit leisten müssen.
schaftliches Wissen, Forschung und Technologie Leider muss ich nämlich feststellen, dass die Erkennt-
einsetzen, um Hunger und Armut zu verringern? Wie nisse des Weltagrarberichts bei den Kolleginnen und
lassen sich ländliche Existenzen verbessern, und wie Kollegen der Koalition nur eingeschränkt bis gar nicht
lässt sich weltweit eine ökologisch, ökonomisch und so- fruchten. Nicht anders kann ich die Äußerungen des Ab-
zial nachhaltige Entwicklung fördern? Die Ergebnisse geordneten Röring von der CDU bewerten. Dieser hat

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7791
Dr. Wilhelm Priesmeier
(A) sich kürzlich in einem Interview mit der Katholischen ich nicht verhehlen. Aber er ist langfristig wirksamer als (C)
Nachrichtenagentur über die nach seiner Ansicht „völ- kurzfristige Beglückungskampagnen à la FDP.
lig falsche Philosophie von vielen Entwicklungshilfeor-
ganisationen“ echauffiert. Diese würden sogenannte Es bedarf verschiedener Instrumente und Elemente
kleinbäuerliche Strukturen verherrlichen und den tech- der ländlichen Entwicklung und im Agrarsektor, um
nischen Fortschritt für die Entwicklungsländer ableh- langfristig den Hunger zu überwinden. Die Entwick-
nen. Es stünden Stichworte wie „Geschlechterdebatte“ lungsarbeit bei uns endet nicht mit der Unterstützung
und „sozial-ökologische Reformen“ im Raum, die nichts der Bäuerinnen und Bauern in den südlichen Ländern.
mit den Realitäten und den Bedürfnissen vieler Entwick- Das hat Herr Röring vergessen im Interview zu sagen.
lungsländer zu tun hätten. Mit einem Rundumschlag Zu mehr Unternehmertum und zu mehr Marktorientie-
lässt sich der Kollege Röring über die Misserfolge der rung gehören auch faire Spielregeln auf den Agrarmärk-
bisherigen Entwicklungspolitik aus. Für unseren derzei- ten. Da müssen wir noch einiges nachholen in der EU.
tigen Entwicklungsminister, der erst sein Ministerium Ich hoffe, dass die Gemeinsame Agrarpolitik der EU
abschaffen wollte und es jetzt um 200 weitere Stellen nach 2013 auch in diesem Bereich konsequent auf neue
aufstocken möchte, mögen Ihre Aussagen wunderbar ge- Herausforderungen ausgerichtet wird und marktverzer-
klungen haben. Die einfachen Weisheiten, die Herr rende Subventionen endgültig abgeschafft werden.
Röring im Interview verbreitet, werden jedoch der kom- Gleiches gilt im Übrigen für die spekulativen Aus-
plexen Realität nicht im Geringsten gerecht. wüchse auf den Weltagrarmärkten. Hier müssen wir den
Die wirtschaftlichen Potenziale der einheimischen Realitäten ins Auge schauen und politisch eingreifen,
Bevölkerung werden durch zahlreiche rechtliche, agrar- damit wir die Funktionsfähigkeit von Warenterminbör-
politische und soziokulturelle Hindernisse beschränkt. sen dauerhaft sichern. Vorschläge dazu hat die SPD be-
Fehlender Landzugang und fehlende finanzielle Res- reits unterbreitet. Ich freue mich, dass auch das Bun-
sourcen sind zu nennen. Gerade in Afrika liegt der über- desagrarministerium letzte Woche endlich aufgewacht
wiegende Anteil der landwirtschaftlichen Produktion in ist.
Frauenhand. Sie produzieren mehr als 90 Prozent der Aber zurück zum Antrag der Linken. Die SPD-Bun-
Grundnahrungsmittel und über 30 Prozent der Markt- destagsfraktion hat in ihrem Antrag zum Entwurf des
früchte. Eine Förderung der ländlichen Entwicklung Haushalts 2011 des BMELV eingefordert, insgesamt
und der Abbau geschlechtsspezifischer Benachteiligun- 1 Million Euro bereitzustellen, damit der Weltagrarbe-
gen von Frauen müssen eng miteinander verknüpft wer- richt fortgeschrieben werden kann. Damit wollen wir
den; denn auch die strukturelle Benachteiligung von auch erreichen, dass die bisher sehr technologiefixierte
Frauen, insbesondere in Afrika, ist ein wichtiger Faktor, Forschungspolitik der Bundesregierung zur Bekämp- (D)
(B) der der wirtschaftlichen Entwicklung der landwirt-
fung von Hunger, Klimawandel, Flächen- und Ressour-
schaftlichen Produktion bis heute im Wege steht. Dies cenknappheit auf eine breitere Basis gestellt wird.
sind Realitäten in vielen Entwicklungsländern, die auch
der CDU-Kollege Röring anerkennen sollte. Daher wird die SPD sich enthalten.
Richtig ist, dass wir gerade die afrikanischen Bauern
unterstützen müssen, ihre Produktivität zu steigern. Es Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
müssen rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen Vor zehn Jahren haben die Regierungen von 189 Staa-
geschaffen werden, die es den Bäuerinnen und Bauern ten acht UN-Millenniumsziele miteinander vereinbart.
ermöglichen, ihre vorhandenen unternehmerischen Zu diesen Zielen gehört die Halbierung der Zahl der
Potenziale voll auszuschöpfen. Dies wird aber nicht da- hungernden Menschen bis zum Jahr 2015. Tatsächlich
durch erreicht, dass wir ihnen unangepasstes Saatgut sind in den vergangenen zehn Jahren jedoch keine ent-
und unsere Hochleistungsrinder schicken. Es wird da- scheidenden Fortschritte erzielt worden. Im Gegenteil:
durch erreicht, dass wir ihnen bezahlbares Know-how Die absolute Zahl der hungernden Menschen liegt seit-
zur Verfügung stellen. Es wird dadurch erreicht, das wir her bei rund 1 Milliarde. Weitere 2 Milliarden Menschen
in unserem Land mehr Geld in die Hand nehmen und leiden an Mangelernährung. Die Gründe für diese be-
beispielsweise unsere einstmals so hoch gelobte Tropen- sorgniserregende Bilanz sind vielfältig: Eine schlechte
und Subtropenforschung vor dem kompletten Untergang Regierungsführung zum Beispiel in Nordkorea oder dem
retten. Kongo, die demografische Entwicklung, der Klimawan-
del und ein ungenügendes Bildungsniveau sind einige
Eine bessere Ausbildung, der Bau von Straßen und der offensichtlichen Faktoren. Um die verschiedenen
Lagerstätten, damit Lagerverluste bis zu 60 Prozent ver- Missstände zu beseitigen, sind verschiedene Maßnah-
ringert werden, sind konkrete Maßnahmen der ländli- men notwendig.
chen Entwicklung. Dies kann und muss aber unter
größtmöglicher Beteiligung der ländlichen Bevölkerung Der im April 2008 verabschiedete sogenannte Welt-
erfolgen. Nur sie weiß, was sie benötigt, um der Armut agrarbericht versucht in einem durchaus breit angeleg-
zu entrinnen. Achten wir ihre Belange nicht, besteht die ten Ansatz, das Potenzial von althergebrachten, lokalen
Gefahr, dass korrupte Regimes oder lokale Warlords die landwirtschaftlichen Kenntnissen und von technologi-
Früchte des Fortschritts alleine verprassen. Daher ist schem Fortschritt danach zu bewerten, wie weit sie ge-
ein Bottom-up-Entwicklungsansatz auch heute noch mo- eignet sind, Teilziele der Millenniumsvereinbarung zu
dern und zeitgemäß. Er ist auch mühsamer, das möchte erreichen. Er nennt hierzu eine Reihe von interessanten

Zu Protokoll gegebene Reden


7792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) Fakten. Allerdings ist der Bericht mit seinen Folgerun- genutzt werden. Untersuchungen der Universität Göttin- (C)
gen einseitig ideologisch ausgerichtet und greift zu kurz. gen zeigen, dass indische Baumwollbauern mit gentech-
nisch veränderten Pflanzen deutliche Einkommensge-
Es besteht Einigkeit darüber, dass die landwirtschaft- winne erzielen und ihre wirtschaftliche Situation
liche Effizienz insbesondere in den Nichtindustrielän- verbessern konnten. Der nahezu flächendeckende Anbau
dern enorm erhöht werden muss. Daher wird die einsei- von Bt-Baumwolle in Indien ist ein erfolgreicher Beitrag
tige Fokussierung des Berichts auf kleinbäuerliche zur Bekämpfung von Armut und Hunger. Dieses Poten-
Subsistenzwirtschaft den vor uns liegenden Problemen zial wird vom Weltagrarbericht unterschätzt.
nicht gerecht. Durch die stetig wachsende Weltbevölke-
rung verringert sich die Ackerfläche, die für die Ernäh- Ebenso muss für die Bekämpfung von Erblindung
rung eines jeden Menschen zur Verfügung steht. Ebenso durch Mangelernährung in Afrika und Asien der Gol-
führen der Klimawandel und der Anbau von Biomasse dene Reis möglichst bald zur Verfügung gestellt werden.
für die energetische Nutzung dazu, dass die für die Er- 500 000 Menschen erblinden in jedem Jahr. Es ist
nährungssicherung zur Verfügung stehende Ackerfläche ethisch nicht vertretbar, den Menschen eine solche Sorte
abnimmt. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass zu verwehren, die ihnen das Schicksal der Erblindung
etwa die Hälfte einer jeden Ernte entweder schon auf ersparen könnte, nur weil Menschen in Europa emotio-
dem Feld oder anschließend bei der Lagerung und der nale Vorbehalte gegenüber gentechnisch veränderten
Verarbeitung durch Schadorganismen vernichtet wird. Pflanzen empfinden. Obwohl die Diskussion um den
Das bedeutet, dass nur eine Steigerung der Effizienz der Goldenen Reis seit langem geführt wird, berücksichtigt
Landwirtschaft die Chance bietet, den Hunger auf der der Weltagrarbericht diese Chance nicht.
Welt zu lindern. Dafür sind die Nutzung moderner Tech-
Der größte Fortschritt gegen den Hunger wurde in
nik, moderner Dünge- und Schädlingsbekämpfungsme-
den letzten 15 Jahren in Südasien, Lateinamerika und
thoden, moderner Sorten erforderlich. Damit die Men-
der Karibik erzielt. Diese Länder sind Beispiele für gute
schen diesen Anforderungen gewachsen sind, brauchen
Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und eine offene
sie mehr Bildung und Ausbildung. Mit einer romantisie-
Einstellung gegenüber Wissenschaft und technolo-
renden Museumslandwirtschaft, wie sie verschiedene
gischem Fortschritt. Hingegen stehen auf der Verlie-
Nichtregierungsorganisationen, NGO, und der Welt-
rerseite die sogenannten Failed States, in denen Bür-
agrarbericht fordern, kann das Problem der Welternäh-
gerkriege, Korruption und Menschrechtsverletzungen
rung nicht gelöst werden.
jegliche Bemühungen um Bildung der ärmeren Bevölke-
Gerade in Ländern mit geringem allgemeinem Bil- rungsschichten und Zugang zum landwirtschaftlichen
dungsniveau, mit einem großen Anteil an Menschen, die Fortschritt zunichtegemacht haben.
(B) nicht lesen und schreiben können, ist das Erfahrungs- Die weltweite Landwirtschaft muss gestärkt werden. (D)
wissen in der Bevölkerung über die landwirtschaftliche Investitionen in die Landwirtschaft müssen gerade in ar-
Produktion vergleichsweise gering. Daher reicht es bei men Ländern erhöht werden. Darüber hinaus sind welt-
weitem nicht aus, in diesen Ländern auf Tradition und weit auf allen Ebenen große Anstrengungen nötig, um
Erfahrung zu setzen. Auch in Deutschland wurde der die Effizienz zu erhöhen, den Ressourcenverbrauch zu
notwendige Leistungssprung der Landwirtschaft erst vermindern und eine faire Verteilung der produzierten
durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, den Agrargüter sicherzustellen. Der Weltagrarbericht liefert
breiten Zugang zu Bildung und Ausbildung und in der hierzu interessante Anregungen, aber als eine solide
Folge vermehrte wissenschaftliche Forschung mit der Grundlage für Regierungshandeln ist er nicht geeignet.
Anwendung ihrer Erkenntnisse möglich gemacht. Das Deswegen ist aus Sicht der FDP eine Unterzeichnung
Beispiel Mongolei, wo noch immer Weizen in einer dieses Berichts nicht sinnvoll. Wir stehen damit im Ein-
Zwei-Felder-Wirtschaft produziert wird, zeigt, dass re- klang mit der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten.
gional noch erhebliche Potenziale bestehen, die Erträge
zu erhöhen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Hunger ist kein reines Verteilungsproblem. Der Über- „Business as usual is not an option!“ Das ist – grob
fluss in Hamburg kann den Hunger der Menschen in den zusammengefasst – die zentrale Botschaft des Welt-
Ländern der Subsahara nicht lindern. Sie brauchen nicht agrarbericht. Und auch für die Linke ist ein einfaches
noch mehr Lebensmittellieferungen aus dem Ausland, Weiter-so keine Option angesichts der dramatischen
sondern Hilfe zur Selbsthilfe und eine Stärkung ihrer Er- agrarwirtschaftlichen Defizite weltweit: bei der Durch-
nährungssouveränität. Deshalb unterstützt die deutsche setzung des Rechts auf Nahrung und der regionalen
Entwicklungshilfe auch kleinbäuerliche Strukturen und Nahrungssouveränität, bei der Verteilungsgerechtigkeit
regionale Märkte. Um deren Funktionsfähigkeit zu erhal- an Lebensmitteln, Boden oder Wasser, bei der Nachhal-
ten, treten wir dafür ein, im Rahmen der Reform der ge- tigkeit der Nahrungsmittelproduktion, dem Kampf gegen
meinsamen EU-Agrarpolitik die Exporterstattungen völ- den Klimawandel oder gegen den Verlust an biologi-
lig abzubauen. scher Vielfalt. In einer Broschüre zum Weltagrarbericht
heißt es:
Für die Anpassung der Kulturpflanzen an den Klima-
wandel, ihre Resistenz gegenüber Schadorganismen und Die Art und Weise, wie die Weltgemeinschaft in den
die Verbesserung ihrer Eigenschaften für die Ernährung nächsten Jahrzehnten ihre Ernährung und deren
müssen geeignete Sorten gezüchtet werden. Dabei müs- Produktion gestaltet, wird die ökologische, wirt-
sen moderne Züchtungsmethoden wie die Gentechnik schaftliche, soziale und kulturelle Zukunft unseres

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7793
Dr. Kirsten Tackmann
(A) Planeten bestimmen. Je früher wir die unvermeidli- und ökologischer Verantwortung zu leiten verstehen. Be- (C)
chen Konsequenzen ziehen, desto besser sind die tont wird, dass in den osteuropäischen Staaten die for-
Erfolgsaussichten. malen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der
Landwirtschaft kaum vorhanden waren. Durch die wirt-
Doch wenn Weiter-so nicht geht, was dann? Dieser schaftliche Liberalisierung nach 1989 wurde diese Er-
Frage stellten sich über 500 Expertinnen und Experten rungenschaft zunichte gemacht. Neben nichtexistenzsi-
bei der Erarbeitung des Weltagrarberichts und suchten chernden Erwerbssituationen von Frauen und einem
nach Lösungswegen. Sie haben ihre Erfahrungen und Rückfall in puncto Gleichstellung werden der mangel-
Erkenntnisse auf Hunderten Seiten zusammengetragen. hafte Zugang zu Bildung und nichtlandwirtschaftlichen
Besonders bemerkenswert finde ich, dass nicht nur Wis- Beschäftigungsmöglichkeiten hervorgehoben. Aber es
senschaftlerinnen und Wissenschaftler oder gar die fort- gibt auch hoffnungsvolle Entwicklungen: Beispielweise
schrittsgläubige Agrarindustrie alleine am Projekt be- in Subsahara-Afrika könne bei der Arbeitsteilung zwi-
teiligt waren. Bei vielen Berichten ist das ja der Fall; schen Männern und Frauen ein klarer Wandel festge-
daher sind sie oftmals mit Vorsicht zu genießen. Beim stellt werden. Frauen übernehmen immer mehr Aufga-
Weltagrarbericht war das anders: Hier wurde nicht nur ben wie Bodenvorbereitung, Pflanzenschutz oder
auf wissenschaftliches, sondern auch auf nichtwissen- Verkauf der Ernte.
schaftliches, also traditionelles Wissen zurückgegriffen.
Ziel war, möglichst viele Perspektiven einzubeziehen, Die Abwanderung junger Männer in die urbanen
um eine große Vielfalt an Lösungsvorschlägen für eine Zentren erzwingt, dass viele Familien und Landwirt-
der zentralen Zukunftsfragen zu erarbeiten: Wie kann schaftsbetriebe nun von Frauen geführt werden. Dabei
sich eine wachsende Menschheit ernähren? Es gab Zu- gewinnen Fragen nach Landbesitz und Zugang zu
arbeiten aus armen und reichen Ländern, von Frauen fruchtbarem Land eine neue zentrale Bedeutung. Vor-
und Männern, von Theoretikerinnen und Theoretikern mals waren sie klar in männlicher Hand. Heute sind
sowie Praktikerinnen und Praktikern. Durch diese Viel- neue gesetzliche und auch soziokulturelle Änderungen
falt aus aller Welt, vielen Professionen und Denkschulen nötig. Frauen brauchen Zugang zu Agrarverbänden und
ist im Ergebnis ein solider und ernst zu nehmender Be- Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Im
richt entstanden, was ihn klar von manch anderem Be- Bericht wird gleichzeitig betont, dass Frauen oft in ihren
richt unterscheidet. Rollen als Familienfürsorgerinnen, Pflanzensammlerin-
nen, Gärtnerinnen, Kräuterspezialistinnen, Saatgutpfle-
Für mich kann der Weltagrarbericht einen ähnlichen
gerinnen und inoffizielle Pflanzenzüchterinnen über
Erfolgsweg hin zu einer hohen moralischen und politi-
sehr wertvolles Wissen zur Nutzung lokaler Pflanzen-
schen Legitimation gehen wie der Weltklimabericht, In-
und Tiersorten für Ernährung, Gesundheit und Famili-
(B) tergovernmental Panel on Climate Change, IPCC. Des- eneinkommen verfügen. Dieser scheinbar kleine, aber (D)
sen erste Ausgabe wurde 1990 mehrheitlich nur milde
sehr wichtige Aspekt aus dem Weltagrarbericht macht
belächelt, der Klimawandel von vielen geleugnet. Doch
deutlich, wie bedeutsam eine breite Debatte über diese
mittlerweile ist der vierte, nach kontinuierlicher Arbeit
Themen ist, auch hier im Bundestag. Die Linke hat da-
am Thema 2007 erschienene Weltklimabericht allseits
her den Antrag „Erkenntnisse des Weltagrarberichtes
anerkannt, politische Entscheidungen werden zuneh-
zur Grundlage deutscher, europäischer und internatio-
mend an seinen Erkenntnissen ausgerichtet. Der Er-
naler Agrar- und Entwicklungspolitik machen“ gestellt.
kenntnisgewinn sollte beim Weltagrarbericht schneller
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Weltagrarbe-
gehen. Die Agrar- und Entwicklungspolitik gehört welt-
richt schnellstmöglich zu unterschreiben. Das wäre ein
weit auf den Prüfstand, und wir sollten bereits die Er-
klares Bekenntnis Deutschlands und würde die wichti-
gebnisse dieses ersten Weltagrarberichts in unserem ei-
gen Ergebnisse des Berichts anerkennen. Damit würde
genen Interesse sehr ernst nehmen.
sich Kanzlerin Merkel nicht einmal weiter aus dem
Neben der Betonung regionaler Ernährungssouverä- Fenster lehnen, als es zum Beispiel Großbritannien,
nität unterstreicht der Bericht die Bedeutung der Frauen Finnland oder Schweden längst getan haben.
bei der Lösung der Probleme in den ländlichen Räumen.
Der Weltagrarbericht schreibt den Frauen die zentrale Viel wichtiger als das Unterschreiben ist allerdings,
Rolle bei der Sicherung eben dieser Ernährungssouve- dass seine Ergebnisse berücksichtigt und seine Fortent-
ränität zu. Frauen spielen weltweit nach wie vor die ent- wicklung zum zweiten Weltagrarbericht finanziell gesi-
scheidende Rolle in bäuerlichen Familienbetrieben. Das chert werden. Hier steht Deutschland als reiches Land
ist ein allzu oft vernachlässigtes Thema, auch in der EU. in der Pflicht. Darum fordern wir im Antrag von der
Die Linke hat immer wieder darauf hingewiesen. Darum Bundesregierung, „sich an der Fortführung des Welt-
möchte ich auch an dieser Stelle darauf eingehen. agrarberichtes und der Finanzierung dieses Prozesses“
zu beteiligen. Und auch in die Debatte um die Zukunft
Im Bericht werden völlig verschiedene Erwerbssitua- der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, GAP,
tionen von Frauen in der Agrarwirtschaft beschrieben. nach 2013 müssen die Erkenntnisse des Weltagrarbe-
Einerseits greifen große exportorientierte Agrarunter- richtes einbezogen werden. Wichtig ist, dass der Welt-
nehmen in den Industriestaaten gewinnsteigernd auf die agrarbericht nicht nur weises Papier bleibt, sondern zu
billige weibliche Arbeitskraft zurück. Andererseits zeigt politischen Veränderungen führt. Dafür setzt sich die
so mancher LPG-Nachfolgebetrieb in Ostdeutschland, Linke ein. Darüber sollten wir im Fachausschuss für Er-
dass Frauen solche Betriebe auch unter den Bedingun- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz disku-
gen der Marktwirtschaft exzellent, mit hoher sozialer tieren.

Zu Protokoll gegebene Reden


7794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): als Fläche für den Futteranbau für die Massentierhal- (C)
Die Botschaft des Weltagrarberichts ist deutlich: Die tung benötigt werden.
Intensivierung und Industrialisierung der Landwirt- Wissenschaftlich falsch und Ausdruck einer einseiti-
schaft ist kein Beitrag zur Ernährungssicherung. Nicht gen Interessenvertretung sind die Angriffe, die die
die Agro-Gentechnik, die die Bundesregierung als „Bio- christdemokratischen Parteien CDU und CSU kürzlich
Ökonomie“ mit über 2 Milliarden Euro fördert, nicht die auf die Kirchen und ihre Entwicklungsarbeit ausgeführt
von Schwarz-Gelb verfolgten aggressiven Exportstrate- haben. Herr Kollege Röring, die Hilfsorganisationen
gien, nicht die auf Futtermittelimporten basierenden haben den Mut, sich auf die Seite der Armen und gegen
Megamastställe können die bald 9 Milliarden Menschen die Methoden der internationalen Agrarindustrie zu
ernähren. Nur eine umweltgerechte, dezentrale, mo- stellen, die mit Raubbau, Landgrabbing und Marktbe-
derne bäuerliche Landwirtschaft löst die eklatanten Ver- herrschungsstrategien zur Verschärfung der Hungerpro-
teilungs- und Gerechtigkeitsprobleme bei den Ressour- bleme beiträgt. Da haben Sie unsere ganze Unterstüt-
cen wie Böden, Wasser und Lebensmittel. zung.
Die Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen ge- Wir nehmen auf einer großen Konferenz zum Thema
fährdet langfristig den Erfolg der Produktion. Mit unse- „BodenLos“ am Wochenende die Probleme des Land-
rem Konsum- und Lebensstil verbrauchen wir 2,5 Plane- raubs in Entwicklungsländern, die Agrarspekulationen
ten. Die Bundesregierung und Ministerin Aigner und die unfairen Handelsbeziehungen in den Fokus. Von
missachten die Ergebnisse von 500 internationalen Wis- der Bundesregierung fordern wir, mit einer konsistenten
senschaftlern und weigern sich, den Bericht zu unter- Politik zwischen Agrar, Handel und Entwicklungszu-
zeichnen, wie dies UN, Weltbank und 60 Regierungen sammenarbeit sozial und ökologisch angepasste Land-
getan haben. Stattdessen treiben sie die aggressive Ex- bewirtschaftungsformen voranzubringen und so zur Lö-
portpolitik Deutschlands im Agrarbereich weiter zu Las- sung der Probleme beizutragen, anstatt diese zu
ten der Armutsregionen. forcieren.
In den letzten 50 Jahren verdoppelte sich die Bevölke- Wir halten aber auch das Ansinnen der Linkspartei,
rung auf 6,9 Milliarden Menschen, die Produktivität in hier in einer Kampfabstimmung im Deutschen Bundes-
der Landwirtschaft stieg um 2,5 Prozent. Obwohl welt- tag die Koalition zur Ablehnung des Weltagrarberichtes
weit ein Drittel mehr an Kalorien zur Verfügung steht, zu treiben, für nicht besonders zielführend. Stattdessen
als zur Ernährung aller benötigt würde, hungert eine wollen wir einen konstruktiven Dialog zwischen allen
Milliarde Menschen. Die sogenannte Revolution der Fraktionen darüber, wie man bei der Umsetzung der Er-
Landwirtschaft mit gesteigertem Pestizid- und Dünger- kenntnisse in der deutschen, europäischen und interna-
(B) einsatz verschärft die Armut und den Hunger. Daraus tionalen Politik Fortschritte erzielen kann und so der (D)
müssen Konsequenzen gezogen werden. Realisierung des Rechts auf Nahrung ein Stück näher
kommt.
Die Unterschriften der Bundesrepublik Deutschland
unter die Millenniumsziele und das Recht auf Nahrung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
verlangen einen Paradigmenwechsel. Es muss eine poli- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
tische Neuausrichtung im Handel und der Agrarförde- Drucksache 17/3542 zur federführenden Beratung an
rung weg von der Förderung der Industrialisierung, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
Agro-Gentechnik und Großstrukturen hin zur Unterstüt- braucherschutz und zur Mitberatung an den Ausschuss
zung kleiner und mittelgroßer Landwirtschaft geben. für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Aus-
Das gilt auch und gerade in der EU. Anstatt dem EU- schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
Kommissar bei den vorsichtigen Reformvorschlägen zur wicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten
Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik – GAP – unter der Europäischen Union zu überweisen. – Damit sind
die Arme zu greifen, geht es Ministerin Aigner und dem Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überwei-
Deutschen Bauernverband um die Entwicklung der sungen so beschlossen.
Landwirtschaft hin zu billigen Rohstofflieferanten.
Durch das Dumping dieser Produkte auf dem Weltmarkt Tagesordnungspunkt 31:
werden die Strukturen in den Entwicklungsländern zer- Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
stört. Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph
Wir fordern öffentliches Geld für öffentliche Güter Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
und gute Lebensmittel – nicht für chemische Intensivie- DIE LINKE
rung. Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsplätze in ländli- Extraprofite von Atom- und Kohlekraftwerks-
chen Regionen, Erhalt von Biodiversität und Gentechnik- betreibern abschöpfen
freiheit – das alles sind Leistungen, für die die Menschen
durchaus bereit sind, die Landwirtschaft zum Teil mit öf- – Drucksache 17/3673 –
fentlichen Geldern zu fördern. Essen ist Leben, Essen für Überweisungsvorschlag:
alle und Bio und Fair ernährt mehr – das sind heute die Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Themen in der Gesellschaft. Wir fordern die Bundesre- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
gierung auf, daran zu arbeiten, dass nicht 50 Prozent Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
der Lebensmittel weggeworfen und 30 Millionen Hektar Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7795

(A) Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): schen Betriebe, die großen Industrieunternehmen und (C)
Heute zu später Stunde sprechen wir erneut über die die Verbraucher angewiesen. Wir haben durchgesetzt,
Besteuerung der Energiewirtschaft. Die Linke fordert dass die strom- und energieintensiven Unternehmen
drei neue Steuern für die Betreiber von Atom- und nicht zu stark belastet werden. Wir setzen mit der Kern-
Kohlekraftwerken. brennstoffsteuer bewusst bei den Energieerzeugern an.
Indem wir einen Großteil der Gewinne der Kernkraft-
Erst vor wenigen Tagen haben wir im Bundestag in werksbetreiber abschöpfen, lösen wir keine direkten
zweiter und dritter Lesung das Kernbrennstoffsteuerge- Preisreaktionen im Markt aus. Strompreise bilden sich
setz verabschiedet. Jetzt kramen die Linken einen An- heute an den Börsen. Den Strompreis beeinflussen die
trag heraus, der erstens die eben eingeführte Kern- teureren fossilen Grenzkraftwerke weit stärker als die in
brennstoffsteuer abschaffen will und zweitens anstelle der Stromproduktion günstigeren Kernkraftwerke. Mit
derer gleich drei neue Steuern fordert. Ihrer Energiepolitik wälzen Sie die Steuerlast letztend-
Sehr geehrte Linksfraktion, ich glaube, Sie haben den lich auf die Verbraucher ab. Damit sind wir nicht einver-
richtigen Zeitpunkt für Änderungen verschlafen. Ihre standen.
Änderungsvorschläge hätten Sie in die Diskussion ein-
bringen sollen, als wir in den vergangenen Wochen über Zweitens. Die Forderung, die neuen Steuern nicht als
das Energiekonzept und die Kernbrennstoffsteuer hier abzugsfähige Betriebsausgaben gelten zu lassen, ist me-
im Parlament und in den zuständigen Ausschüssen de- thodisch unmöglich. Sie können das zwar gerne kritisie-
battiert haben. ren, aber diese Steuer ist eine Ausgabe. Sie mindert das
Betriebsergebnis der Unternehmen. So etwas können
Aber ich wiederhole mich gerne, um Ihnen den Zu- nur Leute fordern, die noch nie eine Bilanz gelesen ha-
sammenhang zu erklären. Die Kernbrennstoffsteuer ben oder von der Planwirtschaft träumen.
bringt dem Bund jährlich 2,3 Milliarden Euro Steuerein-
nahmen und wird für den Schuldenabbau im Rahmen Drittens. Ihr Zeitplan ist absolut unrealistisch. Schon
des Sparpakets genutzt. Wir halten diese Steuer aus öko- bei dem Haushaltsbegleitgesetz und dem Kernbrenn-
logischen und ökonomischen Gründen für richtig und stoffsteuergesetz waren wir knapp in der Zeit, um eine
zielführend. Sie steht gleichzeitig im Einklang mit dem Einführung zum 1. Januar 2011 sicherzustellen. Ihre
Energiekonzept der Bundesregierung, welches ebenfalls Forderungen sind jetzt nicht umzusetzen. Sie kennen die
breit diskutiert wurde. parlamentarischen Abläufe. Auch die Industrie und die
Finanzbehörden, in dem Fall der Zoll, benötigen einen
Die Einführung der Kernbrennstoffsteuer ist richtig, ausreichenden Vorlauf.
da die Kernenergie eben nicht vom CO2-Emissionshan-
del betroffen ist und somit gegenüber anderen Energie- Und viertens. Die Erhebung Ihrer sogenannten „Ab-
(B)
trägern bevorzugt war. Wir halten das auch für richtig, schöpfungssteuer“ ist ohne die Europäische Union (D)
weil gerade die Kosten für Endlagerung und für den überhaupt nicht möglich. Wir haben bewusst darauf ge-
Rückbau der Kernkraftwerke im Wesentlichen vom Steu- achtet, dass die Kernbrennstoffsteuer grundsätzlich mit
erzahler in Deutschland getragen werden. Wir halten EU-Recht kompatibel ist. Denn Brennelemente werden
das für richtig, weil der Strommarkt mehr Chancen- nicht von der EU-Energiesteuerrichtlinie erfasst.
gleichheit braucht und gerade die großen vier nationa- Die Energiepolitik von CDU, CSU und FDP und das
len Stromversorger hier einen Wettbewerbsvorteil Energiekonzept der Bundesregierung geben Sicherheit
gegenüber vielen kleinen und mittelständischen Stro- für langfristige Planungen und Investitionen in Deutsch-
manbietern haben. Auch hier wollen wir Chancenge- land. Wir gehen einen verlässlichen Weg – das unter-
rechtigkeit und mehr Wettbewerb. scheidet uns von den anderen Parteien. Den Antrag der
Man muss auch sagen, dass der Begriff „Steuer“ irre- Linkspartei können wir nicht unterstützen.
führend ist. Es handelt sich im Wesentlichen nicht um
eine Steuer, sondern um einen Subventionsabbau. Auch Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
das ist Teil des Sparpakets. Deshalb sagen wir: Es wer- Ihre Idee, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
den die wirtschaftlichen Vorteile der Kernenergie redu- Linken, die Windfallprofits abzuschöpfen, ist – zumin-
ziert und zusätzliche Anreize für regenerative Energien dest was die Atomwirtschaft betrifft – nicht neu. Die
geschaffen. Das ist in den kommenden Jahren der rich- SPD-Fraktion hat schon Anfang Juli dieses Jahres einen
tige Weg und entspricht im Grundsatz auch Ihrem Ansin- fast gleichlautenden Antrag in den Bundestag einge-
nen. bracht. Im Grundsatz scheinen Sie also mit unserer For-
Aber genau betrachtet ist der Antrag der Linkspartei derung übereinzustimmen, was wir begrüßen. Ihr An-
wieder ein Beispiel für einfach durchschaubaren Popu- trag gibt mir die Gelegenheit, unser Konzept noch
lismus, mit dem Sie die Menschen verunsichern wollen. einmal vorzustellen.
In fünf Spiegelstrichen und acht Sätzen meinen Sie, die
Die Atomenergiebetreiber sind in der Tat begünstigt,
Frage der Energiebesteuerung neu lösen zu wollen. Wir
müssen sie doch keine CO2-Zertifikate kaufen. Dies liegt
werden mit Sicherheit nicht die Kernbrennstoffsteuer
daran, dass die Kraftwerke bei der Energieerzeugung
abschaffen und gegen Ihre halbherzigen Schnellschüsse
kein CO2 ausstoßen. Bei Betrachtung der gesamten
austauschen. Dafür nenne ich Ihnen vier Gründen.
Wertschöpfungskette – angefangen vom Uranabbau bis
Erstens. Wir wollen, dass Energie in Deutschland be- hin zur Zwischenlagerung – relativiert sich dieser
zahlbar bleibt. Darauf sind die kleinen und mittelständi- Aspekt dann wieder. Das hilft uns aber nicht weiter. Die

Zu Protokoll gegebene Reden


7796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Ingrid Arndt-Brauer
(A) CO2-Emissionszertifikate, die ab 2005 zugeteilt wurden dete Steuer nur beim erstmaligen Einsatz von Brennele- (C)
und ab dem Jahre 2013 in vollem Umfang erworben menten fällig wird, können die Betreiber der Regierung
werden müssen, wurden von den Atomkraftwerksbe- gleich am Anfang einen schmerzhaften Einnahmeverlust
treibern einfach eingepreist. Die daraus entstehenden zufügen.
Mitnahmegewinne betragen laut Ökoinstitut circa
3,4 Milliarden Euro. Der Wettbewerb zwischen den Wir als SPD haben daher gefordert, die Steuer zu-
Energieerzeugern wird durch die direkte und indirekte nächst auf 220 Euro pro Gramm Brennstoff anzuheben,
Subventionierung der Atomenergiewirtschaft erheblich da diese Angabe aus dem ursprünglichen Referentenent-
verzerrt. wurf des Gesetzes zumindest das für die Haushaltskon-
solidierung vorgesehene Aufkommensvolumen sichert.
Im Gegenzug zu den wirtschaftlichen Vorteilen der Weitere 50 Euro pro Gramm Brennstoff müssen hinzu-
Atomenergieerzeuger haben sich die wirtschaftlichen kommen, um die Kürzungen der Bundesregierung im
Rahmenbedingungen der Nutzung der Atomenergie zur Haushaltsentwurf 2011 bei den Ausgabetiteln der natio-
gewerblichen Stromerzeugung in den letzten zehn Jah- nalen Klimaschutzinitiative und der Förderprogramme
ren gravierend verändert. Die Kosten für eine sichere für erneuerbare Energien, aber auch die Kürzungen des
Lagerung radioaktiver Abfälle und die notwendige Sa- CO2-Gebäudesanierungsprogramms über den Fonds
nierung vorhandener Lagerstätten haben sich verviel- auffangen zu können. Darüber sind weitere 30 Euro pro
facht, wodurch sich die bisher erhobenen Kosten für die Gramm Brennstoff notwendig, um die vorgesehene Ab-
Benutzung der Anlagen als nicht deckend erweisen. Ab- gabe der Kernkraftwerksbetreiber an den Fonds als Ge-
zuwarten bleibt, ob die verpflichtenden steuerbegünstig- genleistung für die Laufzeitverlängerung zu ersetzen, da
ten Rückstellungen der Atomkraftwerksbetreiber für diese von der SPD-Fraktion abgelehnt wird. Zu guter
Stilllegung, Entsorgung und Rückbau ausreichen und Letzt brauchen wir nochmals 40 Euro pro Gramm
die benötigten Gelder fristgerecht verfügbar sein wer- Brennstoff, um die steuerlichen Einnahmeausfälle der
den. Letztlich müssen die Kosten, die nicht von den Ver- Länder und Kommunen zu kompensieren, da die Brenn-
ursachern getragen werden, wie in den vergangenen elementesteuer den Gewinn der Unternehmen schmä-
Jahrzehnten vom Staat und damit den Steuerzahlern fi- lert. Wer jetzt mitgerechnet hat, kommt in Summe auf
nanziert werden. Das ist ein vollkommen untragbarer eine Steuer von 340 Euro pro Gramm Kernbrennstoff.
Zustand.
Damit eine Besteuerung von Brennelementen ihre
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und volle Wirksamkeit entfalten kann, haben wir immer ge-
Reaktorsicherheit beziffert die künftigen Ausgaben des fordert, die Befristung zu streichen, was uns ja leider
Bundes allein für die Stilllegung und den Rückbau kern- nicht gelungen ist. Es ist unverantwortlich, der Gesell-
technischer Anlagen, darunter die Endlager Asse II und schaft durch die Laufzeitverlängerung höhere Risiken (D)
(B)
Morsleben, mit mindestens 7,7 Millarden Euro. Gerade und Kosten zu zumuten, die Verursacher aber weitaus
in Morsleben wurden während der Amtszeit der damali- früher – nämlich schon im Jahr 2016 – aus ihrer Verant-
gen Bundesumweltministerin Merkel erhebliche Mengen wortung zu entlassen.
radioaktiven Materials aus den alten Bundesländern
einlagert. Die Brennelementesteuer ist ein guter und gangbarer
Weg, Extragewinne der Atomkraftbetreiber abzuschöp-
All diese Umstände erfordern es dringend, die den fen, wenn so ausgestaltet worden wäre, wie wir es als
Atomkraftbetreibern zufallenden leistungslosen Ge- SPD vorgeschlagen haben. Wir hätten uns gefreut, ver-
winne angemessen abzuschöpfen; da sind wir uns mit ehrte Kollegen und Kolleginnen der Linken, wenn Sie
Ihnen vollkommen einig. Die SPD hat sich abweichend unseren Antrag mitgetragen hätten. Ihrem Antrag kön-
zum heute debattierten Antrag der Linken für die Erhe- nen wir schon alleine deshalb nicht zustimmen, da er
bung einer Brennelementesteuer entschieden. Auf die nur auf das von der Regierung erstellte Steuerkonzept
Preisbildung an der Strombörse hätte eine solche Steuer abzielt und die Brennelementesteuer als Instrument ab-
– wie die Auktionierung von Emissionszertifikaten – lehnt.
keine Auswirkung, da sie sich an den Produktionskosten
des sogenannten Grenzkraftwerks orientiert; dies ist in Dr. Birgit Reinemund (FDP):
der Regel ein Kohlekraftwerk. Die von Schwarz-Gelb Seit zehn Jahren warteten wir darauf: Die christlich-
verabschiedete Kernbrennstoffsteuer in Höhe von liberale Koalition hat jetzt endlich mit ihrem Energie-
145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff ist absolut unzu- konzept einen belastbaren Fahrplan für die Energiever-
reichend, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Nach sorgung vorgelegt. Wir gehen den Weg ins Zeitalter der
einhelliger Auffassung aller im Rahmen der Anhörung erneuerbaren Energien unter Berücksichtigung von Kli-
des Haushaltsausschusses am 14. Oktober 2010 gehör- maschutz, Versorgungssicherheit und bezahlbarer Ener-
ten Sachverständigen ist das Regierungskonzept noch giepreise. Die Koalition wird mit ihrem ehrgeizigen
nicht einmal geeignet, um das Einnahmeziel von jähr- Energiekonzept sicherstellen, dass die Verlängerung der
lich 2,3 Milliarden Euro zu erzielen. Sie ist erst recht Restlaufzeiten den Stromkunden und nicht den Stromer-
nicht geeignet, Einnahmen über diese 2,3 Milliarden zeugern dient.
Euro hinaus an den Energie- und Klimafonds abzufüh-
ren. Das zeigen schon die Vorgänge beim Kraftwerk in Der Antrag der Fraktion Die Linke dagegen ist – wie-
Biblis, wo die Betreiber den Austausch von Kernbrenn- der einmal – ein Zeugnis typisch linker Ideologie und
stäben einfach schon auf dieses Jahr vorgezogen wird. hat nur das eine Ziel: Unternehmen müssen geschröpft
Da die von der schwarz-gelben Koalition verabschie- werden. Das gilt besonders für große Unternehmen und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7797
Dr. Birgit Reinemund
(A) erst recht, wenn es sich um Betreiber von Kernkraftwer- 1. Januar 2011 in Kraft tritt. Denn sie gilt nur für solche (C)
ken handelt. Bei Ihrem Kreuzzug gegen die Wirtschaft, Brennelemente, die neu eingewechselt werden. Es liegt
hier konkret gegen die Betreiber von Kraftwerken, ist Ih- förmlich auf der Hand, dass RWE nun frühzeitig neue
nen völlig entgangen, dass die jetztige Bundesregierung Stäbe einsetzen will, um die Steuer zu umschiffen. RWE
bereits gehandelt hat. Wir haben mit den Unternehmen spart dadurch 280 Millionen Euro. Es ist kein Wunder,
einen Vertrag geschlossen, der genau diese Gewinnab- dass andere Atomkonzerne nun Ähnliches vorhaben.
schöpfungen regelt. Wir haben darüber hinaus beschlos-
Würde die Besteuerung der AKWs nach dem Konzept
sen, zum 1. Januar 2011 für die Betreiber von Kernkraft-
unseres Antrags durchgeführt, wären solche Schlupflö-
werken in Deutschland eine Steuer auf den Verbrauch
cher geschlossen. Allerdings wollen Union und FDP sie
von Brennstäben einzuführen. Diese Kernbrennstoff-
wohl gar nicht schließen. Schließlich war die Bundesre-
steuer bringt dem Bund jährlich rund 2,3 Milliarden
gierung frühzeitig über das Vorhaben von RWE infor-
Euro Steuereinnahmen.
miert – zwei Wochen, bevor das Kernbrennstoffsteuerge-
Die neue Steuer wird zeitlich begrenzt von 2011 bis setz hier im Haus durchgepeitscht wurde. Zudem hätte
2016 erhoben. Wir schöpfen die Gewinne der Kernkraft- Schwarz-Gelb eine Bremse gegen Vorzieheffekte ein-
werksbetreiber in Milliardenhöhe – zu über 50 Prozent – bauen können, wie bei der neuen Flugticketsteuer ge-
ab und fördern erneuerbare Energien mit zweistelligen schehen. Diese wird nämlich rückwirkend zum 1. Sep-
Milliardenbeträgen. Hinzu kommen ab 2013 die Einnah- tember eingeführt, dem Tag des Kabinettsbeschlusses.
men aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten, So soll vermieden werden, dass sich Reisende noch
die zum Großteil in erneuerbare Energien, Energieeffi- schnell mit steuerfreien Flügen fürs nächste Jahr einde-
zienz und in die Forschung investiert werden. Das heißt cken.
konkret: Der konventionelle Kraftwerkspark aus Kern- Ohnehin ist die von der Regierung vorgesehene Ab-
energie, Kohle und Gas finanziert letztendlich den Über- schöpfung von Sondergewinnen aus der Laufzeitverlän-
gang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. gerung ein Witz. Nach Berechnungen des Öko-Instituts
Zusätzlich zur Kernbrennstoffsteuer wird den Ener- kassieren die Atomkonzerne zusätzlich zwischen 58 Mil-
gieerzeugern ein substanzieller Beitrag zur Förderung liarden Euro und 94 Milliarden Euro. Hinzu kommen
erneuerbarer Energien abverlangt. Durch eine vertrag- Finanzerträge aus den Rückstellungen für den Rückbau
liche Vereinbarung leisten die Betreiber in den Jahren und die Entsorgung der Atomkraftwerke bzw. der abge-
2011 bis 2016 Zahlungen in einer Höhe von bis zu brannten Brennelemente in Höhe von zirka 20 Milliar-
300 Millionen Euro jährlich. Wir haben von Anfang an den Euro. Nach den Plänen der Bundesregierung soll
gesagt, wir wollen die Kernenergie in einer Größenord- nur weniger als die Hälfte davon abgeschöpft werden,
vielleicht auch nur ein Drittel.
(B) nung der Hälfte der Windfall Profits abschöpfen. Das (D)
haben wir auch getan. Das ist gerechtfertigt, sinnvoll Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
und angemessen. haben mit der Laufzeitverlängerung nicht nur gegen den
Darüber hinaus sehen wir aber auch, dass es ein legi- Willen der Mehrheit der Bevölkerung agiert und eine
times Interesse von Unternehmen gibt, Gewinne zu er- Energiepolitik ins Gestern eingeleitet. Sie schustern den
wirtschaften. Für die Linken ist dies moralisch verwerf- Atomkonzernen dabei auch noch Dutzende Milliarden
lich, und deshalb sind jeder Gewinn und jedes Vermögen zu. Somit stärken sie auch über die Steuerpolitik die
so hoch wie möglich zu versteuern; egal ob bei Unter- Marktmacht der „Großen Vier“ und behindern so eine
nehmen oder den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei zukunftsfähige Energieversorgung.
schießen sie regelmäßig über das Ziel hinaus. Die sogenannten windfall profits, um die es hier geht,
Aber: Die Forderung der Linken nach noch mehr Ge- gibt es nicht erst seit der Laufzeitverlängerung. Sie sind
winnabschöpfung entlarvt sich selbst als ideologisch, ein grundsätzliches Problem, auch für fossile Kraft-
widersprüchlich und populistisch. In Ihrem Antrag ge- werke, und zwar seit der Einführung des Europäischen
hen Sie natürlich nicht darauf ein, dass noch mehr Ge- Emissionshandelssystems im Januar 2005. Seitdem prei-
winnabschöpfung zulasten der Körperschaftsteuer, sen die Stromversorger die Marktpreise der CO2-Emis-
sprich des Bundes, und natürlich auch zulasten der Ge- sionsberechtigungen als Opportunitätskosten in die
werbesteuer geht und damit die Standort-Kommunen zu- Strompreise ein. Dies tun sie unbeschadet der Tatsache,
sätzlich belastet. Andererseits lassen Sie keine Gelegen- dass 91 Prozent der Zertifikate an die Kraftwerksbetrei-
heit aus, dies dieser Regierung vorzuwerfen. Das ist ber kostenlos zugeteilt wurden. Auf diese Weise erzielen
heuchlerisch. die Energieversorger jährliche Sondergewinne in Mil-
liardenhöhe, welche die Verbraucherinnen und Verbrau-
Ich stelle fest: Diese Regierung hat den richtigen Weg cher mit ihrer Stromrechnung bezahlen. Darauf hat die
beschritten: mit Augenmaß und Vernunft. Linke seinerzeit als erste Partei aufmerksam gemacht.
Seitdem haben wir immer wieder Änderungen ange-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): mahnt, etwa eine „windfall-profit-tax“. Passiert ist aber
nichts. Selbst den anderen Oppositionsparteien war dies
Letzte Woche ging durch die Presse, dass RWE noch
lange Zeit egal, aus welchen Gründen auch immer.
in diesem Jahr die Hälfte der 193 Brennelemente des
Atomkraftwerks Biblis B austauschen will. Es ist leicht Verschärft wird das Problem dadurch, dass am durch
durchschaubar, worum es dabei geht: Der Konzern will die Zertifikatskosten erhöhten Strompreis nicht nur Be-
schlicht die Brennelementesteuer umgehen, die zum treiber von Kohle- oder Gaskraftwerken verdienen.

Zu Protokoll gegebene Reden


7798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

Eva Bulling-Schröter
(A) Gleichfalls profitieren davon Betreiber von Atomkraft- aber auch das Volk und die Exekutive teuer zu stehen. (C)
werken, obwohl ihre Anlagen überhaupt nicht emissions- Jeder Tag Laufzeit bringt dagegen den Energiekonzer-
handelspflichtig sind. Schließlich setzten die laufenden nen Eon, RWE, EnBW und Vattenfall pro Atommeiler
Kosten jenes Kraftwerks den Handelspreis für alle Bör- einen Gewinn von 1 Million Euro. Strom fürs Ausland,
sengeschäfte am Elektrizitätsmarkt, welches als letztes satte Gewinne für die Stromgroßkonzerne und ihre Ak-
noch benötigt wird, um die aktuelle Stromnachfrage zu tionäre; der Jahrtausende strahlende Müll jedoch bleibt
bedienen. Dieses Kraftwerk ist in der Regel ein Stein- für das Volk übrig. Wen wundert da, dass eine im letzten
kohle- oder Gaskraftwerk; beide preisen den jeweils ak- Jahrtausend vergessen geglaubte Volksbewegung sich
tuellen CO2-Handelspreis in ihr Angebot ein. So steigen verjüngt in Bewegung setzt und den Widerstand als ihr
auch bei Atomkraftwerken durch den nunmehr höheren Bürgerrecht wieder entdeckt.
Strompreis die Einnahmen. Aus den genannten Gründen
Gegen den Volkszorn hilft es auch nicht, dass die
wollen wir mit unserem Antrag all jene windfall profits
Bundesregierung sich mit dem vereinbarten Ablasshan-
vollständig kassieren, die aufgrund der Preiseffekte des
del ein nettes Deckmäntelchen ausgedacht hat: Die
Emissionshandels anfallen – egal ob nun bei Kohlekraft-
Atomkonzerne sollen einen Teil ihrer Zusatzgewinne in
werken oder Atommeilern.
einen Energie- und Klimafonds einzahlen, damit man
Gleichzeitig will ich klarstellen, dass die Linke für die mit dem Geld dann erneuerbare Energien fördern kann.
Atomkraft den unverzüglichen Ausstieg fordert. Wir wol- Grüne bezweifeln, durch Rechtswissenschaftler ge-
len uns also nicht mit den Verhältnissen anfreunden, stützt, dass eine solche Konstruktion mit der Finanzver-
etwa weil dann noch irgendwelche Steuern flössen. In fassung überhaupt in Einklang steht, also rechtlich mög-
unserem Antrag geht es vielmehr unabhängig von der lich und verfassungskonform ist. Klar ist: Der Staat
Laufzeitverlängerung darum, Extraprofite der Energie- finanziert sich und seine Aufgaben über Steuern. Davon
erzeuger zu kassieren, die diese leistungs- und risikolos sollen laut Röttgen auch Atommülltransportmehrkosten
einstreichen. Dies wollen wir mit drei Sondersteuern er- und Endlagersanierungen – wie bei der bald abgesoffe-
reichen: zwei für Betreiber von Atomkraftwerken und nen Asse – bezahlt werden. Folglich ist die Einführung
eine für Betreiber emissionshandelspflichtiger Anlagen einer Brennelementesteuer grundsätzlich ein richtiger
der fossilen Stromwirtschaft. Ansatz. Daneben kennt die Rechtsordnung seit langem
Die erste Atomsteuer dient direkt zur Abschöpfung auch nichtsteuerliche Abgaben, insbesondere Gebühren,
der windfall profits. Sie soll 2 Cent je Kilowattstunde Beiträge und Sonderabgaben. Diese bedürfen jedoch
Atomstrom für das Jahr 2011 betragen. In den Folgejah- stets einer besonderen Rechtfertigung, also eines sach-
ren soll sie an die Preisentwicklung für Emissionsbe- lich rechtfertigenden Grundes und einer klaren Zweck-
bindung. Nach meiner Auffassung entspricht aber der
(B) rechtigungen angepasst werden. Denn zwischen den (D)
Handelspreisen der Zertifikate und der Höhe der Extra- sogenannte Förderfondsvertrag zur Bildung von Son-
profite besteht ein enger Zusammenhang. Zusätzlich dervermögen nach dem Energie- und Klimafonds dieser
wollen wir bei jedem Atomkraftwerk jährlich eine Steuer Maßgabe nicht. Mit seinen Unwägbarkeiten auf der Ein-
von 100 000 Euro pro Megawatt Nettokapazität erhe- nahmeseite und seinem schwammigen Verwendungs-
ben. Damit sollen sich die AKW-Betreiber an den volks- zweck ist dieser Vertrag eine Mogelpackung. Der Deal
wirtschaftlichen Kosten beteiligen, welche die Atom- mit den Energieversorgern lautet: Geld statt Sicherheit.
kraft der Gesellschaft aufbürdet. Die Ausgaben sollen sich nach den Plänen der Bundes-
regierung an ihrem fatalen Energiekonzept orientieren,
Für Betreiber von emissionshandelspflichtigen, fossil um dessen Wirksamkeit und Effizienz zu verbessern. Es
befeuerten Kraftwerken sehen wir im Jahr 2012 ebenfalls reicht der gesunde Menschenverstand, um zu begreifen:
eine Steuer zur Abschöpfung der windfall profits vor, und Das Vertragswerk ist Ausverkauf von Hoheitsrechten
zwar für jedes zugeteilte Zertifikat in Höhe des durch- der Bundesregierung an die Energiekonzerne.
schnittlichen Zertifikatspreises des Vorjahres. Ab 2013 er-
übrigt sich dann das Problem für die fossilen Kraftwerke, Insofern ist das Anliegen der Linken folgerichtig, die
denn ab diesem Zeitpunkt werden die CO2-Zertifikate Extraprofite abzuschöpfen, die bei Stromversorgungsun-
laut EU-Recht versteigert und nicht mehr verschenkt. ternehmen aus den Preiseffekten des Emissionshandels
Für die kostenlose Vergabe hatte sich Deutschland in der entstehen. Die Grünen unterstützen ihre Forderung die
EU seinerzeit ganz besonders stark gemacht, sowohl un- „Subventionierung der fossil-atomaren Energiewirt-
ter Rot-Grün, als auch unter der großen Koalition. Inso- schaft auf Kosten von Verbraucherinnen und Verbrau-
fern ist die Linke tatsächlich die einzige Partei, die sich chern sowie der öffentlichen Haushalte“ unverzüglich
konsequent gegen den Missbrauch dieses Klimaschutzin- zu beenden.
strumentes gewendet hat. Ich lade sie darum alle dazu Selbst für den Bundesverband Christlicher Demokra-
ein, nunmehr wenigstens etwas gegen die Auswüchse in ten gegen Atomkraft, in dem sich CDU- und CSU-Mit-
Form der Extraprofite zu unternehmen: Stimmen Sie ein- glieder für die Überwindung der Kernenergie organisie-
fach unserem Antrag zu. ren, sind Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke
schließlich ein „Ausdruck politischer Idiotie“.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei aller Sympathie für die Zielsetzung des Antrags:
Den Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung Er packt das Problem nicht richtig an. Anstatt auf eine
zwischen den Energieversorgern und der Bevölkerung vernünftige Ausgestaltung und Höhe der Brennelemen-
aufzukündigen, kommt die schwarz-gelbe Regierung, testeuer zu setzen, wie wir Grünen es tun, will die Linke

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7799
Sylvia Kotting-Uhl
(A) zwei neue Steuern auf Atomstrom einführen. Das macht Wir halten deshalb an unserem Konzept einer an- (C)
die Sache unnötig kompliziert und setzt sie rechtlichen spruchsvollen Brennelementesteuer fest. Das haben wir
Unwägbarkeiten aus. bereits im Juli in den Bundestag eingebracht.
Insbesondere die unter Punkt zwei geforderte Steuer
zum Ausgleich für externalisierte Schäden stünde recht- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
lich auf wackeligen Füßen. Schon die Frage, in welcher Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Höhe Kosten durch externalisierte Schäden angelegt Drucksache 17/3673 an die in der Tagesordnung aufge-
werden können, wäre mit Sicherheit Gegenstand lang- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie
jähriger gerichtlicher Auseinandersetzungen. Entspre- ebenfalls einverstanden. Dann ist auch diese Überwei-
chend fraglich ist unter steuerrechtlichen Aspekten die sung so beschlossen.
Festlegung auf 100 000 Euro pro Megawatt installierter
Nettoleistung. Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Die Zielrichtung des Antrags ist gut, die Ausführung Ich bedanke mich herzlich, dass Sie so lange ausge-
lässt Zweifel zu. Ich kann keinen Vorteil gegenüber dem harrt haben, wünsche Ihnen noch einen schönen Abend
Konzept einer Brennelementesteuer erkennen. Auch hier und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
haben wir durch die Besteuerung der Brennelemente die
tages auf morgen, Freitag, den 12. November, 9 Uhr, ein.
Möglichkeit, die Atomwirtschaft angemessen an den ge-
sellschaftlichen Kosten zu beteiligen. Mit dem Konzept Die Sitzung ist geschlossen.
der Linken würden wir dagegen Gefahr laufen, nach
jahrelangen Gerichtsprozessen leer auszugehen. (Schluss: 21.20 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7801

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
entschuldigt bis zur Abstimmung über die Beschlussempfeh-
Abgeordnete(r) einschließlich lung: Sammelübersicht 163 zu Petitionen (Ta-
gesordnungspunkt 38 q)
Ackermann, Jens FDP 11.11.2010 Ich lehne die Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses (2. Ausschuss) – Sammelübersicht 163 zu Peti-
van Aken, Jan DIE LINKE 11.11.2010 tionen – auf Drucksache 17/3465 ab, weil damit dem
Anliegen der Petentinnen und Petenten der unter dem
Bätzing-Lichtenthäler, SPD 11.11.2010 Stichwort „Hilfe für Behinderte“ zusammengefassten
Sabine Petitionen mit der laufenden Nummer 11 der oben ge-
nannten Drucksache nicht Rechnung getragen wird.
Buchholz, Christine DIE LINKE 11.11.2010
In diesen Petitionen fordern der Petent sowie 564 Mit-
Bülow, Marco SPD 11.11.2010 zeichnende und 36 Personen, die die Petition mit einem
Diskussionsbeitrag unterstützten, gesetzliche Mindest-
Ernst, Klaus DIE LINKE 11.11.2010 löhne für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit
Behinderungen
Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 11.11.2010
Der Petitionsausschuss kam mehrheitlichen, das heißt
Friedhoff, Paul K. FDP 11.11.2010 mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP zur Einschät-
zung, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil er „die
Granold, Ute CDU/CSU 11.11.2010 Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den
Werkstätten für behinderte Menschen nicht als sinnvoll“
Griese, Kerstin SPD 11.11.2010 ansieht, dem Anliegen des Petenten also nicht entspro-
chen werden konnte.
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 11.11.2010 Diese Einschätzung teile ich nicht. Deshalb werden (D)
(B)
die Fraktion Die Linke und ich gegen diese Beschluss-
Movassat, Niema DIE LINKE 11.11.2010
empfehlung stimmen.
Mücke, Jan FDP 11.11.2010 Warum sollten die Petitionen an die Bundesregierung
als Material und den Bundestagsfraktionen zur Kenntnis
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.11.2010 gegeben werden? Das war der (abgelehnte) Vorschlag
aus der Opposition.
Oswald, Eduard CDU/CSU 11.11.2010
Die derzeitige Situation von Beschäftigten in WfbM
Röspel, René SPD 11.11.2010 widerspricht in eklatanter Weise der UN-Behinderten-
rechtskonvention, die seit März 2009 in Deutschland
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 11.11.2010 geltendes Recht ist.

Schreiner, Ottmar SPD 11.11.2010 In Art. 27 „Arbeit und Beschäftigung“ geht es unter
anderem um das Recht von Menschen mit Behinderung,
Dr. Schwanholz, Martin SPD 11.11.2010 den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Dies ist
für die über 270 000 Beschäftigten in den circa 700
Dr. Sieling, Carsten SPD 11.11.2010 WfbM mit einem derzeitigen durchschnittlichen monatli-
chen (!) Arbeitsentgelt von 160 Euro nicht möglich.
Dr. Steinmeier, Frank- SPD 11.11.2010 Die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen,
Walter welche Einkommen ermöglichen, die oberhalb von
Hartz IV oder der Grundsicherung nach SGB XII liegen,
Ulrich, Alexander DIE LINKE 11.11.2010
wäre auch für Beschäftigte in Werkstätten ein wichtiger
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 11.11.2010 Schritt für ein menschenwürdiges selbstbestimmtes Leben
in der Gesellschaft. Die bestehende nachteilsausglei-
Werner, Katrin DIE LINKE 11.11.2010 chende Rentenregelung für Werkstattbeschäftigte könnte
dabei weitergeführt werden. Dieser Aufgabe dürfen sich
Wicklein, Andrea SPD 11.11.2010 die Bundesregierung, der Bundestag und die Gesell-
schaft nicht länger verschließen.
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 11.11.2010 Deshalb stimme ich nicht dafür, die Petition zum
Mindestlohn für Beschäftigte in Werkstätten für Men-
7802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) schen mit Behinderungen abzuschließen, ohne sich des jene Unternehmen, die nach § 129 des Fünften Buches (C)
berechtigten Anliegens anzunehmen und die Bundesre- Sozialgesetzbuch Arzneimittel reimportieren, in Zukunft
gierung aufzufordern, akzeptable Lösungsvorschläge zu nicht mehr wettbewerbsfähig sind und dauerhaft ein
erarbeiten. struktureller Eingriff in den Wettbewerb erfolgt, der
nicht in meinem liberalen Interesse ist.
Ich sage den Unterzeichnern der Petition: Die Linke
fordert gute Bezahlung für gute Arbeit und einen ange- Diese Regelung belastet die Reimporteure von Arz-
messenen gesetzlichen Mindestlohn – für Menschen mit neimitteln unverhältnismäßig stark und hätte zudem gra-
und ohne Behinderungen. In diesem Sinne wird sie – ge- vierende wirtschaftliche Folgen: Allein im Saarland sind
meinsam mit den Petenten und Behindertenverbänden – aufgrund dieser Regelung sozialversicherungspflichtige
weiterhin aktiv kämpfen. Arbeitsplätze direkt gefährdet.
Gleichwohl erkenne ich an, dass die christlich-libe-
rale Koalition, die erste Koalition ist, die eine struktu-
Anlage 3 relle Reform des Arzneimittelmarktes geleistet hat und
Erklärung nach § 31 GO somit einen wesentlichen Beitrag, die unkontrolliert stei-
genden Kosten im Arzneimittelmarkt zu begrenzen, wo-
des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur na- von im Wesentlichen die Patienten und die Krankenkas-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines sen profitieren.
Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmark-
tes in der gesetzlichen Krankenversicherung
(Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG)
(Tagesordnungspunkt 5 a) Anlage 4
Ich stimme dem Gesetzentwurf der Koalition heute Erklärung nach § 31 GO
zu, auch wenn dies aufgrund der Regelungen, welche die der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen)
Arzneimittelimporteure betreffen, nur unter großen Be- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim-
denken geschehen kann. mung über den Antrag: Freiheit für Gilad
Das AMNOG ist prinzipiell begrüßenswert, da die Shalit (Tagesordnungspunkt 11 a)
aktuellen Zahlen eindeutig belegen, dass eine Begren- Dem Antrag „Durch einen humanitären Akt Frieden
zung des Anstiegs der Arzneimittelkosten notwendig ist, befördern – Gilad Shalit freilassen“ (Antrag der Fraktion
um das Gesundheitsversorgungssystem in Deutschland Die Linke; Bundestagsdrucksache 17/3431) kann ich
nicht in eine fatale Schieflage kippen zu lassen. nicht zustimmen.
(B) (D)
Die GKV gab allein 32,4 Milliarden Euro im Jahr Der Antrag unterschlägt den entscheidenden Fakt,
2009 für die Arzneimittelversorgung aus, was einem An- dass der junge israelische Soldat Gilad Shalit bei einem
teil von 18 Prozent an ihren Gesamtausgaben ausmacht. Al- Angriff militanter Palästinensergruppen verletzt und auf
lein im ersten Quartal diesen Jahres stiegen die Kosten israelischem Boden gekidnappt wurde. Dieser Tatbe-
für Arzneimittel um knapp 5 Prozent im Vergleich zum stand unterstreicht die Völkerrechtswidrigkeit des Fest-
Vorjahr. haltens von Gilad Shalit und muss daher in einem Antrag,
Vor dem Hintergrund, dass den Patienten auch in Zu- in dem die Freilassung von Gilad Shalit gefordert wird,
kunft die bestmögliche Versorgung garantiert sein muss erwähnt werden.
– was vor allem auch eine Behandlung mit den wirk- Ebenso wenig kann ich dem Passus „Der Zusammen-
samsten und besten Arzneimitteln beinhaltet – und vor hang zwischen israelischer Besatzungspolitik und der
dem Hintergrund, dass dabei auch die Finanzierbarkeit Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit
der GKV gewahrt werden muss, ist das AMNOG ein liegt auf der Hand“ zustimmen. Dieser wirkt wie eine
effektives Instrument, welches durch seinen Ansatz die Rechtfertigung für das verbrecherische Kidnapping des
Preisfindung im Arzneimittelmarkt neu justiert. 19-jährigen Soldaten. Diese Tat ist aber ein völkerrechts-
Allerdings bin ich der Meinung, dass bei der durch widriges Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen
das Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrecht- ist.
licher und anderer Vorschriften verschärften Regelung Auch die Forderung der Linkspartei, dass die Freilas-
zu den Herstellerrabatten Verbesserungsbedarf besteht: sung von Gilad Shalit als humanitäres Zeichen für die
So leistet der Parallelhandel mit Arzneimitteln seit Freilassung palästinensischer Häftlinge genutzt werden
über 30 Jahren einen kontinuierlichen Anteil zur Kosten- soll, kann ich in diesem Kausalzusammenhang nicht un-
senkung im Arzneimittelbereich. Der durchschnittliche terstützen, auch nicht, dass in diesem Zusammenhang
Preisabstand zwischen Originalarzneimittel und Import- der inhaftierte Generalssekretär der Fatah, Marwan
arzneimittel beträgt gegenwärtig circa 10 Prozent. Barghuthi, genannt wird. Marwan Barghuthi ist von is-
raelischen Gerichten wegen der Verantwortung für die
Umso mehr bedauere ich, dass diese bereits bestehen- Ermordung von 26 Menschen sowie wegen der Mit-
den kostendämpfenden Elemente bei den Beratungen gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu fünf-
zum AMNOG nicht hinreichend berücksichtigt worden mal lebenslanger Haft verurteilt worden. Amnesty Inter-
sind. Mit der Erhöhung des Herstellerabschlags von national, die zu Recht humane Haftbedingungen und die
6 auf 16 Prozent besteht schlichtweg die Gefahr, dass Aufklärung von Foltervorwürfen im Fall des inhaftierten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7803

(A) Marwan Barghuthi fordern, schreiben zum Hintergrund tenschutz müssen diese Informationen, unabhängig vom (C)
seiner Inhaftierung: „Die Fatah wiederum ist für zahlrei- jeweiligen Berufsgeheimnisträger, unter den Schutz des
che Anschläge in den besetzten Gebieten, darunter auch § 53 a StPO fallen. Der Gesetzentwurf sieht vor, das für
auf israelische Zivilisten, verantwortlich. Marwan die in § 53 a und § 160 a Abs. 1/2 StPO aufgelisteten Be-
Barghuthi soll außerdem enge Verbindungen zu den Al- rufsgeheimnisträger – Geistliche, Strafverteidiger und
Aksa-Brigaden haben, einer bewaffneten palästinensi- Abgeordnete – geltende absolute Erhebungs- und Ver-
schen Gruppierung mit Kontakten zur Fatah, die für wertungsverbot von Ermittlungsmaßnahmen aus den ge-
viele bewaffnete Angriffe und Selbstmordattentate auf nannten Gründen auf Rechtsanwälte im Sinne der
israelische Staatsbürger, darunter auch Zivilisten, in Is- §§ 206, 209 Bundesrechtsanwaltsordnung, BRAO, aus-
rael und den besetzten Gebieten verantwortlich ist.“ zuweiten.
Aus diesem Grund ist es nicht statthaft, die Freilas- Die Neufassung des § 160 a StPO sieht demnach eine
sung des 19-jährigen Soldaten Gilad Shalit, der völker- Erweiterung der in § 53 Abs. 1. Satz 1 Nr. 1, 2, 4 ge-
rechtswidrig auf israelischem Staatsgebiet entführt nannten Personen um einen Rechtsanwalt, eine nach
wurde, mit der Freilassung des Fatah-Generalsekretärs § 206 der BRAO in eine Rechtsanwaltskammer aufge-
Barghuthi in Verbindung zu bringen. nommene Person oder einen Kammerrechtsbeistand vor.
Auch die wichtigste Forderung im interfraktionellen Bisher galt für Rechtsanwälte das relative Erhebungs-
Antrag „Gilad Shalit muss umgehend zu seiner Familie und Verwertungsverbot – § 160 a StPO Abs. 2 – von Be-
zurückkehren dürfen“ wird in dieser Klarheit im Antrag weismaterial, was jedoch eine – im Einzelfall geltende –
der Partei Die Linke nicht ausgesprochen. Unter diesen Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt. Maßstab die-
Voraussetzungen, kann ich den Antrag der Linkspartei ser Prüfung ist das Vorliegen „einer Straftat von erhebli-
nicht unterstützen. cher Bedeutung“. Dieses abgestufte System erscheint
vor dem Hintergrund der beruflichen Schnittmengen
nicht mehr sachgerecht.
Anlage 5 Stellungnahmen dazu:
Zu Protokoll gegebene Rede Der Bundesrat hat in seiner Empfehlung – 229/1/10 –
vom 21. Mai 2010 und in seiner Stellungnahme – Be-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur schluss 229/10 – vom 4. Juni 2010 keinerlei Einwände
Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhält- hinsichtlich des Gesetzesentwurfs 17/2637 geäußert. Der
(B) nissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht Bundesrat bittet jedoch darum, eine analoge Anpassung (D)
(Tagesordnungspunkt 9) bzw. Beseitigung der Vorschriften in § 20 u Bundes-
kriminalgesetz – BKAG – und die darin enthaltene Dif-
Dr. Peter Danckert (SPD): Der vorliegende Gesetz- ferenzierung zwischen Verteidigern und Rechtsanwälten
entwurf (Drucksache 17/2637) vom 22. Juli 2010 der zwecks Angleichung vorzunehmen.
Regierung zur Stärkung des Schutzes von Rechtsanwälten
im Strafprozessrecht ist – wie in meiner Rede im Rah- Die SPD-Fraktion hat im Rahmen ihrer Klausursit-
men der ersten Lesung am 30. September bereits unter- zung dieses Jahres beschlossen, der Erweiterung des
strichen – eine wichtige und notwendige Maßnahme, um Regierungsentwurfs zu § 160 a StPO zuzustimmen, die-
die bestehende Differenzierung zwischen Strafverteidi- sen allerdings bewusst auf die Berufsgruppe der Rechts-
gern und Rechtsanwälten – Initiativgrund – des § 160 a anwälte zu beschränken.
StPO in Ihrer Funktion als Berufsgeheimnisträger zu Der Änderungsantrag der Grünen und der Entschlie-
nivellieren. ßungsantrag der Linken, über die heute abgestimmt
Ursprünglich war der § 53 a der StPO einschlägig, der wird, sind daher in Ihrer aktuellen Form – ohne intensive
dann durch einen – von meiner Fraktion mitgetragenen Beratungen – abzulehnen. Ob der Einwand der beruf-
Änderungsantrag – in den § 160 a StPO Abs. 1 überge- lichen Ungleichbehandlung und der Verweis auf eine
gangen ist. Dieser wurde in seiner jetzigen Form von der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3
Großen Koalition in der 16. Wahlperiode eingeführt. GG) gegebenenfalls gerechtfertigt ist, erfordert eine
sorgfältige Prüfung. Die von den Grünen und der Linken
Was ist Sinn und Zweck dieser Änderung? geforderten Erweiterung auf die verbleibenden Berufs-
gruppen ist derartig komplex, dass es einer sorgfältigen
In der Praxis ist es äußerst problematisch, zwischen Abwägung – je nach Berufsgruppe – bedarf. Steuerbera-
Strafverteidiger einerseits und Rechtsanwalt andererseits ter, Wirtschaftsprüfer und Psychologen sind keineswegs
zu unterscheiden, da die beruflichen Übergänge fließend gleich zu behandeln.
sind. Sowohl die anwaltliche wie auch die strafverteidi-
gende Tätigkeit wird überwiegend von derselben Berufs- Ich stimme dem Gesetzentwurf zur Stärkung des
gruppe ausgeübt. Ein vertrauensvolles Gespräch über Zi- Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwäl-
vilsachen zwischen Rechtsanwalt und Mandant kann ten im Strafprozessrecht in meiner Funktion als Bericht-
schnell in ein Gespräch über strafrechtliche Vorwürfe erstatter der SPD-Fraktion aus den erläuterten Beweg-
münden. Im Hinblick auf den höchstmöglichen Mandan- gründen daher zu.
7804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Anlage 6 1939 begannen, miteinander auf Kosten anderer zu pak- (C)
tieren. Auf einmal verschwand die ganze antifaschisti-
Zu Protokoll gegebene Reden sche Propaganda aus den kommunistischen Postillen, die
zur Beratung des Antrags: Widerstand von Alliierten waren plötzlich Schuld am Ausbruch des Krie-
Kommunistinnen und Kommunisten gegen das ges. Das Kapital hatte die Völker geknechtet und das
NS-Regime anerkennen (Tagesordnungspunkt 14) passte auf einmal sehr gut mit der Nazi-Propaganda von
den Plutokratien des Westens zusammen. Niemals zuvor
waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Warum geben
Deutschland einerseits und der UdSSR/Russland ande-
Sie eigentlich immer wieder Steilvorlagen? Auf der ei-
rerseits so gut und intensiv wie zwischen 1939 und 1941.
nen Seite versuchen Sie, als ganz normale Partei wahr-
Nachdem Deutschland den Nichtangriffspakt mit der
genommen zu werden, aber immer wieder machen Sie es
Sowjetunion 1941 gebrochen hatte, änderte sich das na-
jedem klar denkenden Menschen so einfach, die offen-
türlich wieder.
sichtliche Kontinuität von Linke über PDS weiter über
SED zur KPD zurück zu verfolgen. Wann werfen Sie Dass Kommunisten zwar zweifelsfrei die nationalso-
endlich ihren ideologischen Ballast über Bord und beläs- zialistische Gewaltherrschaft bekämpften, steht außer
tigen nicht immer wieder dieses Haus mit ihrer kommu- Frage. Aber wofür? Was vorher sprichwörtlich nur Pro-
nistischen Traditionspflege? Sie haben doch selbst die gramm war, wurde nach Kriegsende sehr schnell Wirk-
vierzig Jahre DDR perfekt dazu genutzt, das von ihnen lichkeit. Jene, die vorher gemütlich in ihrem östlichen
favorisierte System bestmöglichst zu desavouieren. Aus Widerstandsnestern bei Väterchen Stalin ausgeharrt hat-
Vertriebenen haben Sie Umsiedler gemacht. Widerständ- ten, kamen nun nach Ostberlin zurück und errichteten
ler haben Sie danach unterteilt, ob sie der DDR geson- dort genau das, was sie wollten: die zweite Diktatur auf
nen waren oder nicht. Wenn nicht, durften sie ihre Kar- deutschem Boden. Professor Wolfgang Leonhardt hat es
riere als Widerständler gerne auch in der DDR als Mitglied der Gruppe Ulbricht anschaulich beschrie-
fortsetzen, nur jetzt eben nicht mehr in Sachsenhausen ben. Aber das ging nicht nur den Menschen in der SBZ
oder Dachau, sondern in Hohenschönhausen und Baut- so. Sämtliche Staaten des Ostblocks wurden unterjocht.
zen. Von Befreiung oder Freiheit keine Spur. Vom Regen in
Das, was Sie als kommunistischen Widerstand gegen die Traufe, von der Elbe ostwärts.
das NS-Regime bezeichnen, ist – zumindest 1933/34 – Jeder Unrechtsstaat braucht einen Entstehungsmy-
die Fortsetzung der bürgerkriegsähnlichen Auseinander- thos. Wo demokratischen Staaten eine verfassungsge-
setzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten bende Versammlung und freie Wahlen genügt, da brau-
aus der Zeit vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, chen Diktaturen immer eine ordentliche Brise (D)
(B)
nur mit dem Unterschied, dass NSDAP und KPD nicht Heroisierung. Und es war eben der kommunistische Wi-
länger in Konkurrenz hinsichtlich der Beseitigung der derstand der von der SED-Führung zum Gründungsmy-
jungen Weimarer Demokratie standen, sondern die Na- thos der DDR gemacht wurde. Und es hat sich ja auch
tionalsozialisten die Macht mittlerweile erobert hatten. angeboten! Es gab ja keinen einzigen, der in der DDR
Dass die Nazis Kommunisten verfolgten, macht die politische Karriere gemacht hat und vorher nicht im Wi-
Kommunisten noch lange nicht zu Verteidigern der Wei- derstand, Entschuldigung im kommunistischen Wider-
marer Ordnung: Sie wollten diese ja selbst beseitigen! stand, gegen Hitler aktiv war.
Selbst nach dem 30. Januar 1933 stellten die Kommunis-
ten nicht ihre ideologische Engstirnigkeit zurück, son- Aber gerade diese personelle Kontinuität ist doch der
dern sahen in der SPD weiterhin ihren Hauptfeind, Beweis dafür, dass die kommunistischen Widerständler
Stichwort: Sozialfaschisten. Denn die SPD stand eben nicht für ein sozialistisches Arbeiter- und Bauernpara-
für die Weimarer Demokratie. Friedrich Ebert war ihr dies gekämpft haben, sondern für eine Diktatur, ein kri-
ersten Präsident. Mit Scheidemann hat ein SPDler die minelles Unrechtsregime namens DDR, das seine Bürger
Republik von diesem Hause aus ausgerufen. Diese SPD einsperren musste, weil diese nicht in der Wahlkabine
wollten die Kommunisten nicht in Ihrem Kampf gegen abstimmen durften, sondern ihr Kreuz mit den Füßen
Hitler unterstützen, weil die KPD ja selbst eine Diktatur machen mussten. Es ist genauso wahnsinnig, die Mauer
errichten wollte. Nach dem Vorbild der Sowjetunion einen antifaschistischen Schutzwall zu nennen, wie
sollte ein Sowjet-Deutschland entstehen. Und dabei war Honecker, Ulbricht und all die anderen, die aus dem Exil
die Abhängigkeit vom großen, roten Bruder in Moskau die Errichtung der kommunistischen Gewaltherrschaft
so überdeutlich. Einen kommunistischen Satelliten woll- geplant haben, dafür zu adeln, dass sie eine Diktatur
ten die von ihnen hoch geehrten Widerständler aus durch eine andere ersetzt haben. Das ist doch blanker Irr-
Deutschland machen! Die, die Hitler stürzen wollten, sinn. Wenn in Moskau einer gehustet hat, haben die sich
verherrlichten gleichzeitig den zweiten Tyrannen Josef in Ostberlin mit Fieber ins Bett gelegt. Verschließen Sie
Stalin. Denken Sie doch einmal an die sogenannten Säu- doch bitte nicht weiter die Augen davor, fahren Sie doch
berungen Ende der 30er in der Sowjetunion. 20 Millio- einmal nach Hohenschönhausen. Ihr Antrag ist nur ei-
nen Menschen hat Stalin auf dem Gewissen. Hier kann nes: Eine Verhöhnung derer, die wirklich gegen Tyrannei
und darf „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ und für die Freiheit gekämpft haben!
nicht gelten.
Das Dilemma des kommunistischen Widerstands Bettina Kudla (CDU/CSU): Der Antrag der Linken
wurde dann vollends offensichtlich, als Hitler und Stalin „Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7805

(A) gegen das NS-Regime anerkennen“ beinhaltet zwei For- Sie haben nichts mit unserer freiheitlich-demokratischen (C)
derungen: die Anerkennung des Widerstandes von Kom- Ordnung gemein. Dass die Bundesrepublik als freiheit-
munistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime lich-demokratischer Rechtsstaat Anhängern des Stalinis-
durch eine öffentliche Geste der Bundesregierung und mus die Opferrolle in Form opulent gefüllter Entschädi-
die Einrichtung eines Härtefonds für NS-Verfolgte, die gungsfonds versagt, ist konsequent und eine Würdigung
nach § 6 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) ausge- von zig Millionen wirklichen Opfern. Von Ausgrenzung
schlossen sind. Der Antrag und damit beide Forderungen kann man daher nicht sprechen, sondern vielmehr von
sind abzulehnen. Für die genannten Fälle gibt es eine einem klaren Bekenntnis zu unserer freiheitlichen
klare Gesetzeslage, niedergelegt im Bundesgesetz zur Grundordnung.
Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Ver-
folgung (BEG). In der DDR behauptete die Geschichtsschreibung und
-propaganda der SED, allein die KPD sei die „führende
Die Ablehnung dieses Antrags hat nichts zu tun mit Kraft“ im Widerstand gewesen und habe ununterbrochen
dem Kalten Krieg, sondern begründet sich mit harten von 1933 bis 1945 organisiert gegen das NS-Regime ge-
Fakten, die ich Ihnen im Folgenden darlegen möchte. kämpft. Die SED verbreitete, die KPD habe schon in der
Zum Anliegen nach einer öffentlichen Geste. Der Wider- Weimarer Republik konsequent gegen die NSDAP ge-
stand verschiedener Gruppen – auch gegen das NS-Re- stritten und allen NS-Gegnern, insbesondere der Sozial-
gime – wird bereits anerkannt und gewürdigt, nämlich in demokratie, „Einheitsfront“-Angebote gemacht. Mit die-
der Neuen Wache hier in Berlin. Sie ist die „Zentrale Ge- sen Legenden wollte die SED vertuschen, dass die
denkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Op- kommunistische Politik indirekt dazu beitrug, dass die
fer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Damit geht die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Widerstand
Würdigung der Opfer unserer Geschichte sehr viel wei- überhaupt erst notwendig wurde.
ter als zu Zeiten der totalitären Herrschaft der SED. In
Zum Abschluss möchte ich noch meine Verwunde-
der DDR war die Neue Wache ein „Mahnmal für die Op-
rung zum Ausdruck bringen, mit welcher Hartnäckigkeit
fer des Faschismus und des Militarismus“. Das Leid
jetzt plötzlich die Linke – Ex-PDS, Ex-SED – auf Ent-
zahlreicher Personen wurde hierdurch bewusst ausge-
schädigungen drängt, insbesondere vor dem Hinter-
klammert. Alle diejenigen, die vor 1933 und nach 1945
grund, wie NS-Opfer in der DDR behandelt wurden.
Leid erfahren mussten, hatten hier keinen Ort des Ge-
Hierzu zitiere ich den Bericht des Bundesministeriums
denkens. Dies hat sich nach der Wiedervereinigung ge-
der Finanzen „Entschädigung von NS-Unrecht, Rege-
ändert.
lungen zur Wiedergutmachung“ vom Dezember 2009:
Am 27. Januar eines jeden Jahres gedenken wir im „In der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und
(B) Deutschen Bundestag und im ganzen Land aller Opfer späteren Deutschen Demokratischen Republik gab es (D)
eines beispiellosen totalitären Regimes der nationalso- Leistungen für Opfer des Faschismus, die hauptsächlich
zialistischen Gewaltherrschaft. Ein solches Gedenken an systemkonforme Opfer gezahlt wurden.“ Darüber
hat es in der DDR in dieser Form nicht gegeben. Einen sollten die Damen und Herren der Linkspartei nachden-
öffentliche Geste seitens der Bundesregierung bedarf es ken. Für sie gab es offensichtlich Opfer erster und zwei-
daher nicht. Sie hat ihren Ausdruck in der „Zentralen ter Klasse.
Gedenkstätte“ gefunden und sie wird jedes Jahr am Wir wollen die Bundesrepublik heute nicht mit der
27. Januar in besonderer Weise betont. DDR vergleichen. Aber auf einen Unterschied muss hin-
Zur Einrichtung eines Härtefonds. Bei diesem Punkt gewiesen werden: in der DDR wurde unterschieden, ob
muss man sich die Frage stellen, wer diese Leute waren, jemand systemkonform war oder nicht. In der Bundesre-
die jetzt nach Wunsch der Fraktion Die Linke eine Ent- publik wird gefragt, ob jemand gegen die freiheitlich-de-
schädigung bekommen sollen. Ich will es Ihnen sagen: mokratische Ordnung kämpft oder nicht.
Die Kommunistinnen und Kommunisten haben in der
Zeit der Weimarer Republik versucht, die „Diktatur des Gabriele Fograscher (SPD): Zum wiederholten
Proletariats“ zu errichten, und haben damit die freiheit- Male beraten wir heute einen Antrag der Linksfraktion
lich-demokratische Ordnung der ersten deutschen Repu- zur Entschädigung von Kommunistinnen und Kommu-
blik bekämpft. Somit haben die Kommunisten auch ein nisten, die im NS-Regime Widerstand geleistet haben.
Stück weit auf den Zusammenbruch dieser Republik ein- Mit dem Antrag wollen Sie 54 Jahre nach dem Verbot
gewirkt wie andere Gruppen dieser Zeit. Hierzu gehörte der KPD erreichen, dass ehemalige Mitglieder dieser
auch der „Rote Frontkämpferbund“ der KPD, ein circa Partei und politisch tätige Kommunistinnen und Kom-
130 000 Mann starker paramilitärischer Verband mit ge- munisten ihnen versagte Entschädigungsansprüche nach
heimen Waffenlagern. erlittener Verfolgung durch das nationalsozialistische
Regime geltend machen können. In der vergangenen
Nach 1945 haben eben diese Kommunisten unter der Wahlperiode haben Sie von der Linksfraktion eine Ent-
schützenden Hand der Sowjetunion in der späteren Deut- schädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz ge-
schen Demokratischen Republik einen stalinistischen, fordert, heute soll es mal ein Härtefonds sein.
totalitären Unterdrückungsapparat aufgebaut. Anders-
denkende wurden inhaftiert oder mundtot gemacht. Ob- Uns ist durchaus bewusst, dass Kommunistinnen und
gleich freiheitliche Rechte in der DDR-Verfassung dem Kommunisten während der NS-Zeit zu den aktivsten
Einzelnen zugestanden wurden, war der Alltag ein ande- Widerstandskämpfern gehört haben. Sie unterstellen
rer. Spätestens hier haben viele Kommunisten gezeigt: aber in Ihrem Antrag, dass ehemalige Mitglieder der ver-
7806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) botenen KPD generell keine Entschädigung nach dem Ansprüche geltend zu machen. Nun wollen Sie einen (C)
Bundesentschädigungsgesetz erhalten haben. Das ist Härtefonds. Doch Härtefallregelungen sieht das Bundes-
schlichtweg falsch. Eine Mitgliedschaft in der KPD oder entschädigungsgesetz in § 171 sowieso schon vor. Laut
in einer anderen kommunistischen Organisation führte einer Umfrage unter den Bundesländern Ende der
zu keiner Zeit zu einem Ausschluss von Entschädigungs- 1990er-Jahre erhielten viele nach § 6 Bundesentschädi-
leistungen. Die Vorschrift, die den Ausschluss von Leis- gungsgesetz Ausgeschlossene in Härtefällen finanzielle
tungen festschreibt, zielt nicht auf die Parteimitglied- Unterstützung. Das hatten die Länder 1968 gemeinsam
schaft oder die Funktion in der Partei ab, sondern auf die beschlossen. Baden-Württemberg hat meines Wissens
Aktivitäten des Einzelnen. allen Betroffenen einen solchen Ausgleich nach § 171
§ 6 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Bundesentschädigungsgesetz Bundesentschädigungsgesetz gewährt.
regelt den Ausschluss von der Entschädigung. Er bezieht Deshalb kann ich die Aussage in Ihrem Antrag, dass
sich nicht auf die Mitgliedschaft in der KPD als Aus- jede Form der Rehabilitierung für die nach § 6 Bundes-
schlussgrund, sondern auf die Aktivitäten von einzelnen entschädigungsgesetz ausgeschlossenen Kommunistin-
Personen, die Mitglied in dieser Partei waren, aber nicht nen und Kommunisten bis heute ausgeblieben sei, nicht
sein mussten. Danach ist „von der Entschädigung ausge- nachvollziehen. Niemand ist pauschal von Entschädi-
schlossen …, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheit- gungsleistungen ausgeschlossen worden, nur weil er
lich demokratische Grundordnung im Sinne des Grund-
Mitglied der KPD war.
gesetzes bekämpft hat; 3. wer nach dem 8. Mai 1945
wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Frei- Sie sprechen davon, dass die damaligen politischen
heitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt worden Umstände dazu geführt haben, dass es Unrecht gegen-
ist.“ über kommunistischen Opfern des NS-Regimes gab
Weiter heißt es in § 6 Abs. 3 Bundesentschädigungs- durch die Verweigerung bzw. Aberkennung von Ent-
gesetz: „Der Anspruch auf Entschädigung ist verwirkt, schädigungsansprüchen, und fordern eine Rehabilitie-
wenn nach Festsetzung oder nach rechtskräftiger richter- rung der Kommunistinnen und Kommunisten. Es gab
licher Entscheidung eines der Ausschließungsgründe des aber keine pauschale Verweigerung von Entschädi-
Absatzes 1 Nr. 2 und 3 eintritt. Die nach Eintritt eines gungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsge-
Verwirkungsgrundes bewirkten Leistungen können zu- setz, wie Sie versuchen, durch Ihren Antrag zu unterstel-
rückgefordert werden.“ len. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Wenn Sie von der Linkspartei diese Vorschrift richtig
gelesen und verstanden hätten, müssten wir dieses Dr. Stefan Ruppert (FDP): Die Befassung mit Ge-
(B) Thema heute nicht diskutieren. In der Begründung des schichte ist immer lehrreich. Jedoch dauert der Lernpro- (D)
Bundesentschädigungsgesetzes wurde vom Gesetzgeber zess bei den Kollegen von der Fraktion Die Linke
klargestellt, dass eine bloße Mitgliedschaft in einer Par- scheinbar etwas länger. Denn mit Regelmäßigkeit legt
tei noch kein Bekämpfen der freiheitlich demokratischen die Fraktion hier im Deutschen Bundestag Anträge vor,
Grundordnung sei, aktives Handeln sei nötig. Dort heißt welche angebliche Ungerechtigkeiten bei der Entschädi-
es ausdrücklich: „Es sei staatspolitisch geboten und gung von Kommunisten, die sich dem NS-Regime wider-
rechtlich vertretbar, Verfolgte von der Entschädigung setzt haben, beseitigen wollen. Die Anträge der Links-
auszuschließen, die durch ihr Verhalten die politische fraktion fielen schon in der Vergangenheit durch viele
Ordnung des heutigen Staates gestört haben. Doch liege historische Unwahrheiten und verfahrenstechnische Feh-
in einer bloßen Mitgliedschaft in einer Partei, zum Bei- ler auf. Diese habe ich mit großer Verwunderung in den
spiel in der KPD oder SED, noch kein bekämpfen der Plenar- und Ausschussprotokollen nachlesen können.
freiheitlichen demokratischen Grundordnung; dieser Auch bei dem heute vorgelegten Antrag hat die Linke in
Tatbestand sei nur bei aktivem Verhalten erfüllt.“ beiden Punkten wenig dazugelernt, weshalb meine Frak-
tion den Antrag erneut ablehnen wird. Doch bevor ich
Auch der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil klar-
auf die genauen Gründe unserer Ablehnung eingehen
gestellt, dass der Betroffene bewusst das Ziel verfolgt
haben muss, mit seiner Tätigkeit zum Kampf gegen die will, möchte ich ein paar Sätze zum Entschädigungs-
freiheitlich demokratische Grundordnung beizutragen. recht in der Bundesrepublik verlieren.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmä- Wir allen wissen, dass das Recht der Wiedergutma-
ßigkeit der Ausschlussformel bestätigt; es reiche aber chung im Allgemeinen und das Bundesentschädigungs-
nicht aus, wenn jemand nur Mitglied in einer damals gesetz, BEG, im Speziellen im Kontext der deutschen
noch nicht verbotenen Partei ist. Einen pauschalen Aus- Geschichte nach 1945 gesehen werden muss. Da stimme
schluss von Parteimitgliedern von Entschädigungsleis- ich dem Antrag der Linksfraktion sogar zu. Wir alle wis-
tungen hat es nicht gegeben. sen auch, dass in der Frage der Entschädigung von Op-
Sie haben, im Verhältnis zu Ihrem Antrag aus der ver- fern des nationalsozialistischen Terrors Fehler gemacht
gangenen Wahlperiode, immerhin gelernt, dass eine Ent- worden sind. Und diese sind auf allen Ebenen gesche-
schädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz hen: bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und in der
nicht mehr möglich ist. Denn 1965 wurde das Bundes- Rechtsprechung. Denn – und hier zitiere ich einen
entschädigungsgesetz-Schlussgesetz verabschiedet, das durchaus streitbaren Aufsatz von Walter Schwarz aus
die Ausschlussfrist auf den 31. Dezember 1969 festge- dem Jahr 1986 – die „Wiedergutmachung hat sich nicht
legt hat. Deshalb besteht heute keine Möglichkeit mehr, auf dem Papier, sondern im Tun und Lassen von Men-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7807

(A) schen verwirklicht … Die auf der Geberseite waren nicht dig. Denn ranghohe Politiker haben beispielsweise in (C)
alle Genies; die auf der Nehmerseite nicht alle Heilige.“ öffentlichen Reden immer wieder die Leistungen von
Kommunisten im Widerstand hervorgehoben und aller
Die frühe bundesrepublikanische Gesellschaft hat
Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ge-
Fehler in ihrer – um ein Wort des Zeithistorikers Norbert
dacht. Richard von Weizsäcker hat dies als Bundespräsi-
Frei zu verwenden – „Vergangenheitspolitik“ gemacht.
dent in seiner viel beachteten und gelobten Rede zum
Einzelentscheidungen in Entschädigungsfragen – egal,
40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa ge-
welche Gruppe von Opfern sie betroffen haben – waren
tan. Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Rede
nicht immer richtig. Kollege Wolfgang Wieland von den
zum selben Anlass 20 Jahre später die Geschichte des
Grünen hat in der Debatte der letzten Wahlperiode einige
deutschen Kommunisten Hermann Matzkowski beschrie-
bedauerliche Fälle geschildert. Aber man muss auch
ben. Warum wollen Sie diese Gesten nicht sehen? Wa-
ganz klar sagen, dass es im Gegensatz zum systemimma-
nenten Unrecht in der DDR – liebe Kolleginnen und rum wollen Sie die moralische Eigenverantwortung von
Kollegen von der Linksfraktion – im Rechtsstaat der Politik und Gesellschaft nicht anerkennen? Die Antwor-
Bundesrepublik keine einseitige Rechtssetzung und ten bleiben Sie uns schuldig.
Rechtsprechung gegen politische Gruppen gab. Kommu- Zuletzt will ich noch einmal einen Punkt hervorhe-
nisten, die gegen das NS-Regime Widerstand geleistet ben, der sich im Demokratieverständnis der Linksfrak-
haben, wurden nicht grundsätzlich von Entschädigungen tion scheinbar noch nicht festgesetzt hat. Es ist richtig,
nach 1945 ausgeschlossen. Diese Behauptung, die in Ih- dass diejenigen Kommunisten, die sich aktiv gegen die
rem Antrag zu finden ist, ist schlicht falsch. Nach § 6 freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesre-
Abs. 1 Nr. 2 und 3 BEG wurden nur die Personen nicht publik und unseren Rechtsstaat gewendet haben, die von
berücksichtigt, die entweder nach dem 23. Mai 1949 die einem Totalitarismus in den anderen wollten, keine Ent-
freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft hat- schädigungen nach dem BEG erhalten. Soll ein Staat
ten oder nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens wirklich Menschen entschädigen, die diesen Staat be-
zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verur- kämpfen? Ich fordere deshalb die Kolleginnen und Kol-
teilt wurden. Selbst Kommunisten, die nach 1949 Mit-
legen der Linksfraktion auf: Kommen Sie endlich mit
glied der KPD waren und die bis zum Verbot der Partei
beiden Beinen in unserem demokratischen Rechtsstaat
im Jahr 1956 die Ziele der KPD mit allgemein erlaubten
an und zeigen Sie, dass Sie aus der Geschichte und aus
Mitteln vertreten haben, wurden nicht von Entschädi-
eigenen Fehlern etwas lernen wollen. Ihren Antrag leh-
gungen ausgeschlossen. Dies hat das Bundesverfas-
nen wir aus den genannten Gründen ab.
sungsgericht in seinem Urteil von 1961 klargestellt. Die
Karlsruher Richter haben damit die Rechtsposition von
(B) im Nationalsozialismus verfolgten Kommunisten ge- Jan Korte (DIE LINKE): Die Studie zur NS-Vergan- (D)
stärkt. Wenn man sich dann noch anschaut, wie extensiv genheit des Auswärtigen Amtes hat die Diskussion und
der Ausschlusstatbestand nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BEG für Aufarbeitung über die Rolle der ehemaligen Nazi-Eliten
ehemalige Mitglieder der NSDAP formuliert und rich- in Ministerien und Behörden der Bundesrepublik erneut
terlich ausgelegt wurde, widerlegt das allemal die Be- auf die Tagesordnung gesetzt. Mittlerweile gibt es her-
hauptung der Linksfraktion eines einseitigen Vorgehens vorragende Forschungsergebnisse zu der Frage, in wel-
gegen Kommunisten in der Bundesrepublik. chem Umfang die ehemaligen Träger des Nationalsozia-
Weshalb legt die Linke nun trotzdem einen Antrag lismus, besonders aus den Reihen von Wirtschaft,
vor? Sie wollen einen Härtefonds für Kommunisten ein- Wehrmacht, Ministerien und Justiz, mit Gründung der
richten, denen nach § 6 BEG eine Entschädigung ver- Bundesrepublik zurückkehrten in Amt und Würden . Die
wehrt worden ist. Dieser ist aber vollkommen unnötig. verbreitete Abwehr und Verdrängung der unvorstellba-
Denn es hat seit Mitte der 1980er-Jahre bereits außerge- ren Menschheitsverbrechen der Nazis in den 50er- und
setzliche Härtefallregelungen in den einzelnen Bundes- 60er-Jahren hat die demokratische Entwicklung der
ländern wie Berlin und Baden-Württemberg gegeben. Bundesrepublik beschädigt. Namen wie Globke und
Hier wurden beispielsweise Kommunisten, die wegen Oberländer waren nur die Spitze des Eisberges.
ihrer Tätigkeit für die KPD keine Entschädigungen nach Begründet und ideologisch getragen wurde diese
dem BEG erhalten haben, durch Einmalzahlungen und Rückkehr maßgeblich durch einen fast religiöse Züge
auch laufende Beihilfen finanziell rehabilitiert. Diese annehmenden Antikommunismus, der, verstärkt durch
Tatsache wurde in den vergangenen Debatten hier im den Kalten Krieg, zur wesentlichen Leitlinie der damali-
Deutschen Bundestag immer wieder hervorgehoben.
gen Politik gehörte. Überhaupt war die Zeit geprägt
Aber die Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak-
nicht nur durch Abwehr und Verdrängung, sondern auch
tion wollen das anscheinend nicht zur Kenntnis nehmen.
durch Diffamierung des Widerstandes gegen den National-
Zudem fordern Sie in ihrem Antrag eine öffentliche sozialismus. Die Widerständler des 20. Juli 1944 galten
Geste, die die Zugehörigkeit von Kommunisten zum damals als Hochverräter, nicht jedoch als vorbild- und
Erbe des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gedenkwürdig. Erst das Engagement unter anderem des
zum Ausdruck bringt. Mir als Liberalem ist es immer hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer führte dazu,
fremd, wenn Sie von der Linksfraktion die Ehrung der dass der Widerstand Stück für Stück anerkannt wurde
Leistungen von Kommunisten gesetzlich verordnen wol- und heute zum offiziellen Gedenkkanon der Bundesre-
len. Aber das entspricht nun einmal ihrem Staatsver- publik Deutschland gehört. Das belegt sehr anschaulich,
ständnis. Eine Vorschrift ist auch hier gar nicht notwen- wie jeder Fortschritt hin zu einem kritischen Umgang
7808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) mit der NS-Vergangenheit engagiert erstritten werden Elternhaus. Sein Vater wurde von den Nazis wegen (C)
musste. Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Karl
Stiffel wird 1946 Mitglied der KPD. 1957, nach dem
Bis hinein in die konservative Geschichtswissen- Verbot der KPD, wird er verhaftet und schließlich zu
schaft gibt es die Erkenntnis, dass es eine Unteilbarkeit einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis, bei gleichzei-
des Widerstandes gibt. Diese Unteilbarkeit schließt eben tiger Aberkennung seiner Grundrechte für drei Jahre,
auch den Widerstand und den unfassbaren Blutzoll ein, verurteilt. Im Prozess führt der Staatsanwalt aus, der An-
den Kommunistinnen und Kommunisten zahlen muss- geklagte sei seit Gründung der Bundesrepublik Mitglied
ten. Sie waren die ersten, die damals in die Konzentra- der KPD, weshalb auch 1958 noch davon auszugehen
tionslager wanderten. Sie saßen zum Teil die gesamte sei, dass er dazu gehöre. Bei seinem Elternhaus sei es
Zeit des Nationalsozialismus in Haft, wurden gefoltert nicht verwunderlich, dass er keine Aussagen machen
und ermordet. Diese Opfer und ihr Widerstand sollen mit
wolle, denn schon sein Vater sei in den 30er-Jahren wegen
dem vorliegenden Antrag gewürdigt werden. Daher
Hochverrats verurteilt worden. Und so habe auch der
heißt es in unserem Antrag: „Der Bundestag ehrt in be-
Angeklagte sein Vaterland, die Bundesrepublik, verraten
sonderer Weise die Leistungen der Frauen und Männer,
und müsse entsprechend verurteilt werden. Der Wider-
die sich aktiv gegen das NS-Regime gewandt haben und
stand des Vaters gegen die Nazis wurde also als strafver-
in zahlreichen Fällen ihr Leben eingesetzt haben, um
schärfend für den Sohn gewertet, womit sich die dama-
Widerstand gegen die Naziherrschaft in Deutschland zu
lige Justiz die Rechtsauffassungen der Nazis zu Eigen
leisten. Er sieht diesen, nicht sehr zahlreichen, Wider-
machte – jedenfalls wenn es gegen Kommunisten ging.
stand gegen das Hitler-Regime in seiner Integrität als un-
Von solchen Urteilen waren auch direkt Menschen be-
teilbar an.“ Ich hoffe, dass dieser Satz die Zustimmung
troffen, die Widerstand gegen die Nazis geleistet haben.
des ganzen Hauses findet.
Nun müssen wir uns in diesem Zusammenhang daran Es müsste jedem klar sein, dass wir heute nach so vie-
erinnern, wie mit dem kommunistischen Widerstand in len Jahrzehnten endlich auch dieses traurige Kapitel auf-
der Bundesrepublik umgegangen wurde. Es ist heute un- arbeiten und die Würde und den Kampf dieser Menschen
umstritten, dass der Kalte Krieg und der Antikommunis- anerkennen müssen. Der Skandal wird umso größer, als
mus in Deutschland zu ungerechtfertigten Ausgrenzun- damals die alten Nazis üppige Leistungen erhielten und
gen und auch zu juristischen Verurteilungen von wieder in Amt und Würden kamen. Oftmals richteten
Menschen aufgrund ihrer politischen Einstellung führ- dieselben Richter, die schon während der NS-Zeit blutig
ten, die nach heutigen Maßstäben als übertrieben und über Widerständler geurteilt hatten, abermals über Kom-
unangemessen anzusehen sind. Zwischen 7 000 und munisten. Ich darf nochmal von Brünneck zitieren, der
10 000 vermeintliche oder reale Kommunisten wurden diesen politischen und moralischen Skandal nüchtern
(B)
zwischen 1950 und 1968 verurteilt. Ein besonders skan- nachgezeichnet hat: „Da viele der Betroffenen aufgrund (D)
dalöser Vorgang in der jungen Bundesrepublik war der der gesundheitlichen Schäden auf die Rente angewiesen
Umgang mit kommunistischen Widerstandskämpfern. waren, stürzte sie der Entzug oder die Rückforderung
Ihnen wurde nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG die Entschädi- von Leistungen in materielle Not. Die Aberkennung wi-
gung für die erlittenen Qualen aberkannt. Die Entschädi- dersprach überdies dem Sinn der Wiedergutmachung.
gungen waren als Wiedergutmachung und Anerkennung Denn die Entschädigung wurde als Ausgleich für früher
der Haft, zum Beispiel in einem Konzentrationslager ge- erlittenes Unrecht gezahlt, das nicht mit Maßstäben spä-
dacht. Der Rechtswissenschaftler Alexander von Brünneck terer politischer Loyalität zu messen ist.“
hat in seiner umfangreichen Untersuchung über die poli-
Daher ist es heute an der Zeit, endlich durch eine öf-
tische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik
fentliche Geste die Zugehörigkeit deutscher Kommunis-
Deutschland diesen heute unglaublichen Vorgang darge-
ten und Kommunistinnen zum Erbe des Widerstandes
stellt. Von Brünneck schreibt: „Viele ältere Kommunis-
gegen das NS-Regime zum Ausdruck zu bringen, wie
ten bezogen für die Verfolgung von 1933 bis 1945 Wie-
wir es im Antrag formulieren. Es gilt, endlich anzuerken-
dergutmachungsleistungen, insbesondere nach dem
nen, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergan-
Bundesentschädigungsgesetz (BEG) … Nach § 6 Abs. 1
genheit in der Bundesrepublik Deutschland eben nicht
Ziff. 2 BEG war von der Entschädigung ausgeschlossen,
nur eine Erfolgsgeschichte war. Im Gegenteil: Klären
wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokrati-
wir auf, wie sich die Täter einrichteten, die für tausend-
sche Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes be-
fachen Mord verantwortlich waren, und gedenken wir
kämpft hatte.“ Und von Brünneck bringt es auf den
der Opfer und derer, die mutig Widerstand leisteten –
skandalösen Punkt: „Diese Vorschriften bedeuteten, dass
egal, ob sie Kommunisten, Sozialdemokraten oder Kon-
bei Kommunisten die Zahlung der Entschädigung vom
servative waren. Wenn das Nachrichtenmagazin Der
politischen Wohlverhalten abhängig gemacht werden
Spiegel 2009 feststellt: „Die Zahl der zwischen 1951 und
konnte.“ Übersetzt gesagt bedeutete dies eine Demüti-
1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast sieben-
gung und Ausgrenzung von schwer gezeichneten Wider-
ständlern und Opfern des NS-Terrorregimes. mal so hoch wie die gegen NS-Täter – obwohl die Nazis
Millionen Menschen ermordet hatten, während man
Hinter diesen juristischen Fakten stehen ganz kon- westdeutschen Kommunisten politische Straftaten wie
krete Menschen, und ich möchte Ihnen an einem Bei- Landesvorrat vorwarf“, dann muss es dem Bundestag
spiel verdeutlichen, wie sich die Atmosphäre des Anti- ein Anliegen sein, die gröbsten Verfehlungen im Um-
kommunismus für diese Menschen auswirkte: Karl gang mit Opfern des NS-Regimes anzuerkennen und
Stiffel, geboren 1929, kommt aus einem kommunistischen diesem Antrag zuzustimmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7809

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem 1969 in Kraft getretenen BEG-Schlussgesetz (C)
Die Geschichte des Entschädigungsrechts für Opfer von ist das Bundesentschädigungsgesetz ein totes Gesetz. Es
NS-Unrecht in Deutschland ist in vielen Bereichen werden danach zwar noch Leistungen ausgezahlt, eine
wahrlich kein Ruhmesblatt. Es hat jahrzehntelang ge- Neuantragstellung ist jedoch heute nicht mehr möglich.
dauert, bis einige Opfergruppen in den Kreis der Leis- Deshalb ist die Forderung nach einem Härtefonds nur zu
tungsberechtigten – auf unterschiedlichster rechtlicher begrüßen.
Grundlage – miteinbezogen wurden. Viele Überlebende
wurden so erst kurz vor ihrem Tod zu Anspruchsberech- Die Fraktion der Linken hat vollkommen recht, dass
es nicht zuletzt die historische Verpflichtung der Bun-
tigten. Dies ist eine Schande, und das muss an dieser
desrepublik ist, das Unrecht dieses Ausschlusses einer
Stelle noch einmal klipp und klar gesagt werden!
Entschädigung für Kommunistinnen und Kommunisten
Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956 auszusprechen. Und es sollte auch ein Weg gefunden
war ein Gesetz, das Diskriminierung unzweifelhaft fest- werden, dass diejenigen, die damals ihre Entschädigung
geschrieben hat. Sozusagen spiegelverkehrt gegenüber wegen Unwürdigkeit zurückzahlen mussten, dieses Geld
der DDR, wo willkürlich und teilweise mit antisemiti- wiederbekommen.
scher Motivation in sogenannte Kämpfer gegen den Fa- Lassen Sie mich noch einen anderen aktuellen Punkt
schismus und sogenannte Opfer des Faschismus unter- aus dem Bereich NS-Entschädigung nennen. Es kann
teilt wurde, hatte auch die Bundesrepublik eine Zwei- nicht sein, dass, je nach Lust und Laune eines Verwal-
Klassen-Opferentschädigung. Das BEG benachteiligte tungsbeamten, russische Sonderrenten als Einkommen
vor allem ausländische Verfolgte und verschiedene deut- von der deutschen Sozialhilfe abgezogen werden und die
sche Verfolgtengruppen, wie Sinti und Roma, Wehr- Ministerin von der Leyen mir mitteilt, dass sie daran
dienstverweigerer, Homosexuelle, vom NS-Erbgesund- nichts ändern will. Frau von der Leyen, während der
heitsgesetz Betroffene, sogenannte Asoziale und durch deutschen Belagerung der Stadt Leningrad starben zwi-
eine eigene Ausschlussklausel eben die Kommunistin- schen 1941 und 1944 über eine Million Menschen, weil
nen und Kommunisten. die Wehrmacht sie in der Stadt aushungern ließ. Es ist
zynisch von Ihnen, dass Sie jenen, die diesen Naziterror
Meine Damen und Herren, das im Kalten Krieg be-
überlebten und sich trotzdem dafür entschieden, in
findliche Nachkriegsdeutschland hat sich immer wieder Deutschland zu leben, nun ihre spärliche Opferrente von
geweigert, überhaupt anzuerkennen, dass ganze Opfer- etwa 150 Euro als Einkommen von ihrer Rente abziehen.
gruppen in Deutschland von der Entschädigung ausge- Dass kann doch nicht Ihr Ernst sein!?
schlossen wurden. Später kamen dann verschiedene ge-
setzliche und außergesetzliche Regelungen zustande, Kommunistinnen und Kommunisten gehörten wäh-
(B) auch in vielen Bundesländern auf Landesebene. Unter rend der Nazidiktatur zu den aktivsten Widerstands- (D)
Rot-Grün haben wir neben der Zwangsarbeitsstiftung kämpfern; sie wurden in den Konzentrationslagern ge-
auch die Regelungen beim Härtefonds für NS-Opfer schunden, gequält und ermordet. Es gab und gibt
nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz deutlich ver- keinerlei Grund, Menschen aus dieser Opfergruppe eine
bessert. Entschädigung vorzuenthalten.
Dennoch bleiben viele Opfer bis heute von einer Ent-
schädigung, die diesen Namen auch verdient, ausge- Anlage 7
schlossen. Die Landeshärtefonds haben bislang ausge-
grenzte Kommunistinnen und Kommunisten in der Zu Protokoll gegebene Reden
Regel mitbedacht. Leider gibt es aber nicht in allen Bun-
desländern solche Fonds. Hier sollte das Bundesfinanz- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Bildung in Entwicklungs- und Schwel-
ministerium uns eine Aufstellung geben, in welchen
lenländern stärken – Bildungsmaßnahmen an-
Bundesländern NS-Verfolgte, die durch § 6 Abs. 1 Nr. 2
passen und wirksamer gestalten (Tagesord-
BEG vom Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen
nungspunkt 15)
wurden, Härteleistungen erhalten können und in wel-
chen nicht.
Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir entscheiden
Im Falle der als Kommunistinnen und Kommunisten heute abschließend über den Antrag der CDU/CSU-
politisch Verfolgten, um die es heute geht, war es damals FDP-Koalition zu Bildung in Entwicklungs- und
wie heute ein ganz bewusstes Außenvorlassen, weil man Schwellenländern. Dieser Antrag greift ein entwick-
diese Menschen einer Entschädigung nicht für würdig lungspolitisch äußerst wichtiges Thema auf, das Minis-
erachtete. Der Bundestag hat nachträglich in das Ent- ter Niebel gemeinsam mit der Koalition zu einem
schädigungsgesetz geschrieben, dass diese NS-Opfer Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenar-
keinen Anspruch auf Entschädigung hätten, wenn sie beit ausbauen wird. Denn Bildung – da sind wir uns
auch nach 1949 Kommunistinnen und Kommunisten ge- fraktionsübergreifend einig – ist der Schlüssel für Ar-
blieben waren. Und das, obwohl die US-Militärregie- mutsreduzierung. Sie eröffnet Lebenschancen für jeden
rung in ihrem ersten Entschädigungsgesetz von 1947, an einzelnen, die ohne Bildung nie ergriffen werden könn-
das sich das Bundesentschädigungsgesetz laut Vertrag ja ten. Bildung ist aber auch eine wichtige Voraussetzung
eigentlich anlehnen sollte, die Kommunisten nicht aus- für die Entwicklung eines Landes per se, für mehr Ver-
genommen hatte. teilungsgerechtigkeit, für die Teilhabe an politischen und
7810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) gesellschaftlichen Prozessen und für die wirtschaftliche dern brauchen wie bei uns Perspektiven – Perspektiven, (C)
Prosperität und Innovation eines Landes. Ohne Bildung die in weiterführenden Schulen bis hin zur Berufs- und
gibt es keine Zukunft. Hochschulausbildung zu finden sind.
Diese Erkenntnis wird immer wieder von Vertretern Während unserer Ausschussreise nach Madagaskar
aus Entwicklungs- und Schwellenländern betont. Den- und Lesotho in der letzten Woche konnten wir erfahren,
noch wächst der Großteil der Kinder und Jugendlichen dass in Lesotho zwar die Grundbildung gut funktioniert,
in Ländern auf, wo das Recht auf Bildung nicht gewähr- aber die Sekundarbildung, die Hochschulbildung und die
leistet ist. 72 Millionen Kinder, mehr als die Hälfte da- Berufsbildung dringend ausgebaut werden müssen. In
von Mädchen, besuchen keine Grundschule. Ein Drittel Madagaskar informierten wir uns über die Initiative der
der eingeschulten Kinder in Afrika bricht die Grund- IHK Hamburg, gemeinsam mit den örtlichen Handels-
schule ab. Das bedeutet, dass weltweit 776 Millionen Ju- kammern ein duales Ausbildungssystem in nachgefrag-
gendliche und Erwachsene weder schreiben noch rech- ten Berufen aufzubauen, ebenso wie über die Anstren-
nen können. gungen der Access Bank, Bankkaufleute sowohl theo-
Investitionen in den Bildungsbereich sind aber auch retisch als auch praktisch auszubilden. Beeindruckend
entscheidend für den Erfolg von Programmen und Pro- war auch der Besuch bei SOLTEC, einer Privatinitiative
jekten in anderen Bereichen der entwicklungspolitischen aus Baden-Württemberg, die in mehreren Handwerksbe-
Zusammenarbeit. Auch deshalb ist es der richtige rufen fundiert ausbildet. Das sind Beispiele, wie wir un-
Schritt, dass die Mittel für Bildung und Ausbildung im ser Know-how nutzen können. Deshalb werden wir un-
Entwicklungsetat in 2010 auf 200 Millionen Euro fast sere Expertise, die wir im Bereich der dualen Berufs-
verdoppelt wurden, und dass dies 2011 weiter ausgebaut ausbildung haben, bei unseren Partnerländern stärker
wird. Das zeigt deutlich, dass wir, die christlich-liberale einbringen.
Koalition, den Bildungsbereich und die Entwicklungszu-
sammenarbeit insgesamt in den kommenden Jahren Die Wirtschaft ist in vielen Partnerländern in den letz-
quantitativ aber auch qualitativ deutlich voranbringen ten zehn Jahren deutlich gewachsen. Das heißt aber
wollen. Denn der Blick auf die Einschulungsquote ent- auch, dass der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräf-
hält keine Aussage darüber, wie viele Kinder die Schule ten ständig wächst. Die technologischen Entwicklungen
abbrechen und mit welchem Bildungsstand sie die und der auch dort einsetzende Strukturwandel verlangen
Schule verlassen. Daher ist Qualität ein Kernpunkt in nach gezielter Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter.
unserem Antrag. Er reicht von der Verbesserung der Vielen Unternehmen vor Ort fehlt aber noch das Ver-
Lehrerausbildung bis hin zur Ausgestaltung von Curri- ständnis dafür, für die Aus- und Weiterbildung von Mit-
cula. arbeitern Geld in die Hand nehmen zu müssen. Deshalb
(B) ist es sinnvoll, wie auch von Minister Niebel vorgeschla- (D)
Wir müssen uns jedoch auch kritisch fragen, in wel- gen, in Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen in-
chen Bildungsbereichen wir in der deutschen Entwick- novative Angebote aus dem Bereich der beruflichen Bil-
lungszusammenarbeit besser sind als andere Geber, und dung in Entwicklungs- und Schwellenländern zu för-
wir müssen unsere Arbeit auf unsere Stärken fokussie- dern.
ren. Weiter müssen wir uns kritisch fragen, mit welchen
Partnern wir welche Projekte nachhaltig aufbauen und Unter der Einbeziehung von deutschen Berufsbildungs-
unterstützen können. einrichtungen, wie dem Bundesinstitut für Berufsbildung,
und der deutschen Industrie- und Handelskammer, kann
Bildung, als staatliche Basisleistung, liegt in der Ver-
antwortung unserer Partnerländer. Dieser Meinung sind der Auf- und Ausbau des dualen Berufsausbildungssys-
wir auch, liebe Kollegen der SPD-Fraktion und der Frak- tems an die Bedürfnisse vor Ort angepasst werden Des-
tion Die Linke. Nur wenn diese originär staatliche Auf- halb begrüßen wir, dass die berufliche Bildung mit einem
gabe eben nicht oder nur ungenügend von den Regierun- Volumen von 83 Millionen Euro ein Förderschwerpunkt
gen wahrgenommen wird, dann werden wir im Sinne der unserer entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ist.
Menschen Unterstützung leisten und nach Alternativen Im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftskoope-
suchen. Eine Alternative können auch private Träger wie rationen leistet Deutschland schon seit vielen Jahren ei-
zum Beispiel die Kirchen sein. Warum sollten wir dann nen wichtigen Beitrag für den globalen Wissensaus-
nicht mit diesen zusammenarbeiten? Wir müssen diese tausch. Ich nenne hier den DAAD, die Stiftungen,
sogar unterstützen, wenn wir es ernst mit unserer Ent- Kirchen, GTZ, KfW, InWEnt und den DED, die mithilfe
wicklungszusammenarbeit meinen. Ideologisch vorge- von unterschiedlichsten Fördermaßnahmen jungen Men-
fasste Muster wie die Ihren helfen den jungen Menschen schen den Zugang zu einer Universitätsausbildung er-
nicht. möglichen. Dabei ist uns besonders wichtig, dass wir vor
So wichtig und richtig die Verbesserung der Grund- Ort in den Partnerländern die Kapazitäten im Wissen-
bildung in den Entwicklungsländern ist, so wird eine schafts- und Forschungsbereich gezielt unterstützen. Da-
nachhaltige Entwicklung in unseren Partnerländern je- her verwundert mich die Meinung der Opposition, dass
doch nur gelingen, wenn eine gleichmäßige Entwicklung Studienplätze für junge Menschen aus Entwicklungslän-
der verschiedenen Bildungsbereiche – frühkindliche Bil- dern in Deutschland nicht entwicklungsunterstützende
dung, Primar- und Sekundarbildung, berufliche Bildung, Maßnahmen wären, also nicht ODA-fähig seien. Zum ei-
Hochschulbildung und Erwachsenenbildung – gewähr- nen gibt es hierfür klare Kriterien der Anrechnungsfä-
leistet wird. Junge Menschen in den Entwicklungslän- higkeit, und zum anderen ist es für die jungen Menschen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7811

(A) die beste Ausbildung, die wir als Partnerland anbieten fehlt es an einer klaren Linie. Das Einzige, was klar (C)
können. wird, ist, dass Grundbildung zu kurz kommt.
Wie man erkennen kann, betrifft allein der Bildungs- Im Einleitungstext des schwarz-gelben Antrags ist
bereich in der Entwicklungszusammenarbeit vier ver- zwar von der Wichtigkeit der Primarschulbildung die
schiedene Ressorts. Die Abstimmung untereinander ist Rede – soweit kann ich zustimmen –, und zu Recht weist
deshalb von zentraler Bedeutung. Die von Minister der Antrag darauf hin, dass es in den vergangenen Jahren
Niebel ambitioniert angegangene Strukturreform der eine Verbesserung im Bereich des Millenniumsziels 2
technischen Zusammenarbeit ist ein wichtiger Schritt, gab.
unsere Zusammenarbeit effizienter zu gestalten. Die zu-
Enttäuscht hat mich beim Weiterlesen dann aber der
nehmende Aufgabenbeteiligung der anderen Ressorts im
Forderungskatalog des schwarz-gelben Bildungsantrags:
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ist sehr be-
Der Antrag enthält 44 Forderungen an die Bundesregie-
grüßenswert, erfordert aber auch mehr Koordination.
rung, und nicht in einer dieser Forderungen wird das
Deshalb wäre es wünschenswert, dass das BMZ auf-
Wort „Grundbildung“ genannt. Überhaupt stellen die
grund seiner originären Aufgabe von Entwicklungszu-
Forderungen eine wilde Ideensammlung dar, aus der
sammenarbeit auch die Koordinationsaufgabe bei res-
keine klare Linie für die Bildungszusammenarbeit er-
sortübergreifenden Projekten übernimmt.
kennbar wird. Ein schlüssiges Konzept, wie das Millen-
Der Bildungsbereich ist ein Schlüsselsektor für nach- niumsziel 2 „Grundbildung für alle“ zu erreichen ist, er-
haltige Entwicklung und Wachstum – sowohl in unserem gibt sich aus diesem bunten Strauß nicht! Offensichtlich
Land als auch in unseren Partnerländern. Dass er zu ei- soll sich jeder aus diesem Forderungskatalog seine Lieb-
nem Schwerpunktbereich ausgebaut wird, lag immer im lingsforderung selber heraussuchen. In jedem Fall ist für
fraktionsübergreifenden Interesse. Eine Ablehnung des alle etwas dabei.
Antrags seitens der Opposition bedeutet die Ablehnung Aus der öffentlichen Anhörung unseres entwicklungs-
des Ausbaus deutscher Entwicklungszusammenarbeit auf politischen Ausschusses zu den Millenniumszielen im
dem Bildungssektor. Das kann nicht gewollt sein. Des- Juni dieses Jahres ist mir ein Kernsatz der Bildungsex-
halb bitten wir als CDU/CSU-Fraktion: Springen Sie, pertin Frau Assibi Napoe, der Vorsitzenden der Global
liebe Kolleginnen und Kollegen, über Ihren Schatten und Campaign for Education, in deutlicher Erinnerung ge-
stimmen Sie diesem Antrag zum Wohle junger Menschen blieben. Sie sagte sehr eindringlich, dass Bildung öffent-
in unseren Partnerländern zu. lich und kostenlos sein muss.

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Den heute vorliegenden Damit stimmt die SPD überein, denn Bildung ist
(B) Bildungsantrag der schwarz-gelben Koalition mit dem staatliche Aufgabe und muss ohne Gebühren zugänglich (D)
schönen Titel „ Bildung in Entwicklungs- und Schwel- sein. Nur so erreicht Bildung alle Menschen und jedes
lenländern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen und Kind. Nur so wird Bildung zu einer Chance für jeden in
wirksamer gestalten“ habe ich mir sorgfältig durchgele- einer Gesellschaft und hilft dem Einzelnen, sich vor Ar-
sen und mit dem entwicklungspoltischen Bildungsantrag mut zu schützen. Grundbildung ist dabei nicht alles, aber
verglichen, der vor zwei Jahren in der Großen Koalition alles ist nichts ohne Grundbildung.
geschrieben wurde. Schaue ich mir jetzt die einzelnen Forderungen von
Schwarz-Gelb im vorliegenden Antrag nochmal an,
Ich möchte mein Fazit gleich voranstellen: Der alte
heißt es da in Forderung 28, „Bestrebungen von privat-
Antrag war und ist gut und der jetzt vorliegende
wirtschaftlichen Institutionen im Bereich der beruflichen
schwarz-gelbe Bildungsantrag ein Rückschritt für die
Bildung weiter ausbauen und fördern“ oder bei Forde-
Erreichung des Millenniumsziels 2 „Grundbildung für
rung 32 „… das Netzwerk und die Erfahrung der deut-
alle“. Denn Bildung ist ein Menschenrecht und Voraus-
schen Auslandsschulen und des Goethe-Instituts nutzen
setzung für die Bekämpfung globaler Armut. Diesem
und einbeziehen“.
Ziel aber wird der schwarz-gelbe Bildungsantrag nicht
gerecht. Weiter wird der Aufbau von Alumni-Netzwerken ge-
fordert, der Aufbau von Berufsakademien im Rahmen
Die SPD forderte damals wie heute, Bildung, insbe-
von PPP-Projekten sowie der Ausbau von Möglichkeiten
sondere Grundbildung und Weiterbildung, als Schwer-
des E-Learnings. Das ist ja ganz nett, aber es kommt da-
punktbereich der deutschen EZ auszubauen, die Fast-
rauf an, staatliche Strukturen und Bildungsangebote in
Track-Initiative mit ihrem Ziel „Bildung für alle“ finan-
den Entwicklungsländern zu stärken.
ziell und organisatorisch zu fördern, Grundbildung zu
verstärken und insbesondere dazu beizutragen, dass die Die SPD hat sich schon immer für Grundbildung und
Qualität des Unterrichts verbessert wird. Das heißt, es auch Weiterbildung eingesetzt. Dies umfasst sowohl die
muss in die Lehrerausbildung und -bezahlung investiert frühkindliche Bildung als auch die Primarschulbildung
werden. Besonders wichtig ist uns Sozialdemokraten, und Angebote der beruflichen Bildung bis hin zur Hoch-
dass Bildung kostenfrei zur Verfügung steht. schulbildung. Es bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes.
Diese Kernforderungen waren Beschlusslage des Aber erst umfassende Grundbildung, die für alle zu-
16. Deutschen Bundestags und Leitlinie guter Bildungs- gänglich ist, gewährleistet, dass auch weiterführende
zusammenarbeit der deutschen Entwicklungspolitik. Das Bildung in Entwicklungsländern für jeden erreichbar ist
wären sie auch besser geblieben. Dem neuen Antrag und zur Chance wird. Sonst wird Weiterbildung zum Ex-
7812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) klusivangebot für Privilegierte, die sich Grundbildung kratische Bildungsarbeit beschreiben. Freuen würde es (C)
kaufen können. Unsere staatlichen Entwicklungsgelder mich, wenn das alles im neuen Bildungskonzept von
sollen aber bei den Armen und weniger Privilegierten Minister Niebel steht, nur neu ist es halt nicht.
ankommen und nicht zur Elitenförderung verwendet
werden. Der schwarz-gelbe Bildungsantrag verfehlt die- Neu ist allerdings seit Amtsantritt von Minister
ses Ziel. Niebel, dass das Freiwilligenprogramm „weltwärts“ we-
niger Mittel als geplant erhält. Vollkommen unklar ist,
Es gibt allerdings eine Forderung aus dem schwarz- warum es zu diesen Kürzungen kam. Offensichtlich hat
gelben Antrag, die ich in diesem Zusammenhang doch Minister Niebel nicht verstanden, dass auch der Freiwil-
für sehr wichtig halte, und zwar gerade um „Grundbil- ligendienst „weltwärts“ einen Beitrag zur entwicklungs-
dung für alle“ zu erreichen. In Forderung 9 heißt es: politischen Bildung leistet. Warum sonst würde er diesen
„Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich aktiv an guten Freiwilligendienst seit seinem Amtsantritt kaputt-
der Reform der Fast-Track-Initiative zu beteiligen!“ Die sparen, während er andererseits Bildung als Schwer-
Fast-Track-Initiative will das Millenniumsziel 2 „Grund- punktthema seiner Entwicklungspolitik ankündigt?
bildung für alle“ umsetzen. Sie hat bisher gute Fort- Auch der schwarz-gelbe Bildungsantrag beinhaltet keine
schritte im Bereich der Grundbildung gemacht. Die mul- Forderung zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit
tilaterale Initiative hat also den richtigen Ansatzpunkt. in Deutschland, dabei gilt der Lerndienst „weltwärts“
Allerdings hemmen bürokratische Hindernisse und Kon- heute unter Entwicklungsexperten als unverzichtbarer
ditionalitäten der Weltbank derzeit den Erfolg der Fast- Teil einer solchen politischen Bildungsarbeit.
Track-Initiative. Hier muss sich Minister Niebel tatsäch-
lich verstärkt dafür einsetzen, dass die Reform voran- Denn das Konzept von „weltwärts“ geht auf: Junge
geht, damit die Mittelvergabe zügiger wird. Menschen werden in Partnerorganisationen in Entwick-
lungsländer integriert und lernen dort die Arbeit im
Um Mittel zu vergeben, müssen aber auch Mittel vor- Kampf gegen Hunger und Armut hautnah kennen. Eine
handen sein. Bisher ist es nicht gelungen, im ange- solche Erfahrung schärft das Bewusstsein für globale
strebten Ausmaß Mittel für den Catalytic Fund, dem Verantwortung und weltweite Solidarität sowie für Zu-
zentralen Topf der Fast-Track-Initiative, zu generieren kunftsfragen und bürgerschaftliches Engagement in
und mehr Geber einzubinden. Auch hier muss die Deutschland.
schwarz-gelbe Regierung nachlegen. Im Haushaltsjahr
2010 wurden 6,8 Millionen US-Dollar für den Catalytic Das im Jahr 2007 ins Leben gerufene entwicklungs-
Fund eingestellt, noch im Jahr 2009 waren es 7,4 Mil- politische Freiwilligenprogramm „weltwärts“ hat bisher
lionen US-Dollar. Deutschland ist damit auf Platz 12 großen Anklang bei jungen Menschen gefunden und
von 18 Gebern. Eine Vorreiterrolle im Bereich der Bil- wird von deutschen Entsendeorganisationen gelobt. Die
(B)
dung, insbesondere Grundbildung, lässt sich daran schwarz-gelbe Regierungskoalition hat bereits für das (D)
nicht festmachen. laufende Haushaltsjahr 2010 den „weltwärts“-Etat um
10 Millionen Euro geringer angesetzt, als 2009 geplant.
Dabei hatte Minister Niebel noch vor einem Jahr in
seiner Amtsantrittsrede die Förderung der Bildung zum Auch für das Jahr 2011 wird diese Kürzung fortge-
Schwerpunkt seiner Arbeit erklärt. Ich darf wörtlich zi- setzt. Das hat schwere Konsequenzen für die deutschen
tieren: „Die Förderung der Grundbildung und Weiterbil- Entsendeorganisationen und hat bereits in diesem Jahr
dung sind für uns ebenso wichtig, denn Armut und Bil- dazu geführt, dass viele interessierte junge Menschen
dungsarmut sind zwei Seiten derselben Medaille.“ nicht weltwärts gehen konnten. Die kurzfristige Ankün-
digung von Kürzungen rief bei den Entsendeorganisatio-
Auch in seiner Jahresbilanz vom Oktober dieses Jah- nen allgemeines Unverständnis hervor, zumal die Ju-
res betonte Minister Niebel wieder: „Wir konzentrieren gendlichen bereits ein Jahr vor der Entsendung mit
uns auf Schlüsselsektoren wie Bildung, ländliche Ent- Schulungen auf ihr „weltwärts“-Jahr vorbereitet werden.
wicklung, gute Regierungsführung und Gesundheit und
setzen dort gezielt Mittel in innovativen Ansätzen ein.“ Zwar hat Minister Niebel noch im Mai und sogar Juni
dieses Jahres betont, dass kein Jugendlicher weniger ent-
Allerdings ist die Schwerpunktsetzung auf Bildung sendet wird, nur weil es am Geld fehle. Wie ich jetzt von
bisher weder konzeptionell noch finanziell erkennbar. Entsendeorganisationen hörte, hat Minister Niebel aber
Minister Niebel hat zwar ein neues Sektorkonzept Bil- auch diese Versprechen gebrochen.
dung für Februar 2011 in Aussicht gestellt, jedoch hat
die Unterrichtung des BMZ im Ausschuss vom 27. Ok- Beispielsweise hat das Welthaus Bielefeld im April
tober kein Licht ins Dunkel gebracht. Bisher hat keiner dieses Jahres den Bescheid des BMZ erhalten, dass von
auch nur einen Entwurf des Konzepts gesehen, und in ihren 67 Jugendlichen, die bereits auf die Entsendung
der Unterrichtung blieb unklar, wo der inhaltliche vorbereitet waren und unter Vertrag standen, nur 44 Frei-
Schwerpunkt des Konzepts liegen soll. Gestern in der willige entsendet werden könnten, also de facto eine
Fragestunde im Plenum blieb auch Frau Kopp mir eine Kürzung von 67 auf 44 vorgenommen werden müsste.
klare Antwort zu den Inhalten des Bildungskonzepts Mit gleichem Schreiben wurde mitgeteilt, das der maxi-
schuldig. Vielmehr sprach Frau Kopp von der Wichtig- male Barmittelbetrag für das Welthaus Bielefeld im
keit der staatlichen Grundbildung und von Erwachsenen- Jahre 2010 156 640 Euro betrage und nicht überschrit-
bildung, von der Qualität der Bildung und der berufli- ten werden dürfe. Zu Recht fragte das Welthaus Biele-
chen Weiterbildung in der Entwicklungszusammenarbeit. feld nun: Wie sollen wir 23 jungen Leuten, die sich in-
Mir kam es vor, als würde Frau Kopp gute sozialdemo- tensiv auf das Jahr vorbereitet haben, und unseren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7813

(A) Partnern mitteilen, dass es leider nichts mit dem „welt- Nur wenn Menschen eine solide Bildung bekommen, (C)
wärts“-Jahr wird? haben sie die Chance, ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen und sich von Abhängigkeiten zu befreien. Und
Aus der Not geboren hat das Welthaus Bielefeld die darum geht es uns mit unserem Antrag. Bildung hat also
Entsendung dieser 23 Jugendlichen dann selber bezahlt, auch mit Freiheit zu tun. Über eine umfangreiche Bil-
vorfinanziert aus dem „weltwärts“-Etat für das Jahr dung kann das Verständnis untereinander und zu anderen
2011. Das heißt aber nun, dass nächstes Jahr weniger Ju- Kulturen oftmals auch konfliktpräventiven Charakter ha-
gendliche über das Welthaus entsendet werden können. ben. Multikulturelle Wertegemeinschaften sind weniger
Nach eigenen Schätzungen spricht das Welthaus von konfliktanfällig, und in gebildeten Gemeinschaften kön-
noch 80 Prozent im Vergleich zum jetzigen Jahrgang. nen sich Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Mei-
nungsfreiheit besser entfalten. Dies ist ein ganz wichti-
Das Freiwilligenprogramm „weltwärts“ wird in die- ger Effekt, der oftmals keine ausreichende Beachtung
sem Jahr evaluiert, so war es seit Programmstart geplant. findet. Und darum ist für den Aufbau von Justiz, Demo-
Die Ergebnisse der Evaluation sollen im Frühjahr 2011 kratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft eine
vorgestellt werden. Aber noch vor der Evaluierung des breite Bildungsschicht, ja eine Bildungselite, die ihr
„weltwärts“-Programms wurde durch die Mittelkürzung Land in eine bessere Zukunft führt, unbedingt nötig.
der dynamische Aufbau des neuen Freiwilligendienstes
gedrosselt. Bevor eine Bewertung des „weltwärts“-Pro- Junge Menschen – Männer und Frauen gleicherma-
gramms vorliegt, wird das Programm von Schwarz-Gelb ßen – müssen die Chance haben, nach der allgemeinen
kaputtgekürzt. Das ist inakzeptabel! Schulbildung einen qualifizierten Beruf zu erlernen oder
eine höhere Schulbildung bis hin zur Universität zu er-
Abschließend kann ich nur sagen: Die schwarz-gelbe halten. Und da der Lehrerausbildung zur Erreichung die-
Regierung setzt für das wichtige Thema der Bildung in ser Ziele eine große Bedeutung zukommt, haben wir in
der Entwicklungszusammenarbeit keine neuen Impulse. unserem Antrag auch an mehreren Stellen die Forderung
Der heute beschlossene Koalitionsantrag bietet für eine nach einer qualitativen Verbesserung der Lehrerausbil-
nachhaltige und umfassende Bildungsarbeit in Entwick- dung erhoben. Lehrer sind die Basis für eine erfolgreiche
lungsländern keine solide Grundlage. Schulbildung in einem funktionierenden Schulsystem.
Deutschland leistet mit weltweiten Bildungskooperatio-
Harald Leibrecht (FDP): Nachhaltige Entwicklung nen einen bedeutenden Beitrag. Auch über die Auswär-
hängt – und da sind wir uns wohl alle fraktionsübergrei- tige Kultur- und Bildungspolitik erhalten viele junge
fend einig – in wesentlichem Maße vom Zugang der Menschen in der Welt durch die Hilfe unseres Landes
Menschen zu Bildung ab. Wenn wir den Entwicklungs- eine bessere Bildung.
(B) ländern eine Perspektive geben wollen, ist das Thema (D)
Ich bin froh, dass unter der jetzigen Bundesregierung
Bildung in Entwicklungsländern von zentraler Bedeu- die Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt,
tung. Vor allem im Bereich der Grundbildung hat es in dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-
den letzten Jahren durchaus Erfolge gegeben. Und wir arbeit und Entwicklung und dem Ministerium für Bil-
sind dem Jahrtausendziel der allgemeinen Grundschul- dung und Forschung funktioniert und ineffiziente Paral-
bildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 ein gutes lelstrukturen abgebaut werden. Aus-, Fort- und Hoch-
Stück nähergekommen. Um ein Land aber auf lange schulbildung sind die beste langfristige Hilfe zur Selbst-
Sicht erfolgreich aus der Armut zu befreien, müssen wir hilfe und Voraussetzung für eine nachhaltige Entwick-
in Zukunft noch mehr als bisher auf eine qualifizierte lungspolitik. Mit unserem Antrag legen wir die Basis,
und nachhaltige Bildung in den Entwicklungsländern um die Bildungssituation in Entwicklungsländern lang-
setzen. Grundbildung ist dafür natürlich eine fundamen- fristig zu verbessern, und er ist ein wichtiger Schritt hin
tale Voraussetzung. zur Erreichung der Millenniumsziele zur Verwirklichung
der allgemeinen Grundschulbildung, MDG 2, und zur
Die Kritik der Oppositionsparteien an unserem An-
Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, MDG 5.
trag ist für mich daher nicht nachvollziehbar. Grundbil-
dung ist und bleibt ein sehr wichtiges Anliegen. Aber ich In elf Jahren, in denen die SPD das Entwicklungsmi-
möchte Sie auch fragen: Was wollen Sie anschließend nisterium geleitet hat, wurde im Bildungsbereich für
den Grundschulabgängern als Perspektive bieten? Hier Entwicklungsländer leidlich wenig erreicht. Die jetzige
muss es doch in allen Bildungssektoren zu vermehrten Regierung handelt, und unser Antrag ist die richtige
Anstrengungen kommen. Die Behauptung von SPD und Weichenstellung für eine effektive und nachhaltige Ent-
Linke, wir würden in Sachen Bildung in Entwicklungs- wicklungspolitik.
ländern rein auf private Anbieter setzen, ist falsch. Ne-
ben dem staatlichen Bildungssystem muss es aber auch Darum bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
private Anbieter geben. Ich kenne viele nichtstaatliche
Bildungseinrichtungen, die in Entwicklungsländern ganz Heike Hänsel (DIE LINKE): Weltweit gibt es rund
hervorragende Arbeit leisten. SPD und Linke sollten hier 780 Millionen Analphabeten, über 1,4 Milliarden Men-
endlich ihre ideologische Brille ablegen. In vielen Ent- schen leben in Armut. Bildungsarmut und damit einher-
wicklungsländern versagt der Staat in Sachen Bildung. gehender Hunger sind vor allem ein Problem in den
Nach der Ideologie der Opposition haben die Kinder in ländlichen Regionen der Entwicklungsländer. Dort aber,
diesen Ländern keine Chance auf Bildung. Das können wo Frauen und Männer lesen und schreiben können,
Sie doch nicht wirklich wollen. sinkt der Grad an Unterernährung, steigen die Einkom-
7814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) men sowie die Produktivität der Kleinbauern und erge- Die Linke will stattdessen staatliche Strukturen stär- (C)
ben sich Wege aus der Armut. Bildung ist der Schlüssel ken. Wir brauchen ein öffentliches, allgemein zugängli-
zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ist ein in ches Bildungssystem, anstatt eine beliebige Trägerviel-
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie falt zu finanzieren und die Regierungen in den
der UN-Kinderrechtskonvention verankertes Menschen- Entwicklungs- und Schwellenländern so bildungspoli-
recht. Die Millenniumsentwicklungsziele 2 und 3 bezie- tisch zu entmündigen.
hen sich auf Bildung, Grundbildung für alle Kinder und
Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen. Von der Die Linke empfiehlt außerdem, auf dem Feld der Bil-
Verwirklichung dieses Rechts sind wir allerdings weit dungspolitik in eine trilaterale Kooperation einzutreten.
entfernt. Die Bundesregierung macht vollmundige An- Es gibt gute Süd-Süd-Initiativen, die oft angepasster ar-
kündigungen, dass Bildung zum Schwerpunktthema ih- beiten als die Initiativen aus dem Norden und dabei be-
rer Entwicklungspolitik gemacht werden soll, um das eindruckende Erfolge bei der Alphabetisierung erzielen.
Ziel „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu veran- Dabei möchte ich insbesondere die erfolgreiche kubani-
kern. Aber was sehen wir hinter der Fassade dieses Ver- sche Kampagne „Yo si puedo“ erwähnen, die auch von
sprechens? den UN entsprechend gelobt wurde. Hier könnte die in-
ternationale Unterstützung gut ansetzen.
Der Antrag der Regierungskoalition zum Thema stellt
einen erheblichen Rückstand bei der Grund- und Se- Wir fordern die Bundesregierung auf, Entwicklungs-
kundarbildung fest. Das deutsche Modell der dualen hilfeleistungen für Bildung deutlich zu erhöhen und dazu
Ausbildung wird als Vorbild angeboten und die Einbe- beizutragen, dass die Ziele des Weltbildungsforums
ziehung der deutschen Wirtschaft, etwa durch PPP 2000 in Dakar erreicht und das Millenniumsziel univer-
– Public-Private-Partnership-Projekte – empfohlen. Im saler Grundbildung bis 2015 umgesetzt wird. Die Indus-
Bereich der beruflichen Bildung sollen vor allem privat- trieländer müssen ihre finanziellen Ausgaben für Bil-
wirtschaftliche Institutionen gestärkt werden. Hoch- dung erhöhen, damit jedem Kind bis 2015 zumindest
schulbildung wird vor allem unter dem Gesichtspunkt eine Primärschulbildung gewährleistet werden kann. Die
der Elitenrekrutierung und wirtschaftlichen Innovations- ärmsten Länder müssen in die Lage versetzt werden, ge-
fähigkeit betrachtet. Beim Wissensaustausch wird die nügend Lehrkräfte auszubilden und einzustellen, Schu-
stärkere Zusammenarbeit der Universitäten mit dem Pri- len mit ausreichend Klassenräumen zu bauen und Schul-
vatsektor empfohlen. Dieser Fokus auf Privatisierung ist bücher für jedes Schulkind anzuschaffen.
genau das Gegenteil von Bildung für alle! Wir müssen das Menschenrecht auf Bildung endlich
In dem Antrag wird festgehalten, dass die Lehrerge- verwirklichen, statt nur leere Versprechen zu machen!
hälter oft zu niedrig seien und die Regierungen im Süden Der Schlüssel hierzu ist der politische Wille. Herr
(B)
oft „nicht imstande“ seien, „ihre Hoheitsaufgaben im Niebel, wenn Sie Bildung wirklich zum Schwer- (D)
Bildungsbereich zu erfüllen“. Daraus wird aber nicht die punktthema machen wollen, ist es an der Zeit, so lang-
naheliegende Schlussfolgerung gezogen, die Partnerre- sam den schönen Worten auch mal Taten folgen zu las-
gierungen seien durch die Stärkung der staatlichen sen.
Strukturen, zum Beispiel durch Budgethilfe, zu unter-
stützen, um effektive staatliche Systeme aufbauen zu Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bildung
können, sondern es wird daraus eine Daseinsberechti- ist kein Geschenk, das nur Auserwählten zukommt.
gung für die vielen privaten Angebote in diesem Bereich Nein: Bildung ist ein Menschenrecht für alle. Daher stehen
abgeleitet. die Regierungen in allen Ländern der Welt in der Pflicht,
das Recht auf Bildung umzusetzen und zu garantieren.
Welchen finanziellen Beitrag die Bundesregierung
zur Bildungsförderung in den Partnerländern künftig Es stimmt: Beim zweiten Millenniumsentwicklungs-
leisten will, wird mit keiner Silbe erwähnt. Das muss ziel – dem Zugang zu Grundbildung – wurden bereits
aber konkret benannt werden, wenn man sich ernsthaft viele Fortschritte erzielt. Und doch ist leider offensicht-
für die weitere Unterstützung für Bildungssysteme ein- lich: Bis 2015 wird das zweite Millenniumsentwick-
setzt. Das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein. Die lungsziel nicht erreicht. Gerade die ärmsten Länder wer-
Finanzmittel für die „Internationalisierung von Bildung“ den das Ziel verfehlen. Besonders Kinder aus ländlichen
– Stipendien etc. – stagnieren seit Jahren oder sind sogar Gebieten haben schlechte Bildungschancen – sie besu-
leicht rückläufig. chen nur halb so oft die Grundschule wie Kinder aus
städtischen Gebieten.
Die Linke hätte es auch sehr begrüßt, wenn die Koali-
tion etwas zur Anerkennung von in Partnerländern er- Neben der Frage des Zugangs zu Bildung quält uns
zielten Abschlüssen hier in Deutschland gesagt hätte. insbesondere die Frage der Qualität der Bildung. Lehrer
Wichtig wäre auch gewesen, das große Problem von und Lehrerinnen sind weltweit die bedeutendste Res-
Schul- und Studiengebühren anzusprechen, das ja maß- source für das Lernen. Und gute Lehrerinnen und Lehrer
geblich den Zugang zu Bildung blockiert. Stattdessen sind eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lerner-
wird „innovativen Finanzierungselementen“ und einer folg. An beidem herrscht gerade in armen Ländern ein
Förderung der Privatwirtschaft das Wort geredet. Natür- großer Mangel. Allein in Subsahara-Afrika müsste bei-
lich sollen auf diese Weise für die deutsche Wirtschaft spielsweise zur Erreichung des Grundbildungsziels die
durch sogenannte Bildungsdienstleister lukrative Märkte Zahl der Lehrer und Lehrerinnen verdoppelt werden.
erschlossen werden. Und viel muss investiert werden in Lehrerausbildung;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7815

(A) denn besonders in ländlichen Gebieten mangelt es nicht Es ist schön, dass Sie die dringend nötige Reform der (C)
nur an Lehrpersonal, sondern vor allem an qualifiziertem Fast Track Initiative für Bildung unterstützen. Doch
Lehrpersonal. wenn die Fast Track Initiative greifen soll und die
Grundbildungssituation in den ärmsten Ländern verbes-
Wir wissen alle, dass Bildung eine Grundvorausset- sern soll, dann muss sie – insbesondere ihr Catalytic
zung zur Überwindung von Armut ist. Alle entwick- Fund – mit ausreichender und vorhersehbarer Finanzie-
lungspolitische Erfahrung lehrt uns, dass Frauen und rung ausgestattet sein. Hier ist Ihr Antrag eine Fehlan-
Mädchen bei der Überwindung von Armut eine zentrale zeige. Wir Grünen haben im Entwicklungsausschuss Än-
Rolle spielen. Doch noch immer sind Frauen bei der Bil- derungsanträge zum Haushaltsplan des Entwicklungs-
dung stark benachteiligt. Während sich in den Grund- ministeriums eingebracht, unter anderem zur Aufsto-
schulen schon einiges verbessert hat für Mädchen, stellt ckung der Mittel des Catalytic Fund. Und was machen
der Gender Gap im Bereich der Sekundarbildung ein Sie von der Koalition? Für 2010 und 2011 fährt Deutsch-
noch viel größeres Problem dar. land seine Zusagen für den Catalytic Fund sogar noch
zurück, und auch unsere Haushaltsanträge haben Sie leider
In Mosambik habe ich Anfang des Jahres erfahren, abgelehnt.
dass zwar immerhin 95 Prozent aller Kinder eingeschult
werden. Doch die Hälfte davon schafft den Primarschul- Aus Ihrem Antrag spricht, dass Sie viel Hoffnung in
abschluss nicht, und nur eine kleine Minderheit, 5 Prozent, die Privaten stecken. Nach Ihren Vorstellungen soll sich
geht bis zum Abschluss der Sekundarschule zur Schule. die deutsche Wirtschaft auch im Bildungssektor in Ent-
So erwerben nur sehr wenige Menschen in Mosambik wicklungsländern einbringen können. Doch es ist eine
die Qualifikation für eine Universitäts- bzw. Fachhoch- grundlegende Aufgabe des Staates, für ein funktionie-
schulbildung oder einen höheren Ausbildungsberuf. Die- rendes Bildungssystem zu sorgen und Bildung für alle zu
ses Problem ist viel zu lange vernachlässigt worden. garantieren – Private können höchstens als Ergänzung,
aber nicht als Ausrede dienen! Und vor allem: Es geht
Da die Sekundarbildung in der Regel kostenpflichtig hier nicht in erster Linie um die Förderung der deutschen
ist, werden große Bevölkerungsgruppen vom Zugang Wirtschaft, sondern um die Verwirklichung des univer-
ausgeschlossen. So auch in Mosambik: Die Regierung sellen Menschenrechts auf Bildung!
unterstützt den Besuch der Primarstufe für alle Kinder
bis zur siebten Klasse. Doch ab der achten Klasse müs- Sie haben Recht damit, dass auch in die berufliche
sen Familien die Schulkosten für ihre Kinder komplett Bildung investiert werden muss. Doch darüber darf der
selbst übernehmen, das Schulgeld, die Unterbringung in enorme Nachholbedarf bei Grundbildung, insbesondere
einer weiter entfernten Stadt – oftmals sind Sekundar- bei der bereits angesprochenen Qualität der Grundbil-
(B) schulen bis zu drei Stunden von zu Hause entfernt – und dung, und bei der Sekundarbildung nicht vergessen wer- (D)
die Kosten für Schulmaterial und Uniformen sind für den. Wenn die Basis nicht stimmt, dann macht auch be-
viele Familien in Mosambik eine nicht zu bewältigende rufliche Bildung keinen Sinn! Das haben Sie leider in
Anstrengung. Ihrem Antrag vernachlässigt.

Und da die Gesellschaft in Mosambik noch immer


meist patriarchalisch organisiert ist, scheiden gerade Anlage 8
Mädchen und junge Frauen besonders häufig und früh-
zeitig aus der Schule aus. Argument: Sie werden für die Zu Protokoll gegebene Reden
Familienarbeit in der Landwirtschaft gebraucht. Es er-
zur Beratung des Antrags: Rohstoffförderung
gibt sich ein Kreislauf, in dem Frauen zu einer frühzeiti-
im Meer – Aus der Katastrophe lernen (Tages-
gen Heirat gedrängt werden, früh viele Kinder bekom-
ordnungspunkt 16)
men und ihnen damit ein Lebensweg vorgeschrieben
wird, der sich vor allem um die land- und hauswirtschaft-
liche Tätigkeit und die Versorgung der Kinder unter prekä- Ingbert Liebing (CDU/CSU): Mit der Ölkatastrophe
ren sozioökonomischen Bedingungen dreht. Ein Leben im Golf von Mexiko verbinden wir schreckliche Bilder,
in Armut ist damit auch für die nächste Generation so die die Medien wochenlang beherrscht haben: Die Ex-
gut wie vorprogrammiert. plosion und das Sinken der Ölplattform „Deepwater Ho-
rizon“ am 20. und 22. April 2010. Insgesamt flossen
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen und die struk- 780 Millionen Liter Rohöl damals verteilt über mehrere
turelle Benachteiligung von Frauen abzumildern, bedarf Monate, in den Golf von Mexiko – ein quälend langer
es der Förderung von Bildungschancen für junge Frauen, Zeitraum. Versuche, das Leck abzudichten, misslangen
gerade auch in der Sekundarbildung. ein ums andere Mal, erst drei Monate nach der Explo-
sion der „Deepwater Horizon“ strömte endlich kein Öl
Zum Antrag der Koalition. Viele der angesprochenen mehr aus dem Bohrloch.
Fragen thematisieren Sie in Ihrem Antrag. Das ist gut.
Doch gerade dort liegt auch das Problem: Sie thematisie- Das Ergebnis sind verheerende Auswirkungen auf die
ren so viele dieser Fragen, ohne konkrete Lösungsan- genauso empfindlichen wie einzigartigen Ökosysteme
sätze zu präsentieren, dass im Fazit der Antrag ein zahn- an der US-amerikanischen Küste. Durch die Meeresver-
loser Tiger bleibt. Wir können uns daher nur enthalten. schmutzung sind nicht nur Delfine und Meeresschildkrö-
Was zum Beispiel in Ihrem Antrag fehlt, sind konkrete ten, auch Seevögel, Fisch- und Austernbestände gefähr-
Zahlen. det, irreparable Schäden drohen. Aus dem ökologischen
7816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Schaden ist zudem ein horrender ökonomischer Schaden zur Förderung von Öl im Meer. Und obwohl auch hier (C)
geworden, insbesondere für den Tourismus. Diese Kata- Öl gefördert wird, bestehen ganz wesentliche Unter-
strophe macht deutlich, dass der Mensch mit seiner schiede zwischen „Mittelplate“ und „Deepwater Hori-
Technik die Natur keinesfalls immer zu kontrollieren zon“:
vermag.
Im Gegensatz zur Situation am Golf von Mexiko, wo
Zu den Ursachen der Explosion gibt es unterschiedli- mit einem ungeheuren natürlichen Druck riesige Ölmen-
che Darstellungen, die sowohl technisches wie mensch- gen ins Meer sprudelten, muss bei der Förderung durch
liches Versagen nahelegen. Es ist aber offensichtlich, die „Mittelplate“ das Öl aktiv hochgepumpt werden, da
dass der Konzern BP an seine Grenzen gestoßen ist. Es es hier keinen natürlichen Druck gibt.
sind Fehler gemacht worden, und man kann nicht gerade
Für den Fall, dass es zu einem Ölverlust kommen
sagen, dass damals alles Menschenmögliche getan
sollte, steht die „Mittelplate“ in einer Stahlwanne, die
wurde, um diese Katastrophe zu vermeiden.
auslaufendes Öl auffangen kann von wo es dann abge-
Diese Fehler, für die das Unternehmen nun geradeste- pumpt würde.
hen muss, sollen uns eine Warnung sein: Die Förderung
Die Bohr- und Förderinsel „Mittelplate“ ist auf dem
von Erdöl in derart großen Wassertiefen, hier waren es
Wattboden gegründet, kann daher nicht sinken, wie es
circa 1 500 Meter, ist äußerst riskant. Unternehmen und
bei der „Deepwater Horizon“ leider passiert ist.
Regierungen müssen mit diesem Risiko verantwortlich
umgehen. Dazu gehört, das Geschehen umfassend aus- Hinzu kommt, dass im Bereich des Nordostatlantiks,
zuwerten, um ein weiteres Unglück dieser Art in der Zu- zu dem auch der deutsche Bereich zu zählen ist, die In-
kunft verhinden zu können. dustrie auf der Basis der besten verfügbaren Technik ar-
beitet. Ferner haben die jahrelangen Erfahrungen bei der
In diesem Zusammenhang begrüße ich die Bemühun-
Ölförderung bei „Mittelplate“ gezeigt, dass der Betreiber
gen im Rahmen der OSPAR-Konvention, deren Mitglie-
ein Höchstmaß an Sicherheit und Verantwortungsbe-
der sich vom 20. bis 24. September 2010 auf einer Kon-
wusstein walten lässt. Auch die Mechanismen der Not-
ferenz im norwegischen Bergen trafen:
fallvorsorge, deren Überprüfung die Grünen in ihrem
Als erste vorläufige Konsequenz aus der Havarie der Antrag fordern, stehen aufgrund der internationalen Zu-
Bohrplattform im Golf von Mexiko haben sich die sammenarbeit in Nord- und Ostsee auf einer soliden Ba-
OSPAR-Staaten auf einen Fahrplan für eine umfassende sis.
Defizitanlayse der Katastrophe verständigt. Dazu gehört,
Für die „Mittelplate“ und auch für die von der Win-
dass die Staaten ihre einschlägigen nationalen Regel-
tershall betriebene Gasplattform A6-A gibt es Nofall-
werke analysieren.
(B) pläne und Ölwehrpläne. Bei Schäden, die den Austritt (D)
Ergänzend werden externe Berichte einer umfassen- von Öl in das Meer zur Folge haben, wird das Havarie-
den Bewertung unterzogen. kommando in Cuxhaven informiert. Das ist gut so.
Abhängig von der Auswertung der genannten Ergeb- Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang das
nisse ist anlässlich der nächsten turnusmäßigen Sitzung „Vorsorgeprinzip“, dass es keine neuen Fördereinrich-
der OSPAR-Kommission im Juni 2011 geplant, über tungen im Watt geben wird. Das ist durch das schleswig-
mögliche Verbesserungsmaßnahmen zu entscheiden. holsteinische Nationalparkgesetz bereits klargestellt. Da
bedarf es keiner neuen Forderungen der Grünen.
Nun müssen wir aber aufpassen, dass wir die richti-
gen, nicht die falschen Schlüsse aus der Katastrophe zie- Die Bundesregierung wird ihrer internationalen Ver-
hen. So fordert der Antrag der Grünen ein Verbot neuer pflichtung gerecht und hat im Rahmen des bereits er-
Bohrungen und Ölförderungen in geschützten Meeresge- wähnten OSPAR-Treffens einen Entwurf für eine Emp-
bieten in Deutschland, wie dem Wattenmeer. fehlung vorgelegt, die nach Durchführung der Defizit-
analyse die Option eines Moratoriums für neue Ölerkun-
Das wird den Tatsachen nicht gerecht. Es ist unred-
dungsbohrungen vorsah. Zwar konnte dieser Entwurf
lich, die grauenhaften Bilder von den Ölverschmutzun-
gegen den Widerstand insbesondere der betroffenen
gen im Golf von Mexiko in Deutschland zu instrumenta-
Staaten nicht durchgesetzt werden, der Antrag hat aber
lisieren und damit die Situation in Deutschland zu
gleichwohl einen Prozess eröffnet, der OSPAR veranlas-
dramatisieren. Der Vergleich, den der Antrag der Grünen
sen wird, sich weiter mit dem Thema auseinanderzuset-
zwischen der Situation im Golf von Mexiko und der Öl-
zen. Insofern bedarf es auch hier keiner Aufforderung
förderung im deutschen Wattenmeer herstellt, ist so nicht
durch die Grünen.
haltbar. Eine solche Ölkatastrophe, wie im Golf von Me-
xiko geschehen, ist vor unserer Haustür so nicht denkbar. Eine weitere Kernforderung des Antrages der Frak-
Weil ich eine sachliche Diskussionsgrundlage in dieser tion der Grünen ist die nach eindeutigen und umfassen-
wichtigen Angelegenheit für notwendig erachte, möchte den Haftungsregelungen. Allerdings haben die Grünen
ich die Unterschiede deutlich machen: den Nachweis versäumt, dass tatsächlich Defizite beste-
hen. Das Verursacherprinzip ist klar geregelt, die Not-
Die Bohr- und Förderinsel „Mittelplate“ vor der
wendigkeit für weitere gesetzliche Präzisierungen kann
schleswig-holsteinischen Westküste – genauer gesagt
ich derzeit nicht erkennen.
auf einer Sandbank vor der Dithmarscher Küste am süd-
lichen Rand des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Antrag
Wattenmeer – ist die einzige deutsche Produktionsanlage der Fraktion der Grünen voreilige Schlussfolgerungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7817

(A) zieht, unnötige Forderungen stellt, wo die Regierung be- Auf globaler Ebene wurde auf dem G-20-Gipfel in (C)
reits handelt, und falsche Antworten auf sicherlich be- Toronto eine „Global Marine Environment Protection
rechtigte Sorgen gibt. Initiative“, GMEP-Initiative, vorgeschlagen. Ziel ist die
Einrichtung eines internationalen Mechanismus zur Vor-
Völlig unstrittig ist, dass der Wert des Ökosystems beugung von Katastrophen und Schadensbeseitigung in
Tiefsee zukünftig einen weitaus größeren Stellenwert ha- Festlandsockelgewässern bei der Offshore-Förderung
ben muss, als dies in der Vergangenheit der Fall war. von Öl und Gas. Eckpunkt der GMEP-Initiative ist eine
Hier gilt es auch, die technischen Errungenschaften international abgestimmte Regulierung von Aktivitäten
– zum Beispiel in Form von Tiefseerobotern – konse- in Festlandsockelgewässern, die stattfinden durch ein
quent zugunsten der wertvollen maritimen Ökosysteme Netz regional zuständiger „International Shelf Regula-
zu nutzen. Dafür lassen Sie uns gemeinsam kämpfen! tors“. Konkret geht es um die Prüfung der Auswirkung
von Exploration, Förderung und Lagerung, die Entwick-
Franz Obermeier (CDU/CSU): Der Antrag ist lung effektiver Gefahrenabwehrmaßnahmen, die Risiko-
banal, da er Selbstverständlichkeiten beinhaltet: Ja, aus abschätzung und -beurteilung möglicher Störfälle, die
Fehlern soll man lernen, auch wenn andere sie gemacht Sicherung biologischer Ressourcen und den Technolo-
haben. gietransfer in von Ölkatastrophen betroffene Entwick-
lungsländer.
Ja, Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind auch bei
der Rohstoffförderung zu achten. Das Meer ist ein be- Dieser internationale Mechanismus soll finanziert
sonders sensibles Ökosystem, auf das die Menschheit werden über nationale bzw. regionale Fonds, die aus ver-
angewiesen ist. Die Folgen von Umweltkatastrophen pflichtenden Abgaben der Förderunternehmen – Versi-
und negativen Eingriffen überqueren buchstäblich die cherungsbeiträge oder Steuern – gespeist werden, ent-
Ozeane. Wir alle sind gegen eine hemmungslose Aus- sprechend dem in der deutschen Umweltpolitik
beutung von Rohstoffen ohne Rücksicht auf die Folgen geltenden Verursacherprinzip.
für Menschen und Umwelt.
Auch die sonstigen in Ihrem Antrag aufgestellten For-
Ja, unsere gemeinsame Aufgabe ist es, weltweit Re- derungen sind schon längst erkannt und in Angriff ge-
geln für die Rohstoffgewinnung aufzustellen und für deren nommen. Es soll eine internationale Kooperation und ei-
Einhaltung zu sorgen. Das gilt nicht nur für die Gewin- nen Austausch von Erfahrungen geben zur Krisen-
nung aus dem Meer, auch auf dem Land gibt es hierbei prävention und Sicherheit der maritimen Umwelt ein-
verheerende Umweltzerstörungen. schließlich der Reaktion auf Unfälle.

Umweltschutz gilt genauso für die Errichtung von Konkret geht es um Zulassungsverfahren – einschließ-
(B)
Windkraftanlagen im Meer. Hier gibt es erhebliche nega- lich Umweltverträglichkeitsprüfungen und Lizenzierungs- (D)
tive Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht, verfahren), Sicherheitsstandards, Krisenplanung – unter
angefangen von der Zerstörung des Meeresbodens bis anderem Einführung internationaler Konventionen, Ent-
hin zur Beeinträchtigung des Schiffsverkehrs, der Geräusch- wicklung einer Krisenpräventionsinfrastruktur, Zivil-
entwicklung, die Meerestiere wie Wale gesundheitsge- schutz, Umweltverträglichkeit der Schadensbeseitigung,
fährdend irritiert. Das dürfen wir bei Betrachtung Ihres Erhalt biologischer Ressourcen, Notfallübungen –, Scha-
Antrags auch nicht ausklammern. Denn das soll direkt densersatzregelungen – Haftung, Haftungsbesicherung, Ver-
vor unserer Küste passieren. sicherung, Haftungsbeschränkung, Schadenstypen –, Über-
wachungsmechanismen, Regelungen zum Transfer von
Selbstverständlich sind internationale Vereinbarungen Umweltsanierungstechniken, Verhaltensregeln für Ener-
und Standards zum Meeresschutz nötig. Hierzu sind be- gieunternehmen und einen regionalen Erfahrungsaus-
reits verschiedene Initiativen auf den Weg gebracht, und tausch – freiwillige Unterstützung, spezifische technische
das nicht erst seit Mexiko. Ich danke Ihnen, dass Sie mir Standards.
Gelegenheit geben, einige diese Aktivitäten vorzustel-
len. Zu den EU-Aktivitäten: Circa 30 Prozent der welt- Deutschland setzt sich bei diesem Vorhaben beson-
weiten Erdölreserven liegen im Offshore-Bereich. Die ders für eine stärkere Berücksichtigung von Sicherheits-
EU-Kommission beabsichtigt, die Ölindustrie stärker zu anforderungen, einen erhöhten Bezug zu bestehenden in-
kontrollieren. In einem ersten Schritt hat die Kommis- ternationalen Organisationen und die Offenhaltung des
sion am 13. Oktober eine umfassende Mitteilung zu Off- Themas ein, will also keine Beschränkung auf die G-20-
shore-Aktivitäten bei Öl und Gas vorgelegt. Darin greift Länder.
sie die Themen Lizenzvergabe, Sicherheitsstandards, Die Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkom-
Haftungsrecht, Verantwortung der Betreiber, staatliche mens über die biologische Vielfalt am 29. Oktober in
Aufsicht und Kontrolle, Notfallreaktionsfähigkeit sowie Nagoya, Japan, ist ein weiterer Schritt. Man einigte sich
internationale Aspekte auf. Sie will bis spätestens auf einen weiteren Ausbau eines globalen Netzes von
Sommer 2011 – möglichst gebündelt – Vorschläge zur Meeresschutzgebieten innerhalb und außerhalb nationa-
Präzisierung und Ergänzung des EU-Rechtsrahmens ler Hoheitsgebiete.
vorlegen. Deutschland unterstützt grundsätzlich das Ein-
treten der Kommission für höchste Sicherheitsstandards Abschließend möchte ich bemerken: Umweltschutz
sowie eine stärkere Harmonisierung in EU und gegebe- gilt für alle Arten der Rohstoff- und Energiegewinnung,
nenfalls darüber hinaus, da Schäden grenzüberschreitend nicht nur bei Öl und Gas. Auch Rohstoffe für erneuer-
sein können. bare Energien, beispielsweise die speziellen Metalle für
7818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Photovoltaikanlagen, müssen umweltgerecht gefördert, weiter gebohrt, auch Genehmigungen für neue Bohrun- (C)
entsorgt und möglichst umfassend recycelt werden. Das gen werden erteilt. Der Unfall auf der Bohrinsel Deep-
Meer ist besonders sensibel. Aber auf dem Land ist Um- water Horizon war ein Schuss vor den Bug. Die Frage
weltschutz genauso wichtig. Wenn wir wirklich etwas ist, ob die Politik die Kraft hat, darauf zu reagieren. Mit
bewirken wollen, brauchen wir internationale Vereinba- Hinblick auf den Ausgang der jüngsten OSPAR-Konfe-
rungen. Und nicht zu vergessen: Wir dürfen den Meeres- renz bin ich sehr skeptisch. Es ist enttäuschend, dass auf
schutz nicht auf die Rohstoffgewinnung allein verkür- der OSPAR-Konferenz kein Moratorium für Tiefsee-Öl-
zen. Auch der Plastikmüll in den Weltmeeren ist ein bohrungen beschlossen wurde. So können die Ölbohrun-
weiteres Umweltthema. gen weitergehen, als hätte es die Katastrophe im Golf
von Mexiko niemals gegeben. Auf der OSPAR-Konfe-
renz haben die beteiligten Staaten beschlossen, dass eine
Frank Schwabe (SPD): Am 20. April explodierte
Entscheidung über ein Moratorium erst gefällt werde,
die vom Ölkonzern BP gecharterte Bohrplattform Deep-
wenn ein Untersuchungsbericht zur Ölpest im Golf von
water Horizon und sank zwei Tage später. In knapp drei
Mexiko von US-Präsident Barack Obama im Januar vor-
Monaten strömten etwa 800 Millionen Liter Rohöl in gut
gelegt wird.
1 500 Metern Tiefe ins Meer. Tausende Schiffe und
Zehntausende Helfer waren im Golf von Mexiko im Ein- Dabei ist die Gefahr in Europa genauso groß wie im
satz, um die Folgen der Katastrophe einzudämmen. Golf von Mexiko, wobei zu berücksichtigen ist, dass das
Zwar beherrschen heute andere Schlagzeilen die Me- Gebiet der OSPAR auch arktische Gewässer umfasst.
dien, die Folgen der Ölkatastrophe werden uns aller- Die Gewässer der Arktis sind besonders sensibel. Hier
dings noch lange beschäftigen. Der größte Teil des aus- wird Öl wegen der kalten Temperaturen viel langsamer
gelaufenen Öls ist immer noch im Meer, und es braucht abgebaut als zum Beispiel im Golf von Mexiko. Die
wahrscheinlich Jahre, bis es abgebaut ist. Wir sind noch Bundesregierung hat es allerdings nicht für nötig gehal-
weit davon entfernt, die Auswirkungen vollständig zu ten, auf Ministerebene zur OSPAR-Konferenz zu kom-
verstehen. Die mittel- und langfristigen Schäden sind men, um mit allem Druck für ein Moratorium zu werben.
noch nicht absehbar. Wir dürfen uns diesem wichtigen Umweltminister Röttgen konnte im Vorfeld der Konfe-
Thema nicht nur annehmen, wenn es große Schlagzeilen renz nicht durchsetzen, dass Deutschland auf der
in den Medien gibt. Denn die größte Bedrohung der OSPAR-Konferenz ein sofortiges Moratorium für Tief-
Meere sind nicht nur die spektakulären Umweltkatastro- see-Ölbohrungen fordert. Ihm gelingt es auch hier nicht,
phen, wie wir sie gerade im Golf von Mexiko erlebt ha- seine schönen Worte in Taten umzusetzen.
ben, sondern die alltägliche Verschmutzung, die es nicht
auf die Titelseiten der Zeitung schafft, die aber umso Auch die Europäische Union reagiert nicht so auf die
Ölkatastrophe wie sie sollte. Kommissar Oettinger hat (D)
(B) verheerender ist.
zwar ein Moratorium für neue Tiefsee-Ölbohrungen an-
Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher, als ob gekündigt. In einen Forderungskatalog hat es das Mora-
nichts geschehen sei. Wir müssen aus der Katastrophe torium jedoch nie geschafft. Es bedarf jedoch nicht nur
lernen und Konsequenzen ziehen. Dies greift auch der eines Moratoriums für Tiefsee-Ölbohrungen, sondern
Antrag der Grünen auf. Wir müssen die Fragen diskutie- auch eines hieb- und stichfesten Anforderungskatalogs
ren, wie die Schäden beseitigt werden können und ob es zur Erteilung von Bohrgenehmigungen. Die bestehenden
überhaupt möglich ist, dass wirklich alle Schäden besei- Zuständigkeits- und Gesetzeslücken bei den Sicherheits-
tigt werden können? Wie hat sich der massive Einsatz und Haftungsfragen von Ölbohrungen in großen Mee-
von Chemikalien zur Ölbekämpfung ausgewirkt? Bis restiefen müssen geschlossen werden. Bis dahin rufen
heute weiß niemand, ob die drei Millionen Liter Corexit, wir die betroffenen EU-Mitgliedstaaten dazu auf, neue
die im Meerwasser verteilt wurden, ihren Zweck erfüllt Tiefseebohrungen auszusetzen. Wir brauchen Mechanis-
haben. Es gibt Berichte, dass sich das Lösungsmittel men, die eine Katastrophe wie die im Golf von Mexiko
nicht besonders gut mit dem Öl vermischt hat. zuverlässig verhindern. Zur Einhaltung gemeinsamer
höchster Sicherheitsstandards sind eine bessere Zusam-
Gibt es Techniken, die mögliche Unfälle bei Tiefsee- menarbeit von nationalen Kontrollinstanzen in der EU
bohrungen beherrschbar machen, oder müssen wir Tief- sowie in den Nachbarstaaten notwendig. Das Mandat der
seebohrungen untersagen? Als SPD fordern wir die Bun- Europäischen Agentur für Meeressicherheit, EMSA,
desregierung auf, sich für ein Moratorium für Öl- muss entsprechend angepasst und auf Ölplattformen aus-
Tiefseebohrungen einzusetzen, solange die Technolo- geweitet werden. Auch muss national und auf EU-Ebene
gien noch nicht verfügbar sind, um auftretende Unfälle überprüft werden, ob das Unfall- und Katastrophenma-
zu beherrschen. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko nagement gegen Ölunfälle noch effektiver gestaltet wer-
zeigt aber auch, dass es richtig war, dass sich die SPD den kann und alle denkbaren Gefahrenlagen umfasst.
schon vor einigen Jahren für eine Strategie „weg vom
Öl“ entschieden hat – und das nicht nur aus Gründen des Doch wir brauchen nicht nur für europäische Gewäs-
Klimaschutzes, sondern weil das „schwarze Gold“ auf ser schärfere Vorschriften. Auch für die Tiefsee sind
der ganzen Welt dreckige Spuren hinterlässt. klare Spielregeln notwendig. In der Tiefsee besteht
höchstwahrscheinlich die Gefahr, dass viele Arten vom
Leider scheiterte die US-Regierung mit dem Versuch, Aussterben bedroht sind, obwohl sie von der Wissen-
ein Moratorium für Tiefsee-Ölbohrungen durchzusetzen, schaft noch gar nicht entdeckt wurden. Wir wissen bis
bis die Ursachen für die Katastrophe im Golf von Me- heute sehr wenig über die Tiefsee, obwohl fast 70 Pro-
xiko geklärt sind. So wird heute im Golf von Mexiko zent der Erde von Ozeanen bedeckt sind. Vier Fünftel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7819

(A) davon sind tiefer als 1 000 Meter. So gesehen könnte Problem. Bedroht sind hierbei nicht nur die Natur mit ih- (C)
man fast sagen, das wir auf dem „Planet Tiefsee“ leben. ren Ökosystemen, sondern auch Fischerei, Tourismus
Die tiefste Stelle unter dem Meeresspiegel, die bis heute und Küstenschutz. Trotz der Risiken darf die Erdölför-
gemessen wurde, liegt auf unter 11 034 Meter, das Chal- derung in der Tiefsee nicht per se als unsicher erklärt
lenger-Tief im Marianengraben. Ein imposantes Ge- werden. Wir können und müssen jedoch dazu beitragen,
birge, der Mittelozeanische Rücken, erstreckt sich über dass die Zukunft der Offshore-Ölförderung noch siche-
etwa 60 000 Kilometer durch die Tiefsee. Es sind unter- rer gestaltet wird. So konnten beispielsweise seit den
meerische Vulkanketten, aus deren Zentralspalten sich ersten großen Tankerunfällen sowohl in technischen als
glühende basaltische Schmelze aus dem Erdmantel auch gesetzlichen Bereichen der Sicherheit deutliche
schiebt. Allein im Pazifik sind bislang 30 000 vulkani- Fortschritte erzielt werden.
sche Seeberge kartiert. Seeberge und Kaltwasserkoral-
lenriffe gelten als besonders artenreiche Lebensräume. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko muss einen
Doch wir wissen immer noch extrem wenig über die Ar- Wendepunkt markieren – so wie der Untergang des Öl-
tenvielfalt und die Lebensräume dieser Unterwasserwelt. tankers „Exxon Valdez“ 1989 vor Alaska. Auch für die
deutschen Küsten wäre eine Ölkatastrophe in der Nord-
Die Tiefsee ist ein Erbe der Menschheit. Sie ist kein see bzw. Ostsee verheerend. Seit der Havarie des Holz-
rechtsfreier Raum. In zähen Verhandlungen bei den Ver- frachters „Pallas“ im Herbst 1998, der letzten großen Öl-
einten Nationen einigte man sich schließlich auf das katastrophe in der Nordsee, haben wir uns jedoch gut
heute gültige Seerechtsübereinkommen. Es teilt zu- vorbereitet.
nächst die Ozeane in verschiedene Bereiche ein. Zwölf
Seemeilen breit sind demnach die Küstenmeere, in de- Der Bund und die Küstenländer haben im Jahr 2003
nen nationales Recht verbindlich ist. Es folgen bis zu das Havariekommando in Cuxhaven ins Leben gerufen.
188 Seemeilen an „ausschließlicher Wirtschaftzone“, in Dieses sorgt im Notfall für ein koordiniertes Unfallma-
der dem jeweiligen Land vielfältige Nutzungsmöglich- nagement und ist Tag und Nacht besetzt. Sollte es zu
keiten zustehen. Alles was außerhalb dieser Gebiete kleineren Ölunfällen kommen, sind die lokalen Behör-
liegt, und damit auch große Teile der Tiefseeböden, wird den in der Pflicht. Bei größeren Unfällen koordiniert ein
in der Charta als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ Havariestab die Einsatzkräfte von Bund und Land. Ein
bezeichnet. Durch das Seerechtsübereinkommen wurden solcher Einsatz wird von dem Havariekommando in re-
sowohl geltendes Seevölkerrecht kodifiziert als auch gelmäßigen Abständen trainiert. Begleitend stehen Spe-
neue seevölkerrechtliche Normen geschaffen wie bei- zialschiffe bereit, die bei einer Ölpest eingesetzt werden
spielsweise im Bereich des Meeresumweltschutzes. können. Mit ihnen ist es möglich, Ölteppiche aufzusau-
gen bzw. einzufangen.
(B) Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäischen (D)
oder internationalen Verhandlungen – Ziel muss sein, Mit all diesen Maßnahmen stehen wir im Vergleich zu
den Schutz der Tiefsee sicherzustellen und die Nutzung den USA deutlich besser vorbereitet und ausgerüstet da.
und Bewahrung der Meere wieder miteinander zu ver- International werden wir jedoch darauf drängen, dass bei
binden. Ansonsten verspielen wir leichtfertig das ge- der Ölförderung in der Tiefsee die Sicherheitsvorkehrun-
meinsame Erbe der Menschheit. Aufgabe der Politik ist gen verbessert werden, damit sich ein solcher Unfall
hierbei, in einen engen Dialog mit den relevanten Akteu- nicht noch einmal wiederholen kann.
ren zu treten und kurzfristiges Profitdenken durch lang-
fristige Verantwortung abzulösen. Eines ist jedoch klar: Eine Vergleichbarkeit der Ölför-
derung in der Nordsee zum Golf von Mexiko ist nicht
Angelika Brunkhorst (FDP): Der Wettlauf um die gegeben. In der Nordsee sind deutlich geringere Wasser-
Rohstoffe der Tiefsee wird nicht aufzuhalten sein. Da die tiefen. Daher können die im Golf von Mexiko aufgetre-
klassischen Ölquellen nach und nach versiegen, werden tenen Probleme in der Nordsee nicht auftreten. Ein even-
zunehmend Ölvorkommen in unwägbareren Gebieten tuelles Leck würde sofort durch Taucher abgedichtet
gesucht. Noch vor 20 oder 30 Jahren galt die Tiefsee als werden.
nicht erschließbar. Aufgrund des steigenden Ölpreis und
der hohen Nachfrage nach Erdöl werden die Tiefseevor- Schlussendlich kann dem Antrag der Grünen nicht zu-
kommen nun attraktiver. gestimmt werden, da bei einer vernünftigen Abwägung
von Chancen der Tiefseeexploration – Öl und Rohstoffe –
Unsere Industriestaaten hängen immer noch stark und notwendiger Regulation der Antrag der Grünen weit
vom Erdöl ab. Öl bedeutet nicht nur Energie. Viele unse- über das Ziel hinausschießt. Er zielt letztendlich auf ein
rer modernen Produkte basieren auf dem Rohstoff. Die Verbot unterseeischer Nutzung. Wir Liberalen wollen
Palette reicht von EDV-Hardware bis hin zu kosmeti- auch unseren kommenden Generationen die Chance las-
schen und medizinischen Produkten. Zwar haben die sen, die Schätze des Meeres mit Maß und Vernunft nach-
westlichen Industriestaaten der OECD ihre Abhängigkeit haltig zu nutzen.
von Rohöl seit den 70er-Jahren etwa halbiert. Schwel-
lenländer hingegen wachsen mit einem enormen Ener-
Sabine Stüber (DIE LINKE): Risiken und Gefahren
giehunger.
für unsere Meere kommen aus allen Richtungen. Nähr-
Die Katastrophe im Golf von Mexiko hat uns jedoch und Schadstoffe, Müllverkippung und maßlose Überfi-
aufgerüttelt. Die Gefahr der Verschmutzung des Meeres schung belasten die Meere weltweit. John Irving sieht
und besonders der Küstenzonen durch Öl ist ein großes das so: „Die Zukunft der Menschheit hängt nicht mehr
7820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) davon ab, was sie tut, sondern mehr denn je davon, was Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
sie unterläßt.“ Am Jahresende gibt es viele Fernsehsendungen, die das
Jahr mit Rückblicken Revue passieren lassen. Ich er-
Für unseren hemmungslosen Rohstoffverbrauch muss spare mir die Polemik, wer dieses Mal der Verlierer des
es auch das Erdöl aus der Tiefsee sein. Vielleicht sollte Jahres wird, obwohl ich da ein paar Vorschläge machen
man das unterlassen, vor allem nach der Havarie im Golf könnte.
von Mexiko. Am Bohrloch trat am 20. April Gas aus und
explodierte, elf Menschen starben, und zwei Tage später Erst dann wird wohl wieder vielen Verantwortlichen
ging die Plattform unter. Was keiner von uns zu diesem ins Bewusstsein rücken, was in diesem Jahr im Golf von
Zeitpunkt wusste: Es gibt keine Technik für den Super- Mexiko passiert ist: Monatelang mussten wir eine der
gau. Das Öl floss über drei Monate ins Meer, bis das größten – wenn nicht gar die größte – Ölkatastrophe der
Bohrloch versiegelt war. Insgesamt traten etwa 780 Mil- Geschichte sehen, live übertragen im Internet.
lionen Liter Rohöl aus. Zusätzlich wurden Tausende Damals haben sich viele mit Versprechen und Beteue-
Tonnen Chemikalien ins Meer gekippt, damit das Öl rungen zu Wort gemeldet: Umweltminister Röttgen und
nicht an die Wasseroberfläche steigt und an Land ge- Energiekommissar Oettinger standen ganz vorn mit der
schwemmt wird. Forderung nach einem Moratorium für neue Ölbohrun-
gen. Als es ernst wurde, fehlte jedoch der Umweltminis-
BP arbeitete, laut eigener Aussage, nach internationa-
ter bei der entscheidenden Konferenz. Die Briten schick-
len technischen Standards. Was bedeutet das eigentlich?
ten dagegen alles, was zur Verfügung stand. Das
Das bedeutet: Wenn es eine Panne auf einer Ölplattform
Ergebnis kennen wir: Ein Moratorium gibt es für Europa
gibt, ein Fehler auftritt oder es geht etwas kaputt, kann
nicht. Ich frage mich, wie ernst der Minister seine An-
beim Ölbohren in der Tiefsee überall das Gleiche wieder
kündigungen nimmt!
passieren. Und dann? Der Havariedienst kommt, zuckt
mit den Schultern und fängt an auszuprobieren, was hel- Das Gegenteil einer vernünftigen Bestandsaufnahme
fen könnte. ist nun der Fall – es geht einfach weiter mit den Ölboh-
rungen in unseren Meeren.
Natürlich soll dieses Bild provozieren. Aber wer von
uns würde mit einem Auto fahren, das keine Bremsen BP hat inzwischen sogar die Genehmigung erhalten,
hat? Und jetzt wissen wir, dass es keine ausgereifte um vor Libyen in der Tiefsee zu bohren. Hier frage ich
Technik für die Tiefsee gibt. Die falschen Angaben von mich, wie das mit allen Berichten zusammenpasst, die
BP zur Menge des ausgetretenen Öls, das Herunterspie- wir inzwischen von der Katastrophe kennen: BP selbst
len der Gefahren bis hin zu gefälschten Fotos im Juli und auch eine Kommission der US-Regierung haben
zahlreiche Fehler festgestellt.
(B) dieses Jahres für die Medien sprechen eine eindeutige (D)
Sprache. Hinzu kommt, dass damals interne Papiere des Wenn man den Untersuchungsbericht von BP liest,
BP-Konzerns besagen, dass zur Abdichtung des Bohr- fragt man sich, wie man überhaupt wieder einen Bohrer
lochs, trotz der Bedenken von Experten, eine kosten- in die Tiefsee lassen kann: Hier ist die Rede von fehler-
günstige Methode angewendet wurde. hafter Zementierung, nicht funktionstüchtigen Dichtun-
gen, falsch interpretierten Druckproben oder einem nicht
Wie kann man das Meer vor den Menschen retten?
funktionierenden Ableitsystem. In aller Breite wird die
Die Frage wurde in der letzten Zeit öfter gestellt. Von
Komplexität der Technik und Verantwortung geschil-
den Öl-Konzernen ist in dieser Richtung nichts zu erwar-
dert. Ich bin für diesen Bericht außerordentlich dankbar.
ten. Ganz offensichtlich sind klare gesetzliche Vorgaben
Er gibt uns vielfältige Informationen, wie riskant das
und strenge Sicherheitsauflagen erforderlich – im eige-
Bohren nach Öl in großen Tiefen ist. Gleichzeitig bin ich
nen Land und international.
ehrlich entsetzt, wie man jetzt – nach nicht einmal einem
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ent- halbem Jahr – wieder mit dem Bohren beginnen kann.
hält dringend notwendige Maßnahmen, wie die Klärung Ist mit einem Mal dieses komplexe Risiko kleiner ge-
von Haftungsfragen, Notfallpläne, bis hin zu Meeres- worden?
schutzgebieten. Die Linke unterstützt den Antrag. Es Der Verdacht drängt sich auf, dass hier die Risiken
geht um die Verhinderung von Ölkatastrophen im Meer. eingepreist werden. Die Entschädigungszahlungen im
Vorsorge und Nachsorge sind verbindlich zu regeln. Vor Golf von Mexiko sind offensichtlich für einen Konzern
allem muss erreicht werden, dass neue Tiefseebohrungen dieser Größe tragbar. Und auch der Imageschaden wird
überhaupt erst wieder genehmigt werden, wenn eine mit der Zeit vergessen werden. Das ist es, worauf man
Fördertechnik entwickelt ist, die den Austritt von Öl aus- hofft.
schließt. Diese Forderung, wie auch die meisten ande-
ren, sind nur im internationalen Kontext zu klären. Wir wollen und wir werden nicht vergessen und wir
Trotzdem oder gerade deswegen sollte Deutschland da- müssen national und international zu neuen Vereinbarun-
mit beginnen, die national möglichen Regelungen zu gen kommen. Wir müssen aus dieser Katastrophe lernen.
treffen. Das sind die richtigen Schlüsse aus dem Desas- Noch immer sind die Regelungen für unsere Meere sehr
ter im Golf von Mexiko. schwammig. Deswegen müssen wir aktiv werden und
zum Beispiel klare Haftungsregelungen für Schäden
Zum Schluss möchte ich ihnen einen Satz von Willy durch Ölplattformen schaffen. Es kann nicht sein, dass
Brandt mit auf den Heimweg geben: „Der beste Weg, die Fischer oder Gemeinden nach einer Ölkatastrophe erst
Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“ nach jahrelangem Rechtsstreit zu ihrem Recht kommen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7821

(A) und Geld für entstandene Schäden erhalten. Wir müssen Der Bund beteiligt sich an den Kosten des Ausbaus (C)
deswegen national und international zu Vereinbarungen bis zum Jahr 2013 zu einem Drittel mit insgesamt 4 Mil-
kommen. Wir müssen wissen, was zu tun ist, wenn zum liarden Euro – 2,15 Milliarden Euro für die Investitions-
Beispiel Öl aus britischen oder norwegischen Plattfor- und 1,85 Milliarden Euro für die Betriebskosten. Ab
men deutsche Küsten verschmutzt. dem Jahr 2014 unterstützt er die Länder dann mit jähr-
lich 770 Millionen Euro bei der Finanzierung der Be-
Ölkatastrophen sind nur die eine Seite der Medaille.
triebskosten – und damit bei der Steigerung der Qualität.
Der Golf von Mexiko muss für uns Anlass sein, weiter-
zudenken. Denn in den Tiefen der Ozeane liegen viele Mit dem Geld investieren wir nicht nur in die frühe
andere Rohstoffe, die Begehrlichkeiten wecken. Wenn Bildung aller Kinder, sondern auch in die echte Wahl-
wir hier keine Regeln schaffen, gewinnt der, der zuerst in freiheit der Eltern: Bis heute haben – vor allem in vielen
diese Tiefen vorstoßen kann. Deswegen müssen wir Bundesländern in Westdeutschland – Eltern kleiner Kin-
heute diskutieren, wem die Ozeane gehören und wie wir der keine tatsächliche Wahlfreiheit: Da es an vielen Or-
diese einzigartigen Lebensräume erhalten. Noch haben ten immer noch kein bedarfsdeckendes Angebot an Be-
wir die Möglichkeit, hier an Regeln mitzuarbeiten. Diese treuungsplätzen gibt, stehen die Eltern oft gar nicht vor
Chance müssen wir nutzen. der Wahl „Familie und Beruf“ oder „Familie oder Be-
ruf“. Für viele Paare gibt es nur ein Entweder-oder.

Anlage 9 Der erste Evaluationsbericht zum KiföG, den wir heute


diskutieren, zeigt, dass zwar alle Bundesländer die Ver-
Zu Protokoll gegebene Reden sorgungsquote im Vergleich zum Vorjahr verbessert ha-
zur Beratung: ben: Im März 2009 wurden immerhin bereits 20 Prozent
der unter dreijährigen Kinder in ganz Deutschland in Kin-
– Unterrichtung: Bericht über den Stand des dertageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege be-
Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot treut. Doch der Bericht zeigt auch, dass viele – vor allem
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter westdeutsche – Bundesländer ihre Anstrengungen erheb-
drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Ers- lich steigern müssen, damit das Ausbauziel erreicht wer-
ter Zwischenbericht zur Evaluation des Kin- den kann.
derförderungsgesetzes)
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel des Frei-
– Antrag: Faire Teilhabechancen von Anfang staates Bayern. Dort wird das angestrebte Ausbauziel
an – Frühkindliche Betreuung und Bildung bereits 2012 erreicht. Anders als andere Länder schöpft
fördern der Freistaat Bayern die Mittel des Bundes voll aus und
(B)
(Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs- legt noch Geld drauf, um ohne Deckelung fördern zu (D)
punkt 5) können. Kein anderes Bundesland hat den Kommunen
bisher so viele Mittel bewilligt wie Bayern.
Dorothee Bär (CDU/CSU): Im September 2008 hat Nur wenn wir ein bedarfsgerechtes Angebot an Be-
die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen treuungsplätzen aufbauen, werden alle Eltern, die das
bei der Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes wünschen, einen Kinderbetreuungsplatz in Anspruch
gesagt: nehmen können. Dann haben alle Eltern wirkliche Wahl-
freiheit. Echte Wahlfreiheit heißt für mich auch: Es liegt
Das Kinderförderungsgesetz wird unser Land spür- alleine im Ermessen der Eltern, wo und wie sie ihre Kin-
bar verändern. Es setzt Meilensteine für mehr Ver- der betreuen: zu Hause, zu Hause und auch in der Kita,
einbarkeit von Familie und Beruf, für mehr Bildung überwiegend in der Kita oder in der Kindertagespflege.
für unsere Kinder und für mehr Zukunft in unserem
Land. Um den Wünschen vieler Eltern nach einer familien-
nahen Betreuung zu entsprechen, streben wir an, ein
Und der bislang zurückgelegte Weg zeigt, dass sie mit Drittel der Betreuungsplätze in der Tagespflege anbieten
dieser Einschätzung richtig lag. zu können. Wir haben bereits viel dafür getan, den Beruf
Wir haben damals gewusst, dass auf Bund, Länder der Tagesmutter oder des Tagesvaters attraktiver zu ge-
und Gemeinden ein ehrgeiziger Arbeitsplan wartet, stalten. Zur Steigerung der Qualität hat auch das „Ak-
wenn wir bis 2013 für circa 35 Prozent der unter Drei- tionsprogramm Kindertagespflege“ beigetragen.
jährigen einen Betreuungsplatz – entweder in der Tages-
Für Union und FDP – das haben wir auch in unserem
pflege oder in Kindertagesstätten – zur Verfügung stellen
Antrag herausgestellt – haben nicht Kita oder Schule den
wollen. Aber wir sind nach einer gemeinsamen Kraftan-
stärksten Einfluss auf die Erziehung und Bildung der
strengung ein gutes Stück vorangekommen.
Kinder, sondern die Eltern. Kompetente Eltern können
Die Finanzierung und die Bedarfsplanung der Kinder- das, was in Kinderbetreuungseinrichtungen vermittelt
betreuung fallen im föderalen System der Bundesrepu- wird, mindestens ebenso gut leisten. Die Grundlagen für
blik eigentlich in die Zuständigkeit der Länder und soziale Kompetenzen und Bildungsfähigkeit werden in
Kommunen. Doch wegen der großen gesamtgesell- der Familie gelegt. Noch so gute Bildungsangebote in
schaftlichen Bedeutung hat sich der Bund bereit erklärt, den Betreuungseinrichtungen sind wirkungslos, wenn
Länder und Kommunen beim massiven Ausbau der Be- sie nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Die eigenen El-
treuungsplätze für die Kleinsten zu unterstützen. tern sind die besten Experten für ihr Kind, und da, wo sie
7822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) es objektiv nicht sind, müssen wir ihnen auf dem Weg zu Die Erfolge, die die CDU-geführte Große Koalition (C)
ihrem Kind helfen, ohne sie von ihrer Elternrolle selbst bei dem Ausbau der Kinderbetreuung bis zum Jahr 2009
auszuschließen. Das heißt – und das haben wir auch in herbeigeführt hat, sprechen für sich: 130 000 neue Ange-
unserem Antrag formuliert: Wenn Eltern Begleitung und bote entstanden im Bereich der Kinderbetreuung, davon
Unterstützung brauchen, weil sie verunsichert oder tem- 102 000 in Einrichtungen und rund 28 000 in der Tages-
porär überfordert sind mit der Erziehung ihrer Kinder, pflege. Die Betreuungsquote stieg bundesweit von
müssen wir sie stärken, statt als Staat selbst die Rolle der durchschnittlich 13,5 Prozent auf 20,4 Prozent. Bis 2013
Eltern übernehmen zu wollen. Wir brauchen vielmehr soll die Zielquote von 35 Prozent erreicht werden. An
niedrigschwellige Angebote zur Vermittlung von Erzie- den Kosten des Ausbaus beteiligt sich der Bund bis da-
hungskompetenz, die die Eigenverantwortung der Eltern hin zu einem Drittel in Höhe von Milliarden Euro. Ab
stärken, ihnen Erziehungssicherheit vermitteln und 2014 unterstützt er die Länder darüber hinaus mit
Überforderungen abbauen. Das ist für mich auch ein 770 Millionen Euro zusätzlich für die Betriebskosten.
ganz wichtiger Punkt der neuen Qualifizierungsoffen- Darüber hinaus fließen Mittel in Projekte der Weiterbil-
sive „Frühe Chancen“ des BMFSFJ: In den 4 000 dung, Qualifizierung, Bildungsforschung und Evaluie-
Schwerpunkt-Kitas soll nicht nur die Sprache und die In- rung.
tegration gefördert werden, sondern in örtlicher Nähe zu Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht, die Län-
diesen Kitas werden haupt- und ehrenamtliche Elternbe- der und Kommunen sind nun am Zug. Der Stand des
gleiter aufsuchende Hilfen für Familien anbieten. Wenn Ausbaus ist jedoch in den Ländern sehr unterschiedlich.
Kindertagesstätten die Erziehung der Eltern ergänzen Die Bertelsmann-Stiftung stellte im „Ländermonitor
sollen, müssen wir dafür sorgen, dass sie qualitativ hoch- Frühkindliche Bildung 2010“ fest, dass in der Höhe der
wertig sind. Eltern möchten und müssen auch die Ge- Investitionen für frühkindliche Bildung eine große Lü-
wissheit haben, dass ihre Kinder in der Kindertagesstätte cke zwischen den einzelnen Ländern klafft. Hamburg ist
und auch bei Tagespflegepersonen gut betreut und geför- das Land, das mit am meisten für die frühkindliche Bil-
dert werden. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür dung ausgibt. Damit ist die CDU-geführte Hansestadt
schaffen, dass sich Eltern und Kinderbetreuungseinrich- eine gute Adresse, was die aktuellen Entwicklungen in
tungen als Partner verstehen, die gemeinsam durch eine der Kita-Politik angeht. Trotz eines strengen Konsolidie-
gute frühkindliche Förderung die Bildungs- und Teilha- rungskurses wurden die Kosten für die Kinderbetreuung
bechancen der Kinder verbessern. Lassen Sie uns ge- nicht gekürzt oder eingefroren, nein ganz im Gegenteil:
meinsam daran arbeiten. Sie stiegen um 10 Prozent von 411 Millionen Euro im
Jahr 2008 auf knapp 460 Millionen Euro im vergange-
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Die nen Jahr. Im Jahr 2001 waren es noch 298 Millionen
(B) zentrale Bedeutung der frühkindlichen Förderung ist un- Euro – als Hamburg übrigens von der SPD regiert (D)
bestritten. Diese wird durch zahlreiche allgemein be- wurde. Derzeit liegt die Quote im Krippenbereich bei
kannte Studien belegt. Von der frühkindlichen Erziehung 27,3 Prozent. Das SPD-regierte Rheinland-Pfalz als Ver-
und Bildung wird es also im Wesentlichen abhängen, ob gleich erreicht im Moment nur eine Betreuungsquote
die heranwachsenden Generationen den Herausforderun- von 17,6 Prozent. Für die Zielquote von 32 Prozent muss
gen und Belastungen der Welt von morgen gewachsen das Land seine Anstrengungen also nahezu verdoppeln.
sein werden, betont der renommierte Entwicklungspsy- So wie die Länder und Kommunen gemeinsam mit
chologe Professor Wassilios Fthenakis. Deshalb ist die dem Bund bisher den quantitativen Ausbau vorangetrie-
Förderung von Anfang an für uns unabdingbar und hat ben haben, setzen wir in Zukunft verstärkt auf den quali-
sowohl in der Familien- als auch der Bildungspolitik tativen Durchbruch, da sich Kindertagesstätten längst als
oberste Priorität. Bildungsorte etabliert haben. Aus diesem Grund fokus-
sieren sich die aktuellen Anstrengungen auf die Erfül-
Die frühkindliche Förderung beginnt in der Familie, lung des Bildungsauftrags, verbunden mit einem starken
in der erste grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung. Wir setzen
vermittelt und gestärkt werden. Viele Eltern erfüllen die- daher verstärkt und gezielt auf eine Qualitätsinitiative,
sen Erziehungsauftrag kompetent. Nicht wenige benöti- das heißt auf die Verbesserung der Ausbildung des päda-
gen jedoch ergänzende Unterstützung, wenn es darum gogischen Personals, die Verbesserung der Betreuungs-
geht, berufliches Fortkommen und Familie in Einklang relationen sowie der Bildungsinhalte und eine bestmög-
zu bringen. Ihnen soll ein Betreuungsangebot eröffnet liche Standardisierung in Kooperation aller Beteiligter.
werden, ebenso aber auch denjenigen Eltern, die mit der Dabei wollen wir die Länder mit allen Kräften unterstüt-
Förderung ihrer Kinder zuweilen überfordert sind. zen. Dazu zählen unter anderem Bindungs- und Bil-
dungsforschung, Bildungspartnerschaften zwischen Bund,
Um nunmehr den Zugang für möglichst alle Kinder
Ländern und Kommunen, vor allem auch die Stärkung
zu Betreuungseinrichtungen zu ermöglichen, haben
der Dynamik beim Ausbau und die Verbesserung der
Bund, Länder und Kommunen vor drei Jahren den mas-
Personaleinsatzschlüssel. Darüber hinaus erachten wir
siven Ausbau der Betreuungsplätze beschlossen. Dass
angesichts der Vielfalt der Kinderbetreuungseinrichtun-
die vorhandene Struktur der Kindertagesstätten in
gen freiwillige Zertifizierungen mit Blick auf die Quali-
Deutschland zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf
tät der Einrichtung als sehr sinnvoll.
beträgt, bestätigte die OECD, indem sie ausdrücklich
den Dreiklang von Bildung, Betreuung und Erziehung in Die bisherigen Maßnahmen zeigen, dass der Bund je-
den Kindertagesstätten in Deutschland lobt. derzeit bereit ist, in Kooperation mit den Ländern ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7823

(A) meinsame Strategien zu entwickeln, die den Bildungs- nach wie vor ist die Betreuungsquote in den meisten (C)
auftrag umsetzen und den Ausbau noch schneller westdeutschen Ländern nicht zufriedenstellend.
vorantreiben. Die Eltern unterstützt der Bund mit zahl-
reichen Projekten wie dem „Familienwegweiser“, dem Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, fordern die Frau
„Kompass Erziehung“, den Elternbriefen, Elternkursen Ministerin seit Monaten auf, eine aktuelle ehrliche Be-
und Telefonberatungen – durch praktische Begleitung in darfsanalyse vorzulegen. Wenn wir den Rechtsanspruch
den ersten Lebensjahren. Zur Verbesserung der Qualität 2013 wirklich umsetzen wollen – und das wollen wir –
der frühkindlichen Betreuung startete im Januar 2009 brauchen wir genauere Zahlen von den Eltern, wie hoch
unter anderem die „Weiterbildungsinitiative Frühpäda- der tatsächliche aktuelle Bedarf ist. Deshalb fordern wir
gogische Fachkräfte“ (WiFF) des Bundesministeriums eine jährliche unabhängige Bedarfsanalyse zur Feststel-
für Bildung und Forschung. Diese dient der Verbesse- lung des Bedarfs an frühkindlichen Bildungs- und Be-
rung von Qualität, Transparenz und Durchlässigkeit des treuungsangeboten.
Systems der Weiterbildung für die bereits tätigen Fach-
kräfte. Das Programm bietet Erkenntnisse aus der Prä- Seit Monaten fordern wir die Regierung auch auf,
ventionsforschung für Erzieherinnen und Erzieher. Zu- sich erneut mit Ländern und Kommunen an den Ver-
sätzlich fördert der Bund begleitend bis 2014 ein handlungstisch zu setzen. Die Bundesregierung darf die
Projekt, um zu erforschen, welche Qualitätsanforderun- Hilferufe der Kommunen nicht länger ignorieren. Die
gen im Arbeitsfeld von Kindertageseinrichtungen und den Kommunen durch das sogenannte Wachstumsbe-
zur Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte bestehen. schleunigungsgesetz entstandenen Einnahmeausfälle
Um gerade Männer zu gewinnen, startete in diesem Jahr von 1,6 Milliarden Euro jährlich müssen vollständig
das Programm „Mehr Männer in Kitas“. Damit sollen kompensiert werden, und weitere Belastungen durch die
auch Männer in ihrer Vorbildfunktion für die persönliche verfehlte Steuerpolitik der Regierung müssen verhindert
Entwicklung zur Komplettierung der pädagogischen werden. Spannen Sie lieber mit uns den Rettungsschirm
Konzepte beitragen. für die Kommunen, statt sie weiter im Regen stehen zu
lassen.
Ebenso fördert der Bund seit sieben Jahren gezielt die
Forschung im Bereich Sprachdiagnostik und Sprachför- Es ist schön, dass die Koalition mit ihrem Antrag, den
derung und entwickelt gemeinsam mit den Ländern wir heute debattieren, im Wesentlichen den SPD-Antrag
Maßnahmen für Sprachtests, Qualifizierung von Erzie- „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für
hern sowie für die Unterstützung der Eltern. Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“ vom
Juni dieses Jahres nachahmt. Doch leider bleibt er hinter
In den nächsten vier Jahren werden zusätzlich rund unserem Antrag zurück.
(B) 400 Millionen Euro in die frühkindliche Bildung inves- (D)
tiert. Dieses Geld wird für zusätzliches qualifiziertes Das Konzept der Inklusion soll nach unserer Vorstel-
Personal, insbesondere zur Integrations- und Sprachför- lung grundlegend für das Bildungssystem für alle Kinder
derung, eingesetzt. Die Mittel fließen in circa 4 000 von Anfang an sein.
Schwerpunkt-Kitas und sollen vor allem in sozialen
Brennpunkten dazu beitragen, faire Chancen für alle Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen
Kinder zu schaffen. mit Behinderungen fordert ein inklusives Bildungssys-
tem für alle Kinder. Der inklusive Ansatz geht dabei
Der Bund will und wird die Länder und Kommunen weiter als der integrative. Es geht nicht darum, Kinder
auch weiter darin unterstützen, bedarfsgerechte Ausbau- mit Behinderungen in Klassen oder Gruppen mit über-
konzepte zu entwickeln, die den qualitativen und quanti- wiegend nichtbehinderten Kindern einzugliedern. Es
tativen Anforderungen gerecht werden. Und das – und geht vielmehr darum, dass alle Kinder, Kinder mit und
das gilt es noch einmal zu betonen –, weil er die Wich- ohne Behinderungen, deutsche Kinder und Kinder mit
tigkeit erkannt hat und mit den richtigen, zielgerichteten Migrationshintergrund sowie Kinder aus allen sozialen
Maßnahmen fördert. Es geht einzig und allein um das Schichten, selbstverständlich gemeinsam unterrichtet
Ziel, bestmögliche Betreuung und Bildung zu erzielen und betreut werden. Inklusive Bildung heißt konkret:
für die wichtigste Ressource, die Deutschland besitzt: Alle Kinder werden in allgemeinbildenden Kindertages-
unsere Kinder. einrichtungen und Schulen in heterogenen Lerngruppen
den eigenen Fähigkeiten entsprechend gefördert. Die er-
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Es freut forderliche individuelle Unterstützung wird durch die
mich, dass die Familienministerin ihre Pressemitteilung Bildungseinrichtung zum Kind gebracht. Das System
zu den neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes mit passt sich so dem Menschen an, nicht der Mensch dem
der Überschrift „Der Ausbau der Kinderbetreuung muss System.
noch weiter an Dynamik gewinnen“ versieht. In der Tat:
Ihre Appelle an die Länder, den Ausbau der Kinderbe- Wenn es jetzt in dem Antrag von CDU und FDP
treuung zu beschleunigen, reichen nicht. Sie müssen heißt, Kinder mit Behinderung seien „nach Möglichkeit“
endlich einen neuen Krippengipfel einberufen. in Kindertagesstätten zu fördern, dann haben die Koali-
tionsparteien das Konzept Inklusion entweder nicht ver-
23,1 Prozent der Kinder unter drei Jahren nehmen ak- standen oder wollen Inklusion nicht. Auf jeden Fall blei-
tuell Angebote der frühkindlichen Bildung und Betreu- ben sie hinter den Forderungen der UN-Behinderten-
ung in Anspruch. Zwar konnten 55 000 zusätzliche rechtskonvention und der pädagogischen Fachleute zu-
Plätze innerhalb eines Jahres geschaffen werden, doch rück.
7824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Der Antrag der Regierungskoalition spricht auch von Diese Regierung hat ihre Prioritäten bei der Familien- (C)
besserer Qualität bei der Betreuung, bleibt aber vage, förderung richtig gesetzt: Gespart werden muss überall,
wie dies zu erreichen ist. Wir wollen eine Fachkräfteof- auch in der Familienpolitik. Das sind wir zukünftigen
fensive. In Zusammenarbeit mit den Ländern müssen die Generationen schuldig. Aber bei Investitionen in Bil-
Aus-, Fort- und Weiterbildung von pädagogischen Fach- dung und Betreuung und damit Investitionen in das Po-
kräften gefördert und mehr Fachkräfte für den vorschuli- tenzial und in die Zukunft unserer Kinder wird nicht ge-
schen Bereich gewonnen werden. Ein Schwerpunkt un- spart. Hier fördern wir die frühkindliche Bildung
serer Fachkräfteoffensive ist die Gewinnung von zusätzlich, und zwar genau da, wo es ganz besonders
deutlich mehr männlichen Erziehern. Die Vermittlung notwendig ist, wie bei der Sprachförderung in Schwer-
von bereits ausgebildeten Fachkräften auf offene Stellen punktkitas.
muss zügig erfolgen, der Betreuungsschlüssel in Tages-
In unserem heute vorgelegten Antrag konzentrieren
einrichtungen für Kinder verbessert und die bedarfsge-
wir uns noch einmal ganz bewusst auf die Rolle von
rechte und intensivierte Sprachförderung flächende-
Kindertageseinrichtungen als frühkindliche Bildungsein-
ckend sichergestellt werden.
richtungen; denn frühkindliche Bildung ermöglicht
Noch ein Wort zum Betreuungsgeld: Das Betreuungs- Chancengerechtigkeit für alle Kinder von Anfang an,
geld schafft falsche Anreize, indem es den Verzicht auf und das ist Schwerpunkt einer christlich-liberalen Fami-
frühkindliche Bildungsangebote fördert. Alle Fachleute lienpolitik. Dabei ist es wichtig, zu betonen: Die Familie
quer durch die Parteien halten es für kontraproduktiv. legt den Grundstein für die frühe Entwicklung der Kin-
Ich erinnere da nur an die frühere Familienministerin der. Stabile Bindungen und ein vertrauensvolles Mitei-
von der Leyen, die das Betreuungsgeld „eine bildungs- nander sind unersetzlich; dadurch können Kinder sich zu
politische Katastrophe“ nannte. Dennoch fehlt der Ver- starken Persönlichkeiten entwickeln. Wir wollen deshalb
zicht auf die gesetzliche Umsetzung des Betreuungsgel- den Eltern in den entscheidenden Phasen vor und nach
des in dem Antrag, und wir müssen leider davon der Geburt die Begleitung und Unterstützung geben, die
ausgehen, dass die Regierung weiterhin daran festhält. sie benötigen. Durch niedrigschwellige Angebote der
Noch einmal appelliere ich an die Regierung: Führen Sie Familienberatung und -bildung wie den Einsatz von Fa-
das Betreuungsgeld nicht ein, und fördern Sie stattdes- milienhebammen können Eltern in ihrer Erziehungs-
sen den Ausbau der frühkindlichen Bildungsinfrastruk- kompetenz gestärkt werden und praktische Hilfen für
tur. den Umgang mit neuen Situationen vermittelt bekom-
men.
Miriam Gruß (FDP): Lassen Sie mich beginnen mit Die zentrale Bedeutung der ersten Lebensjahre für die
der wichtigsten Aussage des ersten Zwischenberichts zur körperliche und geistige Entwicklung der Kinder wird
(B) Evaluation des Kinderförderungsgesetzes: Die Befra- (D)
durch die aktuelle Entwicklungsforschung belegt. Früh-
gung der Jugendämter hat ergeben, dass die heutigen kindliche Bildungs- und Betreuungsangebote müssen
Planungen zum Ausbau der Betreuung zur Einhaltung also auch qualitativ so gut aufgestellt sein, dass sie der
des 35-Prozent-Zieles im Jahr 2013 führen werden. Sie Wichtigkeit der ersten Lebensjahre angemessen sind. Es
sehen: Diese Regierung erreicht, was sie sich vorgenom- braucht individuelle Förderung, um Begabungen und Ta-
men hat. Wir setzen konkrete Maßnahmen wie den Aus- lente bereits im frühen Alter zu fördern und zu unterstüt-
bau der Kindertagesbetreuung zur besseren Vereinbar- zen. So kann ein besonderer Förderbedarf frühzeitig er-
keit von Familie und Beruf für alle Eltern um. kannt und darauf gezielt eingegangen werden. Die
Der Bericht zeigt auch, dass der Betreuungsbedarf ab Fachkraft-Kind-Relation stellt jedoch bundesweit nach
Vollendung des zweiten Lebensjahres am größten ist: In wie vor eine Herausforderung dar.
Deutschland werden fast 40 Prozent der Zweijährigen Durch den steigenden Ausbau der Kinderbetreuung
außerhalb der Familie betreut. Hier wird deutlich: Der wächst natürlich auch der Bedarf an pädagogischem Per-
Bedarf, auf den wir uns vorbereiten, ist da. Wir sorgen sonal. Wir wollen daher mehr Erzieherinnen, vor allem
nun dafür, dass er auch bedient wird. aber auch mehr männliche Erzieher einstellen. Das Mo-
dellprojekt „MEHR Männer in Kitas“ ist ein Schritt in
Laut einer Studie, die das Statistische Bundesamt
diese Richtung. Auch hier achten wir aber nicht nur auf
diese Woche zur Kinderbetreuung vorgestellt hat, steigt
Quantität, sondern verstärkt auch auf Qualität beim Er-
die Zahl der Kinder unter drei Jahren in Kindertagesbe-
zieherpersonal. Wir werden das Ausbildungsniveau stei-
treuung weiter an. Das sind gute Nachrichten, und das
gern und Aus- und Weiterbildungsangebote ausbauen.
zeigt, dass die Entscheidung der christlich-liberalen Ko-
alition, am Betreuungsanspruch für die unter Dreijähri- Durch die Qualifizierungsoffensive „Frühe Chancen“,
gen bis 2013 festzuhalten, richtig ist. die die christliche-liberale Koalition auf den Weg ge-
bracht hat, sollen außerdem Kindertagesstätten mit be-
Bei allen Bemühungen zum quantitativen Ausbau ist
sonderem Bedarf an Sprachförderung eine zusätzliche
für uns aber auch die Qualität der Betreuung von ent-
Fachkraft zur Verfügung gestellt bekommen. Diese
scheidender Bedeutung; denn Eltern wollen ihre Kinder Fachkraft kann somit ganz gezielt auf die Sprachent-
nicht nur verwahrt, sondern bestens versorgt wissen. Die wicklung der Kinder und bestehenden Förderbedarf ein-
Vernetzung von Kindertageseinrichtungen und ihr Aus-
gehen.
bau mit anderen familienunterstützenden Angeboten zu
sogenannten Familienzentren sind hier ein sehr guter Auch Kinder mit Behinderungen gilt es in Kinderta-
Ansatz, den wir weiter fördern werden. gesstätten frühkindlich zu fördern. Die Ergebnisse des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7825

(A) 13. Kinder- und Jugendberichts machen deutlich: Eine tel aus dem Billigladen. Mal ist es die Gewinnung von (C)
kompetenzengerechte Förderung von Kindern mit Be- jungen Männern für den Erzieherberuf, dann sind es die
hinderungen in einer frühen Altersphase verbessert Kinder aus bildungsfernen Schichten, dann wieder Kin-
Chancen für die spätere Entwicklung. Wir werden ge- der mit Migrationshintergrund. Und weil man das Ganze
meinsam mit den Ländern Inklusionsstrategien bei Bil- am ehesten in sozialen Brennpunkten findet, werden die
dung und Betreuung für Kinder mit Behinderungen ent- gleich als Zielort des Programmes festgemacht. Genau
wickeln und auch die allgemeine Gesundheitsförderung diese Projektpolitik, die schon Ursula von der Leyen zur
stärker in den Betreuungsalltag einbeziehen. Maxime des Familienministeriums gemacht hat, wird
nicht zur Lösung des Problems führen. Dies reicht bes-
Wir sind auf einem guten Weg, was den Ausbau der tenfalls für eine positive Pressemitteilung – gegen die
Kindertagesbetreuung betrifft, sowohl quantitativ als wirklichen Probleme hilft es nicht.
auch qualitativ. Unsere Zusage gilt: Diese Regierung
wird sich gemeinsam mit den Ländern und den Kommu- Es täuscht darüber hinweg, dass es die Elternbeiträge
nen auch in Zukunft für mehr Betreuungsplätze, mehr sind, die Familien mit keinem oder geringem Einkom-
Qualität und die Erweiterung von frühkindlichen Bil- men davon abhalten, ihre Kinder in einer Kita betreuen
dungsangeboten einsetzen. zu lassen. Hierzu schweigen sowohl der vorliegende An-
trag als auch der Bericht der Bundesregierung – und
Diana Golze (DIE LINKE): Der vorgelegte Bericht dies, obwohl genau diese Frage immense Auswirkungen
zum Erreichen der Ziele des Kinderförderungsgesetzes darauf hat, ob Kinder aus einkommensschwachen Fami-
zeichnet im Großen und Ganzen ein realistisches Bild lien in den Genuss von frühkindlicher Bildung kommen.
der Situation im Bereich des Ausbaus der Kindertages- Der Bericht zeichnet zwar ein kritisches Bild des der-
betreuung. Doch aus unserer Sicht ist dies kein Grund, zeitigen Standes des Ausbaus, stellt das Erreichen des
den derzeitigen Stand des Ausbaus der Kinderbetreuung Zieles aber nicht infrage; aus meiner Sicht eine sehr mu-
in der Bundesrepublik zu feiern oder hochzujubeln. Viel- tige These, betrachtet man die Menge der notwendigen
mehr erscheinen uns die lobenden Töne von der Regie- zu schaffenden Plätze und das derzeitige Niveau, vor al-
rungsbank und aus den sie tragenden Fraktionen als lem in den westdeutschen Bundesländern. Dort müsste
Schönfärberei und Verklärung der tatsächlichen Situa- man in den nächsten Jahren die Platzzahlen nur für das
tion. Erreichen der 35-Prozent-Marke mindestens verdoppeln.
Dies wird zum Beispiel daran deutlich, dass der Be- Zahlreiche Umfragen in den Ländern deuten sogar da-
richt auf das sehr unterschiedliche Niveau in Ost und rauf hin, dass mehr als die Hälfte der Eltern ihre Kinder
West hinweist bzw. auf das immer noch zu geringe Aus- in eine Tagesstätte bringen würden – wenn es denn ge-
(B) bautempo in den alten Bundesländern. Auch wenn in nug Plätze gäbe. Die Mittel in den Ländern und in den (D)
den letzten Tagen häufiger über eine positive Entwick- Kommunen aber sind knapper denn je.
lung zu lesen war, bleibt es ein Fakt, dass der auch im
Was sich dazu im Antrag der CDU/CSU findet, ist
Antrag der CDU/CSU-Fraktion gefeierte Anstieg der
nichts anderes als die Wiederholung der fast unver-
Betreuungsquote von bundesweit durchschnittlich 13,6 Pro-
schämten Forderung, die Länder müssten sich nur ein
zent auf 20,4 Prozent noch immer auf das vergleichs-
wenig mehr anstrengen, mehr finanzielle Mittel in die
weise hohe Platzangebot in den neuen Bundesländern
Hand nehmen, um „die Vernetzung eines breiten und fle-
zurückzuführen ist.
xiblen Angebots von Kindertagesbetreuungsangeboten
Hier möchte ich die Betreuungssituation von Kindern und anderen familienunterstützenden Angeboten im
mit Migrationshintergrund hervorheben. Diese ist mit Sinne von Familienzentren auszubauen“, während Sie
9 Prozent der unter Dreijährigen in Westdeutschland und sich auf ein Engagement im Rahmen der finanziellen
mit 16 Prozent in Ostdeutschland sehr niedrig; und dies, Mittel des Bundes zurückziehen.
obwohl gerade in dieser Phase das Erwerben von sprach-
lichen Fähigkeiten sehr wichtig ist, eine Frage, die auch Mit Ihrem Antrag machen Sie deutlich, dass Sie auch
im vorliegenden Antrag aufgeworfen wird. Es ist also in Zukunft immer mehr Aufgaben auf die Länder und
dringend geboten, hier politische Mittel zu finden, um Kommunen abschieben werden, ohne dafür den notwen-
diese Kinder besser einzubinden bzw. den Familien ent- digen finanziellen Ausgleich zu schaffen. Dafür gibt es
sprechende Angebote zu machen. Doch diese fehlen an dann Alibiprogramme wie das vorhin erwähnte Päckchen
allen notwendigen Stellen. für soziale Brennpunkte. Ob dies allerdings Bürgermeis-
tern, wie dem der Stadt Meerbusch, weiterhelfen wird, ist
Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Fa- fraglich. Diesem Bürgermeister fehlt es nicht an Engage-
milienministerium in den kommenden Jahren insgesamt ment, auch nicht in puncto finanzieller Eigenbeteiligung
rund 400 Millionen Euro zusätzlich in die Verbesserung seiner Stadt, ihm fehlen die Mittel, die aufgrund eines
der Qualität der frühkindlichen Bildung investieren will. Förderstopps nicht fließen werden! Diese Situation wird
Das klingt schön – aber nur so lange, wie man die Reali- nicht aufgelöst, indem die CDU/CSU-Fraktion deutlich
täten in puncto Ausbau von Kindertagesbetreuung aus- macht, dass sie genau weiß, was die Länder und Kommu-
blendet, wie es die Bundesregierung nun schon seit eini- nen eigentlich alles machen müssten – und vor allem wo.
gen Jahren und auch weiterhin tut. Denn diese Mittel Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sich endlich
sind erstens auf mehrere Jahre aufgesplittet, werden dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an der Fi-
zweitens gleich für mehrere Förderbereiche ausgeschrie- nanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligen muss. Er
ben und wirken somit drittens wie ein Universalheilmit- darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht
7826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) länger allein lassen: weder mit der zahlenmäßigen Auf- heißt es sogar, dass in einigen Bundesländern die „Perso- (C)
stockung der Betreuungsplätze noch mit dem zukünftig naleinsatzschlüssel in einer Größenordnung liegen, die
fehlenden Personal noch mit dessen Qualifizierung. unter fachlichen Gesichtspunkten als bedenklich einzu-
stufen“ sei. Da müssen die Alarmglocken läuten.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Nun verweist sogar der Koalitionsantrag darauf, dass
KiFöG-Zwischenbericht und auch der von den Regie- der Personaleinsatzschlüssel verbessert werden müsste.
rungsfraktionen vorgelegte Antrag sind leider keine Hierzu soll die Bundesregierung „prüfen“ und „hinwir-
Gründe, Sektkorken knallen zu lassen. ken“. Hierfür soll sie – bitte schön – kein Geld ausgeben.
Ich möchte zunächst etwas zur Zahl 35 sagen. Sie ist Das ist Augenwischerei. Wenn ich so etwas lese, werde
ja mittlerweile im Zusammenhang mit dem Kita-Ausbau ich richtig sauer, weil die Qualität der frühkindlichen
fast zu einer magischen Zahl geworden. Wir sollten sie Förderung zu wichtig ist, um derartige Spielchen damit
von zwei Seiten betrachten: zu treiben.
Erstens. Kann der Ausbau auf 35 Prozent bis 2013 ge- Es muss mal Schluss sein mit den ewigen Ausreden:
schafft werden? Die Ministerin hat in ihrer gestrigen Das Geld für die Kitas ist durchaus vorhanden. Durch
Pressemitteilung selbst die Antwort gegeben: „Der Aus- das Abschmelzen des Ehegattensplittings könnten sehr
bau der Kinderbetreuung muss noch weiter an Dynamik bald und jährlich mindestens 5 Milliarden Euro inves-
gewinnen.“ Sonst klappt es offensichtlich nicht. Sie tiert werden. Kinder fördern, Kitas fördern statt der Pri-
appelliert insbesondere an die Länder, ihre Finanzie- vilegierung der Ehe von anno dazumal, das sind die Zei-
rungszusagen wahrzumachen. Ich nehme einmal NRW. chen der Zeit. Wer angesichts der beschriebenen
In NRW hatte die ehemalige schwarz-gelbe Landesre- Herausforderungen immer noch plant, jährlich 2 Milliar-
gierung die Mittel, die über Neuverteilung der Umsatz- den Euro für ein Betreuungsgeld aus dem Fenster zu
steuer für die Betriebskosten in den Kitas zur Verfügung werfen, dem ist nicht mehr zu helfen.
gestellt werden, komplett im Landeshaushalt versickern
lassen. So hat sie den Kitas in den letzten Jahren circa
70 Millionen Euro gestohlen. Ich habe die Bundesregie- Anlage 10
rung mehrfach gefragt, wie sie sicherstellt, dass die Mit-
tel auch zweckgebunden in den Kitas ankommen, aber Zu Protokoll gegebene Reden
die Regierung hat nur den Kopf in den Sand gesteckt.
Jetzt soll es – endlich – ein Gutachten zur Frage der Ver- Zur Beratung des Antrags: Existenzgründun-
wendung der Mittel geben; wir können gespannt sein. In gen aus Forschung und Wissenschaft fördern –
(B) NRW korrigiert jetzt Rot-Grün die Absahnerpolitik der Für einen starken deutschen Innovationsstand- (D)
vorherigen Regierung. Und CDU und FDP sind sich ort (Tagesordnungspunkt 20)
nicht zu blöde, in diesem Zusammenhang „Neuverschul-
dung“ zu schreien.
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Im Erfinden
Zweitens. Ist der Bedarf mit 35 Prozent gedeckt? Zur sind wir gut: 2009 lagen die Anmeldungen beim Deut-
Erinnerung: Ab 2013 gibt es einen Rechtsanspruch. schen Patent- und Markenamt mit 47 859 Patenten aus
Aber nur für einen Bedarf von 35 Prozent ist Geld da. Deutschland auf Rekordniveau, und auch die Anmelde-
Die Annahme, dass der Bedarf aber mehr als 35 Prozent zahlen in den ersten neun Monaten dieses Jahres sind
beträgt und er zudem über 2013 hinaus noch steigen sehr gut. Aber im Umsetzen neuer Ideen in den Markt, in
wird, ist sehr berechtigt. Deshalb ist es verantwortungs- neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen sind wir
los, dass die Regierung sich unserer Forderung nach ei- bis jetzt nicht so erfolgreich, wie wir sein könnten – und
ner soliden Bedarfsberechnung verweigert. sein müssten, wenn wir mit Zukunftstechniken weiterhin
die Weltmarktführerschaft und damit Wachstum und Ar-
Es ist unumgänglich, dass auf der Grundlage einer beit bei uns im Land sichern wollen. Neue Ideen, die bei
vernünftigen Bedarfserhebung eine neue Finanzierungs- uns entwickelt werden, sollten auch bei uns produziert
vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Kommunen werden – und nicht, wie beim MP3-Player, nur im Aus-
geschlossen wird, damit nicht die Kommunen – oder das land zu Milliardenumsätzen führen.
Land NRW aufgrund der Konnexität in der Landesver-
fassung – alleine auf den zusätzlichen Kosten hängen Eine wesentliche Voraussetzung, um den Wissens-
bleiben. und Technologietransfer zu verbessern, ist die Förderung
Es ist auch überfällig, im Gesetz festzuschreiben, dass von Unternehmensgründungen im Hightechbereich,
es sich beim Recht auf einen Betreuungsplatz um ein denn sie sind wichtige Treiber für den technischen Fort-
Recht auf einen Ganztagsplatz handelt, und zwar für alle schritt hin zu den gefragten Spitzentechnologien.
Kinder. Diese Klarstellung muss der Bund dringend vor- „Deutschland muss wieder zum Gründerland werden!“
nehmen. heißt es deshalb auch in unserem Koalitionsvertrag, da-
mit „Deutschland verstärkt Innovationen hervorbringen
Ein riesiges Problem ist es, dass der Ausbau der und Leitmärkte prägen kann“. An der Umsetzung dieses
Plätze faktisch zulasten der Qualität in den Einrichtun- Ziels müssen wir noch hart arbeiten. Denn im internatio-
gen geht. Dabei brauchen wir dringend mehr Qualität in nalen Vergleich ist die Gründungsquote in Deutschland –
den Einrichtungen, und die hängt ganz wesentlich an der trotz einiger Fortschritte – mit 4,1 Prozent Anteil an den
Fachkraft-Kind-Relation. Im KiFög-Zwischenbericht Erwerbstätigen zu niedrig. Nach dem Global Entrepre-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7827

(A) neurship Monitor, GEM, 2009 belegen wir nur Platz 15 Hightechunternehmen unterstützen. Der vom BMWi mit (C)
von 20 innovationsbasierten Industriestaaten. Partnern aus der Wirtschaft und der KfW finanzierte
Hightechgründerfonds unterstützt technologieorientierte
Nach den Studien des Zentrums für Europäische Unternehmensgründungen durch die Bereitstellung von
Wirtschaftsforschung, ZEW, erreichen gerade Hightech- Beteiligungskapital bis zu 500 000 Euro in der ersten
gründungen im Jahr 2008 in Deutschland mit rund Phase und mit bis zu weiteren 500 000 Euro für die An-
15 300 einen neuen Tiefpunkt. Im Vergleich zum Vorjahr schlussfinanzierung. Gerade dieser Fonds hat sich als
bedeutet das einen Rückgang um 11 Prozent. Dabei sank besonders wirksam für Gründer in der Frühphase erwie-
die Zahl der Gründungen im Bereich Spitzentechnolo- sen und geholfen, die in diesem Bereich vorherrschende
gien, die für den technologischen Fortschritt besonders strukturelle Finanzierungslücke zu überwinden.
wichtig sind, sogar um 12 Prozent auf rund 600. Auch
2009 ist der Abwärtstrend bei den Spitzentechnologien Alle diese Maßnahmen haben aber noch nicht die
noch nicht durchbrochen, während sich die Gründungs- Dynamik erreicht, die wir eigentlich brauchen, und mit
aktivitäten im Hightechbereich allgemein wieder leicht den hervorragenden staatlichen Fondsengagements hat
verbessert haben. Als große Gründungshemmnisse in der Staat inzwischen die Grenzen dessen erreicht, was
Deutschland identifiziert der GEM schon seit Jahren ein der Staat hier leisten kann. Denn die wichtigste Finan-
im Vergleich zu anderen Ländern ungünstiges Grün- zierungsquelle für Hightechgründungen – die oft beson-
dungsklima und insbesondere zu hohe bürokratische ders risikoreich sind und für eine Kreditfinanzierung
Hürden und Probleme bei der Finanzierung, die für die nicht in Frage kommen – ist und bleibt das private Wag-
teuren Hightechgründungen besonders relevant sind. niskapital. Und genau dieses müssen wir noch stärker
Schon unter den vergangenen Regierungen wurden mobilisieren, denn der Markt für Wagniskapital ist und
ganz erhebliche Anstrengungen unternommen, um diese bleibt in Deutschland nahezu ausgetrocknet. Traditionell
Gründungshemmnisse abzubauen. So profitieren auch gibt es in diesem Bereich bei uns zu wenige Kapitalge-
Gründer von den Mittelstandsentlastungsgesetzen und ber.
dem Abbau der Bürokratie durch Anwendung des Stan- Die Finanzkrise und ihre Folgen haben zu einer weite-
dardkostenmodells mit dem Ziel, rund ein Viertel der ren Verunsicherung geführt. Das belegt auch die Statistik
Bürokratiekosten, die deutsche Unternehmen mit insge- des Bundesverbandes Deutscher Kapitalbeteiligungsge-
samt 48 Milliarden Euro jährlich belasten, bis 2012 ein- sellschaften BVK: Danach gingen die Wagniskapitalin-
zusparen. vestitionen im Jahr 2009 gegenüber 2008 von 1 107 Mil-
Ein besonderer Schub für Gründungen ist jetzt schon lionen Euro auf 611 Millionen Euro zurück und haben
sichtbar durch die GmbH-Reform, die wir 2008 durch- sich damit fast halbiert. Die Wagniskapitalinvestitionen
(B) geführt haben. Bei Gründung einer haftungsbeschränk- im ersten Halbjahr 2010 liegen ebenfalls nur knapp über (D)
ten Unternehmergesellschaft oder „Mini-GmbH“ wer- dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Allerdings gibt ein
den, ähnlich wie bei der englischen Limited, geringere Anstieg im 2. Quartal, und hier gerade im wichtigen Be-
Anforderungen an die Gründungsformalien und speziell reich Start-up-Finanzierung, Anlass zur Hoffnung. Spe-
an das Mindeststammkapital gestellt, das bei einer Mini- ziell in der Biotechnologiebranche scheint sich der Finan-
GmbH nur noch 1 Euro pro Gesellschafter betragen zierungsengpass langsam aufzulösen, wie der Verband
muss. Diese Reform hat auch im Hightechbereich ver- BIO Deutschland Anfang des Monates berichtet hat. Ins-
hindert, dass die Gründungszahlen noch weiter zurück- gesamt bleiben die Wagniskapitalinvestitionen in
gegangen sind. Deutschland mit 0,027 Prozent des BIP jedoch weiter auf
zu niedrigem Niveau und liegen immer noch unter dem
Die Gründungs- und Anschubfinanzierung junger EU-Durchschnitt von 0,03 Prozent. In Großbritannien ist
Technologieunternehmen haben wir insbesondere durch ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt mit 0,05 Prozent dop-
staatlich (mit-)finanzierte Fonds, durch spezielle Förder- pelt so hoch und in den USA mit 0,125 Prozent mehr als
programme, und auch durch beratende Begleitung der viermal so hoch wie bei uns.
Gründer verbessert. Strategisch sind diese Fonds und
Programme ganz unterschiedlich angelegt: Die EXIST- Uns fehlt auch eine ausgewiesene „Business Angels“-
Programme des BMWi zielen speziell auf die Förderung Kultur wie in den angelsächsischen Ländern. Business
von Gründungen aus Hochschulen, mit den Modulen Angels kommt eine besondere Rolle in der Gründungs-
„Gründerstipendium“ und „Forschungstransfer“ sowie phase zu, da Fonds hier nur selten aktiv sind. Als erfah-
dem neuen Wettbewerb „Gründungskultur – Die Grün- rene Unternehmerpersönlichkeiten helfen sie mit finan-
derhochschule“. Der Wettbewerb „Go Bio“ des BMBF ziellem Engagement und mit gutem Rat, jungen
unterstützt gründungsbereits Forscherteams im Bereich Unternehmen den Weg in die Märkte zu eröffnen. In
Biowissenschaften, die kommerzielle Verwertung neuer Deutschland gibt es nur rund 5 000 dieser Engel, die
Verfahren zielgerichtet vorzubereiten. rund 200 Millionen Euro jährlich in Gründer investieren.
In Großbritannien dagegen gibt es 20 000 Engel – und in
Mit dem ERP-Startfonds stellt die KfW im Auftrag den USA 260 000, mit einem Investitionsvolumen von
des BMWi Wagniskapital für innovative Technologieun- 18 Milliarden Euro jährlich.
ternehmen in der Entwicklungs- und Aufbauphase zur
Verfügung. Der ERP/EIF-Dachfonds des BMWi und des Um eine neue Dynamik bei Hightechgründungen zu
Europäischen Investitionsfonds (EIF) beteiligt sich als erreichen, werden wir in dieser Legislaturperiode viel-
Dachfondsinvestor an professionellen Wagniskapital- fältige Maßnahmen ergreifen. Wir werden die bewährte
fonds in Deutschland, die die Wachstumsphase von staatliche Gründerförderung fortsetzen, allen voran den
7828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) Hightechgründerfonds, dessen zweite Auflage Mitte spiel Biotechunternehmen, beteiligen und deren Verlust- (C)
nächsten Jahres starten wird. Das Konzept dafür wird verrechnungspotenzial durch das Unternehmensteuerre-
demnächst vorgelegt, und dann dürfte auch die jetzt formgesetz stark eingeschränkt worden war. Hier
noch vorliegende qualifizierte Haushaltssperre dafür bleiben die Verluste künftig anteilsmäßig in Höhe der
fristgerecht aufgehoben werden. Die Verhandlungen mit stillen Reserven erhalten.
privaten Koinvestoren sind auf gutem Weg – und wir
hoffen hier auf eine rege Beteiligung. In Vorbereitung ist aktuell außerdem ein Konzept für
eine anteilige Garantiemöglichkeit zur Risikoabsiche-
Wir wollen die Gründungsberatung noch weiter ver- rung der Fondseinlagen institutioneller Investoren, die
bessern, den Bürokratieabbau beschleunigen und den sich an Wagniskapitalfonds beteiligen. Damit wollen wir
Zeit- und Kostenaufwand für Gründer weiter verringern. mehr Leadinvestoren anziehen. Das BMWi wird hierzu
Dazu gehört auch die weitere Vereinfachung von An- bald eine entsprechende Studie vorlegen. In den nächs-
trags- und Genehmigungsverfahren. Wir wollen einen ten Monaten werden wir intensiv weitere Möglichkeiten
schnellen Neuanfang nach einem potenziellen Scheitern untersuchen, wie die zielgenaue steuerliche Förderung
junger Unternehmen möglich machen, zum Beispiel von Wagniskapitalinvestitionen in junge Technologieun-
durch ein stärker auf Sanierung und Neustart ausgerich- ternehmen möglich ist. Zielgenau heißt dabei auch, dass
tetes Insolvenzverfahren und – wenn möglich – durch unsere Pläne nicht mit den Vorbehalten der EU gegen
die Halbierung der Frist zur Restschuldbefreiung auf eine diskriminierende Förderung kollidieren. In diesem
drei Jahre. Zusammenhang werden wir insbesondere prüfen, wie
wir im Zusammenhang mit der neuen europäischen
Wir wollen die Förderung von Kompetenznetzen und
AIFM-Richtlinie zur aufsichtsrechtlichen Regulierung
Clustern fortsetzen, denn in enger Zusammenarbeit von
von „Alternativen Investmentfondsmanagern“ – die wir
Forschern und Unternehmern und lokalen Behörden ent-
in den nächsten zwei Jahren umsetzen müssen – auch die
steht nicht nur eine Brutstätte für Innovationen, sondern
steuerlichen Bedingungen für Hightechgründer und ihre
auch ein ideales Umfeld für innovative Gründer. Wir
Investoren, einschließlich der Business Angels, verbes-
wollen prüfen, den europäischen Status „Young Innova-
sern können.
tive Company“, YIC, auch für Deutschland einzuführen.
An diesen Status kann EU-konform eine besondere För- Damit Deutschland im globalen Innovationswettlauf
derung, zum Beispiel die Befreiung von Steuern und auch künftig bestehen kann, brauchen wir eine neue
Sozialabgaben, geknüpft werden. Das verbessert die Gründerwelle im Hightechbereich. Wir haben deshalb
Wettbewerbsfähigkeit junger forschungsintensiver Unter- zahlreiche Maßnahmen für Hightechgründer auf den
nehmen gerade in der Anfangsphase und kann als Mar- Weg gebracht, aber wesentliche Schritte liegen noch vor
kenzeichen verstärkt private Investoren anziehen. Frank- uns, von der steuerlichen Forschungsförderung über die (D)
(B)
reich geht hier mit seinem Programm „Jeune Entreprise bessere Gründungsausbildung in Schulen und Hoch-
Innovante“, JEI, mit gutem Beispiel voran. schulen bis hin zur Erhöhung der Anzahl der MINT-Ab-
solventen, um für den „Unternehmer“ zu werben und das
Wir wollen auch für Deutschland entsprechend den
Hightech-Gründerpotenzial zu erhöhen.
Festlegungen des Koalitionsvertrags die Einführung einer
steuerlichen Forschungsförderung prüfen. Diese kann Ein zentrales Ziel ist und bleibt die stärkere Mobili-
auch für Gründer attraktiv sein, wenn sie auf Steuergut- sierung von privatem Wagniskapital durch international
schriften für Forschungsausgaben basiert, die auch dann attraktive Rahmenbedingungen für Investoren, damit
ausgezahlt werden, wenn das neue Unternehmen noch Deutschland zu einer blühenden „Hightech-Gründer-
Verluste macht. Ein solches Konzept wird unter Berück- landschaft“ werden kann, in dem immer neues Wachs-
sichtigung des gebotenen Konsolidierungskurses und der tum in Zukunftsmärkten entsteht und Arbeit und Wohl-
weiteren wirtschaftlichen Entwicklung in ein haushalts- stand dynamisch sichert. Lassen Sie uns gemeinsam an
und steuerpolitisches Gesamtkonzept einzupassen sein. diesem Ziel arbeiten.
Eine besondere Aufgabe liegt darin, Hightechgrün-
dern und jungen Technologieunternehmen den Zugang zu Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Im Koalitions-
privatem Wagniskapital zu erleichtern. Dabei wird ent- vertrag haben wir vereinbart, ich zitiere: „Deutschland
scheidend sein, dass wir die Rahmenbedingungen – auch muss wieder zum Gründerland werden.“ Mit dem vorlie-
die steuerlichen Rahmenbedingungen – für Wagniskapital- genden Antrag wollen wir dieses Vorhaben angehen und
investoren, Wagniskapitalfonds und Business Angels, ver- erste Schwerpunkte setzen. Denn wir sind überzeugt da-
bessern. von, dass dies eine Schlüsselfrage für die Zukunft unse-
res Landes ist. Deshalb bedaure ich es besonders, diese
In der letzten Legislaturperiode haben wir versucht, Rede nur zu Protokoll geben zu können!
dies mit dem Wagniskapitalbeteiligungsgesetz im Rah-
men des MoRaKG – Gesetz zur Modernisierung der Für mich persönlich ist dies auch eine Herzensangele-
Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen – zu er- genheit. Denn es waren unternehmerischer Mut und der
reichen. Unser Vorhaben ist jedoch am Einspruch und an persönliche Einsatz von vielen Unternehmern, die
den hohen Anforderungen der EU gescheitert. Mit dem Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer füh-
Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu Beginn des Jahres renden Industrienation gemacht haben, getragen durch
haben wir die Möglichkeiten zur Verlustverrechnung für den Mittelstand und unzählige Familienunternehmen,
Wagniskapitalinvestoren wieder verbessert, die sich an die über viele Generationen geführt wurden und werden.
jungen verlustreichen Hightechunternehmen, zum Bei- Ein Wirtschaftswunder, wie wir es in Deutschland erlebt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7829

(A) haben, wäre ohne diese Unternehmensgründer nicht Ausgründung neuer Unternehmen, muss verbessert wer- (C)
möglich gewesen. den. Wir brauchen mehr Persönlichkeiten wie Rudolf
Hell, die aus ihren Patenten erfolgreiche Produkte ma-
Eine solche Unternehmerpersönlichkeit war zum Bei- chen und Unternehmen gründen.
spiel Rudolf Hell aus meiner Heimatstadt Kiel. Schon in
der Schule waren Mathematik und Physik seine Lieb- Und noch eine andere Erkenntnis in diesem Zusam-
lingsfächer. Nach seinem Studium meldete er zahlreiche menhang ist wichtig: Bis in die achtziger Jahre galt in
Patente an und gründete 1929 sein erstes Unternehmen, den meisten europäischen Ländern, dass volkswirt-
das selbstentwickelte Peil- und Morsegeräte produzierte schaftlicher Wohlstand durch große Unternehmen und
und verkaufte. Nach dem 2. Weltkrieg wagte er 1947 einen Konzerne erreicht wird. Das hat sich entscheidend geän-
Neuanfang in Kiel. Sein Unternehmen wurde zu einem dert: KMU stellen über 99 Prozent aller Unternehmen in
der führenden deutschen Unternehmen im Bereich Ko- Deutschland, erwirtschaften fast 40 Prozent des Umsat-
pier- und Drucktechnik und ist nach seinem Tod – auch zes, beschäftigen rund 70 Prozent der Arbeitnehmer und
mangels Nachfolger – in verschiedenen anderen Unter- über 80 Prozent der Auszubildenden.
nehmen aufgegangen.
Wie sieht es aber im Bereich der Forschung und Ent-
Warum erzähle ich das? Wir alle wissen: Deutschland wicklung bei den KMUs aus: Die deutsche Wirtschaft
lebt von seinen Hochtechnologieprodukten. Forschung, hat im Jahr 2008 insgesamt 57,3 Milliarden Euro für
Innovation und neue Technologien sind die Grundlage FuE ausgegeben, aber nur ein geringer Teil davon ent-
für unseren Wohlstand. Wir alle sprechen von Nachhal- fällt auf die KMUs, nämlich rund 9 Prozent. Beim FuE-
tigkeit, aber es sind eben gerade die Forschung und neue Personal halten KMU immerhin einen Anteil von 15
Technologien, die entscheidend sind für nachhaltige Pro- bzw. rund 20 Prozent, je nach KMU-Definition. Was
duktion, für nachhaltigen Konsum und für Ressour- heißt das für uns: Mit der Erkenntnis, dass kleine und
ceneffizienz. In Deutschland, dem Land der Ideen, müs- mittlere Unternehmen eine entscheidende Rolle für un-
sen neue Technologien nicht nur entwickelt, sondern sere Gesamtwirtschaft spielen, muss die Politik gerade
auch produziert und angewandt werden. auch die Rahmenbedingungen für Forschung und Ent-
wicklung stärker auf die KMU und das damit verbun-
Gute Rahmenbedingungen und der erfolgreiche Tech- dene Unternehmertum ausrichten.
nologiertransfer aus Forschung und Wissenschaft in die
Wirtschaft machen Deutschland zu einem international Was müssen wir also tun, um einerseits eine bessere
erfolgreichen Hightechstandort. Doch wir bekommen Verwertung unserer Forschungsergebnisse und anderer-
auf den Weltmärkten immer stärkere Konkurrenz. Be- seits mehr Unternehmensgründungen in Deutschland zu
sonders der Wettbewerb durch Schwellenländer wie erreichen?
(B) China und Indien nimmt zu. Angesichts der globalen (D)
Zunächst einmal können wir feststellen, dass es be-
Herausforderungen muss Deutschland mehr Innovatio-
reits zahlreiche gute Programme gibt, um diesen Bereich
nen hervorbringen und Leitmärkte prägen. Unterneh-
zu fördern. Professor Riesenhuber hat bereits einige In-
mensgründungen spielen dabei eine wichtige Rolle.
strumente aus dem Bereich des BMWi genannt. Auch im
Der Handlungsbedarf ist groß. Deutschland liegt im Bereich des BMBF gibt es gute Beispiele: das Förder-
internationalen Vergleich der Unternehmensgründungen programm „ForMat“, Forschung für den Markt im Team,
weiterhin auf einem der hinteren Plätze, Platz 15 von 20 mit dem Ergebnisse aus der öffentlichen Forschung bes-
gemäß Global Entrepreneurship Monitor 2009. Laut der ser und schneller für die Wirtschaft nutzbar gemacht ma-
ZEW-Studie Hightech-Gründungen in Deutschland, chen werden sollen; der Wettbewerb „GO-Bio“, der grün-
Juli 2009 erreichten Hightechgründungen im Jahr 2008 dungsbereite Forscherteams in den Lebenswissenschaften
in Deutschland mit rund 15 300 einen neuen Tiefpunkt. unterstützt, um technisch anspruchsvolle Ideen zu einer
Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Rückgang tragfähigen Unternehmensgründung reifen zu lassen; das
um 11 Prozent. Dabei sank die Zahl der Gründungen im Programm „Power für Gründerinnen“ fördert Projekte,
Bereich Spitzentechnologien, die für den technologi- um Frauen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit be-
schen Fortschritt besonders wichtig sind, sogar um sonders zu unterstützen; der bundesweite Wettbewerb
12 Prozent auf 600. Gegenüber 1995 haben wir heute „Jugend gründet“, bei dem Schülerinnen und Schüler der
nur einen Anteil von rund 70 Prozent Unternehmens- Sekundarstufe II im Rahmen eines internetbasierten
gründungen. Planspiels ein Unternehmen gründen und so ihre Wirt-
schafts- und Gründungskompetenzen stärken können.
Dabei liegen wir bei den Patenten gar nicht so Immerhin beteiligen sich rund 4 500 Jugendliche jähr-
schlecht. So wurden in 2009 47 859 Patente aus lich an diesem Wettbewerb. Im Rahmen des Wettbewer-
Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet. bes werden übrigens auch freiwillige Fortbildungen für
Aber nur ein sehr geringer Teil davon ging in die volks- Lehrerinnen und Lehrer angeboten. Nicht zuletzt gehört
wirtschaftliche Verwertung, denn nur relativ wenige Patente auch das neue Programm zur Validierungsförderung,
erreichen eine Inkubationsphase, in der aus dem Patent über das wir erst vor einigen Wochen hier im Bundestag
ein Produkt entsteht. Laut dem Expertengutachten für debattiert haben, dazu.
Forschung und Innovation aus 2010 werden „viele Er-
folg versprechende Forschungsergebnisse der öffentlich Aber es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit es
finanzierten Forschung in Deutschland nicht effektiv sinnvoll ist, dass der Staat sich immer neue Programme
vermarktet“. Das heißt für uns: Die Verwertung von For- ausdenkt. Kann mutiges Unternehmertum, wie das von
schungsergebnissen und Patenten, insbesondere durch Rudolf Hell durch staatliche Programme erzeugt wer-
7830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) den? Nein, sicher nicht! Es geht vielmehr darum, die Viertens. Ganz wichtig ist in meinen Augen die grün- (C)
Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sich junge Unter- dungsbezogene Aus- und Weiterbildung innerhalb der
nehmer mit guten Ideen frei entfalten können und von Schulen und Universitäten: Sie muss unbedingt verstärkt
unserer Gesellschaft dafür anerkannt und unterstützt werden, da hier eine Quelle des unternehmerischen Be-
werden. wusstseins liegt. Ich halte zum Beispiel eine Lehreraus-
bildung in Anlehnung an das Projekt NFTE, Network for
Lassen Sie mich dazu auf vier Schwerpunktfelder ein- Teaching Entrepreneurship, das konkrete Hilfe für Jugend-
gehen, die auch in unserem Antrag zum Ausdruck kom- liche mit der Vermittlung unternehmerischen Denkens
men: vereint, für einen sehr guten Ansatz. Auch in den techni-
Erstens. Eine solide Finanzierung mit Eigen- und schen und naturwissenschaftlichen Studiengängen der
Fremdkapital ist die Lebensquelle eines jeden jungen Hochschulen sollten durch verstärkte Angebote für Stu-
Unternehmens und die fehlende zugleich ihre häufigste dierende die nötigen Kenntnisse für eine Unternehmens-
Todesursache. Hier liegt eines unserer größten Probleme gründung und -führung vermittelt werden, um schon
in Deutschland: Der Markt für Wagniskapital in früh Alternativen zur abhängigen Beschäftigung aufzu-
Deutschland ist nahezu ausgetrocknet. Vielen Gründern zeigen, zum Beispiel durch ergänzende „Unternehmer-
fehlt eine Finanzierung zum Erreichen der Marktreife kurse“ für Studierende der naturwissenschaftlichen und
oder einer kritischen Größe, zum Beispiel durch Venture technischen Fächer. Eine wichtige Antriebskraft für Un-
Capital oder Seed Funding. Gerade jungen Unternehmen ternehmertum ist schließlich der Drang zur Selbststän-
im Hightechbereich muss der Zugang zu Wagniskapital digkeit und Freiheit der Lebensgestaltung.
erleichtert werden. Dabei sollten auch die erfolgreichen Unternehmerpersönlichkeiten wie Rudolf Hell gibt es
Modelle unserer Nachbarländer geprüft werden, wie viele – auch in unserer heutigen Zeit. Wir müssen sie fin-
zum Beispiel die Marke einer „Young Innovative Com- den, anspornen und unterstützen, damit gute Ideen und
pany, YIC“. Da der Staat selbst nur begrenzt Wagniska- gute Forschungsergebnisse überall in Deutschland eine
pital zur Verfügung stellen kann – und sollte –, muss er wirkliche unternehmerische Chance bekommen. Das
die Bedingungen für Banken und Private so gestalten, schafft neue wertvolle Arbeitsplätze und stärkt unsere
dass ausreichend Kapital für Unternehmensgründungen Position im internationalen Wettbewerb.
zur Verfügung steht. Ohne diese notwendige Bedingung
werden wir unser Ziel, Deutschland wieder zu einem Innovative Unternehmensgründer müssen im beson-
Gründerland zu machen, nicht erreichen. deren Fokus der Politik stehen, denn sie sind eine wich-
tige treibende Kraft für unser Land. Lassen Sie uns ge-
Zweitens. „Business Angels“ können für die Unter- meinsam für ein Leitbild der unternehmerischen
nehmensgründung eine entscheidend wichtige Rolle Selbstständigkeit werben, damit Deutschland wieder zu (D)
(B) spielen. Während der Gründer selbst, zum Beispiel als
einem Gründerland wird.
Ingenieur oder Naturwissenschaftler, häufig eher mit
dem Produkt vertraut ist, bringt ein „Business Angel“
Peter Friedrich (SPD): Existenzgründungen aus
Markt- und Betriebserfahrung mit ein. Das ist für die
Forschung und Wissenschaft sind wichtig für den Inno-
Ausgestaltung und Umsetzung des Geschäftsmodells
vationsstandort Deutschland; das steht außer Frage.
häufig der entscheidende Beitrag. Um hier besser zu
Wirtschaftliche Stärke basiert auch auf der Fähigkeit,
werden, müssen wir den Anreiz für „Business Angels“
aus guten Ideen innovative Produkte und Dienstleistun-
zur Beteiligung an jungen Unternehmen deutlich erhö-
gen zu erstellen. In Deutschland wird ein Großteil der
hen, zum Beispiel durch eine Verbesserung von steuerli-
gesamten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Un-
chen Rahmenbedingungen. Das wird übrigens – bei rich-
ternehmen durchgeführt. Ein Antrag, der Existenzgrün-
tiger Ausgestaltung – auch einen wichtigen Beitrag zur
dungen aus Forschung und Wissenschaft und damit den
besseren Finanzierung von Gründungsunternehmen leis-
Innovationsstandort Deutschland fördern will, könnte
ten.
deshalb durchaus Sinn machen. Er könnte Sinn machen
Drittens. Gründungen aus Hochschulen und For- für Großunternehmen genauso wie für kleine und mitt-
schungseinrichtungen heraus müssen erleichtert werden; lere Unternehmen.
dazu sollten auch mehr Möglichkeiten zur Lizensierung Doch auch in der Politik braucht es gute Ideen, damit
und Ausgründungen geschaffen werden, zum Beispiel innovative Ergebnisse entstehen können. Dazu muss
im Rahmen des anstehenden Wissenschaftsfreiheitsge- man aber erst einmal gute Ideen haben. Auch dieser Zu-
setzes. Warum sollten wir nicht auch der Wissenschaft sammenhang dürfte ein Teil der Erklärung dafür sein,
und den Forschungseinrichtungen erlauben, sich stärker warum wir bislang unter dieser Regierung von einer inno-
an Unternehmensgründungen zu beteiligen oder Toch- vativen Politik so weit entfernt sind. Gerade dieser
tergesellschaften zu gründen. Die Hürden hierfür sind Antrag verdeutlicht auf frappierende Art und Weise die
noch zu hoch. Weiterhin sollte geprüft werden, inwie- Ideenlosigkeit der beiden Koalitionsfraktionen. Viel
weit der von der EFI-Kommission vorgeschlagene schlimmer noch: Wenn man den Antrag liest, meine Da-
„Kommerzialisierungsfonds“ zur Anschubfinanzierung men und Herren von CDU, FDP und CSU, fragt man
der Inkubationsphase umsetzbar ist. Auch eine stärkere sich sogar, was Sie mit Ihrem Antrag überhaupt bezwe-
Ausrichtung auf die Prüfung von Anwendungsmöglich- cken wollen.
keiten für Forschungsergebnisse ist ein wichtiger Schritt,
der durch das kürzlich beschlossene Programm zur Vali- Sie beschreiben zunächst einmal ausführlich Maßnah-
dierungsförderung erleichtert wird. men der Bundesregierung aus der Vergangenheit, darun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7831

(A) ter den ganzen Katalog der rot-grünen Regierungszeit der wurde der Antrag damals im federführenden Finanz- (C)
und der Großen Koalition. Das stimmt; unter sozialdemo- ausschuss mehrheitlich abgelehnt. Wir bedauern das
kratischer Führung ist zwischen 1998 und 2009 viel nach wie vor; denn dies wäre ein klares Signal für die
Richtiges beschlossen und auf den Weg gebracht wor- steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung
den. Wir wissen das, Sie wissen das; wir freuen uns aber in Deutschland gewesen. In der zugehörigen Beschluss-
darüber, dass Sie das auch noch einmal zu würdigen wis- empfehlung des Finanzausschusses betonten die Koali-
sen. Danke schön. tionsfraktionen zwar noch die „zusätzlichen Impulse ins-
besondere für kleinere und mittlere Unternehmen“, die
In einem zweiten Schritt tragen Sie zahlreiche Forde- durch die im Koalitionsvertrag vereinbarte steuerliche
rungen und mögliche Ansätze einer Förderpolitik zu- Förderung von Forschung und Entwicklung gesetzt wer-
sammen, verkünden aber lediglich Allgemeinplätze. Die den würden, doch nach den Klientelgeschenken der ver-
Aussagen zu Förderprogrammen klingen gut, sind aber gangenen Wochen und Monate ist hierfür eben kein
viel zu vage. Gleiches gilt für die Aussage zu dem ge- Spielraum mehr da. Warum aber dann – ich wiederhole
planten Wissenschaftsfreiheitsgesetz: Klingt gut, ver- mich – dieser Antrag?
bleibt aber unkonkret und ist damit wertlos – von Inno-
vationen ganz zu schweigen. Aber dafür bräuchte es Technologie- und wissensintensive Unternehmens-
eben auch gute Ideen; das hatte ich bereits ausgeführt. gründungen sind von großer Bedeutung für den Innova-
tionsfortschritt einer Gesellschaft. Die Rahmenbedin-
Der zweifelhafte Höhepunkt Ihres Antrags ist jedoch gungen hierfür sind gut, aber können zweifellos weiter
die Aufforderung an die Bundesregierung – ich zitiere – verbessert werden. Dass wir im internationalen Ver-
„entsprechend den Festlegungen des Koalitionsvertrags gleich mit anderen innovationsbasierten Volkswirtschaf-
die Entscheidung über die Einführung einer steuerlichen ten nur den 17. von 18 Plätzen einnehmen, kann uns
Forschungsförderung unter Berücksichtigung des gebo- nicht zufriedenstellen.
tenen Konsolidierungskurses und der weiteren wirt-
schaftlichen Entwicklung in ein haushalts- und steuer- Gerade kleinen und mittleren Unternehmensgründun-
politisches Gesamtkonzept einzupassen“. Was genau heißt gen sollten wir eine stärkere Hilfestellung auf dem Weg
das denn, meine Damen und Herren von CDU, FDP und in die wissensbasierte Gesellschaft geben. Gerade inno-
CSU? Das ist doch die Leerformel für Ihre Verschlep- vative Existenzgründungen leiden häufig unter unzurei-
pungsgarantie. Sie wollen die steuerliche Forschungsför- chenden kaufmännischen und branchenspezifischen
derung, wir auch. Sie können sich aber schlicht und er- Kenntnissen; da kann ein besseres Beratungsangebot
greifend bei Herrn Schäuble nicht durchsetzen. sehr hilfreich sein. Auch die professionelle Hilfestellung
bei der Positionierung des Unternehmens am Markt
In Ihrer Koalitionsvereinbarung waren Sie noch muti- sollte verbessert werden; denn die Auftragsakquisition (D)
(B) ger; denn da stand immerhin, dass Sie eine solche Förde-
und der Aufbau eines Kundenstamms ist für viele neue
rung „anstreben“ wollen. Das, was Sie uns jetzt vorle- Unternehmen eine zentrale Schwierigkeit.
gen, ist aber weder Fisch noch Fleisch. Wie, bitte schön,
sollen wir in diesem Hause und die staunende Öffent- Wichtig ist zudem, dass wir mehr Wagniskapital be-
lichkeit draußen diesen Satz denn verstehen? Heißt das, reitstellen. Hier ist vieles denkbar, auch eine steuerliche
was ich gerade zitiert habe, dass Sie eine steuerliche For- Förderung von Wagniskapitalfonds. Sie haben das in Ih-
schungsförderung schaffen wollen? Oder heißt das, dass rem Antrag drin, machen aber keine näheren Ausführun-
nach all den millionen- und milliardenschweren Ge- gen. Dabei wissen wir, dass die Sicherung der Finanzie-
schenken an einzelne Branchen wie den Kernkraftwerks- rung das zentrale Hindernis für insbesondere innovative
betreibern und dem Hotelgewerbe kein Geld mehr da ist, Existenzgründungen darstellt, und zwar sowohl in der
mit dem man den Innovationsstandort Deutschland steuer- Gründungs- als auch in der Wachstumsfrage. Die Rah-
lich sinnvoll fordern könnte, Sie aber nicht den Mut be- menbedingungen für Venture-Capital-Unternehmen soll-
sitzen, dies einzugestehen? Ist also für die Entwicklung ten verbessert werden, um die Finanzierungsbedingun-
der Technologien von morgen kein Geld mehr da, weil gen für innovative Existenzgründungen insgesamt zu
Sie und die Bundesregierung, die Sie tragen, an der fal- verbessern. Wichtig wäre darüber hinaus, die ERP-Wirt-
schen Stelle Milliardensummen hinterherschmeißen? schaftsförderung genauer auf ihre Wirksamkeit zu unter-
Meinen Sie das, wenn Sie von „gebotenem Konsolidie- suchen. Im ERP-Abschluss für das Jahr 2009 fällt auf,
rungskurs“ und der Einbettung in ein „haushalts- und dass die Inanspruchnahme von Kapital im Programm
steuerpolitisches Gesamtkonzept“ sprechen, meine Damen „Gründung und Wachstum“ weit unter den Erwartungen
und Herren von den Regierungsfraktionen? Aber warum geblieben ist.
stellen Sie denn überhaupt diesen Antrag, wenn zur steu-
erlichen Förderung sowieso kein Geld mehr da ist? Was,
bitte schön, wollen Sie mit diesem Antrag bezwecken? Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Die Förderung
von Existenzgründungen aus Forschung und Wissen-
Gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode, im De- schaft ist das richtige Zeichen. Die Phase einer der
zember des vergangenen Jahres, hat meine Fraktion ei- größten Wirtschaftskrisen seit 50 Jahren ist überwunden
nen Antrag gestellt, in dem die Bundesregierung aufge- und wir starten mit über 3,5 Prozent geschätzten BIP-
fordert werden sollte, einen „forschungspolitisch Wachstum in das nächste Jahr. Es ist nun an uns, die
substanziellen und finanzpolitisch soliden Entwurf für Weichen für unsere Zukunft zu stellen. Zukunftsinvesti-
die Einführung einer steuerlichen Förderung von For- tionen in Bildung und Forschung haben höchste Priori-
schungs- und Entwicklungsausgaben vorzulegen“. Lei- tät, denn gerade in diesen Bereichen stellen wir die Wei-
7832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) chen für unsere Zukunft. Sie sind unsere Chance, mit Bundesregierung für Hightechgründer und junge Tech- (C)
neuer Kraft und neuen Ideen auf den internationalen nologieunternehmen fortgeführt werden.
Märkten auch in den nächsten Jahren wettbewerbsfähig
zu bleiben. Dazu leistet die Bundesregierung einen Erfolgreiche Innovationen sind ein wichtiger Grund-
wichtigen Beitrag: Der Haushaltsentwurf des stein für Wirtschaftswachstum und steigenden Wohl-
Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das stand. Innovative Unternehmen erweitern das Produkt-
Jahr 2011 sieht mit einem Gesamtvolumen von 11,6 Mil- und Dienstleistungsspektrum und fordern etablierte Un-
liarden Euro einen Zuwachs von rund 746 Millionen ternehmen zum Wettbewerb heraus. Sie schaffen deut-
Euro gegenüber dem Jahr 2010 vor; das sind mehr als lich mehr Arbeitsplätze als nicht innovative Unterneh-
7,2 Prozent. Damit wird es gelingen, trotz der schwieri- men und erschließen neue Märkte. Unternehmergeist,
gen finanziellen Situation Bildung und Forschung nach- Innovation und Einsatz neuer Technologien sind heute
haltig im Bundeshaushalt zu verankern. Jetzt darf man wesentliche Faktoren für Wettbewerbsfähigkeit, Wachs-
sich nicht zurücklehnen und auf bessere Zeiten warten. tum und Beschäftigung. Innovation erfordert einen kom-
Die bürgerliche Koalition aus CDU/CSU und FDP ist plexen Prozess und ein umfassendes Vorgehen in den
sich der großen Bedeutung der Wissenschaft und For- Unternehmen und an den Universitäten. Im Vordergrund
schung gerade auch für unsere Wirtschaft bewusst. Weil stehen die Förderung neuer Kenntnisse und Technolo-
die Gründung und der Ausbau von innovativen Unter- gien, der Erwerb neuer Kompetenzen, die Entwicklung
nehmen die Mobilisierung erheblicher Anstrengungen neuer Produkte, Verfahren oder Dienstleistungen, An-
erfordern, stellen wir die Weichen für neue Ideen und meldung von Patenten etc.
mehr Unternehmergeist. Die jungen, innovativen Grün- Deutschland verfügt heute über grundlegende Vor-
der und Selbstständige sind das Rückgrat der Forschung teile: eine Ausbildungslandschaft und eine wissen-
und auch der Wirtschaft. Denn jedes Unternehmen, auch schaftliche Forschung auf hohem Niveau, eine immense
unsere jetzigen Global Player, musste einmal klein be- Unterstützung von Forschung und Innovation durch die
ginnen: Am Anfang ist immer eine Idee. So fördert die öffentliche Hand sowie wettbewerbsfähige Unterneh-
schwarz-gelbe Koalition wagemutige und innovative men, die in vielen Branchen an der Spitze des
Menschen mit Visionen. Denn wir brauchen in Deutsch- Fortschritts stehen. An den Hochschulen und in Unter-
land mehr Menschen, die mit Mut und guten Ideen den nehmen gibt es zahlreiche Initiativen, in deren Gefolge
Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Da private Inves- innovative Projekte mit jungen Unternehmern entstehen.
toren sich im Vergleich zum Ausland sehr zurückhalten,
führt unser Engagement nicht zu einem Verdrängungs- Gründungen schaffen Beschäftigung und Wachstum.
wettbewerb, sondern ist sinnvoll und marktkonform. Deutschland braucht deshalb eine stärkere Gründungs-
(B) kultur. Initiativen wie die „Initiative Gründerland“ des (D)
Dies zeigt sich an der Vielzahl von Fördermaßnah- Bundeswirtschaftsministeriums sollen dies verbessern
men, die auf die speziellen Umstände der Existenzgrün- und die Menschen für unternehmerisches Denken und
dungen angemessen angepasst sind. Der Nachschub jun- Handeln sensibilisieren. Die Chancen und Möglichkei-
ger innovativer Unternehmen und deren Wachstum ist ten der Selbstständigkeit werden ihnen dadurch besser
der Schlüssel für die künftige technologische Wettbe- vermittelt. Politik und Wirtschaft arbeiten eng zusam-
werbsfähigkeit Deutschlands auf den internationalen men, um Gründerinnen und Gründer zielgerichtet zu un-
Märkten. Doch der Markt für Wagniskapital zur Finan- terstützen. Gerade dies ist wichtig, um den Ruf der deut-
zierung dieser Unternehmen ist in Deutschland noch schen Unternehmen und Erfinder zu bewahren. Genauso
schwach entwickelt: In anderen Industrieländern wie wichtig sind für private Investoren in innovative und
Großbritannien, Frankreich, Skandinavien und den USA prosperierender Erfindungen die Rechtssicherheit in
liegen die relativen Wagniskapitalinvestitionen beim Deutschland und das große Vertrauen von Anlegern aus
Zwei- bis Dreifachen des deutschen Wertes. Die der ganzen Welt – und nicht das Schüren von Ängsten,
schwarz-gelbe Regierungskoalition hat sich dazu ent- wie es von der Opposition durch ihre aggressive Anti-
schlossen, das Umfeld für die Tätigkeiten von Business haltung in allen wesentlichen Infrastruktur- und sonsti-
Angels in Deutschland deutlich zu verbessern. Den jun- gen Zukunftsfragen gepflegt wird.
gen Technologieunternehmen wird der Zugang zu Wag-
niskapital erleichtert und durch geeignete Maßnahmen
dringend benötigtes privates Kapital für deutsche Ven- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Als ich die Ankündi-
ture-Capital-Fonds mobilisiert. Die schwarz-gelbe Ko- gung eines Koalitionsantrages zur Gründungstätigkeit
alition ergreift große Anstrengungen zur Innova- im Hochtechnologiebereich las, vermutete ich zuerst zu-
tionsförderung. Diese Politik ist in einer Zeit, in der sich mindest eine neue Idee, ein neues Förderprogramm oder
der internationale Wettbewerb verschärft, von großer Ähnliches. Leider ist dieser Antrag nur das sprichwörtli-
Bedeutung. che Schaufenster, in dem alles ausgestellt wird, was die
Regierung so im Bereich der Gründungsförderung zu
Deutschland braucht wieder ein positives For- bieten hat: vom Hightech-Gründerfonds über die Exist-
schungsklima, frei von bürokratischen Hürden und ideo- Programme bis zum Wettbewerb „Jugend gründet“.
logischen Debatten. Deshalb geht es uns darum, dass in Dann wird die Bundesregierung aufgefordert, die Finan-
Deutschland neue Technologien entwickelt und auch an- zierungs- und Rahmenbedingungen für Gründungen un-
gewandt werden. Wir wollen wieder eine vorwärtsge- ter anderem in der Initiative „Gründerland Deutschland“
wandte technik- und innovationsfreundliche Gesell- zu verbessern. Diese wurde bereits im Januar 2010 vor-
schaft. So sollten die erfolgreiche Förderprogramme der gestellt, jetzt soll sie, so der Antrag, „zeitnah“ umgesetzt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7833

(A) werden; und zu guter Letzt erinnert man noch einmal da- matisch. Obwohl Geld von den Zentral- und Notenban- (C)
ran, dass diese Koalition wie auch die Vorgängerin ei- ken so billig ist wie noch nie, verlangen die Banken hohe
gentlich die Einführung von Steuerzuschüssen für den und höchste Sicherheiten gerade von jungen und kleinen
FuE-Aufwand privater Unternehmen geplant hatte. Unternehmen. Dies bestätigen auch die Aussagen der
Gründerinnen und Gründer im Gründungspanel der
So einfallslos werden Sie potenziellen Gründerinnen KfW: Sie nannten vor allem zu hohe geforderte Sicher-
und Gründern keinen Mut machen, meine Damen und heiten und zu hohe Zinsen als Gründe für die Ablehnung
Herren. Im Gegenteil: Die eigentlichen Probleme spre- von Kreditfinanzierungsangeboten.
chen Sie gar nicht an. Gründungen sind ein risikobehaf-
teter Schritt, der zwar mit der Lösung von Abhängigkei- Meine Fraktion hat bereits im vergangenen Dezember
ten etwa vom Arbeitgeber beginnt, aber bei vielen in einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auf-
neue Abhängigkeiten – etwa von Kreditgebern oder In- fordert, endlich etwas gegen die Kreditklemme zu tun.
vestoren – führt. Daher sind Ihre Zahlen im Antrag, die Die Lage heute wird zwar unterschiedlich beurteilt. Als
sich auf die Zeit vor der Krise beziehen, auch veraltet. sicher kann jedoch gelten, dass die neuen Finanzierungs-
Schauen Sie einmal in das Gründungspanel der KfW: regeln nach Basel III mit noch einmal verschärften Si-
Durch krisenbedingte Unsicherheit sehen viele Arbeit- cherheitsanforderungen die Lage verschlechtern werden.
nehmer die Unternehmerrolle als Alternative zum Ange- Wenn Sie etwas für die Finanzierung von Gründungen
stelltenstatus und machen sich selbstständig. Schon in tun wollen, dann verbessern Sie die Kreditversorgung
den Jahren 2003 und 2004 führte die Einführung der so- von kleinen und mittleren Unternehmen. Warum erlau-
genannten Ich-AG zu einem Gründungsboom, der ganz ben Sie etwa der KfW nicht, Förderkredite direkt auszu-
sicher nicht einem plötzlich überbordenden Ideenüber- zuzahlen, ohne über Pleitegeier wie die IKB gehen zu
schuss geschuldet war. müssen?
Unternehmensgründungen haben laut KfW im Jahr Der Kern Ihres Antrags scheint jedoch darin zu beste-
2009 krisenbedingt 560 000 Arbeitsplätze geschaffen – hen, sich gegenseitig noch einmal zu versichern, dass eine
mehr als je zu vor. Die durchschnittliche Zahl der Stellen steuerliche Förderung privater Forschungs- und Entwick-
in neu gegründeten Unternehmen hat sich sprunghaft lungstätigkeit noch nicht ganz vom Tisch ist. Wir Linke
von 2,3 auf 3 – inklusive des Gründers oder der Gründe- unterstützen die öffentliche Gründungsförderung von
rin – erhöht. Dass dieser Anstieg durchaus auch etwas KMU, insbesondere in strukturschwachen Regionen.
mit prekären Verhältnissen zu tun hat, wird durch die Viele Studien zeigen, wie wichtig staatliche Unterstüt-
zeitgleich dramatisch steigenden Insolvenzzahlen belegt. zung bei den ersten Schritten in die Selbstständigkeit ist.
Gründungen sind einerseits ein Zeichen für Erneuerung; Auch und gerade deswegen sind wir gegen eine steuerli-
(B) andererseits sind sie auch aus einer wirtschaftlichen Kri- che FuE-Subvention. Natürlich nehmen die Unternehmen (D)
sensituation heraus geboren. diese gern mit. Aber das geringste Problem, das Gründe-
Nicht alle, aber einige der jungen Firmen treffen in rinnen und Gründer in der verlustreichen Anfangszeit ha-
der Gründungsphase auf Schwierigkeiten bei der Finan- ben, sind zu hohe Steuern. Und auch ein kleiner Bonus
zierung; das haben Sie zu Recht in Ihrem Antrag er- hilft ihnen wenig. Was jedoch nachweislich über diese
wähnt. Ein Viertel der neu gegründeten FuE-intensiven Gründungsphase hilft, ist eine beratungsintensive Förde-
Hightech-Unternehmen gab bei den Befragungen durch rung, wie sie in vielen Programmen des Wirtschafts- und
die KfW Finanzierungsprobleme zu Protokoll, deutlich des Forschungsministeriums, etwa im Rahmen des High-
seltener übrigens im Bereich innovativer Dienstleistun- tech-Gründerfonds, der Programme „Unternehmen Re-
gen und Software. Das entscheidende Problem sind je- gion“ oder des Zentralen Innovationsprogramms für den
doch nicht die fehlenden Wagniskapitalgeber. Der Markt Mittelstand, ZIM, vorgesehen ist. Besonders im Osten
für Private Equity und Wagniskapital sei wieder auf dem sind diese Programme nicht nur aus finanziellen Gründen
Vorkrisenstand angekommen, so teilte der Bundesver- überlebenswichtig für die kleinen und mittleren Unter-
band Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften im nehmen. Wenn Sie im Rahmen der steuerlichen For-
August mit. Man sei auf dem bestem Wege zu einer schungsförderung Milliarden Steuermindereinnahmen
Boomphase, insbesondere durch krisenbedingt günstige hinnehmen, dann lässt das unschwer erraten, welche Res-
Einstiege in die Unternehmen. Hier liegen die Probleme sorts und welche Förderprogramme dafür im Rahmen der
also nicht, zumal bereits die letzte Koalition mit dem Haushaltskonsolidierung bezahlen werden. Da die Koali-
Wagniskapitalbeteiligungsgesetz den entscheidenden tion auf Drängen der Arbeitgeber- und Industrieverbände
Durchbruch erzielen wollte und der Venture-Capital- unbedingt auch die Großunternehmen mit den Segnungen
Branche Steuergeschenke gemacht hat. der Steuerboni beschenken will, wird eine solche Förde-
rung eine glatte Umverteilung von den KMU hin zu den
Für die große Menge der Gründerinnen und Gründer ohnehin profitablen großen Technologiekonzernen sein.
kommen Venture-Capital-Fonds gar nicht als Finanzierer
in Betracht. Am häufigsten tragen Bankkredite zur Bei all dem ist keineswegs sicher, dass die Anreize
Gründungsfinanzierung bei. Dies bestätigen nicht nur di- ausreichen, um diese Konzerne wirklich zu noch mehr
verse Studien, sondern auch ein Bericht des Büros für Investition in Forschung und Entwicklung zu bewegen.
Technikfolgenabschätzung beim Bundestag zu akademi- Das Wort Mitnahmeeffekt ist zwar nicht ganz präzise,
schen Spin-offs. Dazu schweigt der schwarz-gelbe An- trifft aber in der Sache das Problem. Lassen Sie uns also
trag. Doch an diesem Punkt hat sich die Lage tatsächlich gemeinsam über eine Verbesserung der Bedingungen für
verschlechtert und bleibt auch im Aufschwung proble- innovative Gründungen in Deutschland streiten; allge-
7834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) mein formulierte Schaufensteranträge voller Gemein- men ausmachen. So verspielen Sie mit Ihrer Politik der (C)
plätze helfen dabei nicht weiter. Untätigkeit wertvolle Potenziale und Wachstumschan-
cen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der Hightech-Strategie startete die große Koali-
Mit Ihrem Antrag stellen Sie der Regierung ein Zeugnis tion 2006 ein ehrgeiziges Projekt, um ein nationales Ge-
der Untätigkeit aus. Es ist nett, dass Sie sich selbst die samtkonzept für Forschung und Innovation voranzubrin-
Mühe machen, auf diese Mängel hinzuweisen, und dies gen. Leider haben Sie sich an diesem Projekt etwas
nicht gänzlich der Opposition oder den Wirtschaftsweisen verhoben. Denn weder Schwarz-Rot noch Schwarz-Gelb
überlassen. Diese haben ja gestern deutliche Worte der haben sich getraut, ihre Förderung auf einzelne strate-
Kritik gefunden, dass der momentane Aufschwung noch gisch wichtige Projekte zu konzentrieren, sondern woll-
auf die Vorarbeit der vorigen Bundesregierungen zu- ten es wieder allen recht machen. Dieses Gießkannen-
rückzuführen ist und echte Strukturreformen überfällig prinzip ist aber heute nicht mehr finanzierbar. Deshalb
sind. Dieser Antrag ist leider keinesfalls ein energischer ist erst einmal gar nichts passiert. Wiederholt mahnte die
Schritt in die richtige Richtung. unabhängige Expertenkommission Forschung und Inno-
Nach einem langen Jahr leerer Versprechungen und vation (EFI) deutlich mehr Konzentration an. Aber das
mutloser Politik legen Sie nun dieses „Anträgchen“ vor. Förderungsprofil blieb leider sehr diffus. Tonangebend
Eine Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen und An- scheint bei der Themenfindung nicht die Politik, nicht
kündigungen. Gänzlich ohne konkrete Vorschläge. Wem Ihre parlamentarische Arbeit zu sein, sondern das Minis-
wollen Sie denn mit diesen müden Absichtserklärungen terium mit den jeweils im Hintergrund stark vernetzten
noch etwas vormachen? Sie kümmern sich mit Ihrer Lobbygruppen. Und weil die Regierung kein offenes
Politik nicht um den Mittelstand, Sie kümmern sich Ohr für den Mittelstand fand, blieb für ihn leider wenig
nicht um die Gründer, Sie kümmern sich nicht um die übrig.
kleinen, mutigen, innovativen Unternehmen in unserem Sie schlagen in ihrem Antrag vor, den jungen Techno-
Land. Sie kümmern sich gewöhnlich lieber um die großen logieunternehmen den Zugang zu Wagniskapital zu er-
Fische: um die Autoindustrie, die Energiekonzerne und leichtern und privates Kapital für den Venture-Capital-
die Hoteliers. Aber das reicht nicht. Markt zu mobilisieren. Aber dann verraten Sie uns doch
bitte, wie sie dies machen wollen. Die grüne Bundes-
Wer Innovationen haben will, wer für Beschäftigung
tagsfraktion hat die große Koalition vor über drei Jahren
und Wachstum sorgen will, wer neue Ideen verwirkli-
aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die
chen und Potenziale heben will, der braucht den Mittel-
steuerlichen Bedingungen für Hochtechnologie-Grün-
stand und die Existenzgründungen. Und der muss es
dungen, junge hochinnovative Unternehmen und der sie
(B) ernst meinen. Sie nehmen die kleinen und mittleren Un- (D)
finanzierenden Wagniskapitalgeber verbessert. Durch
ternehmen, die mutigen Gründer aus Forschung und
ein solches Vorgehen könnte man die innovativen und
Wissenschaft und die innovativen Unternehmen mit die-
forschungsintensiven kleinen und mittelständischen Un-
sem Antrag nicht ernst. Denn Ernstnehmen heißt Ver-
ternehmen gezielt bei ihrer Finanzierung und auf ihrem
sprechen halten. Und Sie lösen die entsprechenden Ver-
mutigen Weg unterstützen. Auch hierauf gibt Ihr Antrag
sprechen aus Ihrem Koalitionsvertrag immer noch nicht
keine Antwort.
ein.
Sie wollen den Wissens- und Technologietransfer aus
Wir wollen aber nicht länger warten. Deshalb haben
den Hochschulen in Form von Existenzgründungen ver-
wir heute einen Antrag in die Bereinigungssitzung zum
bessern. Aber ohne eine zusätzliche finanzielle und per-
Bundeshaushalt 2011 im Haushaltsausschuss einge-
sonelle Ausstattung der Universitäten ist dies als neue in
bracht, dem die Regierungsfraktionen zustimmen müss-
Ihrem Antrag geforderte „Kernaufgabe“ der Hochschu-
ten, wenn sie ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst neh-
len kaum zu leisten. Auch hier fehlt eine konkrete Um-
men würden. Darin fordern wir eine Steuergutschrift von
setzungsstrategie in ihrem Antrag.
15 Prozent auf alle Forschungs- und Entwicklungsausga-
ben von Unternehmen bis 250 Mitarbeitern. So können Sie nennen in Ihrem Antrag das Ziel, das Insolvenz-
wir gezielt forschungsintensive, innovative kleine und verfahren stärker auf Sanierung und Neustart auszurich-
mittlere Unternehmen fördern und unterstützen Ideen ten. Mit einer kontrollierten Neuordnung des Unterneh-
dort, wo sie entstehen und zügig umgesetzt werden kön- mens in einem Insolvenzplanverfahren kann vieles
nen. Für eine Existenzgründung bedeutet die Steuergut- gerettet werden. Aber warum wird in Ihrem Antrag kein
schrift in einer anfänglichen Verlustphase zusätzliches einziges, von Ihnen angekündigtes, Instrument genannt?
Kapital und erleichtert somit die Gründungsfinanzie- Und warum schwächen Sie mit Ihren Beschlüssen im
rung. Haushaltsbegleitgesetz die Position des Insolvenzver-
walters, indem der Fiskus insolventen Unternehmen
Die bestehende Forschungsförderung benachteiligt Liquidität entzieht? Dies ist der falsche Weg, weil da-
massiv kleine und mittlere Unternehmen. Antragsver- durch die Sanierung und Fortführung von Betrieben ge-
fahren sind aufwendig und kompliziert, viele innovative fährdet wird.
Ideen können nicht gefördert werden, weil es kein ent-
sprechendes Programm gibt. Das Ergebnis: Kleine und Die Fleißarbeit dieser mehrseitigen Aufzählung von
mittlere Unternehmen bestreiten nur 15 Prozent der For- vagen Absichtserklärungen hätten Sie sich sparen kön-
schungs- und Entwicklungsausgaben der Wirtschaft in nen und hätten uns stattdessen lieber konkrete Vor-
Deutschland, obwohl sie über 95 Prozent aller Unterneh- schläge geboten. Es ist Ihnen auf jeden Fall nicht gelun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7835

(A) gen, von der Untätigkeit ihrer eigenen Fraktionen und Die Biodiversitätsforschung ist zudem ein wichtiger (C)
ihrer Regierung abzulenken, die sich weder für die klei- Bestandteil des Forschungsrahmenprogramms „For-
nen und mittleren Unternehmen noch für die Gründer schung für nachhaltige Entwicklung“, welches das Bun-
stark macht und somit ein großes Potenzial innovativer desministerium für Bildung und Forschung mit 2 Mil-
Lösungen und Produkte aus Forschung und Wissen- liarden Euro fördert.
schaft verschenkt.
2008 wurde außerdem der Leibniz-Verbund Biodiver-
sität, LVB, gegründet. Dieser bündelt die Kompetenzen
von 28 Leibniz-Einrichtungen der Umwelt-, Sozial-,
Anlage 11 Lebens-, Raum- und Wirtschaftswissenschaften. Wis-
Zu Protokoll gegebene Reden senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Instituten und
Forschungsmuseen erfassen und dokumentieren die Viel-
zur Beratung des Antrags: Schutz der biologi- falt des Lebens, forschen an Themen von großer gesell-
schen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie schaftlicher Relevanz, informieren kompetent die Öf-
stärken (Tagesordnungspunkt 19) fentlichkeit und beraten die Politik bei der Entwicklung
und Umsetzung ihrer Biodiversitätsziele.
Ewa Klamt (CDU/CSU): Der Verlust der biologi- Von zentraler Bedeutung bei Entscheidungsprozessen
schen Vielfalt stellt gemeinsam mit dem Klimawandel in den Bereichen Natur- und Artenschutz ist der Zugriff
das größte Umweltproblem des 21. Jahrhunderts dar. In auf Informationen über Vielfalt und Verschiedenartigkeit
beiden Feldern stehen wir nicht nur vor einer komplexen von Genen, Arten, Tier- und Pflanzengesellschaften.
Aufgabe, sondern zudem unter enormem Zeitdruck, Deshalb fördert das BMBF bereits seit 2002 im Bereich
denn der Verlust zahlreicher Arten schreitet stetig voran. der Mobilisierung von Biodiversitätsdaten und Biodiver-
sitätsinformatik den Auf- und Ausbau der deutschen
Die Taxonomie der Biologie leistet einen wichtigen Komponenten der Global Biodiversity Information Faci-
Beitrag zum Schutz der Biodiversität. Beide, Taxonomie litiy, GBIF.
und Biodiversitätsforschung, sind wichtige Bereiche der
Grundlagenforschung. Sowohl das Bundesministerium Die internationale Initiative zu GBIF hat die Vernet-
für Bildung und Forschung als auch das Bundesumwelt- zung und freie Verfügbarmachung der weltweit vorhan-
ministerium tragen dieser Bedeutung mit einer Vielzahl denen Daten zur biologischen Vielfalt per Mausklick
von Programmen und Initiativen bereits Rechnung. So und für jedermann über das Internet zum Ziel. GBIF soll
fördert das Bundesministerium für Bildung und For- zunächst vor allem wissenschaftliche Biodiversitätsda-
schung seit circa 10 Jahren im Rahmen der Projektförde- ten, primär mit Bezug auf Arten, liefern. Weiterhin soll
(B) rung den Biodiversitätsbereich mit einem Jahresbudget GBIF die Zusammenstellung, Verknüpfung, Standardi- (D)
von über 10 Millionen Euro. Unter anderem wird das sierung, Digitalisierung und globale Verbreitung der Bio-
Projekt „Netzwerk & Forum zur Biodiversitätsfor- diversitätsdaten der Welt fördern, koordinieren, entwi-
schung“ als strukturelle Unterstützung der deutschen ckeln und einführen. Deutschland ist eines der Grün-
Wissenschaft gefördert. Zum einen bietet dieses Projekt dungsmitglieder von GBIF. Unter Federführung des
Informationen und Hilfestellungen zur Verknüpfung ver- Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden
schiedener Disziplinen sowie Zugang zu nationalen und derzeit in Deutschland sieben GBIF-Knoten eingerich-
internationalen Forschungsprogrammen an. Zum anderen tet, die sich an großen Organismengruppen orientieren.
wird eine direkte Schnittstelle zu Politik und Öffentlich- Mithilfe dieser Knoten werden die in Deutschland vor-
keit geschaffen, die die Wahrnehmung von Biodiversi- handenen Biodiversitätsinformationen erfasst, digitali-
tätsforschung maßgeblich erhöhen soll. Denn zu Recht siert, angeboten und durch Vernetzung mit weiteren Da-
versteht sich die Biodiversitätsforschung als interdiszi- tenbanken vereint.
plinäre Wissenschaft, die neben den klassischen biolo-
gisch orientierten Disziplinen wie der Taxonomie oder Im Bereich der Förderung des wissenschaftlichen
Ökologie auch einen starken Anteil gesellschaftswissen- Nachwuchses insgesamt sind seit der vergangenen Legis-
schaftlicher und ökonomischer Aspekte und Disziplinen laturperiode die Maßnahmen erheblich ausgebaut wor-
einbezieht. den: Mit dem Pakt für Forschung und Innovation sollen
die Zuschüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern
Mit der Konferenz „Biodiversitätsforschung – Mei- geförderten Forschungseinrichtungen in den Jahren 2011
lensteine zur Nachhaltigkeit“ vom März dieses Jahres bis 2015 jährlich um fünf Prozent steigen. Dazu gehören
hat das Ministerium für Bildung und Forschung die öf- Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-
fentliche Wahrnehmung gezielt auf das Thema der Bio- Planck-Gesellschaft und Leibniz-Gemeinschaft sowie
diversität gelenkt. Im Blickpunkt dieser Konferenz stand die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Von der Erhö-
das Forschungsprogramm BIOLOG, „Biodiversität und hung dieser Zuschüsse profitieren indirekt auch die DFG-
globaler Wandel“, des Bundesministeriums für Bildung Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
und Forschung, das die biologische Vielfalt unter dem wuchses. Zusätzlich wurden die Promotionsstipendien
Einfluss von Klima- und Landnutzungsänderungen un- der zwölf durch das Ministerium für Bildung und For-
tersucht hat. Die aus diesem Programm erlangten Er- schung unterstützten Begabtenförderungswerke qualita-
kenntnisse wurden in Handlungsoptionen zusammenge- tiv wie quantitativ ausgebaut. In diesem Jahr ging zudem
tragen, die sowohl den Schutz der Biodiversität als auch die Exzellenzinitiative in die dritte Runde. Das Fördervo-
die Einkommenssicherung im Blick haben. lumen wurde um 30 Prozent auf rund 2,7 Milliarden Euro
7836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) mit einer Laufzeit bis 2017 gesteigert. Die Bundesregie- Vielfalt ist nichts Entferntes; der Artenreichtum der Erde (C)
rung will mit der Fortsetzung der Exzellenzinitiative den ist das Netz, das uns täglich trägt. Es muss deshalb in un-
Wissenschaftsort Deutschland nachhaltig stärken, seine serem Interesse liegen, die Natur und unsere Lebens-
internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Spit- grundlagen zu schützen. Unser fraktionsübergreifender
zenforschung an deutschen Hochschulen sichtbar ma- Antrag „Biologische Vielfalt für künftige Generationen
chen. Mit ihren Vorgaben haben Bund und Länder dafür bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen si-
gesorgt, dass auch die „kleinen Fächer“ profitieren und chern“ hat gezeigt, dass wir als Abgeordnete im Deut-
eine faire Chance erhalten. schen Bundestag mit so wichtigen Fragen wie dem
Schutz der Artenvielfalt verantwortungsvoll umgehen
Die Bedingungen für den wissenschaftlichen Nach- und gemeinsam handlungsfähig sind. Was den Schutz
wuchs insgesamt, also auch im Bereich der Taxonomie, der biologischen Vielfalt angeht, sollten wir nicht hinter
sind in Deutschland daher so gut wie nie. Davon profi- die Forderungen dieses Antrags zurückgehen. Genau
tiert auch die taxonomische Forschung. Ein „Sonderpro- diese Gefahr sehe ich in dem Antrag „Die Taxonomie in
gramm“ für den Taxonomie-Nachwuchs halten wir vor der Biologie stärken“.
diesem Hintergrund für ein falsches Signal. Eine Verla-
gerung von Kapazitäten und begrenzten Mitteln könnte Fast alles, was Sie in dem Antrag zu biologischer
nur zulasten anderer wichtiger Forschungsbereiche voll- Vielfalt geschrieben haben, könnte ich sofort unter-
zogen werden. Dies erscheint uns in Anbetracht der be- schreiben. Dennoch sehe ich zwischen dem, was Sie zur
reits bestehenden Programme nicht angemessen. biologischen Vielfalt schreiben, und dem, was Ihre da-
raus abgeleiteten Handlungsempfehlungen sind, eine
Josef Göppel (CDU/CSU): Vor nicht einmal zwei Diskrepanz. Ob die Stärkung der Taxonomischen Lehr-
Wochen ging die Konferenz zum Schutz der biologi- stühle die richtige Antwort auf die Herausforderungen
schen Vielfalt in Japan mit einem Erfolg zu Ende. In Na- des Artenschwundes ist, darüber kann man streiten. Die
goya konnte ein strategischer Plan für die Jahre 2011 bis Taxonomie wurde von Carl von Linné im 18. Jahrhun-
2020 beschlossen werden, und bei dem ABS-Protokoll dert begründet, einer Zeit, in der die Grundlagenfor-
zum gerechten Vorteilsausgleich ist man ein gutes Stück schung in der Botanik und Zoologie in den Kinderschu-
vorangekommen. Das ABS-Protokoll ermöglicht Zu- hen steckte. Mit der von ihm geschaffenen Einteilung
gang zu den Ressourcen in den tropischen Regionen, der Pflanzen und Tiere hat er Grundlagen für die heutige
eine Beteiligung der Länder des Südens am ökonomi- Forschung und das Verständnis für Natur und die Zu-
schen Gewinn und für die Unternehmen Rechtssicher- sammenhänge zwischen den einzelnen Arten gelegt. Die
heit, wie zum Beispiel für die Pharmaindustrie, die den naturkundlichen Sammlungen entstanden in dieser Zeit
Artenreichtum der Regenwälder zur Entwicklung neuer und sind ein wertvolles wissenschaftliches und kulturel-
(B)
Medikamente nutzen möchte. Mit diesem Vorteilsaus- les Erbe. Ich finde Ihren Antrag vor dem Hintergrund (D)
gleich ist auch eine Bewahrung und Weiterentwicklung diskussionswürdig, dass das Leipziger Naturkundemu-
des traditionellen Wissens verbunden. seum wegen Geldmangel geschlossen werden soll. Wenn
Sie mit Ihrem Antrag darauf abzielen, sollte man an an-
Ich selbst konnte an der Konferenz in Nagoya und an derer Stelle darüber reden. Meine Kollegin Frau Klamt
der Gründung eines internationalen Netzwerkes der Sa- hat bereits deutlich gemacht, wie der Schutz der biologi-
toyama-Initiative teilnehmen. „Satoyama“ ist eine Initia- schen Vielfalt und der entstehende Forschungsbedarf ab-
tive aus Japan, die zum Ziel hat, den Artenschutz in Kul- gedeckt werden sollen.
turlandschaften zu fördern. Als politischer Begriff meint
„Satoyama“ die Nutzung des Landes in Harmonie mit Der beste Weg zum Schutz des Artenreichtums in
der Natur, das, was die westliche Welt „nachhaltige Nut- Deutschland ist die Umsetzung der Nationalen Strategie
zung“ nennt. Ich hatte Gelegenheit, bei einer Exkursion zur biologischen Vielfalt, NBS. Die Umsetzung dieser
ein typisches Satoyama-Projekt kennenzulernen, „Sen- Nationalen Strategie soll in den kommenden Jahren aus
maida“: die „Tausend Reisfelder“ von Yotsuya im Gebiet Sicht des Bundesumweltministeriums durch ein neues
der Stadt Shinshiro östlich von Nagoya. Von vier steilen Bundesförderprogramm gezielt unterstützt werden. Als
und bewaldeten Bergen umgeben, liegen dort 420 Ter- mögliche Förderschwerpunkte werden „Arten in beson-
rassenreisfelder, die im Einklang mit der Natur bewirt- derer Verantwortung Deutschlands“, „Hotspots der biolo-
schaftet werden. Eine Initiative mit Vorbildcharakter, die gischen Vielfalt in Deutschland“ und „Ökosystemdienst-
Mut macht. leistungen“ genannt. Mit der Artenvielfalt setzen sich
Das darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ja- viele Wissenschaftszweige auseinander. Es ist schwer zu
pan die gleichen Probleme mit dem Verlust der biologi- vermitteln, warum hier der Bereich Taxonomie eine be-
schen Vielfalt hat wie Deutschland, wie Europa und all sondere Bevorzugung erhalten soll. Zu den Projektförder-
die anderen Länder. Das Artensterben ist vor allem auf aktivitäten kommt ganz maßgeblich die institutionelle
landwirtschaftlichen Flächen besonders ausgeprägt und Förderung der Forschungsmuseen der Leibniz-Gemein-
schreitet mit dem Verlust ursprünglicher und naturnaher schaft mit 50 Prozent des dortigen Forschungsaufwandes
Wälder sowie mit der Überfischung der Weltmeere wei- durch den Bund hinzu. Diese Museums- und Bildungsbe-
ter voran. reiche können aufgrund der Zuständigkeit der Länder
nicht weitergehend mit Bundesmitteln gefördert werden.
Das Satoyama-Beispiel zeigt mir deutlich, wie wich-
tig es ist, den Biodiversitätsschutz in den Alltag und un- Wir sollten unsere Kräfte auf die wesentlichen Aufga-
ser wirtschaftliches Handeln einzubetten. Biologische ben konzentrieren. Dazu gehört die Umsetzung der na-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7837

(A) tionalen Biodiversitätsstrategie. Ich empfehle deshalb, daraus resultierenden unterschiedlichen Ansprechpartner (C)
den Antrag an die entsprechenden Ausschüsse zu über- und Forschungsförderer wird die Arbeit der Taxonomen
weisen. in Deutschland ebenfalls erschwert. Aus diesem Grund
sind spezielle auf die Taxonomie zugeschnittene For-
schungsprogramme notwendig. Zudem macht sich be-
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Die General-
reits heute ein Mangel an wissenschaftlichem Nach-
versammlung der Vereinten Nationen hat im Dezember
wuchs in der Taxonomie bemerkbar. Auch diesem Trend
2006 beschlossen, das Jahr 2010 zum Internationalen
muss entgegengewirkt werden.
Jahr der Biodiversität zu erklären. Sie tat dies aus tiefer
Besorgnis über die sozialen, ökonomischen, ökologi- Die SPD-Bundestagsfraktion fordert mit diesem An-
schen und kulturellen Konsequenzen des Biodiversitäts- trag, den wir heute in erster Lesung beraten, die Bundes-
verlustes und mit der Hoffnung, dass die Staaten und regierung auf, sich gemeinsam mit den Bundesländern
anderen Akteure von dieser Gelegenheit profitieren wür- auf ein Konzept für eine bessere Ausstattung der natur-
den, um das Bewusstsein für die Wichtigkeit der Biodi- kundlichen Museen und Sammlungen zu verständigen.
versität zu stärken und lokale, regionale und internatio- Darüber hinaus wird die Bundesregierung aufgefordert,
nale Aktionen durchzuführen. Biodiversität meint die Strukturen zu unterstützen und gegebenenfalls aufzu-
Vielfalt des Lebens und damit insbesondere auch die bauen, die den wissenschaftlichen Nachwuchs im Be-
Vielfalt der Arten (Tiere, Pflanzen, Pilze). Die SPD- reich der Taxonomie unterstützen und fördern.
Bundestagsfraktion hat nicht zuletzt auch das Internatio-
nale Jahr der Biodiversität 2010 zum Anlass genommen, Letztlich können wir diese Fragen aber nicht allein
um mit ihrem Antrag „Stärkung der Grundlagenfor- auf nationalstaatlicher Ebene lösen. Daher wird die Bun-
schung der biologischen Taxonomie und Stärkung der desregierung darüber hinaus aufgefordert, ein mit den
Biodiversitätsforschung zum Schutz der biologischen Bundesländern und der Europäischen Kommission abge-
Vielfalt“ das Thema auf die politische und parlamentari- stimmtes Bundesforschungsprogramm für die biologische
sche Agenda zu setzen. Taxonomie ins Leben zu rufen, welches Infrastrukturen,
Datenbanken, Forschungsprojekte und Koordinierungs-
Lassen Sie mich eingangs eine Frage stellen: Was strukturen langfristig finanziell unterstützt. Auf europäi-
schätzen Sie, wie viele Tierarten es in Deutschland gibt? scher Ebene beginnen derzeit die Verhandlungen zum
Laut einer Untersuchung des Bundesamtes für Natur- 8. Forschungsrahmenprogramm. Die Bundesregierung
schutz gab es 2004 in etwa 48 000 Tierarten in Deutsch- wird daher mit diesem Antrag aufgefordert, dass die
land. Davon zählen allein 33 300 Arten zu den Insekten. Biodiversitätsforschung und dabei auch die Taxonomie
Wirbeltierarten, also zum Beispiele Rehe, Füchse, Frösche, im 8. Forschungsrahmenprogramm sichtbar ausgebaut
(B) Vögel oder Fische, existieren bei uns hingegen nur wird. Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen in (D)
knapp über 700. Verglichen mit anderen Regionen auf den Ausschüssen und möchte schon heute bei allen Frak-
dieser Erde, wie zum Beispiel den Tropen, zählt tionen um die Zustimmung zu diesem Antrag werben.
Deutschland eher zu den Gebieten mit einer geringeren
Artenvielfalt. Zur Orientierung: Von den zehn Staaten
auf der Erde mit der reichsten Tier- und Pflanzenwelt lie- Dr. Matthias Miersch (SPD): Die 10. Vertragsstaa-
gen allein fünf Länder im Amazonasbecken: Venezuela, tenkonferenz des Übereinkommens über die biologische
Kolumbien, Ecuador, Peru und Brasilien. Vielfalt in Nagoya hat sehr deutlich gemacht, wie eng
der Schutz von terrestrischen und marinen Lebensräu-
Nachgewiesen sind auf unserer Erde circa 1,5 bis men und Arten, ihre nachhaltige Nutzung und vor allem
1,75 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Schätzungen ge- der gerechte Vorteilsausgleich zwischen Industrie- und
hen aber davon aus, dass es weltweit mindestens zwi- Entwicklungsländern zusammenhängen. Ohne eine faire
schen 13 und 20 Millionen Arten gibt. Denn viele sind Regelung über den Zugang zu genetischen Ressourcen
einfach noch nicht entdeckt und wissenschaftlich einge- und der gerechten Gewinnbeteiligung bei der Nutzung
ordnet worden. Gleichzeitig sterben täglich auch 2 bis dieser Ressourcen wird es langfristig keinen Schutz der
130 Arten aus. Da jede Art ihre Rolle innerhalb des Öko- Lebensräume und Arten, vor allem in den Entwicklungs-
systems hat, geht dabei nicht nur die Art in ihrer Einzig- und Schwellenländern, geben. Dieser Erkenntnis haben
artigkeit unwiderruflich verloren, sondern kann im sich die Vertragsstaaten in Nagoya verpflichtet; diese gilt
Zweifel auch das gesamte System geschwächt werden. es jetzt auch endlich mit Leben zu füllen und umzuset-
zen.
Taxonomie in der Biologie ist die systematische Be-
stimmung und Einteilung von Tieren und Pflanzen in Diese Erkenntnis setzt aber inhaltlich voraus, dass es
Kategorien wie Familie, Gattung und Art. Viele andere genug Haupt- und Ehrenamtliche gibt, die eine gute Ar-
Wissenschaftsdisziplinen bauen auf deren Erkenntnissen tenkenntnis besitzen und sich in der Pflanzen- und Tier-
auf. Taxonomie ist also zumeist Grundlagenforschung, systematik auskennen. Ohne den Unterbau an fundierter
die allerdings vor besonderen Herausforderungen steht. Sachkunde sind die ehrgeizigen Ziele zum Schutz und
Aufgrund der vorwiegend beschreibenden Arbeit über Erhalt der Natur nicht zu halten. Hier gibt es zunehmend
vorhandene Arten in einem bestimmten Gebiet ohne die Engpässe – sowohl bei der Erfassung der Arten außer-
ansonsten in der Wissenschaft übliche Forschungshypo- halb Deutschlands, insbesondere in tropischen Gebieten,
these ist es für Vertreterinnen und Vertreter der Taxono- als auch innerhalb Deutschlands. Hier sind es hauptsäch-
mie in Deutschland besonders schwierig, Forschungs- lich die Ehrenamtlichen, die das Arteninventar in schüt-
mittel einzuwerben. Durch den Föderalismus und die zenswerten Gebieten kennen, aufnehmen und an die zu-
7838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) ständigen Naturschutzbehörden weiterleiten und so eine und hält Optionen für innovative Produkte in der Zu- (C)
Bestandsaufnahme und darauf aufbauende wirkungs- kunft bereit. Viele Pflanzen- und Tierarten beinhalten
volle Kontrolle erst möglich machen. oder produzieren Wirkstoffe, die uns neue Ansätze bei
der Behandlung von Erkrankungen eröffnen könnten.
Die Naturschutzbehörden haben durch Stellenstrei- Diese gilt es zu erforschen, bevor sie uns verloren gehen.
chungen massiv an qualifizierten Mitarbeitern und Mit- Jährlich werden alleine in Lebewesen der Meere Hun-
arbeiterinnen verloren. Der Trend hält leider nach wie derte Naturstoffe entdeckt, die beispielsweise bei der
vor an. Das führt dazu, dass die Erstellung der Roten Krebstherapie, im Kampf gegen das HI-Virus oder den
Listen ohne die Zuarbeit der ehrenamtlichen Naturschüt- Malariaerreger neue Perspektiven eröffnen.
zer und Naturschützerinnen heutzutage gar nicht mehr
möglich ist. Ein herzliches Dankeschön an alle ehren- Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2010 zum In-
amtlichen Naturschützer und ihre Dachverbände; aber ternationalen Jahr der Biodiversität erklärt. Ziel ist es,
langfristig ist das, bei steigenden Anforderungen an die eine größere Sensibilität für die Vielfalt und die Schutz-
Naturschutzbehörden, natürlich keine Lösung. Dieses bedürftigkeit des Lebens auf der Erde zu schaffen. Nach
Problem betrifft die Länder- und Kommunalverwaltun- langen vergeblichen Bemühungen um ein tragfähiges
gen, aber auch der Bund ist betroffen. Das Bundesamt Konzept gegen das Artensterben konnten wir vor weni-
für Naturschutz und die Naturschutzabteilung im Bun- gen Tagen beim UNO-Gipfel in Nagoya einen großarti-
desumweltministerium arbeiten bereits jetzt am Rande gen Erfolg für mehr internationalen Artenschutz verbu-
ihrer Kapazität. Wie soll auf dieser Basis ein wirksamer chen. Dies war dringend notwendig, da alle bisherigen
Schutz der biologischen Vielfalt erreicht werden? Wie Anstrengungen im Sande verliefen. Die Natur ist unser
meint die Bundesregierung, mit diesen Ressourcen ihre größter Schatz. Wir stehen unverändert in der Pflicht,
internationalen Zusagen einhalten zu können? entschlossen und umsichtig die natürlichen Lebens-
grundlagen zu schützen und die Lebensqualität nachfol-
Leider hat die Bundesregierung das Problem noch gender Generationen in ökologischer, ökonomischer und
nicht angepackt. Im Bereich der Taxonomie muss ent- sozialer Hinsicht zu bewahren und weiterzuentwickeln.
schieden gegengesteuert werden. Beim Bundesamt für
Naturschutz fallen 2011 acht Stellen weg. Vor dem Hin- Auch ist es unsere Aufgabe unseren Kindern und Kin-
tergrund neuer Aufgaben, zum Beispiel beim Meeresnatur- deskindern eine artenreiche Natur zu hinterlassen, so-
schutz, oder durch die neuen Anforderungen, die sich dass auch sie noch von den Ökosystemdienstleistungen
aus dem Verhandlungsergebnis der 10. Vertragsstaaten- der Natur profitieren können. Hierfür benötigen wir
konferenz von Nagoya ergeben, ist dies ein Unding. Eine hochqualifizierte Spezialisten im Bereich der Taxono-
Entwicklung in die gegenteilige Richtung wäre das poli- mie. Der Nachwuchsmangel in Deutschland ist eklatant.
(B) tische Gebot der Stunde. Es bleibt zu hoffen, dass die Die vielen zoologischen und botanischen Einrichtungen (D)
Bundesregierung in Zukunft dem Schutz der Biodiversi- haben es verdient, dass ihre Arbeit auch weiterhin wis-
tät und der Bedeutung des Themas Taxonomie als senschaftlich fundiert untermauert wird.
Grundstein für den Erhalt der Natur einen größeren Stel-
lenwert zuschreibt. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): 2010 wurde von den
Vereinten Nationen zum Jahr der biologischen Vielfalt
Angelika Brunkhorst (FDP): Seit Jahren beklagen ausgerufen. Die durch den Menschen verursachte Zer-
gerade die Naturkundemuseen ihre schlechte finanzielle störung der Artenvielfalt hat ein dramatisches Ausmaß
und sächliche Ausstattung. Dies führt dazu, dass ihre angenommen. Bis zu 130 Arten sterben jeden Tag aus.
Sammlungen infolge Geldmangels größtenteils nicht ge- Wie der vorliegende Antrag richtig beschreibt, zieht die-
zeigt und erforscht werden können. Noch viel gravieren- ser Prozess Konsequenzen für viele weitere Bereiche
der ist jedoch, dass der Nachwuchs bei den Taxonomen nach sich. So ist die Welternährung betroffen, weil
fehlt. Bundesweit mangelt es an Lehrstühlen, die eine Monokulturen, die übermäßige Bodennutzung und die
ganzheitliche Forschung und Lehre der Artenvielfalt an- Einengung des Sortenspektrums die Nahrungsketten vie-
bieten. Taxonome klassifizieren Lebewesen aus Flora ler Millionen Menschen bedroht. 75 Prozent der im
und Fauna nach ihren Merkmalen in ein Ordnungssys- 19. Jahrhundert noch bekannten Kulturpflanzen und
tem. Nur wer umfassend um die Arten und deren Funk- Nutztierarten sind inzwischen ausgestorben.
tion innerhalb der Ökosysteme weiß, kann sie bewahren.
Die Wissenschaftler leisten damit einen bedeutenden Der Verlust an Biodiversität steht auch in engem Zu-
Beitrag zum Artenschutz. sammenhang mit Themen der Energieversorgung, der
Gesundheit und nicht zuletzt des Klimawandels. So ist
Rund zwei Millionen Arten sind bis heute bestimmt etwa die biologische Vielfalt der Regenwälder essenziell
und erfasst. Schätzungen gehen davon aus, dass über für eine Abpufferung der klimatischen Veränderungen.
90 Prozent aller Arten weltweit noch immer unbekannt Artenvielfalt sichert Schädlingsarmut, unterstützt die
sind. Millionen von Tieren und Pflanzen sind somit un- Kreisläufe von Wasser und Kohlenstoff und verhindert
beschrieben. Dies hat zur Folge, dass die meisten Arten, Bodenerosion.
unerforscht und unbekannt aussterben.
Es geht also, wenn wir die Dringlichkeit politischen
Im Hinblick auf die Verfügbarkeit pflanzlicher Wirk- Handelns gegen den Verlust der Artenvielfalt begründen,
stoffe als Heilmittel ist der Schutz der Artenvielfalt ein nicht nur um ethische Fragen. Die Forschung spricht in-
wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Krankheiten. Be- zwischen von Biodiversitätsgütern und -dienstleistun-
reits heute ist die Natur Vorbild für Hightechprodukte gen, also ganz utilitaristisch von Dingen, die wir als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7839

(A) Menschen existenziell zum Leben brauchen. Es ist zwar der Biodiversität muss auf der Grundlage des neuesten (C)
traurig, dass immer wieder in Studien der Wert der Bio- Standes wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen. Denn
diversität in Dollar und Euro ausgerechnet werden muss, solch eine Strategie wird in viele Bereiche unserer Le-
um die Gesellschaft für das Problem wachzurütteln. bens- und Produktionsweise eingreifen, angefangen von
Diese Methode hat jedoch auch beim Klimawandel er- der Flächennutzung bis zur Landwirtschaft oder dem lär-
folgreich gewirkt. mintensiven Verkehrswesen. Forschung für Artenschutz
ist mehr als Taxonomie. Wir brauchen auch eine ange-
Trotz des komplexen Beziehungsgeflechts der Biodi-
wandte Nachhaltigkeitsforschung und die enge Zusam-
versität steht sie in der öffentlichen Aufmerksamkeit
menarbeit von Wissenschaft und Politik.
hinter Themen wie dem Klimawandel oder der Energie-
versorgung zurück. Bereits 2001 hatte die EU den Stopp
des Verlustes der Artenvielfalt bis 2010 beschlossen, ein Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Jahr später setzten sich die Vertragsstaaten des Überein- Taxonomie gehört zum Basiswissen für die Biodiversi-
kommens über die biologische Vielfalt (CBD) das glei- tätsforschung und damit für alle praktischen Maßnah-
che Ziel. Vor drei Wochen nun vereinbarten die Vertrags- men, die auf biologische und ökologische Systeme zielen.
staaten im japanischen Nagoya erneut, den weltweiten Das Erkennen von Veränderungen im Ökosystem zum
Artenschwund in den kommenden zehn Jahren zu stop- Beispiel bei der Artenzusammensetzung, beim Ver-
pen. Es bleibt jedoch unklar, wie diese hehren Vorhaben schwinden von Arten oder dem Auftauchen von invasi-
eigentlich überprüft werden können. Denn es fehlt an ven, gebietsfremden Arten und die Beurteilung ihrer
Wissen und Kategorien für die Artenvielfalt. Folgen sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Bio-
diversitätsforschung als Frühwarnsystem funktionieren
Der Antrag der SPD-Fraktion weist daher zu Recht da- kann.
rauf hin, dass diese Lücken bestehen. Auch Institute der
Forschungsorganisationen, namentlich der Helmholtz- Die Kenntnis der Arten und ihrer Eigenschaften in Inter-
und der Leibniz-Gemeinschaft, machen immer wieder aktion mit ihrem Lebensraum ist unverzichtbar für jedes
darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, die Prozesse des nachhaltige Populationsmanagment, ob im Naturschutz
Verlustes der Biodiversität wissenschaftlich zu erfassen. oder bei der Schädlingsbekämpfung. Artenkenntnis ist
Die sprichwörtliche Schmetterlings- und Schlangen- auch eine wichtige Grundlage, um zum Beispiel bei der
sammlung, die wir aus der Kolonialzeit kennen, hatte Kooperation mit Entwicklungsländern, den optimalen
eher eine kulturelle Dimension der Entdeckung fremder Einsatz knapper Ressourcen für die Biodiversitätsfor-
Welten. Heute kommt der Taxonomie, die eine moderne, schung zu erreichen. Wenn für diese Aufgaben zuneh-
mit IT und Raumfahrt verknüpfte Wissenschaftsdisziplin mend die Expertinnen und Experten fehlen, wird
ist, eine grundlegende Bedeutung im Kampf um unsere Deutschland es schwer haben, seine Verpflichtungen aus
(B) (D)
Lebensgrundlagen zu. Je fundierter die Kenntnis über die dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt
Prozesse der Pflanzen- und Tierwelt ist, um so präziser (CBD) von 1993 zu erfüllen. Denn dieses hat im Prinzip
können wir Maßnahmen gegen das Artensterben planen die hinreichende Bereitstellung von Forschungsinfra-
und umsetzen. struktur und Forschungsressourcen zur Voraussetzung.
Trotz dieser Bedeutung ist die Taxonomie, also die Die wachsende Bedeutung der Biodiversitätsfor-
Kartografie der Biodiversität, selbst eine fast vom Aus- schung nicht nur für den Erhalt der Artenvielfalt, son-
sterben bedrohte Art der Biologie. Sie hat Schwierigkei- dern auch für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, Kli-
ten, sich im Kampf um Mittel und Ausstattung zu be- maschutz, Medizin, Pharmazie, Bionik bis hin zur
haupten. Ihre Forschungsgebiete können zumeist keine Vorbereitung internationaler Schutzabkommen wird in-
unmittelbare Anwendungsrelevanz behaupten. Wenn zwischen allgemein anerkannt. Die Biodiversitätsdebatte
dieses Problem des wissenschaftlichen Substanzverlus- bietet im Prinzip auch gute Voraussetzungen, um die
tes ernsthaft angegangen werden soll, muss der wissen- Taxonomie von ihrem etwas angestaubten Image zu be-
schaftliche Nachwuchs besonders gestärkt werden. freien und für wissenschaftliche Nachwuchskräfte wie-
Zwar gibt es auf deutscher und internationaler Ebene der interessanter zu machen. Das Handwerkszeug der
durchaus schlagkräftige Netzwerke der Biodiversitäts- Taxonomie ist zudem vielfältiger und anspruchsvoller
forschung. Allerdings werden diese in Umfang und The- geworden und reicht von der Molekulargenetik bis zur
menstellung der Breite und Bedeutung des Themas noch Teilnahme an Freilandexperimenten.
nicht gerecht. Das BMBF etwa hat neben der institutio- Das Hauptproblem in der Biodiversitätsforschung ist
nellen Förderung im laufenden Haushaltsjahr nur sicherlich das Auseinanderklaffen von wissenschaftlicher
8,5 Millionen Euro für Projekte der Biodiversitätsfor- Erkenntnis und praktischem Handeln. Gerade mit Blick
schung verausgabt. Viele der im Antrag benannten For- auf die bevorstehende Umstellung der EU-Landwirt-
schungsmuseen kämpfen gegen Mittelkürzungen. Wir schaftspolitik nach 2013 bekommen interdisziplinäre
unterstützen die Forderung der SPD, Forschungsinfra-
Praxisprojekte mit wissenschaftlicher Begleitung eine
strukturen und Datenbanken im Rahmen eines Bundes-
große Bedeutung. Gebraucht werden dafür zunehmend
forschungsprogramms langfristig finanziell abzusichern.
interdisziplinäre Teams mit Biologen, Taxonomen, Juris-
Aber die Politik sollte nicht nur Geld für die Erfas- ten und Ökonomen, die mit örtlichen politischen Akteu-
sung der Artenvielfalt und das Monitoring beisteuern. ren und Praktikern kooperieren. Der Bund sollte durch
Wir müssen auch sagen, welchen Wissensbedarf wir ein entsprechendes Programm dafür sorgen, dass an Uni-
selbst haben. Die Umsetzung der Strategie zur Erhaltung versitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland
7840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) für jede Tier- und Pflanzenklasse mindestens ein spezifi- Die christlich-liberale Koalition hat in Regierung und (C)
sches Kompetenzzentrum gesichert wird bzw. bestehende Parlament ein umfassendes Energiekonzept zur Sicher-
Lücken geschlossen werden. stellung einer zuverlässigen, wirtschaftlichen und um-
weltverträglichen Energieversorgung vorgelegt. Damit
In diesem Kontext sollte die Nachwuchssicherung im haben wir zum ersten Mal seit über 20 Jahren wieder ein
Bereich Biotaxonomie gefördert werden. Für die Ausbil- ideologiefreies, technologieoffenes und marktorientier-
dung und Forschung im Bereich Biotaxonomie, aber auch tes Energieprogramm aus einem Guss, das alle energie-
als DNA-Banken und Archive des Lebens haben Samm- wirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht und den
lungen und Museen eine große Bedeutung. Der Leibniz- Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien weist.
Verbund Biodiversitätsforschung umfasst 28 Leibniz-
Einrichtungen. Es ist fraglich, ob eine fünfzigprozentige Mit dem Konzept soll das Energiesystem der Zukunft
Bundesbeteiligung an der Finanzierung dieser nationalen so gestaltet werden, dass Deutschland bei wettbewerbs-
Bedeutung noch entspricht, zumal der hohe Länderanteil fähigen Energiepreisen und hohem Wohlstandsniveau
zunehmend zur Entwicklungsbremse für diesen Bereich eine der energieeffizientesten und umweltschonendsten
wird. Der Bund sollte auch auf internationaler Ebene ge- Volkswirtschaften der Welt wird. Das Energiekonzept ist
rade auch im Hinblick auf das deutsch-brasilianische eine bis in das Jahr 2050 reichende Strategie, in der erst-
Wissenschaftsjahr sich dafür einsetzen, dass die Möglich- malig der Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Ener-
keiten für die Grundlagenforschung für internationale gien konkret beschrieben wird. Ein hohes Maß an Ver-
Biodiversitätsforscher erleichtert und offener werden. sorgungssicherheit, ein wirksamer Klima- und
Umweltschutz sowie eine wirtschaftlich erfolgreiche
Perspektive werden damit dauerhaft miteinander verbun-
den. Wir holen das von der rot-grünen Bundesregierung
Anlage 12 Versäumte nach und stellen uns unserer Verantwortung.
Zu Protokoll gegebene Reden Im Energiemix der Zukunft sollen die erneuerbaren
Energien den Hauptanteil übernehmen. Auf diesem Weg
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur werden in einem dynamischen Energiemix die konven-
Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur För- tionellen Energieträger kontinuierlich durch erneuerbare
derung der Nutzung von Energie aus erneuer- Energien ersetzt. Dabei baut die Kernenergie eine Brü-
baren Quellen (Europarechtsanpassungsgesetz cke auf dem Weg dorthin.
Erneuerbare Energien – EAG EE) (Tagesord- Unser Konzept ist weltweit beispiellos, weil es lang-
nungspunkt 22) fristig angelegt ist und eine Vision für eine klimafreund-
(B) liche Energieversorgung bis zum Jahre 2050 schafft, (D)
Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Der Klima- weil es ein umfassendes und konkretes Maßnahmenpro-
schutz ist weltweit die herausragende umweltpolitische gramm enthält und seine Umsetzung solide finanziert ist.
Herausforderung der Gegenwart. Er ist Vorsorge für eine Wir zeigen damit konkret auf, wie wir den Weg in das
langfristig tragfähige wirtschaftliche und ökologische Zeitalter der erneuerbaren Energien gehen wollen, wie er
Entwicklung. Um den Anstieg der durchschnittlichen im Koalitionsvertrag festgelegt ist. Ein regelmäßiges
Temperatur auf der Erde auf maximal 2 Grad Celsius ge- und konsequentes Monitoring wird dazu dienen, Fehl-
genüber dem vorindustriellen Niveau bis zum Ende die- entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu korrigie-
ses Jahrhunderts zu begrenzen, ist es erforderlich, dass ren.
die Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis Die neun Handlungsfelder des Energiekonzeptes der
zum Jahr 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren. Bundesregierung beinhalten neben den Feldern Energie-
Deutschland verfolgt daher das Ziel, die nationalen effizienz, Kernenergie, Netzausbau, Herausforderung
Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Pro- Mobilität oder energetische Gebäudesanierung die er-
zent gegenüber 1990 und um 80 bis 95 Prozent bis zum neuerbaren Energien. Letztere sollen als Ziel so dyna-
Jahr 2050 zu reduzieren. Dies erfordert eine deutliche misch ausgebaut werden, dass ihr Anteil am Energiever-
Steigerung der Energieeffizienz und Alternativen zu den brauch 30 Prozent bis 2030 und 60 Prozent bis 2050
herkömmlichen Energieträgern; diese Notwendigkeit beträgt. An der Stromversorgung soll der Anteil sogar
wird auch durch die knapper werdenden fossilen Res- auf 50 Prozent bis 2030 und 80 Prozent bis 2050 steigen.
sourcen und den weltweit kontinuierlich steigenden Ener-
giebedarf unterstrichen.
Im Zusammenhang mit dem Energiekonzept der Bun-
Erneuerbare Energien sind nach menschlichen Maß- desregierung wurde am 28. September 2010 auch das so-
stäben unerschöpflich. In der Verantwortung gegenüber genannte Europarechtsanpassungsgesetz vom Bundeska-
künftigen Generationen gilt es, vorhandene Ressourcen binett verabschiedet, dessen Entwurf wir heute beraten.
zu schonen und regenerative Energien zu nutzen. Durch Mit dem Europarechtsanpassungsgesetz setzen wir die
die Nutzung heimischer erneuerbarer Energien wird zu- EU-Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung
gleich die Importabhängigkeit von ausländischen Ener- von Energie aus erneuerbaren Quellen – die sogenannte
gieträgern reduziert. Deutschland verfolgt daher das Erneuerbare-Energien-Richtlinie – in deutsches Recht
Ziel, den Weg in das regenerative Zeitalter zu gehen und um. Diese Richtlinie ist Teil des Europäischen Klima-
zugleich die Technologieführerschaft bei den erneuerba- und Energiepakets. Sie gibt als Ziel für das Jahr 2020
ren Energien auszubauen. einen Anteil Erneuerbarer Energien von 20 Prozent am
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7841

(A) Endenergieverbrauch der EU verbindlich vor. Für Gebäude ist mit der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (C)
Deutschland ist ein nationales Ziel von 18 Prozent vor- zwar nicht vereinbar. Um nun potenzielle finanzielle Be-
gegeben. Mit der Richtlinie wird erstmals eine Gesamt- lastungen der Kommunen auf ein Minimum zu reduzie-
regelung in der EU für alle Energiesektoren, also Strom, ren und zugleich den europarechtlichen Mindestanforde-
Wärme/Kälte und Transport, eingeführt. Sie schafft hier- rungen zu genügen, wollen wir Kommunen, die in einer
durch einen verlässlichen Rechtsrahmen für die notwen- akuten Haushaltsnotlage sind, von der Nutzungspflicht
digen Investitionen. Für die Zielerreichung können die befreien.
Mitgliedstaaten ihre Förderinstrumente grundsätzlich
selbst ausgestalten, um ihre Potenziale optimal zu errei- Ich freue mich, dass auch insgesamt gesehen die Kos-
chen. Darüber hinaus führt die Richtlinie flexible Me- ten dieser Regelung im Rahmen bleiben. Natürlich ist
chanismen für eine Kooperation zwischen den Mitglied- Klimaschutz nicht ganz kostenlos zu haben: Die Kosten
staaten ein. der Verpflichtung der öffentlichen Hand zu einer vor-
bildlichen Nutzung erneuerbarer Energien sind von der
Die Umsetzung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie öffentlichen Hand zu tragen, als Eigentümerin der öf-
ist in Deutschland bereits weit gediehen: Mit dem Erneu- fentlichen Gebäude oder als Mieterin, weil der Mietver-
erbare-Energien-Gesetz, EEG, dem Erneuerbare-Ener- trag zugleich die Kostenübernahme der Vorbildfunktion
gien-Wärmegesetz, EEWärmeG, der Biokraftstoffförde- durch die öffentliche Hand regeln kann.
rung und den Nachhaltigkeitsverordnungen sind bereits
weite Teile der Erneuerbare-Energien-Richtlinie vorzei- Die Bundesregierung nimmt an, dass aufgrund der ak-
tig umgesetzt worden. Das zeigt ganz besonders deut- tuellen Haushaltsnotlage deutlich weniger als jährlich
lich, dass die deutschen Förderregelungen für erneuer- knapp 2 500 öffentliche Gebäude aufgrund der Vorbild-
bare Energien ehrgeizig und europaweit vorbildlich sind. funktion des neuen § 1 a EEWärmeG in erneuerbare
Deshalb passen wir das nationale Recht mit dem Europa- Energien für die Wärme- oder Kälteversorgung investie-
rechtsanpassungsgesetz nur in Details an die Erneuer- ren müssen. Da den Investitionen auch Einsparungen
bare-Energien-Richtlinie an. Der Gesetzentwurf setzt die durch vermiedene Nutzung teurer werdender fossiler
Richtlinie „eins zu eins“ um. Deshalb nehmen wir keine Brennstoffe entgegenstehen, können sich auf mittelfris-
über eine solche Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen- tige Sicht jedenfalls die anfänglichen Investitionskosten
den Änderungen vor. Kern dieses Gesetzes sind die Ein- innerhalb der üblichen Betriebsdauer einer Anlage amor-
führung eines elektronischen Herkunftsnachweisregis- tisieren und die Nutzung erneuerbarer Energien wird
ters und die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude. rentabel. Die Bundesregierung schätzt die maximale Ge-
samtbelastung, Differenzkosten, auf 4,07 Millionen
Zum Herkunftsnachweisregister: Die Mitgliedstaaten Euro. Davon entfallen circa 0,25 Millionen Euro, 6,1 Pro-
müssen ein elektronisches Register für Herkunftsnach- zent, auf den Bund, circa 0,54 Millionen Euro, 13,3 Pro- (D)
(B)
weise für Strom aus erneuerbaren Energien einführen. zent, auf die Länder und circa 3,28 Millionen Euro,
Diese Nachweise werden für direkt vermarkteten Strom 80,6 Prozent, auf die Kommunen und ihre mittelbaren
aus erneuerbaren Energien ausgestellt. Sie können für Einrichtungen bzw. sonstige Eigentümer von öffentli-
die Stromkennzeichnung genutzt werden. Gegenüber chen Gebäuden. Ich betone, dass im Ergebnis mit keinen
dem Verbraucher kann damit bewiesen werden, dass der unmittelbaren oder abschätzbaren mittelbaren Kosten für
genutzte Strom aus erneuerbaren Energien stammt. Zur Private oder für die Wirtschaft zu rechnen ist, die durch
Umsetzung wird § 55 EEG neu gefasst und eine Verord- dieses Artikelgesetz ausgelöst werden. Dies gilt sowohl
nungsermächtigung geschaffen. Das Umweltbundesamt, für den Herkunftsnachweis als auch für die Vorbildfunk-
UBA, soll das Register führen. Ich denke, dass wir mit tion öffentlicher Gebäude.
diesem Register die Stromkennzeichnung für Strom aus
erneuerbaren Energien marktnah verbessern und trans- Schließlich beinhaltet der Gesetzentwurf zum Bei-
parenter gestalten. spiel punktuelle Verbesserungen beim Netzanschluss
von EEG-Anlagen, zur Sicherstellung einer ausreichen-
Zur Vorbildfunktion: Die Richtlinie verpflichtet die den Datenlage im Wärme/Kälte-Bereich, in der Energie-
Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass auch bestehende statistik und bei der Fortbildung von Handwerkern sowie
öffentliche Gebäude ab 2012 im Falle einer grundlegen- eine Vertrauensschutzregelung beim Einsatz von flüssi-
den Renovierung eine Vorbildfunktion für die Nutzung ger Biomasse.
erneuerbarer Energien übernehmen. Um dies umzuset-
zen, wird die bereits für Neubauten bestehende Nut- Die flexiblen Kooperationsmechanismen, wie zum
zungspflicht des EEWärmeG auf öffentliche Bestands- Beispiel gemeinsame Projekte mit anderen Ländern, set-
gebäude ausgedehnt. Bei der Ausgestaltung ist darauf zen wir nicht mit diesem Gesetz um. Sie sind eine zu-
geachtet worden, keine Privaten zu belasten; Wohnge- sätzliche, freiwillige Möglichkeit der Länder, ihre Ziele
bäude sind vollständig ausgeklammert. Die Verpflich- zu erfüllen. Deutschland wird sein nationales Ziel nach
tung gilt außerdem nur für öffentliche Gebäude, die im der Ende 2009 an die Kommission übermittelten Voraus-
Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die künftig schätzung bereits ohne Nutzung dieser Mechanismen er-
von der öffentlichen Hand angemietet werden. Gebäude, füllen. Insofern hängt die Frage, ob und in welchem Um-
die die öffentliche Hand bereits von Privaten angemietet fang die Bundesregierung von den Kooperations-
hat, werden nicht erfasst. Allerdings haben wir uns hier mechanismen Gebrauch machen wird und ob dies dann
mit Härtefallregelungen für Kommunen stark gemacht. einer Umsetzung im EEG bedarf, zum einen von der tat-
Klar ist: Die Mehrheit der öffentlichen Gebäude wird sächlichen Entwicklung des Ausbaus der erneuerbaren
von den Kommunen genutzt. Eine Ausnahme für diese Energien in Deutschland ab. Zum anderen spielen auch
7842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) das Interesse anderer Mitgliedstaaten und schließlich gangs von Erneuerbare-Energien-Anlagen gesprochen. (C)
eine gemeinsame, vertiefte Analyse der wirtschaftlichen Was mich aber besonders empört, ist, dass Sie mit § 64
und rechtlichen Implikationen im Einzelfall eine Rolle. Abs. 2 EEG versuchen, dem Parlament seine Mitsprache
bei der Ergänzung der Positiv- und Negativlisten von
Ich bin sicher, dass wir mit dem Europarechtsanpas- nachwachsenden Rohstoffen zu entziehen. Mithilfe einer
sungsgesetz einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorlie- Rechtsverordnung wollen Sie die in Anlage 2 des EEG
gen haben, mit dem wir unsere Klimaschutzziele in festgeschriebenen Listen zukünftig ohne Zustimmung
einem ehrgeizigen, aber dennoch realistischen Rahmen des Deutschen Bundestages ergänzen. Das Parlament hat
umsetzen. bei der letzten EEG-Novellierung im Jahr 2008 auf eben
diese Mitbestimmung als eines der Kernelemente des
Dirk Becker (SPD): Die Einführung eines elektroni- EEG besonderen Wert gelegt. Mir erscheint das Misch-
schen Herkunftsnachweisregisters für Strom aus erneu- gebilde, das hier aus Gesetzestext und Rechtsverordnung
erbaren Energien erscheint sinnvoll, um die europaweite entsteht, in seiner Verfassungsmäßigkeit äußerst frag-
Vermarktung von grünem Strom zu vereinheitlichen. würdig. Dies gilt es im Rahmen des Gesetzgebungsver-
Noch bleibt allerdings abzuwarten, ob die neue Rechts- fahrens unbedingt zu prüfen.
verordnung tatsächlich deutliche Verbesserungen gegen- Generell sollte gelten: Alles, was über die Anpassung
über dem bisherigen System schafft. Die darin zu kon- nationalen Rechts an die EU-Richtlinie hinausgeht – wie
kretisierenden Anforderungen an die Ausstellung, etwa Ergänzungen der Positiv- und Negativlisten – sollte
Anerkennung, Übertragung und Entwertung von Her- im Rahmen der EEG-Novelle 2012 geprüft werden. Das
kunftsnachweisen müssen klar und unmissverständlich Europarechtsanpassungsgesetz darf nicht als Vorwand
formuliert sein, sodass rechtliche Unsicherheiten nicht genutzt werden, heimlich, still und leise das Parlament in
zu Investitionshemmnissen werden. seinen Zuständigkeiten und Kontrollrechten zu be-
Genau das ist der Bundesregierung allerdings beim schneiden.
Netzanschluss bereits misslungen. In § 5 Abs. 5 EEG Über 50 Prozent der Energie wird in Deutschland im
soll es künftig heißen: „Netzbetreiber sind verpflichtet, Wärmesektor verbraucht. Mit dieser Energie wird
Einspeisewilligen unverzüglich die für den Netzan- Brauchwasser erhitzt, werden Gebäude geheizt und ge-
schluss erforderlichen Informationen vollständig zu kühlt bzw. insgesamt klimatisiert. Rund 40 Prozent der
übermitteln …“ Das klingt ja auf den ersten Blick gut Treibhausgasemissionen aus der energetischen Nutzung
und schön, auf den zweiten Blick frage ich mich aber, fossiler Energieträger fallen hier an. Der Anteil der er-
was ist hier eigentlich mit „unverzüglich“ gemeint? In neuerbaren Energien lag demgegenüber im vergangenen
der Begründung heißt es, dass die zeitliche Anforderung Jahr bei bescheidenen 8,4 Prozent.
(B) „unverzüglich“ – etwa bei der Übermittlung der Unterla- (D)
gen zur Prüfung des Verknüpfungspunkts seitens des Alle sprechen vom „schlafenden Riesen“ Wärmesek-
Einspeisewilligen – nicht zwangsläufig eine Verschär- tor, aber die Bundesregierung und die sie tragende Ko-
fung der bisher vorgesehenen acht Wochen darstellt. alition trauen sich nicht, ihn zu wecken. Die Bundesre-
Hier frage ich mich dann doch, welchen Nutzen sich die gierung hat bereits in ihrem Energiekonzept verpasst, für
Bundesregierung bezüglich der Beschleunigung des den Wärmemarkt einen stringenten und für alle Beteilig-
Netzzugangs verspricht. Die Bemühungen scheinen hier ten transparenten Pfad für die Verringerung des Energie-
über Lippenbekenntnisse nicht hinauszugehen. Was wir bedarfs in diesem Bereich und die Steigerung des An-
beim Netzanschluss brauchen, sind klare Fristen, für de- teils erneuerbarer Energien aufzuzeichnen. Lediglich für
ren schuldhafte Überschreitung der Netzbetreiber haften das Jahr 2050 wird ein ambitioniertes Ziel ausgerufen.
muss. Mit dem vorliegenden Entwurf für ein Europa-
Ich befürworte darüber hinaus, die Netzbetreiber zu rechtsanpassungsgesetz wird eine weitere große Chance
verpflichten, auf ihrer Internetseite die aktuelle Netzaus- verpasst. Mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-
lastung und die bestehenden und zu erwartenden Eng- Wärmegesetzes, EEWärmeG, hätte man tatsächlich eine
pässe zu veröffentlichen. Das schafft Transparenz, gibt Initialzündung für mehr an erneuerbaren Energien auch
der Öffentlichkeit Aufschluss darüber, wie viel Strom in Bestandsgebäuden, aber auch für eine ambitionierte
aus erneuerbaren Energien noch in die Leitungen passt, Steigerung der Sanierungsquote erreichen können. Doch
und erleichtert die Investitionsentscheidungen für Anla- vorgelegt wird dem Deutschen Bundestag ein Entwurf,
genbetreiber. über den es sich kaum zu diskutieren lohnt.

Außerdem müssen wir Klarheit darüber schaffen, wie Positiv sind zwar sicherlich die Gleichstellung von
die Gebühren für Netzverträglichkeitsprüfungen gestal- Wärme- und Kälteerzeugung und die Vorbildfunktion
tet werden sollen. Die gegenwärtige Praxis ist rein will- öffentlicher Gebäude im Bestand. Das ist aber in Hin-
kürlich und beruht auf keinen festen Regelungen. Insbe- blick auf das Ausbauziel für erneuerbare Energien bis
sondere für Investoren in Kleinanlagen stellt dies ein 2020 herzlich wenig. Der Großteil der vorgeschlagenen
weiteres Investitionshemmnis dar. Hier ist etwa zu über- Änderungen des EEWärmeG beziehen sich darauf, die
legen, die Angemessenheit der Gebühren regelmäßig Anzahl der von den gesetzlichen Bestimmungen betrof-
von der Bundesnetzagentur überprüfen zu lassen. fenen Gebäuden zu minimieren. Denn es sind nicht alle
öffentlich genutzten Gebäude betroffen. Kirchen, freie
Bisher habe ich in erster Linie von Versäumnissen der Träger von Kitas oder Kliniken fallen zum Beispiel raus.
Bundesregierung bei der Beschleunigung des Netzzu- Auch die Länder fallen raus, sofern sie keine eigenen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7843

(A) Regelungen treffen. Skandalös ist, dass Kommunen reichen, wenn wir energetische Sanierung mit der Nut- (C)
ohne ausgeglichenen Haushalt das EEWärmeG nicht an- zung erneuerbarer Energien beim Heizen verbinden.
wenden müssen, obwohl gerade sie von verringerten Be-
triebskosten der sanierten Gebäude in Zukunft finanziell Uns als FDP ist es ein zentrales Anliegen, dass bei der
entlastet werden. Überarbeitung des Wärmegesetzes innerhalb des Euro-
parechtsanpassungsgesetzes eine größere Technologie-
Die Nutzungsverpflichtung von erneuerbaren Ener- offenheit, insbesondere für Biogas, geschaffen wird.
gien greift im Übrigen auch nur dann, wenn innerhalb Deshalb hat das FDP-geführte Wirtschaftsministerium in
von zwei Jahren sowohl die Heizungsanlage erneuert als der Ressortabstimmung dieses Gesetzes schon dafür ge-
auch mindestens ein Fünftel der Gebäudehülle saniert sorgt, dass die KWK-Pflicht bei der Verwendung von
wird. Aber für die wenigen Gebäude, die dann wirklich Biogas im Gebäudebestand der öffentlichen Hand gestri-
vorbildhaft saniert werden müssen, soll laut Entwurf chen worden ist. Dies hat Signalwirkung für das Wärme-
auch keine Nachweispflicht – und damit keine Kontroll- gesetz insgesamt. Der Grund für die Streichung der
möglichkeit – bestehen, im Gegensatz zu privaten Bau- KWK-Pflicht ist einfach: die Differenzierung zwischen
herren. Biogas für die „gute“ KWK-Anlage und Biogas für den
„bösen“ Heizkessel ist ideologisch. Ist es denn besser,
Ob durch Schlampigkeit oder Vorsatz sind in dem im Heizkessel Erdgas zu nutzen? Auch wenn Biogas mit
Entwurf auch einige Verschlimmbesserungen enthalten. einem schlechteren Wirkungsgrad im Brennwertkessel
So soll die Fernwärme als Ersatzmaßnahme entfallen, verbrannt wird, so ist die CO2-Bilanz immer noch bei
falls sie aus einem öffentlichen Wärmenetz stammt. Die weitem besser als bei der Verwendung von Erdgas. Da-
stiefmütterliche Behandlung der Kraft-Wärme-Kopplung her führt die KWK-Pflicht letztendlich zu weniger Kli-
im Energiekonzept und die jüngsten Änderungen im maschutz. Zudem ist bei kleineren Gebäuden die KWK
Energiesteuergesetz zuungunsten der Fernwärme drän- schlicht keine realistische Option.
gen bei mir schon den Eindruck auf, dass hier konse-
quent ein ganzes Marktsegment im Wärmebereich ka- Im parlamentarischen Verfahren wird zu prüfen sein,
puttgemacht werden soll. ob die Technologieoffenheit in diesem Bereich weiter
gestärkt werden kann und ob alle Zusatzauflagen, die im
Mit diesem Entwurf kann die Bundesregierung ihre Gesetzentwurf für die Biogasnutzung noch stehen, not-
energie- und klimapolitischen Ziele im Wärmesektor bis wendig sind. Wir Liberale wollen die Chance ergreifen,
2020 nicht erreichen. An eine Zielerreichung 2050 ist um ein Zeichen für den unideologischen Einsatz von er-
mit diesem dürren Instrumentarium ebenfalls nicht zu neuerbaren Energien und insbesondere Biogas zu setzen.
denken. Nur so werden wir der im Gesetzentwurf erwähnten Vor-
(B) bildfunktion der öffentlichen Hand tatsächlich gerecht. (D)
Wir bieten Ihnen nun im parlamentarischen Verfahren
unsere Hilfe an, den schlafenden Riesen zu wecken. Wir Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekon-
werden Ihnen aufzeigen, wie man den Gebäudebestand zept vereinbart, eine haushaltsunabhängige Förderung
in das EEWärmeG und das Ordnungsrecht integrieren der erneuerbaren Wärme zu prüfen. Das ist auch drin-
kann, ohne die finanzielle Möglichkeiten privater Eigen- gend erforderlich, um erneuerbare Wärme voranzubrin-
tümer zu überfordern. Wir werden Ihnen ein Modell für gen. Denn Ordnungsrecht kann nur letztes Mittel sein,
einen haushaltsunabhängigen und mit klaren Prioritäten und die steuerfinanzierten Programme treffen auf stei-
ausgestatteten Förderanreiz präsentieren. Wir werden Ih- gende Finanzierungsprobleme, wenn wir zu Recht aus
nen zeigen, wie man die verschiedenen Instrumente, wie Gründen der Generationengerechtigkeit die Staatsver-
zum Beispiel EEWärmeG, EnEG/EnEV, BauGB, Miet- schuldung absenken wollen.
recht, MAP und CO2-Gebäudesanierungsprogramm, zu
einem wirkungsvollen Gesamtinstrumentarium und ei-
nem abgestimmten Fahrplan in Richtung eines weitest- Horst Meierhofer (FDP): Mit dem Europarechtsan-
gehend CO2-freien Gebäudebestand 2050 zusammen- passungsgesetz Erneuerbare Energien vollziehen wir ei-
fügt. nen ersten Schritt, die ehrgeizigen Ziele des Energiekon-
zepts in die Tat umzusetzen.
Denn eines ist klar: Alle Beteiligten, private Bauher-
ren, gewerbliche Investoren, Mieter und Vermieter, die Wir wollen den Anteil Erneuerbarer am Bruttoend-
Baustoffindustrie, die Hersteller von Heiz- und Klima- energieverbrauch deutlich steigern. Die Zielvorgabe für
anlagen sowie Handwerker aller betroffenen Gewerke 2020 aus dem Nationalen Aktionsplan von 18 Prozent
müssen verlässlich wissen, wo die Reise hingeht und wie wird nach aktuellen Schätzungen mit 19,6 Prozent über-
man dort hinkommt. erfüllt werden. Allein im Stromsektor streben wir für
diesen Zeithorizont mindestens 35 Prozent Erneuerbare
an.
Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
wurf dient der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Förde- Zielvorgaben sind aber nur die eine Seite der Me-
rung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen. daille. Wir wollen sicherstellen, dass keine statistischen
Unter anderem wird geregelt, dass die öffentliche Hand Tricksereien dafür sorgen, dass diese Zielvorgaben er-
bei der Sanierung ihres Gebäudebestandes eine Vorbild- reicht werden, sondern eine handfeste Berechnungs-
funktion einnimmt. Dies ist gut und richtig. Denn wir grundlage Beleg für das Erreichen oder Nichterreichen
werden die Klimaschutzziele im Gebäudesektor nur er- ist. Vergangene Regierungen aller haben oftmals über
7844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) statistische Schönrechnerei Lobhudelei in eigener Sache Dorothee Menzner (DIE LINKE): Die Europäische (C)
betrieben. Das wollen wir hier ändern. Union hat sich darauf festgelegt, dass 20 Prozent des
Endenergieverbrauchs bis zum Jahr 2020 aus erneuerba-
Die Herkunftsnachweise werden in Zukunft nicht ren Energiequellen gewonnen werden sollen. Frei nach
mehr durch Umweltgutachter, sondern durch das Um- dem Motto, das Wenigste ist für uns gut genug, geht die
weltbundesamt erbracht. Auch dies ist ein weiterer As- Bundesregierung auch hier einen Sonderweg: 18 Prozent
pekt, der mehr Transparenz und Verlässlichkeit bringt. Energie aus Erneuerbaren am Endenergieverbrauch
plant die Bundesregierung für 2020, das steht bereits in
Das Problem des Netzausbaus zieht sich wie ein roter ihrem Energiekonzept. Warum sie hier so unambitioniert
Faden durch die Gesetzgebung und die Diskussionen der auftritt, ist klar: Der Ausbau erneuerbarer Energien ge-
letzten Monate. Laut der aktuellen dena-Netzstudie be- fährdet die Stromerzeugung aus Kohle- und Atomkraft,
nötigen wir bis 2015 900 Kilometer neue Hochspan- also die dreckigen und strahlenden Profitschleudern der
nungsnetze, von denen circa ein Neuntel bis zum heuti- vier großen Energieversorger.
gen Tag gebaut worden ist. Die Zahlen, die wir nach der
neuen Studie erwarten dürfen, werden angesichts der Beim Lesen der Begründung Ihres Gesetzentwurfs
ehrgeizigen Ziele für Erneuerbare voraussichtlich noch fällt mir vor allem auf, dass für Sie wie immer kurzfris-
deutlich über den genannten liegen. Wie Sie sehen, be- tige wirtschaftliche Aspekte über ökologischen rangie-
steht massiver Handlungsbedarf, nicht zuletzt auch auf ren. Gerade diese Ignoranz gegenüber existenziellen
gesetzgeberischer Ebene. Notwendigkeiten hat ja dazu geführt, dass wir heute froh
sein müssen, wenn wir das 2-Grad-Ziel nicht noch über-
Mit der hier zu behandelnden Gesetzesinitiative lösen schreiten.
wir dieses Problem zwar nicht, aber wir tragen dazu bei,
Ich fordere Sie auf, im Interesse der Menschen Ihr
dieses Problem an einer kleinen, wenn auch keineswegs
Wertesystem zu überprüfen. Sie sprechen allenthalben
unbedeutenden Stelle anzupacken. Die Netzbetreiber
von der Notwendigkeit des Wachstums. Jedes Kind lernt
werden verpflichtet, einen detaillierten Kostenvoran-
in der Schule, dass es so etwas wie unbegrenztes Wachs-
schlag und Zeitplan für den Netzanschluss dem Anla-
tum nicht gibt, das ist schier unmöglich. Das ist die sys-
genbetreiber vorzulegen. Der Anlagenbetreiber erhält temimmanente Lüge vom Ausbruch der Armut bei aus-
dadurch Rechtssicherheit und Planbarkeit. Von verschie- bleibendem Wirtschaftswachstum. Sie vertreten hier
denen Seiten haben wir in letzter Zeit immer wieder die ökonomische Interessen, ohne die sozialen und ökologi-
Sorge gehört, dass der Anschluss an das Netz nicht zeit- schen Zwänge zu beachten. Und damit verhindern Sie
nah gewährleistet werde. Ob dies für Deutschland recht das, was die Menschheit zum Überleben braucht: den
neue Projekte wie Interkonnektoren sind oder klassische nachhaltigen Schutz der Biosphäre, der Atmosphäre und
(B) Kleinanlagen, die um ihren Anschluss fürchten: Ange- (D)
die Schonung natürlicher Ressourcen.
sichts der angestrebten dezentralen Energieversorgung
sind dies berechtigte Sorgen. Die Informationspflicht Ein Beispiel: Öffentliche Gebäude zum Vorbild in Sa-
gibt den Betreibern eine Handhabe, ein Grundgerüst für chen Energieeffizienz und Nutzung erneuerbarer Ener-
ihr Vorhaben. Aus diesem Grund begrüßen wir die Ein- gien zu machen, ist prinzipiell ein guter Weg. Ihr Gesetz-
führung der Informationspflichten. gebungsentwurf liest sich aber so, dass es wiederum eine
soziale Frage ist – diesmal in kommunalem Maßstab –,
Zum Abschluss möchte ich noch auf die Nutzungs- ob dieser Umbau auch gelingt. Es ist verheerend, die an-
pflicht erneuerbarer Energien bei der Renovierung öf- fallenden Kosten für die Sanierung der Gebäude in öf-
fentlicher Gebäude eingehen. Wir können nicht die Um- fentlicher Hand allein den Kommunen überlassen zu
stellung des Energiesystems von den Bürgern fordern wollen – im Rahmen Ihrer Verteilungspolitik. Da zeigt
und gleichzeitig zulassen, dass die öffentliche Hand sich sich deutlich der Widerspruch, den Ihre Politik forciert
aus ihrer Verantwortung stiehlt. Die Verwaltung und ins- und deren Folgen die Gesellschaft auszubaden hat.
besondere die öffentlichen Gebäude haben hier eine Vor-
Was Sie endlich begreifen müssen, ist, dass Sie die
bildfunktion. Das gilt für den Einsatz von Erneuerbaren
Probleme der ökologischen Krise nicht gesondert von
genauso wie für die Wärmedämmung und die Steigerung den Problemen der sozialen Krise in diesem Land lösen
der Energieeffizienz, und zwar grundsätzlich sowohl für können. Es nützt nichts, Kommunen von der Verpflich-
Bestandsgebäude als auch für Neubauten. Zumindest bei tung zur Gebäudesanierung freizustellen, wenn es eine
einer grundlegenden Renovierung von Bestandsgebäu- Haushaltsnotlage gibt. Schauen Sie sich doch mal die
den stellen wir nun sicher, dass zukünftig die Nutzung Haushalte der Kommunen an. Die haben Ihretwegen für
Erneuerbarer erfolgen muss. Die Ausnahmeregelung für so etwas kein Geld übrig. Das ist eine Folge Ihrer Vertei-
klamme Kommunen, nach der sie sich nicht daran betei- lungspolitik. Und dann schaffen Sie hier eine Ausnah-
ligen müssen, sollte kritisch hinterfragt werden. meregelung, die tatsächlich die Mehrheit der Kommu-
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir Wert da- nen in strukturschwachen Regionen treffen wird. Mit
solcher Inkonsequenz verpufft die Wirksamkeit jeglicher
rauf gelegt haben, nur die Gebäude zu erfassen, die im
Effizienzbestrebungen in Sachen Energie. Und nicht er-
Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder künftig von
folgte Sanierung schafft die Haushaltsbelastungen der
der öffentlichen Hand angemietet werden. Wir wollen
Kommunen von morgen.
den Systemwandel, aber nicht durch Zwang oder Pflicht,
sondern durch die Schaffung von vernünftigen Anreiz- Sanieren Sie doch trotzdem alle öffentlichen Gebäude
programmen und unter Mitwirkung der Bürger. und zahlen Sie die Kosten aus den satten Steuereinnah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7845

(A) men, die Sie bekommen würden, wenn Sie allein der so- bei hatte Schwarz-Gelb die Mittel bereits dieses Jahr ge- (C)
genannten Liberalisierung des Stromsektors eine stren- kürzt. Die Glaubwürdigkeit des Aktionsprogramms für
gere Regulierung verpassen würden. Tun Sie nicht so, erneuerbare Energien wird dadurch jedenfalls nicht er-
als gefährde das die Existenz der großen Energieversor- höht.
ger. Geben Sie den Kommunen ihre Leitungsnetze zu-
rück, dann haben Sie auch die Mittel, um die Vorgaben Zurück zum Wärmegesetz. Wieder einmal lässt die
im Gesetzentwurf umzusetzen. Aber Sie ruhen sich aus Bundesregierung die Gelegenheit aus, wärmeerzeugende
auf Ihrem Marktvertrauen und torpedieren den mögli- Kleinwindanlagen in das Erneuerbare-Energien-Wärme-
chen Wettbewerb im Energiesektor mit der Laufzeitver- gesetz mit aufzunehmen. Ursprünglich hatte die Bundes-
längerung für Atomkraftwerke und einem unsäglichen regierung vorgehabt, Kleinwindanlagen in das Gesetz
Lobbyistengehabe für die vier großen Energiekonzerne. mit aufzunehmen. Leider wurde dieser Passus wieder
gestrichen, weshalb die Windenergie im Wärmegesetz
Die Energiepolitik der Koalition und der schwarz-gel- für Erneuerbare Energien weiterhin diskriminiert wird.
ben Regierung wird nicht einmal die Minimalziele der Hier wiederholt die Bundesregierung die Fehler der gro-
Europäischen Vorgaben und der global notwendigen ßen Koalition.
Emissionseinsparziele umsetzen können, dafür schaffen
Sie hier im Land einfach nicht die Rahmenbedingungen. Unbefriedigend sind die Vorgaben für die elektrischen
Wärmepumpen für die öffentlichen Gebäude. So sind
Die Linke fordert die Rekommunalisierung der Arbeitszahlen nicht anspruchsvoll genug und sollten er-
Stromverteilnetze, die Besserstellung von Stadtwerken. höht werden. Zudem sollten die Anforderungen für Wär-
Und weil es sich bei der Versorgung mit Energie um ein mepumpen-Strom deutlich verschärft werden. Nur Wär-
Instrument der öffentlichen Daseinsvorsorge handelt, mepumpen, die mit Strom aus erneuerbaren Energien
muss dieser Sektor auch in öffentliche Hand überführt betrieben werden, können selbst als Erneuerbare-Ener-
werden. Erst wenn diese Rahmenbedingungen geschaf- gien-Anlagen bewertet werden. Ansonsten handelt es
fen sind, wird eine auf die Zukunft ausgerichtete Politik sich hier um Kohle- und Atomstromwäsche. Die Wär-
für Energieeffizienz, für Ressourcenschutz und auch für mepumpen sollten daher einen 100-prozentigen Strom-
die Sozialverträglichkeit der Energieversorgung Erfolg bezug aus erneuerbaren Energiequellen nachweisen.
haben können. Und das nicht nur in unserem Land.
Ein weiterer Punkt bei den öffentlichen Gebäuden ist
die Frage, ab wann die Nutzungspflicht erneuerbarer
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Energien ausgelöst wird. Der Moment der Nutzungs-
Das Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Ener- pflicht sollte umfassender formuliert werden, um zu ver-
gien ist in erster Linie ein Gesetz der verpassten Gele- hindern, dass Sanierungen aufgeschoben werden. Bei
(B) genheiten. Anstatt bei den erneuerbaren Energien Gas zu Gebäuden, die einen schlechten Dämmstandard haben, (D)
geben, wird weitgehend „business as usual“ betrieben. sollte die Nutzungspflicht bereits eintreten, wenn die
Tönte die Bundesregierung vor wenige Wochen noch Heizungsanlage saniert wird.
von einem revolutionären Energiekonzept und einem
Sofortplan, so hat sie jetzt ein Gesetz auf den Tisch ge- Zumindest fragwürdig sind die Anforderungen an die
legt, das sich in einer Vielzahl teils kleinster Kleinigkeit im Gesetzentwurf formulierten Normen für Nullenergie-
aufhält. häuser, welche eine Ausnahme von der Nutzungspflicht
erneuerbarer Energien begründen. Die hier formulierten
Aber ich will nicht nur allgemein die Mut- und Phan- Normen dürften deutlich unter den tatsächlichen Effi-
tasielosigkeit dieser Regierung kritisieren, sondern auch zienzanforderungen an Nullenergiehäuser liegen. Eine
auf einzelne Aspekte eingehen, die im Detail mitunter Ausnahme von der Nutzungspflicht unter diesen laschen
auch zu begrüßen sind. So ist die Ausweitung der Her- Vorgaben lädt damit nur zur Umgehung der Gesetzes-
kunftsnachweise von Strom aus Erneuerbare-Energien- zielsetzung ein. Ich bin gespannt, wie die Experten dies
Anlagen ebenso grundsätzlich zu begrüßen wie die Kon- in einer Anhörung einschätzen werden.
kretisierung von Nachhaltigkeitsvoraussetzungen bei Bio-
gasanlagen. Das Bundesumweltministerium sollte mög- Beim Netzanschluss von erneuerbaren Energien hat
lichst kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einen die Bundesregierung das Richtige im Sinn, wenn sie vor-
Verordnungsentwurf vorlegen. gibt, dass dieser unverzüglich hergestellt werden soll.
Nur was heißt im konkreten Fall „unverzüglich“? Dieser
Grundsätzlich zu begrüßen ist auch, dass beim Wär- Begriff ist uns rechtlich zu unbestimmt. Zudem können
megesetz endlich auch die öffentlichen Gebäude aufge- die Anlagenbetreiber die Einhaltung auch kaum verifi-
nommen werden. Dies hätte bereits die große Koalition zieren. Es wäre daher sinnvoll eine konkrete Frist vorzu-
tun können. Wir verstehen nicht, warum diese langjäh- geben. Zudem sind die Auskunftspflichten des Netzbe-
rige grüne Forderung zur Vorbildfunktion der öffentli- treibers gegenüber dem Anlagenbetreiber auszuweiten.
chen Hand erst jetzt umgesetzt wird. Leider traut sich die Spätestens nach zwei Monaten sollte dem Einspeisewil-
Bundesregierung nicht, die Nutzungspflicht erneuerba- ligen ein Zeitplan für die Erstellung des Netzanschlusses
rer Energien auf den gesamten Gebäudebestand auszu- zugestellt werden.
dehnen. Gestern hatte die Bundesregierung noch von
Revolution gesprochen, und heute kneift sie bereits. Wer darauf gehofft hat, dass die Bundesregierung vor
Hinzu kommt, dass nächstes Jahr voraussichtlich noch der Klimakonferenz in Cancun ein ambitioniertes Gesetz
weniger Mittel für das Marktanreizprogramm für erneu- auf den Tisch legen würde, muss enttäuscht sein. Aller
erbare Energien ausgegeben werden als dieses Jahr; da- Revolutionsrhetorik zum Trotz muss man sagen, dass in
7846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010

(A) der Bundesregierung weiterhin diejenigen das Sagen ha- gerung für Atomkraftwerke zeigte die schwarz-gelbe (C)
ben, die wenig von Klimaschutz halten und die vor der Koalition großes Engagement für die Atomkonzerne.
Erdölverknappung beide Augen zudrücken, obwohl die Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass Schwarz-
Bürger wissen, dass das Erdöl in den nächsten Jahren Gelb gar nicht daran denkt, sich in vergleichbarem Aus-
wesentlich teurer werden wird. Bei der Laufzeitverlän- maß für die erneuerbaren Energien einzusetzen.

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

Das könnte Ihnen auch gefallen