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Plenarprotokoll 17/58

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

58. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/


(Fortsetzung) DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6074 D
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Einzelplan 05
zes über die Feststellung des Bundes-
haushaltsplans für das Haushaltsjahr Auswärtiges Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6075 D
2011 (Haushaltsgesetz 2011) Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
(Drucksache 17/2500) . . . . . . . . . . . . . . . . 6031 A AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6075 D
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Finanzplan des Bundes 2010 bis 2014 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6078 A
(Drucksache 17/2501) . . . . . . . . . . . . . . . . 6031 B
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6080 B
Einzelplan 04 Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6082 B
Bundeskanzleramt . . . . . . . . . . . . . . . . . 6031 B Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6084 C
Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6031 B Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6085 D
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 6038 C
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6087 B
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6047 A
Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6088 D
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6052 C
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6090 C
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6055 A
Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6091 C
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6057 A Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6092 B
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6061 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6093 B
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6063 D
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . 6094 D
Christian Lindner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6065 D
Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . 6095 B
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . . . 6067 C
Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6096 C
Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6070 B
Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6098 A
Bernd Neumann, Staatsminister
BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6071 B Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6098 C
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 6073 B Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6099 A
Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6074 A Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6100 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6101 A Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6124 D


Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6126 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6102 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6128 A
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6102 C
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/
Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . 6102 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6128 C
Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6103 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6129 C
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
Einzelplan 14 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6131 A
Bundesministerium der Verteidigung . . . 6104 D Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) 6132 B
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . 6132 D
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 6104 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 6133 C
Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6107 B Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6135 C
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 6109 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6137 C
Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6111 A Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6138 D
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6112 A Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6139 A
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6114 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6139 B
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 6140 B
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6115 A
Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6140 D
Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6116 B
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6142 B
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 6117 A
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . 6144 A
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6118 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6144 A
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6119 B Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6144 B
Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 6120 C Dirk Niebel, Bundesminister
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6145 D
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 6122 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6146 C

Einzelplan 23
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6147 C
Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung . . . . 6123 B
Anlage
Dirk Niebel, Bundesminister
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6123 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6149 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6031

(A) (C)

Redetext

58. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]:
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Gu- Gerade recht für Sie!)
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Herr Kauder, Sie haben recht; Sie unterfordern uns.
Wir setzen, wie vereinbart, die Haushaltsberatungen
– Tagesordnungspunkt 1 – fort: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Für größere Heraus-
forderungen hätten wir andere gebraucht!)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Man braucht doch nur die Zeitungsüberschriften vorzu-
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das lesen; man braucht gar nicht als Sozialdemokrat etwas
Haushaltsjahr 2011 (Haushaltsgesetz 2011) zu sagen. „Etikettenschwindel“ titelt die Bild-Zeitung
über Ihren Haushalt. „Von Konzept keine Spur“, heißt es
– Drucksache 17/2500 – in der Financial Times Deutschland. Und weiter: „eine
Überweisungsvorschlag: Ansammlung von Luftbuchungen, falschen Signalen
(B) Haushaltsausschuss und beliebigen Einzelpunkten“. Die Karikatur eines zu- (D)
kunftsorientierten „Windbeutels“, das sagen nicht Oppo-
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
sitionspolitiker; das sagt die Süddeutsche Zeitung über
regierung
Ihren Bundeshaushalt.
Finanzplan des Bundes 2010 bis 2014
(Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP)
– Drucksache 17/2501 –
– Es wird noch besser. – Man braucht in Wahrheit noch
Überweisungsvorschlag: nicht einmal die Zeitungen zu zitieren; es reicht, wenn
Haushaltsausschuss
man Sie selber zitiert und Sie über Ihre eigene Arbeit ur-
Gestern haben wir für die heutige Aussprache eine teilen lässt.
Redezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlos-
sen. Sind dazu in der Zwischenzeit neue Wünsche oder (Ulrich Kelber [SPD]: Wohl wahr!)
Einsichten entstanden? – Das ist nicht der Fall. Dann Da sagt der FDP-Gesundheitsminister, eigentlich sei das
bleibt es bei dieser Vereinbarung. gar keine Koalition, Frau Bundeskanzlerin, sondern eine
Wir beginnen die heutigen Haushaltsberatungen mit schlagende Verbindung.
dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
Einzelplan 04; das ist auch nicht gänzlich überraschend. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert
Das Wort erhält zunächst der Kollege Sigmar Gabriel Barthle [CDU/CSU]: Kabarett! Sind wir hier
für die SPD-Fraktion. im Kabarett oder im Bundestag?)

(Beifall bei der SPD) Es ist schwierig, Sie zu toppen, wenn Sie erklären, Sie
seien „Wildsäue“ und eine „Gurkentruppe“.
Sigmar Gabriel (SPD): (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- CSU]: Sind wir im Kabarett oder im Bundes-
deskanzlerin, irgendwie ist es keine so richtig große in- tag? Wo sind wir eigentlich?)
tellektuelle Herausforderung, heute etwas zu Ihrem
Haushalt und zu Ihrer Regierungspolitik zu sagen. Was soll man als Oppositionspolitiker mit einer durch-
schnittlichen mitteleuropäischen Erziehung darüber hi-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ naus eigentlich noch sagen? Das ist schon bemerkens-
DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU wert, wie Sie sich gegenseitig beschreiben. Es fällt
6032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Sigmar Gabriel
(A) wirklich schwer, zu glauben, dass Sie noch gemeinsam Sie persönlich, Herr Kauder, und Ihre Partei ganz be- (C)
eine Regierung bilden wollen. sonders haben versprochen, mehr für Familien und
Alleinerziehende zu tun. Heute streichen Sie das Eltern-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es ist aber so!) geld für Hartz-IV-Empfänger und geben den Gutverdie-
Wie konnte es passieren, dass eine Regierung derart nern 1 800 Euro im Monat. Mehr als 100 000 Familien,
heruntergekommen ist wie die Ihre? Was ist da eigent- fast 50 000 Alleinerziehende, bekommen deshalb nächs-
lich passiert in den letzten Monaten? tes Jahr 3 600 Euro weniger. Das ist die Wahrheit über
Ihre Familienpolitik. Sie entspricht nicht dem schönen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bild, das Sie gerne öffentlich abgeben.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
um! Wir sind super drauf!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Grund für Ihre katastrophale Jahresbilanz ist ja Als es zur bislang größten Krise des Euro kam, haben
nicht nur, dass Sie handwerklich schlecht arbeiten. Der Sie, Frau Bundeskanzlerin, erst die eiserne Kanzlerin ge-
eigentliche Grund ist, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, spielt, um dann über Nacht die Steuerzahler für das
und Ihrem Wunschkoalitionspartner von Anfang an jede Zocken der Spekulanten in Haft zu nehmen. Bis heute
Vorstellung davon fehlte, was eigentlich Gemeinwohl in zahlen die Finanzmärkte keinen Cent zur Beseitigung
Deutschland ist. der Schulden aufgrund der Finanzkrise. Auch das ist Be-
standteil der Politik, die wir von Ihnen hier in Deutsch-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
land erleben.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Dieses Wort kommt deshalb in Ihrem Ehevertrag auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gar nicht vor. Warum auch? Wenn Sie regieren, bedienen Die einen leben in Saus und Braus und zocken am
Sie im Wesentlichen Klientelinteressen. Ende die ganze Welt in die Krise. Die anderen, die hart
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten arbeiten, bekommen immer weniger und sollen jetzt die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zeche zahlen. Wenn wir über Politikverdrossenheit in
Deutschland und Europa reden, müssen wir festhalten,
Am Anfang haben wir Sie ja dafür kritisiert, dass Sie dass Sie dazu wirklich einen überragenden Beitrag leis-
gar nicht regieren; denn alle schwierigen Entscheidun- ten. Die von Ihnen gestern vorgelegten Haushaltszahlen
gen haben Sie bis auf die Zeit nach der Wahl in Nord- sind nämlich die falschen für die Krise. Ausgerechnet in
(B) rhein-Westfalen vertagt. Als die Wahl in NRW vorbei einer Zeit, wo wir das Wachstum im Inland erhöhen (D)
war, wussten wir allerdings, es wird noch schlimmer, müssen, weil auf das Exportwachstum nicht dauerhaft
wenn Sie denn regieren. Was hatten Sie vorher nicht al- Verlass ist, legt diese Bundesregierung die Axt an die er-
les versprochen! Mehr Netto vom Brutto und eine Steu- folgreichsten Mittelstandsprogramme, die wir je hatten,
ersenkung mit einem Umfang von 24 Milliarden Euro. nämlich das Programm zur energetischen Gebäude-
Das Gegenteil kommt heute heraus: höhere Kassenbei- sanierung und die Städtebauförderung, ausgerechnet
träge, Zusatzbeiträge und höhere Gebühren, weil Sie die mitten in der Krise.
Kommunen ausbluten, und neue Steuern wie die Luft-
verkehrsabgabe. Diese kritisieren wir zwar nicht, aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie haben das Gegenteil im Wahlkampf versprochen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
im Koalitionsvertrag beschlossen.
Wie wenig muss man eigentlich, Frau Bundeskanzle-
(Beifall bei der SPD) rin, von Wirtschaft verstehen, wenn man das kürzt und
zusammenstreicht, was Tausende Jobs im Handwerk ge-
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Es gibt mehr schaffen hat, was durch geringeren Energieverbrauch
Netto vom Brutto als Dankeschön an Hoteliers, reiche Kosten senkt und wovon die Umwelt profitiert? Wie we-
Erben und große Konzerne. nig muss man eigentlich eine Vorstellung davon haben,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie Politikfelder verbunden sind? Es zahlen die Kinder-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gärten, die Schulen, die Volkshochschulen, die Vereine
Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist die Rede in den Städten und Gemeinden; denn Sie nehmen den
von vorgestern! Die Opposition schläft!) Kommunen 2,8 Milliarden Euro durch Ihr unsinniges
Hoteliergesetz weg. Diese zahlen die Zeche für die Steu-
– Warum rufen Sie eigentlich dazwischen? Dieses Hote- erpolitik, die Sie in Deutschland betreiben.
liergesetz ist doch Ihrem Koalitionspartner, wenn ich die
Aussagen von Herrn Lindner richtig verstanden habe, in- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zwischen sogar selber peinlich. Sie selbst wollen das DIE GRÜNEN)
doch wieder abschaffen, nachdem Sie die jetzige Situa-
tion erst herbeigeführt haben. Wissen Sie, wie viele Kindergartenplätze man für das
Geld schaffen könnte, das Sie da verschleudern? Man
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könnte 280 000 Kindergartenplätze oder 70 000 neue
DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Stellen für Lehrerinnen und Lehrer schaffen, statt den
Wollen Sie in Zelten übernachten?) falschen Leuten Steuergeschenke zu machen. Das ist der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6033
Sigmar Gabriel
(A) Kompass, den Sie eigentlich brauchten. Aber der fehlt sungsänderung rückgängig machen, die wir gemeinsam (C)
Ihnen offensichtlich in Ihrer Regierung. beschlossen haben und die jetzt verhindert, dass Bund
und Länder in der Bildungspolitik vernünftig zusam-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten menarbeiten können!
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie sind sich auch nicht zu schade, die Qualifizie- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
rungsmaßnahmen für Arbeitslose zusammenzustrei- LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
chen. Ich nehme an, es dauert nicht lange, bis Sie, Frau GRÜNEN]: Wir haben aber nicht zuge-
Merkel, wieder zu einem Gipfel einladen und den Fach- stimmt!)
kräftemangel beklagen. Wir müssen vermutlich nicht
lange darauf warten. Frau Kollegin Schavan, jetzt habe ich doch etwas ge-
sagt, was auch Ihre Meinung ist. Ich verstehe daher gar
Als wäre das nicht alles schon genug, Frau Bundes- nicht, warum Sie hier vorne so unruhig werden.
kanzlerin, wollen Sie gleichzeitig auch noch an den fal-
schen Stellen mehr Geld ausgeben. (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wir
dürfen nur nicht klatschen, Herr Gabriel! Das
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein ist alles!)
Quatsch!)
– Herr Westerwelle, Sie dürfen von mir aus sogar klat-
Wie man angesichts der offensichtlichen Sprachpro- schen. Sie müssen es nur beim Präsidenten beantragen.
bleme und der anderen Schwierigkeiten bei der Integra-
tion in Deutschland auf die Idee kommen kann, in Zu- (Heiterkeit bei der SPD)
kunft 150 Euro pro Monat dafür zu zahlen, dass ein Kind Was unsere Kinder, Jugendlichen und Eltern wirklich
nicht in den Kindergarten geht, bleibt wirklich Ihr Ge- brauchen, ist doch etwas ganz anderes: Wir brauchen in
heimnis. den sozialen Brennpunkten Kindertagesstätten, die Fa-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ milienbildungsstätten sind. Wir brauchen Ganztags-
DIE GRÜNEN) schulen mit Lehrern, Erziehern, Sozialpädagogen und
Psychologen. Das kostet natürlich Geld. Aber dieses
Das ZEW berechnet, dass Sie zwischen 1,4 und 1,9 Mil- Geld haben die Länder nicht. Wenn wir es nicht an ande-
liarden Euro dafür ausgeben wollen, dass Kinder in rer Stelle falsch ausgeben würden, könnten wir ihnen
Deutschland nicht gefördert werden. Wenn es ein Bei- dieses Geld geben.
spiel für den Wahnsinn Ihrer Regierungspolitik gibt,
Stattdessen tun Sie das Gegenteil. Sie rechtfertigen
dann ist es diese Herdprämie, die wir in Deutschland
die Einsparungen, die Sie vornehmen, mit Sprüchen, (D)
(B) kennengelernt haben.
dass „wir alle über unsere Verhältnisse gelebt“ hätten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich weiß nicht, Frau Dr. Merkel, in welchem Land Sie
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ unterwegs sind. Aber in Deutschland haben nur ganz
CSU]: Das ist eine Diffamierung!) wenige über ihre Verhältnisse gelebt, nämlich diejeni-
gen, die zu dem obersten 1 Prozent der Vermögenden ge-
70 000 Schülerinnen und Schüler machen keinen ver- hören
nünftigen Schulabschluss. 20 Prozent eines Jahrgangs
erreichen keine Berufsreife. Unter ausländischen Ju- (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/
gendlichen sind es sogar 40 Prozent. Ich finde, dass wir CSU]: Fällt Ihnen nichts Neues mehr ein?)
als Exportnation im Wettbewerb um Spitzenkräfte dabei und deren Vermögen in den letzten zehn Jahren trotz Fi-
sein müssen. Aber wie wäre es denn, wenn wir uns erst nanzkrise um 10 Prozent gewachsen sind. Auf der ande-
einmal um diejenigen kümmern, die schon hier sind? ren Seite arbeiten 1,3 Millionen Menschen jeden Tag
(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) hart und müssen trotzdem hinterher zum Sozialamt, weil
sie ihre Miete nicht bezahlen können. Nur jeder zweite
Wir geben wieder einmal viel Geld aus, um ganz oben in Jugendliche bekommt nach der Ausbildung einen an-
den Universitäten und in der Forschung mehr zu tun. ständigen Job. 70 Prozent der Gering- und Durch-
Warum ist es in Deutschland eigentlich so schwer, sich schnittsverdiener in Deutschland haben in den letzten
einmal auf Hilfe für die ganz unten zu einigen? zehn Jahren Reallohnverluste und Vermögensverluste
von 7 Prozent hinnehmen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Widerspruch bei der FDP)
Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie nicht begreifen, dass Das ist die Bilanz eines Landes, von dem Sie glauben,
man in der Breite etwas machen muss, damit am Ende dass es über seine Verhältnisse lebt.
bei der Spitze mehr ankommt, dann haben Sie weder
vom Sport noch von Bildung etwas verstanden. Ich sage Ihnen offen: Auch für mich und für meine
Partei ist es nicht besonders erfreulich, dass auch elf
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jahre mit uns nicht dazu beigetragen haben, die Schere
zwischen Arm und Reich zu schließen. Sie allerdings
Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie die Geldver- öffnen sie weiter, und das Gegenteil wäre richtig in
schwendung für Herdprämien und andere unsinnige Vor- Deutschland.
haben und führen Sie ausnahmsweise in die richtige
Richtung! Lassen Sie uns doch die unsinnige Verfas- (Beifall bei der SPD)
6034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Sigmar Gabriel
(A) Sie müssten einmal wieder dafür sorgen, dass Recht Die Integrationsprobleme sind dadurch jedoch nicht (C)
und Ordnung auch auf den Arbeits- und den Finanz- kleiner geworden. Es stimmt schon, was Johannes Rau
märkten einkehren. Natürlich muss der, der arbeiten in seiner Rede am 12. Mai 2000 dazu gesagt hat: Weder
geht, mehr verdienen als jemand, der nicht arbeitet, aber Fremdenfeindlichkeit noch Träumereien helfen uns.
doch nicht dadurch, dass man die Regelsätze für Aber ich sage Ihnen auch in großem Ernst: Das alles darf
Hartz IV kürzt, sondern indem man in Deutschland ei- nicht darin münden, dass wir beginnen, mit Ressenti-
nen Mindestlohn einführt. Das ist der richtige Weg, um ments Politik zu machen.
das zu erreichen.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Ja, es stimmt, jeder Bürger darf in Deutschland alles sa-
gen und denken, selbst wenn es sich um Vorurteile und
Ihr Außenminister hat das Gegenteil davon gefordert. Ressentiments handelt. Aber diejenigen, die sich zur
Dass er dabei nach Auffassung des Bundesverfassungs- politischen, wirtschaftlichen und medialen Führung die-
gerichts gegen die Verfassung verstößt, interessiert ihn ses Landes zählen, meine Damen und Herren, dürfen das
vermutlich nicht besonders. Herr Westerwelle, was sa- eben nicht.
gen Sie eigentlich dazu, wenn Frau von der Leyen jetzt
die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze vorschlägt, und (Beifall bei der SPD)
zwar nicht nur für Kinder? Ich nehme an, Sie warten ein Harter politischer Streit und Zuspitzung sind nötig. Sie
paar Monate ab, um irgendwann nach dem Motto „Das sind aber etwas anderes, als Vorurteile und Ressenti-
wird man doch noch sagen dürfen“ wieder zu fordern, ments zu schüren. Die Meinungsfreiheit in Deutschland
die Regelsätze zu kürzen. ist kein Deckmäntelchen für verantwortungsloses Ge-
Weil wir gerade in mancherlei Hinsicht erleben, dass rede von Spitzenpolitikern, egal ob sie im Bundestag
unter der Überschrift „Das wird man ja wohl noch sagen oder in der Bundesbank sitzen, meine Damen und Her-
dürfen“ – er war ja der Erste, der das gemacht hat – das ren.
Nutzen von Ressentiments wieder in Mode kommt, nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
so viel zu einer Debatte, die mir jedenfalls in der politi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
schen Kultur in Deutschland ziemlich Sorgen macht:
Das gilt für soziale Ressentiments ebenso wie für ethni-
(Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von sche und kulturelle. Es gilt übrigens auch für historische
der CDU/CSU: Weil Ihre Leute dazu beitra- Ressentiments gegen unsere Nachbarn, die – wie die
gen!) Polen – unsagbares Leid durch den Angriffskrieg Hitler-
(B) – Es ist interessant, dass Sie da nervös werden. Deutschlands erlitten haben. (D)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Überhaupt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
nicht!) GRÜNEN und der LINKEN)
Ja, es gibt eine wachsende Kluft zwischen Bevölke- Wer aus dem Führungspersonal der Republik Ressen-
rung und Politik. Ja, das hat auch viel mit Fehlern und timents und Vorurteile in der politischen Auseinander-
Versagen der Politik und der Parteien selbst zu tun. Viele setzung von Demokraten salonfähig macht, der muss
Menschen haben den Eindruck, dass wir nichts mehr sich nicht wundern, wenn sich die Falschen ermuntert
über ihren Alltag wissen und uns auch nicht dafür inte- fühlen. Wir wissen doch genau, meine Damen und Her-
ressieren. Es gibt ein wachsendes Ohnmachtsgefühl: die ren, dass es in jeder Gesellschaft solche Ressentiments
da oben, wir hier unten. Wahlenttäuschung, aber auch gibt, natürlich auch bei uns hier im Saal und bei den
Radikalisierung sind Folgen davon. meisten von uns persönlich.
In der Integrationsdebatte, meine Damen und Her- Umso wichtiger ist es doch, dass wir nicht dann aus
ren, hat ein Teil von uns zu lange die Augen davor ver- diesem schier unerschöpflichen Reservoir schöpfen,
schlossen, dass wir längst ein Einwanderungsland sind. wenn wir uns einmal unter Druck fühlen oder es oppor-
Die Wahlparolen gegen das Zuwanderungsgesetz, gegen tun gegenüber der scheinbar kochenden Volkseele er-
die doppelte Staatsbürgerschaft und gegen das kommu- scheint. Der Boulevard hat kein Gedächtnis. Er muss im
nale Ausländerwahlrecht sind uns noch gut in Erinne- Zweifel nach der Auflage schreiben; wir dürfen das im
rung. Zweifel nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da hat jeder sein Päckchen zu tragen, Sie, wir und an-
Ein anderer Teil hat mit zu viel Naivität von der Multi- dere auch. Das ist so.
kultigesellschaft geträumt. Diese Naivität hatten aller- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
dings offenbar nicht nur Sozialdemokraten und Grüne. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie per-
Ich erinnere mich noch gut daran, dass auf einmal die sönlich auch!)
deutsche Fußballnationalmannschaft als Beispiel für die
bunte Republik Deutschland gepriesen wurde, auch vom – Ich finde das, ehrlich gesagt, nicht lustig.
neu gewählten Bundespräsidenten.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
(Zuruf von der CDU/CSU: War das falsch?) CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6035
Sigmar Gabriel
(A) Sie müssen überlegen, ob Sie bereit und in der Lage Ende sollen Sparkassen und Volksbanken für die Kosten (C)
sind, über so etwas ernsthaft zu reden, oder ob es Sie nur der Krise zahlen.
davon ablenkt, wie Sie mit Ihrer Politik dazu beitragen,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja
dass die Menschen den Eindruck haben, wir geben uns
Quatsch! Sie reden ja Unsinn!)
nicht genug Mühe. Denn eines muss ich schon sagen:
Den Eindruck, dass Sie sich darum kümmern, dass das Sie müssen sich einmal entscheiden, was Sie eigentlich
Volk wieder zusammengehalten wird, kann man beim wollen: wirtschaftspolitisch mehr Kredite für den Mittel-
Lesen Ihres Haushalt wirklich nicht gewinnen. stand und höhere Eigenkapitalquoten oder eine Abgabe,
die genau das schwieriger macht. Sie, Herr Kauder, wol-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
len das besteuern, was wir uns alle wünschen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch für
Eigentlich müsste es jetzt in Deutschland um einen die Zukunft, Menschenskinder!)
Aufschwung für alle gehen. Es gibt einen Aufschwung;
wir freuen uns darüber. Aber Sie werden sicher verste- – Die Bilanzsumme ist die Grundlage dessen, was Sie
hen, Frau Bundeskanzlerin, wenn wir es als Satire emp- vorschlagen. Das sind Mittelstandskredite, Wohnungs-
finden, dass sich ausgerechnet Ihr Bundeswirtschafts- baukredite, Investitionskredite. Darauf wollen Sie eine
minister damit brüstet, dazu einen Beitrag geleistet zu Abgabe erheben. Das ist doch das Gegenteil von ver-
haben. nünftiger Wirtschaftspolitik. Ich weiß gar nicht, wie Sie
auf die Idee kommen, so etwas vorzuschlagen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Nur um die Erinnerung ein bisschen aufzufrischen: Sie,
Herr Brüderle, haben doch am 4. Dezember 2008 gegen Was wir wirklich brauchen, ist eine Steuer für die Zo-
das Konjunkturpaket und am 28. Mai 2009 gegen die cker an den europäischen Finanzmärkten und keine Ab-
Verlängerung der Abwrackprämie gestimmt. Sie und gabe für Volksbanken und Sparkassen auf Mittelstands-
Ihre FDP haben alles getan, um das zu verhindern, was kredite. Das sollten Sie sich als Auftrag in die Bücher
uns am Ende durch die Krise gebracht hat. Das ist, was schreiben, nicht den Unsinn, den Sie hier in den Haus-
Sie eigentlich gemacht haben. halt hineinschreiben.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
CSU]: Sie bekämpfen da einen Popanz, den es
Herr Westerwelle hat es „Schrott“ und „Flickschuste- gar nicht gibt!)
rei“ genannt. Herr Brüderle hat das Konjunkturpaket als
(B) „harte Droge“ abgelehnt. – Wenn es das alles nicht gibt, dann würde ich vorschla- (D)
gen: Erklären Sie das einmal dem Sparkassen- und Giro-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) verband und den Volksbanken!
Herr Brüderle, wissen Sie, wer Sie eigentlich sind? Sie (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, das machen
sind der größte Abstauber, den wir in der Politik seit lan- wir gerne! Da brauchen wir Sie nicht!)
gem erlebt haben. Mehr sind Sie wirklich nicht.
Die kritisieren das nämlich an Ihrem Gesetzentwurf. Es
(Beifall bei der SPD) ist nicht so, dass nur ich das sage.
Wir wollen einen Aufschwung für alle mit sicheren Am 7. Mai 2010 hat hier übrigens Herr Westerwelle
Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen; denn die Arbeit- in einer großen Rede gesagt:
nehmer haben doch verzichtet, um die Unternehmen
durch die Krise zu bekommen. Es ist doch fair, ihnen Es weiß jeder, dass wir diesen Spekulationen Ein-
jetzt davon etwas zurückzugeben. halt gebieten müssen. … Wir müssen erkennen,
dass wir – auch für unser Land – eine Aufgabe zu
Natürlich gehört zum Aufschwung für alle, die erfüllen haben.
nächste Krise zu verhindern; denn noch einmal werden
wir nicht Hunderte von Milliarden Euro zusammenbe- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
kommen. Die jetzt verabschiedeten Eigenkapitalvor- Wohl wahr, Herr Westerwelle. Aber warum hören wir ei-
schläge im Basel-III-Abkommen sind doch kein Ersatz gentlich nichts von Initiativen von Ihnen, um das voran-
dafür, dass der Verbraucher die Finanzkrise endlich nicht zubringen? Was haben Sie nun eigentlich nach fast
nur selbst bezahlen soll, sondern diejenigen, die die Ver- einem Jahr in Ihrem Amt als Außenminister vorzuwei-
ursacher dieser Finanzkrise sind. Die müssen Sie endlich sen? Ihr Kabinettskollege Norbert Röttgen hat im Stern
mit zur Kasse bitten. über Sie gesagt, Sie seien „irreparabel beschädigt“. Das
war sicher nicht nett von Herrn Röttgen; aber es ist na-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
türlich wahr.
Zu Hause große Reden halten über die Regulierung
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
der Finanzmärkte, aber wenn es ans Eingemachte geht,
dann führen Ihnen die Großbanken die Feder. Diesen Seit Sie Ihre Partei schneidig an die Wand gefahren ha-
Eindruck haben nicht nur wir, sondern auch die Sparkas- ben, ist von Ihnen im Lande nichts mehr zu hören. Sie
sen und Volksbanken. Anders kann man sich Ihre Ban- haben als Außenminister, Herr Westerwelle, im ersten
kenabgabe in Deutschland übrigens nicht erklären. Am Amtsjahr keinen einzigen wahrnehmbaren Impuls ge-
6036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Sigmar Gabriel
(A) setzt. Deutschland hat sich unter Ihrer Führung als Ak- Oligopole. Größeren Schaden für den Wettbewerb auf (C)
teur von der internationalen Bühne abgemeldet, und so- dem Energiemarkt in Deutschland konnten Sie gar nicht
gar die Beamten im Auswärtigen Amt sind inzwischen anrichten als mit diesem 100-Milliarden-Euro-Konzept.
verzweifelt über das, was Sie angerichtet haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
DIE GRÜNEN) LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das
ist Demagogie in reiner Form!)
Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht, wir verlieren
Gewicht in der Welt, und wir verspielen unser Ansehen, Ich will mit Ihnen nicht über Sinn oder Unsinn der
jeden Tag. Sie, Herr Westerwelle, haben viel dazu beige- Atomenergie streiten und auch nicht über die wirklich
tragen, dass Deutschland weiter unter Wert und weit un- widersinnige Politik gegen einen der wichtigsten Leit-
ter seiner internationalen Bedeutung regiert wird. märkte, die Deutschland aufzuweisen hat, nämlich den
Frau Bundeskanzlerin, ob es um die Finanzmarkt- der erneuerbaren Energien. Wir könnten in den nächsten
regulierung geht, die Bildung oder den Bundeshaushalt: Jahren die derzeit vorhandenen 300 000 Arbeitsplätze
Die Financial Times Deutschland hat schon recht, wenn verdoppeln. Das haben Sie eben richtig ausgebremst.
sie Ihnen am 2. September attestiert: Wenn Sie wirklich glauben, den vier Konzernen die För-
derung der erneuerbaren Energien anzuvertrauen, also
Schwarz-Gelb probiert mal dies, mal jenes – und je der mittelständischen Wirtschaft,
nachdem, wie stark die Gegenströmung ist, wech-
selt die Koalition die Richtung. (Birgit Homburger [FDP]: Das ist doch
Schwachsinn!)
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
dann glauben Sie bestimmt auch, Sie könnten Gänse
Den Beweis dafür haben Sie nirgends so drastisch er- vom Sinn von Weihnachten überzeugen.
bracht wie in der Energiepolitik. Nun könnte man sich
darüber lustig machen, meine Damen und Herren, wie (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
das von Ihnen selbst so hochgepriesene Energiekonzept BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gerade von Ihren eigenen Ministern in der Regierung
auseinandergenommen wird. Der Umweltminister hält Hier hat sich nur ein Interesse durchgesetzt: mit alten,
es für verfassungswidrig. Herr Schäuble hat gestern ge- abgeschriebenen Atomkraftwerken pro Tag 1 Million
sagt: Wir schaffen Anreize für mehr Energieeffizienz Euro zu verdienen. Sie haben wieder einmal einer Wirt-
und Energieeinsparung. Ich frage Sie, Herr Schäuble: schaftslobby nachgegeben, mehr haben Sie nicht hinbe-
kommen.
(B) Reden Sie eigentlich gelegentlich mit Ihrem Kabinetts- (D)
kollegen Ramsauer? Der hat sich gerade in Bausch und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bogen gegen alle Effizienzmaßnahmen ausgesprochen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die in Ihrem angeblichen Konzept enthalten sind.
Frau Bundeskanzlerin, als wäre das, was Sie tun,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hat er das?) nicht schon schlimm genug, toppen Sie alles andere
Ich weiß aus meiner Zeit als Umweltminister, Herr noch dadurch, wie Sie es machen. Jedem anderen hätte
Ramsauer ist wahrlich ein Filigrantechniker der Effi- das übrigens die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Da
zienz bei der Energiepolitik. wird monatelang über eine Steuer nicht in der Regierung
und nicht im Parlament verhandelt, sondern hinter ver-
(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne- schlossenen Türen mit der Atomlobby. Und nächtens
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wird bei den Energieversorgern noch einmal nachge-
Ehrlich gesagt: Angesichts meiner Erinnerung daran, fragt, ob es denn auch genehm ist, was die Regierung da
wie Sie ihn dabei unterstützt haben, finde ich es einen beschlossen hat. Als reichte das nicht schon aus, um
gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich, dass Sie sich jetzt klarzumachen, was Sie unter „Durchregieren“ verstehen,
mit ihm herumschlagen müssen. Das finde ich ange- treffen Sie auch noch in Geheimverträgen Nebenab-
nehm. sprachen, die nur deshalb öffentlich werden, weil sich ei-
ner der Manager verplappert hat.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei
Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Was für ein Quatsch!)

Wissen Sie, was ich richtig gut an Herrn Ramsauer Frau Kanzlerin, ist es das, was Sie auf Ihrer Energiereise
finde? Er ist auch noch stolz darauf. Das finde ich wirk- im Sommer gelernt haben? Wenn ja, dann habe ich eine
lich bemerkenswert. Bitte: Bleiben Sie im nächsten Sommer zu Hause.
(Heiterkeit bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kommen wir einmal zum Eingemachten. In der Ener-
giepolitik schustern Sie vier Konzernen 100 Milliarden Frau Dr. Merkel, in allem Ernst: Tun Sie mir und uns al-
Euro zu. Herr Brüderle, Sie gerieren sich doch so gerne len und Deutschland einen Gefallen: Benehmen Sie sich
als Freund des Wettbewerbs und als Mittelständler. Sie in der Politik wie eine Kanzlerin und nicht wie eine Ge-
predigen Wettbewerb, und in Wahrheit bedienen Sie die heimrätin!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6037
Sigmar Gabriel
(A) (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der Alles, was bei Fragen der Sicherheit zu regeln war, steht (C)
CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der im Gesetz und nicht in Verträgen. Dieser unterschiedli-
war aber flach wie eine Pfütze!) che Umgang mit dem Parlament unterscheidet uns von
dem, was Sie hier gerade vorführen.
Sie reden ja immer von der Sicherheit der Menschen
in Deutschland, wenn Sie Verträge mit Atombetreibern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
aushandeln. Wissen Sie, alles, was Sie über Sicherheits- DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:
fragen wissen müssen, steht im Atomgesetz. Darin steht Oje!)
auch, wer die Sicherheitsstandards zu setzen hat, wer
Sie merken überhaupt nicht, was Sie in Deutschland
ihre Einhaltung kontrolliert und wer die Kosten zu tra-
anrichten. Noch nie hat sich eine Regierung so sehr zum
gen hat. Deshalb hat man es als Umweltminister übri-
Handlanger von Großkonzernen degradiert. Dem
gens leicht, sich gegen die Unziemlichkeiten von Bundes-
Finanzminister machten Hoteliers und Großbanken
wirtschaftsministerium und Kanzleramt durchzusetzen,
Steuervorschläge. Ihrem Gesundheitsminister führt die
wenn man das wirklich will. Glauben Sie mir, ich weiß,
Pharmaindustrie die Hand, wenn er Gesetzentwürfe
wovon ich rede.
schreibt, und Sie machen im Bereich der Energiewirt-
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und schaft mit vier großen Konzernen Verträge gegen den
der FDP) Rest der Republik. Ich sage Ihnen: Sie machen sich sel-
ber zur Kanzlerin der Konzerne. Das muss man Ihnen
– Das ist ganz einfach: Wenn Sie nicht wollen, dass ein gar nicht vorwerfen. Darauf scheinen Sie auch noch
altes Atomkraftwerk länger läuft, dann weisen Sie als stolz zu sein.
Umweltminister auf die Sicherheitstechnik hin. Wenn
Ihnen das Kanzleramt, die Frau Merkel, einen Brief (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schreibt und Sie auffordert, das Atomkraftwerk trotzdem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
länger laufen zu lassen, dann sagen Sie einfach Nein. Sie eröffnen erneut einen gesellschaftlichen Großkon-
Schon haben Sie die Verfassung auf Ihrer Seite. So müs- flikt, den SPD und Grüne endlich befriedet hatten. Des-
sen Sie das machen, wenn Sie das nicht wollen. wegen verspreche ich Ihnen: Das hat keine lange Lauf-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zeit. Wir werden dagegen demonstrieren. Wir werden
DIE GRÜNEN) damit vor das Verfassungsgericht ziehen. Ich sage Ihnen:
Bei der nächsten Bundestagswahl endet die Laufzeit die-
Ich kann Ihnen ja einmal vorlesen, was Ihre Kanzlerin ses Gesetzes ganz sicher.
und Ihre Wirtschaftsminister gefordert haben. Biblis A
steht seit Jahren still, nicht weil wir es stilllegen wollten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) sondern weil die Sicherheitstechnik nicht ausreicht. Sie DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (D)
wollen die Laufzeit dieses Dings um acht Jahre verlän- Na, das wollen wir mal sehen! – Norbert
gern. Das haben wir Ihnen verweigert, solange wir die Barthle [CDU/CSU]: Das ist eine Hetzrede!)
Möglichkeit dazu hatten. Das könnte Herr Röttgen heute – Nein, das ist keine „Hetzrede“.
auch noch, aber er traut sich das nicht, weil ihm sein
Wahlkampf in NRW mehr wert ist als der Widerstand (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Doch!)
gegen den Unsinn, den Sie da produzieren. Wenn Sie meinen, dass das so eine ist, dann fragen Sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich, ob es Hetzerei ist, wenn man Sie darum bittet, Ge-
DIE GRÜNEN) setze im Bundestag und nicht außerhalb zu verhandeln.

Dass Sie am Umweltminister vorbei über die Reak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
torsicherheit verhandeln, ist schon schlimm genug. Dass DIE GRÜNEN)
Sie gegen die Verfassung verstoßen wollen, weil Sie den Ihre Regierung, Frau Bundeskanzlerin, ist verant-
Bundesrat aushebeln, das mag bei Ihren Kollegen ja wortlich für zwölf Monate politische Lähmung. Seit ei-
noch Beifall finden; ich habe aber gehört: Der Bundes- nem Jahr sind Sie gemeinsam mit Ihren Kabinettskolle-
tagspräsident hat eine ganz andere Einschätzung dazu. gen auf einem Selbstfindungstrip. Gegen Ihre Regierung
Aber, meine Damen und Herren von CDU/CSU und und das, was Sie so über sich sagen, ist der Kinderladen
FDP, was finden Sie eigentlich gut daran, dass Frau der 68er so diszipliniert wie eine preußische Kadettenan-
Merkel die Regeln, die Sie im Parlament gesetzlich stalt.
schaffen müssten, jetzt außerhalb des Bundestages in ei-
nem Vertrag macht? Sie schaffen sich gerade selber ab. (Heiterkeit bei der SPD)
Sie klatschen auch noch Beifall für diese Politik. Wie viele Neuanfänge möchten Sie der Republik ei-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gentlich noch zumuten? In Wirklichkeit fangen Sie
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nichts neu an, sondern verletzen fortwährend das Gefühl
LINKEN) für Fairness und Balance in unserem Land. Ihr Haushalt
trägt die Handschrift der Lobbyisten. Er zeigt, dass Sie
Das ist doch der Unterschied zum rot-grünen Aus- nicht bereit sind, alle in die Pflicht zu nehmen. Sogar der
stiegsvertrag mit der Atomindustrie. Chef des CDU-Wirtschaftsrates, Herr Lauk, kritisiert
Sie.
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Hört! Hört! Sie hatten einen Vertrag?) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Richtig!)
6038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Sigmar Gabriel
(A) Er sagt: Das Sparpaket hat eine soziale Schieflage. Und Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
wo er recht hat, hat er recht. Sie, Frau Bundeskanzlerin, Das Wort hat die Frau Bundeskanzlerin, Frau
und Herr Westerwelle sind mit markigen Worten ange- Dr. Angela Merkel.
treten. Den Zusammenhalt, Frau Dr. Merkel, wollten Sie
stärken. Ihre angeblich bürgerliche Koalition wollte bür- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gerliche Werte stärken. Seit fast zwölf Monaten machen
Sie das genaue Gegenteil. Sie verstoßen gegen elemen- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
tare Wertvorstellungen in unserem Land, auch gegen die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
von liberalen und konservativen Wählern. Fairness, Sie mir, dass ich zuerst jenseits der politischen Aus-
Glaubwürdigkeit und Verantwortungsbewusstsein findet einandersetzung meine ganz herzlichen Genesungswün-
man in Ihren zwölf Monaten Regierungsarbeit nicht. sche für unseren Kollegen Frank-Walter Steinmeier und
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und seine Frau überbringe und ihm alles, alles Gute wünsche
der FDP) bei seiner Erholung.
Deshalb sind die bürgerlichen und liberalen Wähler fas- (Beifall)
sungslos und wenden sich enttäuscht ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag
Tun Sie bitte nicht so, als sei Ihr Kurs alternativlos. Es genau vor zwei Jahren war der Zusammenbruch des
gibt durchaus Wege, die Schulden abzubauen und trotz- Bankhauses Lehman Brothers, uns allen in Erinnerung
dem Impulse für Bildung und Investitionen zu geben. als Kulminationspunkt einer weltweiten tiefgreifenden
Wirtschafts- und Finanzkrise. Ich habe hier im Zeichen
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: dieser Krise im November 2008 gesagt: Wir, die Deut-
Wie Sie in Nordrhein-Westfalen beweisen, Sie schen, wollen stärker aus der Krise herauskommen, als
Scherzkeks!) wir hineingegangen sind. – Ich glaube, ich darf für uns
Nehmen Sie die Besserverdienenden im Land in ihre alle sagen: Diese weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise
patriotische Pflicht, wie Herr Lauk das gefordert hat. hat unsere politische Arbeit in den letzten zwei Jahren
tief geprägt. Heute, zwei Jahre später, können wir fest-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten halten: Wir haben ein großes Stück des Weges geschafft.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben Grund für Zuversicht. Die Wahrheit ist: Viele
haben uns das nicht zugetraut, aber wir haben gezeigt,
Erinnern Sie mutig daran, dass im Grundgesetz steht:
was in uns steckt.
„Eigentum verpflichtet.“ Nehmen Sie die unsinnigen
(B) Steuergeschenke an Hoteliers zurück, und führen Sie die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- (D)
Brennelementesteuer nicht als Ablasshandel für lange chen bei der SPD – Alexander Bonde [BÜND-
Laufzeiten alter Atommeiler ein, sondern dafür, dass NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Und es
nicht die Steuerzahler 10 Milliarden Euro aufbringen war nicht viel!)
müssen, um marode Atommüllendlager zu sanieren, die
die Atomwirtschaft hinterlassen hat. Dafür ist die Brenn- – Sie können partiell mitklatschen; Sie sind nicht daran
elementesteuer gut. gehindert. Damals waren Sie ja noch vernünftig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
DIE GRÜNEN) der FDP)
Stoppen Sie die absurden Ausgabenwünsche für Meine Damen und Herren, die Prognosen waren düs-
Herdprämien und andere Spielarten einer verfehlten Bil- ter. Umso mehr freuen wir uns heute, glaube ich, alle
dungspolitik. Kürzen Sie stattdessen die wirklich unsin- über den breiten Aufschwung. Nach der mit Abstand
nigen Subventionen im Umweltbereich, statt mit dem schwersten Rezession der Nachkriegszeit ist Deutsch-
Rasenmäher die Energiesteuern zu erhöhen und damit land wieder auf Wachstumskurs. Die europäische
wichtigen Exportindustrien das Leben schwer zu ma- Prognose sagt uns für dieses Jahr sogar ein Wachstum
chen. Auf diesem Weg können wir die Schulden abbauen von über 3 Prozent voraus.
und Fairness ins Land zurückkehren lassen. In Wahrheit
hat nämlich eine freiheitliche Wirtschaftsordnung keinen Das Allerwichtigste für uns und für mich ist aber,
dauerhaften Erfolg, wenn sie nicht auch mit sozialem dass sich der Arbeitsmarkt in der schwersten Krise der
Ausgleich und sozialer Sicherheit verbunden wird. Nachkriegszeit robust gezeigt hat und dass die Arbeitslo-
sigkeit wieder auf ein Niveau vor der Krise gesunken ist.
CDU/CSU und FDP scheinen das auch nach der Das bedeutet etwas für Millionen von Menschen. Wir
Finanzkrise nicht verstanden zu haben. Sie machen das haben in den neuen Bundesländern seit 1991 zum ersten
Gegenteil: Wer sie unter Druck setzt, bekommt, was er Mal eine Arbeitslosigkeit unter 1 Million.
will, und wer keine Lobby hat, bleibt auf der Strecke.
Das ist das Markenzeichen Ihrer Regierung. Dieses Meine Damen und Herren, da lohnt schon einmal ein
Stigma, Frau Bundeskanzlerin, werden Sie auch mit die- Blick zurück. Als ich vor knapp fünf Jahren Bundes-
sem Haushalt nicht los. kanzlerin wurde – nach sieben Jahren Rot-Grün –, lag
die Arbeitslosigkeit bei fast 5 Millionen. Heute sind es
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall knapp über 3 Millionen. Vielleicht unterschreiten wir
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese 3 Millionen noch. Das ist der Erfolg der Arbeit und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6039
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) auch der Erfolg der Arbeit der christlich-liberalen Koali- räume für die kommenden Generationen schaffen. Wir (C)
tion. wollen und werden eine Stabilitätskultur in Deutschland
verankern, die im Übrigen auch beispielhaft für Europa
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Son-
sein wird. Das drückt unser Haushalt aus.
nenstrahlen fallen in den Plenarsaal – Jürgen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Meine Damen und Herren, wir haben einen Haushalt,
geht sogar die Sonne auf! – Lachen beim bei dem immer noch jeder fünfte Euro durch Schulden
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der finanziert wird. Wir haben aber einen Weg eingeschla-
SPD) gen auf der Grundlage der Schuldenbremse, die genau
– Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was es da zu lachen damit Schluss macht. Das ist damit gemeint, wenn es
gibt. Ob 2 Millionen Menschen weniger arbeitslos sind heißt: Deutschland lebt über seine Verhältnisse. Nicht
oder nicht, das ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit der Einzelne lebt über seine Verhältnisse, sondern die
in unserem Land. Wenn Sie über Gerechtigkeit und Soli- Politik hat in der Vergangenheit nicht die Kraft aufge-
darität sprechen, dann ist Arbeit einer der entscheiden- bracht, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Genau das
den Punkte, um die es geht. ändern wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Und wer hat da-
Wir haben natürlich in den letzten zehn Monaten von profitiert?)
wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wir haben
eine Kreditklemme verhindert. Wir haben Familien mehr – Hören Sie doch einmal zu. Wenn 2 Millionen Men-
Kindergeld gegeben. schen weniger arbeitslos sind, dann haben davon zu-
nächst einmal Millionen von Familien profitiert. Viel-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Den oben viel und den leicht könnten Sie das einmal zur Kenntnis nehmen.
unten wenig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielleicht erinnern Sie sich auch einmal daran. Wir ha-
ben eine Rekordsumme von 12 Milliarden Euro in die Eines ist doch klar: Wir brauchen Spielräume für Zu-
Verkehrsinfrastruktur gesteckt. Wir haben die Konjunk- kunftsinvestitionen. In dem Haushalt des Jahres 2010
turprogramme vorangebracht. Wir haben die Lohnzu- sind ungefähr 72 Prozent fixe Ausgaben: für Soziales,
satzkosten stabilisiert, um Arbeit zu erhalten. Das alles für Personal und für Zinsen. Nur 28 Prozent bleiben für
hat dazu geführt, dass wir heute die Wachstumslokomo- Investitionen und politische Zukunftsgestaltung übrig.
tive in Europa sind, meine Damen und Herren. Damit 1991 waren das noch über 43 Prozent. Meine Damen
wird Deutschland seiner Verantwortung gerecht. und Herren, da müssen wir wieder hin. Es ist nicht in
(B) Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen höher sind als (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Ausgaben für Investitionen.
Richtig ist aber auch, dass noch ein großes Stück Weg (Sigmar Gabriel [SPD]: Warum haben Sie
vor uns liegt, bis wir wieder einen nachhaltigen weltwei- denn dann monatelang Steuersenkungen ver-
ten Aufschwung gesichert haben. Wir als christlich-libe- sprochen?)
rale Koalition wissen, vor welchen Aufgaben wir in den
nächsten Jahren stehen: der veränderte Altersaufbau un- Es ist nicht in Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen
serer Gesellschaft, der globale Wettbewerb, der zunimmt doppelt so hoch sind wie die Ausgaben für Bildung und
– ich nenne China und Indien als Stichworte –, sowie die Forschung.
Aufgaben, die sich aus den begrenzten Ressourcen und
(Joachim Poß [SPD]: Sie schweigen zu den
den Aufgaben des Klimaschutzes ergeben.
Steuergeldern!)
Auf keine dieser Herausforderungen Sie sind einge-
gangen, Herr Gabriel, geschweige denn, dass Sie ir- Das werden wir ändern, weil wir an die Zukunft denken
gendeinen Lösungsvorschlag gemacht haben. und uns nicht in der Gegenwart aufhalten, meine Damen
und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb beobachten wir mit Interesse, wie Sie Schritt für
Schritt eine Rolle rückwärts machen, statt in die Zukunft Darauf habe ich gestern und heute keine einzige Antwort
zu blicken. Wir sagen: Dies ist der Herbst der Entschei- von Ihnen gehört.
dungen für wichtige Weichenstellungen in Deutschland (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
für das neue Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020. Das ist NEN]: Was?)
unser Anspruch, und dem werden wir gerecht.
Wenn man sich manche Landeshaushalte ansieht, zum
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beispiel den von Nordrhein-Westfalen,
Widerspruch bei der SPD)
(Jörg van Essen [FDP]: Oh ja! Sehr richtig!)
Meine Damen und Herren, dabei sind solide Finan-
zen einer der Kernbausteine. Warum? Weil das für die dann hat man den Eindruck: Das findet alles im luftlee-
Menschen bedeutet, dass sie keine Inflationsängste ha- ren Raum statt und hat mit der realen Welt überhaupt
ben müssen, dass die, die wenig haben, nicht auch noch nichts mehr zu tun. Genau das werden wir Ihnen nicht
durch die Inflation enteignet werden, und dass wir Spiel- durchgehen lassen, Herr Gabriel.
6040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das zweite Mal: Als infolgedessen der Euro in (C)
Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Sie müssen aber Schwierigkeiten kam, haben Sie sich der Stimme enthal-
auch mal selbst etwas tun!) ten, weil Sie nicht zu Ihrer Verantwortung stehen woll-
ten. Das ist das, was übrig bleibt.
Wir nehmen einige Bereiche ganz bewusst aus. Wir
sparen nicht bei Bildung und Forschung, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sigmar Gabriel [SPD]: Ach was! Sie wollten
(Zuruf von der SPD: Was? Doch!)
die Spekulanten nicht zur Verantwortung zie-
weil wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt. hen!)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Aber Sie nehmen den Wenn wir uns schon richtigerweise innenpolitisch
Ländern das Geld weg!) streiten – das gehört zwischen Opposition und Regierung
dazu –, dann hätte man wenigstens erwarten können, dass
Wir sparen nicht bei der Kinderbetreuung, sondern set-
Sie bei den Verhandlungen mit Griechenland und über
zen den Ausbau weiter fort, so wie wir begonnen haben.
den Euro-Schutzschirm deutsche Interessen vertreten,
Wir sparen nicht bei den Investitionen.
(Widerspruch bei der SPD)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das stimmt doch alles
nicht!) dass Sie sich dafür einsetzen, dass der IWF einbezogen
wird,
Was noch ganz wichtig ist: Wir setzen durch das, was
wir tun, neue Anreize, Arbeit aufzunehmen, weil Arbeit (Joachim Poß [SPD]: Das haben wir doch
Wohlstand für die Menschen bedeutet. Das ist unser gemacht!)
Ziel, meine Damen und Herren.
dass in Griechenland eine Haushaltskonsolidierung statt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim findet, dass die Länder sparen und dass wir im Interesse
Poß [SPD]: Los! Noch einen Spruch!) eines stabilen Euro unsere Stabilitätskultur auch in Eu-
ropa verankern, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, natürlich hat die Finanz-
krise tiefe Spuren hinterlassen. Wir haben uns im Früh- (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben doch das
jahr ganz wesentlich auch mit der Frage einer stabilen Gegenteil von all dem gemacht! Sie haben das
Währung zu befassen gehabt. doch alles ignoriert!)
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Zu spät!) Das wäre Ihre Pflicht gewesen.
Ich will daran erinnern: Hätten wir den Euro in dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(B) Krise nicht gehabt, wäre gerade eine Exportnation wie Joachim Poß [SPD]: Drei Monate haben Sie (D)
Deutschland von den Währungsturbulenzen in unserem vergeigt! Von Februar bis Mai wussten Sie
Hauptexportmarkt, nämlich in Europa, sehr stark beein- nicht, wohin Sie wollen! Sie haben versagt!
flusst worden. Das heißt, der Euro hat uns geholfen, Sie haben die Krise noch verschärft! Die ganze
durch die Krise zu kommen. Welt weiß das! – Ulrich Kelber [SPD]: Sie wa-
ren der Treibsand der Krise, Frau Merkel! Sie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
haben dafür gesorgt, dass sich die Krise sogar
der FDP)
noch zugespitzt hat!)
Aber die Krise hat auch zutage gefördert, dass die So-
– Herr Poß, hören Sie auf zu schreien. Ja, ich habe zwei
lidität der Haushalte und die Wachstumskräfte in der Eu-
Monate gebraucht, um Europa davon zu überzeugen,
ropäischen Union nicht gleich verteilt sind, dass wir
große Ungleichgewichte haben und dass man an ver- (Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Sie lassen die
schiedenen Stellen nicht entsprechend dem Stabilitäts- Steuerzahler zahlen!)
und Wachstumspakt gearbeitet hat.
dass erst einmal die Länder selbst sparen müssen
Ich will nur daran erinnern: Die Sozialdemokraten ha-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben die Steuer-
ben bezüglich des Euro zweimal historisch versagt.
zahler zur Kasse gebeten!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
und dass erst dann die Solidarität der Gemeinschaft
Sigmar Gabriel [SPD]: Sie wollten doch wie-
kommt. Wenn Sie hier geholfen hätten, dann wäre es
der die Steuerzahler zahlen lassen!)
vielleicht schneller gegangen, aber das haben Sie nicht
Das erste Mal war, als Bundeskanzler Schröder 2004 den getan, und deshalb hat es so lange gedauert.
Stabilitätspakt, im Übrigen gegen das Votum seines eige-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nen Finanzministers, aufgeweicht hat
Joachim Poß [SPD]: Sie hätten schon im Fe-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bruar tätig werden können!)
NEN]: Falsch!)
Was die Regulierung der Finanzmärkte und die
und damit viel kraftloser gemacht hat; das war das erste Lehren aus der Krise anbelangt, sind wir noch nicht am
historische Versagen. Ende, aber wir haben einiges erreicht:
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Vollkom- Es gibt jetzt eine europäische Finanzaufsicht, der
mener Unsinn!) auch die Ratingagenturen unterstellt sind. Auch wenn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6041
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) wir internationale Kritik bekommen haben: Es war rich- das einmal an: Auf 100 Erwerbstätige kommen heute (C)
tig, dass wir mit dem Verbot von Leerverkäufen voran- 34 über 65-Jährige, 2020 39, 2030 53 und 2040 64 über
gegangen sind, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass 65-Jährige. Wer glaubt, er muss darauf nicht reagieren,
man nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten kann. wer glaubt, er kann das ignorieren, wer glaubt, er kann
Wir haben einen Restrukturierungsfonds eingerichtet, den Menschen ein X für ein U vormachen, genau der
um die Bankeninsolvenzen zu bearbeiten, und wir haben wird Politikverdrossenheit und Enttäuschung über Poli-
eine Bankenabgabe eingeführt. tik ernten.
Sie erzählen darüber, wer dadurch belastet wird und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wer nicht. Schauen Sie sich doch die Details an. Es ist Sigmar Gabriel [SPD]: Lesen Sie eigentlich
vollkommen klar: Je risikobehafteter das Kapital ist und Ihr Gesetz?)
die Geschäfte sind, umso mehr Abgabe muss gezahlt
Wir werden das Gesetz Ihres früheren Bundesarbeits-
werden, damit in Zukunft nicht mehr der Steuerzahler
ministers Franz Müntefering,
für solche Krisen eintreten muss, sondern die Banken
das selber tun müssen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Lesen Sie das?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der bitter über Ihren Kurs enttäuscht ist – das wird man
hier ja einmal festhalten dürfen –, umsetzen. Wir werden
Wir werden auch weiter für die Besteuerung der Fi- natürlich einen Bericht über die Erwerbstätigkeit der Äl-
nanzmärkte arbeiten. Der Bundesfinanzminister tut dies teren erstellen, und wir stellen fest, dass sich diese in den
in vielen, vielen Gesprächen, und wir werden versuchen, letzten Jahren verdoppelt hat. Das ist der Erfolg, auf dem
möglichst viele Länder davon zu überzeugen. Leider ist wir aufbauen. Denn es gibt keine Alternative dazu, je-
die Welt nicht immer so, wie wir sie uns wünschen. denfalls keine vernünftige,
(Thomas Oppermann [SPD]: Man hört sehr (Sigmar Gabriel [SPD]: Auf 20 Prozent!)
wenig von ihm!)
dass man sagt: „Wenn die Lebenserwartung steigt“ – in
Auch das gehört zum Betrachten der Realität. Aber wir zehn Jahren steigt sie um durchschnittlich zwei Jahre –,
geben nicht auf und bohren das dicke Brett. Es war auch „dann muss sich das auch im Erwerbsleben und in der
richtig, dass jetzt die Eigenkapitalvorschriften verbessert Rente niederschlagen“, wenn man möchte, dass die
werden. Rente der Lohn für die Lebensleistung bleibt, und das
(Thomas Oppermann [SPD]: Sie treten auf die möchten wir im Gegensatz zu anderen, die die Realität
Bremse! Deswegen funktioniert es nicht!) einfach nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
(B) Wir erwarten von der EU, dass sie die Derivatemärkte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
ordentlich regelt. Wir als Staat müssen aus den krisenbe- Ein mindestens ebenso sensibler Bereich ist die Zu-
dingten Beteiligungen in Deutschland Schritt für Schritt kunft des Gesundheitssystems. Wir wissen: Wenn wir
aussteigen. in einer alternden Gesellschaft leben, wenn wir mehr
All das ist auf dem Weg, aber es bleibt noch viel Ar- medizinische Möglichkeiten haben, dann ist es wahr-
beit vor uns. scheinlich die schwierigste Aufgabe – wir erleben diese
Diskussion ja in allen Industrieländern –,
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Nicht nur be-
schließen, sondern auch handeln!) (Elke Ferner [SPD]: Der Ihre Regierung nicht
gewachsen ist! – Sigmar Gabriel [SPD]: Des-
Wir bleiben bei dem Credo: Jedes Produkt, jeder Akteur wegen schreibt die Pharmaindustrie die Ge-
und jeder Finanzmarktteilnehmer muss reguliert sein, setzentwürfe!)
damit wir einen Überblick darüber haben, was auf den
Finanzmärkten geschieht. ein gerechtes, faires, bezahlbares und gutes Gesundheits-
system auf Dauer zu erhalten.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Warum haben Sie dann drei Monate lang die Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir den
europäische Finanzaufsicht blockiert?) Menschen sagen: Wenn wir keine Zweiklassenmedizin
wollen – –
Das ist die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in der
(Sigmar Gabriel [SPD]: Dann machen Sie eine
Realwirtschaft seit Jahrzehnten kennen, und das muss
Dreiklassenmedizin daraus!)
auch für die Finanzwirtschaft in gleicher Weise gelten.
– Ich weiß nicht, ob Sie sie wollen; ich will sie nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie haben doch die europäische Finanzaufsicht NEN]: Wir haben sie!)
blockiert, Frau Bundeskanzlerin!)
– Wir wollen sie nicht.
Zu den Zukunftsaufgaben gehört zweitens die Siche-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
rung der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Hier
muss man einfach feststellen, dass die Veränderungen im Für uns ist es Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft
Altersaufbau von einigen in diesem Hause überhaupt und unseres Bildes von Menschen, dass die Menschen in
nicht zur Kenntnis genommen werden. Schauen wir uns Deutschland wissen: Sie haben eine sichere Gesund-
6042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) heitsversorgung, und zwar für jeden, egal, ob arm oder tragsbemessungsgrenze, sondern von allen Steuerzah- (C)
reich. lern. Das ist gelebte Solidarität, meine Damen und Her-
ren.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Fällt Ihnen auf, dass
die FDP nicht mitklatscht?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar
Gabriel [SPD]: Hauptsache, Herr Rösler macht
– Mir fällt auf, dass die FDP jetzt gleich mitklatscht,
das so!)
weil sie das genauso will wie wir.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Wenn Sie glauben, Sie können sich da noch ein, zwei,
chen bei der SPD, der LINKEN und dem drei Jahre durchmogeln, dann sage ich Ihnen: Wir stellen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin die Weichen für die Zukunft. Vertrauen in Politik resul-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die FDP tiert auch daraus, dass Menschen berechenbare Verhält-
gewandt: Jetzt müsst ihr klatschen, ihr Ar- nisse haben und wissen, was auf sie zukommt. Auch die
men!) Fragen, was mir eine Krankenkasse bietet, welche Ent-
scheidungsmöglichkeiten ich habe und wie ich präventiv
Die FDP hat eine Eigenschaft: Sie wartet immer, bis ich etwas für meine Gesundheit tun kann, gehören dazu. Die
zum Ende des Satzes komme, und klatscht nicht einfach Wahlmöglichkeiten für die Patienten müssen gestärkt
zwischendrin. werden. Anders geht es in einer modernen Gesellschaft
nicht, meine Damen und Herren.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Jetzt müssen Sie sie
sogar noch auffordern! – Thomas Oppermann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
[SPD]: Sonst hätten sie das nicht gemacht!) Ferner [SPD]: Deshalb werden die Präven-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema ist zu tionsmittel gekürzt! Absurd ist das Ganze!)
ernst. Drittens. Wir müssen etwas gegen die Langzeitar-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das war ein wahres beitslosigkeit
Wort gesprochen!) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Hier gibt es eine gewisse Neigung, über zentrale The- NEN]: Genau! Wir streichen ihnen die Ein-
men nicht mehr mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu gliederungshilfe!)
sprechen. und etwas für diejenigen Familien tun, deren Kinder in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- einer schwierigen Situation sind.
ruf von der SPD: Eben!) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(B) Genau! Weg mit dem Elterngeld!) (D)
Das Thema der Gesundheitsversorgung ist zu ernst, als
dass es hier in irgendwelchem Gebrüll untergehen sollte. Auf der einen Seite gibt es einen Fachkräftemangel – das
Ich sage noch einmal: Die Gesundheitskosten werden wird überall beklagt –, und auf der anderen Seite gibt es
steigen, auch die medizinischen Möglichkeiten. Daraus über 2 Millionen Menschen, die erwerbsfähig sind und
ergibt sich die Frage: Wie können wir das solidarisch be- keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das sind vor
zahlbar machen? allen Dingen alleinerziehende Mütter, und das sind Men-
schen über 50 Jahre.
(Zurufe von der SPD)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Denen nehmen Sie
Ich sage Ihnen, dass es nicht möglich sein wird, wie wir erst mal 2 Milliarden weg!)
es Jahrzehnte gemacht haben, wie es sich bewährt hat
und wie wir es auch erhalten wollen, wie es heute ist, Ich finde mich nicht damit ab, dass wir einerseits Pflege-
dass wir die paritätische Finanzierung, das heißt die kräfte von überall her holen müssen, und andererseits er-
Kopplung an die Arbeitskosten, voll aufrechterhalten. klären müssen, dass über 2 Millionen Menschen, die
heute keine Erwerbsmöglichkeit haben, per se nicht da-
(Elke Ferner [SPD]: Was?) für geeignet sind. Deshalb geht es darum, die Langzeit-
Denn entweder geraten sonst Arbeitsplätze im interna- arbeitslosigkeit abzubauen, und zwar ganz entschieden.
tionalen Wettbewerb in Gefahr, oder aber die Finanzie- Ursula von der Leyen als Bundesarbeitsministerin tut ge-
rung der Gesundheitskosten steht nicht in dem notwendi- nau dies.
gen Umfang zur Verfügung. Deshalb sagen wir – das ist Herr Trittin, vielleicht darf ich Sie daran erinnern: Im
Solidarität –: Jahr 2006, als wir fast 5 Millionen Arbeitslose hatten,
(Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie jetzt Gesund- gab es weniger Eingliederungshilfen, als wir heute mit
heitspolitik nach Kassenlage machen, oder knapp über 3 Millionen Arbeitslosen und nächstes Jahr
was?) mit um die 3 Millionen Arbeitslosen haben.
Wir entkoppeln für die aufwachsenden Kosten die Ar- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wohl
beitskosten und die Gesundheitskosten stärker. Wir sor- wahr!)
gen dafür, dass niemand mit dem, was er zahlen muss, Wer da von sozialem Kahlschlag spricht, der lügt – so
überfordert wird, indem wir eine Grenze einlegen. Dann muss man es sagen –, der sagt einfach die Unwahrheit.
machen wir den Solidarausgleich nicht mehr nur von den
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zur Bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6043
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) In der Großen Koalition war es immer auskömmlich. Bei Mit diesem Konzept machen wir deutlich, dass wir drei (C)
mehr Arbeitslosigkeit mussten wir weniger Geld pro Ar- Dinge zusammenbringen, die für einen modernen Indus-
beitslosem ausgeben als heute. Wir werden dieses Geld triestandort ganz wesentlich sind: Versorgungssicherheit,
sogar noch effizienter einsetzen. Bezahlbarkeit des Stroms und Umweltverträglichkeit.
Wenn wir uns den Bundeshaushalt anschauen, dann Ich glaube, wir alle verfahren richtig, wenn wir sagen,
stellen wir fest, dass die 40 Milliarden Euro, die wir für es macht keinen Sinn, wenn wir auch im internationalen
Langzeitarbeitslose und ihre Familien ausgeben müssen, Wettbewerb stehen, ideologiegetriebene Energiepolitik
genau der Teil des Haushalts sind, aus dem wir Zukunft zu machen, sondern es macht Sinn, eine rationale, ver-
formen können, indem wir Menschen wieder eine Ar- nünftige Energiepolitik mit einem klaren Ziel zu ma-
beitschance geben und damit die Ausgaben in diesem chen.
Bereich senken. Kein anderer Bereich des Bundeshaus-
halts eignet sich dafür. Deshalb ist unsere Hauptaufgabe, (Thomas Oppermann [SPD]: Die erneuerbaren
die Langzeitarbeitslosigkeit anzugehen und Hartz-IV- Energien sind doch keine Ideologie!)
Empfängern wieder bessere Vermittlungsmöglichkeiten Dieses Ziel heißt für uns: Wir wollen das Zeitalter der
zu geben. Glücklicherweise haben wir in der Frage gut erneuerbaren Energien erreichen, aber so, dass Wirt-
zusammengearbeitet, als es um die Neuregelung der Job- schaft und Umwelt zusammenkommen, statt gegenein-
center ging. Deshalb wird bei der Umsetzung des Bun- ander ausgespielt zu werden. Das ist unser Konzept.
desverfassungsgerichtsurteils Ursula von der Leyen vor
allen Dingen auch etwas für die Kinder aus diesen Fami- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lien tun. Dabei bitte ich um Ihre tätige Mithilfe, wenn
wir das bis zum Beginn des Jahres auf die Reihe bringen. Dieses Konzept werden wir am 28. September in der
Regierung verabschieden und in der nächsten Sitzungs-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und woche hier debattieren. In diesem Energiekonzept gibt
der FDP) es Brückentechnologien, ja.
Wir sagen: Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe an (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
der Gesellschaft. Wie wir gestern aus der Shell-Studie GRÜNEN]: Abgrund! – Alexander Bonde
erfahren haben, gibt es 10 bis 15 Prozent Kinder, für die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Könnt ihr
diese Teilhabe noch nicht gilt und die frustriert sind. eine Barrikade nicht von einer Brücke unter-
(Nicolette Kressl [SPD]: Deshalb macht ihr scheiden?)
das Betreuungsgeld?) Das ist die Kernenergie; das sind die Kohlekraftwerke.
(B) – Ja, trotz elf Jahren sozialdemokratischer Regierung, in Die brauchen wir, und wir tun den Menschen keinen Ge- (D)
denen Sie immer den Arbeitsminister gestellt haben, hat fallen, wenn wir so tun, als ob wir das alles nicht mehr
es nicht geklappt. brauchen, den Bau jedes modernen Kohlekraftwerks
verhindern und aus ideologischen Gründen die Kern-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Eine Herdprämie ha- kraftwerke abschalten.
ben wir nie gemacht!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Es gibt halt Probleme, an denen wir noch weiter arbeiten Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
müssen, und wir werden entschieden daran arbeiten. GRÜNEN]: Diese Ideologie ist Sicherheit,
Wir sagen zum ersten Mal: Wir wollen Sachleistun- Frau Merkel!)
gen, damit Bildung auch bei den Kindern ankommt. Auf
Das ist nicht unser Zugang. Wir machen es wirtschaft-
dieser Basis wird Ursula von der Leyen Vorschläge ma-
lich vernünftig, weil das Arbeitsplätze für Deutschland
chen. Das ist richtig und gut.
sichert.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der vierte Punkt hat etwas damit zu tun, ob wir Indus-
triestandort bleiben werden, ob wir uns als Industrieland Wir wollen bis 2050 80 Prozent erneuerbare Ener-
modernisieren werden oder nicht. Das ist die Energie- gien. Wir wollen die Energieeffizienz so verbessern,
politik. dass wir bis 2050 den Energieverbrauch halbieren kön-
nen. Wir wissen um unsere Aufgaben bei den Klima-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutzzielen, und wir brauchen eine neue Netzinfra-
NEN]: Die stoppen Sie doch gerade!) struktur, Mobilität und Energieforschung. All das hat die
Die Energiepolitik ist klar ein wesentliches Element der Bundesregierung erarbeitet, oder sie wird es erarbeiten.
Zukunft unseres Landes. Dabei muss man die Frage be- Was in der Diskussion auftaucht, ist zum Teil sehr
antworten, wie wir den Wandel in diese Zukunft gestal- abenteuerlich.
ten. Wir haben Ihnen dafür ein Energiekonzept vorge-
legt. Dieses Energiekonzept beruht seit langer Zeit zum (Sigmar Gabriel [SPD]: Das stimmt wohl!)
ersten Mal auf klaren Analysen, wie sich die Entwick-
Sie haben damals im Zusammenhang mit dem Ausstieg
lung gestalten wird, soweit man dies für 10, 20 oder
mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen einen Ver-
30 Jahre vorhersagen kann.
trag geschlossen, in dem Sie den Stand der Sicherheit
(Sigmar Gabriel [SPD]: Bezahlt von RWE!) manifestiert haben, während wir im Atomgesetz mehr
6044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Sicherheit für Kernkraftwerke verankern wollen. Das zu verzichten, fühlen wir uns heute legitimiert, zu sagen: (C)
ist die Wahrheit. Von den zusätzlich entstehenden Gewinnen wollen wir
einen großen Teil haben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ulrich Kelber [SPD]: Eine unglaubliche Un- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
wahrheit! Frau Merkel, Sie wissen, dass das NIS 90/DIE GRÜNEN)
falsch ist!)
um erneuerbare Energien zu fördern, und zwar nicht un-
Sie haben sich überhaupt nicht mehr um die Entsorgung ter der Ägide der EVU, sondern durch einen Fonds, des-
gekümmert. sen Verwendung wir bestimmen.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Was? – Jürgen Trittin (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe Ih- NEN]: In der Haushaltsgesetzgebung, oder
ren Müll in Morsleben weggeräumt, Frau Bun- was?)
deskanzlerin! Sie waren für Morsleben verant-
Damit verbessern wir die Einführung erneuerbarer Ener-
wortlich! Sie haben den Mist dort angerichtet,
gien in Deutschland. Es kann schneller gehen, weil wir
und wir haben Ihren Müll weggeräumt!)
die Brückentechnologie vernünftig nutzen.
– Herr Trittin, Sie haben nachher das Wort. Wir wollen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich
der Wahrheit die Ehre geben.
Kelber [SPD]: Nur einen Bruchteil!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
So wird es uns dann auch gelingen, die Technologie-
NEN]: Das ist die Wahrheit!)
führerschaft Deutschlands – diese besteht in vielen Be-
Für die schwach radioaktiven Abfälle haben Sie am reichen; daran haben viele mitgearbeitet – bei den erneu-
Schacht Konrad weitergearbeitet. erbaren Energien weiterzuentwickeln und weiter führend
auf dem Weltmarkt zu bleiben. Wenn wir heute große
(Sigmar Gabriel [SPD]: Übrigens im eigenen Anteile am weltweiten Export bei der Windenergie ha-
Wahlkreis genehmigt! Nicht wie Ihre Leute al- ben, dann ist das gut für Deutschland. Dann ist das Mo-
les verhindert!) dernisierung.
– Im eigenen Wahlkreis, ganz toll. – Damit haben wir in- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
zwischen wenigstens für Röntgenbilder und Ähnliches NEN]: Sie wollen zurückentwickeln!)
ein Lager in Deutschland. Für schwach radioaktive Ab-
fälle haben wir das. Das hat etwas mit Technologieführerschaft zu tun.
(B) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte noch einen Moment bei der Technologie- (D)
NEN]: Wer wollte denn in Morsleben auch führerschaft bleiben.
noch den westdeutschen Atommüll einla-
(Thomas Oppermann [SPD]: Die gefährden
gern?)
Sie doch!)
Aus Ihrem Schreien spricht doch nur Ihr schlechtes
Wenn man in Deutschland herumfährt, dann stellt man
Gewissen.
fest, dass jeder für erneuerbare Energien ist. Wenn ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – aber nach Baden-Württemberg komme
Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben alles verhin-
(Ulrich Kelber [SPD]: Die Landesregierung in
dert! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder
Baden-Württemberg ist dagegen!)
[CDU/CSU]: Seid doch mal ruhig und hört
zu!) und ein Laufwasserkraftwerk besichtige, dann stelle ich
fest, dass die Grünen oder jedenfalls ihre Sympathisan-
Sie haben damals ein drei- bis zehnjähriges Morato-
ten als Erste dagegen sind, weil man natürlich keinen
rium für Gorleben verhängt. Sie haben sich um die Ent-
Eingriff in die Natur will. Wenn ich in den Norden fahre,
sorgung der stark radioaktiven Abfälle überhaupt nicht
dann stelle ich fest, dass es laufend Demonstrationen ge-
mehr gekümmert und tun heute so, als wäre es unsere
gen 380-Kilovolt-Leitungen gibt. Jeder möchte zwar er-
Schuld, dass es so etwas noch nicht gibt. Wir heben das
neuerbare Energien, aber keine neue Leitung.
Moratorium auf. Wir erkunden ergebnisoffen weiter,
weil wir verantwortlich handeln und nicht den Kopf in Es kann nicht sein, dass die ganze linke Seite dieses
den Sand stecken, wenn es um radioaktive Abfälle geht. Hauses nichts dazu beiträgt, dass der Technologiestand-
ort Deutschland wirklich zum Leben erweckt wird, und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gegen alles und jedes ist.
Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das Endlager-
gesetz als Kanzlerin abgelehnt! Sie haben das (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
Endlagergesetz persönlich verhindert!) FDP – Widerspruch bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber
Es ist richtig – Ihre Zahlen kann ich aber nicht nach-
[SPD]: Ihre Dinosauriertechnologie hat nichts
vollziehen –: Durch die Verlängerung der Laufzeiten von
mit Technologieführerschaft zu tun!)
Kernkraftwerken entstehen zusätzliche Gewinne. Weil
die Unternehmen damals einen Deal mit Ihnen gemacht – Herr Kelber, die ganzen schönen Offshore-Standorte
haben und sich darauf eingelassen haben, auf Gewinne werden uns nichts nutzen, wenn der Strom anschließend
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6045
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) nicht dorthin kommt, wo er gebraucht wird. Da haben – Wir haben schon eine ganze Reihe an Dingen auf den (C)
Sie genauso wie alle anderen die Pflicht, dafür Sorge zu Weg gebracht, und wir werden noch andere Dinge auf
tragen und den Menschen zu erklären, dass neue Infra- den Weg bringen.
struktur gebaut werden muss, um neue Technologien
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und
einzuführen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das machen wir! –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage Ihnen: Wenn wir im November die zweite
und die dritte Lesung des Haushaltes haben, wenn wir
Wer hat denn den Gesetzentwurf im Bundesrat
als christlich-liberale Koalition ein Jahr im Amt sein
blockiert? Sie doch!)
werden,
Damit komme ich zu einem anderen Projekt, das auch
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Gemüter bewegt. Die Grünen sind immer für die
NEN]: Das ist ein Jahr zu viel!)
Stärkung der Schiene. Wenn es aber einmal um einen
neuen Bahnhof geht, sind sie natürlich dagegen. dann werden wir Ihnen an den Entscheidungen, die ich
Ihnen heute hier genannt habe – auf die Zukunft der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
Bundeswehr gehe ich gleich ein –, zeigen können, dass
chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
ein Jahr christlich-liberale Koalition dieses Land so ver-
GRÜNEN)
ändern wird,
Die SPD war jahrelang für Stuttgart 21.
(Lachen bei der SPD – Sigmar Gabriel [SPD]:
(Sigmar Gabriel [SPD]: Ist sie auch heute Das stimmt! – Thomas Oppermann [SPD]:
noch!) Dass man es nicht wiedererkennt!)
Jetzt, wo man ein bisschen dafür kämpfen muss, fangen dass wir die Aufgaben für die Zukunft endlich ernst neh-
Sie an, dagegen zu sein. Diese Art von Standhaftigkeit men und nicht weiter von Tag zu Tag leben. Das ist das,
ist genau das, was Deutschland nicht nach vorne bringt. was die Menschen spüren.
Wir wollen etwas anderes.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
FDP) Die Menschen in diesem Land spüren das ganz genau.
Herr Gabriel, ich bin bei Ihnen, dass Menschen im Land
Bei völlig rechtmäßig getroffenen Entscheidungen oft sagen: Wissen die noch von unseren Sorgen? Kennen
braucht man keine Bürgerbefragung in Stuttgart. Viel- die unser Problem? Wissen die, wie lange man vielleicht
mehr wird genau die Landtagswahl im nächsten Jahr die auf einen Arzttermin wartet? Wissen die, wie das mit der
(B) (D)
Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württem- Gewalt und der Sicherheit auf der Straße ist? – Es nützt
bergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein, aber nichts, die Rente mit 67 wieder rückgängig zu ma-
chen, weil ich dadurch bei meinen Versammlungen drei
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tage lang schönes Wetter kriege. Die Aufgabe heißt
sowie bei Abgeordneten der SPD – Sigmar doch vielmehr, eine verantwortliche Politik zu machen
Gabriel [SPD]: Da haben Sie recht!) und mit den Menschen darüber zu sprechen, was richtig
die für die Zukunft dieses Landes wichtig sind. Das ist und wichtig für unsere Zukunft ist. Das machen wir.
unsere Aussage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zurufe von der SPD)
Wir werden eine große Debatte über die Zukunftsfä- Das machen wir in der Frage der Bundeswehr, indem
higkeit Deutschlands führen. Einen Tunnel von Basel wir fragen, ob das, was uns allen – jedenfalls wenn ich
nach Karlsruhe oder was weiß ich von wo nach wo einmal für die Union sprechen kann – lieb ist, nämlich
bauen zu wollen, aber nicht einmal aus einem Sackbahn- die Wehrpflicht, die wir viele Jahrzehnte lang für richtig
hof einen Untergrundbahnhof, einen Bahnhof unter der befunden haben, noch notwendig und machbar ist. Wir
Erde zu machen, ist verlogen, Herr Trittin. fragen: Werden wir den sicherheitspolitischen Verant-
wortungen gerecht, die in einer neuen und veränderten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Welt bestehen?
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Untergrundbahnhof?) Wir machen das auch bei der Frage, wie viel individu-
elle Freiheit wir im Internet brauchen und wie viel
Als in Berlin ein Nord-Süd-Tunnel gebaut wurde, waren Schutz wir dafür brauchen. All das ist Neuland. Hier hat
Sie dafür. Wenn es jetzt Proteste gibt, dann sind Sie da- keiner sofort die Lösungen parat. Darüber muss disku-
gegen. So kann man Deutschlands Zukunft nicht gestal- tiert werden. Wenn in diesem Land jede Diskussion und
ten, meine Damen und Herren. jeder Meinungsaustausch ein Streit ist, dann muss es
eben Streit sein. Ohne solche Diskussionen, Diskurse
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Dispute werden wir nicht die richtigen Antworten
Wir werden uns in der Koalition natürlich auch den finden. Wir stehen dazu. Zum Schluss wird entschieden,
außen-, sicherheits- und innenpolitischen Aufgaben stel- und es wird durch Mehrheit das gemacht, was wir insge-
len. samt für richtig befinden.
(Ulrich Kelber [SPD]: Fangen Sie mal an!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
6046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Ich bin auch sehr dafür, das wir nicht mit Ressenti- dazu verpflichtet ist, dem kann heute, wenn er Arbeitslo- (C)
ments arbeiten, aber ich sage auch: Man kann unter- sengeld-II-Empfänger ist, die Leistung gekürzt werden,
schiedlicher Meinung darüber sein, aber wenn Sie eine
Leistung für Mütter in Familien, die ihre Kinder zu (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Hause erziehen, einfach als Herdprämie diffamieren, Ein Gesetz, das wir gemacht haben!)
dann leisten Sie einen Beitrag zu Ressentiments, die wir und zwar um 30 Prozent, 60 Prozent bis hin zu Sachleis-
nicht wollen. tungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Zurufe von der SPD) GRÜNEN]: Das steht alles im Gesetz!)
Auch das Thema der Integration ist ein Thema, bei Wir werden überprüfen, ob das wirklich überall gemacht
dem man mit Ressentiments nicht weiterkommt. Unsere wird, weil Strenge und striktes Fordern auch bei der In-
Gesellschaft verändert sich. Etwas weniger als 20 Pro- tegration die notwendige Voraussetzung dafür sind, dass
zent der Bevölkerung haben einen Migrationshinter- Menschen hier ihre Chancen bekommen und an der Ge-
grund. Wenn wir diese Menschen integrieren wollen, sellschaft teilhaben. Ich will das, weil wir ansonsten
dann müssen wir auch sehen, dass sich dadurch unsere keine menschliche Gesellschaft sind.
Gesellschaft verändert. Wir können daraus etwas Gutes
machen. Im Übrigen gibt es viele gelungene Beispiele. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Es gibt 600 000 Selbstständige mit Migrationshinter- Sigmar Gabriel [SPD]: Wer hat denn das Ge-
grund und 2 Millionen Arbeitsplätze in diesem Bereich. setz gemacht?)
Das soll man nicht verschweigen. Vor 20 Jahren hat eine christlich-liberale Koalition
Es gibt aber auch riesige Probleme. Hierzu sage ich unter der Führung von Helmut Kohl, Hans-Dietrich
ganz einfach: Wir haben Fehler gemacht. Wir haben Genscher und Theo Waigel die deutsche Einheit mit
vielleicht zu lange von Gastarbeitern gesprochen und mutigen Entscheidungen möglich gemacht.
nicht zur Kenntnis genommen, dass sie in der zweiten, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der dritten oder der vierten Generation bei uns leben. Sie NEN]: Das war die Bürgerbewegung!)
aber haben von Multikulti geredet, ohne zu sagen: Inte-
gration ist Fordern und Fördern, und zwar ein Fordern in Die Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hat ihren
gleicher Größenordnung. Das haben Sie viele Jahre lang Beitrag dazu geleistet, genauso wie die vielen Menschen
völlig vernachlässigt. in den neuen Bundesländern, die die völlige Verände-
rung ihres Lebens durch erhebliche Kraftanstrengungen
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) gemeistert haben und heute riesige Erfolge verzeichnen (D)
NEN]: Das sagen wir doch längst!)
können. Ihren Beitrag haben auch Millionen Menschen
Ich habe die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt ge- in der alten Bundesrepublik geleistet, die Solidarität für
holt. unser Vaterland gezeigt haben. Ich glaube, dass wir in
diesem Land auf dieser Grundlage auch für die nächsten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
zehn Jahre die Weichen richtig stellen können. Wenn wir
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Herausforderungen analysieren, wenn wir den Reali-
NEN]: Und wer hat die Integrationskurse ge-
täten ins Auge sehen, wenn wir die Kraft haben, die
macht?)
Menschen zu gemeinsamen Anstrengungen für dieses
Wir waren es, die Integrationskurse verpflichtend ge- Land zu motivieren, dann haben wir diese Chance.
macht haben. Wir waren es, die gesagt haben: Wer zu
Die christlich-liberale Koalition ist eine Koalition, die
uns zieht, der muss auch unsere Sprache können, damit
den Menschen in diesem Lande etwas zutraut, die
er sich in dieser Gesellschaft bewegen kann. Wir haben
glaubt, dass die Menschen ihren Beitrag für unser Ge-
die Verpflichtung, an den Schulen deutsch zu sprechen,
meinwesen leisten wollen, die glaubt, dass, wenn wir die
und die Sprachtests eingeführt.
Rahmenbedingungen setzen, sich Leistung in diesem
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lande lohnt, dass, wenn wir den Schwächeren helfen, et-
NEN]: Das waren wir!) was leisten zu können, Teilhabe für alle möglich ist. Ob
es Menschen im Ehrenamt sind, ob sie vielleicht in ei-
Nichts kam von dieser Seite des Hauses. Da hilft auch
nem freiwilligen Wehrdienst sind oder ob im sozialen
das Schreien im Nachhinein nicht.
Bereich Ältere freiwillig mit Jüngeren arbeiten – wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden alle brauchen, um diese Gesellschaft menschlich
zu gestalten. Wer den Eindruck erzeugt, dies könne al-
Deshalb werden wir als Bundesregierung am 3. No-
lein der Staat tun, hat ein falsches Menschenbild. Nur
vember wieder einen Integrationsgipfel veranstalten.
wer den Menschen etwas zutraut und sie motiviert, sich
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht nur für ihre eigenen Interessen einzusetzen, son-
NEN]: Noch ein Gipfel!) dern auch an die Gemeinschaft zu denken, wird es schaf-
fen, dieses Land zu einem weiterhin wohlhabenden Land
Ich werde mit den Ministerpräsidenten bei dem jährli- zu machen. Das ist unser Ansatz. Das wollen wir. Das
chen Treffen im Dezember über Fragen der Integration wird die christlich-liberale Koalition auch schaffen.
sprechen. Ja, es ist richtig: Es gibt zu viele Vollzugsdefi-
zite. Wer nicht zum Integrationskurs geht, obwohl er Herzlichen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6047
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
und der FDP) Sie wissen doch, dass ich Ihnen gegenüber immer
eine besondere Großzügigkeit aufbringe, die am Ende
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ihrer Redezeit auch regelmäßig gebraucht wird.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich würde sagen: Wir verhandeln unter Lobbyisten:
(Beifall bei der LINKEN) eine Minute.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Präsident Dr. Norbert Lammert:


Gehen Sie einmal davon aus, dass das auch diesmal
Herr Bundestagspräsident! Meine sehr verehrten Da-
wieder zugestanden wird.
men und Herren! Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich
muss Ihnen ja eines lassen: Sie haben heute hier ein be-
achtliches Kämpfertum gezeigt. Zu welchen Fähigkeiten Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frust und Verzweiflung doch so führen können! Okay, wir haben uns auf eine Minute verständigt. Das
ist in Ordnung.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN –
Thomas Oppermann [SPD]: Stimmt!) (Heiterkeit)
Darf ich weitermachen?
Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen, Frau
Merkel, dass Sie einen Eid geleistet haben, und zwar
Schaden vom deutschen Volk zu wenden und Gerechtig- Präsident Dr. Norbert Lammert:
keit gegenüber jedermann zu üben. Ich muss Ihnen sa- Selbstverständlich. Ich nehme die Verständigung zur
gen, dass Sie diesen Eid permanent verletzen. Sie sind Kenntnis.
keine Kanzlerin der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, der Rentnerinnen und Rentner, der Hartz-IV-Emp- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
fängerinnen und Hartz-IV-Empfänger Ich bin übrigens sehr beruhigt, Herr Bundestagspräsi-
dent; die hören nicht nur mir nicht zu, sondern auch Ih-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die nen nicht zu. Darüber sollten wir einmal länger nachden-
wählen häufiger uns als Sie!) ken.
(B) und auch nicht der kleinen und mittleren Unternehmerin- Ich komme zu meinem Punkt zurück. Frau Bundes- (D)
nen und Unternehmer. Sie sind die Bundeskanzlerin der kanzlerin, Sie verhandeln mit den Lobbyisten, und diese
Bankenlobbyisten, der Pharmalobbyisten, der Lobbyis- legen genau fest, was sie machen müssen. Nur das, was
ten der privaten Krankenversicherung und nun in einem sie zugestehen, tun sie. Haben Sie einmal mit den Ar-
kaum vorstellbaren Ausmaß auch der Atomlobbyisten. beitnehmerinnen und Arbeitnehmern über deren Steuern
verhandelt? Haben Sie einmal mit der Innung der Fri-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
seurmeisterinnen und Friseurmeister darüber verhandelt,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
was sie zu geben bereit sind? Haben Sie einmal viel-
Lobbyisten entscheiden in Deutschland inzwischen leicht mit einer Vertretung von Hartz-IV-Empfängerin-
darüber, was sie bekommen und was sie zu leisten bereit nen und Hartz-IV-Empfängern darüber gesprochen, ob
sind. Wenn diese das nicht zugestehen, passiert das sie wirklich bereit und interessiert sind, das Elterngeld
Ganze auch nicht. loszuwerden? Nein, mit diesen Leuten reden Sie nicht.
Sie verhandeln nur mit Lobbyisten, und das beschädigt
(Unruhe) die Demokratie in einem kaum vorstellbaren Ausmaß.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Präsident Dr. Norbert Lammert: neten der SPD)
Herr Kollege Gysi, darf ich Sie einen kleinen Augen- Ich sage es ganz offen: Diese Bundesregierung hat
blick unterbrechen? – Ich appelliere an die Kolleginnen durch ihre Art der Politik die freiheitlich demokratische
und Kollegen, die noch nicht genau wissen, ob sie dem Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefähr-
weiteren Verlauf der Debatte folgen können oder wollen, det. Wenn dieses komische Bundesamt für Verfassungs-
oder jedenfalls nicht wissen, von wo aus, Kollegen schutz etwas taugte, dann würde es sich um die Regie-
Flosbach und Dautzenberg zum Beispiel! Hallo! rung kümmern und nicht um die Linke;
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der LINKEN)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der denn die Linke ist eine Bereicherung für die freiheitlich
Rösler schwatzt auch!) demokratische Grundordnung in Deutschland.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Aber es hat sich in unserer Gesellschaft etwas verän-
Herr Präsident, die Uhr läuft die ganze Zeit weiter. dert. Was sich verändert hat, wird bei Stuttgart 21 deut-
6048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) lich. Sie haben hier vom Tunnelbau erzählt. Sie wollen rade nachgewiesen, dass wir im ersten Halbjahr 2010 ei- (C)
Milliarden in einem sinnlosen Projekt versenken, obwohl nen Überschuss von 11 Milliarden Kilowattstunden pro-
es viel günstigere Varianten gibt. Dazu stehen Sie bloß duziert haben. Das ist genau so viel, wie die sieben
nicht. Aber das Interessante ist etwas anderes. Alle Ver- ältesten und marodesten Atomkraftwerke produzieren.
träge sind geschlossen. Man sagt: Rechtlich ist gar nichts Das heißt, wenn wir sie schließen würden, müssten wir
mehr zu machen. – Früher führte so etwas dazu, dass die nicht eine einzige Kilowattstunde Strom importieren.
Bürgerinnen und Bürger jeden Widerstand aufgaben und Das verschweigen Sie.
sich sagten: Es hat ja keinen Sinn mehr. – Dann kamen
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Was verste-
bloß noch hundert Leute; es wurde irgendwie langweilig.
hen Sie von Strom?)
Heute werden es täglich mehr. Die lassen sich das nicht
mehr bieten. Eben hat die Bundeskanzlerin erklärt, von den Ge-
winnen, die zweifellos bei den Energieriesen entstehen,
(Beifall bei der LINKEN)
wolle man einen großen Teil abschöpfen. Sie sagten ein-
Es gibt einen rebellischen Geist in der Bevölkerung, und mal, die Hälfte wollten Sie abschöpfen. Nun habe ich
das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. mir das einmal angesehen:
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben nach Ihren Verhand- Die Zusatzgewinne liegen mindestens bei 67 Milliar-
lungen mit der Atomlobby von einer Energierevolution den Euro, aber nur unter der Bedingung, dass die Preise
gesprochen. In Wirklichkeit haben Sie natürlich nur ge- gleich bleiben. Aber nicht einmal ein einziges CDU-Mit-
sellschaftspolitische Auseinandersetzungen provoziert. glied glaubt, dass die Preise gleich bleiben. Wenn man
Dann haben Sie gesagt, Sie hätten endlich Langfristig- die realen Schätzungen bezüglich Preissteigerungen
keit hineingebracht, nämlich bis zum Jahr 2050. Wie nimmt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Ge-
kommen Sie denn darauf, noch im Jahr 2050 Kanzlerin winne bei 127 Milliarden Euro liegen werden.
zu sein? Schon im Jahr 2013 wird sich das ändern, und
dann wird das ganze Gesetz wieder gekippt werden. Welche Abgaben haben Sie nun beschlossen?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Da gibt es zum einen die Brennelementesteuer. Ur-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE sprünglich hatten Sie gesagt, Sie wollten für jedes Jahr
GRÜNEN) Laufzeitverlängerung 2,3 Milliarden Euro haben. Da-
raufhin hat die Atomlobby gesagt, das sei ihr erstens zu
Ich sage nur zwei Dinge inhaltlich dazu: viel und zweitens zu lange. Daraufhin haben Sie gesagt:
Na gut, wenn ihr das nicht wollt, nehmen wir eben nur
Erstens. Die Frage des Endlagers ist bis heute nicht
1,5 Milliarden Euro. – Mit diesem einen Punkt war die
gelöst. Über Gorleben braucht man an sich gar nicht zu
(B) Atomindustrie dann einverstanden, wollte aber nur sechs (D)
diskutieren, weil es eben indiskutabel ist.
Jahre lang zahlen. Nun haben Sie auch diese Frist von
Zweitens. Sie beherrschen die Atomkraftwerke im sechs Jahren akzeptiert. Das heißt, der Staat nimmt
Falle einer Katastrophe nicht. Bei jedem Flugzeugun- 9 Milliarden Euro auf diese Art und Weise ein.
glück kennen wir die Zahl der Toten – was schon
Zum anderen haben Sie gesagt, es müsse noch eine
schlimm genug ist. Aber wenn uns jemals ein AKW um
Zusatzabgabe für die erneuerbaren Energien entrich-
die Ohren fliegt, können wir gar nicht einschätzen, was
tet werden. Diese Forderung basiert ja auf Ihrer fantasti-
passiert. Wir wissen nicht, ob man in diesem Land über-
schen Idee, zu glauben, dass die Atomindustrie die erneu-
haupt noch leben kann oder über wie viele Generationen
erbaren Energien fördert. Sie haben also gefordert, dass
man hier nicht mehr leben kann. Wenn man im Un-
die Atomindustrie hierfür 15 Milliarden Euro zahlen soll.
glücksfall eine Technik nicht beherrscht, hat man sich
Nun habe ich mir all dies genauer angesehen und festge-
von ihr zu verabschieden, statt sie per Laufzeitverlänge-
stellt: In Ihrem Geheimvertrag steht auch drin – das haben
rung noch weiter einzusetzen.
Sie der Öffentlichkeit nur noch nicht gesagt –, dass bei je-
(Beifall bei der LINKEN) dem Atomkraftwerk Sicherheitsmaßnahmen in Höhe von
500 Millionen Euro durchzuführen sind, dass aber die Be-
An die Adresse von SPD und Grünen sage ich: Als
treiber, wenn diese Sicherheitsmaßnahmen teurer wer-
Sie damals den Atomkompromiss geschlossen haben,
den, diese Mehrkosten von der Abgabe für erneuerbare
haben wir gesagt, die Fristen sind viel zu lang. Eure
Energien abziehen dürfen. Der zuständige Bundesum-
Mehrheit im Bundestag hält nicht so lange. Irgendwann
weltminister selber schätzt aber die Kosten für Sicher-
gibt es wieder eine Mehrheit von Union und FDP. Dann
heitsmaßnahmen pro AKW auf 1,2 Milliarden Euro. Das
wird der Atomkompromiss wieder rückgängig gemacht. –
heißt, von den 15 Milliarden Euro werden 700 Millionen
Das haben Sie uns ja nicht geglaubt. Wenn Sie die Din-
Euro pro AKW abgezogen. Dann bleiben von Ihren
ger damals dichtgemacht hätten, könnten heute ihre
15 Milliarden Euro gerade einmal 3 Milliarden Euro üb-
Laufzeiten nicht verlängert werden. Dann wäre Schluss
rig.
gewesen.
9 Milliarden Euro plus 3 Milliarden Euro macht
(Beifall bei der LINKEN)
12 Milliarden Euro. Die Hälfte von 127 Milliarden Euro
Nun sagt ja die Bundesregierung, Atomenergie sei als oder auch nur von 67 Milliarden Euro sieht jedoch gänz-
Brückentechnologie unverzichtbar. Deshalb müsse man lich anders aus; das kann man durch einfachste Berech-
noch länger auf sie zurückgreifen. Diese Behauptung ist nungen herausfinden. Es sind also nur Peanuts, die die
falsch. Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hat ge- Atomlobby zu bezahlen hat, während sie Gewinne in rie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6049
Dr. Gregor Gysi
(A) siger Höhe erwirtschaften kann. Das zeigt, wie Sie Poli- entschieden haben. Dagegen sind für die Beratung des (C)
tik betreiben. Bundeshaushalts, der 320 Milliarden Euro umfasst,
mehrere Monate nötig. Das ist aber noch nicht einmal
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. das Problem. Das Problem ist: Sie haben festgelegt, dass
Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Handvoll Leute, die alle nicht im Bundestag sitzen,
NEN]) über die Verwendung des Geldes entscheiden. Es gibt ei-
Noch eine Kleinigkeit: Die Brennelementesteuer, über nen Ausschuss des Bundestages, der geheim tagt. Er darf
die ich zuerst gesprochen habe, darf die Atomindustrie aber nichts entscheiden, sondern nur Fragen stellen. Die
zum großen Teil von der Körperschaft- und Gewerbe- Antworten, die er bekommt, darf er uns noch nicht ein-
steuer absetzen. Der Atomindustrie ist es völlig wurscht, mal mitteilen. Das ist eine Entmachtung des Bundesta-
wie sie das absetzt. Wenn sie diese Steuer nun von der Ge- ges, die der Bundestag selbst beschlossen hat. Genau das
werbesteuer, die ja die Kommunen bekommen, absetzt, ist grundgesetzwidrig.
wird das dazu führen, dass die Kommunen noch pleiter
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
werden, als sie ohnehin schon sind.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Zuruf von der FDP: „Noch pleiter“?)
Frau Kanzlerin, heute sprechen Sie doch allen Ernstes
– Ja, wenn das ginge. – Dann kommt noch etwas hinzu: von der Bankenabgabe. Ich bitte Sie! Sie wollen nur gut
Viele Stadtwerke sind von anderen Rahmenbedingungen 1 Milliarde Euro haben. Außerdem ist das Konzept völ-
ausgegangen und haben Investitionen vorgenommen. lig falsch angelegt, weil die Sparkassen mit einbezahlen
Diese Investitionen können sie jetzt zum Teil abschrei- sollen. Sie haben aber nichts mit dieser Krise zu tun, und
ben; so entstehen weitere Verluste in Höhe von 4,5 Mil- deshalb sind sie diesbezüglich auch nicht zahlungs-
liarden Euro. Im Wettbewerb um die Stromerzeugung pflichtig. Das Geld in Höhe von 1 Milliarde Euro soll ja
haben die Stadtwerke nun gar keine Chancen mehr. nicht zum Schuldenabbau genutzt werden, sondern es
soll in einen Fonds gesteckt werden, damit bei der
Herr Bundesminister Brüderle, Sie haben behauptet, nächsten Krise darauf zugegriffen werden kann. Sie wis-
die Stromkosten würden um 8 Milliarden Euro niedri- sen nämlich, dass Sie nichts unternommen haben, damit
ger liegen. Das wäre schön. Doch RWE hat gleich klar- es keine nächste Krise gibt. Angesichts von 480 Milliar-
gestellt, das komme gar nicht infrage, man sehe das ganz den Euro brauchen wir etwa 480 Jahre, bis wir das Geld
anders. Herr Brüderle, ich muss es einfach einmal sagen: zusammenhaben. Das ist wirklich eine sehr langfristige
Sie haben Unsinn erzählt. In Wahrheit ist es doch so, Politik.
dass sich die vier Energieriesen, die wir haben, einmal
(B) kurz telefonisch verständigen und dabei entscheiden, (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) (D)
wie die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen
abgezockt werden sollen. Das ist die Realität, mit der wir Jetzt erleben wir erneut einen Fehler im Zusammen-
es zu tun haben. hang mit der HRE. Wie sind Sie über uns hergefallen, als
wir damals gesagt haben: Sie können nicht nur eine
(Beifall bei der LINKEN) Bank verstaatlichen; wenn Sie verstaatlichen wollen,
Ihr Atomvertrag verstößt aus mindestens drei Grün- dann müssen Sie, wie dies in Schweden geschehen ist,
den gegen die Verfassung: alle großen Banken verstaatlichen! Darauf haben Sie ge-
sagt: Das geht nicht. Ihre Logik ist zu einfach. Die HRE,
Erstens haben Sie beim Geheimvertrag den Bundes- die uns allen gehört, ist hoch verschuldet. Zum Beispiel
tag ausgeschlossen. Das steht im Widerspruch zum fordert die Deutsche Bank von der HRE 20 Milliarden
Grundgesetz. Euro. Jetzt müssen alle Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler in Deutschland über die HRE 20 Milliarden Euro
Zweitens haben Sie den Vertrauensschutz für Investi- an die Deutsche Bank zahlen. Von diesem Geld werden
tionen der Kommunen verletzt. riesige Gewinnausschüttungen an Großaktionäre und
Drittens wollen Sie den Bundesrat ausschließen. Das Boni bezahlt. So geht es nicht! Wenn man die Schulden
geht beim besten Willen nicht; denn es ist auch eine An- übernimmt, dann muss man auch von den Einnahmen
gelegenheit der Länder und der Kommunen. Deshalb profitieren. Weil Sie konservativ sind, hätten Sie, nach-
wollen fünf SPD-geführte Landesregierungen – darunter dem das Geld zurückgeflossen ist, meinetwegen – das
zwei, an denen wir beteiligt sind – logischerweise eine kann man auch anders sehen – reprivatisieren können.
Klage beim Bundesverfassungsgericht erheben. Ich Nichts zu tun, war ein schwerwiegender Fehler.
hoffe auch, dass die Unterschriften aus der Mitte des
(Beifall bei der LINKEN)
Bundestages für ein Normenkontrollverfahren ausrei-
chen. So geht es nicht! Wir dürfen dies den Bürgerinnen Jetzt wird an einem Wochenende entschieden, dass
und Bürgern nicht zumuten. weitere 40 Milliarden Euro an die HRE fließen müssen,
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen weil das Geld nicht gelangt hat. 40 Milliarden Euro – ich
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bitte Sie! Das passiert mir nichts, dir nichts und ohne Zu-
stimmung des Bundestages. Ich darf Sie erinnern: Noch
Aber dieser Stil Ihrer Politik ist nicht neu. Wie sah es vor kurzem wurde erklärt, die HRE sei gesund. Jetzt
bei den Banken aus? Ich darf daran erinnern, dass wir in- stellt sich heraus, sie ist doch noch schwerwiegend
nerhalb einer einzigen Woche über 480 Milliarden Euro krank. Das Ganze ist indiskutabel.
6050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Gregor Gysi


(A) Nun komme ich zur Pharmaindustrie und zu den pri- natürlich: Dann streichen wir auch noch die Bezugs- (C)
vaten Krankenkassen. Ich nenne zwei Beispiele: dauer für das verbliebene Jahr.
Das erste Beispiel. Herr Rösler, Sie hatten vorgese- Aber davon einmal abgesehen: Das ist eine Maßnahme
hen, dass eine Kommission, die aus Vertreterinnen und gegen Kinder und gegen Eltern. Außerdem sagen Sie
Vertretern der Krankenkassen sowie der Ärztinnen und – jetzt kommt Ihr wahnsinniges Argument –: Das soll
Ärzte besteht, über neue Arzneimittel entscheiden soll. eine Lohnersatzleistung sein. Da Hartz-IV-Empfänger
Dann meldeten sich die Pharmahersteller bei Ihnen in ei- vorher nicht gearbeitet haben, brauchen sie auch kein El-
nem Brief, in dem stand: Nein, das wollen wir nicht; wir terngeld. – Dann erklären Sie doch einmal, weshalb die
wollen, dass Sie, Herr Rösler, darüber alleine entschei- nicht berufstätige Ehefrau eines Millionärs nach wie vor
den. Daraufhin sagten Sie: Ich bin frei von Sachkennt- Elterngeld bekommt, die Hartz-IV-Empfängerin hinge-
nis; also entscheide ich ab jetzt alleine darüber. Sie ha- gen nicht. Das können Sie nicht erklären. Das ist grob
ben es genau so gemacht, wie es die Leute von der unsozial und ungerecht.
Pharmaindustrie wollten; denn es geht Ihnen nicht um
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
Fortschritt in der medizinischen Versorgung, sondern um
DIE GRÜNEN)
Wirtschaftsinteressen. Das ist reinste Klientelpolitik.
Jetzt kommen Sie mit Ihren Bildungschipkarten,
Das zweite Beispiel. Sie haben einen Vertreter der pri-
auch die Bundeskanzlerin heute wieder. Wissen Sie, wie
vaten Krankenkassen in Ihre Grundsatzabteilung beru-
viele Bescheide das für die Jobcenter bedeutet?
fen. Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der an zwei
17 Millionen im Jahr; denn es gibt 1,7 Millionen Kinder.
Stellen interessant ist. Gutverdienende Angestellte muss-
Na, das wird ja lustig. Sie müssen die Anzahl der Be-
ten bisher mindestens drei Jahre in der gesetzlichen
schäftigten in den Jobcentern verdoppeln, und dann
Krankenkasse sein, bevor sie zu einer privaten Kranken-
müssen wir ungefähr doppelt so viele Sozialrichterinnen
kasse wechseln durften. Nun kommen Sie mit dem Ar-
und Sozialrichter einstellen. Wahnsinn!
gument „Freiheit“ und sagen: Das geht nicht; diese Per-
sonen sollen darüber frei entscheiden und schon nach Dann wollen Sie das Übergangsgeld ALG I zu
einem Jahr wechseln können. Das ist Ihre Argumenta- Hartz IV, also zu ALG II, streichen. Was heißt das?
tion. Nehmen wir eine Ingenieurin, die ganz gut verdient hat.
Wenn sie arbeitslos wird, bekommt sie ein Jahr lang Ar-
(Christian Lindner [FDP]: Die privaten Kranken- beitslosengeld, mit dem sie ihren Lebensstandard nicht
kassen sollen nicht ausgetrocknet werden!) halten kann, aber so einigermaßen über die Runden
– Passen Sie auf! kommt. Wir alle haben gesagt: Es geht nicht, dass sie
(B) dann gleich in Hartz IV fällt; da muss es doch wenigs- (D)
Nun passiert Folgendes: Bis jetzt dürfen die gesetzli- tens einen Übergang geben. Jetzt streichen Sie den Über-
chen Krankenkassen gegen einen Zusatzbeitrag zum gang und sagen: Einen Tag später soll sie arm sein, und
Beispiel eine zusätzliche Zahnversorgung, eine Aus- sie muss einfach sehen, wie sie hinkommt.
landsversicherung, eine Chefarztbehandlung sowie ein
Einbett- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus anbie- Dann streichen Sie die Rentenbeiträge für Hartz-IV-
ten. Da sagen Sie, die Freiheitsverfechter: Das sollen die Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Das be-
gesetzlichen Krankenkassen zukünftig nicht mehr anbie- deutet nicht nur, dass die Betroffenen geringere Renten
ten dürfen, sondern nur die privaten. Da verletzen Sie die beziehen, sondern das bedeutet auch, dass der gesetzli-
ganze Logik. Sie wollen ausschließlich, dass die privaten chen Rentenkasse jährlich 1,8 Milliarden Euro entzogen
Krankenversicherungen besser verdienen und die gesetz- werden. Wie wollen Sie das eigentlich erstatten?
lichen Krankenkassen geschwächt werden. Das ist alles, Darüber hinaus entscheiden Sie, dass der Heizkosten-
was dabei herauskommt. Tolle Lobbyarbeit! zuschlag für Wohngeldempfänger gestrichen wird.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Außerdem beschließen Sie – dazu hat sich auch der Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) desfinanzminister geäußert –: Insgesamt müssen die
Ausgaben für aktive und passive Leistungen für Hartz-IV-
Wir hatten nach der Finanzkrise eine Staatsschulden- Empfänger um 16 Milliarden Euro bis zum Jahre 2014
krise. Im Jahre 2010 beträgt die Neuverschuldung gekürzt werden. Wissen Sie, was das heißt, Frau Bun-
65 Milliarden Euro. deskanzlerin? Das heißt, dass die Maßnahmen für Bil-
dung, für Training etc. für Hartz-IV-Empfängerinnen
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das und Hartz-IV-Empfänger zusammengestrichen werden.
stimmt doch gar nicht!) Sie haben eben gesagt: keine Kürzung bei Bildung. Den-
Bei Ihrem ganzen Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, noch beschließen Sie die größte Kürzung bei Bildung für
beträgt der Anteil der Lasten für Arbeitslose und Gering- Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, das
verdienende 37 Prozent; 37 Prozent Ihres Entlastungs- heißt bei denjenigen, die sie am dringendsten benötigen.
vorschlags übernehmen Arbeitslose und Geringverdie- (Beifall bei der LINKEN)
nende. Was sagen Sie? Sie wollen die Bezugsdauer des
Elterngeldes von einem Jahr streichen. Die SPD wird Außerdem machen Sie den öffentlich geförderten Be-
sich erinnern: Sie hat in der Großen Koalition zuge- schäftigungssektor in Berlin und Brandenburg tot. Wa-
stimmt, die Bezugsdauer des Elterngeldes von zwei Jah- rum eigentlich? Was ist denn so schlimm daran, statt Ar-
ren auf ein Jahr zu reduzieren. Da sagt diese Regierung beitslosigkeit eine vernünftige Tätigkeit zu bezahlen, mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6051
Dr. Gregor Gysi
(A) der die Leute zufrieden sind und wirklich einmal Geld tens bei dieser. Dazu sagt er klar: Die Banken haben das (C)
verdienen? Ich verstehe es nicht. zu bezahlen. Den Mut dazu hat in diesem kleinen
Deutschland keiner der Regierenden. Das finde ich wirk-
(Beifall bei der LINKEN)
lich skandalös.
Nun sagen SPD und Grüne und auch Teile der Union,
das Ganze sei sozial nicht ausgewogen. Das stimmt. Aber, (Beifall bei der LINKEN)
lieber Herr Gabriel, das reicht doch nicht. Es geht nicht Nun gibt es eine weitere Zahl vom Deutschen Institut
darum, dass die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän- für Wirtschaftsforschung, die ebenfalls interessant ist.
ger etwas bezahlen und der Banker auch etwas bezahlt. Dort sagt man: 22 Prozent der Deutschen leben mit ei-
Es gilt das reine Verursacherprinzip. Diejenigen, die die nem Einkommen von unter 860 Euro monatlich, davon
Krise verursacht haben und die Nutznießer der Krise übrigens 31 Prozent im Osten. Ich sage das nur deshalb,
sind, sollen das bezahlen und keine Hartz-IV-Empfänge- weil keiner von uns, weder von den Linken noch von der
rin, kein Geringverdienender, keine Arbeitnehmerin, FDP, in der Lage ist, sich ein Leben mit 860 Euro Mo-
kein Arbeitnehmer. Das ist unser Standpunkt. natseinkommen vorzustellen. Das ist die Wahrheit. Hier
(Beifall bei der LINKEN) werden Dinge entschieden, bei denen wir alle selber nie-
mals in der Lage wären, sie zu leisten.
Oder Sie weisen mir nach – Herr Kauder, Sie werden
das ja können –, wie groß der Schuldanteil einer Hartz- (Beifall bei der LINKEN)
IV-Empfängerin oder ihres Kindes oder eines Geringver-
Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander.
dienenden an der Finanzkrise und damit an der Staats-
Jetzt verdient die Industrie, jetzt verdient die Wirtschaft.
verschuldung ist. Erklären Sie es mir. Der Schuldanteil
Deshalb sage ich: Wir brauchen nun endlich höhere
liegt bei null.
Löhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, so-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, falsch! dass die Binnenwirtschaft angekurbelt wird.
Der liegt nicht bei null, er ist null!)
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, Sie hätten die Ar-
Ziehen Sie die heran, die das Ganze verursacht haben, beitslosigkeit von 5 Millionen auf 3 Millionen gesenkt.
und nicht diejenigen, die damit nichts zu tun haben! Warum verschweigen Sie denn, dass wir nicht mehr,
(Beifall bei der LINKEN) sondern weniger Vollzeitbeschäftigte in sozialversiche-
rungspflichtigen Arbeitsverhältnissen haben? Zugenom-
In derselben Zeit hat das Geldvermögen in Deutsch- men hat die Anzahl der 400-Euro-Jobs, der 1,50-Euro-
land, das zunächst abgenommen hatte, wieder zugenom- Jobs und der statistischen Tricks. Das ist alles. Es gibt
(B) men. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung aber keinen wirklichen Abbau der Arbeitslosigkeit. Es (D)
– keine linke Einrichtung – hat festgestellt: Es gibt jetzt gibt keinen Grund für Sie, darauf stolz zu sein.
51 000 Vermögensmillionäre mehr als vor einem Jahr.
Es sind jetzt insgesamt 861 000. Nicht einen einzigen (Beifall bei der LINKEN)
Cent müssen sie für die Krise bezahlen, obwohl sie rei- Sie haben über 20 Jahre deutsche Einheit gespro-
cher geworden sind; vielmehr sollen die Hartz-IV-Emp- chen. Es ist unbestritten, dass seitdem eines ausgeschlos-
fängerinnen und -Empfänger das Ganze bezahlen. Das sen ist; das ist übrigens die größte Leistung, die am sel-
können Sie nicht vermitteln, weder in Stuttgart noch in tensten betont wird. Wir standen seit 1949 in der Gefahr,
Berlin. dass es einen Krieg zwischen beiden deutschen Staaten
(Beifall bei der LINKEN) gibt, mit verursacht von den Weltmächten. Anschließend
hätte es das deutsche Volk gar nicht mehr gegeben. Seit
Durch die Regierung von SPD und Grünen, durch die dem 3. Oktober 1990 ist dies ausgeschlossen. Das ist der
Regierung von Union und SPD und durch die Regierung größte Gewinn für alle an dieser deutschen Einheit.
von Union und FDP gehen dem Bund, den Ländern und
den Kommunen jährlich 30 Milliarden Euro Steuerein- (Beifall bei der LINKEN)
nahmen verloren. Deshalb sind die Kommunen so pleite.
Deshalb kann man dort nicht mehr regeln, wie das Kran- Ein Weiteres. Niemand wird bestreiten, dass die Men-
kenhaus, die Kindertagesstätte und vieles andere bezahlt schen aus der früheren DDR nun mehr Freiheit und De-
werden. mokratie haben.

Wir brauchen Steuergerechtigkeit. Dafür brauchen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
wir eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Ein- Sie haben aber auch mehr soziale Unsicherheit. Ich
kommensteuer. Dafür brauchen wir eine Millionärsteuer. würde jetzt gerne über die Fehler bei der Währungsunion
Die Einführung einer solchen Steuer wird inzwischen und vor allen Dingen bei der Deindustrialisierung des
sogar von Millionären vorgeschlagen – denen ist das Ostens sprechen; aber der Herr Bundestagspräsident
peinlich –; aber Sie verlangen sie natürlich nicht. Wir wird sagen, dass meine Redezeit gleich zu Ende ist.
brauchen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer bei großen
Erbschaften, eine Erhöhung der Körperschaftsteuer so-
wie die Einführung einer Bankenabgabe – einer richti- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gen Bankenabgabe – und der Finanztransaktionsteuer. Jedenfalls schaffen Sie das nicht in der einen zusätzli-
Wenn Sie mir schon nicht glauben, dann glauben Sie chen Minute, auf die wir uns großzügigerweise verstän-
doch einmal Obama, nicht bei allen Fragen, aber wenigs- digt haben.
6052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Birgit Homburger (FDP): (C)
Richtig. – Dann schaffe ich aber, Folgendes zu sagen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein weiterer Fehler bestand darin, dass die Eliten nicht Wenn man in diesen Tagen mit Freunden und Bekannten
vereinigt worden sind. Vor allem bestand ein Fehler da- im europäischen Ausland spricht, dann erfährt man, dass
rin, dass Sie sich den Osten nicht angesehen haben. sie sich über die negative Debatte, die in unserem Land
geführt wird, wundern; sie verstehen sie nicht. Die Wirt-
(Jörg van Essen [FDP]: Das stimmt doch gar schaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Reallöhne
nicht!) steigen, und die Entwicklung ist positiver als in den
Wenn Sie zehn Strukturen aus dem Osten als weiterhin meisten anderen europäischen Ländern. Deutschland hat
geeignet empfunden und für ganz Deutschland einge- allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen.
führt hätten, dann hätten die Frau in Passau, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Passau Die wirtschaftliche Entwicklung kommt nicht aus hei-
kennen Sie doch gar nicht!) terem Himmel. Sie hat viele Ursachen: innovative Un-
der Mann in Frankfurt am Main und der Mann in Kiel ternehmen, fleißige Arbeitnehmer, eine verantwortungs-
eine andere Erinnerung an die deutsche Einheit, nämlich volle Lohnpolitik.
dass durch die deutsche Einheit auch ihre oder seine Le- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bensqualität in diesen zehn Punkten erhöht worden ist. NEN]: Man könnte auch sagen: trotz der Re-
Das haben Sie keinem Westdeutschen gegönnt; außer- gierung!)
dem haben Sie das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen
beschädigt. Das ist bis heute sehr traurig. Dadurch haben Es gab gute Rahmenbedingungen, die die Politik
wir nach wie vor große Probleme. geschaffen hat. Durch die Entlastung der Familien zu
Beginn dieses Jahres, durch den Abbau von Wachstums-
Jetzt sage ich Ihnen eines: Zur Einheit gehört endlich bremsen bei der Unternehmen- und Erbschaftsteuer,
die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung sowie durch eine Verlängerung der Kurzarbeiterregelung und
der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit und die gleiche einen Zuschnitt auf den Mittelstand und durch die Rück-
Arbeitszeit. nahme der Erhöhung der Steuern auf Biokraftstoffe ha-
(Beifall bei der LINKEN) ben wir für vernünftige Rahmenbedingungen gesorgt.
Wir haben mit kluger Politik dem Aufschwung den Weg
Wer das nicht will, will auch keine Einheit. geebnet. Wir werden mit kluger Politik die Weichen für
die Zukunft stellen.
(B) Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie kommen aus Ost- (D)
deutschland. Wenn ich mich frage, was Sie als Kanzlerin (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
für die Vertiefung der deutschen Einheit getan haben,
dann komme ich zu dem Ergebnis: gar nichts. Wir wollen den Wohlstand sichern. Das bedeutet,
dass wir die Währung stabilisieren müssen. In diesem
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was haben Zusammenhang werden wir versuchen, mit viel Auf-
Sie denn getan?) wand einen Fehler, den Rot-Grün unter der Regierung
Schröder/Fischer seinerzeit auf europäischer Ebene zu
Sie behaupten das Gegenteil und glauben es mir nicht. verantworten hatte, zu korrigieren. Im Jahre 2004 wurde
von Deutschland aus kurzsichtigen parteipolitischen In-
Präsident Dr. Norbert Lammert: teressen heraus der Stabilitätspakt aufgeweicht. Das war
Herr Kollege. ein Fehler, und dieser Fehler muss jetzt korrigiert wer-
den.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Letzter Satz. – Nicht Sie, sondern meine Partei steht
Die Euro-Krise hat uns erneut bestätigt, dass es keine
für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und
Alternative zur Konsolidierung der Haushalte gibt.
– endlich – für eine wirkliche deutsche Einheit.
Kein Spekulant der Welt hätte die Chance gehabt, dem
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- Euro etwas anzuhaben, wenn die Haushalte der Euro-
ordneten der CDU/CSU und der FDP) Staaten in Ordnung gewesen wären. Deshalb haben wir
der Haushaltssanierung oberste Priorität eingeräumt. Wir
– Ich wollte, dass Sie sich einmal aufregen können. Jetzt kämpfen für einen stabilen Euro. Das bedeutet, dass wir
können Sie es. die Haushalte konsolidieren wollen. Das bedeutet, dass
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN) wir aus Solidarität für drei Jahre eine Zweckgesellschaft
aufgebaut haben, um den Euro zu stützen. Diesen Zeit-
raum wollen wir nicht verlängern. Das Problem muss
Präsident Dr. Norbert Lammert: durch solides Wirtschaften in allen Euro-Staaten gelöst
Das Wort hat nun die Kollegin Birgit Homburger für werden. Wir wollen keine Fortsetzung dieser Zweckge-
die FDP-Fraktion. sellschaft. Wir wollen Haushaltskonsolidierung statt
Transferunion. Dafür werden wir uns einsetzen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6053
Birgit Homburger
(A) Wir beenden die Schuldenpolitik der letzten Jahr- kommen, möglichst früh zu unterstützen. Wir wollen (C)
zehnte. Wir werden – im Vergleich zu der Planung von den Kindern die Möglichkeit bieten, in der Grundschule
Herrn Steinbrück – bis 2014 80 Milliarden Euro einspa- mitzukommen und die Chancen unseres Bildungssys-
ren, um die Neuverschuldung abzubauen. Wir wollen, tems für einen sozialen Aufstieg zu nutzen.
dass der Staat sich so verhält wie jede Familie. Sie hat
ein Einkommen, und mit diesem Einkommen muss sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auskommen. Deshalb gilt für uns: Der Staat muss mit der CDU/CSU)
dem auskommen, was er hat, und genau so werden wir Wir werden bei der frühkindlichen Bildung Impulse
den Haushalt gestalten. setzen, die mit denen zu vergleichen sind, die wir in ei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nem anderen Bereich gesetzt haben – sie werden zum
Wintersemester dieses Jahres greifen –: Wir haben in
Der vorliegende Haushalt ist Ausdruck von Hand- Deutschland endlich ein Stipendienprogramm einge-
lungsfähigkeit und von Gestaltungswillen. Erstmals seit führt, das es ermöglicht, junge Menschen anhand ihrer
Jahren wird bei den Ausgaben gespart und werden nicht Leistung zu fördern. Damit schließen wir endlich zu den
wieder großflächig Steuern erhöht. Das hätte es ohne die internationalen Standards auf. Auch das ist eine Leistung
FDP nicht gegeben. dieser Koalition.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Der Beginn der schwarz-gelben Regierung, der christ-
lich-liberalen Koalition, markiert einen Politikwechsel Natürlich ist dieser Haushalt sozial ausgewogen. Das
in Deutschland. Niveau der sozialen Sicherung liegt immer noch über
dem Niveau zur Zeit der rot-grünen Regierung. Das
(Ulrich Kelber [SPD]: Oh ja!) kann man mit den Zahlen dieses Haushalts beweisen. Ich
Wir haben zu Beginn dieses Jahres mit einer Entlastung will Ihnen das an qualitativen Merkmalen deutlich ma-
der Familien begonnen. chen: Wir haben das Schonvermögen für Hartz-IV-Emp-
fänger verdreifacht, weil wir der Meinung waren, dass
(Ulrich Kelber [SPD]: Die haben nicht Sie diejenigen, die ihr Leben lang gearbeitet und gespart ha-
beschlossen!) ben, aber am Ende ihres Berufslebens in eine schwierige
Sie haben in Ihrer Regierungszeit mit der Erhöhung der Situation kamen, nicht genauso behandelt werden dürfen
Mehrwertsteuer und 20 weiterer Steuern begonnen. Sie wie diejenigen, die nichts gespart haben.
haben die Bürgerinnen und Bürger belastet, wir haben (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) sie entlastet. Das zeigt sich daran, dass in diesem Jahr (D)
der sogenannte Steuerzahlertag, also der Tag, von dem Nach dem Grundsatz „Leistung muss sich lohnen“
an die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr für den Staat, haben wir zum Sommer dieses Jahres durchgesetzt, dass
sondern nur noch für sich selbst arbeiten, zehn Tage frü- Jugendliche aus Hartz-IV-Familien, die einen Ferienjob
her war als im letzten Jahr. machen, ihr Geld behalten dürfen und dass die Leistun-
gen für die Eltern damit nicht verrechnet werden. Auch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das ist eine soziale Leistung, die wir erbracht haben.
der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dieser Haushalt zeugt von Gestaltungswillen. Herr der CDU/CSU)
Gabriel, Sie haben hier vorhin Krokodilstränen über die
Bildungsausgaben vergossen. Elf Jahre haben Sie re- Im Rahmen der Hartz-IV-Reform werden wir die
giert. Elf Jahre hatten Sie Zeit, etwas zu tun. Elf Jahre Leistungen für die Bildung von Kindern verbessern.
hat die Bildungspolitik bei Ihnen ein Schattendasein ge- Zum ersten Mal überhaupt wird in einem Hartz-IV-Satz
fristet. Wir haben entschieden, dass wir in diesem Haus- die Bildung von Kindern als besonderes Bedürfnis der
halt überall sparen, nur an einer Stelle nicht: Im Bereich Kinder ausgewiesen und finanziert werden. Auch das
Bildung und Forschung werden wir die Ausgaben bis bringt diese Koalition auf den Weg. Sie haben das ver-
2013 um 12 Milliarden Euro erhöhen. Das ist eine Tatsa- schlafen.
che, und das ist ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Politik, die Sie früher betrieben haben. der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diese Koalition steht für uneingeschränkte Solidari-
der CDU/CSU) tät mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wer Hilfe
Wir sind der Meinung: Bildung ist die soziale Frage braucht, kann sich auf die Solidarität dieser Gesellschaft
unserer Zeit. Deshalb werden wir uns bei diesem Thema verlassen. Aber wir sagen auch: Wer diese Hilfe erwirt-
mit aller Macht engagieren. Wir wollen, dass jedes Kind schaftet, muss sich auch auf die Solidarität der Gesell-
in diesem Land unabhängig von seiner Herkunft eine schaft und der Politik verlassen können.
Chance auf sozialen Aufstieg hat. Der Schlüssel dazu ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Bildung. Deshalb wollen wir einen Teil des Geldes, der CDU/CSU)
das wir zusätzlich investieren, für eine Exzellenzinitia-
tive „frühkindliche Bildung“ einsetzen, um diejenigen, Im Gegensatz dazu sieht die SPD die Mitte als Melk-
die von zu Hause nicht die nötige Rückendeckung be- kuh der Nation. Sie schlägt Steuererhöhungen in großem
6054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Birgit Homburger
(A) Umfang vor. Wir machen eine Politik für die Mitte der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
Gesellschaft durch Steuersenkungen für die Familien, der CDU/CSU)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben vor, in diesem Haushalt die Nettokredit-
NEN]: Und Abgabenerhöhungen!) aufnahme deutlich abzusenken. Wir werden sie im Jahr
2010 um mindestens 25 Prozent senken. Jetzt schauen
aber auch dadurch, dass wir in der Wirtschaftspolitik wir uns einmal im Vergleich an, was in Nordrhein-West-
endlich neue Akzente gesetzt haben. falen passiert, wo es jetzt eine rot-grüne Minderheitsre-
Das zeigt sich an einer Stelle. gierung gibt. Sie wird unter denselben wirtschaftlichen
Bedingungen in demselben Zeitraum die Neuverschul-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung Nordrhein-Westfalens um 35 Prozent erhöhen.
NEN]: An der Schlafpille Brüderle!) Das, was man dort tut, ist unverantwortlich und rück-
sichtslos. Eine solche Politik wird es jedenfalls mit uns
Wir haben immer wieder gesagt: Es kann nicht sein, dass auf Bundesebene nicht geben.
zu den großen Unternehmen die Bundeskanzlerin
kommt und zu den kleinen Unternehmen der Insolvenz- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
verwalter. Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir Kommen wir einmal zum Energiekonzept, das Sie
bei Opel konsequent sind. Sie hätten einem liquiden hier so angegriffen haben.
Konzern gern noch das Geld der Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler persönlich vorbeigebracht. (Nicolette Kressl [SPD]: Was für ein Kon-
zept?)
(Zustimmung bei Abgeordneten der FDP)
Wir halten Wort und setzen das um, was wir im Wahl-
Wir haben es für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler kampf gesagt haben.
gerettet und in den Haushalt zurückgeholt. Das ist die
Leistung dieser Koalition und des Wirtschaftsministers (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Rainer Brüderle. NEN]: Wer mich finanziert, den bedien’ ich! –
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Klientelpolitik!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltver-
träglichkeit, das sind die Leitlinien unserer Energiepoli-
Diese Politik ist klar, verlässlich und erfolgreich für tik.
die Menschen. Herr Gabriel hat hier erklärt, Schwarz-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen
Gelb probiere mal dies, mal jenes. Das sagt der Richtige.
(B) Es gibt kaum jemanden, der so der Beliebigkeit frönt wie Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wes (D)
Brot ich ess’, des Lied ich sing’! Das ist doch
Sie, Herr Gabriel.
ganz einfach!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schauen wir noch einmal, welche Ziele wir uns ge-
der CDU/CSU) setzt haben. Das Energiekonzept der Bundesregierung
Sie wechseln Ihre Positionen wie ein Fähnchen im Wind. hat das Ziel, bis zum Jahr 2020 die Treibhausgasemissio-
Sie haben in Ihrer Regierungszeit den Spitzensteuersatz nen in Deutschland um 40 Prozent und bis zum Jahr
geändert; jetzt wollen Sie ihn wieder erhöhen. Sie waren 2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Was macht diese
zwar gegen eine Mehrwertsteuererhöhung, haben sie großartige rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen?
aber dennoch beschlossen. Sie haben die Rente mit 67 (Ulrich Kelber [SPD]: Vorsicht!)
auf den Weg gebracht; jetzt sind Sie plötzlich dagegen.
Zu dem wichtigen Infrastrukturprojekt „Stuttgart 21“ hat – Ja, gerade Sie, Herr Kelber. –
die Kanzlerin schon das Nötige gesagt. (Ulrich Kelber [SPD]: Vorsicht!)
(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- Die, die immer behaupten, sie hätten die Umweltpolitik
NIS 90/DIE GRÜNEN]) gepachtet, haben festgelegt, dass sie bis 2020 um
Sie verabschieden sich von allen Positionen, die Sie ir- 25 Prozent reduzieren wollen. Das ist deutlich weniger,
gendwann einmal gehabt haben. als wir auf Bundesebene machen. Die nordrhein-westfä-
lische Landesregierung bleibt sogar hinter den Zielen der
Von heute an sind es noch 100 Tage bis Weihnachten. alten Regierung zurück. Ich würde mich an Ihrer Stelle
schämen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Auf die Weihnachts-
pause hoffen Sie schon! – Jürgen Trittin (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihnen schicke
ich noch Knecht Ruprecht!) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Allerdings funktioniert eine Politik für den Wirtschafts- Frau Kollegin Homburger, darf der Kollege Kelber
standort Deutschland nicht nach dem Motto: Wünsch dir Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
was. Es geht nur nach dem Motto, dass man die Realität
anerkennt und entsprechend handelt. Das tut diese Ko- Birgit Homburger (FDP):
alition. Ja.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6055

(A) Ulrich Kelber (SPD): Nein, wir schöpfen Gewinne ab. Diese werden in einen (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Wenn der Kollege Ih- Fonds überführt. Selbstverständlich entscheidet die Poli-
rer Fraktion, der gestern die gleiche Behauptung aufge- tik darüber, was mit diesem Geld gemacht wird.
stellt hat, Ihnen eine Zwischenmeldung gegeben hätte,
hätten Sie das hier nicht sagen können. Sie haben be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
hauptet, die alte schwarz-gelbe Regierung im NRW habe der CDU/CSU)
höhere Klimaschutzziele verfolgt als die neue rot-grüne Wir haben vor, eines der größten Probleme, die wir
Regierung. Ist Ihnen bekannt, dass im Umweltbericht haben, anzugehen, nämlich die Frage der Speichertech-
dieser schwarz-gelben Regierung, veröffentlicht durch nologie, die Frage der Netzintegration der erneuerbaren
die Landesregierung NRW, festgehalten wurde, dass un- Energien. Das ist die Herausforderung, vor der dieses
ter der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein- Land steht.
Westfalen der CO2-Ausstoß nicht gesunken, sondern von
280 Millionen auf 290 Millionen Tonnen CO2 im Jahr Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien
angestiegen ist? erreichen. Das erreichen wir nur, wenn wir erneuerbare
Energien letztlich grundlastfähig machen. Deshalb wer-
den wir genau in diesen Bereich investieren und genau
Birgit Homburger (FDP):
das tun, was wir zuvor gesagt haben.
Herr Kollege Kelber, mir ist bekannt, dass es genü-
gend Versuche gegeben hat. Herr Gabriel, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden
mit den Energieversorgern reden,
(Thomas Oppermann [SPD]: Versuche! Das
klingt schon ganz anders!) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wenn Sie nur reden würden, wäre es
Im Rahmen des Energiekonzepts gab es genügend Ver-
nicht so schlimm!)
suche, zukunftsweisende Wege einzuschlagen. Diese
sind immer wieder behindert worden. Das hat auch et- dann muss ich Ihnen sagen: Wir setzen das um, was wir
was mit Protest gegen Projekte zu tun, beispielsweise versprochen haben. Von uns hat niemand mit Herrn
gegen Kraftwerksneubau oder Netzausbau. Das hängt al- Großmann Rotwein getrunken und Zigarre geraucht.
les damit zusammen. Das war Ihr Amtsvorgänger Schröder, aber niemand von
dieser Koalition.
Ich sage Ihnen: Wir haben hier ein klares Konzept mit
deutlich höheren Zielen, als Sie sie anstreben. Wir wer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
den den Beweis erbringen, dass wir diese Ziele auch er- Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
reichen werden. GRÜNEN]: Billig! – Jürgen Trittin [BÜND-
(B) (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, Herr
der CDU/CSU) Großmann ist auf Wasser umgestiegen! –
Sigmar Gabriel [SPD]: Ich kann mir Frau
Wir haben erstmals ein konsistentes Gesamtkonzept. Merkel mit Zigarre auch nicht vorstellen!)
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien er-
reichen. Deshalb ist für uns die Kernenergie eine Brü- Wir erhöhen jetzt die Sicherheitsanforderungen für
ckentechnologie. Deshalb werden wir die zusätzlichen Kernkraftwerke. Auch das ist wahr. Kernkraftwerke in
Gewinne in erheblichem Maße abschöpfen, und zwar zu diesem Land werden so sicher sein wie nie zuvor. Auch
58 Prozent. Weit über die Hälfte der zusätzlichen Ge- hier gilt: Rot-Grün hat seinerzeit nichts dafür getan. Herr
winne werden abgeschöpft, unter anderem durch die Trittin, Sie waren damals Umweltminister. Sie haben
Brennelementesteuer. seinerzeit den Vertrag mit den Energieversorgern ausge-
handelt. Sie waren es, der ausdrücklich auf höhere Si-
Nun möchte ich auf Ihren glorreichen Tipp zu spre- cherheitsstandards verzichtet hat. Um Ihre ideologischen
chen kommen, Herr Gabriel. Sie haben vorgeschlagen, Ziele durchzusetzen, haben Sie damals bei den Sicher-
das Aufkommen der Brennelementesteuer für etwas heitsstandards Zugeständnisse gemacht. Meine sehr ver-
anderes zu verwenden. Ich stelle mir die Frage: Warum ehrten Damen und Herren, Rot-Grün hat einen Sicher-
haben Sie eigentlich in Ihrer Regierungszeit keine heitsrabatt gegeben. Das ist ein unanständiger Deal,
Brennelementesteuer eingeführt? Ich kann Ihnen die nicht das, was diese Koalition tut.
Antwort geben, Herr Gabriel: Sie haben keine Brennele-
mentesteuer eingeführt, weil Herr Trittin den Energie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
versorgungsunternehmen in einem Vertrag schriftlich Sie werfen uns vor, dass wir in der Frage des Endla-
garantiert hat, dass das nicht geschieht. Das ist die Wahr- gers keine Antwort hätten. Auch das ist ganz bemerkens-
heit in diesem Land. wert. Wir waren immer dafür, dass ein Endlager erkun-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten det wird.
der CDU/CSU) (Sigmar Gabriel [SPD]: Vor allen Dingen in
Wir wollen einen guten Teil dieses Steueraufkom- Baden-Württemberg!)
mens in einen Fonds investieren. Es wird einen Fonds Das hatte einen langen Vorlauf, der dazu geführt hat,
zur Förderung erneuerbarer Energien geben. Es ist nicht
so, wie Sie zuvor behauptet haben, dass die Energiever- (Sigmar Gabriel [SPD]: Dass Sie das in Ba-
sorgungsunternehmen die Förderung übernehmen sollen. den-Württemberg nicht wollen, oder?)
6056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Birgit Homburger
(A) dass man in Gorleben erkunden will. Sie sind doch dieje- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
nigen, die seinerzeit, in Ihrer Regierungszeit – natürlich der CDU/CSU)
war es wieder Herr Trittin –, ein Moratorium verhängt
Wir werden die Hinzuverdienstgrenzen ändern. Wir
haben. Sie waren nicht bereit, sich der Verantwortung
werden diese Regelung verbessern, weil wir Anreize
und der unangenehmen Frage der Endlagerung zu stel-
schaffen möchten, dass diejenigen, die derzeit Hartz IV
len. Sie haben sich verweigert.
beziehen, aus eigener Anstrengung wieder in eine regu-
(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Der Trittin ver- läre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kom-
weigert sich doch immer!) men. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Wir wissen, dass es
nicht einfach wird, dieses Ziel zu erreichen. Aber wir
Sie haben ein Moratorium verhängt. Wir werden dieses stellen uns dieser Aufgabe, weil wir den Menschen in
Moratorium aufheben und dieses Endlager verantwor- diesem Land mehr Chancen eröffnen wollen. Daran wer-
tungsvoll und ergebnisoffen zu Ende erkunden. den wir arbeiten, gerade für diejenigen, die es in diesem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Land am nötigsten haben.
der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN]: Erkunden? Bauen! Zu Ende
bauen!) Als letzten großen Bereich möchte ich die Umstruk-
turierung der Bundeswehr ansprechen. Wir werden die
Wie bei der Haushaltssanierung und beim Energie- Bundeswehr auf der Grundlage unserer sicherheitspoliti-
konzept werden wir auch in anderen Bereichen Hand- schen Interessen umstrukturieren. Wir werden sicherstel-
lungsfähigkeit beweisen. Durch die Gesundheitsreform len, dass wir unseren Bündnisverpflichtungen nachkom-
wollen wir mehr Wettbewerb und mehr Solidarität errei- men können. Der Umbau der Bundeswehr ist von
chen. Das werden wir auch bei Hartz IV tun. Hier gibt es zentraler Bedeutung, weil sie zukunftsfähig gemacht
drei große Bereiche, in denen wir im Herbst dieses Jah- werden muss. Deshalb war es richtig, dass die Koalition
res Entscheidungen treffen werden. Kinder aus Hartz- in diesem Jahr bereits beschlossen hat, die Wehrdienst-
IV-Familien werden zum ersten Mal Bildungsleistungen zeit zu verkürzen. Dies hat dazu geführt, dass ein Nach-
bekommen. Wir werden das so organisieren, dass diese denkprozess eingesetzt hat.
Bildungsleistungen treffsicher bei den Kindern ankom-
men und nicht etwa irgendwo anders landen. Auch das (Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ist ein Ziel, das wir haben. Der hätte vorher einsetzen müssen!)
Jetzt sind wir in der Situation, dass erstmalig über
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
eine tatsächliche Umstrukturierung diskutiert werden
der CDU/CSU)
(B) kann, und zwar dahin gehend, dass wir die Bundeswehr (D)
Wir werden außerdem über die Hartz-IV-Sätze für Er- zu einer Freiwilligenarmee machen und die Wehrpflicht
wachsene sprechen müssen. Herr Gabriel, hören Sie end- aussetzen. Sie ist sicherheitspolitisch nicht mehr not-
lich auf mit diesem Ammenmärchen: Niemand aus unse- wendig, und sie ist vor allen Dingen in keiner Weise ge-
rer Koalition hat gefordert, die Hartz-Sätze zu kürzen. recht gegenüber den jungen Männern, die derzeit davon
betroffen sind. Die FDP-Bundestagsfraktion freut sich,
(Sigmar Gabriel [SPD]: Doch!) dass es in dieser Frage bei unserem Koalitionspartner
– Nein. Wir haben das nicht gefordert. Das hat auch der Bewegung gibt und dass es erstmals in der Geschichte
Vizekanzler nicht gefordert. unserer Republik die Chance gibt, diese Änderung vor-
zunehmen.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Da finden wir aber
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schöne Zitate! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN]: Wer ist eigentlich der Vize-
kanzler?) Als Koalition tragen wir Verantwortung für Deutsch-
land. Mit dem Haushalt, der Finanzplanung und unserer
Das, was Sie sagen, ist völliger Unsinn. politischen Agenda werden wir dieser Verantwortung
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) gerecht. Wir wollen unseren Kindern keine Schulden-
berge hinterlassen, sondern Freiräume für eigene Ent-
Orientieren Sie sich bitte an der Realität. Es geht hier scheidungen; denn auf Schuldenbergen können Kinder
nicht um eine Kürzung der Hartz-IV-Sätze, sondern es nicht spielen. Das ist eine verantwortungsvolle Politik
geht darum, den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts für die nächsten Generationen.
zu erfüllen.
Ich kann Sie nur auffordern: Beteiligen Sie sich da-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Ach! Westerwelles ran! Machen Sie Vorschläge! Bringen Sie Vorschläge
Sprüche waren doch noch vorher! – Elke ein, wie dieser Haushalt weiter saniert werden kann!
Ferner [SPD]: Das ist aber eine starke Leis-
tung!) Wir sind offen für jeden Vorschlag, der von Ihnen
kommt. Beherzigen Sie dabei aber, was für Millionen
Es hat deutlich gemacht, dass die Regelsätze nicht evi- von Bürgern in diesem Land gilt: auskommen mit dem,
dent unzureichend sind. Wir sind aber gehalten, transpa- was man hat. Das ist der Grundsatz, den zu verwirkli-
rent zu machen, was in sie hineingerechnet wird. Genau chen wir uns vorgenommen haben, und dadurch werden
diesem Auftrag werden wir nachkommen. wir mehr Chancen für mehr Menschen in diesem Land
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6057
Birgit Homburger
(A) erarbeiten. Mehr Chancen auf Arbeit, auf Teilhabe und (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: In den ersten (C)
auf Bildung: Das ist das Ziel dieser Koalition. Das haben zwölf Monaten ist die Krise bekämpft worden! –
wir versprochen, und jetzt wird geliefert. Gegenruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Krise in
Vielen Dank. der Koalition!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Dem Eindruck, dass Sie die Krisen aussitzen wollten,
wollen Sie heute auch entgegentreten. Bei der Griechen-
Präsident Dr. Norbert Lammert: land-Krise musste Europa diese Kanzlerin aber zum Ja-
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die gen tragen. Die Führungsrolle in Europa hat diese Kanz-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. lerin verspielt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD – Hermann Gröhe [CDU/
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines, CSU]: Das glaubt in Europa keiner!)
Frau Homburger, werden wir Ihnen nie mehr durchge-
Schauen wir uns die ersten Versuche an:
hen lassen,
Der Klassenprimus im Kabinett Merkel, Herr zu
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?) Guttenberg, meldet sich und sagt, er habe eine Feststel-
nämlich dass Sie behaupten, Sie würden nicht an der Bil- lung gemacht. Diese liegt ungefähr auf der Ebene der
dung sparen. Feststellung des Kindes in Andersens Des Kaisers neue
Kleider. Es stellt nämlich fest: Der Kaiser ist nackt. –
(Joachim Poß [SPD]: Ja!) Herrn Karl-Theodor zu Guttenberg hat nach 20 Jahren
Wer Anfang dieses Jahres über das Gesetz für Hoteliers deutscher Einheit die Erkenntnis ereilt: Deutschland ist
den Ländern 2,8 Milliarden Euro weggenommen hat, der von Freunden umzingelt.
hat bei der Bildung gekürzt; denn wo sollen die Länder (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kürzen, wenn nicht in ihren Haushalten? NEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir brauchen diese Bundeswehr als Territorialverteidi-
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Hans- gungsarmee nicht mehr.
Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist so
ein Quatsch, Herr Trittin! Sagen Sie aus- (Jörg van Essen [FDP]: Das haben Sie anders
nahmsweise einmal die Wahrheit! Unerträg- gesehen!)
(B) lich!) (D)
Jetzt ist die spannende Frage: Was folgt daraus? Da-
raus folgt genau das, was viele Menschen im Lande an
Frau Merkel, in Ihrem Urlaub waren Sie irgendwo in
der Politik abstößt, nämlich dass man aus gewonnenen
den Dolomiten. Dort ist es schön. Wenn morgens etwas
Erkenntnissen keine Konsequenzen zieht. Statt die
kräht, dann ist es der Hahn und nicht Guido Westerwelle.
Wehrpflicht abzuschaffen und die Bundeswehr konse-
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- quent umzubauen, wird die Wehrpflicht nur ausgesetzt,
SES 90/DIE GRÜNEN) weil diese Koalition nicht in der Lage ist, sich auf die
Realität zu einigen. Das verstehen Sie unter Regieren;
Trifft man auf schwerverständliche Einheimische, dann aber dadurch wird die Politikverdrossenheit erhöht.
heißen sie Reinhold Messner und nicht Horst Seehofer.
Statt Gurkentruppen und Wildsäuen gibt es Steinpilze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Gämsen. Irgendwo dort zwischen Ortler und Late- Nehmen wir ein anderes Kabinettsmitglied. Das ist
mar müssen Sie beschlossen haben, ziemlich uncharmant.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Er war auch (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
schon da!) GRÜNEN]: Wer?)
endlich Ihrem Wählerauftrag nachkommen und – zwölf – Der Herr Rösler.
Monate nach der letzten Bundestagswahl – regieren zu
wollen. Das haben Sie heute hier zum Ausdruck zu brin- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen versucht. NEN]: Ja! Unhöflich!)

Ist das aber eigentlich auch in Ihrem Kabinett, in Ihrer Er hat die Kanzlerin mit einer Barbiepuppe verglichen.
Mannschaft, angekommen und verstanden worden? Das gehört sich nicht.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber die Frage ist: Was versteht Herr Rösler unter Re-
Nein!) gieren? Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern:
Wir haben in Deutschland ein Problem, nämlich zu hohe
Was versteht diese Bundesregierung und was versteht Arzneimittelpreise. Wir müssen 32,4 Milliarden Euro
diese Koalition unter Regieren? Das ist doch die span- ausgeben; das sind 5 Milliarden Euro mehr als im Vor-
nende Frage, wenn man festgestellt hat: Zwölf Monate jahr. Nur in Deutschland, Dänemark und Malta kann die
lang ist nicht regiert worden, und jetzt versucht man, zu Pharmaindustrie die Preise noch selbst festsetzen, was
regieren. dazu führt, dass Medikamente in Deutschland bis zu
6058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Jürgen Trittin
(A) 500 Prozent teurer sind als im Rest Europas. Dem muss Die gleiche FDP, die sich von der privaten Kranken- (C)
und soll begegnet werden. versicherung spezielle Haustarife liefern lässt, schiebt
jetzt 1 Milliarde Euro in die privaten Krankenkassen.
Was macht Herr Rösler? Als Erstes feuert er denjeni- Das ist bezahlte Lobbypolitik zum eigenen und teilweise
gen, der für eine unabhängige Kontrolle des Zusatznut- ganz persönlichen Vorteil. Das verstehen Sie unter Re-
zens von Medikamenten verantwortlich ist. gieren, meine Damen und Herren.
(Jörg van Essen [FDP]: Gott sei Dank! Dafür (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gab es auch absolut gute Gründe!) und bei der SPD)
Er war der Pharmaindustrie schon immer ein Dorn im Sie haben gesagt, der Haushalt sei auch ein Stück Ge-
Auge. staltung für die Zukunft. Ja, wo gestalten Sie in diesem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Haushalt Zukunft?

Als Nächstes wird über die Frage gestritten: Wer ent- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Lesen Sie halt
scheidet künftig über den Nutzen? Jetzt gucken wir uns einmal!)
an, wie regiert wird. Da machen Sie etwas ganz Moder- Sie sparen bei denjenigen, die sowieso nichts haben. Ge-
nes: ringverdienern – nicht nur Hartz-IV-Empfängern, die ar-
beitslos sind, sondern auch denjenigen, die so wenig ver-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
dienen, dass wir ihnen helfen müssen – streichen Sie das
GRÜNEN]: Outsourcen!)
Elterngeld; so viel zum Thema Lohnersatzleistungen.
Outsourcing. Sie lassen Ihren Gesetzentwurf vom Ver- Sie sagen in dieser Frage nicht die Wahrheit. Sie nehmen
band Forschender Arzneimittelhersteller schreiben. es von denjenigen, die am wenigsten haben, und lassen
diejenigen, die es im Überfluss haben, schön in Ruhe.
(Ulrike Flach [FDP]: Sie wissen doch, dass das
nicht stimmt, Herr Trittin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dann beginnt das eigentliche Regieren: Mit der Maus
wird der Text markiert, ausgeschnitten und in das Ge- Sie kürzen beim Übergangsgeld. Sie kürzen die Renten-
setzblatt kopiert. zuschüsse auf Kosten der Kommunen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Frau Merkel, Sie haben gesagt, das mit den Eingliede-
rungshilfen sei nicht so schlimm, weil wir weniger Arbeits-
Dann kommt die geistige Eigenleistung des Ministers lose hätten. Sie sollten sich das einmal genau ansehen: Die
(B) dazu: Er fügt eine Apposition ein, die lautet: ohne Zu- Zahl der Langzeitarbeitslosen, die Zahl derjenigen, die (D)
stimmung des Bundesrates. – Das hatten die Pharmalob- Arbeitslosengeld II beziehen, ist nicht gesunken.
byisten dummerweise vergessen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch! – Volker
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Kauder [CDU/CSU]: Natürlich!)
Meine Damen und Herren, jeder Studierende, der bei Das sind aber diejenigen, die am dringendsten auf Ein-
so etwas erwischt wird, fliegt durch die Prüfung. Aber gliederungshilfe angewiesen sind.
Sie versuchen uns zu erklären, das sei Regierungshan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
deln! sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN KEN)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wenn Sie sich das nächste Mal aufschreiben lassen,
LINKEN) mehr Deutsche sollten in der Pflege beschäftigt werden,
Frau Merkel, Sie haben gesagt, Sie wollten in Deutsch- liebe Frau Merkel, dann sollten Sie bedenken, dass Sie
land keine Zweiklassenmedizin. Die Wahrheit ist: Wir ha- es sind, die in diesem Jahr die dreijährige Ausbildung im
ben eine Zweiklassenmedizin. Fragen Sie doch einmal Bereich der Pflege für Langzeitarbeitslose auslaufen
die gesetzlich Versicherten, wann sie einen Termin be- lässt. Sie produzieren gerade den nächsten Pflegenot-
kommen, stand mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik. So sieht die Wirk-
lichkeit aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
KEN) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
und fragen Sie die FDP-Mitglieder, die zu Vorzugstari-
fen in der privaten Krankenkasse versichert sind, wann Ganz anders ist es, wenn sich andere von Maßnahmen
sie ihre Termine bekommen. Das ist die Wirklichkeit in Betroffene melden. Sie wollten Mitnahmeeffekte im Be-
diesem Lande. reich der Ökosteuerausnahmen endlich abräumen. Es
gibt einen Brief von Herrn Hambrecht. Zudem gibt es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eine Entscheidung, die die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
bei der SPD und der LINKEN – Renate Künast tion auf ihrer Klausur getroffen hat, nämlich die Rück-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorzugsta- nahme dieses Vorschlages des Finanzministers. Da reicht
rife!) ein Brief von Herrn Hambrecht an Herrn Fuchs aus, und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6059
Jürgen Trittin
(A) die CDU spurt. Genau das verstehen wir unter unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Feststellung, hier werde Klientelpolitik betrieben. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU]: Unerhört, was Sie hier erzählen!)
sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker
Kauder [CDU/CSU]: Woher haben Sie denn Wenn wir über Integration reden, dann muss ich die
diese Erkenntnisse? – Dr. Hans-Peter Friedrich ehemalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU daran er-
[Hof] [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) innern, dass es ihre Fraktion unter ihrer Führung war, die
dem Zuwanderungsgesetz mit den verbindlichen Sprach-
Sie haben ein Riesenfeld für Einsparungen. Ihr eige- kursen, die wir auf den Weg gebracht haben, nicht zuge-
nes Umweltbundesamt hat Ihnen 48 Milliarden Euro stimmt und es in ein elendes Vermittlungsverfahren im
aufgelistet, die Sie an ökologisch schädlichen Subven- Bundesrat geschickt hat.
tionen einsparen könnten. Sie trauen sich nicht einmal,
Mitnahmeeffekte abzuräumen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Hinzu kommen Buchungstricks zuhauf. Wo wollen
Sie eigentlich die Globale Minderausgabe in Höhe von Das war Ihre Politik. Sie haben bei der Integration ver-
5,6 Milliarden Euro hernehmen? Vorgesehen ist auch ein sagt. Zeigen Sie dabei nicht auf andere in diesem Hause!
Schattenhaushalt: Künftig soll sich die Bundesagentur (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
für Arbeit verschulden dürfen. Was hat das mit Genera- CSU]: Das ist doch schon lächerlich! –
tionengerechtigkeit zu tun? Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wer hat denn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Modernisierung geredet? Das waren doch
sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie!)

Nein, Sie huschen darüber hinweg und klopfen sich Wir bräuchten eine Haushaltspolitik, die den Zu-
wegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auf die kunftshorizont einer CO2-neutralen hochmodernen Wirt-
Schulter. Liebe Frau Merkel, genau in dem Moment, als schaftsweise in reale Maßnahmen umsetzt. Aber statt
Sie das gesagt haben, brach über der Reichstagskuppel mehr in Wärmedämmung zu investieren, kürzen Sie
die Sonne durch die Wolken. Ich habe mich gewundert, beim Marktanreizprogramm.
dass Sie nicht auch noch das zu Ihrem eigenen Verdienst Zudem wird behauptet, Stuttgart 21 sei ein Beitrag
erklärt haben. Denn wenn es ein Verdienst an der Ent- zum Schienenverkehr.
wicklung des Arbeitsmarktes und der Auftragslage gibt,
dann schauen Sie bitte nach China. China hat mit seinem (Zuruf von der FDP: Ja, was denn sonst?)
(B) Konjunkturprogramm und seiner massiven staatlich in- (D)
Das Geld, das Sie in Stuttgart im Bahnhof versenken,
duzierten Nachfragesteigerung dafür gesorgt, dass in fehlt uns künftig für den Ausbau des Regionalverkehrs
Deutschland wieder Aufträge eingegangen sind. und den notwendigen Ausbau des Güterfernverkehrs.
(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie können einen Euro nur einmal ausgeben.
Wie viele Kernkraftwerke bauen die, Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Trittin?) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Bei dieser Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist viel KEN)
Wen Jiabao und ganz wenig Merkel drin. Es ist absurd, wie Herr Mappus das alte Erbe von Uli
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Maurer, damals SPD-Vorsitzender in der Großen Koali-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- tion in Baden-Württemberg, auf Teufel komm raus ver-
KEN) teidigt, und Frau Merkel steht nicht an, das Erbe von
Herrn Maurer sowie Herrn Mappus lautstark und falsch
Stattdessen machen Sie selbst in den Bereichen zu verteidigen.
nichts, in denen Sie Einnahmen erzielen könnten: je
1 Milliarde Euro durch die Anhebung des Spitzensteuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
satzes und die Streichung des Steuerprivilegs für dicke sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dienstwagen sowie eine halbe Milliarde Euro durch die Die Frage muss erlaubt sein, wer in diesem Lande ei-
Rücknahme der Steuerermäßigung für Hotels. gentlich regiert.
(Jörg van Essen [FDP]: Vorhin hatten Sie noch (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Sie Gott sei
eine andere Zahl! Welche Zahl stimmt denn Dank nicht!)
nun? Erklären Sie mal, welche Zahl stimmt!)
Das schlimmste Beispiel ist die Vereinbarung zur Ener-
Wenn Sie hier erklären, Sie seien für Integration, dann giepolitik. Sie haben, nachdem 40 Unsympathen – übri-
sage ich Ihnen: Wer das Elterngeld für Geringverdie- gens alle Männer – per Anzeige eine Laufzeitverlänge-
nende kürzt, wer die Mittel für den Ausbau von Kinder- rung gefordert haben, umgehend Gehorsam gezeigt und
tagesstätten in Kommunen kürzt und wer bei der Inte- Vollzug gemeldet. Sie haben die Laufzeiten mehr verlän-
gration von Langzeitarbeitslosen kürzt, der betreibt gert, als die Industrie selbst in den Verhandlungen zum
keine Integration, sondern Desintegration. Er betreibt die Konsens verlangt hat. Sie verdoppeln die Reststrom-
Spaltung dieser Gesellschaft. menge. Sie erhöhen die Menge des Atommülls. Wenn
6060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Jürgen Trittin
(A) Sie in dieser Situation hier sagen, dass Sie Verantwor- zieren den Wettbewerb. Sie sorgen für höhere Preise. (C)
tung in der Endlagerfrage übernehmen wollen, dann Das ist Ihre Energiepolitik.
frage ich erstens: Was ist das für eine Verantwortung, die
das Problem vergrößert und nicht verkleinert? Das Schlimmste aber ist: Sie haben Sicherheit gegen
Geld verdealt, übrigens unter Ausschluss des Herrn Um-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weltministers. Er durfte nicht mit am Tisch sitzen, wie
sowie bei Abgeordneten der SPD – Axel E. wir heute Morgen erfahren haben. Der Umweltminister
Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das kommt auch in einem anderen Bereich zu einem interes-
sagt der, der ein Moratorium verhindert hat? santen Ergebnis. Er hat ein Gutachten zur Frage der Zu-
Das ist ja unerhört!) stimmungspflichtigkeit in Auftrag gegeben, ein Gutach-
ten, das er Herrn Papier, den ehemaligen Präsidenten des
Das Zweite ist – ganz persönlich –: Ich war in der
Bundesverfassungsgerichts, schreiben ließ. Herr Papier
schlimmen Situation, Ihr Erbe aus Morsleben überneh-
kommt zu dem Ergebnis, zu dem fast alle Verfassungs-
men zu müssen. Ich habe an den Salzhöhlen gestanden,
rechtler kommen:
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, stimmt
deren Gestein von oben auf die verrotteten Fässer herun- doch gar nicht!)
terbröckelte. Das haben Sie zu verantworten. Da wollte
die Umweltministerin Merkel Atommüll aus West- Laufzeitverlängerungen sind zustimmungspflichtig. –
deutschland einlagern. Wir mussten das nicht nur stop- Der gleiche Herr Röttgen wird uns aber hier ein Gesetz
pen, sondern auch aufwendig mit viel Geld sanieren. vorlegen, das ohne Zustimmung des Bundesrates verab-
Wenn Sie sagen, dass Sie Verantwortung übernehmen schiedet werden kann; das hat er angekündigt. Lieber
wollen, und in dem Zusammenhang auf Gorleben ver- Herr Röttgen, man kann sich irren, aber vorsätzlich ein
weisen, dann sage ich Ihnen: Wenn Ihre Morsleben-Poli- verfassungswidriges Gesetz einzubringen, gehört sich
tik die Perspektive für Gorleben ist, dann übernehmen nicht für einen Minister.
Sie keine Verantwortung. Dann empfindet die Mehrheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Bevölkerung dieses Landes dies als eine massive Be- und bei der SPD)
drohung ihrer Sicherheit.
Ich füge noch einen weiteren Punkt hinzu. Man kann
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch gegen Herrn Brüderle verlieren. Aber nie darf ein
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Umweltminister so tief sinken, dass er den Kakao auch
LINKEN) noch genüsslich schlabbert, durch den ihn Herr Brüderle
Ausweislich Ihrer eigenen Gutachten wollen Sie den zieht. Das machen Sie gerade.
(B) (D)
Ausbau erneuerbarer Energien jedes Jahr um 20 Prozent (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
reduzieren; das haben Sie selber aufschreiben lassen. Sie SES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen
machen mit Ihrer Laufzeitverlängerung Deutschland von [FDP]: Peinlich!)
Stromimporten abhängig. Bis zu 31 Prozent des Stroms
sollen nach Ihren Energieszenarien künftig importiert Nein, meine Damen und Herren, diese Regierung hat
werden. Was hat das mit Energiesicherheit zu tun? Was ein neues Motto: Von planlos zu schamlos. Die Frage
hat das mit Brückentechnologie zu tun? Das ist das Ge- bleibt aber, ob es nicht ein grundlegendes Missverständ-
schäftsmodell von RWE, das Sie uns hier verkaufen. nis ist, wenn die Bundesregierung selbst erklärt: Exeku-
tive heißt, die Befehle von anderen auszuführen. Von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN planlos zu schamlos, das kann kein Motto für eine deut-
und bei der SPD) sche Bundesregierung sein. Damit werden Sie nicht bis
Wenn Sie das mit der Brückentechnologie ernst meinten, 2013 kommen.
dann müssten Sie angesichts der gewaltigen Exportüber- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir kommen
schüsse, die wir mittlerweile dank der erneuerbaren noch viel weiter!)
Energien in diesem Land erzielen, schneller aus der
Atomenergie aussteigen. Liebe Frau Merkel, ich nehme gern auf, was Sie hier
gesagt haben. Sie haben erklärt, Sie wollen in Baden-
Wenn man die Frage ernsthaft stellt, wessen Regie- Württemberg die Herausforderung mit uns suchen. Wir
rung Sie sind, dann lautet die Antwort: Sie, Frau Merkel, nehmen diese an.
sind die Kanzlerin von RWE, Eon, EnBW und Vatten-
fall. Die Richtlinien der Energiepolitik werden von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jürgen Großmann von RWE geschrieben, nicht mehr
In Stuttgart demonstrieren die Menschen wöchentlich,
von einem gewählten Kabinett.
was sie von Stadtzerstörung und Geldverschwendung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten. Am nächsten Samstag werden die Menschen hier
sowie bei Abgeordneten der SPD) in Berlin zeigen, was sie von Ihrer Energiepolitik halten,
nämlich gar nichts.
Diese Unternehmen profitieren mit 100 Milliarden Euro.
Dennoch behaupten Sie, die 14 Milliarden Euro, die für Ich bin sicher: Das Ergebnis in Baden-Württemberg
Energieeffizienz davon abgezweigt werden, würden das und in Rheinland-Pfalz am 27. März wird kein anderes
ausgleichen. Nein, das ist etwas mehr als das, was Sie sein. Deutschland möchte nämlich nicht von RWE und
den Stadtwerken in diesem Land wegnehmen. Sie redu- BDI regiert werden. Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6061
Jürgen Trittin
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir müssen diesen jungen Menschen Mut machen, (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- aber Sie sind keine Mutmacher. Sie wollen zurück in die
KEN) Vergangenheit, Sie wollen nicht den Aufbruch in die Zu-
kunft, der zwingend notwendig ist.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für neten der FDP)
die CDU/CSU-Fraktion.
Mit Ihnen ist eine Weiterentwicklung dieses Landes, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) notwendig ist, gar nicht möglich.
Jetzt will ich ein Beispiel nennen: Wir brauchen Men-
Volker Kauder (CDU/CSU): schen in diesem Land, die einen Beitrag dazu leisten,
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dass es vorangeht. Wir brauchen eine moderne Infra-
Herren! Herr Gabriel, heute Morgen wurde in diesem struktur. Es ist wunderbar, wenn grüne Entwicklungs-
Plenarsaal in aller Öffentlichkeit gezeigt, worin der Un- politiker nach Asien, beispielsweise nach Indien, fahren
terschied zwischen verantwortungslosem und perspek- und sagen, da müsse unglaublich viel für die Infrastruk-
tivlosem demagogischen Geschrei und einer Politik für tur getan werden. Es geht aber nicht, dass Sie dann bei
eine gute Zukunft in unserem Land besteht. Das ist heute uns die notwendige Modernisierung der Infrastruktur
Morgen gezeigt worden. verhindern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Trittin, Sie reden von Politikverdrossenheit. Ich Das ist nicht glaubwürdig.
muss Ihnen eines sagen – ich hätte Ihnen das gern er-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
spart, weil ich mich gern inhaltlich mit Ihnen auseinan-
NEN]: Meinen Sie, dass Deutschland ein Ent-
dersetzen würde –: Die Art Gekasper, mit der Sie Ihre
wicklungsland ist?)
Rede begonnen haben, schürt Politikverdrossenheit. Ih-
nen fehlt die Ernsthaftigkeit in einer Zeit, in der es ge- Die Grünen sagen, sie seien für den Ausbau der Schiene
nau auf diesen Ernst ankommt. und für eine moderne Infrastruktur. Hier in Berlin aber
haben die Grünen gegen den Tunnel demonstriert, durch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den sie heute mit großer Freude fahren. Das ist die reale
Um es klar zu sagen: Die Herausforderungen sind groß Politik von Rot und Grün: zunächst dagegen sein und
genug. Wir können uns nicht aufführen wie auf einem dann erkennen, dass es doch sinnvoll war.
(B) grünen Abenteuerspielplatz. Ich erwarte mehr Ernsthaf- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tigkeit, aber die ist offenbar bei Ihnen fehl am Platz.
Bei Stuttgart 21 handeln Sie verantwortungslos. Es geht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nämlich nicht allein um Stuttgart, sondern es geht um
Zurufe von der SPD) eine große europäische Verkehrsentwicklung, von der
Nun will ich sowohl Ihnen, Herr Gabriel, als auch Ih- nicht nur die Zukunft unseres Landes, sondern auch die
nen, Herr Trittin, sagen, warum ich kritisiere, was Sie Zukunft Europas abhängt. Sie sind gegen das Projekt,
heute mit Ihren Beiträgen abgeliefert haben. Sie haben obwohl Sie wissen, dass es eine Zukunftsperspektive für
vor knapp einem Jahr, als diese Regierungskoalition die Baden-Württemberg, für Deutschland und Europa bietet.
ersten Entwürfe zu den Wachstumsbeschleunigungsge- Das nenne ich verantwortungslos.
setzen vorgelegt hat, Aussagen über die Zukunft dieses (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Landes gemacht. Wenn Sie sich diese heute noch einmal
anschauen, dann müssen Sie sich für das schämen, was Herr Gabriel, man wird nicht richtig schlau, was Sie
Sie im letzten Jahr gesagt haben, als wir mit unserer Ar- eigentlich genau wollen. Das ist das eigentlich
beit begonnen haben. Schlimme. Ihr Parteifreund Ivo Gönner aus Ulm hat ge-
sagt: Eine Partei, die in schwieriger Situation, wenn es
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ernst wird, nicht die Kraft hat, zu stehen, ist keine Regie-
Thomas Oppermann [SPD]: Ihr müsst euch rungspartei mehr. – Das hat Ivo Gönner von der SPD ge-
selber schämen!) sagt, nicht wir. Genauso ist es. Wer Entscheidungen mit-
Herr Gabriel, deshalb sind auch alle Aussagen, die trägt und zigmal sagt, sie müssten sein, dann aber
Sie zur Perspektive dieses Landes machen, überhaupt umfällt, der hat kein Recht, in diesem Land zu regieren;
nicht überzeugend. Einen Tag nachdem die Shell-Studie denn er bringt dieses Land nicht voran, sondern wirft es
veröffentlicht wurde, in der klar und deutlich gesagt zurück.
wird, dass eine junge Generation wieder Zuversicht und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Mut gefasst hat, dass eine junge Generation sich und die-
sem Land etwas zutraut, heute solche Reden zu halten, Wir diskutieren in dieser Zeit auch darüber, wie wir
ist unsäglich. Ich kann nur sagen, das ist unsäglich. diesem Land eine Zukunftsperspektive geben können,
damit alle mitgenommen werden und alle mitmachen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben im
Thomas Oppermann [SPD]: So ein blödsinni- Jahr 2007 nach den Zeiten von Rot-Grün ein Integra-
ges Argument!) tionskonzept auf den Tisch gelegt. In diesem Integra-
6062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Volker Kauder
(A) tionskonzept beschreiben wir minutiös, was passieren (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
soll. Ich kann nur sagen: Mit dem Eintritt der CDU/CSU NEN]: Aber englisch auch! Ich denke, es
in die Regierung hat nach vielen Jahren Multikulti zum heißt, Sie könnten alles außer Hochdeutsch!)
ersten Mal überhaupt eine Integrationspolitik begonnen.
– Warten Sie doch einmal ab!
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Da hat doch die SPD am 26. Februar 2010 hier einen
neten der FDP – Renate Künast [BÜND- Gesetzentwurf eingebracht. Sie hat vorgeschlagen, auf
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?) die Sprachkurse zu verzichten, um die Einbürgerung zu
Sie müssen sich vorwerfen lassen, dass Sie geglaubt ha- erleichtern. Einen größeren Quatsch habe ich in meinem
ben, durch Multikulti erfolge die Integration. Sie tragen ganzen Leben noch nicht gehört!
die Verantwortung dafür, dass ganze Jahrgänge keine ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
scheite Schulausbildung erhalten haben und damit keine
guten Chancen in unserem Land haben. Das verantwor- Neben den jungen Menschen, den etwa 60 Prozent,
ten Sie. die eine gute Zukunftsperspektive sehen, die sich etwas
zutrauen und die der Überzeugung sind, dass sie in unse-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rem Land den Beruf ergreifen werden, den sie wollen,
der FDP – Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- gibt es nach der Shell-Studie – darauf hat die Bundes-
NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer kanzlerin mit Recht hingewiesen – die 15 Prozent der
Zwischenfrage) jungen Leute – in dieser Größenordnung liegt das –, die
ihre Chance nicht sehen, die frustriert sind, die über ihre
– Herr Beck, von Ihnen brauche ich schon gar keine Fra- Familie kein gutes Urteil abgeben können.
gen, um das einmal deutlich zu machen.
Im Übrigen ist bemerkenswert, dass die jungen Leute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – durch die Bank – durch die Bank! – sagen, sie wünsch-
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten sich eine gut funktionierende Familie. Das von Ihnen
NEN]: Erst die Unwahrheit erzählen und dann so attackierte Modell „Familie“ erlebt also eine Renais-
nicht zulassen, dass man fragt!) sance, und zwar nur deswegen, weil wir es immer hoch-
gehalten haben.
Jetzt kommen wir zur Politik des Senats hier in Ber-
lin. Daran kann man genau sehen, wie Integration erfolgt (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast
ist. Herr Trittin, die Rede, die Sie gehalten haben, hätten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen
Sie an die Sozialdemokraten richten müssen. noch mehr Familie!)
(B) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Was ist Es gibt also 15 Prozent, die eine Perspektive brau- (D)
mit der Integration in Hessen?) chen. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass die Bun-
desagentur aus Mitteln, die wir zur Verfügung stellen,
– Seien Sie ruhig, Sie kommen gleich dran. – Sie haben eine Schulausbildung zu einem späteren Zeitpunkt finan-
hier in Berlin die Mittel für die Integrationsklassen ge- zieren kann. Die Bundesagentur sagt: Jeder kann auch zu
kürzt, sodass über 10 000 Migrantenkinder keine rich- einem späteren Zeitpunkt noch einen Schulabschluss
tige Ausbildung mehr bekommen haben. machen. – Wir kürzen die Mittel für die Bildung also
nicht, und es ist völlig richtig, dass wir mit den Ländern
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerade darüber reden, wie wir Geld aus unserem Bun-
NEN]: Das war Sarrazin!) deshaushalt den Ländern für diese Aufgabe zur Verfü-
Das war die Politik, die Sie gemacht haben. gung stellen können. Wir tun also alles, um genau diesen
jungen Menschen eine Perspektive zu geben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn es darum geht: „Was können wir tun, um dieses
Und dann machen Sie solche Sprüche. Ich kann nur sa- Land voranzubringen?“, dann ist eine zentrale Frage, die
gen: Von Ihnen können wir, was Integration anbelangt, die Menschen stellen: Haben wir genügend Sicherheit?
nichts lernen. Wir machen Politik auf der Grundlage des Gerade in einer Zeit der Globalisierung, wo besondere
christlichen Menschenbilds. Wir versuchen, alle in die- Herausforderungen auf uns alle, auf die Politik, aber
ser Gesellschaft mitzunehmen, damit sie Chancen und auch auf jeden einzelnen Menschen, zukommen, wird
Zukunftsperspektiven haben. natürlich gefragt: Sind wir gegen die Dinge, die mit der
Globalisierung zusammenhängen, genügend gesichert?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Da ist eine Erkenntnis bemerkenswert, die viele von
Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt. Das hat sich uns täglich gewinnen und die die Bundeskanzlerin ange-
erst in diesem Jahr hier im Deutschen Bundestag abge- sprochen hat: Die Menschen, die Bürgerinnen und Bür-
spielt, nämlich am 26. Februar 2010. Es gehört schon ein ger, sehen in den sozialen Sicherungssystemen – in der
besonderes Maß an Frechheit dazu, hier aufzutreten und Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversiche-
zu sagen: Wir brauchen Sprachkurse; wir wollen, dass rung – ihre persönliche Sicherheit. Das ist ja auch in
die Leute die Sprache lernen. – Wir haben doch immer Ordnung. Sie wissen ganz genau – ganz genau! –, dass
gesagt: In Deutschland wird deutsch gesprochen. In den diese sozialen Sicherungssysteme vom wirtschaftlichen
Schulen wird deutsch gesprochen, damit die jungen Erfolg unseres Landes abhängen. Die Leute glauben Ih-
Leute auch mitkommen. nen nicht, dass diese Dinge einfach so vom Himmel fal-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6063
Volker Kauder
(A) len. Die Bürgerinnen und Bürger wissen: Soziale Sicher- Ich kann es Ihnen sagen: Wir werden eine Reform der (C)
heit muss erwirtschaftet werden; sie wird einem von Bundeswehr durchführen. Dies wird bedeuten, dass sich
niemandem geschenkt. auch beim Zivildienst, der ja ein Annex bzw. eine Folge
der Wehrpflicht war und ist, etwas ändern muss. In die-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sem Zusammenhang sollten wir meiner Meinung nach
Deswegen sagen die jungen Leute – schauen Sie sich den jungen Leuten gemeinsam sagen: Wir verpflichten
die Shell-Studie einmal genau an! –, aber auch die ältere euch zwar nicht, aber wir bitten euch, unser Angebot ei-
Generation: Sicherheit haben wir dann, wenn die Wirt- nes Freiwilligendienstes anzunehmen und eine bestimmte
schaft läuft und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, jeden- Zeit freiwillig diesem Land und den Menschen in diesem
falls nicht weiter steigt. – Das sind die Zusammenhänge, Land zu dienen.
die wir sehen. Deswegen geht es darum, auch in dieser
globalisierten Zeit die Wirtschaft voranzubringen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stehen in einem Wettbewerb, in dem uns nichts ge- Wenn wir uns anschauen, was diese Koalition auf den
schenkt wird. Besonders der Wettbewerb in einer globa- Weg gebracht hat, kann man, wie ich glaube, zu dem Er-
lisierten Welt kennt keine Pause. gebnis kommen, dass gute Perspektiven eröffnet wurden.
Ich war in der Sommerpause ein paar Tage in Südost- Von diesem Weg lassen wir uns auch nicht abbringen. So
asien. Da bin ich in einem bevölkerungsreichen Land wie Sie sich brutalst im letzten Jahr bezüglich Ihrer Ein-
– nicht in China oder Indien, sondern in Indonesien mit schätzung der Zukunftsperspektiven unseres Landes
240 Millionen Einwohnern – auf junge Menschen ge- geirrt haben, so täuschen Sie sich auch heute brutal über
troffen, die zu mir gesagt haben: Wir wollen vorankom- die Kraft und die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Koali-
men. Wir wollen genauso gut sein wie ihr in Europa. Wir tion. Wir wollen diesem Land eine gute Zukunft geben.
wollen genau den gleichen Lebensstandard. – Im An- Wir werden dies in Geschlossenheit tun und den Men-
schluss daran sagten sie: Und angesichts eurer Diskus- schen sagen: Ihr habt in diesem Land großartige Chan-
sionen in Europa – dagegen, dagegen, dagegen – ent- cen. Ihr könnt alle miteinander stolz darauf sein – das war
scheiden wir uns anders und werden dafür sein. Wir sind nämlich eine große Gemeinschaftsleistung von Arbeit-
uns deshalb sicher, dass dieses Jahrhundert uns, den jun- nehmerinnen und Arbeitnehmern, Arbeitgebern und ei-
gen Leuten in Asien, gehören wird. – Ich sage: Ich will, ner klugen Politik –, wie wir die Krise bewältigt haben.
dass dieses Jahrhundert auch unser Jahrhundert ist und Man schaut auf uns und fragt: Wie habt ihr das ge-
das Jahrhundert unserer jungen Leute. Deswegen brau- macht? Die Antwort lautet:
chen wir Forschung, Innovation und moderne Infrastruk-
tur. Sonst wird uns das nicht gelingen, meine lieben Kol- (Zuruf von der SPD: Große Koalition!)
(B) leginnen und Kollegen. (D)
Indem wir miteinander an einem Strang gezogen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Das werden wir auch in Zukunft tun. Die junge Gene-
ration hat – das belegt die Shell-Studie – das richtige Ge-
Der Verweigerungshaltung, die ich bei Rot und Grün
spür, indem sie sich überzeugt zeigt: Unser Land ist ein
feststelle, werden wir deshalb durch einen Aufbruch be-
Land mit einer tollen Perspektive.
gegnen. Wir stoßen jetzt auf eine junge Generation, die
dieses genauso sieht. Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kommt (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei-
somit darauf an, dass wir in dieser Gesellschaft den fall bei der FDP)
Gemeinsinn wieder etwas mehr in den Vordergrund stel-
len. Dazu gehört, dass wir auch in diesem Parlament bei
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
einigen Dingen diesen Gemeinsinn nach draußen zeigen.
Bei allem Streit – das meine ich schon, Herr Trittin und Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Herr Gabriel – müsste man den Bürgerinnen und Bürgern, Joachim Poß.
die jeden Tag neben ihrer Arbeit auch noch ehrenamtlich (Beifall bei der SPD)
tätig sind und sich in diese Gesellschaft einbringen, schon
einmal Dank sagen. Wir müssen denen dankbar sein, die
große Geldbeträge spenden, damit in dieser Gesellschaft Joachim Poß (SPD):
Dinge passieren können, die sonst nicht passieren wür- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
den. Kollege Kauder, ich verstehe nicht, warum Sie gegen ei-
nen Volksentscheid sind, wenn – wie in Stuttgart – die
(Zurufe von der SPD) Dinge offenkundig so verfahren sind, wie sie es sind.
Wir müssen deutlich sagen: Das gehört zu einem (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das
Deutschland, wie wir es uns vorstellen. All das fördern geht doch gar nicht!)
wir deshalb, und dazu ermuntern wir auch die Menschen
in unserem Land. Ich verstehe auch nicht, dass sich Frau Merkel indirekt
gegen einen solchen Weg ausgesprochen hat. Ich glaube,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Menschen in Stuttgart und in Baden-Württemberg
Jetzt werden Sie fragen: Was meint der denn konkret? beurteilen das gänzlich anders als Sie.
(Zurufe von der SPD: Ja!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
6064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wenn man sich in Amerika oder auch auf europäi- (C)
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage scher Ebene umgehört hat, dann konnte man erfahren,
des Kollegen Barthle? dass viele, die im Prinzip sehr viel Sympathie für Sie ha-
ben, tief erschrocken darüber waren, dass Sie mit Ihren
Joachim Poß (SPD): Griechenland-Äußerungen die Spekulanten eingeladen
Gleich am Anfang? Im weiteren Verlauf – bitte. haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der LINKEN)
Ja oder nein? Eventuell geht dies auch noch zulasten der Steuerzahler.
Wir wollen es nicht hoffen.
Joachim Poß (SPD):
Wenn man sich genau anschaut, was Sie mit Ihrem
Im Moment nicht. sogenannten Sparpaket machen, und wenn man es unter
Herr Kauder, die ganze Welt bescheinigt uns, dass es wirtschaftlichen Aspekten sieht, dann muss man sagen,
nicht allein diese neue Regierung war – Sie wollten mit dass Sie Investitionen behindern werden. Die Konjunk-
Ihrer Rede nur von Ihrer fragwürdigen Regierungsleis- turpakete laufen jetzt aus. Gleichzeitig verhindern Sie
tung ablenken –, Investitionen in Milliardenhöhe in erneuerbare Energien.
Gleichzeitig streichen Sie Mittel für die Städtebauförde-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich habe von der rung. Damit verhindern Sie Investitionen in den Städten,
Gemeinschaftsleistung gesprochen!) die dringend gebraucht werden und mit denen die Be-
sondern dass es neben anderen Faktoren auch der Sozial- schäftigung gesichert und auch oftmals die Umweltsitua-
staat war, der aufgrund seiner Stabilität dazu beigetragen tion verbessert werden kann. Das alles ist kontraproduktiv
hat, dass wir gut durch die Krise gekommen sind. für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Deswegen
muss man feststellen: Diese Regierung ist eher eine Be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) drohung für die wirtschaftliche Entwicklung unseres
Er wird uns hoffentlich auch weiterhin helfen, diesen Landes und kein Pluspunkt.
Weg zu gehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Frau Merkel, aus jedem Ihrer Sätze – das gilt auch für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die Stellen Ihrer Rede, an denen Sie kämpferisch wurden – Sie versuchen, von Ihrer Klientel- und Spaltungspoli-
sprach falscher Stolz auf die schwarz-gelbe Koalition. tik abzulenken und sich hinter den derzeit günstigen Wirt-
(B) Sie tragen damit zur Legendenbildung mit Blick auf die schaftsdaten zu verstecken. Aber ich denke, das ist so (D)
letzten Jahre bei und verleugnen so die Leistungen der durchsichtig und simpel – das merken die Leute auch –,
Großen Koalition. Ich finde, das sollte man nicht tun. dass Sie damit nicht erfolgreich sind. Bisher waren Sie es
Frau Merkel, Sie sollten die besten Jahre, die Sie wahr- jedenfalls nicht.
scheinlich in einem Regierungsamt verbracht haben,
nicht verleugnen. Sie sind doch aus der Sommerpause herausgekom-
men, wie Sie hineingegangen sind, wenn man sich die
(Beifall bei der SPD) Entscheidungsabläufe in Ihren Reihen anschaut. Sie ha-
Das wäre auch für Ihre Biografen nicht nachvollziehbar. ben im Kern und in der Substanz von Ihrer Absicht, die-
Es wird sich aller Voraussicht nach herausstellen, dass ses Land weiter zu spalten und Privilegien wirtschaftlich
die Zeit als Kanzlerin in der Großen Koalition Ihre beste Starker nicht anzutasten, nicht abgelassen. Sie haben
politische Zeit war. Denn was wir bisher von der neuen vielleicht Ihren Entscheidungsstil ein wenig verändert.
Regierung erleben konnten, war einfach grottenschlecht. Aber richtige Lösungen haben Sie bisher nicht bringen
Es ist Legendenbildung, das anders darzustellen. können. Das gilt für jedes Thema, das hier genannt wer-
den kann.
Wenn Sie die SPD historischer Fehler zeihen und als
Beispiel dafür die Euro-Krise anführen, dann müssten Seit den Atombeschlüssen vom vorletzten Wochen-
Sie mit vier Fingern auf sich selbst zeigen. Sie waren in ende hat Deutschland faktisch keinen Umweltminister
den Wochen der Krise doch überhaupt nicht handlungs- mehr. Röttgens Hosen sind mittlerweile verdammt kurz
fähig. geworden. Jedenfalls kann er, wenn man sich das einmal
wörtlich vorstellt, bei offiziellen Treffen nicht in dieser
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bekleidung auftreten.
Sie waren über Wochen mit dem eigenen Finanzminister (Beifall bei der SPD)
und mit der FDP zerstritten. Sie selbst waren gegenüber
Man muss ja sagen, dass sowohl Sigmar Gabriel als
dem von uns gewünschten Instrument der Finanzmarkt-
auch Jürgen Trittin als Umweltminister in den jeweiligen
transaktionsteuer durchaus aufgeschlossen. Aber das
Koalitionen eine ganz andere Rolle gespielt haben. Was
galt nicht für die FDP und nicht für weite Teile Ihrer
nützt die vermeintliche Entschlussfreude, die Frau
Fraktion. In der Euro-Krise waren Sie ein zerstrittener
Merkel jetzt neu beweisen will, wenn es sich um falsche
Hühnerhaufen. Das war die eigentliche Bedrohung unse-
Entscheidungen handelt, wie bei dem Atomdeal? Die
res Landes.
Atombeschlüsse – das wird Sie noch einholen – schaffen
(Beifall bei der SPD) weder eine verlässliche Grundlage für die Energiepolitik
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6065
Joachim Poß
(A) in Deutschland noch schaffen sie verfassungsrechtliche Das werden wir bei den nächsten Punkten, die noch an- (C)
Klarheit. stehen, ja genauso sehen.
(Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr!) Wir werden in den nächsten Wochen mit dem Verfas-
sungsgerichtsurteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen zu tun
Was Sie damit erreicht haben, ist erneuter jahrelanger
haben. Da gibt es bisher kein Konzept. Dafür gibt es
Streit, nachdem wir dachten, wir hätten mit dem, was in
vielleicht auch Gründe. Wir brauchen ja auch Daten, die
den letzten Jahren verabredet wurde, endlich nach Jahr-
wohl erst am 27. geliefert werden. Wir werden uns inten-
zehnten Frieden in der Atomfrage geschaffen.
siv damit beschäftigen, und zwar konstruktiv, im Inte-
(Beifall bei der SPD) resse der davon betroffenen Arbeitslosengeld-II-Emp-
fänger und Sozialgeldempfänger. Das werden wir
Erheblicher Streit in Politik und Gesellschaft hat auch
machen. Wir werden aber auch aufpassen, dass es zu ei-
wirtschaftliche Auswirkungen, und die werden nicht po-
ner verfassungsfesten Lösung kommt.
sitiv sein.
(Beifall bei der SPD)
Die Laufzeitverlängerung war für Frau Merkel eine
willkommene Gelegenheit, sich in den eigenen Reihen Zu den Themen, die in anderen Feldern auf dem Tisch
etwas Luft zu verschaffen. Aber immer mehr Menschen sind – von der Bundeswehr, der Zukunft der Wehr-
spüren – übrigens auch in den eigenen Parteien, der pflicht, bis zur Gesundheitsreform –, wurde heute Mor-
CDU und CSU –, dass das alles etwas damit zu tun hat, gen schon viel gesagt. Ich denke, die Themen werden
Frau Merkels Position und Machtbasis abzusichern. uns weiter bewegen. Wenn das nach der Sommerpause
Deswegen macht sie nicht das, was sachlich geboten ist, ein Neustart hätte sein sollen, dann hätte man auch in Sa-
sondern was die schwarz-gelbe Koalition möglichst chen Gesundheitsreform genau das Gegenteil Ihrer Poli-
lange zusammenhält; womöglich verbleibt ihr nach den tik machen müssen, nämlich einmal deutlich machen
Entscheidungen, die jetzt getroffen wurden, politisch müssen, dass man sich aus den Fängen der Lobby befreit
auch keine andere Option mehr. hat.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Um es offen zu sagen: Schwarz-Grün ist nicht einfa- Genau das Gegenteil geschieht aber in der Praxis Ihrer
cher geworden für diejenigen, die das wollen. In den Regierungsarbeit.
Ländern mag das für manchen vielleicht noch vertretbar
sein. Aber ich glaube, in Zukunft wird es auch da nicht Meine Damen und Herren, bei allem guten Willen,
einfacher. den Sie jetzt offenbar aufbringen wollen, damit die
(B) Dinge besser laufen: So wie die Dinge laufen, laufen sie (D)
Frau Merkel hat sich auch stärker in die Hände von schlecht für unser Land. Ich hoffe, sie laufen nicht mehr
Westerwelle und Seehofer begeben. Ich glaube, dass Ihre allzu lange so; spätestens 2013 müssen Konsequenzen
Strategiekonferenz vom Wochenende bei weitem nicht aus Ihrem Versagen gezogen werden.
die letzte sein wird.
(Beifall bei der SPD)
Bei diesem kalkulierten Politikstil fragen die Men-
schen doch: Wo bleiben denn wir dabei? Sie finden das al-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
les sehr kalt und machtzynisch. Ich glaube, dass die Men-
schen trotz aller Kritik an der Vorgängerregierung den Nächster Redner ist der Kollege Christian Lindner für
Eindruck hatten, dass diese in schwieriger Zeit Verant- die FDP-Fraktion.
wortung für unser Land gezeigt hat. Wie gesagt, es waren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die Sozialdemokraten, die wirklich geholfen haben. Es der CDU/CSU)
waren die Sozialdemokraten Steinmeier, Steinbrück, und
Scholz, die die richtigen Entscheidungen vorgeschlagen Christian Lindner (FDP):
haben, von denen wir auch heute noch profitieren. Das
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
war wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung und
Herren! Nachdem die Opposition vorgetragen hat, ist
für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Ich ver-
jetzt Zeit und Gelegenheit für einen Vergleich der politi-
stehe deswegen, dass es auch eine gewisse Nostalgie gibt.
schen Konzepte. Sie haben beklagt, dass wir beim Sozia-
Viele, die die SPD kritisch gesehen haben, sehnen sich
len sparen würden, obwohl der Sozialbereich dabei we-
jetzt wieder nach der SPD in Regierungsverantwortung
niger stark herangezogen wird, als es seinem Anteil am
zurück.
Bundeshaushalt entspricht. Sie haben beklagt, dass bei
(Zuruf von der CDU/CSU: Eigenes Wunsch- den sozial Schwachen gespart würde. Sie haben aber
denken! In welcher Welt leben Sie?) nicht ein einziges Mal über konkrete Maßnahmen, Wir-
kungen und Ergebnisse von Sozialpolitik gesprochen.
Ich höre das auch in meinen Gesprächen. Ich finde, die
Das ist Ihr alter sozialdemokratischer und grüner Gestus,
Menschen haben recht, wenn sie sich danach zurückseh-
den wir hier in Berlin im Senat schon oft beobachten
nen;
konnten.
(Beifall bei der SPD)
Es ist der gleiche Gestus, der dazu geführt hat, dass
denn sie können vergleichen, was wir geleistet haben der rot-rote Senat über Jahre eine Obdachloseninitiative
und was diese Koalition zu leisten nicht in der Lage ist. finanziert hat,
6066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Christian Lindner
(A) (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ablenken, ab- teil von dem tun, was Sie fordern. Dort, wo Sie belasten (C)
lenken, ablenken!) wollen, erarbeiten wir uns Entlastung. Dort, wo Sie mehr
staatlichen Zugriff wollen, stärken wir die soziale
bei der später durch Zufall sichtbar wurde, dass der Ge- Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip – Beispiel Opel –,
schäftsführer, ein ehemaliger SPD-Abgeordneter, das weil wir wissen: Der Aufschwung kommt eben nicht
Geld nicht für Obdachlose, sondern für den Dienst- vom Staat, er wird von fleißigen Händen und klugen
Maserati aufgewendet hat. Köpfen in der Mitte der Gesellschaft erwirtschaftet.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Deswe-
Ihr sozialdemokratischer Gestus, soziale Gerechtigkeit gen waren Sie auch gegen die Kurzarbeit!)
an sozialen Ausgaben zu messen, ist gescheitert.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Sie haben im Übrigen auch mit dem Makel zu leben,
dass das Verfassungsgericht Ihnen einen Bruch des So- Herr Kollege Lindner, gestatten Sie eine Zwischen-
zialstaatsgebots ins Stammbuch geschrieben hat. Sie ha- frage des Kollegen Ströbele?
ben als Rote und Grüne ein System von Hartz IV poli-
tisch zu verantworten, Christian Lindner (FDP):
Nein, ich will einige Unterschiede exemplarisch deut-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Haben Sie lich machen und nicht noch weiter andere Aspekte ge-
im Bundesrat zugestimmt? Hat die FDP zuge- wichten.
stimmt? Haben Sie doch, oder?)
Ich will über die Energiepolitik sprechen. Wir haben
bei dem Kinder aus benachteiligten Familien systema- eine Allianz aus verlängerter Laufzeit von Atomkraft-
tisch benachteiligt worden sind; ihnen sind Bil- werken und dem größten Programm für erneuerbare
dungschancen genommen worden. Das gehen wir in die- Energien und Energieeffizienz zustande bekommen, wie
sem Herbst konkret an. Da räumen wir das auf, was Sie sie dieses Land noch nicht gesehen hat.
versäumt haben.
(Lachen der Abg. Bettina Hagedorn [SPD] und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ulrich Kelber [SPD] – Bettina Hagedorn
der CDU/CSU) [SPD]: So ein Quatsch! – Ulrich Kelber
Mögen Sie sich weiter auf Etats fixieren! Wir küm- [SPD]: Der eigene Sachverständigenrat sagt,
mern uns im Herbst darum, dass Menschen Arbeits- dass das Blödsinn ist!)
(B) markt- und Bildungschancen bekommen. Bleiben Sie fi- Auch die Grünen haben auf ihrer letzten Klausur ein (D)
xiert auf die Ausgabenseite des Staats! Wir sorgen dafür, Energiekonzept vorgelegt. Das habe ich mit Interesse zur
dass es konkrete soziale Chancen im Alltag gibt. Denn Kenntnis genommen. Sie lassen uns beispielsweise wis-
soziale Rhetorik zählt nichts; nur die sozialen Ergebnisse sen, dass Sie zur Rettung des Weltklimas in Deutschland
zählen für die Menschen in diesem Land. ab dem Jahr 2015 Motorroller verbieten wollen. Respekt
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vor Ihrem politischen Mut und vor der Detailliertheit Ih-
rer Forderungen! Aber ein paar Worte kommen mir in
Jetzt ist auch Gelegenheit, die haushalts- und finanz- Ihrem Konzept zu oft vor: „möglicherweise“, „viel-
politischen Konzepte zu vergleichen. Die SPD berät auf leicht“, „streben an“, „es könnte gelingen“. Da heißt es
ihrem nächsten Bundesparteitag über ein neues – so an zentraler Stelle: Möglicherweise könnte die Energie-
nennt sie es – „Fortschrittsmodell“. Ich habe mir das versorgung bis 2030 komplett auf erneuerbaren Energien
sehr genau angesehen. Im entsprechenden Leitantrag des basieren.
Parteivorstands finden sich nur einige dürre Zeilen zur
Haushaltskonsolidierung, aber Steuererhöhungen in ei- (Ulrich Kelber [SPD]: Wie viele Prüfaufträge
ner Größenordnung von 15 Milliarden Euro für den wirt- stehen im Konzept der Regierung? 17!)
schaftlich tätigen Mittelstand; die Konzerne schonen Sie Das ist zwar ein visionäres, schönes Ziel, aber ohne Fak-
nämlich. Was passiert mit dem Geld? Es wird verwendet ten. Und: Was, wenn nicht? Zu welchen Kosten und auf
für neue Sozialprogramme, neue Subventionen und neue wessen Kosten? Die Energieversorgung einer Industrie-
Staatsbeteiligungen an Unternehmen. Dafür haben die nation, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
sozialdemokratischen Begriffsklempner sogar ein neues darf man nicht auf Wunschdenken aufbauen, sondern sie
Wort erfunden: muss auf Rationalität basieren, und genau das leistet
(Ulrich Kelber [SPD]: Darum geht es bei Ihrer diese Koalition.
Politik?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Public Equity. Früher hieß das, was Sie wollen, Volksei- der CDU/CSU)
gentum. Herr Trittin hat eben auch über Gesundheitspolitik
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der gesprochen. Auch dazu ein Wort. Rot-Grün hat immer
CDU/CSU) die Schwächung der privaten Krankenversicherung an-
gestrebt. Sie haben die Beitrittsfrist auf drei Jahre ver-
Ich sage Ihnen eines: Wir sehen, dass jetzt Wachstum längert, weil sie die privaten Versicherungen austrock-
und Beschäftigung florieren, weil wir genau das Gegen- nen wollten. Sie haben dafür gesorgt, dass die privaten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6067
Christian Lindner
(A) Krankenversicherungen nicht in gleicher Weise Rabatte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
aushandeln konnten, wie die gesetzlichen das tun. Des- neten der FDP)
halb haben viele Versicherte in der PKV Beitragssatz-
steigerungen zu verzeichnen gehabt. Das sind aber nicht Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
die Besserverdiener und Reichen, sondern in der PKV ist Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
auch der kleine Polizeibeamte an der Ecke versichert. und Kollegen! Das, was die Opposition bereits gestern,
Das sind 10 Millionen Menschen, die endlich faire Wett- aber auch heute, von Herrn Gabriel bis zu Herrn Trittin,
bewerbsbedingungen brauchen. Für die setzen wir uns abgeliefert hat, war eine Mischung aus Polemik, unsach-
ein. lichen Angriffen und Unwahrheiten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Ulrich Kelber [SPD]: Da sind Sie ja Spezia-
Ein letzter Gedanke. Von der SPD wird fortwährend list!)
über Klientelismus gesprochen. Das ist der große Vor- Mit dieser Mischung richten Sie sich selbst. Wir werden
wurf, der uns gemacht wird, und das ausgerechnet von es nicht zulassen, dass von der Opposition die Stimmung
der SPD. Sie haben in den letzten Wochen beschlossen, in diesem Land in einer Phase kaputtgeredet wird, in der
die Agenda 2010 rückabzuwickeln. Von der Rente mit die ganze Welt Deutschland dafür bewundert, was es
67 wollen Sie nichts mehr wissen. Sie fordern einen leistet.
Mindestlohn von 8,50 Euro. Trotz der Euro-Krise haben
Sie den Kreditgarantien nicht zugestimmt, sondern sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
enthalten. Sie machen Klientelpolitik. neten der FDP)

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir haben allen Grund, selbstbewusst zu sein. Im
GRÜNEN]: Mövenpick!) zweiten Quartal verzeichnen wir beim Bruttoinlandspro-
dukt eine Zunahme von 2,2 Prozent. Wir haben alle
Wissen Sie, wer Ihre Klientel ist? Sie sitzt auf der linken Chancen, im Jahresdurchschnitt auf insgesamt 3,0 Pro-
Seite des Hauses. An sie wollen Sie sich heranrobben, so zent, vielleicht sogar auf mehr zu kommen. Ich glaube,
wie in Nordrhein-Westfalen, das ist eine großartige Leistung. Ich denke, dass das die
Wirtschaftsdynamik dieser Volkswirtschaft widerspie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gelt.
wo Sie die Neuverschuldung um 30 Prozent erhöhen, um Heute ist des Öfteren in Zwischenrufen gefragt wor-
Sozialpopulismus zu betreiben, um die Stimmen der den: Kommt der Aufschwung bei den Menschen an?
Linkspartei im Landtag zu kaufen. Das ist die Politik,
(B) die Sie betreiben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D)
GRÜNEN]: Bei wem?)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Frau Bundeskanzlerin hat das heute dargestellt: Statt
Große Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Helmut 5 Millionen Arbeitsloser, wie zu Zeiten von Rot-Grün,
Schmidt und Gerhard Schröder haben stets das Notwen- haben wir nur noch 3,2 Millionen oder sogar weniger.
dige getan und es danach populär gemacht. Unter Füh- 1,8 Millionen Menschen haben ihren Arbeitsplatz nicht
rung von Sigmar Gabriel verlegen Sie sich darauf, nur verloren. 280 000 Menschen fanden allein im letzten
das Populäre zu wollen und das Notwendige zu verleug- Jahr einen neuen Arbeitsplatz aufgrund der Zunahme der
nen. sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-
nisse. Diese Menschen profitieren. Bei denen kommt der
(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP]) Aufschwung an. Hunderttausende von Kurzarbeitern,
Brandt, Schmidt und Schröder haben ihrem Land dienen die noch vor einem Jahr um ihren Arbeitsplatz gebangt
wollen. haben – jedenfalls gilt das für den einen oder anderen
von ihnen –, arbeiten jetzt wieder Vollzeit. Auch bei ih-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist primitiv und nen kommt der Aufschwung an. Er kommt auch bei den
rhetorisch schlecht!) vielen Millionen an, die jetzt oder eines Tages auf die so-
Sigmar Gabriel hat gesagt: Der Grundsatz „Erst das zialen Sicherungssysteme angewiesen sein werden. Sie
Land, dann die Partei“ habe für ihn keine Bedeutung sind durch diesen Aufschwung wieder sicherer gewor-
mehr. So verspielt Ihr Vorsitzender jede Legitimation für den, und auch sie profitieren insofern von diesem Auf-
politische Führung in diesem Land. schwung.
Nun ist die Frage: Wie kommt dieser großartige Auf-
(Anhaltender Beifall bei der FDP und der
schwung in Deutschland, anders als in anderen europäi-
CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt ver-
schen Ländern, anders als in anderen Industrieländern,
stehe ich, warum der Westerwelle nicht zu-
zustande?
rücktreten muss! Weil Sie alle Angst vor dem
Lindner haben!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Trotz dieser Regierung!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Erstens. Die deutsche Volkswirtschaft – das können
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Friedrich wir voller Selbstbewusstsein sagen – hat eine großartige
für die CDU/CSU-Fraktion. Substanz. Wir haben qualifizierte, fleißige Arbeitnehmer
6068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


(A) und innovative, risikofreudige Unternehmer. Das ist ein Stück für Stück gehen Sie auf die Linken in Düsseldorf (C)
wichtiges Potenzial, das wir haben und brauchen. zu. Denn die Wahrheit ist, dass Sie dort zwar die Minis-
ter stellen, aber die eigentliche politische Gestaltungs-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
kraft die Linken sind. Das führt das Land Nordrhein-
neten der FDP)
Westfalen an den Abgrund. Andere Bundesländer sollten
Zweitens haben wir ein gutes Krisenmanagement sich gut anschauen, was in Düsseldorf passiert, um zu
der Politik, angefangen bei einem Konjunkturpaket, das wissen, was auf sie zukommen könnte.
die Einbrüche in der Krise auffangen sollte und aufge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
fangen hat. Lieber Herr Poß, es war doch immer klar,
neten der FDP)
dass dieses Konjunkturpaket nicht jedes Jahr wieder-
kommen kann, sondern man irgendwann den Ausstieg Die Opposition steht für exakt das Gegenteil von Auf-
finden muss, weil das alles finanziert werden muss. Da- bruch, Zuversicht und Zukunftsoptimismus. Ihre Forde-
rum geht es; schließlich muss das alles dauerhaft mög- rung nach Steuererhöhungen vernichtet die Basis für In-
lich gemacht werden. Wir haben die Familien dauerhaft vestitionen. Ihre Forderung nach einer Vermögensteuer
entlastet: Erhöhung des Kindergeldes, Entlastung der bedeutet den Eingriff in das, was sich Menschen in müh-
Steuerzahler in diesem Land zu Beginn dieses Jahres in samer Arbeit ihr Leben lang geschaffen haben. Ihre For-
zweistelliger Milliardenhöhe. Auch der Schutzschirm derung nach höheren Energiepreisen vernichtet Arbeits-
für die Arbeitnehmer, der in der Kurzarbeiterregelung plätze im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland. Ihre
und der Subventionierung der Krankenversicherungsbei- Umverteilungsideologie zerstört die Leistungsbereitschaft.
träge zum Ausdruck kam, darf nicht geringgeschätzt Dafür steht Rot-Grün, und dafür steht die linke Seite die-
werden. Aber er muss natürlich abfinanziert werden. ses Hauses. Wir sind froh und glücklich und können in
Was drittens ganz wesentlich dazu beigetragen hat, ist Deutschland selbstbewusst nach vorne blicken; denn Sie
die positive Grundstimmung in diesem Land, der Zu- regieren hier in Berlin, im Bund, nicht.
kunftsoptimismus. Dieser Zukunftsoptimismus ist Vo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
raussetzung dafür, dass ein Land überhaupt blühen kann. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Deutschland im Jahr 2010 – das bedeutet, dass unsere
Reiner Deutschmann [FDP]) Nachbarn und Freunde in der Welt uns beneiden. Wir
Es gibt diesen Zukunftsoptimismus, weil diese christ- sind Vorbild für Europa.
lich-liberale Koalition Ja sagt zu Leistung, Ja sagt zu Ei- (Lachen der Abg. Dorothea Steiner [BÜND-
gentum, Ja sagt zu moderner Technologie, Ja sagt zu NIS 90/DIE GRÜNEN])
(B) Versorgungssicherheit im Energiebereich, Ja sagt zu (D)
mehr Innovation, zu mehr Forschung, zu mehr Bildung. Präsident Sarkozy hat vor kurzem in einer Fernsehrede
Deswegen ist die Grundstimmung positiv und zukunfts- vom „Modell Deutschland“ gesprochen. Es ist kein ge-
orientiert. ringerer als der frühere französische Premierminister
Balladur, der den Franzosen zugerufen hat: Lasst uns
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem Mut der Deutschen folgen! Dies war kürzlich in Le
Sie hingegen, meine Damen und Herren im linken Figaro nachzulesen.
Spektrum, von der Linken bis zu den Grünen, stehen für (Joachim Poß [SPD]: Das hat doch mit unserer
das Gegenteil. Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen Kritik jetzt nichts zu tun!)
zeigt, wohin die Reise mit den Linken, den Roten und
den Grünen in diesem Land geht – Christian Lindner hat Was bedeutet das, der Mut der Deutschen? Mut be-
es soeben angesprochen –: Schamlos wird ein Schulden- deutet, sich vor die Bürger zu stellen und ihnen zu sagen:
haushalt aufgestellt, der das Land über Jahre belasten Weil wir alle länger leben wollen, müssen wir auch län-
wird, den die Enkel und Urenkel bis ins dritte und vierte ger arbeiten; denn sonst können wir das Rentensystem
Glied eines Tages doppelt und dreifach zurückzahlen nicht finanzieren. Das ist Mut; denn es bedeutet Wahr-
müssen. heit.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP)
NEN)
Natürlich weiß ich auch, dass wir in einzelnen Fällen
Mehr noch: Diese Regierung in Düsseldorf, die offi- sehr differenzierte Lösungen bei der Frage der Rente mit
ziell nur von Rot und Grün getragen wird, wird von den 67 finden müssen. Natürlich weiß ich auch, dass ein
linken Genossen geduldet. Um diese Duldung ordentlich Schwerstarbeiter, dass ein Dachdecker, der 66, 67 Jahre
zu machen, haben Sie dafür gesorgt, dass das Wahlpro- alt ist, nicht mehr aufs Dach steigen kann. Aber wir wer-
gramm der Linken in Ihrer Koalitionsvereinbarung in den gemeinsam mit den Tarifpartnern differenzierte Lö-
Düsseldorf unterkommt. Die Linken versprechen ein sungen für diese Probleme finden. Was machen Sie? Sie
Recht auf Rausch. Was macht Rot-Grün in Düsseldorf? propagieren den Ausstieg aus dem, was Ihr ehemaliger
Rot-Grün sagt: Die erlaubte Menge Rauschgift für den Vorsitzender Müntefering damals selber vorgeschlagen
Eigenbedarf muss erhöht werden. Die Linken sagen: we- hat. Deswegen, liebe Kollegen der Sozialdemokratie,
niger Freiheitsentzug. Rot-Grün schreibt im Koalitions- verlieren Sie an Glaubwürdigkeit. Sie verlieren an
vertrag: Wir müssen den offenen Vollzug ausweiten. Glaubwürdigkeit, weil Sie alle Positionen, die Sie in elf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6069
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
(A) Jahren aufgebaut haben, jetzt, wo Sie in der Opposition standsgewinn für die breite Masse der Bevölkerung (C)
sind, räumen. So werden Sie das Vertrauen der Men- hängt von der Verfügbarmachung von Energie ab.
schen nicht gewinnen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So
Es bedeutet Mut, ein Sparpaket auf den Tisch zu le- ein Quatsch!)
gen. Es hat nichts mit Mut zu tun, jedem alles zu ver-
sprechen, und es hat nichts mit Mut zu tun, jedes Ge- Er hängt von der Möglichkeit ab, über Energie zu verfü-
schenk per Kredit zu finanzieren. Aber es ist mutig, zu gen, um produzieren zu können. Lieber Herr Kollege,
werfen Sie einmal einen Blick zurück in die Geschichte,
fragen: Wo kann ich einschneiden, vielleicht auch da, wo
zur Erfindung der Dampfmaschine. Gehen Sie einmal
es schwierig und durchaus umstritten ist? Deswegen ist
nach Selb ins Porzellanmuseum. Dort können Sie sich
es mutig, ein Sparpaket vorzulegen, das, wenn auch mo- das anschauen. Die Erfindung der Dampfmaschine be-
derat, den größten Ausgabenblock des Bundeshaushal- deutete einen Sprung für die Entwicklung des Wohl-
tes, den Sozialbereich, reduziert. stands der Bevölkerung.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mutig ist es, (Beifall bei der CDU/CSU)
bei den anderen zu sparen!)
In diesen Zusammenhang gehört auch die friedliche
Es ist mutig, was unsere Minister in ihren Ressorts im Nutzung der Kernenergie. Verehrte Kolleginnen und
Einzelnen leisten. Ich will nur einige herausgreifen. Kollegen der Sozialdemokratie, Sie sollten einmal nach-
Peter Ramsauer, der Bundesverkehrsminister, leistet groß- lesen, was Willy Brandt damals über die Kernenergie ge-
artige Arbeit, wenn es darum geht, die Substanz, die für sagt hat. Lesen Sie einmal nach, was er vorgeschlagen
dieses Land wichtig ist, die Infrastruktur, aufrechtzuer- hat, wie viele Kernkraftwerke man in Deutschland bauen
halten und auszubauen. müsse. Sie werden sich wundern, was da alles steht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß Eines ist aber auch richtig: Unser gemeinsames Ziel
[SPD]: Sie sind doch feige! Sie kuschen vor ist es, die erneuerbaren Energien in diesem Land voran-
den Lobbyisten!) zutreiben und mit aller Kraft ihren Anteil von Jahr zu
Wir sparen in der wichtigen Frage der Infrastruktur nicht Jahr zu steigern. Wer das Ziel hat, bis zum Jahr 2020
bei den Zukunftsinvestitionen; denn die Erschließung 18 Prozent oder 20 Prozent des gesamten Energiebedarfs
des Raumes, die Entwicklung des Landes ist davon ab- durch erneuerbare Energien zu decken, wer das große
hängig. Ziel hat, bis zum Jahr 2050 60 Prozent des Energiebe-
darfs durch erneuerbare Energien zu decken, der muss
Ilse Aigner, die Ministerin für Ernährung, Landwirt- auch die Frage beantworten, woher im Jahr 2020 die an-
(B) schaft und Verbraucherschutz, setzt sich dafür ein und deren 80 Prozent und woher im Jahr 2050 die anderen (D)
kämpft dafür, dass der ländliche Raum mit seinem 40 Prozent kommen sollen.
Potenzial, mit seinen großartigen Möglichkeiten eine
Die Antwort kann nur sein: aus Kohle, aus Gas, aus
Zukunft hat, sich einbringen kann in die Entwicklung
Öl, also aus fossilen Energieträgern, die CO2 produzie-
unseres Landes.
ren – was Gas und Öl betrifft, so machen uns diese Ener-
(Ulrich Kelber [SPD]: Pressemitteilungen gieträger zudem abhängig vom Ausland, von Ölscheichs,
schreiben ist kein Kampf!) vom Russengas –, und von der Kernenergie.
Schließlich: Klare Orientierung, Mut und Entschlos- Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, dann müs-
senheit kennt einen Namen in Deutschland: Karl- sen wir den Einsatz fossiler Energieträger und damit un-
Theodor zu Guttenberg. sere Abhängigkeit von Russland und von den Ölscheichs
erhöhen. Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten und
(Beifall bei der CDU/CSU) diese Abhängigkeit nicht erhöhen wollen, dann müssen
Er analysiert Reformbedarf, schlägt Lösungen vor und wir Strom aus den Kernkraftwerken unserer Nachbarn
setzt sie durch. Das ist entschlossene und gestaltende importieren. Es wird jetzt über eine Erweiterung des
Politik. Darum geht es. Deswegen werden wir dieses Kraftwerks in Temelin, bei mir vor der Haustür, nachge-
Land nach vorn bringen. dacht. Der damalige rot-grüne Ausstiegsbeschluss macht
diese alten Mühlen in unseren europäischen Nachbarlän-
Lassen Sie mich nun noch einige Sätze zur Energie- dern erst rentabel, während wir unsere guten sicheren
politik sagen, nachdem hier schon eine gewaltige Mi- Kernkraftwerke abschalten sollen. Sie haben sie doch
schung aus Ignoranz und Unwahrheiten – leider ist Herr nicht alle, wenn Sie das wirklich vorschlagen wollen.
Trittin nicht mehr da, aber vielleicht kann man ihm das
(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß
ausrichten – vorgeführt worden ist. Die Energieversor-
[SPD]: Was ist das denn für ein Ton? –
gung ist essenziell für unsere Wirtschaft. Es war das ver- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
arbeitende Gewerbe, das unser Land aus dieser Krise NEN]: Sehr „parlamentarisch“!)
wieder herausgezogen hat. Es stehen die Arbeitsplätze
im verarbeitenden Gewerbe auf dem Spiel, wenn wir Wir haben eine Steuer beschlossen, weil wir wollen –
nicht für eine gute, verlässliche und preiswerte Energie- anders als Sie das damals gemacht haben –, dass die vier
versorgung sorgen. großen Konzerne einen großen Teil ihres Gewinns abge-
ben,
Zur Wahrheit gehört: Wo immer Sie in die Wirt-
schaftsgeschichte schauen, stellen Sie fest: Der Wohl- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Peanuts!)
6070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


(A) sodass wir diese Mittel für die Allgemeinheit nutzbar dieser Generaldebatte, in der bis gerade in der Tat gene- (C)
machen können durch die Einstellung in den Haushalt. relle Themen behandelt wurden, steht auch der Etat des
Wir haben – dazu werden wir einen Gesetzentwurf ein- Staatsministers für Kultur und Medien zur Debatte. Ich
bringen – ihnen zusätzliche Sicherheitsauflagen gemacht. als kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfrak-
Rot-Grün hatte damals auf solche Auflagen verzichtet. tion möchte mich auf dieses engere Politikfeld konzen-
Spielen Sie sich jetzt also nicht so auf! Auch das wird trieren.
gesetzlich verankert.
Durchaus von genereller Bedeutung ist in diesem Zu-
Außerdem haben wir einen Vertrag geschlossen. In sammenhang der Aspekt der Geschichts- und Gedenk-
diesem Vertrag steht eigentlich nur – deswegen ist Ihre stättenpolitik im Hinblick auf die Stiftung „Flucht, Ver-
Aufregung gespielt und nicht nachzuvollziehen –, dass treibung, Versöhnung“. Dies ist ein wichtiges Thema des
die vier Konzerne auch Geld für erneuerbare Energien aufarbeitenden Gedenkens nach innen und außen, insbe-
herausrücken müssen. sondere gegenüber unseren europäischen Nachbarn.
(Joachim Poß [SPD]: Ja! Voller Entsetzen!) Das, was uns vor der Sommerpause massiv beschäf-
Dafür sollten Sie uns loben. Sie sollten uns sogar prei- tigt hat, war schon starker Tobak. Es war unglaublich
sen, weil wir eine so großartige Idee hatten, die Ihnen mühsam, diese Institution personell auszustatten und sie
damals, als Sie regiert haben, nicht eingefallen ist. arbeitsfähig zu machen. Dann kamen vor wenigen Wo-
chen zum Teil abstruse, kritikwürdige Äußerungen eini-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE ger Stiftungsratsmitglieder ans Tageslicht, die durch ein
GRÜNEN]: Lobpreisen tue ich woanders! Mitglied dieses Hauses noch verstärkt wurden. Ich
Und wenn, dann bestimmt nicht Sie!) wünschte mir sehr, dass sich diese Debatte, was sich in-
Das scheint das eigentliche Problem zu sein: Wir haben zwischen deutlich abzeichnet, eher in den Reihen der
einen Weg gefunden, dass sich die Kernenergie über die Union als Richtungsstreit niederschlägt und weniger die
Finanzierung der erneuerbaren Energien selbst abschafft. Arbeit der Stiftung belasten würde. Wir haben nämlich
Das ist so intelligent, dass Sie nicht darauf gekommen schon viel Zeit verloren.
sind. Ich finde es außerordentlich gut, dass eine Experten-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kommission, der ausgewiesene Historiker angehören,
neten der FDP) jetzt gewissermaßen als Außenstehende erste inhaltliche
Konzepte erarbeitet hat. Aber ich wünschte mir sehr,
Meine Damen und Herren, leider winkt mir die Frau dass insbesondere der Staatsminister für Kultur und Me-
Präsidentin zu, dass ich an dieser Stelle nicht weiterre- dien seinen veredelnden Einfluss geltend macht, damit
(B) den darf. endlich von der Institution selbst Konzepte vorgelegt (D)
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden, die die künftige Ausrichtung der Stiftung
NEN]: Das ist aber schade! – Weitere Zurufe „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ deutlich machen.
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gott sei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dank! – Preiset den Herrn!) DIE GRÜNEN)
Aber Sie haben heute ja schon in vielen Reden der Kol- Zum Kulturetat im engeren Sinne. Etatpolitik ist Ge-
legen gehört: Diese christlich-liberale Regierung ist mu- staltungspolitik. Die Frage ist, ob dieser Haushalt einem
tig und entschlossen, kulturpolitischen Gestaltungsanspruch gerecht wird. Ich
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ihr seid we- spreche zwei Themenkomplexe an.
der liberal noch christlich!) Erstens. Als zentrales Thema unter dem Obergriff
das Land zu modernisieren und es in ein neues Jahrhun- „Bildungspolitik“ ist immer und zwangsläufig die kultu-
dert zu führen, relle Bildung mitzudenken. Herr Staatsminister, hier hat
die Regierungskoalition mit dem letzten Haushalt ein
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wovon träu- markantes Zeichen gesetzt. Es wurden 2 Millionen Euro
men Sie eigentlich nachts?) bereitgestellt, um die Arbeit der kulturellen Bildung und
das ein gutes Jahrhundert für unser Land sein wird. Vermittlung in den Kulturinstitutionen des Bundes zu
verstärken. Das will ich nicht kritisieren. Nein, im Ge-
Vielen Dank. genteil, ich finde das toll.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jetzt stellen wir fest: Diese Etatposition wird deutlich
reduziert. Was wird daran für ein Gestaltungsanspruch
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: deutlich? Werden hier Felder geräumt? Haushaltskonso-
Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann lidierung ist wichtig; aber man muss die richtigen Ak-
für die SPD-Fraktion. zente setzen. Wenn wir im Kernbereich unserer eigenen
(Beifall bei der SPD) Verantwortung dieses Signal setzen, dann ist dies, wie
ich finde, mit Blick auf die kulturpolitische Bildung fa-
tal.
Siegmund Ehrmann (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Das zweite Thema ist der Denkmalschutz. Auch hier
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen erleben wir eine gewisse Dramatik. So gibt es das Pro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6071
Siegmund Ehrmann
(A) gramm „National wertvolle Kulturdenkmäler“. Die Mit- tergrund stellt sich die Frage: Können wir uns eine so (C)
tel für dieses gute Programm, das auch Investitionen mo- umfangreiche, öffentlich finanzierte kulturelle Infra-
bilisiert, werden um ein Drittel gekürzt. struktur in Deutschland weiterhin leisten? Was bringt sie
uns?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Aber in der Vergangenheit hat es ordentlich (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
zugelegt! Im letzten und im vorletzten Jahr um Ja!)
400 000 Euro!)
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Der kulturelle
Nehme ich noch hinzu, was im Hause Ramsauer disku- Reichtum unseres Landes und seine Attraktivität auch
tiert wird, dass nämlich die Mittel für den städtebauli- im Ausland hängen nicht zuletzt mit unserer reichen,
chen Denkmalschutz erheblich gedeckelt werden, und vielfältigen und dichten Kulturlandschaft zusammen.
zwar um etwa 50 Prozent – so steht es im Raum –, dann
ist das in der Addition ein mehr als fatales kultur- und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
städtebaupolitisches Signal. Es geht nicht nur um den Reiner Deutschmann [FDP])
Aspekt Kulturpolitik. Das ist auch volkswirtschaftlich Das breite Angebot nicht nur in den Stadtzentren, son-
Blödsinn. Insofern hoffe ich sehr, dass es da Korrekturen dern auch in den Regionen ist das Fundament unserer
gibt. Kulturnation. Hier wird vieles gerade auch durch hohen
Zusammenfassend komme ich zu dem Ergebnis, dass bürgerschaftlichen Einsatz geleistet.
durch diesen Etat keine kulturpolitischen Gestaltungsan- (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen
sprüche, die nach vorne weisen, zu erkennen sind. [Bönstrup] [CDU/CSU])
(Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) Die Verbindung von öffentlicher Förderung mit privater
Möglicherweise bedürfen Sie auch hier wieder des Verantwortung für die Kultur in unserem Lande ist, so
Drucks von außen. meine Überzeugung, unabdingbar, auch wenn keine Kri-
senszenarien drohen.
Wir haben das am Beispiel der Digitalisierung der
Kinos erlebt. Ich habe Zweifel, dass wir in Kürze ein Brauchen wir sie alle, die 150 Theater und die
Programm des Bundes freizugeben hätten, mit dem den 130 Orchester, die die öffentliche Hand finanziert, die
Programmkinos in der Fläche die Chance eröffnet wird, Tausenden von Museen, Galerien und Ausstellungshal-
die technische Umstellung zu realisieren, len, trotz der überbordenden Angebote in den elektroni-
schen Medien, trotz der vielfältigen privaten Freizeit-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: angebote oder der Offerten des Tourismus? Meine
(B) Da sind wir auf einem guten Weg!) Damen und Herren, meine Antwort ist: Ja, ja und noch- (D)
mals ja.
wenn wir als Sozialdemokraten nicht initiativ tätig ge-
worden wären und das nicht auf die Agenda der Kultur- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
politik im Bund gesetzt hätten. Reiner Deutschmann [FDP])
(Beifall bei der SPD) Es ist die Kultur, die unser Wertefundament bildet. Es
Fazit: Herr Staatsminister, liebe Kolleginnen und Kol- sind die Künste, die uns zum Reflektieren und Besinnen
legen der Regierungskoalition, Sie haben Gelegenheit, ermuntern. Es ist dieses gleichsam überflüssig Schei-
die Punkte, die ich hier angesprochen habe, zu korrigie- nende, das ganz wesentlich die Basis unseres Gemein-
ren. Der Staatsminister hat gleich die Chance, in seiner wesens bildet. Lassen Sie es mich plastisch sagen: Kunst
Rede seine Sicht der Dinge darzulegen. Wir werden die ist nicht das Sahnehäubchen, sondern die Hefe im Teig.
Debatte auf jeden Fall in diesem Sinne forcieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der Abg. Dr. Claudia Winterstein [FDP])

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Kultur ist gerade in der Krise ein unentbehrliches,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wesentliches, integratives Element unserer Gesellschaft.
Identität, Zugehörigkeit, Zusammenhalt – all das stiftet
Kultur.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die Bundesregierung hat Herr Staatsminister Natürlich gibt es bei der notwendigen Haushaltssanie-
Bernd Neumann das Wort. rung erst einmal keine Tabus. Alle Ausgaben müssen auf
den Prüfstand, und nicht jede Maßnahme und Förderung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch im Bereich der Kultur hält einer kritischen Über-
neten der FDP) prüfung stand. Aber eines steht auch fest: Mit Kürzun-
gen bei der Kultur kann man keine Haushalte sanieren.
Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
kanzlerin:
Richtig!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum
Schuldenabbau und zur Sanierung der Haushalte von Der Anteil der Kulturausgaben in den Ländern und
Bund, Ländern und Kommunen – das haben wir mehr- Gemeinden in Deutschland liegt bei mageren 1,9 Pro-
fach gehört – gibt es keine Alternative. Vor diesem Hin- zent, was immer noch mehr ist als beim Bund, weil dort
6072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Staatsminister Bernd Neumann


(A) die eigentliche Kompetenz liegt. Mit über 1,1 Milliarden Lieber Kollege Ehrmann, die Zeit erlaubt es mir, so- (C)
Euro, die mein Haushalt im Bund ausmacht, liegen wir gar auf Ihre beiden Bemerkungen einzugehen. Sie frag-
deutlich unter 1 Prozent. Selbst drastisches Sparen bei ten nach der kulturellen Bildung. Darum brauchen Sie
den Kulturausgaben bringt keinen bemerkenswerten sich wirklich keine Sorgen zu machen. Inzwischen ist
Konsolidierungserfolg. Aber es zerschlägt so viele anerkannt, dass wir, obwohl der Bund dort keine Kom-
kleine und auch große kulturelle Einrichtungen und Ak- petenzen hat, mit unserer Schwerpunktsetzung im Be-
tivitäten, die unsere Gesellschaft so bunt und lebenswert reich der kulturellen Bildung wirklich alles vorzeigen
machen. können. Im Prinzip brauchen wir für die Förderung be-
sonderer Maßnahmen etwa 1 Million Euro. Im letzten
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Jahr hat der Haushaltsausschuss noch einmal 1 Million
Genau das ist der Punkt!) Euro draufgelegt. Die 1 Million Euro, die wir als Basis
Deshalb bin ich stolz, dass diese Bundesregierung trotz haben, dient dazu, besondere Projekte, Pilotprojekte, die
drastischer und notwendiger Sparmaßnahmen die Kultur in den Ländern und Kommunen stattfinden, zu fördern.
geschont hat. Darüber hinaus – auch das hat es noch nie gegeben –
habe ich im letzten Jahr erstmalig eine Preisverleihung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und für kulturelle Bildung vorgenommen; wir haben sie in-
der FDP) zwischen das zweite Mal absolviert. Sie können also ganz
Damit will sie auch für die Haushalte von Ländern und sicher sein: Obwohl die Länder und Kommunen primär
Kommunen ein Beispiel geben. dafür zuständig sind – wie für Bildung überhaupt –,

Nach meiner Übernahme des Amts als Kulturstaats- (Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/
minister im Jahr 2005 gelang es, den Kulturhaushalt des CSU])
Bundes Jahr für Jahr zu erhöhen, insbesondere partei- werden wir hier weiterhin einen Schwerpunkt setzen,
übergreifend durch den Haushaltsausschuss. Für den weil wir glauben, dass kulturelle Bildung auch aus natio-
jetzt diskutierten Haushalt 2011 kann ich feststellen: Die naler Verantwortung heraus gemacht werden muss, und
Förderung kultureller Aktivitäten und Projekte wird fort- weil wir das nicht allein den Ländern überlassen wollen.
gesetzt; sie bleibt unbeeinträchtigt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
der FDP)
Der zweite Punkt, den Sie ansprachen, betraf den
Es ist gelungen, den Kulturhaushalt 2011 trotz finanziell Denkmalschutz. Ja, es gibt ein großes Sparpaket. Ich
schwieriger Zeiten stabil zu halten und neue Schwer- habe schon gesagt, dass ich erreichen konnte, dass mein (D)
(B)
punkte zu setzen. Ich verweise beispielsweise auf unsere Bereich nicht entscheidend davon betroffen ist; andere
Beteiligung bei der Vorbereitung des Jubiläums Bereiche hingegen sind schon betroffen. Auch der
„500 Jahre Reformation“ im Jahre 2017. Hierfür ha- Minister, der für Bau und Stadtentwicklung verantwort-
ben wir jährlich zusätzlich 5 Millionen Euro für die lich ist, der Kollege Ramsauer, stand vor der Aufgabe,
nächsten Jahre eingestellt. zur Sanierung des Haushalts beizutragen, und zwar auch
im Bereich Städtebausanierung. Auch mir wäre es lieber
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gewesen, wir hätten bei den alten Summen bleiben kön-
der FDP)
nen. Aber ich muss eines sagen: Das, was wir noch ge-
Ich verweise auf beträchtliche Summen in den nächsten meinsam in der Großen Koalition im Hinblick auf den
Jahren für die notwendige flächendeckende Digitalisie- Denkmalschutz mit Zusatzprogrammen gemacht haben
rung der Kinos. Kollegin Krüger-Leißner und Kollege – neben der normalen Förderung gab es ein Extrapro-
Börnsen waren ja kürzlich dabei. gramm mit 40 Millionen Euro seitens des Bundes; die
gleiche Summe kam von den Ländern hinzu –, kann sich
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE sehen lassen. Ich wäre dankbar dafür, wenn man das
GRÜNEN]: Wo waren sie dabei?) wiederholen könnte. Ich bitte die Haushälter darum, sich
An uns liegt es nicht, dass wir da nicht zu Potte kom- hier innovativ zu verhalten. Aber Sie haben recht: In
men. Im Gegenteil: Wir müssen diejenigen, um die es ei- dem anderen Bereich ist reduziert worden. Ich hoffe, das
gentlich geht, nämlich die Filmwirtschaft, noch treiben, gilt nicht auf Dauer, damit wir unser kulturelles Erbe ins-
damit es zu Ergebnissen kommt. gesamt erhalten können.
Vielleicht sollte ich noch sagen, dass es auch gelun- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab-
gen ist, für die nächsten Jahre, von 2011 bis 2014, aus schluss sagen: Dass es der Bundesregierung trotz ihres
dem Bereich der Forschungsmittel zusätzlich 41 Millio- beachtlichen Haushaltskonsolidierungsprogramms – im-
nen Euro für den BKM zu bekommen. merhin 80 Milliarden Euro bis 2014; dies sucht übrigens
in Europa seinesgleichen – gelungen ist, den Kulturbe-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist toll!) reich im Bundeshaushalt vor dramatischen Kürzungen
Auch hier haben wir Möglichkeiten, Neues zu machen. zu verschonen, ist im Vergleich mit anderen europäi-
schen Regierungen einzigartig. In Frankreich wird der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kulturhaushalt um 5 Prozent zurückgefahren. Noch dra-
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: matischere Einbrüche bei der Kultur finden Sie in Grie-
Gut gehandelt!) chenland und Italien, wo die Wiege unserer abendländi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6073
Staatsminister Bernd Neumann
(A) schen Kultur stand. Über Großbritannien war vorgestern Nachdem vor Monaten renommierte internationale Wis- (C)
in den Schlagzeilen zu lesen: Der neue Kulturminister senschaftler den Stiftungsrat verlassen haben, lässt nun
schlägt der Filmförderung den Kopf ab. – Das ist unge- der Zentralrat der Juden in Deutschland seine Mitglied-
fähr so, Frau Kollegin Roth, als würden wir die ganze schaft ruhen, ebenso der Vertreter der Sinti und Roma.
FFA und deren Zuschüsse abschaffen. In Großbritannien Ich frage Sie: Wie soll eine Bundesstiftung das Thema
zeichnen sich Streichungen im Kulturbereich von rund „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ohne jüdische Mit-
25 Prozent ab, sodass von Kulturschaffenden in Großbri- arbeit und ohne die Mitarbeit der Sinti und Roma erar-
tannien die Kampagne „Save the Arts“ ins Leben geru- beiten? Wie soll das gehen?
fen wurde. Das alles ist auf die jeweilige nationale Re-
gierung bezogen. (Beifall bei der LINKEN)

Natürlich weiß ich, dass Länder und Kommunen in Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrer eigenen Pres-
Deutschland vor großen Herausforderungen stehen. Die semitteilung erklärt, dass Sie die Äußerungen der Stif-
Arbeitsgruppe beim BMF wird voraussichtlich im tungsratsmitglieder und Landesvorsitzenden des Bundes
Herbst einen Vorschlag vorlegen, wie die Finanzvertei- der Vertriebenen Saenger und Tölg für inakzeptabel hal-
lung zwischen Gemeinden, Ländern und Bund gene- ten. Warum arbeiten Sie dann mit denen weiterhin
rell erfolgen soll. Ich hoffe, dass Länder und Kommunen zusammen? Und ich frage: Wieso sollen wir Parlamen-
der Versuchung widerstehen, gerade den Kulturbereich tarier der Millionenförderung eines solchen Skandal-
als besondere Sparbüchse zu betrachten. Dafür gibt es projekts der Erinnerungskultur zustimmen? Insgesamt
gute und schlechte Beispiele. 5 Millionen Euro in 2010 und 2011!

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Was hat die Stiftung 2010 eigentlich geleistet, außer
Jawohl! Da muss man aufpassen!) den Abgang des internationalen Wissenschaftsperso-
nals? Der Gründungsdirektor Kittel erhält seit einem
Für die Bundesregierung allerdings darf ich feststellen: Jahr Gehalt. Ein Konzept der geplanten großen Ausstel-
Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf 2011 wird die lung liegt bis heute nicht vor. Vor einer Woche hat in
Aussage in der Koalitionsvereinbarung sowohl der Gro- Berlin der Geschichtswissenschaftler Martin Schulze
ßen Koalition als auch der neuen christlich-liberalen Ko- Wessel in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Tschechi-
alition, dass Ausgaben für Kultur keine Subvention, son- schen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission
dern Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft sowie der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission
sind, eindrucksvoll unterstrichen. ein Ausstellungskonzept zum Thema „Flucht, Vertrei-
Vielen Dank. bung, Versöhnung“ vorgelegt, ausgehend von den Orten
Wroclaw, Aussig und Vilnius. Dabei wurde an den Auf-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ruf aus dem Jahr 2003 erinnert, mit dem unter anderem (D)
Bundespräsident Rau und Staatspräsident Kwasniewski
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Idee eines europäischen Zentrums der Versöh-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia nung formuliert haben. Wie weit ist heute das teure Bun-
Jochimsen für die Fraktion Die Linke. desunternehmen davon entfernt! Und wie lange wollen
wir da noch zusehen und viel Geld in Zeiten bitterer Not
(Beifall bei der LINKEN) ausgeben?

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für das dreifache Ja Ein stabiler Haushalt allein ist nicht viel wert, wenn
zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur unseres Landes. Geld für unhaltbar gewordene Projekte ausgegeben
Ich finde, Sie sind zu Recht stolz darauf, dass Ihr Haus- wird.
halt 2011 stabil geblieben ist. Das ist angesichts der bru-
talen Kürzungen sonst nicht hoch genug einzuschätzen. Im Dezember 2007 gab es einen viel beachteten Vor-
Gerade deshalb frage ich: Wofür wird das unter schwie- schlag des Willy-Brandt-Kreises. Anstelle der Stiftung
rigsten finanziellen Bedingungen erkämpfte Geld ausge- gegen Vertreibung solle ein Zentrum gegen Krieg in
geben? Berlin eingerichtet werden. Zu den Initiatoren gehörten
Egon Bahr, Günter Grass, Friedrich Schorlemmer,
Für die skandalumwitterte Bundesstiftung „Flucht, Daniela Dahn und Klaus Staeck. Über 1 000 Künstler,
Vertreibung, Versöhnung“ zum Beispiel sind 2,5 Mil- Journalisten und Politiker haben diesen Vorschlag unter-
lionen Euro für 2010 und 2,5 Millionen Euro für 2011 stützt. Das wäre eine Alternative: ein Museum, das den
eingestellt. Sind 5 Millionen Euro in diesen Zeiten der Krieg ächtet und die Ächtung der Vertreibung ein-
kulturellen Not eigentlich viel oder wenig Geld? Ich schließt. Dafür könnten 2,5 Millionen Euro gut umge-
meine, das ist sehr viel Geld für ein Ausstellungs- und widmet werden.
Dokumentationszentrum des Bundes, das seinem Auf-
trag, der Versöhnung zu dienen, von Monat zu Monat, (Beifall bei der LINKEN)
von Woche zu Woche, von Tag zu Tag immer weniger Die Linksfraktion würde das gerne unterstützen.
gerecht wird und unserem Ansehen als Kulturgesell-
schaft immer mehr schadet. Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
6074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Luther-Dekade bietet gerade den Orten der Refor- (C)
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann mation wie Wittenberg und Eisenach die einzigartige
für die FDP-Fraktion. Chance, den Grundstein für einen nachhaltigen Kultur-
tourismus zu legen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Ganz besonders liegt mir die weitere Aufarbeitung
des DDR-Unrechts am Herzen.
Reiner Deutschmann (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich danke Staatsminister Neumann Hier erweitert der Bund seine Förderung zum Beispiel
für die Vorstellung des Bundeskulturhaushaltes 2011. mit zusätzlichen Mitteln für den Ausbau der Zeitzeugen-
Damit ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, büros. Auch die weitere Umsetzung des Gedenkstätten-
die Kulturausgaben des Bundes trotz der schweren konzepts zur Erinnerung an das NS- und SED-Unrecht
Finanz- und Wirtschaftskrise stabil zu halten. Zwar ist wird durch den Zuwachs befördert. Zusammen mit den
uns in diesem Jahr kein Aufwuchs gelungen. Trotzdem Mitteln für den Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals
ist vorgesehen, auch neue Projekte zu fördern. Es ist stellt der Bund dafür 22 Millionen Euro zur Verfügung.
durchaus ein Erfolg, dass sich die Kulturförderung nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
geringfügig an den Einsparungen des Bundeshaushaltes der CDU/CSU)
beteiligen muss, während der Gesamthaushalt des Bun-
des um 3,8 Prozent sinkt. Damit setzt die Koalition ein Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir
deutliches Zeichen für die Kultur. sicher, dass sich – wie immer – auch über diesen Haus-
halt trefflich streiten lässt. Dennoch glaube ich, dass al-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len Kulturpolitikern dieses Hauses insgeheim oder offen
Denn bis auf wenige Ausnahmen werden die Einsparun- bewusst ist, dass ein solcher Haushaltsentwurf keine
gen im Kulturhaushalt durch das Auslaufen von Einzel- Selbstverständlichkeit ist, sondern harter Arbeit bedarf.
maßnahmen erzielt. Dadurch können die vielen dauerhaft Die christlich-liberale Koalition stellt damit sicher, dass
geförderten Einrichtungen sowie Projekte erfolgreich der Bund seiner Verantwortung für die Förderung und
weitergeführt werden und sogar neue hinzukommen, Bewahrung der Kultur unter Beachtung der Kulturkom-
auch zur Förderung der Laienkultur. petenz der Länder und Kommunen gerecht wird.
Die aktuellen Wirtschaftsdaten hören sich gut an. Die In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von
Arbeitslosigkeit sinkt. Die Wirtschaft wächst wieder, Theodor Heuss schließen:
(B) und die Wachstumsrate überrascht die Ökonomen im In- (D)
Mit Politik kann man keine Kultur machen, aber
und Ausland. Liest man die Presse, so erfährt man, dass
vielleicht kann man mit Kultur Politik machen.
das Ausland mit Bewunderung auf das Krisenmanage-
ment in unserem Land schaut. Deutschland scheint so
vom angeblich kranken Mann Europas zu dessen Lehr- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
meister zu werden. Für uns Liberale hat trotz dieser Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun das
positiven Entwicklung die Haushaltskonsolidierung Wort die Kollegin Agnes Krumwiede.
höchste Priorität. Die Schulden müssen eingedämmt
werden. Sonst rauben wir zukünftigen Generationen die Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Luft zum Atmen. Auf Schuldenbergen wächst keine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kultur. Kollegen! „Das Wesentliche ist für die Augen unsicht-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bar.“ Das gilt für den Rückwärtsgang ins radioaktive
der CDU/CSU) Atomzeitalter genauso wie für Entstehungsprozesse in
der Kunst. Um die richtigen Entscheidungen für Mensch
Schuldenberge und die dann zwangsläufig notwendige und Umwelt zu treffen, brauchen wir Herz und Verstand.
Rotstiftpolitik gefährden insbesondere die kulturelle Bil- Wir verstehen unter einem Aufbruch, unter einem neuen
dung für unsere Kinder und Jugendlichen. Deswegen ist Denken, Erneuerung und nicht das Verharren im techno-
jede sinnvolle – ich betone: sinnvolle – Sparanstrengung kratischen Systemfehler.
zu begrüßen, auch wenn Sparen bei manchen sehr un-
populär zu sein scheint. Aber genau dadurch erhalten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und schaffen wir finanzpolitische Handlungsspielräume,
Wir dürfen nicht zulassen, dass uns spätere Generationen
die zukünftig auch der Kulturförderung dienen werden.
auf den Gattungsbegriff Homo oeconomicus reduzieren,
Wie erwähnt, sieht der Haushaltsentwurf auch neue der sein Handeln allein an materieller Bereicherung aus-
Förderungen vor. Hervorzuheben sind insbesondere die gerichtet hat.
5 Millionen Euro, die laut Haushaltsentwurf für die
Die schwarz-gelbe Kulturpolitik ist bei der Haushalts-
Luther-Dekade bereitgestellt werden. Damit fördert der
planung 2011 symptomatisch für eine einseitige Förde-
Bund zu Recht und frühzeitig einen kulturellen und kul-
rung der repräsentativen Materie. Allein für die Vorbe-
turtouristischen Höhepunkt in unserem Land.
reitung des Reformationsjubiläums sind im Haushalt
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 5 Millionen Euro vorgesehen. Das ist fast doppelt so viel
der CDU/CSU) wie für die Künstlerförderung. Das erlaubt die Frage,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6075
Agnes Krumwiede
(A) was die Veranstaltung insgesamt kosten soll; denn das Kultur, damit Ausgrenzung und Gewalt keine Chance (C)
Jubiläum findet erst 2017, also in sieben Jahren, statt. haben.
Kulturförderung hat aber nicht nur mit der Verteilung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Mittel zu tun, sondern auch mit Ideen. Herr sowie des Abg. Christoph Poland [CDU/
Neumann, wo bleiben Ihre Ideen und Konzepte zur Ver- CSU])
besserung der sozialen Lage von Kulturschaffenden,
Noch einige Worte zu den Vorgängen um die Stiftung
um die Ausbeutung hochqualifizierter Musiker als Prak-
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Jeder hat das
tikanten und als Honorarlehrkräfte zu beenden?
Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht das Recht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf seine eigenen Fakten, auch nicht Frau Steinbach.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
KEN)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wo bleibt die Einführung einer Ausstellungsvergütung Wer durch sein Verhalten und unterschwellige Äußerun-
für bildende Künstlerinnen und Künstler? Wir werden gen ausländische Wissenschaftler, Sinti und Roma und
Ihnen in nächster Zeit konkrete Vorschläge machen. den Zentralrat der Juden aus der Stiftung vertreibt, dient
Ein weiterer Schwerpunkt des Haushalts liegt auf der nicht dem Stiftungszweck der Versöhnung.
Vergabe von Forschungsgeldern. Eine der zahlreichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aktuellen Studien zur Lage der Kulturschaffenden in sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutschland besagt: Zwei Drittel der Theaterschaffen-
den und Tänzer leben unterhalb der Armutsgrenze. Herr Wir fordern, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
Neumann, wir kennen die alarmierenden Statistiken und die Herren Tölg und Saenger aus dem Stiftungsrat abbe-
Zahlen. Es ist absurd, dafür Forschungsgelder auszuge- rufen werden. Außerdem fordern wir ein Moratorium
ben und gleichzeitig bei der Förderung von Künstlern zu und eine Haushaltssperre, bis geklärt ist, ob diese Stif-
sparen oder Stipendienprogramme – wie bei der deut- tung in ihrer jetzigen Form überhaupt noch Sinn macht.
schen Künstlerakademie in Istanbul – ganz zu streichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Brigitte
sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE Zypries [SPD])
LINKE])
Ich wünsche mir, dass wieder mehr Kulturschaffende
Was helfen Statistiken, wenn die Regierung aus den Er- Vertrauen in die Politik gewinnen; denn wir brauchen
(B) kenntnissen keine Konsequenzen zieht? Vonseiten der dringend ihre kreativen Impulse, die Ideen der Querden- (D)
Regierungsbank fehlt der Mut, in die Kulturlandschaft ker, ihre Interpretationen unserer Gesellschaft in Klän-
von morgen zu investieren, in das, was Kunst ausmacht, gen oder Bildern, damit wir das Wesentliche in dieser
nämlich noch nicht sichtbar zu sein, der Mut, das Ideelle Welt wieder erkennen können. Es ist nicht gesagt, dass
zu fördern, die Entstehungsprozesse von neuem. es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel wissen
meine Fraktion und ich: Es muss anders werden, wenn
Wir haben die Aufgabe, Mittel so zu verteilen, dass es gut werden soll.
sie bei den Menschen ankommen, die durch ihre Kunst
unser Land und die Gesellschaft bereichern oder berei- Vielen Dank.
chern werden. Es ist von nationaler Bedeutung, junge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Menschen in ihrem eigenen künstlerischen Ausdruck zu
bestätigen. Wir fordern ein Konzept zur Stärkung der
Jugendkultur, das Jugendliche mit ihren Interessen in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
den Mittelpunkt stellt, egal ob Hip-Hop, Klassik oder Zu diesem Einzelplan liegen keine weiteren Wortmel-
Zirkus. dungen vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Aus-
sowie bei Abgeordneten der SPD) wärtigen Amts, Einzelplan 05.

Denn Kultur hat einen unmittelbaren Einfluss auf un- Als erstem Redner erteile ich dem Bundesaußen-
ser Denken und Fühlen und somit auch auf unser Verhal- minister Dr. Guido Westerwelle das Wort.
ten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir müssen endlich anfangen, Kultur mit Bildung der CDU/CSU)
und Kunst mit Lernen zu verknüpfen. Kulturpolitik ist
auch Integrationspolitik. Aber was ist der Regierung Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
Integration wert? Schwarz-Gelb kürzt die Mittel für den wärtigen:
Integrationsplan und damit ausgerechnet für die Integra- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
tionsförderung. Kultur muss beim Thema Integration Herren! Erlauben Sie mir, dass ich aus aktuellem Anlass,
eine größere Rolle spielen. Gemeinsame kulturelle Akti- bevor ich in die Grundsätze der Außenpolitik einsteigen
vitäten geben Kindern und Jugendlichen die Möglich- möchte, nicht nur für die Bundesregierung, sondern für
keit, sich über alle Sprachgrenzen hinweg in einer ge- das gesamte Hohe Haus erkläre, wie froh wir sind und
meinsamen Sprache zu verständigen. Wir brauchen wie sehr wir begrüßen, dass aus den indirekten Gesprä-
6076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) chen im Nahen Osten direkte Friedensgespräche gewor- bettet. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass (C)
den sind. Wir betrachten dies als einen Fortschritt. Es ist Europa keinen Schaden nimmt, auch nicht nach der
im Augenblick noch nicht viel mehr als eine Chance. Wirtschafts- und Finanzkrise!
Viele haben vor einigen Monaten nicht für möglich ge-
halten, dass es überhaupt noch direkte Friedensgesprä- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
che geben kann. Unser Appell von Deutschland aus ist, Es ist vor allen Dingen zuallererst auch ein großes
dass alle Beteiligten des Friedensprozesses im Nahen Friedensprojekt, das uns hier verbindet. Deswegen ist es
Osten alles unterlassen, was diesen Friedensprozess ge- notwendig, dass derjenige, der Europa schützen will, be-
fährden kann. Wir setzen auf eine Zweistaatenlösung. reit ist, die Regeln zu verändern. Ich habe mit Interesse
Dazu zählt der vollständige Gewaltverzicht, dazu zählt heute Morgen die Generalaussprache verfolgt und will
aber selbstverständlich auch das Einfrieren aller Sied- mir einen Punkt herausgreifen, bei dem ich doch recht
lungsaktivitäten. Das ist die gemeinsame Haltung dieses verwundert bin. Von der Opposition ist der Vorwurf an
Parlaments. die Bundeskanzlerin, an die ganze Regierung gerichtet
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der worden, man hätte bei der Rettung, der Stabilisierung
SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN des Euro, der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu spät gehandelt, sich zu lange Zeit gelassen. Ich halte
das für einen völlig unbegründeten Vorwurf, und zwar
Wir leisten unseren Beitrag im Nahen Osten. Wir leis- aus einem ganz einfachen Grund.
ten unseren Beitrag als Europäerinnen und Europäer
durch eine koordinierte Außenpolitik, wobei der Lissa- Ich bin dabei gewesen, gemeinsam mit der Bundes-
bon-Vertrag die Möglichkeit eröffnet, unsere Außenpoli- kanzlerin und dem Bundesfinanzminister, als die Ge-
tik mehr und mehr abzustimmen. Wir alle werden in den spräche stattgefunden haben. Am Anfang, als Griechen-
nächsten Jahren noch viel darüber reden, wie sich die na- land in Schwierigkeiten kam, ist von uns sofort verlangt
tionale Außenpolitik vor dem Hintergrund des Europäi- worden: Legt ihr in Europa jetzt doch einmal einen
schen Auswärtigen Dienstes und der Möglichkeiten der Scheck hin, stellt ihn aus, und dann ist die Krise vorbei;
strukturierten Zusammenarbeit auf der Grundlage des das Problem ist gelöst. – Hätten wir das gemacht, hätten
Lissabon-Vertrags verändert. Eines ist völlig klar: Wir wir gewissermaßen sofort den Blankoscheck auf den
haben dann Chancen, in der Welt mit Autorität aufzutre- Tisch in Brüssel gelegt, den Sie als Opposition gefordert
ten, wenn wir in Europa eine gemeinsame Sprache spre- haben, dann hätten wir keinerlei strukturelle Verände-
chen. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Lehren aus rungen in den Nationalstaaten erlebt. Wir hätten nicht
unserer Geschichte beherzigen, gerade in den Tagen, in erlebt, dass in Griechenland ein Sparhaushalt mit ernst-
denen sich der Zwei-plus-Vier-Vertrag jährt. Wir stehen haften Bemühungen auch um Strukturreformen durchge-
(B)
für das europäische Kooperationsmodell, das das Kon- setzt wird. Wir hätten zwei Monate später schon den (D)
frontationsmodell überwunden hat. Wir können nieman- nächsten Scheck ausstellen müssen und dann wieder den
dem in der Welt vorschreiben, wie er zum Frieden findet. nächsten Scheck ausstellen müssen. Wir hätten gutes
Wir können aber eines tun: Wir können die europäische Geld in Wahrheit in ein Fass ohne Boden geworfen.
Erfolgsgeschichte allen Konfliktregionen der Welt zur Deswegen war es richtig, dass die Bundesregierung
Nachahmung empfehlen. im Frühjahr bei der Lösung der Wirtschafts- und Finanz-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) krise gesagt hat: Wir sind bereit zur Solidarität, aber wir
erwarten auch, dass jeder seine Hausaufgaben macht.
Wir wollen Kooperation statt Konfrontation. Das ist die Zum Nulltarif gibt es Solidarität nicht. Solidarität gibt es
Lehre aus unserer Geschichte auf dem Kontinent. nur, wenn es auch Selbstverpflichtung gibt.
Europa – das spüren wir alle – befindet sich in einer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bewährungsprobe. Damit will ich, weil das in den ersten
Monaten die Kräfte dieser Regierung ganz überwiegend Wir müssen jetzt die Debatte führen: Was folgt daraus
gebunden hat, beginnen. Wir haben eine europäische für uns in Europa? Wie müssen wir die Regeln ändern?
Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen gehabt. Dabei geht es einmal um das große Paket der Sanktio-
Diese europäische Wirtschafts- und Finanzkrise zu be- nen: Was passiert, wenn eine Regierung zum Beispiel
wältigen, das war weit mehr als das Sichern unserer über Jahre manipulierte Zahlen meldet oder sich über
Währung, das war weit mehr als das Sichern unserer Jahre außerhalb jeder Haushaltsdisziplin stellt oder über
Wirtschafts- und Exportchancen. In Wahrheit ging es Jahre entgegen dem Stabilitätspakt Schulden aufnimmt?
auch darum, Europa als eine politische Union zu vertei- Die erste Sache ist: Das muss dann auch Konsequenzen
digen. Es ist in diesen Zeiten nach der Wirtschafts- und haben. Deswegen ist das, was im Hinblick auf 2004 und
Finanzkrise in Europa natürlich leicht geworden, über 2005 von der jetzigen Bundesregierung als damaliges
Europa auch gefällige schlechte Reden zu halten. Jedem Fehlverhalten kritisiert wird, etwas, was uns heute noch
fällt irgendwo auch etwas ein. Aber man machte einen beschäftigt. Wir sagen in Europa heute: Ihr müsst bereit
großen Fehler, wenn man es nach den schwierigen Pha- sein, auch zu Hause stabile Staatsfinanzen zu organisie-
sen, die wir in den letzten Monaten gehabt haben, zu- ren, auch in Ländern, die eine andere Stabilitätskultur
ließe, dass über die Wirtschafts- und Finanzkrise ein haben als wir Deutsche. Dann bekommt man den Hin-
Schaden am Projekt der Europäischen Union entsteht. weis: Als es bei euch eng war, als ihr unter politischem
Die Zukunft Deutschlands, sie lag in Europa, sie liegt in und ökonomischem Druck standet, habt ihr als großes
Europa, und sie ist auch in Zukunft fest in Europa einge- Land als Erstes den Stabilitäts- und Währungspakt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6077
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) aufgeweicht. Es war ein historischer Fehler der Regie- solchen Krisen kommen sollte, auch wenn wir alle daran (C)
rung von SPD und Grünen, dass sie im Jahr 2004 den arbeiten, dass sich dieser Fall nicht wiederholt.
Stabilitätspakt aufgeweicht hat. Noch heute tragen wir
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen
an den Folgen, die sich daraus ergeben.
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den Sie das denn auf dem nächsten Europäi-
schen Rat so beschließen, Herr Außenminis-
Meine Damen und Herren, es ist absolut berechtigt, ter?)
Sie dafür zu kritisieren, dass Sie in diesem Jahr erneut
nicht bereit waren, wenigstens an der Beseitigung der – Ja, das ist genau der Punkt, warum ich das hier an-
Folgen dieser Politik mitzuwirken. Ich halte das für ei- führe. Statt das hier zu kritisieren – –
nen schweren Fehler; denn es ging natürlich nicht nur (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
um den Schutz der europäischen Währung, sondern auch NEN]: Eine Frage, keine Kritik!)
um den Schutz von Europa. Sich dafür einzusetzen, ist
eine wesentliche Grundlinie deutscher Außenpolitik. Das, was ich gerade zusammengefasst habe, sollten mei-
Deutsche Außenpolitik ist eingebettet in die internatio- nes Erachtens in dieser heißen Phase der Verhandlungen
nale Staatengemeinschaft und geschieht vor allen Din- – das sage ich vor dem Hintergrund der anstehenden Be-
gen in Abstimmung mit der Europäischen Union. ratungen – nicht die Bundesregierung, die Koalitions-
fraktionen alleine verhandeln, sondern eigentlich sollte
Gerade weil wir Europa schützen wollen, arbeiten wir jeder von Ihnen uns in seinen Kreisen und Parteifamilien
jetzt daran, die Regeln zu verändern, wollen wir dafür in Europa dabei unterstützen, damit wir Erfolg haben.
sorgen, dass es wirklich Konsequenzen hat, wenn ein Das sollten Sie tun, anstatt hier alles immer nur zu kriti-
Land gegen die Stabilitätspflichten verstößt, zum Bei- sieren.
spiel in der Form, dass sämtliche Infrastrukturmittel der
Europäischen Union gekürzt oder gar gestrichen werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Verstöße dürfen nicht folgenlos bleiben. Nachdem es Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
fast 40 Verstöße gegen die Stabilitätsregeln in Europa Ich würde Sie gern unterstützen, aber Sie ha-
gegeben hat, ohne dass es ein einziges Mal Konsequen- ben das von der Tagesordnung des Rates abge-
zen für die entsprechenden Nationalstaaten gehabt hat, setzt!)
dürfte doch jedem klar sein, dass der europäische Stabi- Meine Damen und Herren, wie attraktiv Europa ist,
litätspakt Zähne braucht. Wer Europa schützen will, das sehen wir derzeit auch an der Debatte, die wir auf
muss jetzt handeln. dem westlichen Balkan ausgelöst haben. Auch das muss
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) noch einmal erwähnt werden, weil wir in diesen Tagen (D)
(B)
einen bemerkenswerten Erfolg europäischer Diplomatie
Das bedeutet allerdings auch, dass wir nicht bereit erlebt haben, und zwar bei der Frage der Lösung der
sind – das haben wir hier im Parlament auch in zwei gro- Konflikte zwischen Serbien und Kosovo. Diese Ange-
ßen Debatten besprochen –, einfach nur einen Krisenme- legenheit wird bei uns gerne etwas geringgeschätzt, aber
chanismus zu verlängern. Statt gewissermaßen den wer sich daran erinnert, dass es vor etwas mehr als ei-
Hilfsmechanismus in Form der Garantiezusagen natio- nem Jahrzehnt noch einen Krieg in dieser Region gab,
naler Parlamente bzw. von Nationalstaaten, also den Ret- und wer sich an die Konsequenzen erinnert, die das auch
tungsschirm, zu verlängern, fordern wir ganz klar, dass für uns gehabt hat, der kann die Lösung der Probleme
in Europa eine strukturelle Veränderung stattfindet, bei auf dem westlichen Balkan nur mit voller Aufmerksam-
der natürlich auch die privaten Gläubiger einbezogen keit betrachten.
werden müssen. Die Lehre aus der Krise, die wir nicht
anders hätten bestehen können als so, wie wir es getan (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
haben, muss sein, Bereitschaft dafür zu wecken und un- Deshalb haben wir uns um die Lösung der Probleme
seren Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Regeln än- gekümmert. Dies hat nicht nur die Bundesregierung,
dern. Entsprechende Debatten führen wir derzeit. Es sind sondern haben auch viele Verbündete wie zum Beispiel
schwierige Debatten, weil es viele Länder gibt, die an- die Briten getan. Ich erwähne in diesem Zusammenhang
ders vorgehen wollen. Catherine Ashton, über die oft schlecht geredet wird.
Aber das ist in meinen Augen sehr unfair, weil sie genau
Wir Deutschen stehen dabei übrigens nicht allein,
in diesem Punkt dazu beigetragen hat, der europäischen
sondern es gibt auch sehr viele, die ganz genau wissen,
Diplomatie zu einem Erfolg zu verhelfen.
wie gefährlich es für Europa ist, wenn die Stabilitätskul-
tur den Bach heruntergeht. Wir müssen hier unseren Es ist ein großer Erfolg. Die Serben haben ihre Reso-
deutschen Beitrag leisten. Ich glaube im Gegensatz zu lution zurückgezogen. Sie haben sich auch auf unsere
dem, was Sie hier vertreten, nicht, dass das Deutschland Initiative hin der Haltung der 27 EU-Mitgliedstaaten an-
isoliert. Ganz im Gegenteil: Wer jetzt dafür sorgt, dass geschlossen. Sie haben erklärt: Wir sind jetzt auch zu di-
die Regeln in Europa verändert werden, der handelt rekten Gesprächen bereit. Deswegen sage ich: Dann sind
nicht nur im Interesse deutscher Steuerzahlerinnen und wir bereit, den Staaten des westlichen Balkans in Zu-
Steuerzahler, sondern er schützt und bewahrt in Wahrheit kunft die europäische Perspektive anzubieten, die wir ih-
auch den Kerngedanken der Europäischen Union. Neben nen in den letzten Jahren immer angeboten haben. Sie
Sanktionen ist allerdings auch eine Beteiligung der pri- haben Wort gehalten, und wir sollten das bei unseren
vaten Gläubiger nötig, wenn es künftig noch einmal zu Entscheidungen in Europa berücksichtigen.
6078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie eingetreten ist, weil man vor Überraschungen gefeit sein (C)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- möchte.
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vor diesem Hintergrund frage ich: Glauben Sie nicht
auch, dass die Verhandlungsstrategie, in deutschen Me-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dien davon zu sprechen, Stimmrechte auszusetzen und
Herr Kollege Westerwelle, möchten Sie eine Zwi- Mitglieder auszuschließen, nicht ganz so passend war,
schenfrage des Kollegen Sarrazin zulassen? weil überall Vertragsänderungen notwendig sind? Letzt-
endlich sind aus Deutschland keine konstruktiven Lö-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- sungsvorschläge gekommen, die durchsetzbar sind. Zum
wärtigen: Thema Stabilität, Stabilitätskultur und Verbindlichkeit
Wer? wird die Van-Rompuy-Gruppe keine Ergebnisse liefern,
obwohl Sie sich dort angeblich sehr engagiert haben.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Wie stehen Sie dazu?
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sarrazin!)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Es ist zu einfach, wie Sie es schildern. Denn es ist
Herr Sarrazin. schon etwas schwieriger, mit 27 EU-Mitgliedstaaten mit
sehr unterschiedlichen Währungskulturen, Stabilitäts-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- vorschriften und Haltungen zu einem gemeinsamen Er-
wärtigen: gebnis zu kommen. Das sei einmal vorausgeschickt.
Ist der jetzt auch Mitglied dieses Hauses? Dieses haben auch Regierungen vor uns erlebt, jeden-
falls die, die das Thema Stabilität noch ernst genommen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: haben. Ich denke insbesondere an die letzte Regierung
Ja, schon seit einiger Zeit. von Helmut Kohl.
(Unruhe bei der SPD)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen: – Ja, natürlich. Die gesamte Diskussion über die Euro-
päische Zentralbank war nichts anderes als Ausdruck un-
Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung.
serer Stabilitätskultur.
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, ich bin nicht nur Mitglied dieses Hau- Es ist richtig, dass selbst Länder, mit denen wir eng
ses. Ich gehöre auch einer anderen Fraktion an und habe zusammenarbeiten, die Dinge anders bewerten. Wir ha-
andere Überzeugungen. ben gesagt: Entschieden wird erst, wenn es eine schriftli-
che Vorlage gibt; denn wir wollen Ihnen gegenüber ver-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- lässlich sein und das beachten, was diese Regierung dem
wärtigen: Hohen Hause zugesichert hat. Das können Sie als Parla-
Wenn Sie jetzt noch ein Buch schreiben, bin ich platt. mentarier auch erwarten. Sollen wir unverbindlich
mündlich etwas beschließen, was nachher von jedem
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Land unterschiedlich interpretiert wird? Sie als Parla-
mentarier sollten eigentlich Wert darauf legen, dass Sie
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bei der fundamentalen Frage „Was wird aus dem Euro
Ich habe zwar überlegt, ob ich eine Partei gründe. und der Stabilität Europas?“ etwas schwarz auf weiß auf
Aber ich bin in meiner Fraktion ganz gut aufgehoben. dem Tisch haben. An anderen Stellen beklagen Sie Ge-
heimabreden, und jetzt schlagen Sie uns ein solches
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- Handeln vor. Das funktioniert nicht.
wärtigen: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Frau Roth, ich glaube, da haben Sie noch etwas zu
tun. Zur europäischen Perspektive zählt in meinen Augen
vor allen Dingen auch ein Kernanliegen meiner persönli-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) chen Arbeit im Auswärtigen Amt und in Europa, näm-
lich dass wir nicht nur mit den größeren Staaten in
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Europa gut und solide zusammenarbeiten, sondern dass
Entschuldigen Sie, dass ich jetzt an dieser Stelle, wo wir mit der gleichen Aufmerksamkeit und Wertschät-
Sie gerade über Serbien und den Westbalkan reden, eine zung auch die kleineren und mittelgroßen Staaten in
Frage zu dem vorherigen Punkt stelle. Uns wurde aus Europa auf gleicher Augenhöhe behandeln. Das ist ein
dem AStV berichtet, dass Deutschland für eine Verta- Prinzip der ersten zehn, elf Monate meiner Amtszeit ge-
gung des Beschlusses von Schlussfolgerungen im Zu- wesen. Es ist wichtig, zu begreifen, dass das in unserem
sammenhang mit den Ergebnissen der Van-Rompuy- eigenen Interesse liegt; denn nach dem Lissabon-Vertrag
Taskforce, der eigentlich für morgen vorgesehen war, werden diese kleineren und mittelgroßen Staaten in der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6079
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) Findung der europäischen Entscheidungen für uns im- Thema auf den Titelseiten sein; ich muss das zur Kennt- (C)
mer wichtiger und immer bedeutsamer. nis nehmen.
Meine Damen und Herren, dazu zählt für mich auch, Dass ein solcher Durchbruch, den wir mit erarbeitet
dass wir Europa nicht nur als ein Europa begreifen, wie haben, nämlich der Erfolg der New Yorker Überprü-
es jedenfalls diejenigen in den letzten Jahren überwie- fungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag, in den
gend wahrgenommen haben, die im Westen der Repu- öffentlichen Debatten nicht als eine zentrale Leistung
blik groß geworden sind, nämlich als ein Westeuropa. gewürdigt wird, enttäuscht mich und macht mich be-
Europa ist für uns nur komplett, wenn wir Europa um- sorgt; denn wenn sich immer mehr Staaten atomar be-
fassend verstehen. Dazu zählt ausdrücklich auch Ost- waffnen, dann wird die Gefahr, dass Terroristen Zugriff
europa. auf solche Waffen nehmen, immer größer. Das ist eine
empfindliche Bedrohung der Menschheit, des Friedens,
Ich habe nicht ohne Grund meinen ersten Antrittsbe- der Bürgerinnen und Bürger auch in unserem Land. Des-
such in Warschau gemacht. Ich bin dafür auch kritisiert wegen bleibt es Überschrift und Markenzeichen der Au-
worden. Ich kann Ihnen versichern, das hat zu keinerlei ßenpolitik dieser Bundesregierung: Deutsche Außen-
Verwerfungen in Paris geführt. Viele von Ihnen wissen politik ist Friedenspolitik. Deutsche Außenpolitik setzt
auch, dass das stimmt. Aber es hat vor allem im Osten auf Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung. Das mag
ein wichtiges Signal gegeben. Die Freundschaft, die wir im Augenblick nicht die Titelseiten erreichen. Aber es ist
zu unseren Nachbarn im Westen als selbstverständlich dringend notwendig.
erleben, ist – wie wir in den jüngsten Tagen gesehen ha-
ben – gegenüber unseren Nachbarländern im Osten über- Ich werde in der nächsten Woche gemeinsam mit Ja-
haupt noch nicht selbstverständlich. Wir sind erst dann pan eine neue Gruppe von Staaten gründen, die sich be-
zufrieden, wenn wir dieselbe enge Freundschaft zu allen sonders beim Thema „nukleare Nichtverbreitung und
unseren Nachbarländern – West wie Ost – begründet ha- Abrüstung“ engagieren wollen. Ich bitte um kräftige Un-
ben. terstützung und Mithilfe bei diesem wichtigen gemeinsa-
men europäischen und nationalen Projekt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Zu Geschichtsdebatten habe ich alles Notwendige ge- der Abg. Uta Zapf [SPD])
sagt.
Meine Damen und Herren, es gäbe noch eine Menge
Was das Thema der globaleren Politik angeht, so will über die strategischen Partnerschaften zu sagen. Ich
ich jetzt nicht auf alles eingehen. Man müsste viel zur denke, Sie wissen, dass man nicht zu allem etwas sagen
Türkei sagen. Sie wissen, meine Damen und Herren Kol- kann. Wir müssten viel über die Werteorientierung re- (D)
(B) legen, dass ich dazu nie ein öffentliches Wort gescheut
den.
habe, auch wenn es gelegentlich nicht nur Zustimmung
bringt. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sie sollten
etwas zu Afghanistan sagen!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der Beifall von Ihrer Seite fiel aber be- – Dazu habe ich jetzt zweimal eine Regierungserklärung
scheiden aus!) abgegeben; das wissen Sie. Ich kann aber, wenn Sie es
möchten, gern noch etwas dazu sagen.
Was die globale Politik angeht, so will ich noch etwas
zur Abrüstungsagenda sagen. Ich nehme mit etwas Be- Was Afghanistan angeht, so will ich Ihnen ganz klar
unruhigung und sorgenvoll auf, wie bei uns in der öffent- sagen: Ich mache mir da überhaupt nichts vor. Wir ste-
lichen Debatte zum Teil über Abrüstung gesprochen hen vor einem sehr schwierigen Wochenende. Wir sind
wird, als ob Abrüstung ein Thema der 80er-Jahre sei. bereit, als internationale Staatengemeinschaft unseren
Damit wir uns nicht missverstehen: Das richtet sich jetzt Beitrag dazu zu leisten, dass diese Wahlen auch wirklich
nicht an die Opposition. Das richtet sich ausdrücklich an frei stattfinden können. Wir appellieren an die afghani-
niemanden in diesem Hause, sondern grundsätzlich an sche Regierung und erwarten von ihr, ihren Beitrag dazu
zu leisten, dass diese Wahlen wirklich frei stattfinden
(Jan van Aken [DIE LINKE]: Warum sagen können. Zugleich dürfen wir nicht die Illusion verbrei-
Sie das dann?) ten, als seien dort Wahlen mit mitteleuropäischen Maß-
– ich sage es Ihnen – to whom it may concern. – Jetzt stäben zu erwarten. Auch da ist eine Portion Realismus
sind Sie überrascht, oder? Das war Englisch. angebracht.

(Heiterkeit bei der FDP) Wir werden weitere Rückschläge bei der Sicherheits-
lage erleben. Trotzdem bleiben wir bei dem Ziel, das wir
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der entschei- uns gemeinsam in London und Kabul gesteckt haben,
dende Punkt dabei ist, dass Abrüstung in meinen Au- nämlich dass wir uns eine Abzugsperspektive erarbeiten
gen, und zwar gerade im nächsten Jahrzehnt, eine ebenso wollen und dass wir Präsident Karzai bei seinem Ziel un-
große Bedeutung für die Menschheit haben wird wie das terstützen, dass er im Jahre 2014 die Sicherheitsverant-
Thema Klimaschutz. Ich glaube, wir unterschätzen die wortung für sein Land übernimmt. Das heißt nicht, dass
Gefahr, die zum Beispiel aus nuklearer Verbreitung für wir uns dann aus der Verantwortung stehlen. Das heißt,
den Frieden in der Welt und auch für die Bürgerinnen dass die Sicherheitsverantwortung übergeben wird. Das
und Bürger entsteht. Deshalb mag das zurzeit nicht erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht. Bei al-
6080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) lem Respekt – Sie können alles kritisieren –: Diese Bun- die Sie hier über einen gewissen Zeitraum hinweg gehal- (C)
desregierung ist die erste Bundesregierung, die diesem ten haben, zumindest zum Schluss eine halbe Minute
Hohen Hause ein umfassendes Afghanistan-Konzept zur lang über das hätten reden sollen, was eigentlich auf der
Beratung vorgelegt hat. Tagesordnung steht, nämlich über Ihren Einzelplan. Ich
glaube, Sie sind ganz bewusst über diese Frage hinweg-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gegangen. Zum Schluss haben Sie sozusagen ein Zah-
Wir müssten über die strategischen Partnerschaften lenspiel vorgelegt, das vollkommen an der Realität vor-
sprechen; sie wissen, dass wir im Augenblick in Europa beigeht.
über China und Indien beraten. Wir müssten über Pakis-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tan und vieles mehr reden. Da wir hier mehrfach darüber
DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/
beraten haben, habe ich mir erlaubt, die drei Schwer-
CSU]: Herr Kollege, welche Zahl war denn
punkte zu unterstreichen, die mir wichtig sind, in Europa
falsch?)
und, was das Thema Abrüstung angeht, international.
Ich will in meinen Ausführungen auf diese Frage zu-
Ich möchte zum Schluss nur um eines bitten – –
rückkommen.
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Wie wäre es
Ich will versuchen, die letzten zehn Monate Revue
denn mit dem Haushalt?)
passieren zu lassen. Ich will Ihnen überhaupt nicht Pa-
– Ich wollte eine Schlussbemerkung zu der Finanzvertei- thos und Demut absprechen; Sie haben in den vergange-
lung machen. Herr Kollege, bisher war es immer üblich, nen Wochen und Monaten oft genug Pathos und Demut
dass die Einbringung des Haushalts eine politische Ein- gezeigt. Sie haben sich auch hingestellt und gesagt: Es
bringung ist und nicht das Vorlesen eines Zahlenwerkes. ist eine Ehre, diesem Land zu dienen. Ja, das ist es in der
Hätte ich die Zahlen vorgetragen, würden Sie mir übri- Tat. Ich glaube aber, man kann unserem Land und der
gens vorwerfen, dass ich nichts zur Politik gesagt hätte. deutschen Außenpolitik nur dienen, wenn man Engage-
Da kann man es Ihnen nie recht machen. ment, Initiative und Ideen in die Außenpolitik einbringt.
Genau das hat in den letzten zehn Monaten nicht stattge-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
funden. Ihre Rede hat das dokumentiert.
NEN]: Die ist gemein, diese Opposition! Die
ist fies!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Ich möchte etwas zu dem sagen, was ich heute in der
LINKEN)
Zeitung gelesen habe. Dort heißt es, das Auswärtige Amt
würde beim Haushalt ausgerechnet dort kürzen, wo die Ich habe selten einen Außenminister erlebt, der so fanta-
(B) Ausgaben so wichtig seien: bei der zivilen Krisenprä- sielos und gleichgültig mit seinem Amt umgegangen ist (D)
vention, bei der humanitären Hilfe, bei der Pflege kultu- wie Sie, Herr Bundesaußenminister.
reller Beziehungen zum Ausland. Ich möchte dazu nur
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
einmal sagen: Für die zivile Krisenprävention hatten Sie
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
bei Rot-Grün zuletzt 16,5 Millionen Euro in den Haus-
halt eingestellt; im Haushaltsansatz für das nächste Jahr Wenn man sich Ihren Einzelplan für 2011 anschaut,
sind es jetzt 90,3 Millionen Euro. ist es doch viel interessanter, zu schauen, was Sie jetzt
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hört! Hört!) herausstreichen, anstatt ihn mit Zahlen zu vergleichen,
die vor fünf Jahren aktuell gewesen sind. Sie müssen
Für humanitäre Hilfe hatten Sie im Schnitt 50,7 Millio- einmal die Zahlen zur Kenntnis nehmen, die Sie von Ih-
nen Euro im Haushalt; jetzt sind es 78,8 Millionen Euro. rem Amtsvorgänger übernommen haben.
Für die Pflege kultureller Beziehungen hatten Sie im
Jahre 2005, als Sie die Regierung abgegeben haben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
546 Millionen Euro im Haushalt; jetzt sind es Dann stellt sich das Zahlenwerk ganz anders dar – des-
703 Millionen Euro. Ich sage Ihnen eines: Bei den Prio- wegen verstehe ich, dass Sie am Anfang gar nicht über
ritäten für diesen Haushalt liegt diese Regierung richti- diesen Einzelplan gesprochen haben –: humanitäre
ger, als Sie es jemals waren. Hilfsmaßnahmen im Ausland: minus 20 Prozent, Afrika-
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. Hilfe: minus 22 Prozent, Krisenprävention: minus
30 Prozent, Abrüstung und Rüstungskontrolle – die He-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rausforderung, die Sie eben beschrieben haben –: minus
30 Prozent, Hilfe zur Demokratisierungshilfe und Maß-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nahmen zur Förderung der Menschenrechte – angeblich
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die ein Anliegen der liberalen Partei –: minus 50 Prozent.
SPD-Fraktion. Das ist ein Dokument der Handlungs- und Ideenlosig-
keit. Das hätten Sie hier anders vertreten müssen.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ich will Ihnen einige Beispiele nennen, was für kon-
Kollegen! Herr Bundesaußenminister, es ist, glaube ich, krete Auswirkungen das hat. Ich will zum einen auf die
nicht zu viel verlangt, dass Sie bei Ihrer Haushaltsrede, humanitäre Hilfe zu sprechen kommen. Wir haben die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6081
Dr. Rolf Mützenich
(A) Flutkatastrophe in Pakistan erlebt. Ich muss Ihnen ehr- Auch dazu hört man von Ihnen kein Wort. Ich muss (C)
lich sagen, dass ich mich ein wenig dafür geschämt habe, wirklich sagen: Da kommen Sie Ihrem Amt nicht nach,
wie diese Bundesregierung mit der Hilfe für Pakistan werden Ihrem Amt nicht gerecht.
umgegangen ist, welches Geschachere am Anfang ge-
Sie beklagen in der Debatte zurecht – deswegen ha-
macht worden ist und wie wenig staatliche Mittel in die ben Sie vorhin gesagt, dass sich das nicht an die Opposi-
Hand genommen wurden, um das Überleben in Pakistan tion richtet – die mangelnde Aufmerksamkeit in Fragen
überhaupt möglich zu machen. Sie haben an die Deut- der Abrüstung. Sie sind mit etwas gestartet, das Sie letzt-
schen appelliert, aber das hilft doch nichts, wenn der endlich nicht eingelöst haben. Darüber sprechen Sie
Staat keine Sofortmaßnahmen ergreift. Ich vermisse es, nicht. Ich bedauere das; denn der Deutsche Bundestag
dass Sie in diesem Haushalt konkrete Ansätze für zu- hat es unterstützt, dass alle taktischen Atomwaffen aus
künftige Katastrophen bieten, um zum Beispiel einen Deutschland abgezogen werden sollen. Nun stehen wir
Aufbau in den betroffenen Ländern möglich zu machen. vor einer neuen Herausforderung. Man erwartet von ei-
Dafür ist deutsche Außenpolitik angetreten, und Sie set- nem deutschen Außenminister schon, dass er die He-
zen das auf das Spiel. rausforderung annimmt.
Der zweite Aspekt ist der Aufbau von Zivilgesell- Die amerikanische Regierung hat gesagt, dass sie mit
schaften. Auch in diesem Bereich kürzen Sie. Sie haben Russland über die taktischen Atomwaffen verhandelt.
eben über die Türkei gesprochen. Das ist sehr interes- Das ist gut. Wir sollten das mit sinnvollen Initiativen be-
sant. Ich bewundere die Menschen in der Türkei, die gleiten und unterstützen. Eine sinnvolle Initiative wäre
eine Zivilgesellschaft aufbauen und offensichtlich mehr es, mit Russland einmal darüber zu sprechen, warum sie
Angst vor der Vergangenheit haben als vor einer AKP- die taktischen Atomwaffen noch haben. Russland hat
Regierung. Das sind insbesondere Künstler und Intellek- sie, weil es eine konventionelle Überrüstung im NATO-
tuelle gewesen. Die müssen wir unterstützen. Frank- Gebiet befürchtet. Es wäre unsere Aufgabe, diese beiden
Walter Steinmeier hat das getan, indem er damals die Aspekte zusammenzubringen. Sie beklagen etwas, aber
deutsch-türkische Kulturakademie aufbauen wollte, in- Sie bringen keine Initiativen ein. Ich erwarte von einem
dem er die deutsch-türkische Universität aufbauen Außenminister, dass er es schafft, in den nächsten drei
wollte und indem er die Ernst-Reuter-Initiative unter- Jahren abrüstungspolitische Initiativen an der Realität zu
stützt hat. Darüber ist von Ihnen kein Wort zu hören. Sie messen und nicht am Wünschbaren. Das ist die Aufgabe
kürzen nur. Sie wollen sich aus diesen Initiativen verab- einer klugen Abrüstungspolitik.
schieden, und damit schaden Sie dem Aufbau der türki- Hier sind wir wieder beim Thema. Ich habe vermisst,
schen Gesellschaft, der dringender Unterstützung bedarf. dass Sie über die großen Herausforderungen mit Russ-
(B) land gesprochen haben. (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Es ist interessant, dass Sie erst nach einem Zwischen-
ruf auf das Thema eingegangen sind, das Deutschland Dazu gibt es keine Regierungserklärung. Sie beteiligen
und die deutsche Außenpolitik bewegt, nämlich Afgha- sich an gar keiner Debatte. Die Abrüstung ist nur ein As-
nistan. Sie reden sich heraus, indem Sie darauf hinwei- pekt, es geht insbesondere auch um die Menschenrechte
sen, dass Sie zwei Regierungserklärungen abgegeben – ich habe eben auf den Haushalt hingewiesen – und die
haben. Aber das Entscheidende ist doch: Wer beherrscht Modernisierungspartnerschaft. Wir müssen versuchen,
die innenpolitische, die deutsche Debatte über Afghanis- das Land mit aufzubauen, auch um den wirtschaftlichen
tan? Das ist Ihr Kollege, der Verteidigungsminister. Er Interessen in Deutschland gerecht zu werden. Auch das
muss man an dieser Stelle sagen. Natürlich wollen wir
führt eine Debatte über Afghanistan, die genau in die fal-
auch Handel mit diesem Land betreiben. Kein Wort
sche Richtung geht. Er stellt die militärischen Initiativen
dazu, weder in den letzten zehn Monaten noch heute.
in den Vordergrund, wo wir doch wissen, dass wir politi-
sche Antworten auf die bestehenden Herausforderungen An die Verhandlungspartner in Jerusalem gerichtet,
brauchen. Dafür sind Sie zuständig, aber Sie sagen dazu sagten Sie: Wir wünschen euch viel Glück! Verhandelt
kein Wort. gut! – Es ist im Grunde richtig – das stelle ich überhaupt
nicht in Abrede –, dass die USA es als einziges Land
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaffen, beide Parteien zueinanderzuführen. Aber deut-
DIE GRÜNEN) sche und europäische Außenpolitik müssen das doch ab-
federn und letztlich unterstützen. Ich glaube, es wäre
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Auch hier über- gut, wenn wir die Realitäten in Palästina einfach einmal
holt Sie im Grunde genommen Ihr Kollege. Im Kabinett ins Auge fassen würden.
sind Sie für die Herausforderungen der deutschen Si-
cherheitspolitik zuständig. Wo sind Sie bei den Diskus- Sie reden nicht über den Libanon. An die UNIFIL-
sionen über die Aufgabe der Bundeswehr der Zukunft, Debatte will ich gar nicht erinnern. Sie waren in Syrien
über die originären Fragen der sicherheitspolitischen He- beim Präsidenten. Ich frage mich: Was ist denn dabei
rausforderung? politisch herausgekommen? Im Nahen und Mittleren
Osten findet eine Entwicklung statt, die mir wirklich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ große Sorgen bereitet. All das zeigt, dass Sie nicht auf
DIE GRÜNEN) der Höhe der Zeit diskutieren. Sie reden zwar über Ab-
6082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Rolf Mützenich


(A) rüstung, aber auf der anderen Seite hörten wir in den rung tragenden Fraktionen, also Herr Stinner und ich, es (C)
letzten Tagen vom größten Rüstungsgeschäft, das die gerne sehen, wenn der Außenminister uns jederzeit ex-
USA mit Saudi-Arabien und anderen Ländern durchfüh- klusiv für Informationsgespräche zur Verfügung stünde.
ren will: mehr als 60 Milliarden Dollar. Aufrüstung fin- Diese Gespräche finden aber immer unter Beteiligung
det in dieser Region statt. Das ist doch aber nicht die Al- der Opposition statt. So war es kein Zufall, dass die Ob-
ternative zu einer klugen Diplomatie für den Persischen leute auch in dieser Woche Gelegenheit hatten, abends
Golf. ausführlich zu diskutieren. Gut, Sie waren an dem
Abend nicht da, Herr Mützenich.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie müssen mithelfen, diese Länder davon zu überzeu- (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Ich konnte nicht!
gen, ein regionales Sicherheitssystem zu bilden, in dem Frau Zapf war da!)
nicht Rüstung, sondern Politik die entscheidende Rolle – Frau Zapf war da, richtig. – In der Tat ist es aber so, dass
spielt. Das ist es, was ich von einem deutschen Außen- es keinerlei Defizite beim Miteinander und auch keinerlei
minister verlange. Informationsdefizite gibt. Vergleicht man das mit anderen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ressorts oder mit der vergangenen Legislaturperiode, so
der LINKEN und des Abg. Jürgen Trittin ist ein Dank an den Minister Dr. Westerwelle dafür ange-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bracht, dass wir jederzeit Zugang zu allen wichtigen
Informationen, zu allen wichtigen Gesprächen und Hin-
Viele andere Dinge haben Sie ebenfalls nicht ange- tergründen haben. Das möchte ich einmal lobend heraus-
sprochen. Auch ich habe eine begrenzte Redezeit, stellen.
möchte aber noch sagen: Ich glaube, Sie machen sich et-
was vor, wenn Sie nur so über Europa diskutieren. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
befürchte, dass sich in Europa eine Gedankenwelt fest-
Politisch kann man natürlich immer zu unterschiedlichen
setzt, in der Deutschland zum ersten Mal nicht mehr an
Bewertungen kommen. Ich finde aber, dass der gute Stil
der Fortentwicklung der europäischen Integration mit-
des Miteinanders durch Ihre Schlussbemerkung aus-
wirkt. Viele Länder in Europa denken das bereits. Ich
nahmsweise aufgebrochen wurde.
fürchte, Deutschland ist in den Schlusswagen, vielleicht
sogar ins Bremserhäuschen eingestiegen. Wir planen, an vielen Stellen noch enger zu kooperie-
Ich glaube, die deutsche Außenpolitik hat eine andere ren, wenn es um die gemeinsamen Interessen der Außen-
Aufgabe. Herr Außenminister, es reicht nicht, dienen zu politik geht. Dies ist aus meiner Sicht auch dringend not-
wollen. Nur durch Ideen, Arbeits- und Gestaltungswillen wendig, weil die Herausforderungen für unser Land und
(B) verdient man sich Anerkennung und Unterstützung. Lei- die Außenpolitik unseres Landes sehr groß sind und wir (D)
der haben Sie in den letzten zwölf Monaten zu wenig ge- auch nicht vergessen dürfen, dass dies ein historisch be-
tan. Sie haben weder Ihrem Haus noch der Außenpolitik sonders wichtiges Jubiläumsjahr ist. Vor dem Hinter-
gedient. grund 20 Jahre deutsche Einheit, vor dem Hintergrund
der großen Verträge, des Einigungsvertrages und des
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Zwei-plus-Vier-Vertrages, ist es doch bemerkenswert,
mit welcher Ernsthaftigkeit heute außenpolitische, euro-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
papolitische Debatten geführt werden und welchen Stel-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
lenwert dies mittlerweile in den Diskussionen hier im
LINKEN)
Deutschen Bundestag bekommen hat. Die Rolle des ge-
teilten Deutschlands – ich kenne es ja nur aus den Ge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schichtsbüchern – war eine vollkommen andere als die
Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Rolle, die wir heute haben. So haben sich auch die An-
Mißfelder. forderungen an Außenminister, an Parlamentarier, aber
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- natürlich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
neten der FDP) des Auswärtigen Dienstes fundamental verändert.
Ich möchte – ich glaube, dass ich hier im Namen von
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): uns allen spreche – den Mitarbeiterinnen und Mitar-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und beitern des Auswärtigen Dienstes erneut danken – dies
Herren! Lieber Herr Kollege Mützenich, Ihre Schlussbe- tun wir mittlerweile in jeder Haushaltsdebatte –, aber
merkung fand ich so bemerkenswert, dass ich sie auf- auch den vielen Angestellten, nicht nur dem diplomati-
greifen möchte. schen Korps, sondern auch den Ortskräften, die auch in
schwierigen Situationen ihren Dienst für unser Land tun
Zunächst einmal möchte ich daher in der Debatte über und damit einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass
diesen Einzelplan dem Minister für die gute Koopera- das Ansehen Deutschlands in der Welt in den letzten
tion in dieser Legislaturperiode danken. Ich glaube, dass 20 Jahren gewachsen ist. Diesen Dank möchte ich be-
man abseits des Getöses von vorhin erstens herausheben sonders hervorheben.
muss, wie gut das Miteinander im Kreis der Obleute und
im gesamten Ausschuss funktioniert, und zweitens sagen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
muss, dass eine beispiellos gute Informationspolitik be- bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
trieben wird. Natürlich würden Obleute der die Regie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6083
Philipp Mißfelder
(A) Man muss schon sagen – es spielte in der Debatte bis- sehr vielen reflexartigen ideologieverzerrten Reaktionen (C)
her keine Rolle –, dass die Außenpolitik aktuell sehr geführt.
starke Akzente setzt. Denken Sie an die Balkan-Politik
der Bundesregierung. Herr Minister, ich finde, das, was (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Zu Recht!)
vergangene Woche in Bezug auf Serbien unter tätiger – Nein, ich finde, das geschah nicht zu Recht. – Ich bin
Mithilfe von Ihnen und unter der Meinungsführerschaft, der Meinung, dass die Menschen uns bezüglich der Au-
die Sie dort für Deutschland errungen haben, erreicht ßenpolitik – wir diskutieren heute über Steuermittel der
worden ist, bemerkenswert. Dies ist eine herausragende deutschen Bürger – zu Recht fragen dürfen: Wofür gebt
Leistung, deren Bedeutung wir jetzt überhaupt noch ihr eigentlich Geld im Ausland aus? Was machen die di-
nicht absehen können. plomatischen Vertretungen, was machen die Botschaf-
ten? Zu welchem Ziel führt das, und welchen Zweck er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
füllt dies eigentlich?
Unsere Außenpolitik sollte an drei Maßstäben ausge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
richtet sein – nicht nur an diesen dreien, aber auf diese neten der FDP)
möchte ich mich jetzt konzentrieren –: Es geht um die
Wertegebundenheit, um eine interessengeleitete Außen- Ich möchte für meine Fraktion besonders unterstrei-
politik und um Zielorientierung und Effizienzsteigerung. chen, dass wir uns der Themen Rohstoffsicherheit und
Energiesicherheit immer mehr annehmen. Wir haben
Vor ein paar Tagen haben wir – Volker Kauder, unser vor kurzem einen großen Kongress dazu mit der Frak-
Fraktionsvorsitzender, Andreas Schockenhoff, der für tion durchgeführt und setzen dies mit vielen Fachgesprä-
Außenpolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvor- chen fort. Natürlich beißen sich an dieser Stelle – nicht
sitzende, und ich – unter dem Gesichtspunkt der Situa- nur manchmal, sondern sehr häufig; denken Sie an
tion der Christen, aber auch anderer religiöser Minder- Afrika – die wertegebundenen Vorstellungen, die wir
heiten, Südostasien besucht. Gerade dort war es uns ein einbringen wollen, und die Partikularinteressen einzel-
besonderes Anliegen, auf die Religionsfreiheit als zen- ner Unternehmen.
trales Thema der deutschen Außenpolitik hinzuweisen
und den Menschen Mut zu machen, in Ländern, wo sie Nichtsdestotrotz müssen wir versuchen, das miteinan-
als Minderheit zum Teil unter Druck stehen, ihren Weg der in Einklang zu bringen, um offensiv den Wettbewerb,
weiterzugehen und sich engagiert zu ihrer Religion zu in dem wir uns zum Beispiel mit China im Wettlauf um
bekennen. Rohstoffsicherheit befinden, angehen und gewinnen zu
können. Wir werden ihn allerdings nur gewinnen können
Vor dem Hintergrund der deutschen Integrationsde- – ich glaube, dass dort in den vergangenen Monaten sehr
(B) batte dürfen wir nicht vergessen, dass sich Christen in al- gute Fortschritte erzielt worden sind –, wenn wir gemein- (D)
ler Welt in schwierigen Situationen befinden. Es sollte sam mit einer europäischen Außenpolitik stärker auftre-
ein Maßstab unserer konkreten Außenpolitik sein, sich ten.
nicht nur dieser religiösen Minderheit in vielen Ländern,
sondern sich allen religiösen Minderheiten verpflichtet Dies ist beim Thema Rohstoffe besonders schwierig,
zu fühlen. Deshalb rufe ich alle meine Kolleginnen und weil einige unserer Nachbarn der Meinung sind, sie
Kollegen dazu auf, bei ihren Reisen darauf zu achten, könnten dies allein tun. Ich will dafür werben, dass wir
dass sie mit den Botschaften vor Ort, die an dieser Stelle gemeinsam weitaus mehr erreichen können. Wenn es um
sehr hilfreich sind, aber auch mit vielen NGOs und wei- Energiesicherheit, um Rohstoffsicherheit und um den
teren Organisationen vor Ort diese Minderheiten in ihre Wettbewerb mit China geht, müssen wir auf den Erfolg
Besuchsprogramme integrieren. Wertegebundene Au- der Etablierung des Europäischen Auswärtigen Dienstes
ßenpolitik ist eben nicht nur das Besuchen von Reprä- verweisen, um sagen zu können, dass wir nun auch ein
sentanzen im Ausland, sondern vor allem auch der Dia- konkretes Handlungsinstrument im Ausland haben, um
log mit religiösen Minderheiten, um diesen den Rücken europäische Außenpolitik kraftvoll zu personifizieren.
zu stärken und als starke Nation deutlich zu machen, Ich stimme dem Minister zu, dass Lady Ashton an dieser
dass wir hinter ihnen stehen. Stelle eine schwierige Aufgabe hatte, diese Aufgabe aber
– was den EAD angeht – auf einem sehr guten Weg ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Und wenn wir damit rechnen können, dass eventuell
neten der FDP) eine starke deutsche Persönlichkeit diese wichtige Posi-
tion in China einnehmen wird, dann halte ich auch das
Wir leiten diese wertegebundene Außenpolitik in viele
für wichtig.
Handlungsfelder der Politik über. Die Bundesregierung
hat dies offensiv getan mit dem Afrika-Konzept, mit dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Lateinamerika-Konzept, aber auch zum Beispiel in Form der FDP)
unseres Antrags zur Religionsfreiheit. Wir können darauf
verweisen, dass dieses Thema für uns weiterhin wichtig Meine Damen und Herren, ich möchte mich einem
bleibt. weiteren Thema, das Interessen der Menschen in Deutsch-
land betrifft, widmen, und zwar der Frage von Sicherheit
Nichtsdestotrotz treten auch immer mehr Wirtschafts- und Frieden. Vorhin ist über Abrüstung geredet worden.
interessen in den Blickpunkt unserer Außenpolitik. Auch Ich glaube, dass wir nicht nur über Abrüstung diskutieren
in diesem Bereich hat, glaube ich, ein Umdenken stattge- müssen, sondern auch über die Bereiche, bei denen
funden. Früher hat das Wort „deutsche Interessen“ zu Deutschland mit entschiedener Härte und mit ganz star-
6084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Philipp Mißfelder
(A) kem Engagement auftreten muss. Das betrifft aus meiner Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
Sicht den Iran. Der Kollege Jan van Aken hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Wenn wir in Deutschland über den Nahen Osten und
auch über die Sicherheitsinteressen Israels diskutieren, (Beifall bei der LINKEN)
dann hat man den Eindruck, als sei dies alles ziemlich
weit weg. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten kön- Jan van Aken (DIE LINKE):
nen, die Debatte unter diesen Vorzeichen zu führen. Herr Mißfelder, Sie sind eine Gefahr für dieses Land.
Vielmehr glaube ich, dass wir von Anfang an klarma-
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei
chen müssen: Wenn es um die Sicherheit und um das
der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin
Existenzrecht Israels geht, dann geht es dabei nicht nur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Der
um Israels Sicherheitsinteressen, sondern um die Sicher- nicht! Da überschätzen Sie ihn!)
heitsinteressen der gesamten westlichen Wertegemein-
schaft. Das müssen wir mit voller Härte gegenüber dem Wenn Sie sich hier hinstellen und von „voller Härte“ ge-
Iran deutlich machen. Wir müssen dort nicht nur rheto- genüber dem Iran sprechen, dann höre ich schon die
risch, sondern mit allen zur Verfügung stehenden diplo- Panzer rollen. Daran sind Sie mit schuld. Bitte mäßigen
matischen Mitteln stärker auftreten, als dies bisher der Sie sich, oder schweigen Sie stille, wenn es um „volle
Fall war. Härte“ geht!
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
[CDU/CSU]: Frau Präsidentin, müssen Sie da
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
nicht eingreifen? Das ist ja furchtbar, was er da
NEN)
erzählt! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE
Meine Damen und Herren, diese Debatte wird in Is- GRÜNEN]: Herr Kollege, da haben Sie jetzt
rael sehr genau verfolgt. Zu dem, was wir hier im Hause aber wirklich mit Kanonen auf Spatzen ge-
diskutieren, bekommen wir sehr engagierte und zum Teil schossen!)
auch sehr kritische Rückmeldungen. Vor diesem Hinter- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
grund ist die gute Rolle, die Deutschland im Vermitt- Westerwelle – ist er noch da? –, es gibt in Ihrem Etat ein
lungsprozess im Nahen Osten spielt, besonders hervor- paar Ausgaben, die ich liebend gern einsparen würde,
zuheben. Die wahre Bewährungsprobe aber wird die zum Beispiel Rüstungslieferungen an ausländische Ar-
Auseinandersetzung mit dem Iran sein. Dabei müssen meen. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie sind der
wir uns mit voller Entschiedenheit auf die Seite Israels deutsche Außenminister, sozusagen unser oberster Di-
(B) stellen und alles daransetzen, dass deren und die Interes- plomat, und Sie finanzieren Rüstungslieferungen. Aber (D)
sen unserer Freunde dort gewahrt bleiben und dass die an diesen Etat gehen Sie gar nicht heran. Richtig radikal
Sicherheitsinteressen der Menschen dort berücksichtigt kürzen Sie nur bei den wirklich wichtigen und guten Ele-
werden. menten der Außenpolitik:

Ich glaube, dass sich die Außenpolitik – auch in einer (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch
Haushaltsdebatte – den Zielen widmen muss, die wir ha- wirres Zeug!)
ben. Jeden Cent, über den wir in den kommenden Wochen bei der Abrüstung, bei der Flüchtlingshilfe, bei den Men-
beschließen wollen – insgesamt sind es etwa 3,2 Milliar- schenrechten und bei der friedlichen Lösung von Kon-
den Euro –, müssen wir vor den Bürgerinnen und Bürgern flikten.
rechtfertigen können. Das heißt, wir müssen auf Effi-
zienzsteigerungen setzen. Wir müssen Dinge auch in- (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Guckt mal!
Der tritt hier ja mit einem T-Shirt auf!)
frage stellen. Deshalb ist klar, dass wir auch im Etat des
Auswärtigen Amtes Dinge auf den Prüfstand stellen müs- Hier wird es meiner Meinung nach richtig gefährlich.
sen. Der Minister und unsere Haushaltspolitiker haben Denn Frieden fällt nicht einfach so vom Himmel. Man
schon an anderer Stelle deutlich gemacht, dass wir insge- muss etwas dafür tun. Konflikte gibt es immer und über-
samt eine Balance gefunden haben, mit der die Grund- all, im Großen wie im Kleinen. Aber manchmal führen
struktur der auswärtigen Politik nicht infrage gestellt wird diese Konflikte direkt auf Gewalt und Krieg zu. Es muss
und mit der wir die bisherige Schwerpunktsetzung beibe- doch Ihr wichtigstes Ziel als Außenminister sein, solche
halten und in Afghanistan sogar massiv intensivieren Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen, da-
können. mit sie eben nicht in Gewalt und Krieg enden.

Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, sich in den (Beifall bei der LINKEN)
kommenden Wochen engagiert an der Debatte über den Dafür muss man gar nichts neu erfinden. Was die Me-
Haushalt zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten, dass thoden der zivilen Konfliktbearbeitung angeht, gibt es
die Arbeit für unser Ansehen in der Welt auch finanziell unendlich viele Beispiele aus der Geschichte. Weil Herr
gut ausgestattet wird. Erler heute hier ist, möchte ich ein solches Beispiel nen-
nen, wie das konkret funktionieren kann.
Herzlichen Dank.
Vor drei Jahren drohte Kenia in einem Bürgerkrieg zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versinken. Es fand eine Wahl statt, bei der sich zwei ri-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6085
Jan van Aken
(A) valisierende Parteien gegenüberstanden, diese Wahl ist Genau das Gleiche machen Sie auch im Hinblick auf (C)
ganz knapp ausgegangen, es gab Unruhen und viele den Sudan. Am 25. März dieses Jahres hat der Bundes-
Hundert Tote; Sie alle erinnern sich an die blutigen Bil- tag Sie – wiederum mit Ihren eigenen Stimmen – aufge-
der. Kofi Annan ist als Vermittler aufgetreten und hat fordert, sich für die Entsendung von mehr Menschen-
den damaligen Staatsminister Erler eingeladen, um den rechtsbeobachtern in den Sudan einzusetzen. Aber jetzt
beiden Parteien zu erklären, wie eigentlich eine Große kürzen Sie die Zahlungen für die Menschenrechts-
Koalition funktioniert, wie zwei Parteien, die sich ei- beobachter der UN um 1,6 Millionen Euro. Das, was
gentlich spinnefeind sind – das waren sich SPD und Sie, Herr Westerwelle, hier machen, ist eine Gefahr für
CDU ja auch einmal, vor langer, langer Zeit –, die Demokratie. Sie regieren Tag für Tag an Volk und
Parlament vorbei und führen sich dabei auf wie König
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Guido der Viertelvorzwölfte. Damit machen Sie auf
NEN]: Ja! Das ist lange her! – Dr. h. c. Jürgen Dauer die Demokratie in Deutschland kaputt.
Koppelin [FDP]: Das waren SPD und Linke
auch einmal!) (Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg
Wellmann [CDU/CSU]: Haben Sie auch noch
ein gemeinsames Programm entwickeln, eine gemein- etwas Ernsthaftes zu bieten oder nicht?)
same Regierung bilden und vor allem – das ist ja das
Wichtigste – die Posten verteilen können. Der Einsatz Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
von Herrn Erler hat damals direkt dazu beigetragen, dass keine Waffen mehr exportieren sollte. Die Welt braucht
die beiden Parteien in Kenia zusammen eine Regierung nicht mehr Waffen, sondern weniger Waffen.
gebildet haben und dass es nicht zu einem Bürgerkrieg
gekommen ist. (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Ihnen müsste eigentlich die Schamesröte ins Gesicht
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- steigen, wenn Sie sich, wie gerade geschehen, hier hin-
NEN) stellen und sagen – ich zitiere Sie –: Abrüstung hat
für uns eine ebenso große Bedeutung wie der Klima-
Es gibt noch viele andere Beispiele, wie Sie mit zivi- schutz. – Dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, Klima-
len Mitteln Gewalt und Kriege rechtzeitig verhindern schutz! Denn die Mittel für Abrüstung streichen Sie radi-
können. Wie können Sie, Herr Westerwelle, es da kal um 19 Millionen Euro zusammen. Meine Fraktion
wagen, an genau diesem Punkt, bei der zivilen Konflikt- und ich finden das einfach nur noch unverschämt.
bearbeitung, massive Einschnitte vorzunehmen? Im ge-
samten Haushalt wollen Sie hier 71 Millionen Euro ein- (Beifall bei der LINKEN)
(B) sparen. Ich sage Ihnen: Wer heute nicht versucht, (D)
Konflikte friedlich zu lösen, der organisiert die Kriege Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
von morgen. Kerstin Müller hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Grünen.
neten der SPD)
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das ist einfach nur eine falsche Politik. Wirklich
skandalös wird es allerdings da, wo Sie am Bundestag NEN):
vorbeiregieren und unsere Beschlüsse ignorieren. Sie Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, Sie
machen in der Außenpolitik nichts anderes als bei den haben hier zwar einiges zur europäischen Finanzpolitik
Geschenken an die Atomindustrie. und auch ein bisschen zu Europa gesagt, aber ich hätte
eigentlich erwartet, dass Sie auch etwas zu einem weite-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ach! Nicht ren zentralen Thema Europas sagen, nämlich zur Tür-
schon wieder! Guten Morgen!) kei; denn ich meine, dass es richtig wäre, wenn der
Deutsche Bundestag das würdigen würde, was am Sonn-
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Vor zwei Monaten,
tag da passiert ist: ein wirklich beeindruckendes Refe-
am 1. Juli, hat der Bundestag Sie einstimmig dazu aufge-
rendum.
fordert – ich zitiere –,
… Initiativen zur Verbesserung der humanitären (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lage in Gaza mit allem Nachdruck zu unterstüt- sowie bei Abgeordneten der SPD)
zen … 58 Prozent der Menschen in der Türkei haben sich für
„Einstimmig“ heißt, sogar Sie selbst, sogar die Kanzlerin zentrale Verfassungsänderungen ausgesprochen. Ich
haben das mitbeschlossen. In Ihrem Haushalt machen finde die Botschaft wirklich klar: Sie wollen demokrati-
Sie aber genau das Gegenteil. Sie kürzen die Zahlungen scher, liberaler und weltoffener werden, und das Land
für die UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge um orientiert sich ganz klar nach Europa und nicht nach Te-
1,7 Millionen Euro. Hier mit großartigen Gesten erst heran, wie es in der Debatte gesagt wird. Sie sagen Ja
Hilfe zu versprechen und zwei Monate später das Geld zur Modernisierung. – Ich glaube, dass das seit Jahr-
dafür zusammenzustreichen, ist Betrug und Missachtung zehnten der wirklich ernsthafteste Schritt der Türkei in
unserer Beschlüsse hier im Parlament. Richtung Beitrittsfähigkeit und Reformen ist. Dennoch
können sich die EU und allen voran Deutschland nicht
(Beifall bei der LINKEN) entscheiden, ob sie die Tür zuschlagen oder aufstoßen
6086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) wollen. Ich muss sagen: Eine solche Reaktion finde ich Dabei versucht die Obama-Administration unter weit- (C)
kontraproduktiv und völlig unangemessen. aus schwierigeren Rahmenbedingungen als seinerzeit
Clinton in Camp David, einen Frieden zu vermitteln;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denn die Konfliktlinien liegen nicht nur zwischen Abbas
sowie bei Abgeordneten der SPD) und Netanjahu, sondern inzwischen auch außerhalb der
Sie haben im Koalitionsvertrag eine Formel, nach der Verhandlungspartner.
der EU-Beitritt ein Prozess mit offenem Ende sei. Ich Da ist zum Beispiel die Hamas, die für die Spaltung
glaube, dass sie offensichtlich nichts mehr wert ist; denn des palästinensischen Lagers und für die Fragen steht,
einerseits haben Sie, Herr Außenminister, das Referen- wie weit eigentlich Abbas’ Mandat reicht und ob eine
dum ja zumindest begrüßt – ich meine, in dem Fall zu Zweistaatenlösung ohne Gaza vorstellbar ist. Daneben
Recht –, andererseits wurden Sie sofort von der CSU zu- ist das Erstarken des Iran als Regionalmacht und poten-
rückgepfiffen, und zwar zum Beispiel mit der Ansage ziellem Spoiler der Verhandlungen zu nennen, der mit
des Vizechefs der EVP – ich zitiere –: „Westerwelle soll der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon bereits
der Türkei reinen Wein einschenken, der EU-Beitritt zwei Speerspitzen in Stellung gebracht hat und je nach
wird sowieso nicht kommen.“ Teherans Gusto den Konflikt durch Anschläge eben an-
Mich würde interessieren, was Herr Polenz dazu heizen kann.
meint. Er hat nämlich ein gutes Buch geschrieben: Bes- Es geht inzwischen also sogar um viel mehr als um
ser für beide: Die Türkei gehört in die EU. diese alten Linien im Nahostkonflikt. Es geht um die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Neuordnung einer zentralen Region im Weltgefüge. Des-
Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Keine Schleich- halb verstehe ich die Schweigsamkeit der deutschen Di-
werbung hier, bitte!) plomatie nicht. Wo ist der deutsche Außenminister in
diesem Konflikt, an dessen Regelung wir ein ganz star-
Leider ist das nicht Regierungslinie. Man fragt sich, was kes Interesse haben? Sie können noch so oft sagen: Wir
Regierungslinie in diesem Punkt ist. Ich meine, wenn haben ein tolles Lateinamerika-Konzept gemacht. Auch
das Recht in Europa noch etwas gelten soll, dann muss das ist natürlich schön. Aber gerade hier, unmittelbar vor
es dabei bleiben: Der Beitritt der Türkei entscheidet sich unserer Haustür, ist meines Erachtens die deutsche Di-
einzig und alleine daran, ob die Türkei die Beitrittskrite- plomatie gefragt.
rien erfüllt, und nicht nach politischer Opportunität.
Ich war gerade in der Region. Bereits am 26. Septem-
Ich bin der festen Überzeugung: Eine modernisierte ber – das ist schon sehr bald – könnten die Verhandlun-
Türkei in der EU wäre eine zentrale Brücke in den Na- gen zu Ende sein, wenn es, wie von Netanjahu angekün-
(B) hen Osten, in die islamische Welt, und würde weit mehr digt, nicht zu einem Siedlungsstopp kommt und Abbas (D)
zur Stabilisierung dieser krisengeschüttelten Region bei- dann den Verhandlungstisch verlässt. Anders als früher
tragen als irgendetwas anderes, und deshalb müssen wir gibt es aus der israelischen Gesellschaft keinen Druck
die Türkei ermutigen, auf diesem Weg weiter voranzuge- auf Netanjahu, das Moratorium zu verlängern oder zu
hen. Ergebnissen zu kommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland gilt als wichtigster Verbündeter Israels in
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Europa, direkt nach den USA; dies hat eine neue Um-
LINKEN) frage ergeben. Ich meine, gerade der Gaza-Antrag, den
Herr Westerwelle, irgendwie kann ich mich allerdings wir hier alle beschlossen haben, hat gezeigt: Israel ist es
des Eindrucks nicht erwehren: Egal was Sie machen, Sie nicht egal, wie gute Freunde reagieren. Das Kabinett hat
schaffen es nicht, Tritt zu fassen und damit der deut- auf internationalen Druck letztlich eingelenkt und seine
schen Außenpolitik genügend Gewicht zu verleihen. Gaza-Politik revidiert. Ich meine, wir können jetzt nicht
Entweder werden Sie vom Koalitionspartner sofort zu- dasitzen und auf die USA wie das Kaninchen auf die
rückgepfiffen, wenn Sie einmal etwas machen, was gut Schlange starren, sondern wir müssen dem guten Freund
und richtig ist – zum Beispiel bei der Türkei; allerdings Israel auch einmal sagen: Bis hierher und nicht weiter.
war er da heute ganz leise –, oder Sie schweigen gleich Ein Haupthindernis für den Frieden sind die Siedlun-
ganz zu zentralen Feldern der deutschen Außenpolitik. gen. Israel muss bereit sein, die Besatzung zu beenden.
(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Zum Ein erster Schritt wäre eine Verlängerung des Siedlungs-
Beispiel?) stopps. Zumindest für die Dauer der Verhandlungen,
meine Damen und Herren, sollte Israel dazu bereit sein.
Mit nur einem Satz haben Sie heute zum Beispiel et-
was zum Nahen Osten gesagt. Das ist meiner Meinung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nach ein zentrales Feld der deutschen Außenpolitik. Es sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
wurde zwar der deutsch-palästinensische Lenkungsaus- KEN)
schuss eingerichtet – das ist eine gute Geschichte –, aber Hier sind klare Worte und Initiativen des deutschen
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja, Beifall!) Außenministers und auch der Bundeskanzlerin gefragt.
Sie ist eine Freundin Israels. Das ist gut, aber jetzt wäre
– ich habe das nie anders bewertet – in den gerade wie- es notwendig, hinzufahren und zu reden. Man muss das
der aufgenommenen direkten Verhandlungen spielt gar nicht als Lautsprecher machen, sollte aber zumindest
Deutschland nach allem, was ich weiß, keine Rolle. intervenieren, um die amerikanischen Bemühungen zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6087
Kerstin Müller (Köln)
(A) unterstützen. Die Amerikaner fragen uns nämlich in Ge- Morgen vergegenwärtige, dann habe ich das Gefühl, (C)
sprächen: Wo sind eigentlich die Europäer? Wo sind die dass wir hier im falschen Film sind.
Deutschen, die uns an einer solchen Stelle einmal unter-
(Michael Link [Heilbronn] [FDP]: So ist es!)
stützen könnten? An dieser Stelle kommt wenig bis gar
nichts. Wenn ich mir die Einlassungen des Oppositionsführers
bzw. des Parteivorsitzenden der SPD von heute Morgen
Bei anderen zentralen Themen ist es ähnlich, zum
zur Außenpolitik vergegenwärtige, dann kann ich Ihnen,
Beispiel bei der Bundeswehrreform. Auch dazu haben
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, nur empfeh-
wir nichts von Ihnen gehört. Sie überlassen die Debatte
len: Den Probevertrag des Praktikanten, der diese Rede
vollständig dem Verteidigungsminister, obwohl ich
geschrieben hat, würde ich nicht verlängern.
finde, dass ein Wort des Außenministers nötig wäre, da-
mit das Militärische in der deutschen Außenpolitik in (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei
Zukunft nicht eine noch stärkere Rolle erhält. Das droht Abgeordneten der CDU/CSU)
nämlich, wenn sich das Konzept von Herrn zu
Dies zeigt ein weiteres Mal, dass in Ihrer Partei Außen-
Guttenberg durchsetzt. Darin ist von einem „ganzheitli-
politik bei der Parteiführung nicht die geringste Rolle
chen Ansatz“ die Rede, habe ich in diesem Vorkonzept
spielt. Herr Gabriel hat heute Morgen seine unsägliche
gelesen. Aber was ist das für ein ganzheitlicher Ansatz,
Eröffnungsrede zu Außenpolitik und Afghanistan von
wenn nur das Militärische ausbuchstabiert wird und das
Anfang dieses Jahres fortgesetzt. Das ist keine ernstzu-
Zivile zu kurz kommt? Ich glaube, die deutsche Außen-
nehmende Opposition für uns.
politik muss hier dafür sorgen, dass es in die richtige Ba-
lance kommt. Zivile Instrumente sind erste Wahl, militä- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
rische Mittel ganz klar letzte Wahl. der CDU/CSU)
Stattdessen – Kollege Mützenich hat es angesprochen – Die Redner der Opposition, die sich hier abgearbeitet
wird dann genau in diesem Bereich gekürzt: der Etat für haben, haben sich an dem Parteipolitiker Westerwelle
zivile Krisenprävention um ein Drittel, die Demokrati- und bedauerlicherweise zum Teil auch an dem Men-
sierungshilfe um die Hälfte. Der Aktionsplan „Zivile schen Westerwelle abgearbeitet. Ihre Einlassung zum
Krisenprävention“ wird sowieso links liegen gelassen, Schluss, Herr Mützenich – Sie wissen, dass ich Sie
obwohl ich finde, dass er durchaus helfen könnte, das zi- schätze –, war durchaus grenzwertig. Ich möchte jetzt
vile Profil der deutschen Außenpolitik zu stärken. Kurz: wieder zu außenpolitischen Themen zurückkehren.
Beim Thema zivile Krisenprävention sind Sie mutlos
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und ohne Visionen. Ich glaube, damit schadet man den
der CDU/CSU)
(B) zentralen Anliegen deutscher Außenpolitik, für die die (D)
Verhütung von Konflikten und der Einsatz ziviler Mittel Dieser Haushalt ist der erste Haushalt unter den
Vorrang hat. Bedingungen der Schuldenbremse, dem die Regierung
Rechnung tragen musste. Das hat sie getan, und zwar
Meine Damen und Herren, Schweigen ist meiner verantwortungsvoll und mit der entsprechenden Schwer-
Meinung nach nicht die höchste Form der Diplomatie. punktsetzung. Wir haben das Vermächtnis der alten Re-
Wir erwarten vom deutschen Außenminister, dass er sich gierung übernommen, und die jetzige Regierung geht
zumindest in denjenigen Krisengebieten Gehör ver- verantwortungsvoll damit um.
schafft und als ernsthafter Makler auftritt, wo Deutsch-
land Einfluss nehmen kann und muss: zum Beispiel im Es sind einige Kritikpunkte genannt worden. Herr van
Nahen Osten und in Afghanistan. So, wie es jetzt läuft Aken, Sie sind offensichtlich nicht bereit, sich den Haus-
– im Höchstfall mit den anderen mitlaufen –, verlieren halt etwas genauer anzuschauen. Wie kommt es denn,
wir an Einfluss. Herr Westerwelle, Sie müssen das än- dass sich bei einigen Positionen Veränderungen ergeben
dern. Sie müssen politische Initiativen ergreifen. An- haben? Das liegt zum Beispiel daran, dass sich das Ab-
sonsten gehen Sie vielleicht als Don Quichotte, als „Rit- wracken russischer Atom-U-Boote langsam dem Ende
ter der traurigen Gestalt“, in die Geschichte ein, der nähert. Deshalb werden dafür keine Mittel mehr bereit-
gegen Windmühlen kämpfte und doch nichts bewegte. gestellt. Das ist richtig und wichtig, und es ist gut so. So
Ich glaube, das wäre nicht so nett, oder? Für das Land werden wir auch weiter vorgehen. Wir werden keine
wäre das nicht gut. Mittel für russische Atom-U-Boote bereitstellen, die es
gar nicht mehr gibt. So wird diese Regierung nicht arbei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten.
und bei der SPD)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der CDU/CSU – Jan van Aken [DIE LINKE]:
Andere Abrüstung gibt es nicht?)
Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion. Der Grundvorwurf ist, dass Minister Westerwelle und
diese Regierung nichts erreicht haben.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Dr. Rainer Stinner (FDP): Das ist völlig falsch. Ich kann nur einige Punkte anspre-
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- chen. Was Afghanistan angeht, wissen wir alle, dass die
legen! Wenn ich mir den Verlauf der Debatte von heute Situation schwierig ist. Kein Mensch – weder der Minis-
6088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) ter noch wir – sagen, dass die Situation rosig ist. Aber (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
vergleichen Sie die Situation der deutschen Politik heute GRÜNEN]: Sie sagen die Unwahrheit!)
mit der vor zehn Monaten! Dann werden Sie sehen, dass
in der Zwischenzeit die Konferenz in London stattgefun- Im Kosovo haben wir die KFOR-Truppenstärke von
den hat, angestoßen von Deutschland und organisiert 15 000 auf 10 000 und dann auf 5 000 Soldatinnen und
von diesem Außenminister. Das Ergebnis der Konferenz Soldaten gesenkt. Darin sind wir besser als vor einem
in London ist, Herr Mützenich – das haben Sie in Ihrer Jahr, Herr Ströbele.
Amtszeit nicht geschafft –, dass wir erstmals in der Wir haben lange gefordert, dass das Auswärtige Amt
NATO ein einheitliches Gesamtkonzept haben. endlich Regionalkonzepte vorlegt. Wir haben ein Regio-
Sie haben von vernetzter Sicherheitspolitik geredet. nalkonzept vorgelegt, das erfolgreich implementiert
Wir tun etwas. Die Zusammenarbeit zwischen Auswärti- worden ist. Damit sind wir besser als vor einem Jahr,
gem Amt und BMZ ist beispielhaft. Kann sich jemand Herr Mützenich. Das hat Ihre Regierung nicht zustande
von Ihnen vorstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebracht, obwohl Sie es eigentlich auch wollten.
dass Herr Steinmeier und Frau Wieczorek-Zeul in einem Wir sind in einem weiteren Punkt besser, in dem wir –
Flugzeug gereist wären? Das kann ich mir beim besten das gestehe ich zu – sicherlich nicht einer Meinung sind:
Willen nicht vorstellen. Der Außenminister sieht seine Aufgabe auch ganz klar
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP) darin, die deutschen wirtschaftlichen Interessen im
Ausland zu vertreten. Ich weiß, das ist ideologisch kon-
Die beiden Minister sind gemeinsam nach Afrika ge- trovers. Sie wollen das nicht. Aber ich biete Ihnen an,
reist und haben dort die wichtige Botschaft übermittelt, liebe Kollegen von der SPD: Falls es in Ihrem Wähler-
dass in Deutschland tatsächlich erstmals – darin sind wir stamm noch Arbeiter gibt, besuche ich jeden Arbeiter-
besser als vor einem Jahr; das können Sie sich hinter die stammtisch und diskutiere darüber, ob es auch Aufgabe
Ohren schreiben – eine Vernetzung in aktueller Politik des Außenministers ist, Außenwirtschaftspolitik zu be-
zwischen den einzelnen Ressorts erfolgt. treiben. Ich glaube, dass ich recht bekomme und nicht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie. Bei den Grünen ist das kein Thema. Sie haben keine
der CDU/CSU) Arbeiter in den eigenen Reihen. Die Lehrerinnen und
Lehrer bei Ihnen sind so abgesichert, dass das kein
Das Thema Balkan ist angesprochen worden. Ich Thema ist.
sage es sehr knapp: Was wir erlebt haben, ist mit drei
Namen verbunden, die ich in der Reihenfolge nenne, wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ich sie sehe: Westerwelle, Hague und Ashton. So einfach der CDU/CSU)
(B) ist die Welt. Ohne das energische und zupackende Ein- (D)
Dass die Welt nicht in Ordnung ist, ist völlig klar; das
greifen von Westerwelle in Serbien wäre es nicht so weit wissen wir. Aber ich konnte an diesen wenigen Beispie-
gekommen. Das ist auch ein Erfolg deutscher Außen- len darlegen, dass der Anwurf und der Angriff, dass
politik. Damit stehen wir besser da als vor einem Jahr. diese Bundesregierung außenpolitisch nichts zustande
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. gebracht hat, völlig falsch sind und herbeigeredet sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Aber das wird nicht verfangen. Ich bin gerne bereit, das
der CDU/CSU) noch zu vertiefen, wenn Sie mir längere Redezeiten ge-
ben, und zwar jederzeit und jeden Tag.
Das nächste Thema ist der Nahe Osten. Frau Müller,
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir bei diesen Herzlichen Dank.
Verhandlungen eine wesentliche, eigenständige deutsche
Verhandlungsrolle spielen können. Das wollen Sie uns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
sicherlich nicht vormachen. Das meinen Sie doch selber Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE
nicht. Ich kenne Sie doch, Frau Müller. GRÜNEN]: Das macht Ihre Fraktion! Das ist
nicht unsere Aufgabe!)
Außenminister Westerwelle hat dazu beigetragen,
dass das Quartett, das im Tiefschlaf lag – ich habe einige Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kameraden persönlich besucht und kann Ihnen sagen,
dass der Schlaf sehr tief war –, aufgeweckt wurde. Jetzt Der Kollege Klaus Brandner spricht jetzt für die SPD-
gibt es eine neue Initiative des Quartetts. Auch damit Fraktion.
stehen wir besser da als vor einem Jahr, Herr Mützenich.
Klaus Brandner (SPD):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Minister Westerwelle hat in
Thema Auslandseinsätze: Afghanistan habe ich seinen Reden die Marke „made in Germany“ zum
schon erwähnt. Ich weise nur kurz darauf hin, dass wir Kennzeichen seiner Außenpolitik erklärt. „Made in Ger-
bei UNIFIL eine Umorientierung auf das Wichtige und many“ ist – darin stimme ich Ihnen zu, Herr Minister –
Richtige vorgenommen haben, nämlich die Ausbildung ein Markenzeichen bei Produkten und Dienstleistungen.
der libanesischen Armee. In diesem Punkt sind wir bes- Das ist auch ein Markenzeichen deutscher Außenpolitik,
ser als vor einem Jahr. Wir verkleinern die Auslandsein- wenn Qualität, Kontinuität und Verlässlichkeit dahinter-
sätze dort, wo es möglich ist. stehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6089
Klaus Brandner
(A) Qualität, Kontinuität und Verlässlichkeit, das ist, was Mittelkürzungen in diesem Etat stehen in fundamenta- (C)
viele Menschen mit dem Angebot unserer auswärtigen lem Widerspruch zu dem, was Sie gerade vorgetragen
Kultur- und Bildungspolitik verbinden. Deshalb freue haben.
ich mich, dass auch in diesem Jahr wieder fast ein Vier-
tel des Etats in diesen wichtigen Bereich der deutschen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-
Außenpolitik investiert wird. Das ist ein Zeichen der Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kontinuität, das gerade wir Sozialdemokratinnen und NEN])
Sozialdemokraten zu schätzen wissen. Sehr geehrter Herr Minister, noch zu Jahresbeginn haben
Im Gegensatz zu dem, was der Minister gerade vorge- Sie die deutsche Friedenspolitik und die Maßnahmen zur
tragen hat, lässt sich anhand der Zahlen aber deutlich Abrüstung und Nichtverbreitungszusammenarbeit als
machen, wer tatsächlich dafür steht. Im Jahr 2005 wur- das Wertvollste bezeichnet, das Deutschland an politi-
den in diesem Etatbereich 546 Millionen Euro zur Verfü- schem Inventar zu bieten hat. Nur acht Monate später
gung gestellt. Dann wurde dieses Themenfeld unter dem sollen die Ansätze um beinahe ein Drittel gekürzt wer-
damaligen Bundesaußenminister Steinmeier kontinuier- den. Ich sage es deutlich: Das entspricht nicht meinem
lich ausgebaut. 2009 stiegen die Mittel auf 726 Millio- Bild von Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.
nen Euro. Schon 2010 wurden die Mittel von der schwarz- Herr Minister, Sie betonen, dass deutsche Außenpoli-
gelben Bundesregierung um 3 Millionen Euro gesenkt. tik wertegeleitet ist und bleiben muss. Ja, ich glaube, wir
In diesem Jahr sollen sie auf 703 Millionen Euro gesenkt alle hier im Hause stimmen dem uneingeschränkt zu;
werden. Daran kann man sehr schnell sehen, wer für doch ich frage mich, welche Werte gemeint sein könn-
Kontinuität steht, wer der deutschen Außen-, Kultur- ten, wenn zum Beispiel der Mittelansatz für die humani-
und Bildungspolitik höchste Bedeutung beigemessen hat tären Hilfsmaßnahmen, über die wir gerade gesprochen
und beimisst und wer nicht. haben, um 20 Prozent gekürzt wird, und das angesichts
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der furchtbaren Katastrophen, die wir im letzten Jahr in
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gunther Haiti, in Chile oder jetzt in Pakistan zu beklagen haben.
Krichbaum [CDU/CSU]: Frenetische Ovatio- Am Schluss Ihrer achtzehnminütigen Rede haben Sie
nen!) zwei Minuten gebraucht, um zu sagen, wer die Vorgän-
Es ist gut zu wissen, dass auch in diesem Jahr die ger waren, was diese gemacht haben und was Sie ge-
politischen Stiftungen, die Auslandsschulen, der DAAD macht haben. Dazu will ich Ihnen eines sagen: Wir sind
und viele Akteure im Bildungsbereich in der deutschen 2005 mit 53 Millionen Euro für humanitäre Hilfe gestar-
Außenpolitik durch stabile Mittelansätze Wertschätzung tet, aber es wurden 71 Millionen Euro ausgegeben. Die
(B) für ihre Arbeit erfahren. Es wird aber deutlich, dass die damalige Große Koalition hat daraus die Lehren gezo- (D)
Bundesregierung und insbesondere der Bundesminister gen und den Titel erheblich aufgebaut. 2009 waren es
einen sehr gespaltenen Haushaltsentwurf vorgelegt ha- 102 Millionen Euro. Im letzten Haushalt, den Sie zu ver-
ben; denn allein die Beispiele, die ich gerade genannt antworten haben, ging man schon auf 96 Millionen Euro
habe, reichen für eine verlässliche und qualitativ hoch- herunter. Auch darüber wurde gestritten. Jetzt haben Sie
wertige Politik „made in Germany“ nicht aus. nur noch 76 Millionen Euro in diesem Haushalt vorgese-
hen. Von einem Ausbau Ihres Haushalts in Ihren politi-
Noch zu Jahresbeginn haben Sie, Herr Minister, hier schen Kernfeldern kann wahrlich keine Rede sein.
an gleicher Stelle neben der auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik weitere Schwerpunkte Ihrer Außenpoli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
tik vorgestellt, zum Beispiel die Friedens- und Abrüs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tungspolitik. Wo finden wir nun diese Schwerpunkte im Ich will gar nicht sagen, dass ich – wie viele andere
Haushaltsplan wieder? Die Mittel für die Unterstützung Bürger in diesem Land – darüber beschämt war, mit wel-
von internationalen Maßnahmen auf den Gebieten der chen Kleinstbeträgen ein ökonomisch so starkes Land
Krisenprävention, der Friedenserhaltung und Konflikt- wie Deutschland den Menschen in Pakistan angesichts
bewältigung sollen um rund 30 Prozent gekürzt werden, der Katastrophe zu Hilfe gekommen ist. Ich frage mich
und das, obwohl der Bedarf an solchen Maßnahmen bei diesem Punkt auch, von welchen Werten die deut-
nicht geringer, sondern eher größer geworden ist. sche Außenpolitik geleitet wird, wenn der Titel „Demo-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kratisierungs- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Förderung der Menschenrechte“ um über 50 Prozent ge-
kürzt werden soll. Ich finde, hier wäre der richtige Ort,
Kontinuität und Verlässlichkeit als Markenzeichen deut- um Deutschland zu präsentieren, indem wir dank der an-
scher Außenpolitik sehen aus meiner Sicht anders aus. erkannten Arbeit der Hilfsorganisationen zur Stelle sind,
Bei den Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungs- wenn Hilfe dringend gebraucht wird. Das wäre eine Au-
kontrolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit sind ßenpolitik „made in Germany“, wie ich sie mir vorstelle.
es sogar rund 32 Prozent, um die die Mittel gekürzt wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den sollen. Ich erkenne nicht, dass die Bedarfe entfallen
sind. Sie haben in Ihrer Rede gerade vor wenigen Minu- Meine Damen und Herren, wir können hier nicht über
ten noch deutlich gemacht, welche große Bedeutung Sie den Etat des Auswärtigen Amtes sprechen, ohne Afgha-
diesem Themenfeld beimessen und welche Aufgaben- nistan zu erwähnen. Um es gleich vorwegzunehmen:
stellungen Sie für sich und Ihr Haus sehen. Aber Ihre Die zivilen Wiederaufbauhilfen sind nötig und richtig,
6090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Klaus Brandner
(A) doch dieser besondere Bedarf braucht aus meiner Sicht Thomas Silberhorn (CDU/CSU): (C)
auch eine schlüssige und besondere Finanzierung. Noch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
vor wenigen Monaten hat meine Fraktion der Verdoppe- Herren! Kaum ein Thema hat Europa und die ganze Welt
lung der Mittel für die Afghanistan-Hilfen zugestimmt, in diesem Frühjahr mehr in Atem gehalten als die Krise
weil sie zusätzlich, also on top, zum Einzelplan 05 ver- des Euro. Seither sind viele gute Vorsätze gefasst wor-
anschlagt wurden und somit nicht die Handlungsfähig- den, aber man hat den Eindruck, dass der Reformeifer
keit des Auswärtigen Amtes in anderen Regionen der schon merklich erlahmt ist.
Welt gefährdeten.
Deswegen werden wir sehr genau beobachten müs-
Heute finden wir einen Haushaltsentwurf vor, bei dem sen, was Van Rompuy mit seiner Arbeitsgruppe morgen
ein Drittel der Mittel für die politischen Kernaufgaben im Rahmen des Sondergipfels der Staats- und Regie-
ausschließlich in eine Region, nämlich nach Afghanis- rungschefs vorlegt. Es ist bislang durchgesickert, dass
tan, fließen soll. Das ist eine Entwicklung, die wir so der einzige Vorschlag, der auf Konsens stoßen könnte,
nicht unterstützen können. Ich sage es deutlich: Das darin besteht, ein europäisches Semester einzuführen.
Auswärtige Amt muss überall in der Welt politisch hand- Ich begrüße zwar diese Zielrichtung und begrüße auch,
lungsfähig bleiben und darf nicht ein Regionalbüro für dass dabei das Budgetrecht der nationalen Parlamente
Afghanistan werden. nicht angetastet wird, aber das wird zu wenig sein. Wir
können nicht mit lauen Kompromissen auf eine solche
Herr Minister, viele haben mir gesagt, dass Sie mit Ih- gewaltige Krise reagieren. Wir haben bei den Turbulen-
rer Zustimmung zu den tiefen Einschnitten nur Ihren zen auf den Finanzmärkten festgestellt, dass die Akteure
solidarischen Beitrag zu den Kürzungsmaßnahmen der auf diesen Finanzmärkten geradezu unerbittlich kompro-
Bundesregierung leisten wollten. Ich begrüße es, wenn misslos reagieren. Deswegen wird man Vertrauen auf
Menschen mit anderen solidarisch sein wollen. In die- diesen Märkten nicht dadurch schaffen, dass man Kom-
sem Fall kann ich diesen Begriff von Solidarität aber promisspakete schnürt und politische Rabatte gewährt.
nicht nachvollziehen. Für mich ist Solidarität ein Prin- Vielmehr besteht das einzige Mittel, um Vertrauen zu
zip, das die Verantwortung der Stärkeren gegenüber den schaffen, darin, dass man klare Regeln schafft und da-
Schwächeren betont. Ich verstehe deshalb nicht, dass die rauf achtet, dass diese Regeln strikt eingehalten werden.
Leistungen für die Ärmsten und Armen in Katastrophen- Deswegen stehen wir vor schwierigen Verhandlungen.
und Krisengebieten zum Beispiel nur gekürzt werden, Sie müssen das Ziel haben, dass Haushaltssünder Konse-
um die Steuergeschenke an Hoteliers und reiche Erben quenzen spüren. Sonst werden wir solche Krisen nicht
nicht rückgängig machen zu müssen. dauerhaft beilegen können.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Ich habe einige Sympathie dafür, dass wir automati- (D)
KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sche Sanktionen einführen. Dazu – das ist uns bekannt –
NEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Und müssten die Stimmenverhältnisse geändert werden, was
wie ist es mit den Spenden an die Lobbyisten eine Vertragsänderung erfordert. Ich habe noch viel
der Solarenergie?) mehr Sympathie für eine Schuldenbremse. Auch dafür
müsste man die Verträge ändern. Aber wir spüren doch
gerade bei uns, dass bei aller Schwierigkeit, einer sol-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen Schuldenbremse gerecht zu werden, dieses Instru-
Herr Kollege, meinen Sie, Sie könnten zum Ende ment eine heilsame Wirkung auf die Haushaltsberatun-
kommen? gen bei uns im Deutschen Bundestag hat. Deswegen
sollten wir uns nicht von dem Argument beeindrucken
lassen, Vertragsänderungen seien zu schwierig und nicht
Klaus Brandner (SPD): zu erreichen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen oh-
Das verstehe ich jedenfalls nicht unter Solidarität nehin Vertragsänderungen vornehmen, weil wir Irland
oder unter einer wertegeleiteten Politik „made in Ger- im Zuge der Ratifikation des Lissabon-Vertrages Zuge-
many“. Ich baue darauf, dass im Rahmen der Haushalts- ständnisse gemacht haben, die durch Vertragsänderun-
beratungen gemeinsam für diese Werte gestritten wird. gen eingelöst werden müssen. Wir werden in absehbarer
Zeit die voraussichtlichen Beitritte von Kroatien und Is-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. land zu beraten haben. Auch in diesem Zusammenhang
sind Vertragsänderungen unumgänglich. Ich plädiere
(Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck übrigens nicht für eine Paketlösung, aber man kann in ei-
[CDU/CSU]: Wir hätten gern gewusst, wie nem zeitlichen – nicht sachlichen – Zusammenhang Ver-
viel Geld die Solarlobby von der SPD bekom- tragsänderungen durchführen, um den Euro zu stabilisie-
men hat!) ren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dr. Rainer Stinner [FDP])
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn für
die CDU/CSU-Fraktion. Der deutsche Vorschlag, ein geordnetes Insolvenz-
regime einzuführen, greift die Lücke auf, die in den ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- traglichen Grundlagen der Europäischen Union besteht
neten der FDP) und die eine Ursache für die Turbulenzen gewesen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6091
Thomas Silberhorn
(A) Wir können in der Wirtschafts- und Währungsunion nie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist sonst nicht so (C)
manden ausschließen, auch wenn er noch so oft und in der Europapolitik!)
stark die Regeln bricht. Wir dürfen aber nach den Verträ-
gen auch nicht einfach für die Haushaltssünden unserer Zusammenfassend sei gesagt: Wir brauchen substan-
Partner in der Europäischen Union einstehen. Deswegen zielle Reformen zur Stabilisierung der Euro-Zone, nicht
ist es notwendig, diese Lücke dadurch zu schließen, dass nur deshalb, weil wir der größte Garantiegeber sind, son-
wir ein geordnetes Insolvenzregime errichten. Wenn das dern auch deshalb, weil der Euro eine identitätsstiftende
in der Europäischen Union nicht durchsetzbar sein Wirkung in der Europäischen Union hat. Wir sollten
sollte, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, ein sol- ernsthaft überlegen, das Mandat der Van-Rompuy-
ches Regime auf internationaler Ebene zu etablieren; Gruppe noch etwas zu verlängern, wenn die Ergebnisse
denn diese Währungsturbulenzen sind keineswegs eine so dünn ausfallen sollten, wie wir das zum jetzigen Zeit-
Besonderheit der europäischen Wirtschafts- und Wäh- punkt befürchten müssen. Aber wir müssen aufpassen,
rungsunion, sondern das Merkmal dieser Vorkommnisse dass wir das nicht aufs Spiel setzen: Der Euro hat eine
waren gerade die weltweiten Auswirkungen. Ich hätte große identitätsstiftende Wirkung in der Europäischen
ohnehin mehr Verständnis dafür, wenn wir eine interna- Union. Wir müssen die Stabilitätskultur erneuern. Ich
tionale Konvention unter dem Dach des Internationalen bin fest davon überzeugt: Das wird die Europäische
Währungsfonds etablieren könnten. Diejenigen, die Union weiter stärken.
diese Konvention nicht ratifizieren wollten, würden sie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
spätestens dann ratifizieren müssen, wenn sie Hilfe, die
durch die Konvention möglich wäre, in Anspruch neh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
men wollten. Daher sollten wir dieses Thema auf einer
höheren Ebene weiterverfolgen und uns einen internatio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nalen Insolvenzmechanismus überlegen. Der Kollege Michael Leutert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei der LINKEN)
Ich glaube, dass wir schon heute sehr deutlich sagen
Michael Leutert (DIE LINKE):
können: Bei jeder künftigen Unterstützung und Stabili-
sierung unserer Währung müssen zwingend die Gläubi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ger in Haftung genommen werden. Ich halte es für ein Herr Außenminister, Sie haben Anfang dieser Woche der
Menetekel, dass es uns mit unseren bisherigen Rettungs- Stuttgarter Zeitung ein Interview gegeben und darin ver-
kündet, deutsche Außenpolitik müsse wertorientiert und
(B) schirmen nicht gelungen ist, die Gläubiger mit ins Boot interessengeleitet sein. Welche Interessen Sie damit mei- (D)
zu nehmen. Wir können nicht auf der einen Seite den
Gläubigern die hohen Zinsen lassen, die sie als Risiko- nen, haben Sie auch noch gleich gesagt, nämlich die der
prämie erhalten, dann aber, wenn das Risiko eintritt, die deutschen Unternehmen im Ausland. Die Frage ist nur,
Konsequenzen allein dem Steuerzahler aufbürden. Hier wie das umgesetzt wird.
müssen wir zwingend dazu kommen, dass die Gläubiger Anfang August haben Sie als Vizekanzler eine Kabi-
mit in die Haftung genommen werden. nettssitzung geleitet. Darin wurde das Lateinamerika-
Konzept – das ist heute schon einmal angesprochen wor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den – beschlossen. Dieses Papier zeigt meines Erachtens
Wenn die Kommission nun vorschlägt, den Rettungs- exemplarisch, was unter wertorientierter und interes-
schirm, den wir im Frühjahr beschlossen haben, zu ent- sengeleiteter Außenpolitik ganz konkret verstanden
fristen, also nicht nur bis 2013 bestehen zu lassen, dann wird. Dabei geht es, kurz gesagt, darum, den deutschen
müssen wir dem strikt entgegenhalten: Die Befristung Einfluss im ehemaligen Hinterhof der USA wesentlich
war eine Geschäftsgrundlage für unsere Zustimmung zu zu verstärken.
dem Rettungsschirm. Wir haben ausdrücklich gesagt, Wenn man sich einmal den Weg der Entstehung die-
dass wir nicht zu einer Transferunion kommen wollen ses Konzepts anschaut, dann muss man sagen: Es gibt in
und auch keinen dauerhaften Hilfsmechanismus etablie- der Regierung sehr wohl eine Kontinuität; denn ob
ren wollen. Stichwort „Steuergeschenk an die Hoteliers“, ob Stich-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wort „Laufzeitverlängerung für die AKWs“, ob Stich-
wort „Pharmalobby und Arzneimittelmarkt-Neuord-
Von daher bedanke ich mich beim Außenminister und nungsgesetz“: Immer ist es derselbe Weg; Schwarz-Gelb
auch beim Herrn Staatsminister Hoyer dafür, dass sie ist Erfüllungsgehilfe für die Großkonzerne und Lobby-
hier klar gegen eine Entfristung des Hilfsfonds Stellung isten.
genommen haben. Das zeigt, dass wir innerhalb der Ko-
alition in diesen Finanzfragen, die ja von größter Bedeu- (Beifall bei der LINKEN)
tung sind, bestes Einvernehmen haben. Ich füge hinzu: In diesem Fall ist es wieder so. Ich möchte das auch kurz
Namentlich zwischen CSU und FDP gibt es in diesen skizzieren.
Fragen ein hohes Maß an Einvernehmen.
Anfang dieses Jahres, im März, hat die sogenannte
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft
der FDP – Kerstin Müller [Köln] [BÜND- Empfehlungen zu den deutsch-lateinamerikanischen
6092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Michael Leutert
(A) Wirtschaftsbeziehungen an die Bundesregierung ge- (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
sandt. Darin ist von der zunehmenden Bedeutung des GRÜNEN]: In Brasilien im Erdbebengebiet
Wirtschaftsstandorts Lateinamerika, von dessen Reich- Atomkraftwerke!)
tum an Bodenschätzen und Energieressourcen die Rede.
Von der Industrie wird gefordert, dass die deutsche Poli- Der Erstellung des Konzeptes ging ja auch eine Reise
tik endlich ihre wirtschaftlichen Interessen vertreten soll. voraus; dabei wurden unter anderem mit der GTZ Ge-
Ganz konkret heißt das, die Bundesregierung solle sich spräche in Brasilien über die Zertifizierung von Tropen-
doch bitte dafür einsetzen, dass die lateinamerikanischen hölzern und über Biodiversität geführt. Was Sie hier dar-
Bankenmärkte geöffnet werden und auf Schutzzölle und gestellt haben, entbehrt jeder Grundlage.
andere Maßnahmen für die dort ansässige Wirtschaft (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
verzichtet wird.
Lediglich fünf Monate später ist die besagte Kabi- Michael Leutert (DIE LINKE):
nettssitzung. Das Konzept wird beschlossen. Sie wieder- Liebe Kollegin, ich nehme das sehr wohl zur Kennt-
holen fast wortwörtlich Formulierungen der Industrie nis. Traurig ist allerdings, dass Sie nicht in der Lage wa-
und sichern zu, dass die Bundesregierung mit aller Ent- ren, ein eigenes Konzept vorzulegen,
schiedenheit gegen Marktbeschränkungen kämpfen
werde. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
CSU und der FDP)
Letzte Woche, lediglich einen Monat später, fand hier
in Berlin der Wirtschaftstag statt, zu dem die über sondern dass Sie tatsächlich die Hilfe eines Industriever-
200 Leiter der Auslandsvertretungen und über 1 000 Un- bandes benötigt haben, um etwas auf die Reihe zu brin-
ternehmer und Wirtschaftsfunktionäre geladen gewesen gen. Das ist die Wahrheit.
sind. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wie kann man einen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: solchen Unsinn reden?)
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Frau Wie sieht es denn im vorliegenden Haushalt mit der
Schuster zulassen? Werteorientierung aus? Das Bild, das sich mir da bie-
tet, ist ein Bild des Grauens. Darüber bin ich wirklich er-
Michael Leutert (DIE LINKE): schüttert. Entsprechende Zahlen sind ja hier schon ge-
Sofort. – Das nenne ich effektives Arbeiten. nannt worden; ich möchte aber trotzdem noch einmal
einige nennen. Seitdem Sie das Amt des Außenministers
(B) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch in (D)
übernommen haben, seit Oktober 2009, wurden die frei-
Ordnung!) willigen Leistungen an die Vereinten Nationen um
Komisch an dieser ganzen Angelegenheit ist lediglich, 21 Prozent heruntergefahren. Das trifft insbesondere die
dass das immer nur dann funktioniert, wenn die Interes- Zahlungen an das Hochkommissariat für Menschen-
sen von Großkonzernen, egal ob es Energiekonzerne, rechte mit einem Minus von 32 Prozent. Der Titel „De-
Pharmakonzerne oder Hotelkonzerne sind, bedient wer- mokratisierungs- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen
den. In anderen Punkten klappt so ein effektives und zur Förderung der Menschenrechte“ wurde um 51 Pro-
schnelles Arbeiten der Regierung nicht. zent heruntergefahren. Darin enthalten sind 6 Millionen
Euro für Ausstattungshilfe, was quasi ein militärischer
(Beifall bei der LINKEN) Posten ist. Der Titel „Unterstützung von internationalen
Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Frie-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: denserhaltung und Konfliktbewältigung durch das Aus-
wärtige Amt“ wurde gegenüber 2009 um 9 Prozent
Frau Kollegin, bitte.
heruntergefahren. Der Titel „Für Humanitäre Hilfsmaß-
nahmen im Ausland“ wurde um 25 Prozent herunterge-
Marina Schuster (FDP): fahren. Der Titel „Maßnahmen der Abrüstung, Rüs-
Herr Kollege, sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu tungskontrolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit“
nehmen, dass Ihre Schilderung der Chronologie hier wurde um 35 Prozent heruntergefahren. Man könnte
komplett falsch ist? Wir haben als Allererstes in den Ko- diese Liste noch um Stipendien, Goethe-Institute und an-
alitionsvertrag geschrieben, dass wir ein neues, ressort- deres beliebig erweitern. All das betrifft die zivile
übergreifendes Lateinamerika-Konzept auf den Weg Außenpolitik.
bringen wollen. Das bisherige Lateinamerika-Konzept
stammte aus dem Jahr 1995 und ist der veränderten Eine Zahl, die heute hier noch nicht genannt wurde,
Weltlage nicht mehr gerecht geworden. Ich bitte Sie sehr die ich aber auch für wichtig halte, ist, dass Sie im Ge-
darum, Ihre Ausführungen in diesem Punkt zu korrigie- gensatz zu 2009 70 Millionen Euro mehr im Haushalt
ren. haben. Es ist überhaupt nicht so, dass Sie mit weniger
Geld auskommen müssten; Sie haben 70 Millionen Euro
In unserem Konzept geht es ja beileibe nicht nur um mehr. Wenn jetzt gesagt wird, dieses Geld fließe in den
Wirtschaftsinteressen, sondern auch um Umweltschutz, Stabilitätspakt Afghanistan, der auf 180 Millionen
erneuerbare Energien und Biodiversität sowie Men- Euro aufgebauscht wurde, möchte ich dem gerne einmal
schenrechte. das gegenüberstellen, was in einem Schreiben aus Ihrem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6093
Michael Leutert
(A) Hause steht, in dem es um die Kultur- und Bildungspro- gefallen. Diesen möchte ich noch einmal extra hervorhe- (C)
jekte des Auswärtigen Amtes in Afghanistan geht. Im ben. Es handelt sich um die erste 6-Millionen-Euro-
Vergleich zu 2009 sind demzufolge für Schulförderung Zahlung für die polnische Stiftung „Gedenkstätte
1 Million Euro weniger vorgesehen; das Projekt Auschwitz-Birkenau“. Insgesamt werden ja der Bund
„Deutsch als Fremdsprache“ wurde auf null gefahren; die und die Länder jeweils 30 Millionen Euro, also insge-
Umfeldstabilisierung – das heißt berufliche Bildung – samt 60 Millionen Euro, an die polnische Stiftung für die
wurde um 2,4 Millionen Euro gekürzt und damit auch Gedenkstätte zur Erinnerung an das Vernichtungslager in
auf null gefahren; für den Kulturerhalt gibt es Auschwitz-Birkenau beisteuern. Ich finde es extrem
800 000 Euro weniger. Angesichts dessen frage ich wichtig, dass die Erinnerung an diese grausamen Ver-
mich, wohin denn die Gelder für den Stabilitätspakt Af- brechen der deutschen Nazis wachgehalten wird;
ghanistan fließen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Jan van Aken [DIE LINKE]: Waffen!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
All das ist die Schattenseite Ihrer wertegeleiteten Au- SPD, der FDP und der LINKEN)
ßenpolitik. Im Gegensatz zu den Interessen der Wirt-
schaft, wofür die Mittel hochgepowert wurden, wurden denn es geht nicht nur um das Gedenken, sondern auch
die Ansätze für die Umsetzung von Werten wie Men- um die Erinnerung, die wichtig ist, um aus diesen Ereig-
schenrechte, Demokratisierung, Krisenprävention, Frie- nissen für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen.
denserhalt in diesem Haushalt geschleift. Ich bin der In unserer Gesellschaft gibt es immer noch zu viele Na-
festen Überzeugung: Wenn dieser Haushalt so, wie er zis, zu viel Rassismus, zu viel Antisemitismus, zu viel
vorliegt, beschlossen wird, hinterlassen Sie ein Trüm- Nationalismus. Ich finde, es sollte uns allen im Parla-
merfeld ziviler Außenpolitik. ment über alle Fraktionsgrenzen hinweg eine Herzensan-
gelegenheit sein, dafür zu kämpfen, dass so etwas wie in
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Auschwitz nie wieder passiert.
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Trümmerfeld!) sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP
und der LINKEN)
Eines muss man Ihnen sicherlich lassen: Sie haben,
wie gesagt, vor nicht einmal einem Jahr, nämlich vor Das weitere Durcharbeiten dieses Einzelplans fand
zehn Monaten, das Amt übernommen. In dieser kurzen ich deutlich weniger erfreulich, insbesondere was die
Zeit haben Sie die Außenpolitik gründlich umgepflügt: Kürzungen anbetrifft. Herr Minister Westerwelle, bei der
(B) Wirtschaftsinteressen hoch – Kultur, Bildung, humani- Vorstellung des Sparpakets Anfang Juni wurden Sie ge- (D)
täre Hilfe, Friedenserhaltung runter. fragt, wieso Sie zuerst Segnungen wie den halben Mehr-
Es bleibt für uns alle eigentlich nur ein Trost: Sie ha- wertsteuersatz für Hoteliers mit dem Füllhorn ausschüt-
ben nicht nur an den Zahlen des Einzelplans gearbeitet, ten, aber dann mit dem Sparpaket die Machete zücken.
sondern Sie haben auch an den Zahlen Ihrer eigenen Par- Der Ausdruck „Machete“ war Ihnen damals zu martia-
tei gearbeitet: Innerhalb von zehn Monaten von 15 Pro- lisch, aber der Ausdruck „Sparen mit der Nagelschere“
zent auf 5 Prozent bei den Umfragewerten – macht war Ihnen auch nicht ausreichend. Egal ob Nagelschere
1 Prozent weniger pro Monat. oder Machete, egal ob Heckenschneider oder Rasenmä-
her: Der falsche Einsatz von Schnittwerkzeugen kann
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Also nur noch immer zu schweren Blessuren führen. Das sieht man
fünf Monate!) deutlich an diesem Haushalt. Ihren Konsolidierungsbei-
Ich hoffe für uns alle und im Interesse der deutschen Au- trag erbringen Sie vor allen Dingen bei der humanitären
ßenpolitik, dass Sie zumindest bei den Prozentzahlen Ih- Hilfe, bei der Krisenprävention, bei der Friedenserhal-
rer Partei Kurs halten. Dann wäre das nächste Wahl- tung und bei der Rüstungskontrolle. Zusammengefasst:
ergebnis von Ihnen einfach, niedrig und gerecht. Sie sparen hier und kürzen damit bei der Menschlichkeit.
(Beifall bei der LINKEN) In diesem Bereich wird um 90 Millionen Euro, fast
ein Fünftel der Mittel in dieser Titelgruppe – diese Zahl
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wurde schon genannt –, gekürzt. Sie haben zu Recht da-
Jetzt hat unser Kollege Sven-Christian Kindler das rauf hingewiesen, dass Rot-Grün damals die zivile Kri-
Wort für Bündnis 90/Die Grünen. senprävention eingeführt, aber weniger Mittel dafür
aufgebracht hat. Die rot-grüne Idee war, die zivile Kri-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Endlich ein- senprävention als Bestandteil der Außenpolitik einzu-
mal ein Haushälter! Aber jetzt bei der Wahr- führen. Man musste zunächst die entsprechenden Struk-
heit bleiben!) turen schaffen und ist natürlich mit einem geringeren
Budget gestartet. Die Mittel sind aber auch unter Rot-
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grün stetig gewachsen. Ich finde es gut, dass unter Au-
NEN): ßenminister Steinmeier die Mittel weiterhin geflossen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sind. Ein großes Lob an Frank-Walter Steinmeier für
Kollegen! Als ich den Einzelplan 05 für das Auswärtige das, was er in diesem Bereich getan hat. So erklären sich
Amt durchgesehen habe, hat mir ein Titel besonders gut die Zahlen.
6094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Sven-Christian Kindler
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht von Land zu Land tingeln und in der Euro-Zone (C)
und bei der SPD) dafür werben, eine europaweite Finanztransaktionsteuer
einzuführen.
Vor diesem Hintergrund muss man das beurteilen,
was Sie jetzt mit diesem Einzelplan machen. Sie sagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ein Schwerpunkt deutscher Außenpolitik solle Friedens- sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg
politik und Abrüstungspolitik sein. Das passt aber Schirmbeck [CDU/CSU]: Das macht der
überhaupt nicht mit der Tatsache zusammen, dass Sie bei Finanzminister doch jeden Tag!)
Abrüstung, Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung 20 Mil-
lionen Euro sparen. Das ist ein klarer Widerspruch zu Ih- – Ja, aber der Europaminister kann das doch unterstüt-
ren Aussagen, die Sie eben getroffen haben. zen. Ich fände es schon gut, wenn Herr Westerwelle für
mehr Einnahmen aus den Finanzmärkten werben würde,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um globale Gerechtigkeit zu finanzieren, Spekulation
sowie bei Abgeordneten der SPD) einzudämmen und nicht weiter die Finanzlobby zu be-
Wir wissen, dass die Not weiter wachsen wird. Die schützen. Deswegen, Herr Westerwelle, fordere ich Sie
verheerende Flutkatastrophe in Pakistan ist nur eines von auf: Setzen Sie sich endlich für eine europaweite Finanz-
vielen Beispielen. In den letzten 30 Jahren hat sich die transaktionsteuer ein.
Anzahl der Menschen, die von klima- und wetterbeding- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Europa-
ten Naturkatastrophen betroffen sind, versechsfacht, minister ist nicht für alles zuständig!)
nämlich von 250 Millionen auf heute 1,5 Milliarden
Menschen. Naturkatastrophen treffen besonders die ar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
men Menschen im Süden. Das ist doppelt ungerecht.
Herr Kindler, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Man sollte sich klarmachen: Der Hauptverursacher des
Kollegen Koppelin zulassen?
Klimawandels sind die Bewohnerinnen und Bewohner
in den Industriestaaten des reichen Nordens. Die armen
Menschen im globalen Süden müssen die Folgen, für die Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sie nicht verantwortlich sind, ausbaden, wenn etwa ihr NEN):
Zuhause überschwemmt wird. Ich finde es skandalös, Gerne.
dass die Regierung in diesem und in anderen Einzelplä-
nen besonders in diesem Bereich spart. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Kindler, wir werden nachher auch über den
sowie bei Abgeordneten der SPD) Verteidigungsetat sprechen. Sie haben den Vorschlag ge-
(B) macht, bei Rüstungsprojekten zu kürzen und mit den frei (D)
Die Regierung verabschiedet sich vom Ziel der glo- werdenden Mitteln andere Dinge zu machen. Das ist,
balen Armutsbekämpfung. Das sieht man daran, dass finde ich, eine sehr gute Anregung. Ich hätte dazu von Ih-
die ODA-Quote mit diesem Etat sinken wird, weil ent- nen gern konkrete Vorschläge; denn die großen Rüstungs-
sprechende Mittel des Auswärtigen Amtes gestrichen projekte, die Sie wahrscheinlich im Blick haben – MEADS,
werden und weil die Regierung die Kopenhagener Ver- bestimmte Transportflugzeuge oder anderes –, sind alle in
sprechen komplett bricht. Das ist ein Skandal für die der Zeit der rot-grünen Koalition beschlossen worden.
deutsche Außen- und Entwicklungspolitik und zeigt, wie
kaltherzig Schwarz-Gelb auch international agiert. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist das! Ich
würde mich dafür einmal entschuldigen!)
Besser jedoch, als humanitäre Hilfe zu leisten, ist es,
einzugreifen, bevor Konflikte entstehen. Das heißt, die Insoweit wäre ich sehr daran interessiert, zu erfahren, wo
zivile Krisenprävention müsste man eigentlich aus- wir kürzen könnten und ob Ihre damaligen Bestellungen,
bauen, weil dadurch Krisen entschärft werden oder gar die uns schon jetzt Milliarden gekostet haben, falsch wa-
nicht erst entstehen. Ihre Politik trägt aber nicht zu einer ren.
friedlichen Welt bei und zeugt nicht von einer wertege-
leiteten Außenpolitik. Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir Maßnahmen NEN):
zur zivilen Krisenprävention finanzieren. Es gibt meh- Erstens. Ich war, wie Sie wissen, Herr Koppelin, nicht
rere Etats, in denen man Kürzungen vornehmen könnte. Mitglied der rot-grünen Koalition.
Das ist zum Beispiel im Wehretat möglich. Da kann man (Zuruf von der FDP)
bei unsinnigen und teuren Rüstungsprojekten sparen.
– Na ja, das stimmt; das muss man ehrlicherweise zuge-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bei wel- ben.
chen?)
Zweitens. Wir haben MEADS damals abgelehnt; aber
Aber, Herr Westerwelle, Sie können sich auch einmal für wir haben uns gegen die Sozialdemokraten leider nicht
mehr Einnahmen einsetzen. Sie sind, soweit ich weiß, durchsetzen können.
auch Europaminister und damit für die Europapolitik zu-
ständig. Die Bundesregierung ist für die Einführung ei- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo! Frau
ner europaweiten Finanztransaktionsteuer. Da frage Roth, was ist denn eigentlich los? – Weitere
ich mich schon, warum Sie in der Europäischen Union Zurufe von der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6095
Sven-Christian Kindler
(A) – Das gehört doch zur Wahrheit, liebe Kolleginnen und sicherlich alle daran interessiert, dass es zu mehr Stabili- (C)
Kollegen. tät in der Region kommt.
Wir wollen bei Rüstungsprojekten deutlich sparen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen da kürzen, weil das zu einer friedlicheren
Welt beiträgt. Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich dem Prä-
sidenten der Republik Serbien, Herrn Boris Tadic. Er be-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Frau Müller, weist in dieser Frage einen enormen Mut. Gerade wir als
wo waren Sie denn eigentlich alle? Unglaub- Deutsche müssen dies nachvollziehen können; denn das,
lich!) was wir in der deutschen Geschichte durch die Aufgabe
der Ostgebiete erlebt haben – dies ist dort gewisserma-
Grüne Außenpolitik ist vor allem Friedenspolitik. Sie
ßen in einem Zeitraffer abgelaufen –, kann vielleicht ei-
steht für eine Kürzung bei Rüstungsprojekten; das ist
nen Eindruck davon vermitteln, welchem persönlichen
völlig klar.
Risiko er sich aussetzt, und zwar nicht nur politisch; man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – denke an seinen Amtsvorvorgänger. Ich wiederhole:
Zuruf von der FDP: Unglaublich! Wir wollen Mein Dank gilt Herrn Tadic und allen, die diesen euro-
mehr solche Redner haben!) päischen Weg unterstützen.
Der Einzelplan 05, Auswärtiges Amt, zeigt ganz klar: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Man kürzt radikal bei ziviler Krisenprävention, bei Frie- der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-
denserhaltung. Damit pfeift diese Bundesregierung auf NIS 90/DIE GRÜNEN])
unsere globale Verantwortung und lässt die Ärmsten der
Welt im Regen stehen. Hier zeigt sich eindeutig: Es hat bei einer weiteren Frage Bewegung gegeben
Schwarz-Gelb kürzt nicht nur im Inland unsozial, son- – es ist bereits bei einigen Vorrednern angeklungen –,
dern auch im Ausland. und zwar durch das Referendum in der Türkei. Ja, es
ist ein wichtiger und richtiger Schritt: 58 Prozent haben
Vielen Dank. dafür gestimmt. Man könnte jetzt mit der Lupe hin-
schauen und sicherlich das eine oder andere finden, was
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wir uns anders vorstellen. Es war aber ein Schritt in die
sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg
richtige Richtung; denn er ebnet den Weg zu Reformen,
Schirmbeck [CDU/CSU]: Das musste gesagt
die die Menschen in der Türkei, aber auch wir brauchen.
werden!)
Ich möchte hier kein Wasser in den Wein gießen, egal ob
man die Verhandlungen als ergebnisoffen bezeichnet
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: oder ob man dafür ist, dass die Türkei gleich die Per- (D)
(B)
Der Kollege Gunther Krichbaum hat jetzt das Wort spektive einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen
für die CDU/CSU-Fraktion. Union erhält.
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir stehen bei einer anderen Frage in Europa zuneh-
mend vor einem Dilemma. Damit meine ich, dass die
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Verhandlungen über viele Kapitel im Augenblick nicht
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und multilateral – durch die Europäische Union selbst –, son-
Kollegen! Letzte Woche hat eine Meldung leider keine dern bilateral blockiert sind.
Schlagzeilen gemacht, die dies verdient gehabt hätte, (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
nämlich die Resolution in der UN-Vollversammlung, GRÜNEN]: Zypern!)
mit der Bewegung in den Kosovo-Streit gekommen ist.
Und in diesem Zusammenhang ist es insbesondere Ih- Um überhaupt davon sprechen zu können, dass eine Ver-
nen, Herr Außenminister Westerwelle, zu verdanken, handlung ergebnisoffen geführt werden kann, ist es er-
dass Serbien dazu bewegt werden konnte, eine modera- forderlich, dass überhaupt Verhandlungen stattfinden.
tere Rolle, eine moderatere Position einzunehmen. Ich Deswegen ist es wichtig, dass wir hier einen Mechanis-
glaube, das war ganz wichtig; denn hier ist es im Zusam- mus finden – insofern hat sich der europäische Geist in
menwirken mit der Europäischen Union und unter Ihrer der Europäischen Union ein Stück weit verändert –,
Meinungsführerschaft gelungen, Bewegung in einen durch den in einem Mehrheitsentscheid in der Europäi-
Streit zu bringen, von dem wir eigentlich gedacht hatten, schen Union darüber entschieden wird, ob sich Streitig-
dass er uns noch über Jahre hinweg beschäftigen wird. keiten auf der Ebene der Europäischen Union befinden
Er wird es auch tun. Es ist jetzt aber Bewegung in die und dorthin gehören oder ob sie bilateralen Charakter
Sache gekommen, weil die Tür für einen konstruktiven haben. Wenn sie aber bilateralen Charakter haben, dann
Dialog zwischen Kosovo einerseits und Serbien anderer- muss sich ein Schiedsgerichtsverfahren anschließen, bei
seits geöffnet wurde. dem beide Seiten im Vorfeld anerkennen, dass sie den
Schiedsspruch umsetzen werden.
Es ist folgerichtig, dass wir jetzt das Ansinnen der
Außenminister unterstützen, das Beitrittsgesuch Ser- Wir erlebten und erleben das bei Zypern und der Tür-
biens an die Europäische Kommission mit der Bitte kei. Wir erleben es im Hinblick auf den Konflikt zwi-
um eine Stellungnahme und um Erteilung eines Avis schen Griechenland und Mazedonien. Wir haben es zu-
weiterzuleiten – letztlich muss sich diese Kooperation an letzt – ich kann die Liste gar nicht abschließen – im
dieser Stelle auch für Serbien auszahlen –; denn wir sind Hinblick auf die Vorgänge zwischen Großbritannien, den
6096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Gunther Krichbaum
(A) Niederlanden und Island, aber auch zwischen Kroatien Gunther Krichbaum (CDU/CSU): (C)
und Slowenien erlebt. Wir müssen hier voranschreiten Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
und dem Rechnung tragen. Eines Tages wird nämlich si-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
cherlich auch Kroatien Mitglied der Europäischen Union
neten der FDP)
sein und Serbien an deren Tür klopfen.
Wir müssen insgesamt Gewähr dafür tragen, dass ein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Mitgliedstaat der Europäischen Union keine nationalen Die Kollegin Edelgard Bulmahn hat nun das Wort für
Forderungen zum Faustpfand gegenüber einem Staat er- die SPD-Fraktion.
heben kann – ich unterstelle dies nicht unseren kroati-
schen Freunden –, der der Europäischen Union erst noch (Beifall bei der SPD)
beitreten möchte.
Edelgard Bulmahn (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Kollegen! Ohne eine konsequente Abrüstungs- und
GRÜNEN) Friedenspolitik, ohne wirtschaftliche Aufbauhilfe,
Das ist sicherlich nicht in unser aller Sinn. ohne die Sicherung der Menschenrechte und ohne die
Sicherung der Demokratie würden wir heute nicht in ei-
Herr Außenminister, Sie hatten den Vertrag von Lis- nem friedlichen Europa und werden wir auch nicht in ei-
sabon angesprochen. Beim Europäischen Auswärtigen ner friedlichen Welt leben.
Dienst, aber auch an anderer Stelle festigen sich die
Strukturen. Wir kommen zunehmend weg von der Nabel- (Beifall bei der SPD)
schau der Europäischen Union und gelangen stärker hin Sehr geehrter Herr Außenminister, deshalb teile ich die
zu anderen Themen. Das ist gut so. Dies betrifft – Kol- Aussage, die Sie vor wenigen Minuten an dieser Stelle
lege Silberhorn hat es angesprochen – die Finanzbezie- gemacht haben, dass Abrüstung in Zukunft von ebenso
hungen. Allerdings sei hier in einer Randbemerkung er- großer Bedeutung sein wird wie der Klimawandel. Das
wähnt, dass es hier im Haus sicherlich keine Mehrheit ist ein richtiger Satz; aber der gleiche Außenminister be-
dafür geben würde, Euro-Bonds aufzulegen – Präsident treibt eine falsche Politik, wenn er die finanziellen Mittel
Barroso hat das kürzlich vorgeschlagen – oder eine für Abrüstung und Rüstungskontrolle um ein Drittel
EU-Steuer einzuführen. Ich glaube, dass dies im Ergeb- streicht.
nis kontraproduktiv wäre: Es würde bei unseren Bürge-
rinnen und Bürgern mehrheitlich auf Ablehnung stoßen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) Ich glaube, eine solche Steuer wäre nicht vermittelbar. DIE GRÜNEN) (D)
Unsere Ablehnung kann ordnungspolitisch ganz klar da- Gute Politik braucht nicht nur Worte, sondern sie braucht
mit begründet werden, dass die Europäische Union ein auch Taten.
Staatenbund ist und kein Bundesstaat. Deswegen wird es
mit uns sicherlich kein eigenes Steuerrecht für die Euro- An anderer Stelle, Herr Außenminister, führten Sie
päische Union geben. aus – ich zitiere –:
Werteorientierung und Interessenleitung gehören
Ein letzter Gedanke zu den Strukturen sei genannt. Hier
beide zum Kompass einer guten deutschen Außen-
geht es um einen Vorschlag von Herrn Pöttering, dem vor-
politik.
maligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, aber
auch von Ihnen, Herr Außenminister Westerwelle. Dieser Das ist richtig, Herr Außenminister. Aber ich frage Sie:
Vorschlag betrifft die Einführung einer europäischen Von welchen Werten und von welchen Interessen lassen
Armee. Ich glaube, dass wir gerade durch den Vertrag von Sie sich leiten, wenn Sie die Mittel zur Förderung der
Lissabon die große Chance haben, in diesem Politikfeld Menschenrechte und der Demokratisierung um die
zu einer zusätzlichen Vertiefung zu gelangen, so wie wir Hälfte – liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben rich-
es auf anderen Feldern mit dem Schengen-Abkommen tig gehört: um die Hälfte – streichen? Offensichtlich
und der Einführung des Euro schon geschafft haben. fehlt dem Außenminister der Kompass für eine strin-
gente Außenpolitik im deutschen Interesse. Oder wie ist
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: es zu erklären, dass Sie, Herr Westerwelle, ausgerechnet
dort kürzen und streichen, wo es um die zentralen Auf-
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
gabenfelder der deutschen Außenpolitik, wie die Siche-
rung der Menschenrechte, die Krisenprävention oder die
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): auswärtige Kulturpolitik, geht?
Ich komme zum Ende. – Erlauben Sie mir den letzten
Deutsche Außenpolitik sollte engagierte Friedens-
Satz. Eine große Chance steckt darin, dass wir beispiels-
politik sein, eine Friedenspolitik, die auf Menschen-
weise gemeinsam mit Franzosen, mit Polen, vielleicht
rechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie
sogar im Format des Weimarer Dreiecks Strukturen fin-
setzt.
den, die in die Zukunft weisen.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eine solche Außenpolitik gründet auf Vertrauen. Soziale,
Herr Kollege. wirtschaftliche, kulturelle und nachhaltige Entwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6097
Edelgard Bulmahn
(A) ist die Basis für eine erfolgreiche Außenpolitik. Gerade engagieren? Der Sparbeitrag zum Haushalt ist im Übri- (C)
mit den Konzepten der zivilen Krisenprävention, der gen vergleichsweise gering; aber die Signalwirkung ist
Konfliktbearbeitung und der Friedenskonsolidierung verheerend.
leistete Deutschland bisher einen international hochaner-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kannten und hochrespektierten Beitrag zur Friedens-
DIE GRÜNEN)
sicherung. Die Beispiele, die in der Debatte genannt
wurden, haben das sehr deutlich unterstrichen. Statt Dass ausgerechnet Deutschland beim Aufbau demo-
diese Kompetenzen zu nutzen und auszubauen, streicht kratischer Strukturen, bei der gesellschaftlichen Wieder-
die schwarz-gelbe Koalition ausgerechnet diese Mittel eingliederung von Kindersoldaten, bei der friedlichen
gnadenlos zusammen. Verstehe das, wer wolle! Lösung des Darfur-Konfliktes, bei den Opfern von
Streumunition, bei Minenopfern in Kolumbien oder bei
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sven-
der humanitären Hilfe kürzt, schadet dem Ansehen unse-
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
res Landes. Damit wird nicht nur ein hoffnungsvoller
NEN])
Ansatz zivilgesellschaftlichen Engagements zerstört,
Das ist unverständlich. Es ist eine falsche Politik. Eine sondern auch das Vertrauen in die Verlässlichkeit deut-
solche Politik ist nicht nur kurzsichtig, sondern sie ist scher Außenpolitik, und das ist wirklich nicht zu verant-
auch gefährlich. worten.
Insgesamt sollen im kommenden Jahr 88 Millionen Ein ähnliches Bild bietet sich in der auswärtigen
Euro weniger für Maßnahmen und Leistungen zur Kulturpolitik, die von Willy Brandt einst als dritte
Sicherung von Frieden und Stabilität sowie für huma- Säule der Außenpolitik bezeichnet wurde und unter
nitäre Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Allein Frank-Walter Steinmeier stark, sogar gewaltig ausgebaut
im Bereich der Krisenprävention sollen 30 Prozent die- wurde. Auch hier stehen die Signale auf Halt. Mein Kol-
sen skandalösen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen, ob- lege Brandner hat bereits darauf hingewiesen, dass in
gleich die Bundesregierung in ihrem Umsetzungsbericht unserer globalisierten Welt Kultur- und Bildungsarbeit
zum Aktionsplan Zivile Krisenprävention – im Übrigen das Fundament einer erfolgreichen Außenpolitik sind.
zu Recht – von wachsenden Anforderungen an Krisen- Davon bin ich zutiefst überzeugt.
prävention und Konfliktbewältigung spricht. (Beifall bei der SPD)
Ziel ziviler Krisenprävention ist es, gewaltsame Sie muss deshalb ein zentraler Bestandteil jeglicher au-
Auseinandersetzungen im Vorfeld zu verhindern. Welt- ßenpolitischer Strategie sein.
weit haben wir sehr viele Krisenregionen, als Beispiel
(B) nenne ich den Sudan. Wir wissen nicht, ob es dort im Allerdings ist das Interesse des Außenministers daran (D)
Zuge des Referendums eventuell zu einem Bürgerkrieg offenkundig nicht allzu groß. So werden allein die Zu-
kommt. Dort ist sofortiges Handeln notwendig. Dafür wendungen an das Goethe-Institut um 8 Millionen Euro
braucht man eine angemessene Finanzierung und Men- gekürzt. Die Verwaltungsausgaben werden darüber hi-
schen, die in dieser Krisenregion tätig sind. Genau das naus bis 2014 eingefroren.
Gegenteil wird angestrebt. Das ist nicht nur bedrückend,
das schadet unserem Land und auch den Menschen im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sudan, die auf unsere Hilfe und unsere Unterstützung Frau Kollegin!
setzen.
(Beifall bei der SPD) Edelgard Bulmahn (SPD):
Damit wird die erfolgreiche Reform der Goethe-Insti-
Alle Maßnahmen haben nur Erfolg, wenn sie auf tute, die seit 2005 flexibler und handlungsfähiger gewor-
Dauer angelegt sind. Kontinuität, Verlässlichkeit und den sind, nachhaltig gefährdet.
Planungssicherheit sind ganz entscheidend, weil sie eine
wichtige Voraussetzung dafür sind, dass Vertrauen ent- Ein weiteres Beispiel kann ich jetzt nur noch nennen.
steht. Gerade deutsche Nichtregierungsorganisationen
leisten seit Jahren eine ungeheuer wertvolle Arbeit, die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nun massiv gefährdet ist. Wie mir Frau Pieper noch in Eigentlich auch das nicht mehr.
der vergangenen Woche geantwortet hat, sind die deut-
schen Nichtregierungsorganisationen über die Kürzungs-
Edelgard Bulmahn (SPD):
pläne informiert. Ein Szenario, wie es nun weitergehen
soll, wurde vom Auswärtigen Amt bisher jedoch nicht Das ist Tarabya. Hier wird ein Kulturgut infrage ge-
entwickelt. Als ich diese Antwort gelesen habe, habe ich stellt und aufgegeben, das eine ganz wichtige Rolle für
mich gefragt, wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitar- die deutsch-türkische Zusammenarbeit spielt.
beiter der Nichtregierungsorganisationen fühlen müssen, (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Kollegin,
wenn sie so etwas lesen. Ihre Zeit ist um!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich fürchte, dass die Bundesregierung mit einer sol-
chen Amtsführung Gefahr läuft, als verlässlicher Partner
Welche Wertschätzung erleben sie eigentlich, wenn sie
nicht mehr ernst genommen zu werden.
sich mit großem Engagement und manchmal sogar unter
Einsatz ihres Lebens für Frieden und Menschenrechte Vielen Dank.
6098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Edelgard Bulmahn
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klaus Brandner (SPD): (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Polenz, stimmen Sie mir zu, dass das
Kanzleramt bei der Aufstellung des Bundeshaushalts als
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: politische Wertorientierung vorgegeben hat, dass der Be-
Der Kollege Ruprecht Polenz hat jetzt das Wort für reich Kultur und auch der Bereich Bildung von den
die CDU/CSU-Fraktion. Sparmaßnahmen ausgenommen werden sollten? So
wurde es zumindest heute in der Debatte dargestellt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn das so ist, frage ich mich, warum es in diesem
kleinen Außenetat, im Einzelplan 05, keine Sondermittel
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): gibt, um die riesige Summe für Afghanistan an anderer
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stelle im Haushalt auszugleichen? Es ist für niemanden
Solange die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition verständlich, dass man diese starken Kürzungen in allen
keinen einzigen konkreten Vorschlag zum Sparen im Be- Bereichen des Außenhaushalts hinnehmen muss, Kür-
reich des Auswärtigen Amtes vortragen, ist ihre Kritik zungen in Bereichen, die von uns allen hier als beson-
vergleichsweise billig. ders wichtig dargestellt worden sind. Stimmen Sie mir
zu, dass Sondermittel der Bundesregierung notwendig
(Zuruf des Abg. Andrej Konstantin Hunko gewesen wären, um einen Haushalt vorzulegen, der den
[DIE LINKE]) Zielsetzungen des Bundesaußenministers und anschei-
– Er hat nicht zum Auswärtigen Amt vorgetragen. nend dem Willen des ganzen Hauses entspricht?

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dann Außerdem muss ich Ihnen sagen, dass es Sparvor-
haben Sie nicht zugehört!) schläge von mehreren Rednern in dieser Debatte gab
– das ist auch aus der FDP-Fraktion mitgeteilt worden –,
– Doch. zum Beispiel die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers
Solange Sie nicht anerkennen, dass bei einer Ver- zurückzunehmen oder zumindest zu reduzieren.
schuldungssituation, in der sich Deutschland aufgrund (Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU:
der Wirtschafts- und Finanzkrise gegenwärtig befindet, Oh!)
jeder Etat eine Einsparleistung erbringen muss, werden
Sie der Verantwortung für zukünftige Generationen nicht Hier geht es um eine Größenordnung von etwa
gerecht. Das muss man als generelle Bemerkung vor 90 Millionen Euro. Das ist, insgesamt gesehen, eine
diese Etatdebatte stellen. Sonst könnten wir alle natür- denkbar kleine Summe. Ich würde Sie bitten, zu erklä-
(B) lich kritisieren, dass da oder dort jetzt weniger Geld auf- ren, warum Sie sagen, dass es überhaupt keine konstruk- (D)
gewandt wird; denn jede Position, bei der gekürzt wurde, tiven Vorschläge für einen anderweitigen Ausgleich gab.
hat einen Sinn.
Eine zweite Vorbemerkung. Frau Kollegin Bulmahn, Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
wenn es dadurch, dass wir ein paar Millionen Euro mehr
Herr Kollege Brandner, ich habe von Vorschlägen be-
für den Sudan in unseren Bundeshaushalt einstellen, in
züglich des Haushaltes des Auswärtigen Amtes gespro-
Darfur übermorgen besser wird, dann werden wir uns
chen. Ich teile Ihre Sorge, dass der Anteil des Haushalts
schnell einig.
des Auswärtigen Amtes am gesamten Bundeshaushalt,
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist es!) der nach wie vor bei 1 Prozent liegt, nicht in einem an-
gemessenen Verhältnis zu der Bedeutung der äußeren Si-
Sie haben mit Ihrer Kritik den Eindruck erweckt, dass cherheit und der Außenpolitik steht und sich auf einem
die Lösung im Sudan vor allen Dingen davon abhängig Stand befindet, der niedriger als beispielsweise der der
ist, welche Mittel im deutschen Bundeshaushalt stehen. Franzosen oder der Briten ist. Das zu klären, bedeutet
Das ist leider nun einmal so nicht der Fall. eine Diskussion darüber zu führen, welche Priorität wir
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der Außenpolitik und damit auch der äußeren Sicherheit
Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie ist aber auch geben und wie viel wir dafür im Verhältnis zu unseren
davon abhängig!) Staatsaufgaben insgesamt aufwenden. Über diese Frage
müssten wir sicherlich auch sprechen. Der damit verbun-
dene Prozess hat spätestens nach 1990 eingesetzt und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wurde seither von allen Regierungen fortgesetzt. Das
Herr Kollege Polenz, es gibt den Wunsch nach einer Ganze würde ich als Außenpolitiker natürlich immer mit
Zwischenfrage von Herrn Brandner. Möchten Sie diese einem großen Fragezeichen versehen.
zulassen?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege Polenz, es gibt noch das Angebot einer
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zwischenfrage des Kollegen Leutert. Möchten Sie auch
Bitte schön. diese zulassen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6099

(A) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): glaube, dass es notwendig ist, das wieder ins Bewusst- (C)
Ja, bitte schön. sein zu rücken – wie kein anderes Land von Europa und
auch von den bisherigen Erweiterungen profitiert. Das
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bezieht sich auf den Binnenmarkt, auf unsere Export-
Bitte schön. wirtschaft, auf unsere Arbeitsplätze und natürlich auch
auf die Möglichkeiten unserer Bürger, sich in einem im-
mer größeren Raum praktisch frei von Grenzkontrollen
Michael Leutert (DIE LINKE): bewegen zu können.
Herr Kollege Polenz, ich habe zwei Fragen:
Es ist auch wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass die
Erstens. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass EU-27 heute um ein Vielfaches einflussreicher in der
der Etat des Außenministers im Vergleich zu 2009 über Welt sind, als es die sechs Partnerländer der Römischen
70 Millionen Euro mehr umfasst und dass es deshalb Verträge waren oder heute wären, wenn kein Land dazu-
sehr fraglich ist, warum genau in diesen Bereichen, aus- gekommen wäre. Weil das so ist – und das ist der Grund,
wärtige Kulturpolitik und Bildung, gespart wird? weshalb ich das anspreche –, hat mich die Begleitmusik
Zweitens. Sie haben davon gesprochen, dass, wenn der Griechenland-Debatte in Deutschland außerordent-
man sparen muss, alle Bundesministerien betroffen sind lich besorgt gemacht.
und jeder eine Bringschuld hat. Meine Frage ist: Warum
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ist das Verteidigungsministerium von dieser Bringschuld
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ausgenommen?
Wenn wir auch bei uns die Europa-Idee auf die Netto-
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): zahlungsströme reduzieren, machen wir Europa zu einem
Wir werden gleich über den Etat des Verteidigungs- Nullsummenspiel, bei dem der eine nur so viel gewinnen
ministers debattieren. Auch dort gibt es Einsparungen. kann, wie einem anderen weggenommen wird.
Der Etat des Auswärtigen Amts wird im Vergleich zum
(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/
Vorjahr um etwa 3 Prozent gekürzt.
CSU])
Natürlich kann man über die Prioritäten reden. Bei
den Punkten, bei denen wir in der Zukunft einmal ge- Das war ein Teil dieser Diskussion.
meinsam darüber sprechen können, ob sich Einsparun- Wenn wir Gefahr laufen, eine Transferunion zu orga-
gen erzielen lassen, sind solche Änderungen allerdings nisieren – das muss man denen vorhalten, die der Bun-
nicht von heute auf morgen möglich. Ich will Ihnen zwei desregierung vorgeworfen haben, zu hart auf der Euro-
(B) dieser Punkte nennen. Stabilität zu bestehen –, dann sprengen wir die Europäi- (D)
Erster Punkt. Ich sehe im Augenblick noch nicht, dass sche Union von der anderen Seite. Insofern war es rich-
wir aus der immer dichteren politischen Zusammenar- tig, dass die Bundesregierung solidarisch zum Euro und
beit in der Europäischen Union, die mehrfach im Jahr zur Euro-Stabilität gestanden hat; denn der Euro ist die
Treffen der Staats- und Regierungschefs und der Res- Klammer für die Europäische Union.
sortminister vorsieht, Konsequenzen für die Besetzung Es hat sich gezeigt, dass die Hilfen für Griechenland
und die Stellenkegel in unseren EU-Botschaften ziehen. – von den Griechen bisher erfreulicherweise sehr kon-
Wenn wir da etwas verändern würden, würde das nicht struktiv umgesetzt – greifen und wirksam sind. Die Be-
sofort haushaltswirksam werden, hätte in der Perspek- gleitmusik „Schmeißt sie doch raus!“ aber war unerträg-
tive aber möglicherweise eine Bedeutung. Dabei geht es lich. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal gesagt
nicht darum, etwas zu kürzen, sondern darum, es ander- haben.
weitig zu verwenden.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Zweiter Punkt. Mit einem Schengen-Visum können und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie sich in allen Schengen-Staaten frei bewegen. Trotz-
dem werden die Schengen-Visa in den Konsularabteilun- Meine Vorredner – ich bin Herrn Krichbaum sehr
gen der jeweiligen Botschaften der Schengen-Länder dankbar für die Vorschläge hinsichtlich der Verhand-
ausgestellt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass man sich lungsprozesse – haben zu Recht den Erfolg des Außen-
unter den Schengen-Ländern einmal darüber unterhält, ministers, der auch ein persönlicher Erfolg von Ihnen,
ob man nicht zu gemeinsamen Visastellen kommen Herr Westerwelle, war, bei der Serbien-Frage herausge-
kann. Möglicherweise gibt der Aufbau des Europäischen stellt. Mich wundert nicht, dass die Fraktion der Linken
Auswärtigen Dienstes einen zusätzlichen Impuls, wie da nicht geklatscht hat. Sie sind mittlerweile die Einzi-
man das lösen könnte. Auch das wäre eine strukturelle gen, die weiterhin von der Völkerrechtswidrigkeit der
Einsparung, die allerdings nicht sofort in dem Umfang Kosovo-Anerkennung ausgehen, obwohl der Interna-
kassenwirksam wird, wie man es für dieses Jahr braucht. tionale Gerichtshof inzwischen anders entschieden hat
und obwohl inzwischen auch die Serben merken, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der Weg über Europa der beste Weg ist, um die Verbin-
Nun zurück zur Debatte, in der zu Recht ein Nachden- dung zum Kosovo weiter aufrechtzuerhalten. Sie sind
ken über Europa im Mittelpunkt gestanden hat. Diesen nun auch bereit, mit der Europäischen Union und auch
Eindruck gewinne ich zumindest aufgrund einiger Bei- mit dem Kosovo konstruktiv zusammenzuarbeiten. Ich
träge. Ich möchte hervorheben, dass Deutschland – ich warte darauf, dass Sie ebenfalls zu dieser Einsicht kom-
6100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Ruprecht Polenz
(A) men, dass sozusagen Ihr Godesberg in dieser Frage ver- Nach Waffen- und Drogenhandel ist Menschenhandel (C)
kündet wird. die drittgrößte Einnahmequelle weltweit. Laut der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation beträgt der Gewinn aus
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ dem internationalen Menschenhandel mehr als 32 Mil-
DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann liarden US-Dollar pro Jahr.
[DIE LINKE]: Ach du Schreck!)
Menschenhandel ist ein schwerwiegender Verstoß ge-
Lieber Herr Kollege Mützenich, Sie haben darauf ver- gen die Menschenrechte. Die Opfer sind vorwiegend
wiesen, wie bedeutsam die Abrüstungsfragen sind, und Frauen. Ein menschenrechtszentrierter Ansatz bei der
haben dem Minister die taktischen Nuklearwaffen der Bekämpfung des Menschenhandels bedeutet, die Rechte
Amerikaner auf deutschem Territorium vorgehalten und der Frauen zu stärken und die Täter zu bestrafen. Bei uns
gesagt, da sei noch nichts geschehen. Wir beide wissen hingegen werden die Opfer bestraft; denn ihnen droht
sehr wohl, dass bei der Frage, ob wir auf dem Weg zu nach vier Wochen die Abschiebung.
Global Zero vorankommen, das Iran-Problem viel be-
deutsamer ist als das, was möglicherweise in Rheinland- Leider hat der Bundestag noch immer nicht die Euro-
Pfalz noch in irgendwelchen Bunkern liegt. paratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhan-
dels ratifiziert, die den Opfern von Menschenhandel und
Gerade bei dieser Frage war die Europäische Union in Zwangsprostitution einen unbefristeten Aufenthaltstitel
den weiteren Schritten a) geschlossen und b) mit dem ermöglichen könnte.
verschärften Sanktionsrahmen insofern erfolgreich, als
er das klare Signal an den Iran gesendet hat, dass eine Auch das Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt
Politik, die nicht vernünftig mit der Internationalen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte war-
Atomenergie-Organisation kooperiert und auch nicht auf tet auf Ratifizierung. In diesem Protokoll sind neben
die Angebote eingeht, die die Europäische Union und dem Recht auf Nahrung und Wasser auch das Recht auf
auch die Amerikaner zur wirtschaftlichen, kulturellen Bildung und das Recht auf angemessenes Wohnen ver-
und wissenschaftlichen Zusammenarbeit gemacht ha- ankert. Die von Ihnen geplanten Kürzungen im Sozial-
ben, mit immer höheren Kosten verbunden ist. bereich wie überhaupt die Hartz-Gesetze verletzen diese
international verankerten Rechte.
Sie haben die von den Amerikanern geplanten großen
Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und an die Golf- (Beifall bei der LINKEN)
staaten kritisiert. Das sehe auch ich mit gemischten Menschenrechte sind unteilbar und müssen auch in
Gefühlen. Aber auch das gehört natürlich in diesen Kon- Deutschland durchgesetzt werden. Die Streichorgien im
text. Ich glaube, in dem Moment, in dem das Sozialbereich treten die Menschenrechte mit Füßen.
(B) Nuklearproblem im Iran diplomatisch vom Tisch wäre (D)
– weil alle Welt und auch die Nachbarn sicher sein könn- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hunger und Um-
ten, dass der Iran nur ein friedliches Nuklearprogramm weltkatastrophen nehmen immer verheerendere Aus-
verfolgt –, wäre auch eine Abrüstungsinitiative oder zu- maße an. Derzeit steht ein Fünftel Pakistans unter Was-
mindest ein Ende des Rüstungswettlaufes im Nahen Os- ser, 20 Millionen Menschen sind obdachlos, ganze Dör-
ten möglich. Insofern ist eher dies die Schlüsselfrage als fer sind verschwunden. Um eine wirkungsvolle Sofort-
der Punkt, den Sie, so wichtig auch er sicherlich sein hilfe zu gewährleisten, werden mindestens 460 Millio-
mag, so emphatisch in den Mittelpunkt Ihrer Rede ge- nen US-Dollar benötigt; nur ein Drittel davon steht bis-
stellt haben. her zur Verfügung. Die Soforthilfe in Höhe von 15 Mil-
lionen Euro, die die Bundesregierung bisher zugesichert
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat, ist nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
neten der FDP) Pakistan braucht eine langfristige Unterstützung, um die
Folgen der Flutkatastrophe zu überwinden. Statt Hun-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: derte Millionen Euro für den Krieg in Afghanistan aus-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Groth für zugeben, sollte dieses Geld für humanitäre Katastro-
die Fraktion Die Linke. phenhilfe eingesetzt werden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Wir fordern in der Haushaltspolitik eine klare Priori-
Annette Groth (DIE LINKE): tätenverschiebung, sodass Menschen in Not sofort ge-
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! holfen werden kann. Ausgerechnet dieser Posten wird
Für die Bundesregierung ist das Eintreten für Menschen- im Haushaltsentwurf für 2011 um 20 Prozent reduziert.
rechte Grundkonstante ihrer Außenpolitik. Wie sieht Trotz Klimawandels und absehbarer Naturkatastrophen
aber die Realität aus, verehrter Herr Kollege? An Flücht- kürzt die Regierung nicht nur die Nothilfe, sondern auch
lingen, Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Opfern von Gelder für internationale Klimaschutzprojekte – für mich
Menschenhandel wird die menschenrechtsfeindliche Pra- ein Skandal.
xis der deutschen Regierung besonders deutlich. Soge- (Beifall bei der LINKEN)
nannte Illegale leben in ständiger Angst vor Abschiebung.
Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind sie ge- Überflutungen in China und Pakistan sowie die
zwungen, unter sklavenähnlichen Bedingungen zu arbei- Brände in Russland haben große Ernteausfälle zur Folge.
ten. Konzerne verlangen jetzt höhere Preise, die Nahrungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6101
Annette Groth
(A) mittelspekulation blüht. Die Spekulation mit Nahrungs- Menschenrechtspolitik ist eine Aufgabe, die in viel- (C)
mitteln führt zu steigenden Preisen und ist damit für fältigen Politikbereichen verankert ist. In ihrer außen-
zunehmenden Hunger verantwortlich. Sie ist ein Verbre- politischen Dimension bezieht sie die Förderung und den
chen und gehört verboten. Schutz der Menschenrechte weltweit ein. In vielen Be-
reichen unseres Globus prallen heute nach wie vor reli-
(Beifall bei der LINKEN)
giöse, ethnische oder ideologische Vorstellungen aggres-
Sehr geehrte Damen und Herren, der einzige Titel im siv aufeinander. Diesbezüglich dürfen wir uns keinen
Haushalt, in dem die Menschenrechte ausdrücklich er- Sand in die Augen streuen. Die Menschenrechtsverlet-
wähnt werden, heißt: „Demokratisierungs- und Ausstat- zungen von heute können leicht – das ist der Geschichte
tungshilfe, Maßnahmen zur Förderung der Menschen- zu entnehmen – zu kriegerischen Auseinandersetzungen
rechte“. Ich frage Sie: Was haben die Menschenrechte von morgen werden, und durch die Kriege der Vergan-
mit Ausstattungshilfe zu tun? genheit werden wir mit Menschenrechtsverletzungen
konfrontiert, deren Aufarbeitung noch lange nicht abge-
11 Millionen Euro wurden 2009 für die Ausstattungs-
schlossen ist – auch nicht bei uns in Deutschland.
hilfe für ausländische Streitkräfte ausgegeben. Lediglich
3 Millionen Euro standen für die Menschenrechte zur (Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sehr wahr! –
Verfügung. Nun soll der Etat für Menschenrechte – wir Michael Leutert [DIE LINKE]: Dazu können
haben es schon gehört – 2011 noch einmal um 50 Pro- Sie einmal einen Beitrag leisten!)
zent gekürzt werden.
Diese Bundesregierung tut außerordentlich viel für
Kurzum: Menschenrechte sind für die Regierungspar- die Menschenrechte, mehr als alle Bundesregierungen
teien Rhetorik, Geld gibt es dafür nicht. zuvor. Das sei einmal deutlich angemerkt, und ich be-
grüße das.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Politik der CDU/CSU, die sich am christli-
Das Wort hat nun die Kollegin Erika Steinbach für die chen Menschenbild orientiert, haben Menschenrechte
CDU/CSU-Fraktion. eine grundlegende Bedeutung. Außenpolitik ist für uns
(Beifall bei der CDU/CSU) mit Menschenrechten verbunden. Daher sind der Schutz
und die Förderung von Menschenrechten auch ein
Schwerpunkt christlich-liberaler Außenpolitik.
Erika Steinbach (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Tiefe Sorge bereitet uns – das wurde auch von dem
(B) legen! Der Kollege Krichbaum hat Serbien vorhin – ich Kollegen Mißfelder schon angesprochen – die Lage im (D)
bin überzeugt: zu Recht – dafür gelobt, dass es für die Iran. Über 4 000 Verhaftungen wurden seit den Wahlen
Bewältigung der schwierigen Situation in dieser Region im vorigen Jahr bereits gezählt, und reformorientierte,
einen Weg mit aufzeigt und mithilft, dass Lösungen ge- regierungskritische Personen wurden systematisch in
funden werden. Gefängnisse gesteckt, in Schauprozessen angeklagt und
zum Teil zum Tode verurteilt, oder sie wurden schon zu-
Ich kann diesem Lob ein anderes Lob anschließen. vor, noch ehe sie verurteilt werden konnten, so gefoltert,
Bereits vor einem Jahr hat die serbische Regierung ein dass sie gestorben sind.
Gesetz auf den Weg gebracht, gemäß dem alle geheimen
Gräber, in denen die von Tito Ermordeten verscharrt Die abstoßende Methode der Steinigung droht Frauen
wurden, aufgenommen werden. Die Bevölkerung wurde im Iran als Bestrafung des Ehebruchs. Der aktuelle Fall
aufgerufen, dazu beizutragen, diese geheimen Gräber zu der Sakine Mohammadi Aschtiani entsetzt die Menschen
finden, damit die Menschen heute eine würdige Bestat- weltweit. Das Bild dieser Frau ist um den Globus gegan-
tung bekommen. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, gen. Wir wissen, dass es diese Art der Todesstrafe auch
dass man das Unrecht aus jener Zeit heute nicht mehr in Nigeria, in Pakistan und im Sudan gibt. Dort ist Stei-
mittragen, sondern offenlegen und die Menschen auch nigung an der Tagesordnung.
versöhnen will.
Aber eines sage ich auch: Steinigung ist nur eine Me-
(Beifall bei der CDU/CSU) thode der Todesstrafe. Die Todesstrafe muss weltweit
abgeschafft werden,
Ein anderer aktueller Vorgang hat mich sehr gefreut.
Ich begrüße es, dass die Türkei als Mitschuldige für die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant bei Abgeordneten der SPD)
Dink verurteilt wurde, den sie vor seiner Ermordung ja
natürlich auch in unserem befreundeten Land, in den
wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt hatte, wo-
Vereinigten Staaten. Ob Steinigung, elektrischer Stuhl,
durch sie zu einem Klima des Hasses gegen diesen arme-
Strang oder Giftspritze – sie gehört ganz einfach weg.
nischstämmigen Mann mit beigetragen hat. Dieses Urteil
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ein wichtiges Zeichen der Mahnung in Richtung Türkei,
Förderprogramme zur Durchsetzung von Demokratie
was den Bereich der Religionsfreiheit und Meinungsfrei-
und Menschenrechten sind wichtig; daran besteht über-
heit anbelangt, und es war nötig.
haupt kein Zweifel. Solche finanziellen Förderprogram-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) me können aber nur dann Wirkung entfalten, wenn das
6102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Erika Steinbach
(A) Bekenntnis zu den Menschenrechten auch in den Län- Bei der Menschenrechtspolitik geht es immer um (C)
dern, in denen wir Hilfestellung geben und in denen De- zwei Dinge: zum einen um den Kampf für internationale
fizite vorhanden sind, von oberster Ebene mitgetragen rechtliche Prinzipien und ihre Einhaltung, zum anderen
und immer wieder eingefordert wird. um den Schutz ganz konkreter Menschen, die Opfer von
Menschenrechtsverletzungen sind, oder von Menschen-
Ich sage: Geld alleine genügt nicht und hilft nicht rechtsverteidigern, deren Leben und Freiheit unmittelbar
nachhaltig. Man kann Menschenrechte leider nicht mit bedroht ist.
Geld kaufen. Es muss in den Köpfen implementiert sein.
Dazu müssen wir durch Mahnen, durch Überzeugung Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag wieder dahin
und am Ende durch Miteinander beitragen. kommt, nicht nur Sonntagsreden zu hören, sondern in
gemeinsamen Entschließungen nach außen, an andere
Ich bedanke mich. Länder gerichtet, eine klare Sprache und ein klares En-
(Beifall bei der CDU/CSU) gagement zu finden. In der Tat ist es manchmal wichti-
ger als Geld, dass wir Demokraten gemeinsam für diese
Prinzipien und für die Menschen eintreten.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
des Kollegen Beck? bei der SPD und der LINKEN)

Erika Steinbach (CDU/CSU): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Nein, danke schön. Frau Kollegin Steinbach, bitte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Erika Steinbach (CDU/CSU):
neten der FDP) Herr Kollege Beck, an der klaren Sprache mangelt es
bei mir in aller Regel nicht; das kann ich Ihnen sagen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kol-
ist ja das Schlimme!)
lege Beck.
Ich kann Ihnen eines zusagen: Wir sind immer bereit,
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mit Ihnen zu sprechen. Aber der Berichterstatter unserer
Geschätzte Frau Kollegin Steinbach, es ist schön, Fraktion, der auch über einen gemeinsamen Antrag ver-
wenn wir hier wortreiche Appelle zur Abschaffung der handelt hat, hat festgestellt: Ihnen geht es primär um
(B) Todesstrafe hören. Im Menschenrechtsausschuss gab es ganz bestimmte Einzelopfer. (D)
den Versuch, zu einer fraktionsübergreifenden gemeinsa- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
men Entschließung zur weltweiten Abschaffung der To- GRÜNEN]: Es geht immer um die Menschen
desstrafe zu kommen. Wir haben uns, auch in den Be- und die Prinzipien!)
richterstattergesprächen, auf Forderungen an diejenigen
Staaten verständigt, die die Todesstrafe noch praktizie- Wir sind für den Einsatz für alle Opfer, die von Todes-
ren. An den Iran sollte der Appell gerichtet werden, sich strafe bedroht sind. Indem wir Einzelne in einem Grund-
an die Zivilpaktstandards zu halten und die Todesstrafe satzantrag herausgreifen,
entsprechend auszusetzen. Das sollte verbunden werden (Michael Leutert [DIE LINKE]: Unglaublich!)
mit Appellen zur Rettung ganz konkreter Menschen, die
von der Todesstrafe bedroht sind. Eine solche gemein- lassen wir alle anderen in der Anonymität und schaffen
same Entschließung ist maßgeblich an Ihnen gescheitert, eine Hierarchisierung. Wenn man den Iran anspricht,
obwohl SPD und Grüne alle Vorschläge aus der Union kann das letzte Bild der Frau, die gesteinigt werden soll,
aufgenommen haben. in der Tat als plastisches Beispiel dienen. Aber wenn ein
Antrag formuliert werden soll, dann sind wir grundsätz-
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE lich an der Seite aller, die zum Tode verurteilt sind. Jeder
GRÜNEN]: Hört! Hört! Warum?) Verurteilte ist einer zu viel.
Sie haben gerade zu Recht gesagt, es brauche nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nur Geld. Vielmehr ist bei fundamentalen Menschen-
rechtsfragen auch ein gemeinsames parlamentarisches Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Eintreten über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
erforderlich. In der Vergangenheit war das Tradition des SPD-Fraktion.
Hohen Hauses und auch Tradition des Menschenrechts-
ausschusses. Es ist maßgeblich Ihrem Verhalten zu ver-
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
danken, dass wir hier nicht mit einer Stimme sprechen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag liegt noch im Ausschuss. Ich appelliere an Wir führen keinen Wettstreit darüber durch, welche Bun-
die Unionsfraktion, das zu heilen. In der vorvergangenen desregierung sich am meisten für die Menschenrechte
Wahlperiode gab es unter Rot-Grün eine gemeinsame eingesetzt hat, vor allen Dingen dann nicht, wenn wir
Entschließung des Hauses dazu. Das sollte wieder gelin- alle gemeinsam gegen die Todesstrafe sind. Aber eines
gen. muss an dieser Stelle erwähnt werden, wenn man auf die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6103
Axel Schäfer (Bochum)
(A) Bundesregierungen der Vergangenheit zurückschaut: halte ich das in Deutschland nicht für möglich. Das alles (C)
Derjenige, der wie kein anderer für Menschenrechte und wird verschwiegen. Wir haben in der Slowakei die Situa-
Frieden steht, hat als letzter Deutscher den Friedensnobel- tion, dass bei klarem Bruch der gemeinsamen europäi-
preis bekommen: Willy Brandt. Er war Außenminister schen Politik die Solidarität im Zusammenhang mit dem
und später Bundeskanzler. Die Menschenrechtspolitik ist Rettungsschirm für Griechenland von einer christdemo-
eine Tradition, in der die Sozialdemokratinnen und So- kratischen Regierungschefin aufgekündigt wird.
zialdemokraten und, hoffe ich, auch das ganze Haus ste-
hen. Das ist die europäische Realität, die wir zurzeit erle-
ben. Wir erleben sie, wenn die Bundeskanzlerin als Par-
(Beifall bei der SPD) teivorsitzende auf der einen Seite sagt: „Wir sind die
stärkste Kraft, und wir beanspruchen alles: den Ratsprä-
Der Bundesaußenminister hat Europa in den Mittel-
sidenten, den Kommissionspräsidenten und möglichst
punkt seiner Rede gestellt. Das war vom Ansatz her rich-
die ganze Macht“, man auf der anderen Seite aber, wenn
tig. Er hat nichts dazu gesagt, wie zerstritten die eigene
konkret nachgefragt wird, wer denn diese Herren sind
Koalition in dieser Frage ist. Das ist für Deutschland ins-
und was sie für eine Politik machen – aktuell gibt es mit
gesamt falsch.
Herrn Orban, Vizepräsident der EVP, eine besonders
Ich will das an drei Punkten deutlich machen. Erstens. schlimme Ausprägung –, mit all dem Antieuropäischen,
Es gibt heute wie nie zuvor Kompetenzstreitigkeiten das dort geschieht, nichts zu tun haben will. Diese Form
zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen von doppelter Moral lassen wir Ihnen in der Europapoli-
Amt zulasten der Handlungsfähigkeit deutscher Europa- tik nicht durchgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen
politik. und verehrte Regierung.
(Dr. Werner Hoyer, Staatsminister: So ein (Beifall bei der SPD)
Quatsch! So ein Stuss!)
Kollege Krichbaum hat in einem Punkt recht – das
Ich führe das nicht im Detail auf. Sie alle wissen, was haben andere gelobt, und ich kann mich dem anschlie-
täglich auf den Fluren diskutiert wird. ßen –: Er hat den Mut von Herrn Tadic gelobt und auch
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das weisen Ihre Rolle dabei unterstrichen. Das unterstütze ich, Herr
wir zurück! Quatsch!) Außenminister. Wir müssen uns aber die Situation vor
Ort genau anschauen, wenn wir über Europa reden: Herr
Das schadet unserer Position innerhalb der Europäischen Tadic ist mutig; denn Ministerpräsident Djindjic hat sei-
Union. nen Mut, für Verständigung einzutreten, mit dem Leben
bezahlt. Slowenien hat unter Ministerpräsident Pahor
(B) Zweitens. Man kann in der Debatte über den Euro- (D)
Kompromisse mit Kroatien gefunden, sodass der Erwei-
Rettungsschirm für Griechenland nicht die Fakten um-
terungsprozess fortgesetzt werden kann. In Kroatien
drehen. Weil Schwarz-Gelb sich nicht einig war, eine
setzt sich Staatspräsident Josipovic für die Korruptions-
Resolution zu verfassen, in der konkrete Fragen wie die
bekämpfung ein, damit das Land nicht nur europafähig,
Finanztransaktionsteuer angesprochen werden, hat sich
sondern auch befriedet wird. Alle drei sind sozialdemo-
die SPD zu Recht enthalten; denn es gab nicht einmal
kratische Staats- und Regierungschefs, die sozialdemo-
die Möglichkeit, das zu unterschreiben, was Wolfgang
kratische Politik in Europa betreiben. Wir brauchen
Schäuble vorher im Europaausschuss zugesagt hatte.
mehr sozialdemokratische Politik in Europa. Dafür steht
Das war der konkrete Grund. Alles anderes ist Ge-
die SPD-Bundestagsfraktion.
schichtsklitterung.
(Beifall bei der SPD – Gunther Krichbaum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
[CDU/CSU]: Ihr wollt euch doch nur einen der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/
schlanken Fuß machen!) CSU]: Das hat der Wähler noch nicht verstan-
den!)
Drittens. Herr Außenminister, Sie haben gesagt, dass
wir das Thema in den europäischen Parteizusammenhän-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gen und -familien diskutieren sollten. Dazu muss ich Ih-
nen allerdings sagen: Was wir dazu an Debatten seitens Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Kruse für
der christdemokratischen Parteifamilie und an Regie- die CDU/CSU-Fraktion.
rungshandeln in Europa haben, liegt zum Teil in der Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
antwortung Ihres größeren Koalitionspartners. Wir ha- neten der FDP)
ben die Situation, dass wir ständig, ohne dass darüber
geredet wird, an die Grenzen des Rechtsstaates stoßen,
zum Beispiel mit einer italienischen Regierung, deren Rüdiger Kruse (CDU/CSU):
wichtigster Repräsentant Christdemokrat ist. In Frank- Lieber Herr Schäfer, nachdem Sie einen langen Ex-
reich ist es gerade unter einem christdemokratisch-kon- kurs in die Vergangenheit unternommen haben, um ein
servativen Regierungschef zu einem klaren Bruch euro- sozialdemokratisches Idol auszugraben, haben Sie zum
päischen Rechts im Bereich der Menschenrechte Schluss an die Grenzen Europas gehen müssen, um Vor-
gekommen, Stichwort Sinti und Roma. In den Nieder- bilder der heutigen Sozialdemokratie zu finden. Da Sie
landen will man seitens unserer christdemokratischen „christdemokratisch“ immer so schön betont haben,
Kollegen mit Rechtspopulisten koalieren. Gott sei Dank möchte ich auf Folgendes hinweisen: Keine einzige Re-
6104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Rüdiger Kruse
(A) gierung hat so viel für Europa getan wie die christdemo- Gerade in Krisenzeiten, wenn andere Länder verstärkt (C)
kratisch geführte deutsche Regierung. bei der Kultur einschneiden, ist es immer gut, antizyk-
lisch zu investieren. Ich glaube, wir sind gut beraten,
(Beifall bei der CDU/CSU) wenn wir im Ausland in das Bild Deutschlands investie-
Wir haben Einsatz für ein stabiles Europa, ein Europa ren. Dazu gehört: Wer mit seiner Identität werben will,
der Solidarität und ein Europa gezeigt, das einen krisen- der muss sich seiner Identität sicher sein. Deshalb haben
festen Neuanfang nimmt. wir immer eine ablehnende Haltung gegenüber einem
Multikulti-Mischmasch eingenommen. Wir haben ge-
Da wir nun die Haushaltsdebatte führen, schadet es sagt: Wie soll sich zum Beispiel jemand in eine Nation
vielleicht nicht, wieder ein bisschen herunterzukommen integrieren, wenn diese Nation selbst gar nicht weiß, was
und auf ein paar Zahlen zu schauen. Wir haben das ihr eigenes Bild ist? Kulturelles Bewusstsein ist von da-
Thema Kultur schon gestreift. Es ist Tradition, dass wir her eine wichtige Grundlage.
über den Kulturetat zweimal diskutieren, unter anderem
bei den Beratungen über den Etat des Auswärtigen Am- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
tes. Kultur ist schließlich ein bedeutendes Thema. Von
Ich glaube, dass wir mit unseren Beiträgen zur Kul-
der Summe her – Frau Krumwiede hat mit ihrem Hin-
turpolitik im Ausland auch ein sehr gutes Aushänge-
weis, dass gewisse Kulturvorgänge fast unsichtbar sind,
schild haben; denn eines ist klar: Deutsche Premiumpro-
recht – scheint das nicht der Fall zu sein. Der Etat sackt
dukte werden nicht nur gekauft, weil sie technisch so gut
diesmal um 2,7 Prozent ab. Nichtsdestotrotz haben wir
sind. Ein Argument ist auch immer: Wer im Ausland
die Mittel in wichtigen Kernbereichen im Prinzip verste-
deutsche Produkte nutzt, der nimmt auch ein Stück die-
tigt. Zum Beispiel wurden die Mittel für die deutschen
ser Kultur auf, weil sie ihm gefällt.
Schulen im Ausland, aber auch für die Projektarbeit, die
sehr empfindlich auf Schwankungen reagiert, nur um Ich glaube, dass es in einer globalisierten Welt wich-
0,8 Prozent gesenkt. Es ist richtig, dass sich die Schul- tig ist, um Menschen zu werben, die sagen: Ich verbringe
denbremse auch hier auswirkt. Wir haben die Mittel für eine Zeit meines Berufslebens in Deutschland. Das sind
die institutionelle Förderung gesenkt, weil wir glauben, diejenigen Menschen, die wir haben wollen. Sie müssen
dass dies für einen gewissen Zeitraum vertretbar ist. Die natürlich auch ein attraktives Bild dieses Landes sehen,
betroffenen Institutionen haben einen wesentlich länge- sie müssen im positiven Sinn angeworben werden. Das
ren Atem als kleinere Projekte. Im Endergebnis geht es gilt genauso für die Menschen, die schon hier sind. Auch
um 20 Millionen Euro. Bernd Neumann hat recht: Mit diese müssen von uns überzeugt werden. Das ist die
Kürzungen im Kulturbereich kann man einen Haushalt Aufgabe der Kulturpolitik im Ausland und natürlich
nicht sanieren. Aber natürlich sind alle Bereiche gefor- auch im Inland. Deshalb werden wir in diesem Bereich
(B) dert, einen Beitrag zu leisten. auch zukünftig einen stabilen Kurs fahren, und wir wer- (D)
den im Haushalt immer darauf achten, dass die Kultur
Ich möchte eine Sache aufgreifen, die von der Summe
immer ein Stück besser fährt als andere Bereiche.
her überhaupt nicht bedeutend ist, die aber ein gewisses
Licht auf die ständige Konfliktlinie zwischen Parlament, Danke schön.
Regierung und Verwaltung wirft. Ich empfehle der
Staatssekretärin Pieper, einmal ins Internet zu gehen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sich ein, zwei Folgen der alten britischen Fernsehserie neten der FDP)
Yes Minister anzuschauen. Dann wird sie sehen, wie es
sein kann, wenn Politik etwas will, was Verwaltung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
scheinbar nicht will. Was meine ich? Ich meine die Villa Zu diesem Einzelplan liegen nun keine weiteren
Tarabya. Das ist vom Etat her kein großes Projekt. Aber Wortmeldungen vor.
das Parlament hat sich für dieses Projekt eingesetzt. Ab
einer gewissen Willensstärke des Parlaments kann auch Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
Verwaltung so etwas nicht ignorieren. Das heißt, sie desministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.
muss handeln. Manchmal wird dann zu guter Letzt ge- Als erstem Redner erteile ich das Wort Herrn Bundes-
sagt: Jetzt machen wir, kurz bevor es so weit ist, ein minister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
neues Konzept. – Zufälligerweise sind die Haushaltsbe-
ratungen auf einen Termin gefallen, zu dem das Konzept
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
noch nicht fertig ist. Das finden wir natürlich schade.
desminister der Verteidigung:
Vielleicht kann man noch einmal insistieren; denn wenn
das Parlament einen solchen Akzent setzt, erwarten wir, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundes-
dass dem gefolgt wird. Wenn es Bedürfnisse gibt, das zu
wehr steht vor einer der größten gestalterischen Heraus-
ergänzen oder zu verändern, dann kann ich nur sagen:
forderungen seit ihrer Gründung im Jahr 1955. Wir ste-
Herzlich gerne, aber bitte nicht so, dass wir nicht mehr
hen vor einer Reform, über die in einigen Teilen auch
darüber beraten können. Das wäre ein Wunsch.
noch politisch zu entscheiden sein wird, und mit der wir
Uns ist dieses diplomatisch-kulturelle Projekt wich- uns in diesem Jahr auch bei den Haushaltsberatungen si-
tig, weil Kultur identitätsstiftend ist, wie es Bernd cher noch entsprechend befassen werden. Ich darf an
Neumann vorhin formuliert hat. Im Ausland ist unsere dieser Stelle sagen, dass es sich um eine Reform handeln
Kultur unsere Visitenkarte. Sie ist quasi ein Bild, das wir wird, die logisch auf mutigen Vorarbeiten und auf muti-
von unserem Land abgeben. Wir haben es vorhin gehört: gen Schritten meiner Vorgänger aufbaut. Ich umfasse
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6105
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) hierbei sowohl meinen Amtsvorgänger Franz Josef Jung geben wird, die von einer breiten Mehrheit des Bundes- (C)
als auch die Kollegen Struck, Scharping und Rühe. tages getragen wird. Das sollten wir alle anstreben, weil
die Truppe, der ich für das, was in den letzten Jahren ge-
(Zuruf des Abgeordneten Alexander Bonde leistet wurde, danken will, diesen Rückhalt verdient hat.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte hierfür danken, weil große und mutige
Schritte gegangen wurden. Wir bedürfen jetzt allerdings Ich begrüße einige Soldatinnen und Soldaten, die heute
noch einmal eines entsprechend mutigen Schrittes. Dank auf der Tribüne sind und mit großer Spannung und Inte-
auch an meine Amtsvorgänger für das, was geleistet resse dieser Debatte folgen.
wurde.
Wir wollen die anstehende Neuausrichtung nutzen,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um die Bundeswehr als ein leistungsfähiges Instrument
neten der SPD) unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu stärken. Es
Diese Herausforderungen und diese Reform haben geht darum, Strukturen und Prozesse konsequent und
– und das ist entscheidend – zunächst einmal eine umfassend auf die Erfordernisse des Einsatzes auszu-
sicherheitspolitische Analyse zur Grundlage. Es ist richten, auf Erfordernisse des Einsatzes im Inland wie
eine Analyse darüber, wie sich die sicherheitspolitischen im Ausland in dem verfassungsrechtlich gegebenen Rah-
Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft dar- men. Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leis-
stellen werden. Aufbauend auf diese Analyse gibt es tungsstark und flexibel sind und das Maß an Professio-
letztlich auch ein formuliertes Aufgabenspektrum. All nalität mitbringen, das wir von ihnen erwarten, und die
das hat in den letzten Wochen der Generalinspekteur der auf die gegenwärtigen und künftigen Situationen, die
Bundeswehr zu Papier gebracht, und ich glaube, er hat von einem hohen Maß an Unberechenbarkeit geprägt
eine sehr breite, eine sehr tiefgehende und eine letztlich sein werden, verlässlich reagieren können. Ein Konzept
sehr plausible Analyse vorgelegt, die die Grundlage für für solche Streitkräfte ist vom Generalinspekteur erar-
die kommenden Schritte darstellen und bieten soll. Herr beitet worden und bietet letztlich die Grundlage für die
Generalinspekteur, Sie sind heute hier. Ihnen, Ihrer Arbeit.
Mannschaft und jenen, die mitgewirkt haben, sage ich Es geht um Strukturen und um eine verbesserte Leis-
auch von meiner Seite aus Danke für diese intensiven tungsfähigkeit. Wir müssen uns verbessern. Ich habe
und guten Arbeiten. immer wieder darauf hingewiesen, dass wir bei einer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie derzeitigen Stärke von 252 000 Soldatinnen und Solda-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- ten gerade einmal 7 000 in den Einsatz schicken können.
(B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Dass wir dann schon über Kante genäht sind, steht uns (D)
im internationalen Vergleich nicht gut zu Gesicht. Es
Neben dieser Analyse, neben dem Aufgabenspek- geht aber auch um die einsatzgerechte Ausrüstung und
trum, das daraus erwächst, gab es in diesem Jahr eine Ausstattung. Der Wehrbeauftragte weist immer wieder
von mir angewiesene Defizitanalyse, die deutlich ge- darauf hin, wie wichtig es ist, auch diesen Aspekt zu be-
macht hat, wo wir mit Blick auf unsere Strukturen noch rücksichtigen. Es geht um einen beschleunigten Ent-
Nachbesserungs- und Verbesserungsbedarf haben. All scheidungsprozess, es geht aber auch um beschleunigte
das bildet die Grundlage dessen, weshalb Entschei- Beschaffungsprozesse. Das ist ein ganz wesentlicher Ge-
dungsbedarf gegeben ist. Ich habe schon oft betont, dass sichtspunkt. Da müssen wir Dinge verbessern und neben
wir dringenden Entscheidungsbedarf haben. Ich würde den Perspektiven für die Soldatinnen und Soldaten noch
mich freuen, wenn wir diese nächsten Schritte auch in weitere Perspektiven eröffnen. Es geht auch um eine an-
einem parteiübergreifenden und gemeinsamen Vorgehen gemessene Ausgestaltung des Dienstes und nicht zuletzt
gestalten könnten, weil ich den Eindruck habe, dass wir um die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr.
– bis auf die eine oder andere Ausnahme – mit unseren
Grundüberlegungen nicht so weit auseinanderliegen. Es ist wichtig, genau diesen Punkt zu betonen; denn
wir befinden uns bereits heute im Wettbewerb mit der
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ha, ha!) freien Wirtschaft um die besten Köpfe. Das gilt für den
zivilen wie für den militärischen Bereich. Deswegen ist
– Herr Gehrcke, Ihre Position ist klar. Sie bilden die
dem Aspekt der Attraktivität auch so viel Raum beizu-
Ausnahme, die ich jetzt betonen durfte.
messen. Ich freue mich über viele Hinweise, die in dieser
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Danke!) Hinsicht gekommen sind. Viele haben dazu beigetragen,
dass das auf der Agenda sehr weit oben steht. Zur At-
Ich glaube aber, dass wir bei vielen Punkten sehr nahe traktivität des Dienstes gehört natürlich der Schutz unse-
beieinanderliegen und eine gute Basis dafür haben, zu rer Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, und
einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Dieser Punkt dazu gehört, dass sich der Arbeitsplatz mit anderen mes-
wäre in meinen Augen sehr erfreulich. Das wäre die sen kann. Darauf wollen wir viel Kraft verwenden.
Grundlage dafür, dass nicht nur unserer Truppe mit
Blick auf ihre künftigen Einsätze, sondern auch unseren Eine Grundlage für diese Neuausrichtung, die wir
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ebenso jetzt vornehmen wollen, ist vor dem Hintergrund, flexib-
wie die Soldaten in den letzten Jahren unglaublich flexi- ler und besser zu werden, die Erkenntnis, dass eine Re-
bel und mit hoher Motivation und Professionalität auf duzierung des Gesamtumfangs der Bundeswehr unum-
Strukturdefizite reagieren mussten, eine Perspektive ge- gänglich ist. Diese Reduzierung findet allerdings ihre
6106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) Grenzen, wenn das Aufgabenspektrum, das formuliert 60 Prozent. Man vergisst gelegentlich, was das bereits (C)
wurde, nicht mehr erfüllt werden kann. Das Aufgaben- für eine Entwicklung war. Die Reduzierungen erfolgten
spektrum umfasst die Notwendigkeit, weiterhin voll schon bisher in erster Linie durch die Verkürzung der
bündnisfähig zu sein und weiterhin sowohl innerhalb der Grundwehrdienstdauer – als Folge eines veränderten
NATO als auch innerhalb der Europäischen Union eine Anforderungsprofils.
führende Rolle wahrnehmen zu können. Es umfasst auch
die Notwendigkeit – ganz wichtig – des Schutzes unserer Sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, ist für ei-
Heimat dort, wo es verlangt ist, und dort, wo wir darauf nen Teil dieses Hauses außerordentlich schwierig. Ich
zurückgreifen wollen. Es umfasst aber auch das breite sage Ihnen, dass das auch für mich gilt. Das war für
Szenario dessen, was heute in Auslandseinsätzen gefor- mich ein Schritt, der mir auch emotional sehr viel bedeu-
dert ist und dort künftig gefordert sein kann. Es sind sehr tet hat; aber dieser Schritt basiert auf der Auseinander-
viele sehr unterschiedliche Szenarien, die hier abgefor- setzung mit den Realitäten, denen wir heute schlicht ins
dert werden können. Gerade auch in dieser Hinsicht Auge sehen müssen.
müssen wir planen. Eine Realität ist die Zahl jener, die wir heute noch als
Auf der Grundlage dieses Ansatzes kamen wir zu un- Wehrpflichtige, als Wehrdienende haben. Natürlich
terschiedlichen Modellen und haben nunmehr auch aus spielt auch der Umstand eine Rolle: Wenn ein junger
Sicht des Ministeriums eine Empfehlung für ein Modell Mann heute nicht mehr zur Bundeswehr will, dann geht
abgegeben, das von einer Zielgröße von mindestens er faktisch schon nicht mehr dorthin. Wir müssen uns
163 500 Soldatinnen und Soldaten ausgeht. auch die Frage stellen: Was bieten wir jenen, die zu uns
kommen und zu uns kommen wollen und die für diesen
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: unglaublich wichtigen Aspekt der Bindung zwischen
Von „mindestens“ steht nichts darin!) Gesellschaft und Bundeswehr stehen? Ihnen haben wir
einmal 18 Monate geboten. Mittlerweile haben wir uns
Dieser Ansatz bietet gerade noch ein geeignetes Fähig- auf ein Sechs-Monats-Angebot geeinigt. Aber bereits bei
keitsprofil und wird den heutigen wie den künftigen si- neun Monaten war es schwierig, neben der gesellschafts-
cherheitspolitischen Herausforderungen durch eine hö- politischen Begründung, die mir unglaublich viel bedeu-
here Einsatzfähigkeit besser gerecht. tet,
Das ist der absolute Mindestumfang. Er darf nicht (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geringer und er kann durchaus höher ausfallen, wenn ich NEN]: Vor zwei Monaten klang das noch an-
das so sagen darf. Das wird im Einzelnen noch festzule- ders!)
gen sein. Das ist natürlich auch Gegenstand der parla-
(B) mentarischen Beratungen und der Abstimmungen. Ich eine sicherheitspolitische Begründung zu geben. Die (D)
bin alles andere als undankbar für die vielen Hinweise, Frage ist ja: Ist für den einzelnen Wehrpflichtigen oder
die ich in dieser Richtung schon bekommen habe. Es Wehrdienenden auch sicherheitspolitisch der Maßstab,
gibt viele, die sich entsprechend eingebracht haben. den die Verfassung uns letztlich abverlangt, erfüllt?
Danke auch für die Begleitung in den letzten Wochen Diese Begründung können wir bereits heute nicht mehr
und Monaten durch die Fachpolitiker, durch die Frak- in dem Maße geben.
tionsvorsitzenden und auch durch die Berichterstatter im
Deswegen und auch vor dem Hintergrund dessen,
Haushaltsausschuss, die mit Blick auf die künftigen Ge-
dass das Regenerationsargument heute nicht mehr so
staltungen sicher vor keiner einfachen Aufgabe stehen.
trägt, wie es einmal getragen hat, ist es in unserer Verant-
Mit der Reduzierung, aber nicht nur deswegen, stellt wortung, zu sagen: Wir wollen uns nicht in eine Mängel-
sich auch die Frage nach der Wehrform. Das ist eine der verwaltung hineinbegeben, sondern wir sehen den Auf-
Fragen, über die wir derzeit am intensivsten debattieren, trag, zu gestalten – im Sinne der jungen Menschen, aber
wobei es eine logische Folgefrage aus den Strukturüber- auch im Sinne der Bundeswehr. Diesen Gestaltungsauf-
legungen ist, die wir gerade angehen. Manchmal hat man trag sollten wir annehmen.
das Gefühl, dass es in der Diskussion eher schon umge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kehrt ist. Aber es ist so, dass die Wehrform in untrennba-
rem Zusammenhang mit dem Auftrag, mit dem Umfang Das heißt aber auch, dass wir uns bei einigen wichti-
und mit den Strukturen steht. Genau um diesen Zusam- gen Fragen, die auch im Kontext mit der Wehrpflicht zu
menhang geht es. Es ist bereits heute so, dass wir nach sehen sind, nicht einfach bequem zu Hause auf die
unserem politischen Konsens keine Wehrpflichtigen Couch legen können. Das gilt etwa für unvorhersehbare
mehr in die Einsatzszenarien schicken, die sich heute Ereignisse wie zum Beispiel Naturkatastrophen und für
bieten. Das ist ein Konsens, der gebildet wurde. alles, was mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit in
Zusammenhang steht. Hier müssen wir kluge Vorschläge
Es lohnt sich gelegentlich ein Blick zurück. Obwohl machen. Das wird geschehen; denn diese werden wir ge-
wir in den beiden letzten Jahrzehnten die Streitkräfte meinsam mit vielen anderen ausarbeiten.
– ausgehend von annähernd einmal 500 000 Soldaten –
nahezu halbiert haben, ist die Anzahl der Berufs- und Wir brauchen einen zeitgemäß organisierten Heimat-
Zeitsoldaten nahezu gleich geblieben. Heute leisten al- schutz. Das bleibt ungemein wichtig. Das verlangt aber
lerdings weniger als 17 Prozent eines Jahrgangs ihren auch professionell aufgestellte Streitkräfte und mehr denn
Grundwehrdienst ab. Vor zehn Jahren waren es noch je gut ausgebildete und motivierte Reservisten. Auch da-
40 Prozent. In den frühen 80er-Jahren waren es fast rauf möchte ich hinweisen. Deswegen ist es wichtig, diese
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6107
Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(A) entsprechend ihrer wachsenden Verantwortung in ein wenn Ihre Vorgänger eine Kommission eingesetzt haben, (C)
neues Konzept einzubinden. Ich glaube sogar, dass das haben sie abgewartet, bis die Kommission ihr Ergebnis
ein wesentlicher Bestandteil der Neuausrichtung sein vorlegte. Das war ein ganz normaler Vorgang. Sie ma-
muss. Die Größenordnung jährlich ausscheidender Zeit- chen etwas anderes. Sie preschen stets vor, sorgen für
soldaten und ein kluges Reservistenkonzept sichern zu- neue Überschriften und dadurch für eine erhebliche Ver-
dem auch die hinreichende Aufwuchsfähigkeit, die wir unsicherung in der Truppe.
letztlich brauchen.
Im Übrigen gäbe es auch im Hinblick auf die in den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nächsten Wochen zu erwartende neue NATO-Strategie
neten der FDP) Grund genug, sich ein bisschen Zeit für den Prozess zu
nehmen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. – All das, ver-
bunden mit einer gewissen Attraktivität, muss Bestandteil (Beifall bei der SPD)
der Neuausrichtung sein. Zugleich muss es natürlich im
realistischen Einklang mit den Erfordernissen des Haus- Ich habe manchmal die Sorge, dass Ihnen mediale Insze-
haltes stehen. Die wichtige und entscheidende Frage für nierungen das Wichtigste sind. Unser Rat lautet: Sorgfalt
uns ist aber in jedem Fall, was uns künftig die Sicherheit statt Eile.
unseres Landes wert ist. Es darf also nicht allein um die Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass bei Ih-
Frage gehen, was wir uns noch leisten können. Die sicher- nen sicherheitspolitische Entscheidungen tagespoliti-
heitspolitische Grundlage ist das Maßgebliche. Darauf scher Opportunität geschuldet sind. Wir wissen aber,
aufbauend wollen wir in die Diskussionen und Debatten Strukturentscheidungen bei der Bundeswehr beein-
dieses Herbstes gehen. Ich würde mich freuen, wenn wir flussen die internationale Handlungsfähigkeit jeder Bun-
parteiübergreifend zu Lösungen kommen würden. desregierung, zum Beispiel auch die der nächsten Bun-
Ich bedanke mich für die Unterstützung in den letzten desregierung, die sich in diesem Haus vielleicht schon
Wochen. Ich glaube, wir werden im Sinne unserer auf eine andere Mehrheit stützen wird. Entsprechende
Truppe und im Sinne unserer Mitarbeiterinnen und Mit- Entscheidungen in der Sicherheitspolitik sind auch nicht
arbeiter ein erstklassiges Ergebnis finden. ohne Weiteres korrigierbar. Deshalb müssen wir den not-
wendigen Diskurs führen, ohne den Grundkonsens, den
Herzlichen Dank. wir als Sozialdemokraten immer mit der Union hatten,
zu gefährden.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP) Ich höre Ihre Ankündigung immer wieder gerne, dass
Sie diesen Konsens suchen. Ich glaube daran aber erst
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dann, wenn ein Format gefunden ist, in dem auch wir (D)
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer unsere Ideen und Anregungen über zukünftige Struktu-
Arnold. ren einbringen können und diese nicht ausschließlich
medial austauschen müssen. Finden Sie das Format und
Sie sind in diesem Bereich glaubwürdig.
Rainer Arnold (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD)
Herr Minister, Sie haben am Anfang Ihrer heutigen Rede
Dies gilt in allerhöchstem Maß für die zukünftige Aus-
einen neuen Aspekt gebracht: Sie haben anerkannt, dass
gestaltung der Wehrpflicht. Noch vor wenigen Monaten
Ihre Vorgänger auch schon wichtige Reformen gemacht
haben auch Sie, Herr Minister, die Wehrpflicht für unver-
haben. Bisher haben Sie je nach Publikum immer eher so
zichtbar gehalten und haben sich für diese These den Ap-
geredet, als ob Sie derjenige wären, der das Rad erfun-
plaus bei vielen Soldaten abgeholt. Dann haben Sie selbst
den hat.
eine Verkürzung des Grundwehrdienstes auf sechs Mo-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie sind ein nate unterschrieben. Damit haben Sie die Wehrpflicht
besonderer Kleingeist! – Weiterer Zuruf von ohne eine sehr grundsätzliche und notwendige Debatte im
der CDU/CSU: Ist das kleinkariert!) Grunde genommen schon damals zur Abschaffung frei-
gegeben. Denn auch die Gutwilligen, die die Wehrpflicht
Ich darf Ihnen vielleicht noch sagen: Jeder Fachpoliti- für richtig halten, können keine sechsmonatige Grund-
ker wusste, dass nach Erreichen der Zielstruktur des Jah- wehrdienstzeit unterstützen, die mehr Kosten verursacht
res 2010 im Jahr 2011 selbstverständlich weitere Trans- und mehr Aufwand für die Soldaten bedeutet und doch
formationsschritte anstehen. am Ende keinen Nutzen mehr mit sich bringt.
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD)
NEN]: Das hätte man in den letzten vier Jah-
ren schon machen können!) Jetzt wollen Sie die Wehrpflicht aussetzen. Niemand
von uns ist bisher auf die Idee gekommen – vielleicht
Es gibt aber diesbezüglich einen Unterschied zu Ihren mit Ausnahme der Linken –, die Verfassung diesbezüg-
Vorgängern, Herr Minister. Alle Ihre Vorgänger haben in lich zu verändern. Das ist also auch keine stichhaltige
der Vergangenheit vor notwendigen Reformschritten sorg- Argumentation.
fältige sicherheitspolitische Analysen durchgeführt.
Sie haben daraus den Auftrag für die Bundeswehr defi- Was ist in den letzten Wochen passiert, dass Sie plötz-
niert und daraus die notwendige Struktur abgeleitet. Und lich zu einer anderen Einschätzung kommen? Herr
6108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Rainer Arnold
(A) Minister, die sicherheitspolitische Bewertung verändert Sie liefern fünf Modelle und sagen, vier davon seien (C)
sich doch nicht zwischen Frühjahr 2010 und Herbst überhaupt nicht brauchbar. Aber das fünfte Modell ist
2011. Es gibt nur eine Veränderung, nämlich den Spar- ebenfalls geschönt: Weder die Flugbereitschaft noch die
druck in den Haushaltsberatungen. Es ist ganz klar: Die Sportförderung, noch die Soldaten im Ministerium sind
Wehrpflicht in der bisherigen Form steht einer, wie auch zunächst einmal mit einbezogen.
wir meinen, möglichen und auch notwendigen Verklei-
Sie sagen: Wir haben ein Modell, das zwar knapp und
nerung der Bundeswehr schlicht im Wege. Deshalb ist
auf Kante genäht ist, das aber funktionieren wird. Ich
es auch nicht Ihr Verdienst, dass es diese Debatte gibt.
prophezeie Ihnen heute: Wenn dieses Modell in der De-
Es ist auch nicht Ihr Verdienst, dass Herr Seehofer am
tailplanung vorliegt, wird die staunende Öffentlichkeit
Ende – das kennen wir von ihm – seine Meinung geän-
sehr schnell feststellen, welche wichtigen Fähigkeiten
dert hat. All die Damen und Herren haben gemerkt, es ist bei den Streitkräften nach diesem Modell nicht mehr
die Macht des Faktischen, dass man bei der Wehrpflicht vorhanden sind.
nicht einfach so weitermachen kann wie in der Vergan-
genheit. Sozialdemokraten sagen dies seit drei Jahren. Herr Minister, Sie reden gerne so über sich, als ob Sie
Wir haben diese Entwicklung unaufhaltsam auf uns zu- ständig Klartext redeten. Das hier wäre eine Chance,
kommen sehen. Deshalb haben wir schon damals die wirklich Klartext zu reden. Gehen Sie zum Finanzminis-
Idee entwickelt, dass wir, wenn es die Wehrpflicht nicht ter und sagen Sie ihm, die Vorgabe, 40 000 Zeit- und Be-
mehr gibt, junge Menschen bei der Truppe brauchen, die rufssoldaten und 8,3 Milliarden Euro einzusparen, ist
freiwillig ihren Grundwehrdienst leisten. Das hat nichts nicht erfüllbar; denn auch das von Ihnen präferierte Mo-
mit dem alten Argument zu tun, die Bundeswehr bedürfe dell erfüllt diese Vorgabe überhaupt nicht. Klartext heißt:
dieser Kontrolle. nicht erfüllbar. Ich könnte als Minister mein Amt nicht
verantwortungsvoll ausfüllen, wenn ich zu solch einem
Mich hat sehr beeindruckt, was die französische Ver- Modell aus fiskalischer Sicht gezwungen würde.
teidigungsministerin bei uns im Verteidigungsausschuss
geantwortet hat, als wir sie gefragt haben, welche Wir- Aber Sie machen etwas ganz anderes. Sie sagen – so
kung die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich ge- wie die oberfränkische Metzgersfrau – dem Parlament:
habt hat. Sie sagte sinngemäß, dass sich seither nicht die „Es darf ja vielleicht ein bisschen mehr sein“, und in
französische Armee von der Gesellschaft entfernt hat, Wirklichkeit verstecken Sie sich hinter dem Parlament
dass sie aber beobachtet, dass sich die Gesellschaft von und dem Finanzminister, anstatt Ihrer Verantwortung ge-
der Armee entfernt. recht zu werden.
(Beifall bei der SPD)
Wir alle wissen, dass die Bundesrepublik eine andere
(B) Kultur im Umgang mit dem Militärischen hat. Das ist Ich finde es schon interessant: Sie sind der populärste (D)
ein sehr wichtiges Argument. Deswegen ist die Idee der Politiker in Deutschland.
Freiwilligkeit gut. Sie nähern sich jetzt in Trippelschrit-
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das kann
ten unserer Idee an. Das begrüßen wir. Aber was not-
man gar nicht oft genug wiederholen!)
wendig wäre, fehlt. Sie schaffen zwar verzagt mit dem
Rechenstift 7 500 Plätze für Freiwillige und begründen Natürlich würde es Spaß machen, der Frage nachzugehen,
dies damit, dass man soundso viele Soldaten zur Nach- woher das kommt. Kommt es von politisch qualifiziertem
wuchsgewinnung braucht. Trotzdem fehlt bei Ihnen der Handeln, oder ist es eher der medialen Inszenierung, bei
entscheidende Schritt: Es ist nicht nur ein Projekt für die der die Truppe bei Ihnen manchmal auch Staffage und De-
Bundeswehr mit 7 500 Freiwilligen. Hinter unserer Idee koration ist, geschuldet? Ich will dieser Frage nicht nach-
steckt ein breites gesellschaftspolitisches Konzept der gehen. Aber eine andere Frage möchte ich Ihnen doch
Stärkung und des Attraktivermachens der Freiwilligen- stellen: Was macht ein Minister, der so populär ist, eigent-
dienste für junge Menschen, sowohl materiell als auch lich mit seiner Popularität? Wo bringt er das Gewicht,
ideell und in der gesamten gesellschaftlichen Breite. das ihm seine Popularität verschafft, auch tatsächlich zum
Nutzen der Soldaten ein?
Hierzu gibt es viele Ideen. Unser Angebot, Herr
Minister, bleibt: Wir sind bereit, uns bei diesem gesell- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie sind ein
schaftlichen Projekt, um das es im Kern geht, mit unse- Neidhammel!)
ren Ideen auch in Zukunft einzubringen. Ich weiß auch, Sie sind Klassenprimus, was das Sparen angeht, beim
dass wir das eine oder andere Detail, über das wir vor Finanzminister. Der erste Sündenfall war W6. Der zweite
drei Jahren in der Sozialdemokratie diskutiert haben, Sündenfall war, dass Sie, ohne einen Piep zu sagen, der
heute selbstverständlich an der einen oder anderen Stelle Nacht-und-Nebel-Streichaktion Ihrer Haushälter zuge-
nachjustieren müssen. stimmt haben, die Ihnen 456 Millionen Euro aus dem
Haushalt genommen haben mit der Folge, dass sich die
Herr Minister, wir erwarten von Ihnen mit Blick auf
Soldaten jetzt wundern, dass das Geld bei den Betriebs-
die Bundeswehrstruktur – das ist der nächste Punkt –,
mitteln so knapp ist.
dass Sie die Sicherheitsinteressen unseres Landes ernst
nehmen und dass Sie der Öffentlichkeit und dem Deut- Sie haben den dritten Sündenfall begangen, Herr
schen Bundestag ein schlüssiges Modell präsentieren, Minister, indem Sie bei Ihrer so bedeutenden Hamburger
das der Verantwortung Deutschlands und den wohlver- Rede gesagt haben: Der höchste Parameter für die strate-
standenen deutschen Interessen in der Welt gerecht wird. gische Ausrichtung der Bundeswehr ist die Schulden-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6109
Rainer Arnold
(A) bremse, und der Finanzrahmen wird den strukturellen Gefüge herausreißen, und zwar in einer Art und Weise, (C)
Rahmen und den eigenen Anspruch vorgeben. Das wa- die dazu führen würde, dass wir am Ende eine andere
ren Ihre Worte in Hamburg. Heute reden Sie wieder ganz Armee haben.
anders. Ich weiß nicht, was stimmt. Aber eines weiß ich:
Wer dem Finanzminister – egal was für ein Parteibuch er Herr Minister, Sie haben kürzlich gesagt: Schaut doch
hat – einen solchen Ball zuspielt, der darf sich nicht mal nach Großbritannien und Frankreich! Wir tun das
wundern, dass der Finanzminister diesen Ball sehr dank- seit langem. Sie haben recht: Auch diese Länder reduzie-
bar annimmt. ren die Streitkräfte; aber ihnen ist die Frage, wie lange
Soldaten im Einsatz sind, relativ egal. Es handelt sich
(Beifall bei der SPD) um Regierungsarmeen, nicht um Parlamentsarmeen; die
Soldaten werden einfach weggeschickt. Da würden wir
Damit mich niemand falsch versteht: Auch Sozialde- Sozialdemokraten nicht mitmachen.
mokraten wissen, dass man auch bei der Bundeswehr
sparen muss, dass es dort Effizienzreserven gibt, dass es Herr Minister, es bleibt wichtig – Sie selbst haben es
Doppelungen gibt, dass es Schwächen in der Führungs- formuliert –: Für die Soldaten ist es entscheidend, dass
struktur gibt. Wir sind auch bereit, darüber mit Ihnen zu sie der Politik vertrauen können. Meine Sorge ist: So wie
reden. Wir werden aber bei den Debatten in den nächsten die Deutschen insgesamt das Vertrauen in die Bundesre-
Wochen auf ein paar Punkte in besonderer Weise achten. gierung verloren haben, so haben auch Sie, Herr Minis-
ter, durch das Hin und Her in den letzten Wochen und
Auf dem Weg zu dieser neuen Struktur werden wir Monaten Ihren Beitrag dazu geleistet, dass das Vertrauen
darauf drängen, dass die Zusagen, die Deutschland den der Soldaten in die Politik und in die Regierung schwin-
internationalen Organisationen gegeben hat, stringent det.
eingehalten werden. Es reicht nicht, dass Frau Merkel
und Herr Westerwelle nach New York fahren, wenn die Herzlichen Dank.
Bundeswehr nicht mehr in der Lage ist, die Zusage,
1 000 Mann für besondere Aufgaben der Vereinten Na- (Beifall bei der SPD)
tionen zur Verfügung zu stellen, einzuhalten.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wir werden einfordern, dass es nicht nur eine Debatte
über die Bundeswehrstruktur und diesen vernetzten An- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Koppelin
satz in Sonntagsreden gibt, sondern dass wir auch einmal für die FDP-Fraktion.
darüber reden, was wir eigentlich tun, nachdem wir wis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sen, dass internationale Krisenbewältigung nicht nur Sol- der CDU/CSU)
(B) daten, sondern auch viele zivile Fähigkeiten braucht. Was (D)
tut die Bundesrepublik eigentlich im Bereich der Zurver-
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
fügungstellung von Polizeifähigkeiten für internationale
Krisen? All dies fehlt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, Sie haben von der großen Herausforde-
Wir werden darauf achten, dass es nicht nur eine Ein- rung gesprochen, vor der wir jetzt stehen. Das ist richtig.
satzarmee ist, sondern dass es weiterhin glaubhafte Bau- Sie haben vom Mut auch Ihrer Vorgänger gesprochen. Es
steine zur Bündnisfähigkeit gibt; denn wir haben eine gab jemanden, der besonders viel Mut hatte: Das war die
europäische Vision von Streitkräften. Diese europäische Freie Demokratische Partei. Wir haben nämlich seit vie-
Vision wird nur erreicht werden, wenn das größte und len Jahren gefordert, dass aus unserer Bundeswehr eine
wirtschaftsstärkste Land in Europa Vertrauen bei den Freiwilligenarmee wird.
kleinen Partnern, vor allen Dingen in Osteuropa, findet.
Nur dann, wenn die Osteuropäer wissen, die Deutschen (Johannes Kahrs [SPD]: Das macht es nicht
sind bereit, mit ihrem Gewicht und ihren Möglichkeiten besser!)
für die gemeinsame Sicherheit einzutreten, werden wir Wir haben uns das nicht leicht gemacht; wir haben sogar
tatsächlich eine Chance haben, weitere Schritte hin zur einen Sonderparteitag veranstaltet und unter den Mit-
Vision einer europäischen Armee zu gehen. Im Übrigen gliedern darüber abgestimmt. Das war ein schwieriger
werden wir nur so die Chance erhalten, in Europa zu Weg.
weiteren Abrüstungsschritten zu kommen; denn dies hat
auch etwas mit Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu tun. Herr Minister, insofern habe ich Verständnis dafür,
wenn es bei Ihnen in der Fraktion, bei CDU und CSU,
Zum Ende möchte ich sagen, was bei der Bundeswehr Stimmen gibt, die sich für die Beibehaltung der Wehr-
besonders wichtig ist – eigentlich hätte ich es an den An- pflicht aussprechen. Man muss natürlich sagen: Wer für
fang meiner Rede stellen sollen –: der Mensch. Wichtig die Wehrpflicht ist, müsste sich für eine Wehrpflicht aus-
sind nicht Technik, nicht Waffen; wichtig ist, was die sprechen, die nicht 6 oder 9 Monate dauert, sondern
Menschen leisten, ihre Motivation, ihr Verantwortungs- 18 Monate oder länger; denn dann macht sie Sinn. Das
bewusstsein, ihre Moral, ihr Verständnis vom Staatsbür- will aber keiner mehr. Respekt, dass Sie die Mitglieder
ger in Uniform, das Leben der Prinzipien der Inneren der Fraktion der CDU/CSU überzeugt haben! Vielleicht
Führung. Dazu gehört auch: Wir werden alles verhin- können Sie mir bei Gelegenheit sagen, wie Sie es ge-
dern, was dazu führt, dass die deutschen Soldaten struk- schafft haben, Herrn Seehofer zu überzeugen.
turell bedingt länger als vier Monate in den Auslands-
einsatz müssen. Dies würde sie aus ihrem sozialen (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)
6110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) Aber alle Achtung: Sie haben es geschafft! Dafür Res- (Johannes Kahrs [SPD]: Das war auch gut so!) (C)
pekt und Anerkennung!
Rot-Grün ist ja eine tolle Alternative, wenn sich die
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grünen nicht durchsetzen können. Sie haben sich bei der
NEN]: Das müsste er Herrn Rösler sagen und Freiwilligenarmee nicht durchsetzen können; Sie haben
nicht Herrn Koppelin!) sich auch bei anderen Punkten nicht durchsetzen kön-
nen.
Nun kommt der Kollege Arnold und beklagt sich.
Dazu muss ich sagen: Ich hätte gerne gehört – die Öf- (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
fentlichkeit wäre sehr interessiert gewesen –, wie die Al- NEN]: Genau, weil Sie ja alles kriegen, was
ternative der Sozialdemokraten aussieht. Sie kommen Sie wollen! Sie haben Ihre Steuersenkung be-
dann und sagen – da wird es nebelig –: Wir Sozialdemo- kommen! – Heiterkeit bei Abgeordneten des
kraten haben vor drei Jahren etwas beschlossen. Warum BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
haben Sie es nicht früher umgesetzt?
– Dazu kann ich Ihnen gerne etwas bei der Abschluss-
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- runde am Freitag sagen.
NEN]: Das haben wir uns damals auch ge-
fragt!) (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da freue ich mich sehr drauf!)
Sie haben doch regiert.
Zu einem anderen Punkt. Wenn Sie mich schon an-
(Rainer Arnold [SPD]: Weil die CDU nicht sprechen: Was habe ich denn von den Grünen in diesen
mitgemacht hat!) Tagen gelesen? Die großen Beschaffungsmaßnahmen
– Nein, nein. Sie waren doch vorher in einer Koalition müssten auf den Prüfstand.
mit den Grünen. Die Grünen waren zumindest für die (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Aussetzung der Wehrpflicht oder gar für ihre Abschaf- NEN]: Ja!)
fung. Da haben Sie sich doch stur geweigert.
Das finde ich wunderbar. Wissen Sie, was wir abarbei-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten? Wir arbeiten die großen Beschaffungsmaßnahmen
der CDU/CSU) ab, die uns Rot und Grün eingebrockt haben und die Mil-
Nun kommen Sie und werfen uns vor, es gäbe noch liarden kosten. MEADS wurde von Ihnen beschlossen.
keine Ergebnisse von irgendeiner Kommission. Sie sit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
zen schon seit ein paar Jahren im Verteidigungsaus- Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) schuss. Ich habe auch im Verteidigungsausschuss ange- NEN]: Wer hat denn den Eurofighter bestellt?) (D)
fangen.
– Herr Kollege Bonde, ich lege Ihnen gerne die Anträge
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – vor: Der Deutsche Bundestag hat mit den Stimmen von
Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: SPD und Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
Jetzt wird einiges klar!) FDP die Bestellung von 90 Transportflugzeugen A400M
Da müssten Sie eigentlich die Ergebnisse der Unabhän- beschlossen.
gigen Kommission kennen, die auf Wunsch der Freien
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Demokraten eingesetzt wurde. Das Ergebnis war da-
NEN]: Ihre Regierung hat sich wieder erpres-
mals:
sen lassen um Millionen!)
Sollte jedoch die Reduzierung der Streitkräfte auf
Herr Struck hat die Zahl auf 60 gesenkt. Wir mussten so-
unter 370 000 erforderlich werden, stellt sich die
gar vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, weil Sie
Frage der Wehrform neu. Die Option Freiwilligen-
das am Parlament vorbei machen wollten. Wir haben ge-
armee sollte dann ernsthaft geprüft werden.
gen den damaligen Verteidigungsminister obsiegt. Der
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesrechnungshof hat damals schon gesagt: 40 rei-
NEN]: Wir haben es denen wöchentlich vorge- chen. – Was ist mit den anderen? Was ist mit Herkules?
halten! Die brauchen etwas länger!) Das war ein Milliardengrab. Das Ergebnis war null. Wer
hat das damals beschlossen? Wir haben es nicht be-
Das kannten Sie doch. Sie waren in der Regierung und schlossen. Sie haben es beschlossen, Rot und Grün. Sie
hätten es machen können. haben Milliarden in den Sand gesetzt, die der Bundes-
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: wehr gefehlt haben.
Von 1991 bis 1998 wart ihr doch dran!)
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Genau!)
Ich könnte weitere Zitate anbringen. Sie haben nichts ge-
Kollege Arnold, Sie sprechen davon, dass wir bei den
tan und sich stur geweigert. Sie waren zu Reformen
letzten Haushaltsberatungen Streichungen vorgenommen
nicht bereit.
haben. Wissen Sie, wann die größte Streichorgie stattgefun-
Ich sage das, weil etwas Ähnliches vorhin bei der Dis- den hat? Das war, als der sozialdemokratische Finanzminis-
kussion über den Bereich des Auswärtigen eine Rolle ter entgegen dem Wahlversprechen die Mehrwertsteuer an-
spielte. Der Kollege Kindler hat gesagt: Wir als Grüne gehoben hat. Das hat die Bundeswehr 700 Millionen
haben uns nicht durchsetzen können. gekostet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6111
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(A) (Rainer Arnold [SPD]: Sagen Sie doch mal, ob Johannes Kahrs (SPD): (C)
Sie MEADS stoppen oder ob es weitergeht! Deine Antwort auch nicht.
Ganz konkret!)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Das war die größte Streichaktion.
Ich finde, Herr Kollege Arnold, Sie haben die Chance Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
verpasst. Es gibt nämlich bei der Bundeswehr große Pro- Es gibt einen weiteren Bereich, den uns auch Rot-
bleme, die wir lösen müssen. Ich greife eines heraus: das
Grün eingebrockt hat. Herr Arnold, dabei handelt es sich
Sanitätswesen. Das bereitet mir große Sorgen. Nachdem
um das Gesetz, das Sie beschlossen haben, nämlich zum
ich Anfragen an das Verteidigungsministerium gestellt
habe, muss ich feststellen, dass uns eine Vielzahl, meh- Liegenschaftsmanagement. Man stelle sich einmal vor
rere Hundert, Sanitätsoffiziere fehlen, die in kürzester – es muss umgesetzt werden, weil das Gesetz seit 2005
Zeit den Dienst quittiert haben. Mitarbeiter der vier Bun- gültig ist –: Die BImA bekommt plötzlich die Verant-
deswehrkrankenhäuser haben 40 000 Überstunden ange- wortung für sämtliche Gebäude des Verteidigungsminis-
sammelt. Ich könnte diese Liste fortsetzen. Wir müssen teriums; das sind Kasernen usw. Dort hat man gar nicht
uns in den Haushaltsberatungen dieser Sache annehmen. das Personal für eine solche Aufgabe. Wir müssen versu-
Das kann so nicht mehr weitergehen. Wir sind es unseren chen, das zu lösen. Es wird eine riesige Menge Geld kos-
Soldaten schuldig, dass wir uns darum kümmern. ten, ohne dass es Sinn macht. Auch das hat uns Rot und
Grün eingebrockt. Das arbeiten wir jetzt alles ab. Wir
(Abg. Johannes Kahrs [SPD] meldet sich zu müssen sehen, wie wir das hinbekommen. Sie können
einer Zwischenfrage) sich im Verteidigungsausschuss gerne damit beschäfti-
– Herr Kollege Kahrs darf das, weil er heute Geburtstag gen.
hat und ich ihm herzlich gratuliere.
Es ist klar – ich wiederhole: auch wir sind dabei –:
Die großen Beschaffungsmaßnahmen kommen auf den
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Prüfstand. MEADS muss beendet werden.
Herr Kahrs, bitte sehr.
(Elke Hoff [FDP]: Jawohl!)
Johannes Kahrs (SPD): Große Sorgen machen uns auch andere Themen wie
Ich danke für das erteilte Wort. – Wenn das alles so NH-90. Herr Minister, was Transportflugzeuge angeht:
tragisch ist, dann frage ich mich, warum du alleine, auch Ich mahne an, dass wir endlich ein Ergebnis vorgelegt
gegen die CDU/CSU, die Kürzung in Höhe von 450 Mil- bekommen. Es war für Mitte des Jahres angekündigt
lionen Euro beim diesjährigen Etat der Bundeswehr worden, es wird also langsam Zeit. Es liegt nicht an Ih- (D)
(B) durchgesetzt hast; denn das Geld fehlt doch jetzt.
nen allein. Sie haben Partner; aber ich denke, wir sollten
endlich wissen, wohin die Reise gehen soll.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Das will ich gerne beantworten. Wir haben in den Berei- Zum Abschluss. Ich habe in diesen Tagen das Buch
chen Kürzungen vorgenommen, in denen wir festgestellt einer Soldatin gelesen, das sie über ihren Einsatz im
haben, dass im Etat zuvor die Mittel nicht abgeflossen sind. Ausland geschrieben hat. Das hat mich sehr bewegt. Ich
Ich bin für Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit; das möchte daraus zitieren. Sie schreibt:
heißt, wenn das Verteidigungsministerium meint, dass
Viele Menschen denken nicht darüber nach, dass
die Mittel knapp sind, dann muss man mit uns darüber
reden. Ich könnte viele Beispiele nennen, das erlaubt mir diese jungen Kameraden ihr Leben für die Bundes-
die Zeit aber nicht; denn die Uhr läuft. republik Deutschland riskieren. Die Mehrheit denkt,
die Soldaten gingen für das viele Geld in den Ein-
satz. Den Soldaten fehlt einfach eine Lobby.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich weiß. Ich sage hiermit zu – ich glaube, das für den gesamten
Deutschen Bundestag tun zu können; bei den Linken
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): weiß ich das nicht genau –: Wir werden ihre Lobbyisten
Aber ich erkläre dir das gerne. Du bist ja Experte im sein. Wir werden uns um die Soldatinnen und Soldaten
Bereich des Haushalts des Verteidigungsministeriums, kümmern. Das muss ein Schwerpunkt unserer Politik
wie man allgemein weiß und auch in der Zeitung lesen sein. Wenn das Parlament Soldaten zum Einsatz ins Aus-
kann. land schickt, dann müssen wir – schließlich ist es eine
Parlamentsarmee – die Lobbyisten sein.
(Heiterkeit)
Herzlichen Dank.
Wenn die Mittel nicht abfließen und ich als Haushälter
weiß, dass sie auch in diesem Jahr nicht abfließen wer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
den, dann kann ich die Kosten reduzieren. Wir haben
auch Steigerungen vorgenommen. Ich zeige es dir gern.
Ich weiß, dass du auch in den letzten Haushaltsberatun- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gen diese Frage immer gestellt hast. Sie wird dadurch Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die
aber nicht besser. Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)
6112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): rüstung viel Geld für zivile Krisenvorbeugung und -be- (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wältigung umschichten können.
folgerichtig, dass wir hier nicht über einzelne Etatposten Wir sind der Meinung, dass die drängenden sicher-
im Einzelplan reden, sondern über die geplante Reform heitspolitischen Fragen, mit denen wir zu tun haben, ob es
der Streitkräfte, also über die Zukunft der Bundeswehr – sich um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungs-
nicht mehr und nicht weniger. waffen oder die Hilfe für sogenannte auseinanderfallende
Fragt man die Leute, so sagen 82 Prozent, bei der Staaten oder um die postfossile Energieversorgung oder
Rüstung könnte und sollte angesichts der Haushalts- den Terrorismus handelt, mit zivilen, friedlichen Mitteln
schwierigkeiten gespart werden. Eine seit langem stabile bearbeitet werden müssen. Das leiten wir daraus ab.
Mehrheit von deutlich über 60 Prozent erklärt, dass die (Beifall bei der LINKEN)
Bundeswehr schnellstens aus Afghanistan abgezogen
werden müsste. Ja, so klug sind die Leute. Und wir sagen: Deutschland soll eine bestimmte Rolle
spielen. Bei Abrüstung, gerechter Entwicklungszusam-
(Beifall bei der LINKEN) menarbeit, Energiewende, mehr humanitärer Hilfe, die
Ich finde es auch interessant, dass die neueste Shell- jetzt zum Beispiel in Pakistan dringend notwendig ist,
Jugendstudie herausgefunden hat, dass die Mehrheit der oder rechtsstaatlicher Kooperation kann sich Deutsch-
Jugendlichen, die befragt worden sind – das ist ein gro- land hervortun, aber nicht mit Spezialkräften, Einsatzba-
ßer Unterschied zu früher –, gegen die Auslandseinsätze taillonen und Kampfhubschraubern.
ist. Auch hier hat sich etwas verändert. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Elke Hoff [FDP]: Wir reden über den Haus- Das ist unsere Grundposition.
halt, nicht über Mandatsverlängerungen!)
Sie sagen wiederholt selbst: Eigentlich ist die drin-
Dass die Mehrheit der Bevölkerung bei den Rüs- gende Aufgabe der Zukunft die Prävention, die Vorbeu-
tungsausgaben kürzen will, zeigt, dass sich diese Mehr- gung, also die Gewaltvermeidung. – Nur tun Sie das Ge-
heit nicht mehr einer akuten Gefahr ausgesetzt sieht. An- genteil. Sie stellen sich mit Ihrer Bundeswehrreform auf
ders kann man das nicht erklären. Das deckt sich auch das Gegenteil ein. Sie wollen die Bundeswehr als globa-
mit Ihrer sicherheitspolitischen Aussage: Deutschland ist les Expeditionskorps effektivieren und optimieren. Sie
auf absehbare Zeit nicht militärisch bedroht. sagen: Es geht nicht um ein Expeditionskorps. – Im Kern
geht es aber darum. Die Truppen sollen schneller an je-
Unter dieser Voraussetzung sagt die überwältigende den beliebigen Ort verlegt werden können, dort länger
Mehrheit, dass wir uns einen Wehretat von mehr als durchhalten und schlagkräftiger werden, wobei ich mir (D)
(B) 34 Milliarden Euro nach NATO-Kriterien nicht länger
jetzt die Bemerkung schenke, was „schlagkräftiger“ in
leisten können und wir das Geld an anderer Stelle drin- diesem Zusammenhang bedeutet. Wenn dann bei diesem
gender benötigen. Auch das sagen die Leute deutlich. Umfeld noch hinzugefügt wird, man müsse das Militär
Für mehr Kita-Plätze, für eine vernünftige soziale künftig auch mehr für die Durchsetzung wirtschaftlicher
Grundsicherung und den Ausbau des öffentlichen Perso- Interessen einsetzen, dann wird es brandgefährlich.
nennahverkehrs soll das Geld ausgegeben werden, sagt
die Mehrheit der Bevölkerung, und das ist vernünftig. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ob Sie dann noch – wenn das Ihre Richtung ist – zum
rigorosen Sparen bereit sind – ob Sie es durchsetzen
Die Mehrheit für den Abzug aus Afghanistan ist da- können, steht auf einem anderen Blatt –, weiß ich nicht.
mit zu erklären, dass die Leute sehen, dass dort etwas Ich weiß: Sie wollen durch Personalabbau und die Aus-
grundsätzlich schiefgelaufen ist. Sie wollen nicht, dass setzung der Wehrpflicht in der Tat Kosten reduzieren.
wir und nicht zuletzt unsere Soldatinnen und Soldaten Vielleicht schaffen Sie es sogar, die Gesamtsumme des
immer tiefer in den Morast eines Krieges gezogen wer- Rüstungshaushaltes vorübergehend etwas zu drücken;
den, der nicht zu gewinnen ist. ich komme am Schluss meiner Rede noch einmal darauf.
Ich finde, beides sind vernünftige Positionen. Das ist Aber wenn Sie 10 000 statt wie bisher 7 000 Soldaten für
eine Messlatte für die Bundeswehrplanung, für die Re- Dauereinsätze einplanen, dann ist das mehr als eine theo-
form der Streitkräfte. Rüsten Sie kräftig ab, oder tun Sie retische Möglichkeit oder eine rein abstrakte Planungs-
es nicht? Beenden Sie diese militärischen Abenteuer vorgabe. Das kann morgen Realität werden. Wenn Sie an
oder nicht? Das sind die Grundfragen. diesem Kurs „Interventionsarmee weltweit“ mit einem
möglichst breiten Fähigkeitsspektrum und breit angeleg-
(Beifall bei der LINKEN) ten Einsatzoptionen festhalten, dann reden wir in naher
Zukunft nicht über Abspecken oder Gesundschrumpfen,
Für uns geht es in dieser Debatte tatsächlich darum:
sondern leider wieder über neue Aufrüstung, neue Rüs-
Soll nur das Bestehende effektiviert und optimiert wer-
tungslasten. Dafür muss man, glaube ich, kein Prophet
den, oder soll eine neue Grundrichtung eingeschlagen
sein.
werden? Die Linke will, dass es eine andere Sicherheits-
politik gibt, die darauf setzt, dass wir uns an keinen Krie- Leider marschiert nicht nur die Bundesregierung in
gen in der Welt beteiligen, dass wir uns NATO-Militärin- die falsche Richtung, auch die vormaligen Regierungs-
terventionen verweigern, dass wir Ernst machen mit parteien bewegen sich in diesem Mainstream, und wenn
Konzepten ziviler Krisenvorbeugung und wir durch Ab- es darauf ankommt, schleichen sie lieber um den heißen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6113
Paul Schäfer (Köln)
(A) Brei herum. Die Grünen haben Afghanistan fest im Bündnis konzentriert. Wenn wir Verteidigung sagen, (C)
Blick und wollen vom Einsatz her denken. Da bleibt dann meinen wir das auch so. Deutschland benötigt
nicht mehr viel Kritik. Die SPD wirft der Regierung vor, demzufolge keine Führungskommandos für schnelle
diese verordne der Truppe ein Spardiktat, das in diesem Eingreiftruppen, genauso wenig wie geheime KSK-Ope-
Maße nicht gerechtfertigt sei. Nach dem Motto – Sie, lie- rationen im Ausland. Meine Meinung zumindest ist, dass
ber Kollege Arnold, haben es an anderer Adresse er- Multinationalität der Streitkräfte gut ist, aber nicht, wenn
wähnt – „Darf’s ein bisschen mehr sein?“ wollen Sie diese Einheiten für Interventionen in anderen Staaten
beim Personalumfang und bei den Rüstungsausgaben konzipiert sind. NATO-Response-Force und EU-Battle-
den Minister Guttenberg noch toppen und ihn dazu brin- Groups können unseres Erachtens aufgelöst werden. Wir
gen, wieder etwas draufzupacken. An der Musterung sollten uns nicht länger daran beteiligen.
wollen Sie sogar festhalten. Ich sehe mich in einer ver-
(Beifall bei der LINKEN)
kehrten Welt. Wo aber wollen Sie eigentlich hin?
Viertens. Aufhebung der Wehrpflicht. Das erklärt
(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs
sich von selbst. Die Zahlen, die der Herr Minister so be-
[SPD]: Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie
eindruckend vorgetragen hat, sind hier schon dutzend-
das!)
mal erwähnt worden. Es ist darauf gedrängt worden,
Ich finde, es wird Zeit, dass sich die Parteien, die uns endlich mit diesem Anachronismus Schluss zu machen.
den Militärinterventionismus mit dem Sündenfall Aber Sie hatten sich hier verhakt. Dieser Zwangsdienst
Kosovo eingebrockt haben, neu besinnen und auf eine muss ein Ende haben, und zwar nicht irgendwann, son-
Beendigung der NATO-Militäreinsätze drängen. dern sofort.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Für die Linke besteht kein Zweifel: Deutschland Fünftens. Wir möchten alles, nur keine reine Berufs-
braucht eine andere, eine friedlichere Außen- und Si- armee, sondern eine Bundeswehr, die im Kern eine Frei-
cherheitspolitik. Wir schlagen dazu Folgendes vor. willigenarmee ist. Die Soldaten auf Zeit, die dann in das
bürgerlich-zivile Leben übergehen und schon in ihrer
Erstens. Keine deutsche Beteiligung an Auslands-
Militärdienstzeit darauf vorbereitet werden, sollten das
kriegseinsätzen. Gerade Afghanistan hat gezeigt, wie
Rückgrat der Truppe bilden.
schwer oder unmöglich es ist, wenn man erst einmal in
der Gewaltspirale ist, dort wieder herauszukommen. Ansonsten ist alles, was Zivilität in den Streitkräften
Wenn man sich auf so etwas einstellen will, heißt das: Es bewahrt und weiterentwickelt, zu verteidigen und auszu-
werden enorme Ressourcen verschlungen, für U-Boote, bauen. Das beginnt bei der zivilen Wehrverwaltung,
(B) Fregatten oder Langstreckenflugzeuge, die wir uns spa- reicht über zivile Anteile bei der Ausbildung der Solda- (D)
ren sollten. tinnen und Soldaten und endet bei der Revitalisierung
des Prinzips des Staatsbürgers in Uniform.
Zweitens. Tiefgreifende Abrüstung ohne Sicher-
heitseinbußen ist möglich. Das muss jetzt energisch vo- Sechstens. Wir wollen einen sozial verträglichen Um-
rangebracht werden. Die Bundeswehrführung hat es bau und Konversionsprogramme, mit denen dieser Um-
gerade noch einmal bestätigt: Eine unmittelbare Bedro- bau organisiert wird; denn diese Umstellung ist nicht
hungslage existiert nicht. Daher ist eine erhebliche Ver- zum Nulltarif zu haben. Das wissen wir auch. Personal-
kleinerung der Bundeswehr, ist der Verzicht auf eine kürzungen, Standortschließungen und die Beendigung
Reihe von Waffensystemen ohne Sicherheitseinbußen von Rüstungsprogrammen müssen gut vorbereitet wer-
möglich. Dadurch werden sogar Mittel frei für eine Au- den. Deshalb brauchen wir jetzt Überlegungen für Kon-
ßen- und Sicherheitspolitik mit friedlichen und zivilen versionsprogramme.
Instrumenten, die eine tragfähige Entwicklung in ande-
ren Regionen der Welt ermöglichen und damit unter dem Meine Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
Strich unsere Sicherheit erhöhen. eine Schlussbemerkung. Ihre Absichten, bei den großen
und überdimensionierten Beschaffungsprogrammen jetzt
(Beifall bei der LINKEN) auf die Bremse zu treten, Herr Minister, sind wenig
glaubhaft. Es erscheint mir sehr kühn, dass ausgerechnet
Die atomare Abrüstung – das sagen alle – steht mehr
Sie, genauer gesagt: dass ausgerechnet die Hauptlobby-
denn je auf der Tagesordnung. Leisten wir doch unseren
parteien, die derzeit die Regierung bilden, jetzt die Rüs-
Beitrag zu Global Zero, indem wir mit der Null hier in
tungswirtschaft in die Schranken weisen. Das ist in
Deutschland anfangen und die nukleare Teilhabe endlich
meinen Augen Fantasy pur. Ich traue Ihnen einiges, ja
auf den Müllhaufen der Geschichte werfen! Das wäre
sogar vieles zu, lieber Herr zu Guttenberg, aber das traue
nötig.
ich Ihnen nicht zu.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Dann kann man auch das Luftgeschwader der Bundes-
Wenn Sie über Priorisierung reden, sollten wir fest-
wehr, das diese Terrorwaffen ans Ziel bringen soll, auf-
halten, dass allein für drei Waffensysteme – A400M,
lösen.
Puma und Eurofighter – in den nächsten vier Jahren
Drittens. Das Grundgesetz stellt fest, dass der Bund mehr als 8 Milliarden Euro verplant sind. Daher kann es
Streitkräfte zum Zweck der Verteidigung aufstellt. Wir nach unserer Auffassung nicht darum gehen, Vorhaben
wollen, dass man sich auf die Landesverteidigung im zu strecken, zu modifizieren oder zu schieben. Vielmehr
6114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Paul Schäfer (Köln)


(A) brauchen wir bei diesen Großprojekten einen hundert- tischstes Modell lässt im Jahr 2014 eine Lücke von (C)
prozentigen Ausgabenstopp. Die Zeit der Alimentierung 2,7 Milliarden Euro. Das lässt einen aufhorchen, wenn
der deutschen Rüstungsindustrie muss endlich vorbei gleichzeitig ein Überbietungswettbewerb stattfindet.
sein.
Insofern ist die Nagelprobe für den Heeresreformer
Vielen Dank. zu Guttenberg nicht das Ankündigen, sondern das Um-
setzen. Wenn es in die richtige Richtung läuft, haben Sie
(Beifall bei der LINKEN)
uns kritisch an Ihrer Seite. Wir passen aber auf, weil die
Reform bisher ein Papiertiger ist, dessen Sprungweite
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: noch zu definieren ist.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Alexander Bonde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen wissen, wie weit Sie gehen. Es gibt in die-
Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ser Debatte ja bizarre Situationen. Sie haben endlich ein-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gesehen: Bei der Wehrpflicht muss etwas passieren.
Die vergangenen Auseinandersetzungen über den Bun- Nach langem Festhalten am Musterungsprozess haben
deswehretat haben wir noch gut in Erinnerung. Sie fan- Sie jetzt sogar verstanden, dass auch die Musterung fal-
den zu Beginn dieses Jahres statt. Schon damals habe ich len muss, weil es keinen Sinn macht, 5 000 Leute in
darauf hingewiesen, dass es eine Verschwendung ist, Kreiswehrersatzämtern vorzuhalten, die keine Funktion
knappe Ressourcen fortdauernd in sicherheitspolitisch mehr haben.
nicht mehr zu begründende Strukturen zu stecken. Au-
ßerdem haben wir Grüne darauf hingewiesen, dass der In dieser Frage ist übrigens die Haltung der SPD inte-
Erhalt des Grundwehrdienstes zu einem erheblichen ressant. Ich habe heute Morgen gelesen, dass der Kollege
finanziellen Mehrbedarf führt, der nicht mit einem si- Bartels gesagt hat, auch bei Aussetzung der Wehrpflicht
cherheitspolitischen Mehrwert verbunden ist. brauche man die Musterung, um Kontakt zu potenziell
Freiwilligen zu haben.
Das Neue an dieser Debatte ist, dass diese zwei Sätze
nicht mehr von mir stammen, sondern vom General- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
inspekteur, und keine wütenden Proteste der Union und NEN – Rainer Arnold [SPD]: Lesen Sie den
der FDP mehr hervorrufen, sondern Teil dessen sind, nächsten Satz auch!)
was Sie uns heute als neue Erkenntnisse vorgestellt ha- Ich weiß nicht, welchen Kontakt Sie bei der Musterung
ben. hatten. Ich kann nur sagen: Das Kommando „Hinter die
(B) Die spannende Frage ist, woraus diese Wende resul- Wand und jetzt bitte husten!“ hat die Bundeswehr für (D)
tiert. Das werden wir heute nicht erörtern. Wir können mich nicht attraktiver gemacht, Kollege Bartels.
Ihnen aber sagen: Wir sind froh, dass Sie sich endlich (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
aus der Verweigerungshaltung herausbegeben und er- NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU,
kannt haben, dass sich auch die Bundeswehr der Frage der SPD, der FDP und der LINKEN)
eines effizienten Mitteleinsatzes stellt und stellen muss.
Aber geschenkt.
Wir sind dabei an einem spannenden Punkt, weil Sie
über die Ankündigung bisher noch nicht hinaus sind. Sie Die entscheidende Frage ist: Kommt die Reform jetzt
haben heute ein Modell vorgestellt – mit 163 500 Solda- tatsächlich auf den Weg? Sie haben sicherheitspolitisch
ten – und sind gleich wieder zurückgerudert mit der An- einen weiten Weg zurückgelegt, den Sie strukturell noch
sage: Es dürfen auch gerne noch mehr werden. – Im Ver- nicht unterfüttert haben. Eine Nagelprobe wird sein, wie
teidigungsausschuss haben wir einen Wettbewerb von Sie mit den Rüstungsbeschaffungen umgehen, die
CDU und SPD erlebt hinsichtlich der Frage, wie viel schon heute nicht mehr in die Finanzlinie zu bekommen
mehr es noch werden dürfen. Ich bin gespannt, ob Sie in sind.
diesem Wettbewerb der Volksparteien zum Schluss
Vor der großen Kehrtwende – bevor Sie die Blockade-
wirklich noch etwas reduzieren, wenn es Ihnen darum zu
haltung Ihres Vorgängers beendet haben, der in Sachen
gehen scheint: Wer bietet eigentlich mehr Soldatinnen
Wehrreform überhaupt nichts zustande gebracht hat bzw.
und Soldaten?
zustande bringen wollte – haben Sie Ihre Unterschrift
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch unter richtig große Kostenblöcke gesetzt: dritte
Tranche Eurofighter und A400M. Massive Kostensteige-
Sie wissen auch, dass Sie bei der Effizienz noch nicht
rungen haben Sie einfach in Kauf genommen, auf die
da angekommen sind, wo Sie anzukommen versprochen
Strafzahlungen der Industrie verzichtet und die Chance
haben. Sie haben den Verteidigungsetat jetzt der Spar-
nicht genutzt, in Neuverhandlungen zumindest eine mas-
frage unterworfen. Sie haben angekündigt – das bringt
sive Reduzierung, wenn nicht die Einstellung dieses Pro-
der Finanzplan zum Ausdruck, den wir heute mit beraten –,
jekts, von dem keiner weiß, ob es jemals funktioniert, zu
dass Sie bis 2014 in der Lage sein werden, dem Finanz-
erreichen. Die Strategie „Erst bei den Kosten auf das
minister 4,7 Milliarden Euro an Einsparungen im Jahr zu
Gaspedal treten, um hinterher die Bremse anzukündi-
liefern.
gen“ ruft schon die eine oder andere Frage nach Ihrem
Ihr Sparbeitrag für dieses Jahr ist, dass Sie laut Haus- sicherheitspolitischen Führerschein hervor, Herr Minis-
halt 1 Milliarde Euro mehr brauchen. Selbst Ihr optimis- ter.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6115
Alexander Bonde
(A) Sie haben jetzt Zeit, diese Fragen zu beantworten. Wir Ich fand das Vorgehen richtig, eine Defizitanalyse (C)
verstehen, dass Ihr Konzept einige Parteitage durchlau- durchzuführen und zu sagen, wo bestimmte Veränderun-
fen muss. Wir verstehen nicht, dass Sie uns heute nicht gen notwendig sind. Es ist doch jedem einsichtig, dass
sagen, wo Sie die globale Minderausgabe in Höhe von bei 250 000 Soldaten Truppenstärke eine Zahl von 7 500
800 Millionen Euro in Ihrem Haushalt aufbringen wol- oder vielleicht auch 9 000 Soldaten – so viele hatten wir
len. Aber das werden Sie uns bestimmt noch verraten. ja schon einmal im Einsatz –, wenn man die Einsatzori-
entierung sicherstellen will
Ab sofort gilt: Gemessen werden Sie nicht an einem
„Top Gun“-Bild auf Seite eins der Bild-Zeitung, sondern (Rainer Arnold [SPD]: 11 000 hatten wir
daran, welche konkrete sicherheitspolitische Verände- schon!)
rung Sie am Ende liefern.
– 11 000 auch, Herr Kollege Arnold –, im Hinblick auf
Herzlichen Dank.
die Effizienz zu gering ist. Ich glaube, darüber besteht
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Einigkeit in diesem Haus.
Wenn man dann in einem weiteren Schritt fragt, wel-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
che Strukturen notwendig sind und was man dafür
Das Wort hat nun der Kollege Ernst-Reinhard Beck
braucht, um die Sicherheit auch auf mittlere und längere
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sicht zu garantieren, dann kommt die Sprache auf die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wehrform. Ich sage ganz ehrlich, dass ich hier mit einer
gewissen Wehmut stehe. Durch die Wehrpflicht wurde
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): die Sicherheit unseres Landes über viele Jahrzehnte hin-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- weg, in der gesamten Zeit des Kalten Krieges, garantiert.
ginnen und Kollegen! Der Kollege Arnold hat etwas sehr Im Grunde wurden durch sie auch Leistungen erbracht,
Richtiges und Wichtiges gesagt. Er hat gesagt: Im Mit- die für die Integration der Streitkräfte in demokratische
telpunkt steht bei all unseren Überlegungen der Mensch. – Strukturen unschätzbar sind. In der heutigen Zeit hört
Insofern gilt mein erster Dank denen, die in der Bundes- man manchmal, vor allem vonseiten der Linken, die
wehr treu ihren Dienst leisten, den Soldaten in den Ein- Wehrpflicht sei im Grunde ein Instrument der Militari-
satzgebieten und zu Hause und auch den zivilen Be- sierung. Nein, die Wehrpflicht war in der Geschichte der
schäftigten. Bundesrepublik ein wichtiges Instrument zur Einbettung
des Militärs in demokratische Strukturen, und dafür soll-
Herr Kollege Arnold, wenn dies Ihr Maßstab ist, kann ten wir dankbar sein. Dank verdienen auch all die, die
(B) ich nicht verstehen – das hat mir weniger gefallen, als der Wehrpflicht nachgekommen sind und als Reservisten (D)
ich es in den Zeitungen gelesen habe –, dass Sie mit über die ganze Zeit ihren Dienst geleistet haben.
Blick auf Oberst Klein und nach all dem, was geschehen
ist, noch nachtreten und ihn in einer Art und Weise be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
handeln, die er nicht verdient hat. Das muss ich Ihnen an bei Abgeordneten der SPD – Johannes Kahrs
dieser Stelle sagen. [SPD]: Dann dürft ihr sie jetzt aber nicht ab-
schaffen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Haus- – Lieber Kollege Kahrs, das enthebt uns ja nicht der
haltsberatung zeigt, dass wir eine wichtige Weichenstel- Überprüfung, ob die Wehrpflicht angesichts der aktuel-
lung vornehmen. Dem großen Umformungs- und Struk- len und zukünftigen Herausforderungen noch die rich-
turveränderungsprozess unserer Streitkräfte müssen wir tige Wehrform ist.
den notwendigen finanziellen Rückhalt geben.
Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass man
Herr Kollege Arnold, Sie haben gesagt, dass jetzt ver- bestimmte Elemente übernimmt. Wenn man die sicher-
schiedene Modelle vorgestellt werden, und dem Minister heitspolitische Analyse, die die Bundesregierung durch-
vorgeworfen, es ginge ständig hin und her. Das ist nicht führt, aber ernst nimmt, dann sieht man, dass die sicher-
ganz schlüssig. Denn der Minister hat im Grunde eine heitspolitische Begründung dafür nicht mehr gegeben
sehr stringente sicherheitspolitische Analyse vorgenom- ist. Die Panzerarmeen des Warschauer Paktes haben sich
men und sich daraufhin gefragt – das ist die entschei- Gott sei Dank aufgelöst. Wir brauchen keine entspre-
dende Frage –: Was ist im Hinblick auf die Abwehr von chende Anzahl Soldaten mehr, um die Wehrgerechtig-
Gefahr für unser Land notwendig, und welches sind die keit annähernd zu erreichen. Das ist aber auch das Pro-
Fähigkeiten, die unsere Streitkräfte vorhalten müssen? blem, das es zu lösen gilt. Wenn die sicherheitspolitische
Damit ist die Reihenfolge klar: Es geht um den Schutz Begründung nicht mehr vorhanden ist, dann stellt sich
des eigenen Landes, Deutschlands und seiner Bürger, die die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit – Stichwort:
Bündnisverteidigung und die internationalen Verpflich- Wehrgerechtigkeit. Dass diese Situation nicht neu ist, ist
tungen, die wir in NATO, EU und UN übernommen ha- jedem hier klar. Im Grunde hätte bereits der Schritt von
ben. Damit haben wir ein breites Spektrum an Fähigkei- 375 000 auf 250 000 Soldaten, der eine drastische Redu-
ten vorzuhalten. Deshalb ist es völlig legitim und auch zierung der Anzahl der eingezogenen Wehrpflichtigen
notwendig, einmal nachzufragen: Können wir mit der bedeutet hat, zu solchen Überlegungen führen müssen;
vorhandenen Struktur all diese Aufgaben so erfüllen, aber ich glaube, der Blick sollte nach vorne gerichtet
wie es notwendig ist? sein.
6116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)


(A) Der Blick ist richtig nach vorne gerichtet, wenn ich Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): (C)
sage: Die staatspolitische Begründung der Wehrpflicht Lieber Kollege Kahrs, ich habe nicht behauptet und
kann natürlich auch über die „Pflicht“ hinaus Wirkung werde nicht sagen, dass wir uns vom Bild des Staatsbür-
entfalten. In dem Augenblick, in dem gesagt wird: „Tu gers in Uniform verabschiedet haben. Natürlich sind un-
etwas für die Gemeinschaft, leiste etwas für dein Land“ sere Zeit- und Berufssoldaten – und sie waren es immer –
und man diesen Impetus durch die Neugestaltung der Staatsbürger in Uniform und Teil unserer Parlamentsar-
Freiwilligendienste erreicht – Herr Kollege Arnold, Sie mee. Aber Sie müssen mir doch zugestehen, dass ich
haben ja zu Recht ausgeführt, dass wir nicht nur für den sage, dass wir, wenn man von der Pflicht zur Freiwillig-
Wehrdienst, sondern auch für die anderen Dienste in die- keit übergeht, von dem Leitbild, dass jeder Bürger dieses
ser Gesellschaft zu einer Freiwilligkeit finden müssen –, Landes ein geborener Verteidiger desselben ist – das ist
sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg. ein Zitat von Scharnhorst –, ein Stück weit Abschied
nehmen. Deshalb habe ich betont: Umso wichtiger ist es,
(Beifall bei der CDU/CSU) dass wir das Prinzip des Staatsbürgers in Uniform und
Ich sage ganz eindeutig: Der Staatsbürger in Uni- die Innere Führung in den Streitkräften mit der entspre-
form war sicher ein wichtiges und notwendiges Ele- chenden Orientierung auf Auslandseinsätze weiterhin
ment. Ein Stück weit nehmen wir davon Abschied; der stark betonen. Nichts anderes wollte ich damit gesagt ha-
Staatsbürger als Soldat ist mit diesem Einschnitt im ben.
Grunde Vergangenheit. Das heißt aber nicht, dass die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eine Frage,
Soldaten nicht weiter Staatsbürger sind und ihre staats- die für mich beinahe noch entscheidender und wichtiger
bürgerlichen Rechte nicht in Anspruch nehmen. Was wir ist als die Frage der Wehrform, ist die Frage des Um-
alle gemeinsam verfolgen sollten, ist, dass das Prinzip fangs und der Fähigkeiten der Streitkräfte, die wir jetzt
der Inneren Führung, das unsere Armee im Vergleich zu neu definieren. Ich sage ganz offen: 163 500 Zeit- und
vielen anderen Armeen dieser Welt auszeichnet, inner- Berufssoldaten, von denen der Minister spricht, plus
halb der neuen Struktur neu definiert wird. Es kann uns 7 500 Freiwillige sind für mich persönlich die Unter-
nicht gleichgültig sein, wer den Nachwuchs stellt und grenze dessen, was ich für vertretbar halte.
welcher Geist in dieser neuen Bundeswehr herrscht. Ich
habe überhaupt keine Bedenken, dass dies ein guter (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist zu wenig!)
Geist sein wird, getragen von der Inneren Führung und Deutschland ist eine Landmacht in der Mitte Europas.
vom Leitbild des Staatsbürgers in Uniform. Wir haben entsprechende Verpflichtungen gegenüber
den Bündnispartnern, vor allem im Osten, wo noch be-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stimmte Ängste vorhanden sind und wo man schon von
(B) Herr Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der schieren Zahl her bestimmte militärische Optionen (D)
des Kollegen Kahrs? und Fähigkeiten verkörpert, auch gegenüber der NATO.
Ich meine, das müsste noch einmal überprüft werden,
auch in finanzieller Hinsicht. Man sollte, Herr Kollege
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
Bonde, nicht in einen Wettbewerb von Zahlen verfallen,
Aber gerne. sondern in einen Wettbewerb um Fähigkeiten eintreten
und – möglicherweise in Absprache mit den europäischen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bündnispartnern – schauen, was angesichts einer Sicher-
Herr Kahrs, bitte. heitsvorsorge notwendig ist.
Ich persönlich wünsche mir ein funktionsfähiges, füh-
Johannes Kahrs (SPD): rungsfähiges Landheer. Wir sind eine Landmacht, die
Herr Kollege Beck, ich habe in den letzten Jahren ge- Landstreitkräfte braucht. Im ozeanischen Zeitalter brau-
meinsam mit Ihnen für die Wehrpflicht gestritten. Das chen wir eine Marine, die unsere Interessen entspre-
haben wir gut hinbekommen, egal ob Rot-Grün oder die chend vertreten kann. Herr Kollege Koppelin, Sie haben
Große Koalition in diesem Land regiert hat. auf die Sanität hingewiesen, etwa ein Attraktivitätspro-
gramm für den medizinischen Bereich. Auch das scheint
Wie man das, was Sie machen, bewertet – geschenkt. mir unbedingt notwendig zu sein. Es wird Sie nicht wun-
Die Probleme, die Sie deswegen in Ihrer Partei und mit dern, dass ich sage: Wir brauchen auch bei Freiwilligen-
Ihren Wählern haben, müssen Sie selber aushalten. Aber streitkräften eine gut strukturierte, engagierte und quali-
wenn Sie sagen, dass der Staatsbürger in Uniform mit fizierte Reserve. Hierfür brauchen wir eine neue Reser-
der Abschaffung der Wehrpflicht nicht mehr Realität sei, vistenkonzeption, die Nachhaltigkeit und Aufwuchsfähig-
dann frage ich mich allen Ernstes, wo die Union gelan- keit garantiert.
det ist. Staatsbürger in Uniform sind auch der Zeitsoldat
und der Berufssoldat. Deswegen können Sie sich doch Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
nicht hier hinstellen und sagen – bei aller Freundschaft ginnen und Kollegen, die „größte gestalterische Heraus-
und aller Sympathie –, wenn die Wehrpflicht weg sei, forderung“ hat der Minister diesen Prozess genannt. Es
seien die Zeit- und Berufssoldaten nicht mehr Staatsbür- geht nicht nur um Umfang und Struktur, sondern auch
ger in Uniform. Dann weiß ich überhaupt nicht mehr, um den entsprechenden Aufbau des Ministeriums. Es
wohin die Union will. geht um eine Neuformulierung von Ablauforganisationen,
von Materialbeschaffung und Materialerhaltung. Dies ist
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein wichtiges, ein großes und ein mutiges Projekt. Ich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6117
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
(A) meine, dass der Minister dafür die Unterstützung des lerin dazu in der Financial Times Deutschland zum Aus- (C)
Hauses verdient. Die Unterstützung meiner Fraktion hat druck gebracht, dass darüber noch nicht das letzte Wort
er auf jeden Fall. gesprochen worden sei; wegen 2 Milliarden Euro würde
sie die deutsche Sicherheit niemals infrage stellen, ge-
Vielen Dank.
schweige denn gefährden. Was gilt denn nun? 8,3 Milli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) arden minus 2 Milliarden sind 6,3 Milliarden. Sind es
5 Milliarden oder 1,5 Milliarden Euro? Das ist das Ergeb-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nis einer Struktur, aus der nicht erkennbar ist, wohin die
Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Brinkmann Reise gehen soll. Ein Blick in die Finanzplanung zeigt,
für die SPD-Fraktion. dass Sie auch im Hinblick auf die beiden letzten Jahre
einen hohen Milliardenbetrag in die nächste Legislatur-
(Beifall bei der SPD) periode verschieben. Das hat mit Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit nichts zu tun.
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
(Beifall bei der SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Was die Ausgabenblöcke im Verteidigungshaushalt
Koppelin, nicht nur, weil Sie gestern einen besonders angeht, wird deutlich, dass ein hoher Prozentsatz, näm-
schönen Geburtstag gefeiert haben, sondern weil es auch lich ungefähr 53 Prozent, für Personalkosten und Pen-
völlig richtig ist, was Sie zu den Problemen bei der Sani- sionslasten vorgesehen ist. Auch wenn man die Bundes-
tät gesagt haben, will ich zu Beginn meiner Ausführun- wehr verkleinert – um welche Größenordnung auch
gen deutlich darauf hinweisen, dass dies auch die volle immer; darüber kann man sich austauschen oder auch
Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion finden wird. darum ringen; ich will auch ausdrücklich aufgreifen, was
Sie gesagt haben, Herr Minister, nämlich dass es dazu ei-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) nen breitestmöglichen Konsens geben sollte – und die
Allerdings ist das Problem nicht erst seit gestern be- Zahl der Zeit- und Berufssoldaten um eine Größenord-
kannt, sondern schon etwas länger. Hier besteht dringen- nung X reduziert, werden diese Ausgaben nicht in voller
der Handlungsbedarf wie in vielen anderen Bereichen Höhe eingespart; denn wer nicht mehr dient, hat An-
auch, auf die ich im Laufe meiner Ausführungen noch spruch auf Pension. Insofern fordere ich Sie auf bzw.
zurückkommen werde. bitte ich Sie herzlich: Legen Sie im Laufe der Haushalts-
beratungen die Berechnungen vor, welche Einsparung
Wer ernsthaft behauptet, mit der Globalen Minderaus- unter dem Strich netto erzielt wird, damit wir Haushälter
gabe und den Kürzungen, die Sie, die CDU/CSU und die genau wissen, worauf wir uns in diesem Bereich einzu-
(B) FDP, zu verantworten haben, könnte die Truppe gut le- (D)
richten haben.
ben, der redet zu einem Prozentsatz jenseits der
90 Prozent an den Realitäten vorbei. Ich bin dem Kollegen Beck dankbar, dass er sich bei
den Soldatinnen und Soldaten bedankt hat, die hier im
(Beifall bei der SPD) Land und darüber hinaus in Auslandseinsätzen – das
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen. gilt auch für die zivilen Beschäftigten und viele andere –
ihren Dienst leisten. Er ist nicht einfach und teilweise
Der Minister hat eine Sommerreise gemacht. Viele auch gefährlich. Ich zolle ausdrücklich allen Soldatinnen
Kolleginnen und Kollegen waren ebenfalls in der Som- und Soldaten sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
merpause unterwegs. Ich habe mir das auch in dieser tern der Bundeswehr höchste Anerkennung und spreche
Zeit zu eigen gemacht und mich vor Ort informiert. Herr ihnen großen Dank aus. Ich gehe davon aus, dass das
Minister zu Guttenberg, wenn wir Attraktivitätssteige- – ausschließlich der linken Seite dieses Hauses – einen
rung gemeinsam wollen, ist es nach meiner festen Über- gemeinsamen Beifall finden kann.
zeugung unerträglich, dass Soldatinnen und Soldaten,
die nach Berlin reisen, um sich weiterzubilden und an (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
Plenardebatten teilzunehmen, ihre Fahrtkosten selber zu und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zahlen haben, weil dafür kein Geld mehr zur Verfügung
Wenn man die Diskussion über das Thema Wehr-
steht. Das ist ein Skandal. Dies müsste relativ schnell in
pflicht verfolgt, dann stellt man beeindruckt fest, wie
Ihrem Haus, Herr Minister zu Guttenberg, im Interesse
sich innerhalb weniger Monate festgefügte Meinungen
und zugunsten der Soldatinnen und Soldaten pragma-
verändern. Ich war 1970 bei der Bundeswehr, und zwar
tisch gelöst werden.
– damals war dort eine stationiert – bei einer Panzergre-
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der sich nadierbrigade in Hildesheim. Schon damals haben wir
wie ein roter Faden durch die Haushaltsberatungen zie- über dieses Thema diskutiert. Natürlich ging es um ganz
hen wird. Die Größenordnung des Einsparvolumens andere Prozentsätze bei der Einberufungsquote. Aber ei-
ist mehr als nebulös. Zunächst wurde eine Summe von nes steht fest: Nachdem Sie den Grundwehrdienst auf
8,3 Milliarden Euro angekündigt. Dann ist aufgrund der sechs Monate reduziert hatten, war der nächste Schritt
absehbaren Faktoren berechnet worden, wo man denn nicht mehr zu verhindern. Wir werden im Laufe der
landen könnte. Es gibt Berechnungen des Finanzministe- nächsten Zeit erleben – wenn es nach der FDP geht, wird
riums und des Bundeskanzleramtes, die auf 1,5 Milliar- es etwas schneller gehen –, dass wir uns Schritt für
den Euro kommen. Das ist von 8,3 Milliarden Euro weit Schritt auf eine Berufsarmee zubewegen. Wenn das denn
entfernt. Kurz vor der Sommerpause hat die Bundeskanz- gewollt ist
6118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bernhard Brinkmann (Hildesheim)


(A) (Elke Hoff [FDP]: Das ist vollkommener Respekt vor dem Hause gezeigt und die Szenarien und (C)
Quatsch!) ihre Konsequenzen aufgezeigt haben, wenn wir uns so
oder so entscheiden, und zwar auch vor dem Hinter-
– Frau Hoff, ich mache ja einen Vorbehalt –, sollten wir grund der finanziellen Situation. Ich bin sehr froh, dass
bereit sein, sehr offen darüber zu diskutieren, wie viel zum ersten Mal ein Minister gesagt hat: Es gibt – auch
eine Berufsarmee letztendlich kostet und welche Belas- im Haus selbst – keine Denkverbote. Sie haben damit ei-
tungen sie für künftige Bundeshaushalte bringt. nen Prozess im Haus in Gang gesetzt, der schon lange
Die Sicherheit Deutschlands und die Bewältigung überfällig war. Wir haben in den vergangenen Jahren
der damit verbundenen Herausforderungen für unsere auch in diesem Haus immer wieder beklagt, dass die
Streitkräfte müssen auch künftig durch die erforderli- Bundeswehr unter verkrusteten Strukturen und unter
chen Finanzmittel gewährleistet sein. Daher muss die Zwängen leidet, die nicht nur den Einsatz, sondern auch
Bundesregierung schnell und klar eine Antwort auf die die Motivation der Soldatinnen und Soldaten nachhaltig
Frage finden, welche Bundeswehr wir uns künftig noch beeinträchtigen. Es ist Ihnen und unserer Koalition zu
leisten wollen. Einige Zeit ist darüber gesprochen wor- verdanken, dass wir diese mutigen Schritte nach vorn
den, welche wir uns noch leisten können. Das war aber machen. An dieser Stelle möchte ich meinen persönli-
eine falsche Vorgehensweise. chen Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU zum Ausdruck bringen. Ich weiß, dass
In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausschussbe- das für Sie schwer war. Sie haben aber bewiesen, dass
ratungen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Sie aufgrund der Faktenlage in der Lage sind, anhand
(Beifall bei der SPD) von Sachargumenten Ihre Positionen zu überdenken.
Hier hat auch der Generalinspekteur eine hervorragende
Rolle gespielt. Das möchte ich an dieser Stelle ganz klar
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zum Ausdruck bringen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP) Herr General Wieker, Sie haben uns Parlamentariern
durch Ihre nüchterne, sachbezogene und sehr klare Vor-
Elke Hoff (FDP): lage von Informationen die Möglichkeit eröffnet, diese
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! schwierigen Schritte zu vollziehen. Ich bin überhaupt
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- nicht bange, dass sich unsere Soldatinnen und Soldaten
ren! Ein etwas störender Aspekt in dieser Debatte ist die nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft befinden. Es ist
übrigens ein Nebenaspekt, den man nicht hoch genug
(B) Begriffsverwirrung. Deswegen nehme ich Ihre Äußerun- (D)
gen zum Anlass, lieber Herr Kollege Brinkmann, um die einschätzen kann und den ich sehr begrüße, dass über
Position meiner Fraktion noch einmal klarzumachen. eine Reform des Wehrdienstes junge Frauen endlich die
Wir sind für eine Freiwilligenarmee. Wir sind für die Möglichkeit haben, von Anfang an gleichwertig mit ih-
Aussetzung der Wehrpflicht. Wir sind für einen vernünf- ren männlichen Kollegen Zugang zu den Streitkräften zu
tigen Anteil an Kurzzeitdienenden. Hier haben wir eine finden, und zwar auch im Sinne eines freiwilligen Enga-
etwas andere Auffassung als der Minister; darüber wer- gements für unsere Gesellschaft.
den wir diskutieren müssen. Wir sind in keinem Fall für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
eine Berufsarmee. Wir sind weiterhin glühende Anhän- der CDU/CSU)
ger einer Parlamentsarmee.
Wir werden die qualifizierten jungen Frauen in Zukunft
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst- mehr denn je brauchen, nicht nur, weil sie in vielen Be-
Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]) reichen qualifizierter sind, sondern auch, weil uns die
demografische Entwicklung dazu bringen und auch
Ich muss an dieser Stelle auf Paul Schäfer eingehen.
zwingen wird, die Bundeswehr für alle gesellschaftli-
Der Versuch, den Eindruck zu erwecken, dass ein globa-
chen Gruppen zu öffnen. Insofern ist es wichtig, dass wir
les Expeditionskorps oder eine Interventionsarmee durch
eine vernünftige Nachwuchsgewinnungsstruktur auf den
den geplanten vernünftigen Umbau der Bundeswehr auf-
Weg bringen, die flächendeckend ist, und dass die Bun-
gebaut werden soll, läuft schon alleine deswegen völlig
deswehr attraktiver wird.
fehl, weil dieses Haus an dieser Stelle über jeden Einsatz
der Bundeswehr entscheiden wird und nicht die Bundes- Die entscheidenden Momente sind nicht, wenn wir im
regierung oder der Bundesminister der Verteidigung. Parlament entscheiden. Die Arbeit fängt danach an. Es
Das ist für uns alle ein hohes Gut. muss uns gelingen, die Lebenswirklichkeit junger Män-
ner und Frauen auch in den Streitkräften abzubilden. Die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vereinbarkeit von Dienst und Familie wird ein ganz
der CDU/CSU)
wesentliches Moment für die Attraktivität des Arbeitge-
Eben wurde kritisiert, der Minister habe mehrere Mo- bers Bundeswehr sein.
delle vorgelegt und habe sich nicht klar und deutlich für
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
eines ausgesprochen. Art. 87 a des Grundgesetzes sagt
der CDU/CSU)
eindeutig, dass sich Umfang und Struktur der Streitkräfte
aus dem Haushaltsplan ergeben. Ergo entscheidet das Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinzu kommt:
Parlament darüber. Herr Minister, ich begrüße, dass Sie Wenn wir so viel Wert darauf legen, dass die Bundes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6119
Elke Hoff
(A) wehr in der Mitte der Gesellschaft ist, dann müssen wir nutzte Monate für junge Menschen. – Derselbe vor zwei (C)
– stärker, als wir es in der Vergangenheit bewirkt haben – Monaten: Es wäre fatal, die Wehrpflicht abzuschaffen. –
endlich zu Verbesserungen für die Soldatinnen und Sol- Derselbe Minister vor zwei Tagen, überraschenderweise
daten im Einsatz kommen, die an Seele und Körper in einer Talkshow und nicht im Parlament – ich zitiere –:
verwundet aus dem Einsatz zurückkommen. Es ist heute
mit Recht sehr häufig den Soldatinnen und Soldaten und (Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD]: Das ist doch
den zivilen Mitarbeitern gedankt worden. Ich finde, wir so üblich!)
müssen an dieser Stelle auch den Familienangehörigen, Die Musterung ist ebenso schwer zu rechtfertigen wie
den Freunden und den Bekannten von den Soldatinnen die Wehrpflicht als solche. – In einem anderen Zusam-
und Soldaten danken, die damit leben müssen, dass das menhang hat er erklärt, W 6 sei ein entbehrlicher
Leben ihrer Partner, wenn sie aus einem Einsatz zurück- Schnupperkurs. Herr Minister, ich weiß nicht, welches
kommen, in den wir sie geschickt haben, aus den Fugen Getränk der Erleuchtung Sie in den letzten zwei Mona-
geraten ist und nichts mehr so ist, wie es vor dem Einsatz ten getrunken haben. Es wäre schön, dieses in den eige-
war. Hier fängt unsere Verantwortung an. Ich glaube, nen Reihen weiterzureichen. Ich kann nur sagen: Die
dass wir an dieser Stelle – wenn wir uns um genau diese Hoffnung, zu verstehen, was Sie eigentlich wollen, habe
Soldatinnen und Soldaten mehr als bisher kümmern – ich längst aufgegeben. Mein Eindruck ist: Sie wissen
wirklich beweisen können, dass die Bundeswehr in der selber nicht, was Sie wollen, und Sie wollen es auch
Mitte der Gesellschaft ist. Ich wäre sehr dankbar, wenn nicht wissen. Wenn das anders wäre, hätten Sie wenigs-
wir das gemeinsam schaffen würden. tens den Übergangsmurks – wir haben derzeit eine
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Wehrpflicht von sechs Monaten –, den Sie wider besse-
SPD) res Wissen vor wenigen Wochen verabschiedet haben, in
den Haushalt geschrieben. Nicht einmal das steht im
Es wurde eben auch über das Thema Einsparungen Haushalt. Das heißt, wir beraten heute über einen Einzel-
geredet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, plan, der Makulatur ist.
wenn wir alle der Meinung sind, dass Sicherheitspolitik
nicht nach Kassenlage erfolgen soll, dann werden wir ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nen attraktiven Arbeitgeber Bundeswehr finden und uns und bei der SPD)
durchaus mit dem Gedanken anfreunden, dass wir Ein-
sparziele erreichen wollen – wenn auch vielleicht nicht Es gibt aber noch mehr Probleme. Sie haben es ge-
so schnell wie geplant – und dass das eine gemeinsame schafft, in den letzten Monaten zu jeder erdenklichen
Anstrengung ist. Ich glaube, dass wir als Parlamentarier Frage jede erdenkliche Position einzunehmen,
von unserem Recht Gebrauch machen, über Struktur und (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) Umfang der Streitkräfte so zu entscheiden, wie es die Si- (D)
NEN]: Herr Seehofer war immer dagegen!)
cherheitsbedürfnisse und die Sicherheitslage unseres
Landes und unsere Bündnisverpflichtungen erfordern. was dazu führt, dass Sie, völlig gleichgültig, was heraus-
kommt, sagen können: Das habe ich doch gesagt. – Das
Ganz kurz an dieser Stelle, bevor ich fertig bin: Kol-
ist beliebig. Beeindruckend dabei ist, dass Sie es schaf-
lege Schäfer, gerade der Balkan, gerade der Kosovo, hat
fen, diese Beliebigkeit in Zahlen zu gießen. Das nennt
deutlich gemacht, dass eine militärische Intervention in
sich dann Wehretat 2011. Wer so beliebig ist, muss sich
politischen Situationen dazu führen kann, dass Men-
natürlich Sorgen machen, ob das Auditorium tatsächlich
schen und Nationen am Ende der Reise in Frieden und
wach ist. Das ist eine berechtigte Frage. Da diese Ange-
Freiheit leben können. Das Kind hier mit dem Bade aus-
legenheit aber sehr ernst ist, kann ich Ihnen versprechen,
zuschütten und zu sagen: „Wir brauchen die Streitkräfte
dass wir sehr wachsam sind und zuschauen, was Sie ei-
für solche Dinge nicht“, halte ich an dieser Stelle für
gentlich treiben.
politisch verfehlt.
(Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Bartels Ich komme zu den fünf Modellen. Sie scheinen in Ih-
[SPD]) rem Haus eine unglaubliche Überkapazität zu haben. Im
Übrigen: Herr Generalinspekteur, vielen Dank für Ihre
Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit seriöse und detaillierte Arbeit. Herr Minister, Sie lassen
bedanken und wünsche dem Minister und uns allen viel in Ihrem Haus fünf Modelle erarbeiten und sagen von
Erfolg bei der Umsetzung dieser sehr ehrgeizigen Re- vornherein, vier von diesen seien überhaupt nicht mach-
form. Vielen Dank. bar.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Michael Brand [CDU/CSU]: Stimmt doch
nicht!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Der Kollege Omid Nouripour ist nun der nächste Frau Kollegin Hoff, diese fünf Modelle sind keine ech-
Redner aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ten Modelle, wenn der Minister so nebenbei sagt, das
eine sei nicht finanzierbar und mit dem anderen sei die
Bündnisfähigkeit nicht gewährleistet. Das ist nicht ernst
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gemeint.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Karl-
Theodor zu Guttenberg vor sechs Monaten – Zitat –: Die (Elke Hoff [FDP]: Das ist seine Einschät-
verkürzte Wehrpflicht W 6, das sind sechs bestens ge- zung!)
6120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Omid Nouripour
(A) Er scheint es nur mit einem einzigen Modell ernst zu Spielchen zu schützen; stattdessen tragen Sie das Chaos (C)
meinen. Herr Kollege Arnold hat gesagt, was daran un- in den eigenen Reihen, allen voran in der CSU, in die
redlich ist. Es fehlen dort einige Elemente. Ich weiß Bundeswehr hinein. Sie machen nicht Sicherheitspolitik
nicht, ob ich ihn ernst nehmen soll, wenn der Minister nach Kassenlage, Sie machen Sicherheitspolitik nach
sagt, das einzige Modell, das einen Sinn ergebe, sei das Parteitagsterminen, und das ist nicht das, was die Solda-
Modell mit 163 500 Soldaten, aber die Zahl sei gar nicht tinnen und Soldaten, die einen knochenharten Job ma-
so wichtig und könne nach oben korrigiert werden, das chen, verdienen.
sei relativ egal. Das zeugt nach meiner Ansicht von Be-
liebigkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Niemand weiß, wohin die Reise geht. Die Generalität
(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist eine fal-
weiß es nicht. Die einzelnen Soldatinnen und Soldaten
sche Interpretation!)
wissen es nicht und ihre Familien auch nicht. Sie müss-
Dabei braucht die Bundeswehr jetzt Führung, Überblick ten jetzt Kapitän sein. Stattdessen sind Sie ein Verkäufer
und Voraussicht. Das alles ist nicht sichtbar. von Last-Minute-Reisen. Sie sagen uns: Da, wohin wir
gehen, wird es ganz schön, aber was genau das Ziel ist,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erkläre ich euch dann, wenn wir angekommen sind. –
Ein Problem habe ich: Ich muss Sie jetzt eigentlich Das ist nicht das, was die Bundeswehr braucht. Das ist
loben – das ist nicht mein Job als Oppositionspolitiker –, nicht verlässlich. So führt man diese Armee nicht in ei-
weil Sie Realitätssinn gezeigt haben, indem Sie sich end- nen sicheren Hafen.
lich an die Wehrpflicht herangewagt haben. Das hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
keine große Tradition in Ihren Reihen. In diesem Zusam- Elke Hoff [FDP]: Das war eine schlechte
menhang muss ich ein Wort zur Sozialdemokratie los- Rede!)
werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
sieben Jahre lang gemeinsam regiert. Hätten Sie damals
die Blockade, die ich bis heute nicht verstehe, aufgege- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ben und gemeinsam mit uns die Wehrpflicht abgeschafft, Das Wort hat nun Kollegin Karin Strenz für die CDU/
was wir damals gefordert haben – das war damals ge- CSU-Fraktion.
nauso sinnvoll wie heute –, dann könnte der Minister (Beifall bei der CDU/CSU)
heute nicht den harten Macher spielen und die Bundes-
wehr hätte sich in den zehn Jahren strukturell weiterent-
wickelt. Es ist sehr bedauerlich, dass dies damals nicht Karin Strenz (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
(B) gelungen ist. Kollegen! Bei aller Pflicht zum Sparen ist klar: Wir kür- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zen nicht auf Kosten der Sicherheit unserer Soldaten.
Wer Soldaten in den Einsatz schickt, muss nicht nur für
Die Bundeswehr braucht Führung, weil die beabsich-
die bestmögliche Ausbildung und Ausrüstung sorgen,
tigten Einschnitte immens sind. Zur Führung gehört aber
sondern auch für die bestmögliche Betreuung. Das gilt
auch, dass man die Ziele benennt und sagt, was man ei-
für die Zeit im Einsatz genauso wie danach. Ich bin der
gentlich vorhat. Sie wollen Strukturen schaffen, alles auf
Kollegin Elke Hoff für ihre Einlassungen zu seelischen
den Kopf stellen und verändern und am Ende ein neues
Verwundungen sehr dankbar; darauf möchte ich mich
Weißbuch herausgeben. Das ist komplett falsch. Sie
konzentrieren.
müssen erst die Aufgabenkritik machen und formulie-
ren, was die Bundeswehr können muss. Sie müssen zu- Mehr als 460 Kameraden ließen sich im vergangenen
erst beschreiben, welche Fähigkeiten wir brauchen, und Jahr wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen
dann können Sie die Strukturen verändern. Sie dürfen behandeln – doppelt so viele wie im Jahr 2008. In die-
aber nicht Fakten schaffen und die Debatte komplett auf sem Jahr werden es wahrscheinlich 600 traumatisierte
den Kopf stellen. So ergibt das überhaupt keinen Sinn. Frauen und Männer sein. In Wahrheit aber sind es sehr
viel mehr; denn die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es ist un-
Ich nenne als Beispiel die vernetzte Sicherheit. Alle
sere Pflicht, die seelischen Wunden genauso ernst zu
wissen – das ist Konsens in diesem Hohen Hause –, dass
nehmen wie die körperlichen. Soldaten erleben im Ein-
die komplexe Sicherheitsrealität des 21. Jahrhunderts
satz Grausamkeiten, die sie manchmal nicht ohne pro-
nur ein Instrument kennt, mit dem man arbeiten kann,
fessionelle Hilfe verarbeiten können. Oft dauert es vier-
und das ist die vernetzte Sicherheit. Ich finde das bei Ih-
einhalb Jahre – viereinhalb Jahre! –, bis ein Soldat eine
nen bisher nicht. Ich weiß nicht, wo das vorkommen
einsatzbedingte Traumatisierung überhaupt erkennt und
soll, wo sich das in den Strukturen findet. Im Übrigen
zugibt. Deshalb reicht es nicht, nur die Vorgesetzten zu
fehlt auch ein Bekenntnis zum Primat des Zivilen. Das
sensibilisieren. Wir alle müssen diese besondere Krank-
werden wir möglicherweise in zwei Jahren in einem
heit aus dem Schatten holen.
Weißbuch lesen, wenn die Debatte um die Reform der
Bundeswehr vorbei ist. Da die seelisch Verwundeten doch im Dienst für un-
seren Frieden und für unsere Sicherheit ihr Leben ris-
Der Kahn „Bundeswehr“ ist in schwierigen Gewäs- kiert haben, ist es selbstverständlich unsere Pflicht, ih-
sern; das wissen wir alle. Auch den Reformbedarf ken- nen zu helfen, gesund ins Leben zurückzufinden.
nen wir alle. Es wäre jetzt Ihre Aufgabe als Verteidi-
gungsminister, die Bundeswehr vor parteipolitischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6121
Karin Strenz
(A) Eine seelische Wunde darf kein Stigma sein. Wer sich zu auch Ärzte, die bereit sind, in den Auslandseinsatz zu (C)
seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwächling. gehen. Es stellt sich die Frage: Wie kann man das lösen?
Gerade vorgestern saß in meinem Büro ein Soldat aus Erstens vielleicht mit Planungssicherheit. Auch ein
meiner Heimat; nachgewiesen PTBS. Auf dem Tisch Bundeswehrarzt will wissen, wo er die nächsten fünf
zwischen ihm und mir: ein Aktenberg. Er musste einen Jahre arbeiten und mit seiner Familie leben wird. Das
langen Weg durch viele Instanzen gehen, um sich in ei- kostet nichts.
nem Wirrwarr von Zuständigkeiten und Gesetzen zu-
rechtzufinden. Er hat nicht die optimale Für- und Nach- Zweitens vielleicht mit Bemühen um Konkurrenzfä-
sorge erfahren. Auch das ist noch Realität, aber das wird higkeit und Bürokratieabbau. Die Bundeswehr steht im
sich ändern. Nicht nur dieser Mann braucht Hilfe, nicht Kampf um Bewerber zivilen Kliniken gegenüber. Hier
nur er wird die Bilder aus dem Einsatz nicht los, liegt spielt Geld sicher eine Rolle, aber nicht nur. An der an-
nachts wach, schreckt auf, wenn draußen eine Autotür gemessenen Vergütung von Bereitschaftsdiensten und
zuknallt, und war fast dabei, sich aus dem Leben zu ver- Rufbereitschaften arbeitet der Minister bereits. Aber un-
abschieden. klare Kompetenzen sind für Bewerber ein Ärgernis. Es
dauert oft drei bis vier Monate, mitunter sogar ein halbes
Wir haben die Soldaten in den Einsatz geschickt. Wir Jahr, bis ein Arzt eingestellt wird. Ich frage Sie: Wer hat
müssen ihnen auch die Rückkehr garantieren. Damit so viel Geduld? Dies zu ändern, kostet nichts.
meine ich: teilnehmen am Leben, die Kinder zur Schule
bringen, dem Partner zur Seite stehen können und den Drittens vielleicht durch höhere Anerkennung des Be-
Alltag meistern. Das gilt auch für ihre Familien; denn in rufsbildes. Wir müssen den Ärzten die Angst vor dem
gewisser Weise ziehen sie selbst mit in den Einsatz. Einsatz nehmen. Schon in der Ausbildung muss eine
Auch sie müssen mit ihren Sorgen kämpfen. Einsatzrealität präsent sein. Dieser Job ist eben anders
als der der Kollegen im Kreiskrankenhaus nebenan. Sie
Was sie allerdings sehr beruhigt – das als ein Beispiel –, werden vielleicht selbst in Gefahr sein, sie werden Le-
ist das Krankenhaus in Masar-i-Scharif – ich war dort –, ben retten müssen, im Gefecht.
welches mit modernster Technik und großem Know-how
ausgestattet ist und um das uns andere Nationen benei- Es wäre, meine Damen und Herren, sehr viel einfa-
den. Es gibt Sicherheit, ein Höchstmaß an Qualität und cher, wenn manch einer hier in sich kehren würde und
schnellstmögliche Hilfe. Soldaten, ob Feldjägern oder Medizinern, den gleichen
Respekt entgegenbringen würde wie dem Feuerwehr-
Das Berliner Psychotrauma-Zentrum im Bundes- mann, dem Polizisten und den Einsatzkräften des THW
wehrkrankenhaus stellt sich den enormen Herausforde- in der Heimat; denn sie alle riskieren ihr Leben für uns.
(B) rungen, etwa bei der lückenlosen Erfassung und Behand- (D)
lung von PTBS-Patienten, aber auch bei der Vernetzung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
von nationalem und internationalem Fachwissen. Dort, bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
wo wir Expertise haben, muss man das Rad nicht neu er- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
finden. Es hilft bei der Schulung des Personals von Fa- In der Attraktivitätsagenda 2011 des Bundeswehr-
milienbetreuungszentren zur Betreuung der Patienten Verbandes gibt es einige Vorschläge, die wir umsetzen
oder Soldaten und deren ebenfalls belasteten Familien. könnten und auch sollten, zum Beispiel bei Vereinbar-
Es steht für stärkere Vernetzung regionaler Betreuungs- keit von Beruf und Familie, bei der Regelung der Ein-
einrichtungen und Selbsthilfegruppen. Es geht auch um satzdauer und beim Laufbahnrecht. Ich denke, Herr
die Organisation einer professionellen Begleitung bei Minister, Sie selbst werden einige weitere Vorschläge
Versorgungsansprüchen. berücksichtigen wollen.
Das ist ein Fortschritt, aber auch eine große und
Dass es eine attraktivere Bundeswehr nicht zum Null-
schnell zu leistende Aufgabe. In diesem Fall heißt es
tarif geben kann, ist klar. Aber manches kostet eben den
nämlich nicht „Zeit ist Geld“, sondern „Zeit ist Leben“.
Mut, den Fehler im System, von dem so viele reden,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht nur erkennen zu wollen, sondern ihn einfach abzu-
stellen. Erst dann werden wir behaupten können, alles
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf aber nicht für das körperliche und auch für das seelische Wohl un-
nur für die aktiven Soldaten gelten, sondern auch für die serer Soldaten und ihrer Familien getan zu haben. Das ist
betroffenen Militärpfarrer und die Reservisten. Das ist unsere moralische Pflicht.
eine Frage der Gerechtigkeit und des politischen An-
stands. Herzlichen Dank.
Es ist kein Geheimnis, dass wir im Sanitätsdienst ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen akuten Personalmangel haben. Es fehlen Pfleger neten der FDP)
und Ärzte. So hat die Bundeswehr beispielsweise nur 23
Psychiater bei doppelt so vielen Planstellen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Frau Kollegin Strenz, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und
Es ist nicht leicht, Fachleute zu finden. Sie sind Mangel- alle guten Wünsche für die weitere Zusammenarbeit!
ware. Vorerst können nur Psychologen diese Lücke
schließen, und eine Dauerlösung ist das nicht. Es fehlen (Beifall)
6122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch für die CDU/ Parteitagen bekommen. Aber dieses Vorgehen in eine (C)
CSU-Fraktion. solche Kiste zu packen, wie Sie es getan haben, finde ich
ein bisschen unfair.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Herr Arnold, Sie beklagen, dass es Auswahlmöglich-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und keiten gibt. Ich finde es intellektuell redlich, dass man
Herren! Ich bin der Kollegin Strenz dankbar für den Bei- nicht davon spricht, es gebe keine Alternativen, sondern
trag, den sie geleistet hat, weil sie eine sehr menschliche dass man verschiedene Möglichkeiten präsentiert, wie
Seite der Bundeswehr aufgezeigt hat. Diese Seite ma- man vorgehen kann. Der Minister bleibt nichts schuldig,
chen wir uns nicht immer bewusst, wenn wir über Ein- wenn es um die Frage geht, welche Variante er für die
sätze reden, die Soldaten in Einsätze fern der Heimat geeignete und richtige hält.
schicken, in diese ständige Bedrohung mit Gefahr für
Leib und Leben. Auch die Tatsache, dass, wenn der Ein- (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Es
satz vorbei ist, nicht alles andere auch vorbei ist, sondern bleibt nur eine übrig! Das ist das Problem!)
manche Erlebnisse in den Menschen weiterarbeiten,
Es ist gegenüber dem Parlament ein völlig fairer Ansatz,
müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir hier
wenn man verschiedene Möglichkeiten durchrechnet
über die Bundeswehr reden.
und eine bestimmte Variante hervorhebt.
Der Verteidigungsminister hat gesagt: Strukturen und
Es wird noch im Herbst die Beschlüsse von Parteita-
Prozesse sollen konsequent an den Erfordernissen des
gen und die Ergebnisse der Weise-Kommission geben.
Einsatzes ausgerichtet werden. Ich glaube schon, Kol-
Dann sind wir mit der Festlegung des Umfangs der
lege Nouripour, dass diese Abfolge – Sie haben sie ange-
Streitkräfte durch. Danach schließt sich natürlich die
sprochen; das ist das Henne-Ei-Problem – das richtige
Frage an, wie es um die Standorte steht. Die klare An-
Herangehen ist. Während meiner Zeit bei der Bundes-
sage ist: Nicht vor Mitte des nächsten Jahres werden wir
wehr in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre
darüber Aufschluss in Form von Vorschlägen des Minis-
(Markus Grübel [CDU/CSU]: So jung ist der!) ters bekommen.
war die Lage natürlich völlig anders: Die Landesvertei- Die Festlegung von Ausrüstung und Ausstattung ist
digung stand im Vordergrund. Warschauer Pakt und der nächste Schritt, der folgen muss. Die Frage nach dem
NATO standen sich waffenstarrend in der Mitte unseres „level of ambition“, also danach – ich will hier im Parla-
Vaterlandes gegenüber. Wir mussten stark genug und so ment deutsch reden –, was die Bundeswehr leisten soll,
disloziert sein, dass der Gegner, bei dem eine aggressive hat erheblichen Einfluss auf Ausrüstung, Ausbildung
(B) Ideologie vorherrschte, abgeschreckt wurde, sich nicht und Gerät. Dieser Punkt beschäftigt den Haushaltsaus- (D)
traute, Einschüchterungsversuche zu unternehmen oder schuss natürlich ganz besonders.
uns gar militärisch anzugreifen.
Ich habe in diesem Jahr zur Entscheidungsvorberei-
Vor 20 Jahren ist im Zuge der deutschen Einheit die tung mehrere Wehrübungen gemacht und mehrmals die
Integration der unbelasteten Teile der Nationalen Volks- Truppe besucht. Ich will ausdrücklich sagen, dass der
armee hervorragend gelungen. Seitdem ist Schritt für Einsatz der Reservisten an den Heimatstandorten, von
Schritt der Übergang zu einer Armee im Einsatz erfolgt. denen aus Kontingente in den Einsatz gehen, sehr wich-
Es ist sicherlich richtig, dass wir uns, ausgehend von der tig ist. Permanent sind ungefähr 500 Reservisten im
Frage, was die Bundeswehr leisten soll, zunächst mit Auslandseinsatz. Diese Tatsache können wir nicht hoch
dem Umfang der Streitkräfte beschäftigen. Genau das genug würdigen. Auch in Zukunft soll ein sinnvoller
hat der Verteidigungsminister mit seinen Überlegungen, Einsatz der Reservisten möglich sein.
die auf den Arbeiten des Generalinspekteurs fußen und
für die ich ihm auch noch einmal ganz herzlich danken (Beifall bei der CDU/CSU)
möchte, getan. In diesen Überlegungen ist die Ausset- Beschaffungsvorhaben haben uns in den letzten Jah-
zung der Wehrpflicht enthalten. ren im Haushaltsausschuss schon häufig beschäftigt. Die
Ich finde es ein bisschen unfair, Herr Kollege Vorwürfe lauteten: zu teuer, zu spät und nicht alle Eigen-
Nouripour, dass Sie uns dafür loben, dass wir uns diesem schaften abdeckend, die gefordert sind. Solche Vorhaben
Thema nähern, werden wir uns eines nach dem anderen anschauen müs-
sen. Aber ich will dazu noch eines sagen: Als wir in
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zweiter und dritter Lesung den Haushalt 2010 behandelt
NEN]: Es ist immer unfair, Sie zu loben! – La- haben, habe ich gesagt, dass wir den Einzelplan 14 auf-
chen bei der CDU/CSU) grund seiner Enge, mit der er gestrickt ist, nicht mehr da-
für nutzen dürfen, um Strukturpolitik oder Sektorpolitik
und dass Sie zugleich unterstellen, hier würde Verteidi- zu betreiben. Wir sehen, dass wir im Bereich der Rüs-
gungspolitik nach Parteitagsterminen gemacht. Natür- tungsindustrie hervorragende Güter produzieren, mit de-
lich gibt es hier demokratische Entscheidungserforder- nen wir technologisch an der Spitze liegen. Die Bundes-
nisse, die Sie als ausgewiesene Basisdemokraten ohne regierung soll helfen – die entsprechende Aufforderung
Mühe nachvollziehen können müssten. Das behindert in ist aus meiner Sicht richtig –, den Markt zu erweitern,
diesem Jahr unsere Haushaltsberatungen ein wenig, da um die Exportmöglichkeiten auszubauen. Die Bundes-
wir letzte Gewissheit erst nach Beschlüssen von demo- regierung kann für unsere Industrie in diesem Bereich
kratisch legitimierten Delegiertenversammlungen wie Türen öffnen und ihr beim Exportgeschäft helfen. So
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6123
Klaus-Peter Willsch
(A) können wir die Technologieführerschaft in diesen Berei- Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu- (C)
chen erhalten oder vielleicht sogar noch ausbauen. sammenarbeit und Entwicklung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Die Probleme bei der Budgetplanung will ich aus-
drücklich belegen. Ich habe schon etwas zu den Abläu- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattie-
fen gesagt, bei denen sich natürlich Veränderungen erge- ren heute über einen Rekordhaushalt im Bereich der
ben können. Ich erlebe auch, dass aus dem wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung, ei-
parlamentarischen Raum verschiedene Zahlen genannt nen Haushalt, der, obwohl die Schuldenbremse schon
werden, die von dem abweichen, was der Minister als gilt, als einziger neben dem Bildungshaushalt nicht nur
seine Empfehlung vorlegt. nicht gekürzt wird, sondern einen – wenn auch kleinen –
Aufwuchs hat. Allein die Tatsache, dass hier nicht ge-
Ich bin weit davon entfernt zu sagen, wir machen Si- kürzt wird, ist schon ein Bekenntnis.
cherheitspolitik nach Kassenlage. Man muss aber zur
Kenntnis nehmen, dass Haushalte, über die man spricht, Ich weiß, dass in der folgenden Debatte von anderen
und Zahlen, die man aufschreibt, auf irgendeiner Grund- bestimmt gleich wieder der Ruf nach noch mehr Geld
lage basieren. kommen wird; denn das ist in jeder Haushaltsdebatte zu
diesem Etat so. Für alle diejenigen, die das fordern,
(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: möchte ich das Forschungsinstitut für soziale Entwick-
Haushalt ist immer nach Kassenlage!) lung der Vereinten Nationen zitieren, das da schreibt:
Jeder muss wissen, dass das, was an Zahlengerüst Die bisherige Armutsbekämpfung geht von fal-
vorliegt, auf Zahlen vom Jahresbeginn basiert, das heißt schen Annahmen aus. Sie hat sich jahrzehntelang
auf 156 000 plus 7 500, also 163 500 Soldaten, und dass auf die Dinge konzentriert, die fehlen, wie Unter-
für Attraktivierungsprogramme, die wir uns im Einzel- kunft, Lebensmittel und Gesundheitsvorsorge. Es
nen noch gar nicht ausgedacht haben, nur eine Grund- geht aber darum, die Ursachen, warum sie fehlen,
ausstattung vorgesehen ist. Jeder, der mehr will, also anzugehen.
nicht Verteidigungspolitik nach Kassenlage machen will,
muss bereit sein, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Genau das werden wir auch in diesem Haushalt noch
Allein mit der ausgebrachten globalen Minderausgabe in einmal beschreiben. Es geht uns darum, die Wirksam-
der Größenordnung von 838 Millionen Euro liegt noch keit der Entwicklungszusammenarbeit so zu erhöhen,
ein sehr schwerer Weg vor uns, den wir in den Detailbe- dass wir die Ursachen der Probleme in unseren Partner-
ratungen im Haushaltsausschuss bewältigen müssen. ländern beheben helfen können, damit unsere Partner-
Herr Präsident, ich sehe, meine Redezeit ist abgelau- länder im Idealfall irgendwann einmal auch ohne unsere
fen; daher komme ich zum Schluss. Ich bin – wie der Hilfe ihre Geschicke selbst lenken können.
(B) (D)
Kollege Koppelin – der Meinung, dass wir uns das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Thema BImA noch einmal ganz genau daraufhin anse-
hen müssen, ob das, was durch das BImA-Errichtungs- Wir sprechen über den Haushalt 2011. Im Jahr 2011
gesetz auf den Weg gebracht worden ist, wirklich schon wird das BMZ 50 Jahre alt. Der erste Bundesentwick-
Veranschlagungsreife hat. Vielleicht kann das ein wichti- lungsminister war Walter Scheel. Im Jubiläumsjahr ist
ger Ansatz für die Auskleidung der globalen Minderaus- mit mir als Amtschef die Federführung für dieses Res-
gabe sein. sort wieder bei den Liberalen gelandet. Wir müssen die
Frage beantworten: Was war eigentlich dazwischen?
Zum Schluss will ich der Hoffnung Ausdruck geben, Was war eigentlich in den Jahren nach Walter Scheels
dass Martin Walser recht hat. Wir sind auf einem Weg,
Amtszeit und vor Beginn meiner Amtszeit? Da müssen
bei dem wir noch nicht wissen, wie alles genau werden
wir zur Kenntnis nehmen, dass es Länder auf dieser Welt
wird. Aber ich glaube, dass wir uns in die richtige Rich-
tung bewegen und dass wir damit den Erfordernissen der gibt, die seit 40 Jahren Entwicklungshilfe bekommen
Truppe im Einsatz gerecht werden können. Martin Wal- und immer noch auf Platz 155 der Liste der ärmsten
ser sagt: Den Gehenden schiebt sich der Weg unter die Länder der Welt stehen, dass es manche Donor-Darlings
Füße. – Wir wollen hart daran arbeiten, dass das so ge- gibt, die sage und schreibe 60 Prozent ihres gesamten
schieht. Staatshaushalts durch Geber der internationalen Geber-
gemeinschaft finanzieren.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das zu hinterfragen, ist eine zwingende Vorausset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung, um gerade in schwierigen finanziellen Situationen
bei den Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Le-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gitimität dieses Etats immer wieder zu erwerben. Wir
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen brauchen die Legitimität durch eine höhere Wirksamkeit
nicht vor. unserer Entwicklungszusammenarbeit. Sonst wollen die
Wir kommen damit zum letzten Tagesordnungspunkt Bürgerinnen und Bürger als Steuerzahler womöglich ir-
für heute, dem Geschäftsbereich des Bundesministe- gendwann einmal das Geld nicht mehr für diese wichtige
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Aufgabe zur Verfügung stellen. Ich glaube, das wäre ein
wicklung, Einzelplan 23. enormer Fehler. Wirtschaftliche Zusammenarbeit ist
Ich erteile dem Bundesminister Dirk Niebel das Wort. nicht nur aus unseren Werten heraus zwingend notwen-
dig, sondern auch aus unseren eigenen Interessen heraus.
(Beifall bei der FDP) Beides müssen wir miteinander verbinden.
6124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dirk Niebel


(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tionen um das kümmern können, wofür ihr Name steht: (C)
Maßnahmen durchzuführen, die im Ministerium poli-
Ich bin nach wie vor der Überzeugung: Nicht die
tisch beschlossen worden sind.
Summe des ausgegebenen Geldes ist das Entscheidende,
sondern die Wirkung, die man damit erzielen kann. Die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ODA-Quote ist zur heiligen Kuh geworden. Bevor der
Saal auf der linken Seite beginnt, sich zu empören, Wir fördern, wo immer das möglich ist, Multi-Pur-
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich damit nur pose-Projekte. Das sind Projekte, bei denen man mit
Willy Brandt zitiert habe, den großen Nord-Süd-Politi- dem gleichen Euro mehrere Ziele erreicht. Die deutsche
ker, SPD-Bundeskanzler und Nobelpreisträger: Wenn es Entwicklungszusammenarbeit fördert den Bau des ersten
nach ihm ginge, sollte man von „heiligen Kühen“ und und einzigen Zementwerks in Namibia. Es handelt sich
„willkürlichen Messlatten“ ablassen. Hier stehe ich zu um die Direktinvestition eines deutschen Familienunter-
Brandt. nehmens, die nur mit Krediten unterstützt wird. Dieses
Projekt führt dazu, dass Namibia vom Zementimporteur
Ich stehe aber auch zu unseren internationalen Ver- zum -exporteur wird. Darum herum passieren viele an-
pflichtungen und stelle zugleich selbstbewusst fest, dass dere gute Dinge, die in der Region eine wirkliche Ent-
sich die Bundesrepublik Deutschland als drittgrößter Ge- wicklungsdynamik auslösen.
ber in der Entwicklungszusammenarbeit weltweit nicht
verstecken muss. Wir haben uns nicht vorzuwerfen, dass Wir werden noch in diesem Monat ein Folgeprojekt
wir uns zu wenig um die Partnergesellschaften in der auf den Weg bringen, das dieses Projekt im biologischen
Welt kümmern würden. Weil das so ist, werden Sie bei Bereich zusätzlich aufwertet: ein Debushing-Projekt, bei
Betrachtung dieses Haushalts, der – wenn es der Haus- dem eine Buschart, die dort ausgewildert ist, aber dort
haltsgesetzgeber mitträgt – einen kleinen Aufwuchs ha- biologisch nicht hingehört, genutzt wird, um das Ze-
ben wird, feststellen, dass das, was wir im letzten Jahr mentwerk zu befeuern. Wir werden dafür sorgen, dass
geschafft haben – eine deutliche Erhöhung der Mittel für diese Büsche mit einem Mähdrescher abgeerntet, ge-
die Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Wirt- schreddert und verfeuert werden. Wir werden mit einem
schaft um 51 Millionen Euro –, hier fortgeschrieben Euro, den wir dafür ausgeben – es geht um Kredite in
wird. Wir wollen weiterhin die Zivilgesellschaft stärken, Höhe von insgesamt nur 12,3 Millionen Euro, also um
bei uns, vor allem aber in den Partnerländern; denn dann kleines Geld –, sechs Ziele erreichen: Wir werden Sub-
werden die Zivilgesellschaften dort zu Kontrolleuren der sahara-Afrika stärken, nachhaltiges Wirtschaftswachs-
Partnerregierungen. tum schaffen, die ländliche Entwicklung fördern, die
Biodiversität schützen, die Armut bekämpfen und die
Wir stärken weiterhin die Zusammenarbeit mit der CO2-Emissionen dramatisch – um 130 Tonnen pro Jahr –
(B) deutschen Wirtschaft, weil wir der festen Überzeugung senken. (D)
sind – so steht es auch im Entwurf des Abschlussdoku-
ments des MDG-Gipfels in New York –, dass inklusives Wenn man solche Multi-Purpose-Projekte in der Zu-
Wirtschaftswachstum in unseren Partnerländern – eigene kunft intensiver pflegt, werden wir mit dem gleichen
Wertschöpfungsketten, die mit eigenen Arbeitsplätzen Euro bei höherer Wirksamkeit viel mehr für unsere Part-
und eigenen Einkünften zur Armutsbekämpfung beitra- ner erreichen können, als es in der Vergangenheit der
gen – der beste Weg ist, um hier zum Ziel zu kommen. Fall war. Dieser Haushalt ist ein guter Einstieg, dass wir
es schaffen werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir haben uns vorgenommen, die Arbeitsteilung zu Vielen Dank.
verbessern, die Kohärenz zu erhöhen. Das geht sogar so (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
weit, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Ministe-
riums eine deutsche Landwirtschaftsministerin den Ent-
wicklungsminister besucht hat und wir beide gemeinsam Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gewaltfrei eine Erklärung abgegeben haben, dass wir uns Das Wort hat nun Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.
für das Auslaufen der EU-Agrarexportsubventionen ein-
setzen, etwas, das Rot-Grün und Schwarz-Rot in der Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Vergangenheit nicht geschafft haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – und Kollegen! Herr Minister, das war eine sportliche und
Burkhard Lischka [SPD]: Das ist schon eine spannende Rede. Ich finde es interessant, dass Sie in Ih-
Leistung bei dieser Koalition!) rer Rede die Frage der Kohärenz der Politik angespro-
chen haben: Wie ist das zwischen den Ministerien abge-
Wir haben in Deutschland mit unseren Hausaufgaben stimmt?
begonnen; denn wenn wir von unseren Partnern mehr
Wirksamkeit verlangen, dann müssen wir das auch von Ich habe mir heute die Mühe gemacht, die Debatte
uns selbst verlangen. Deswegen reformieren wir die Ent- über die verschiedenen Einzelpläne, die die internationa-
wicklungsorganisationen im staatlichen Bereich der len Beziehungen betreffen, zu verfolgen. Eines hat sich
technischen Durchführung; hier sind wir auf einem gu- durch alle Debatten durchgezogen: In allen Einzelplä-
ten Weg. Wir werden Doppelstrukturen abbauen und die nen, die mit der internationalen Zusammenarbeit zu tun
Fähigkeit des Ministeriums zur politischen Steuerung haben, versagt diese Regierung. Sie hält ihre internatio-
zurückgewinnen, damit sich die Durchführungsorganisa- nalen Zusagen nicht ein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6125
Dr. Bärbel Kofler
(A) (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ (C)
NEN]: Das ist auch kohärentes Handeln!) DIE GRÜNEN]: HIV!)
– Das ist auch kohärentes Handeln, sehr richtig. Zur HIV-Bekämpfung. In Heiligendamm wurden
4 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2008 bis 2015
Schauen wir uns den vorliegenden Haushalt, den Sie zugesagt. Das sind in jedem Jahr Pi mal Daumen
als Rekordhaushalt bezeichnen, näher an. An den vorge- 500 Millionen Euro. Heute lese ich in der Presse zum
sehenen 6,1 Milliarden Euro sieht man, dass es sich um Thema Globaler Fonds:
einen stagnierenden Haushalt handelt. Im Vergleich zum
letzten Haushalt sieht man, dass sich nichts geändert hat. Bislang konnte die Bundesregierung lediglich für
Sie haben außerdem vergessen, ein paar Punkte anzufü- das Haushaltsjahr 2011 ihre Unterstützung zusagen.
gen, nämlich Ihre mittelfristige Finanzplanung, die Darüber hinaus ist Deutschlands Beitrag unsicher.
mittlerweile netterweise vorliegt. Wenn man sich die nä-
Der zuständige Beauftragte des Globalen Fonds, Herr
her betrachtet, stellt man fest, dass der Etat sinkt. Es ist
Benn, fordert die Bundesregierung auf, ihre Position zu
vorgesehen, die Ausgaben bis zum Jahr 2014 auf
überprüfen und auch im nächsten Haushalt die Mittel für
5,6 Milliarden Euro zu senken. Ich hoffe, dass Sie 2014
den Globalen Fonds einzustellen. Ich kann mich dieser
nicht mehr an der Regierung sind. Mit dem, was Sie
Forderung nur anschließen.
durch Ihr Tun vorprogrammieren, hinterlassen Sie denje-
nigen, die nach Ihnen vernünftige Entwicklungszusam- (Beifall bei der SPD)
menarbeit gestalten wollen, eine schwere Hypothek.
Wenn es darum geht, Effektivität in der Entwicklungszu-
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Priska sammenarbeit einzufordern, dann wäre das ein Beispiel
Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für effektive Entwicklungszusammenarbeit. Ich nenne
NEN]) einige Schlagworte: 2,5 Millionen Menschen haben Un-
terstützung bei der HIV-Behandlung erhalten, präventiv
Herr Minister, ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie wurden 104 Millionen Moskitonetze verteilt, seit 2002
uns anhand der mittelfristigen Finanzplanung begrün- wurden Hunderttausende von Menschen als Gesund-
den, wie Sie Ihre internationalen Zusagen erfüllen heitsfachkräfte aus- und weitergebildet, es gab Aufklä-
wollen. Sie haben eben gesagt, Sie werden es tun, aber rungskampagnen in Schulen zum Thema Malaria, es
ich frage Sie: Wie erfüllen Sie die ODA-Quote? Wie er- wurden Mittel für Malariaschnelltests zur Verfügung ge-
füllen Sie die internationalen Zusagen mit dieser von Ih- stellt usw. Das ist effektive Entwicklungszusammenar-
nen und Ihrem Haus vorgelegten mittelfristigen Finanz- beit, die Sie, Herr Minister, stoppen wollen. Damit füh-
planung? Das möchte ich von Ihnen, aber auch von der ren Sie die Zusagen der Kanzlerin ad absurdum.
(B) Kanzlerin wissen, weil sie offensichtlich, im Gegensatz (D)
zu dem, was Herr Niebel vorgetragen hat, auf zahlrei- (Beifall bei der SPD)
chen internationalen Konferenzen Mittel zugesagt hat,
die sich im vorliegenden Haushalt nicht widerfinden. Lassen Sie mich weitere Beispiele nennen: L’Aquila,
Ernährungssicherheit. Sie selbst haben auf eine Kleine
(Zuruf von der SPD: So ist es!) Anfrage, die wir als SPD-Fraktion gestellt haben, geant-
wortet: Sie werden in den Haushalten für die Jahre 2010
Ich kritisiere die Kanzlerin nicht dafür, dass sie diese bis 2012 3 Milliarden US-Dollar einstellen. Wo finden
Mittel zugesagt hat. Wir als Sozialdemokraten halten die sich die in Ihrem Haushalt?
Bereitstellung von Mitteln für die Ernährungssicherheit,
die HIV-Bekämpfung, für Bildung, Müttergesundheit Zu Kopenhagen kann ich nur sagen: alter Wein in
und die Bekämpfung der Kindersterblichkeit für wich- neuen Schläuchen. Das ist das einzige, was Sie hier ver-
tige und richtige Zusagen der Kanzlerin. Nur: Wo finden kaufen. Die Kanzlerin hat 1,26 Milliarden Euro zuge-
sie sich in diesem Haushalt wieder? Nirgends! Sie stra- sagt, 420 Millionen Euro neues Geld pro Haushaltsjahr.
fen mit diesem Haushaltsentwurf die Kanzlerin Lügen. Jetzt findet man im Bereich Biodiversität Mittel, die zu
Recht ausgegeben werden, die aber bereits 2008 auf ei-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner anderen Konferenz zugesagt wurden.
DIE GRÜNEN)
(Zuruf von der SPD: Die sollen bloß weg-
Ich kann das anhand zahlreicher Beispiele belegen. bleiben in Cancún!)
Rechnen wir einmal zusammen und fangen mit dem Bei-
spiel Heiligendamm an. Damals hat sich die Kanzlerin Man findet auch zinsverbilligte Darlehen, obwohl es um
als „Afrika-Kanzlerin“ feiern lassen. Bis 2011 wurden zusätzliche, frische Mittel, um zusätzliche Kredite ging.
Mittel in Höhe von 3 Milliarden Euro zugesagt. Wo fin- Alter Wein in neuen Schläuchen. Internationale Zusagen
det man in diesem Haushalt die Mittel für Afrika? Sie werden nicht eingehalten. Auch dies ist ein Beispiel für
haben selber gesagt, dass man Subsahara-Afrika mit das Versagen der Kanzlerin und Ihres Hauses.
demselben Euro stärken muss. Ich habe meine Zweifel (Beifall bei der SPD)
an demselben Euro; denn wenn man die Planung für
Subsahara-Afrika und auch für Afrika insgesamt für das Weiteres Beispiel: Mütter- und Kindersterblich-
nächste Jahr betrachtet – dies kann man an den Ver- keit. Das ist ein MDG-Ziel, bei dem wir alle in diesem
pflichtungsermächtigungen ablesen –, stellt man ein Mi- Haus uns einig sind, dass auf diesem Gebiet wesentlich
nus von 42 Prozent fest. Das ist nicht derselbe Euro, den mehr getan werden muss. Ich erinnere Sie: Eine halbe
Sie eben noch angekündigt haben. Million Frauen stirbt jährlich aufgrund von Komplika-
6126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Dr. Bärbel Kofler


(A) tionen während der Schwangerschaft, bei der Entbin- Kanzlerin gemacht hat, entspricht. Legen Sie einen Plan (C)
dung oder kurz nach der Geburt. 9 Millionen Kinder vor, wie die finanziellen Zusagen Deutschlands erfüllt
sterben jährlich an behandelbaren Krankheiten. Wir alle werden können. Zeigen Sie endlich Engagement für Ihr
sind uns einig, dass wir mehr tun müssen, auch mehr Ressort und damit bei der Bekämpfung von Armut welt-
Mittel zur Verfügung stellen müssen; denn ohne einen fi- weit.
nanziellen Einsatz kommt man hier nicht voran.
Danke.
Die Kanzlerin hat 400 Millionen Euro zugesagt. Das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ist richtig. Nur, wo findet man das im Haushalt? Für die
DIE GRÜNEN)
Haushalte 2011 bis 2015 müssten das 80 Millionen Euro
pro Jahr sein. Wo ist das Geld dafür in diesem Haushalt
zu finden? Nirgends. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Christian Ruck für die CDU/CSU-
(Beifall bei der SPD – Karin Roth [Esslingen] Fraktion.
[SPD]: Richtig! Nirgends!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch wenn ich Unterlagen aus Ihrem Haus immer so
spät bekomme, dass es schwerfällt, sie in Debattenbei-
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
träge einzubauen, habe ich mir die Mühe gemacht, mir
die Erläuterungen anzusehen. Ich zitiere aus dem, was Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Sie hier eingestellt haben. Bei der Finanziellen Zusam- freue mich immer, wenn ich nach der Kollegin Kofler
menarbeit gibt es einen kleinen Bereich, bei dem es eine sprechen kann;
Erhöhung um 100 Millionen Euro gibt. Es ist völlig (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das weiß ich!)
okay, dass man hier erhöht; ich möchte nicht missver-
standen werden. Aber was steht hier? Der angehobene denn dann können wir wieder über die Grundzüge der
Ausgabenansatz wird benötigt, um die inhaltlichen Entwicklungspolitik und nicht nur über ein Feuerwerk
Schwerpunkte in internationalen Verpflichtungen der von Taschenspielertricks reden.
Bundesregierung in den Bereichen Klima- und Umwelt- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
schutz einschließlich Biodiversität, Grundbildung, Ge- GRÜNEN]: Hat der Minister getrickst, oder
sundheit, inklusive HIV-/Aidsbekämpfung, Mütter- und was wollen Sie damit sagen?)
Kindergesundheit umzusetzen. Regionaler Schwerpunkt
der FZ soll weiterhin Afrika sein. – Das wollen Sie mit Wir stehen in diesem Herbst vor drei wichtigen inter-
einer Erhöhung um 100 Millionen Euro machen? Ich nationalen Konferenzen, die für die Zukunft von
(B) habe gerade vorgetragen, was auf internationaler Ebene Mensch und Natur auf der ganzen Welt von großer Be- (D)
alles zugesagt wurde. Wie soll das gehen, vor allem, deutung sind – sie sind auch für unseren Haushalt von
wenn Sie im nächsten Jahr die Planungen für die Ver- großer Bedeutung; denn an dieser Herausforderung muss
pflichtungsermächtigungen für das nächste Jahr schon er sich messen lassen –, dem Gipfel der Vereinten Natio-
wieder um 330 Millionen Euro zurückfahren? Das, was nen in New York zur Überprüfung der Millenniumsziele,
Sie hier tun, ist Mumpitz. der Vertragsstaatenkonferenz zur Artenvielfalt in Na-
goya und der Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz des
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Klimas in Cancún. Auf diesen Konferenzen besprechen
DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer, wie glo-
[CDU/CSU]: Was ist Mumpitz? Erläutern Sie bale Missstände eingedämmt werden können – über die
das doch einmal!) sind wir uns ja einig –: über Armut und unzureichende
Das und die Tatsache, dass internationale Zusagen Bildung, über eigentlich vermeidbare Krankheiten, über
nicht eingehalten werden, gefährdet die Glaubwürdig- Unterversorgung mit Trinkwasser – dies alles sind The-
keit Deutschlands. Das, was Sie betreiben – das haben men, die in den Millenniumszielen behandelt werden –,
Sie auch in dieser Rede getan –, ist mehr als schäbig. Sie über den kaum gebremsten Verlust von Artenvielfalt und
stellen sich hier hin und tun so, als könnte man Wirk- Ökosystemen und schließlich über den Klimawandel mit
samkeit der EZ und finanzielle Ausgestaltung gegenein- seinen desaströsen Folgen für Entwicklungs- und
ander ausspielen. Schwellenländer.

(Beifall bei der SPD) Ich sage Ihnen und dir, Bärbel, noch einmal ganz klar:
Deutschland hat in der Tat für alle Bereiche zu Recht
Sie benutzen diese Argumentation nicht, um eine wirk- Finanzzusagen ausgesprochen, und die wollen und wer-
samere und effektivere EZ zu gestalten. Sie benutzen sie den wir einhalten.
nur, um Ihr Versagen hinsichtlich Ihrer finanziellen Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
pflichtungen und das finanzielle Desaster dieses Haus-
der FDP – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Dann
haltes schönreden zu können.
schreibt sie in den Haushalt! – Dr. Sascha
(Beifall bei der SPD – Harald Leibrecht Raabe [SPD]: Ihr wisst doch heute schon, dass
[FDP]: Na, na!) das nicht geht! – Priska Hinz [Herborn]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Finanz-
Die Arbeitsgruppe unserer Fraktion fordert Sie auf:
planung zeigt etwas ganz anderes!)
Korrigieren Sie den Haushaltsentwurf. Legen Sie einen
Entwurf vor, der den internationalen Zusagen, die die – Jetzt seien Sie doch nicht so kleinmütig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6127
Dr. Christian Ruck
(A) (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des rungsinstrumente, die wir damals zusammen erkämpft (C)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben, die ODA-Quote von 0,7 Prozent im Jahr 2015
noch besser zu erreichen. Da möchte ich auf einen Punkt
Auch der Haushalt 2011 muss und wird dazu einen hinweisen, der in der Diskussion über die Verlängerung
gewichtigen Beitrag leisten. der Laufzeiten von Kernkraftwerken untergegangen ist:
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wo denn? Konkret: Wir können durch die Einnahmeseite der CO2-Emis-
Wo?) sionszertifikate auch für den internationalen Bereich ein
Energieprogramm erhalten. Im Koalitionsvertrag stan-
Wir werden die Zusagen einhalten. Ich werde Ihnen auch den noch 50 Prozent. Jetzt haben wir die Zusage er-
sagen, wie wir das machen wollen. Trotz der einmaligen kämpft, dass es ab 2013 100 Prozent sind. Das ist aus
Sparzwänge wächst, wie Minister Niebel schon ausge- meiner Sicht auch für die klima- und umweltpolitische
führt hat, der Einzelplan 23 erneut gegen den allgemei- Finanzierung in der Entwicklungspolitik ein ganz großer
nen Trend. Dies unterstreicht die große Bedeutung, die Durchbruch.
die Bundesregierung diesen globalen Zukunftsfragen
beimisst. Wir haben 2010 eine ODA-Quote von 0,4 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zent erreicht; das ist der höchste Wert seit 20 Jahren. Na- neten der FDP)
türlich sind wir von der ODA-Quote in Höhe von
Das ist etwas, das auch Sie zur Kenntnis nehmen sollten.
0,7 Prozent im Jahr 2015 noch ein gutes Stück entfernt.
Aber es ist auch nötig, dass wir dieses Ziel mit Realis- Ich bin auch der Meinung, dass wir die sehr klugen
mus angehen. Wir brauchen bis 2015 10 Milliarden Euro Ideen, die die KfW und GTZ hinsichtlich einer Mi-
an zusätzlichen ODA-Mitteln, um das gesteckte Ziel zu schung von Zuschüssen mit Haushaltsmitteln entwickelt
erreichen. Dafür brauchen wir einen realistischen Ent- haben, berücksichtigen sollten.
wicklungspfad.
(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das sind Taschen-
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wo ist der?) spielertricks! Das muss ja zurückgezahlt wer-
Dieser realistische Entwicklungspfad, liebe Kolleginnen den!)
und Kollegen von der Sozialdemokratie, liebe ehemali- – Nein, Sascha, auch das haben wir alles gemeinsam ent-
gen Koalitionäre, unterscheidet sich in nichts von dem, worfen; auch da hast du offensichtlich ein ziemlich
was wir damals – das haben Sie offensichtlich schwaches Gedächtnis. – Damit könnten wir eine ver-
vergessen – zusammen ausgemacht haben. nünftige zusätzliche Finanzierung vor allem auch für
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört! – Klimaschutzmaßnahmen erreichen. Das sollten wir zu-
(B) Widerspruch bei der SPD) sammen angehen. (D)
Es nützt niemandem, vor allem nicht den Entwick- Schließlich wollen wir versuchen – das war immer et-
lungsländern und der Entwicklungszusammenarbeit, was, was wir gemeinsam haben erzielen wollen; aber
wenn wir einen schwachen Euro haben auch dabei habt ihr euch komplett verabschiedet –, die
Finanztransaktionsteuer doch noch in Europa oder im
(Zurufe von der SPD: Oh, oh!) nationalen Kontext auf die Beine zu stellen.
und wenn die Kraft der europäischen Zusammenarbeit (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Was sagt denn die
aufgrund einer Destabilisierungspolitik absinkt. Deswe- Bundeskanzlerin dazu?)
gen halte ich es für vollkommen richtig, wenn auch die
Entwicklungspolitik auf eine stabile Finanzgrundlage Auch dabei wollen wir einen Anteil für die Entwick-
gestellt wird. lungspolitik haben.
Wenn du, Bärbel, von der mittelfristigen Finanzpla- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Herr Niebel ist doch
nung ausgehst, gegen die Finanztransaktionsteuer!)
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ja!) Bei all diesen Vorschlägen wäre es gut, wenn die Op-
position in Anbetracht der zurückliegenden erfolgrei-
dann schau dir einfach einmal die mittelfristige Finanz-
chen gemeinsamen entwicklungspolitischen Zusammen-
planung unter Steinbrück an. Wenn wir das alles hätten
arbeit der Kanzlerin und Minister Niebel den Rücken
einhalten müssen, dann wären wir damals auf keinen
stärken würde,
grünen Zweig gekommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Bei was denn?)
der FDP – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Da hatten anstatt hier mit Schaum vor dem Mund immer wieder
wir eine Ministerin, die gegen den Finanzmi- die gleichen Taschenspielertricks vorzuführen.
nister gekämpft hat! – Priska Hinz [Herborn]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätte ja sein (Widerspruch bei der SPD)
können, dass Sie ehrgeiziger sind!)
Deswegen lassen Sie uns doch darüber nachdenken, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wie wir über das normale Haushaltsverfahren hinaus in Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
der Lage sind, zum Beispiel durch innovative Finanzie- Kollegen Raabe?
6128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
Der Sascha Raabe hat immer Schaum vor dem Mund, Danke, Herr Kollege. – Ist Ihnen zum Thema Bio-
wenn es um den Haushalt geht. diversität bekannt, dass das Ministerium nicht mehr be-
reit ist, den Yasuní-Nationalpark im bisherigen Ausmaß
zu unterstützen, der unseres Wissens ein großer Schatz
Dr. Sascha Raabe (SPD): ist? Hierbei handelt es sich um ein Regenwaldgebiet, um
Herr Kollege Ruck, nur eine ganz kurze Zwischen- ein ITT-Gebiet. Der gesamte Deutsche Bundestag hat
frage. Sie sagten gerade, die SPD-Bundestagsfraktion dem Staat Ecuador angeboten, eventuell Unterstützung
solle doch bitte der Kanzlerin und Minister Niebel den zu leisten. Wie stehen Sie dazu, die Frage der Biodiver-
Rücken stärken bei der Frage der Einführung einer Fi- sität in diesem Fall nachrangig zu behandeln und dieses
nanztransaktionsteuer, damit wir über die entsprechen- Regenwaldgebiet nicht zu unterstützen?
den Mittel verfügen. Herr Kollege Dr. Ruck, ist Ihnen
bekannt, dass Herr Minister Niebel mehrmals öffentlich Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
und auch im Ausschuss gesagt hat, dass ihn nicht inte- Das sind zwei Paar Stiefel, Frau Koczy. Erstens habe
ressiert, was die Kanzlerin sagt, er sei gegen eine Fi- ich gerade ausgeführt, dass wir im Bereich der Biodiver-
nanztransaktionsteuer? Wie passt das Ihrer Meinung sität im Vergleich zu der jämmerlichen Performance un-
nach zusammen? ter rot-grüner Regierung einen Aufwuchs haben, den es
(Zuruf von der SPD: Das ist Koalition!) noch nie zuvor gegeben hat. Das bitte ich anzuerkennen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): der FDP)
Erstens hat Herr Minister Niebel das in einem ande- Zweitens kennen Sie meine Meinung zum Yasuní-
ren Zusammenhang und mit anderen Worten gesagt. Nationalpark. Wir haben als Union den Antrag der Grü-
Zweitens sind wir uns inzwischen auch über dieses De- nen grundsätzlich unterstützt. Das können Sie hier auch
tail der Entwicklungspolitik einig geworden und näher- ruhig einmal ganz deutlich sagen. Das ist auch nicht all-
gekommen. täglich. Es gab bei diesem Antrag und bei diesem Vor-
gang insgesamt Tausende von Schwierigkeiten und Pro-
(Burkhard Lischka [SPD]: Er ist ja lernfähig!) blemen, die gelöst werden mussten. Wir haben ihn aber
immer unterstützt. Deswegen habe ich überhaupt keine
Ich kann nur sagen: Auch die Sozialdemokratie
Probleme, zu sagen, dass wir auch weiterhin versuchen,
könnte sich den Ideen der Union und der Kanzlerin an-
an diesem Projekt dranzubleiben. Wir müssen uns natür-
schließen. Da fällt Ihnen kein Zacken aus der Krone.
(B) lich konkret fragen, aus welchem Topf bzw. aus welchen (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Quellen dieses Vorhaben finanziert werden kann. Aber
der FDP) ich habe Ihnen ja schon bilateral zugesagt, dass wir über-
haupt keine Probleme haben, weiterhin gemeinsam zu
Ich möchte noch einmal auf den Vorwurf eingehen, versuchen, dieses Modellprojekt auf den Weg zu brin-
wir würden in puncto Biodiversität oder Klimaschutz gen.
unser Wort nicht halten. Auch das ist falsch. Ich halte es
für eine gute Idee der neuen BMZ-Führung, die Bio- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
diversitätsmittel in einer Sonderfazilität zusammenzu- Danke schön!)
fassen, die allein im Jahr 2011 300 Millionen Euro um- – Bitte schön. – Klar ist aber – jetzt sage ich es auch ein-
fasst. Können Sie sich noch erinnern, worum wir uns mal öffentlich, Frau Koczy –: Das ist nicht meine Mei-
damals bei der Vorgängerministerin bemüht haben? Das nung, sondern das war immer die Meinung unserer Ar-
war eine Steigerung von 20 Millionen Euro auf 170 Mil- beitsgruppe; das wissen Sie.
lionen Euro in drei Jahren. Ich finde, dabei haben wir ei-
nen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Für mich ist ganz wichtig, dass das hohe Niveau der
Unterstützung für den NGO-Bereich, für die Kirchen
Wir werden auch die Verpflichtungen für Cancún er- und Stiftungen, in diesem Haushalt beibehalten wird.
füllen. Auch diese Mittel sind in den Haushalt einge- Auch hier, Herr Niebel, stärken wir dem Fonds den Rü-
stellt. Sie müssen aber auch die bilateralen Beiträge zu- cken. Für uns ist diese Zusammenarbeit gerade im Hin-
sammenrechnen. Dabei lasse ich mich gern auf jede blick auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft sehr
Diskussion bei den parlamentarischen Beratungen ein. wichtig.
Am Schluss wirst du sehen, dass wir auch die Ziele für
Ich bin der Meinung, dass die Unterstützung durch
Cancún voll und ganz erfüllen werden.
die Politik die Unabhängigkeit der NGOs nicht ein-
schränken darf. Ich bin aber auch der Meinung, dass jede
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Organisation, die vom Staat Geld bekommt, auch aus
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der entwicklungspolitischen Töpfen, zumindest zu einem
Kollegin Koczy von den Grünen? Minimum an Koordination und Kooperation bereit sein
muss; das hat nicht nur mit Afghanistan zu tun, sondern
ist eine allgemeine Anmerkung. Dies muss dazu führen,
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): dass wir unsere gemeinsamen Anstrengungen noch stär-
Frau Koczy. ker bündeln können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6129
Dr. Christian Ruck
(A) Herr Niebel, auch was die laufende Vorfeldreform an- Heike Hänsel (DIE LINKE): (C)
belangt, haben Sie uns an Ihrer Seite. Ich halte es für Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
wirklich wichtig, dass wir dieses Reformwerk, das wir Bundeskanzlerin hat in der gesamten heutigen Debatte
schon unter der Vorgängerregierung durchzusetzen ver- keinen einzigen Satz zur Entwicklungspolitik gesagt.
sucht haben, jetzt zügig und erfolgreich abschließen. Das Keinen einzigen Satz! Angesichts der großen Herausfor-
ist für mich auch ein Quantensprung in Sachen Koordi- derungen, dass fast 1 Milliarde Menschen hungert und
nation und Effizienz. Auch über diese Aspekte müssen dass aufgrund der Wirtschaftskrise noch mehr Menschen
wir natürlich, wie über die finanzielle Ausstattung, im- in Armut gefallen sind, zeigt dies die Prioritätensetzung
mer diskutieren. Es geht nämlich auch darum: Wie be- dieser Regierung. Es zeigt auch, dass diese Bundesregie-
kommen wir mehr politische Effizienz in die Entwick- rung nicht nur in Deutschland, sondern auch in der inter-
lungszusammenarbeit? nationalen Politik ein Totalausfall ist.
Ich darf daran erinnern: Es ist ganz wichtig, auch in (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
New York auf die Tagesordnung zu setzen, dass es nicht Dr. Bärbel Kofler [SPD])
nur um Geld und Technik gehen darf. Wir müssen nicht
nur von uns selbst, sondern auch von den Entwicklungs- Herr Niebel, Sie stellen sich hier ja gern nassforsch
ländern mehr politische Effizienz einfordern. Wir haben hin und erzählen viel. Aber Fakt ist, dass die Entwick-
den Entwicklungsländern damals versprochen, dass wir lungspolitik auch mit Ihnen auf verlorenem Posten steht.
unsere finanziellen Anstrengungen erhöhen, und die Das sieht man ganz klar an diesem Haushalt. Sie haben
Entwicklungsländer haben uns versprochen, dass sie für eben nicht für einen deutlicheren Aufwuchs gekämpft.
Good Governance sorgen. Good Governance, gute Re- Das wäre ja durchaus möglich gewesen. Sie hätten sich
gierungsführung, ist gerade in Afrika die Grundvoraus- vielleicht einmal mehr anstrengen müssen. Sie haben
setzung dafür, dass wir mit unseren Finanzen überhaupt nicht dafür gekämpft, und mittlerweile fehlen mehr als
etwas bewegen können. 1,5 Milliarden Euro, um die ODA-Quote mittelfristig zu
erreichen. Wir sind überhaupt nicht im Zeitplan, und das
liegt natürlich auch an Ihnen. Von daher wäre ich an Ih-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rer Stelle einmal ein bisschen bescheidener in meinen
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Reden.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Jawohl. Ganz zu schweigen ist an dieser Stelle von den sonsti-
gen Versprechungen der Kanzlerin. Das wurde hier
(B) So sehr ich dafür bin, dass wir in den parlamentari- auch schon erwähnt. Ich will gar nicht mehr ausführen, (D)
schen Beratungen noch einmal über die Verpflichtungs- auf wie vielen Regierungs- und Klimagipfeln Geld ver-
ermächtigungen für Afrika und andere Teile der Welt sprochen wurde, das sich in diesem Haushalt für das
diskutieren, so sehr mahne ich uns, von den Afrikanern nächste Jahr nicht finden wird. Ich habe heute den gan-
auch Konzeptionen einzufordern – Konzeptionen, die zen Tag in den Debatten etwas von einer verantwor-
nicht bei uns entstehen dürfen, sondern in Afrika entste- tungsvollen Politik und davon gehört, dass Sie Ihre inter-
hen müssen –, wie der Reichtum in Afrika besser ver- nationale Verantwortung tragen. Dazu kann ich nur
waltet werden kann und wie zu verhindern ist, dass sagen: Dieser Haushalt ist Ausdruck einer verantwor-
Afrika aufgrund der Korruption untergeht. Außerdem tungslosen Politik.
sollten wir über Sicherheit und Entwicklungspolitik
nachdenken. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich bin einmal gespannt. In New York reisen Sie
Herr Kollege! wahrscheinlich mit einer großen Delegation an. Dort
wird dann viel über die Millenniumsziele geredet, aber
diese Politik haben die Leute satt. Heute und nicht erst
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): auf irgendwelchen Gipfeln hätte die Kanzlerin über die
Wir sollten uns bei der Beratung des Einzelplans 23 Millenniumsziele und über die Entwicklung reden müs-
nicht nur über die Finanzen streiten, sondern uns auch sen.
überlegen, wie wir konzeptionell neue Wege gehen kön-
nen, damit wir mit dem Geld, das wir zur Verfügung ha- (Beifall bei der LINKEN)
ben, am Schluss den optimalen Erfolg erzielen. Es gab in diesem Jahr die großen Katastrophen in
Vielen Dank. Haiti und Pakistan, und es ist beschämend gewesen zu
sehen – das finde ich tragisch –, wie wenig Geld die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesregierung zur Verfügung gestellt hat. Es war je-
des Mal weit unter dem, was die Bevölkerung gespendet
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hat. Wenn wir uns die entsprechende Position an-
Das Wort hat Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion schauen, dann sehen wir, dass auch diese Mittel weiter
Die Linke. gekürzt werden sollen. Obwohl wir wissen, dass es auf-
grund des Klimawandels mehr Naturkatastrophen geben
(Beifall bei der LINKEN) wird, will die Bundesregierung die Mittel für die Not-
6130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Heike Hänsel
(A) hilfe und für die Flüchtlingspolitik noch weiter kürzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C)
Das ist ein Skandal. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Harald Leibrecht [FDP]: Das stimmt doch gar
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nicht!)
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD) Das betrifft auch den Zivilen Friedensdienst. Auch
hier wird gespart. Das ist ein wichtiges Instrument in
Das betrifft auch die Anpassungsmaßnahmen auf- vielen Konfliktregionen. Auch hier könnte man viel
grund des Klimawandels, die überhaupt nicht ausrei- mehr machen. Stattdessen geben Sie lieber noch mehr
chend sind. Das betrifft leider auch – Frau Koczy hat es Geld nach Afghanistan, weil dort ja die Bundeswehr sta-
angesprochen – gute, zukunftsweisende Projekte wie in tioniert ist, die Erfolge aufweisen soll. Dort wird sehr
Ecuador. Herr Ruck, ich finde es ein Unding, dass viel Geld gebunden,
Deutschland jetzt nichts geben wird, nachdem so viele
Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt wurden und sich (Holger Haibach [CDU/CSU]: Ich hätte Sie
so viele Leute bemüht haben, dass endlich ein Fonds ent- einmal hören wollen, wenn wir das nicht ge-
steht, in den von der internationalen Gemeinschaft Geld macht hätten!)
für Ecuador eingezahlt werden soll, damit das Land auf
die Erdölförderung verzichten kann. Das ist ein Unding. und Sie zwingen Entwicklungsorganisationen, mit der
Für was machen wir die ganze Arbeit hier? Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Herr Niebel, das ist
keine Aufbauhilfe, das ist Kriegsunterstützung.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Jetzt möchte ich noch einige Sätze sagen: Die Institu-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der tionenreform wird ja viel diskutiert. Ihre Hauptreform,
Kollegin Schuster? die Sie vorhaben, ist eine ganz andere. Das Bundesent-
wicklungsministerium soll zur Durchführungsorganisa-
tion für die deutsche Wirtschaft werden.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Ich möchte jetzt keine zulassen; am Ende kann sie et- (Harald Leibrecht [FDP]: Unsinn! Blödsinn!)
was sagen. Ich möchte jetzt weiter ausführen. – Danke
schön. Das ist der Kern Ihrer Politik, und das werden wir be-
kämpfen. Ich frage mich nämlich: Wo ist denn die deut-
sche Wirtschaft, wenn es um billigere Medikamente in
(B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den Ländern des Südens geht? Wo ist denn die Pharma- (D)
Am Ende ist es ja keine Zwischenfrage mehr. industrie, wenn sie für heilbare Krankheiten in Entwick-
lungsländern forschen soll? Wir laden in den Entwick-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
lungsausschuss dazu ein, aber es kommt kein einziger
Vertreter. Wenn es um Rohstoffpolitik und Marktzugang
Heike Hänsel (DIE LINKE): geht, dann kommt der BDI mit 20 Vertretern in unseren
Der Freiwilligendienst „weltwärts“ ist auch ein Ausschuss. Das zeigt doch, in welche Richtung es hier
wichtiges Zukunftsinstrument. Viele Organisationen geht. Das ist in meinen Augen eine fatale Entwicklung,
sind darauf angewiesen, und sie brauchen vor allem Pla- die die Linke konsequent bekämpfen wird.
nungssicherheit. Auch in meinem Wahlkreis gibt es etli-
che Jugendliche, die aufgrund dieses Dienstes jetzt ein (Beifall bei der LINKEN)
Jahr im Ausland verbringen können. Sie brauchen diese Es geht nämlich um eine ganz andere Entwicklung.
Unterstützung, und sie brauchen das Geld und rechtzei-
tig eine Zusage, um planen zu können. So wie Sie damit Sie sagen immer, mehr Wachstum bringe mehr Ent-
umgehen – es gibt keinen Aufwuchs, die Höhe der Mit- wicklung. Schauen wir uns das einmal konkret am Bei-
tel stagniert also, und die Aussagen sind unsicher –, wer- spiel Lateinamerika an, wo es große Infrastrukturpro-
den viele kleinen Organisationen das nicht mehr machen jekte gibt, zum Beispiel von ThyssenKrupp, das ein
können. Stahlwerk baut. Dort verlieren über 10 000 Kleinfischer
ihre Existenz. So sieht es konkret aus. Sie brauchen nicht
(Holger Haibach [CDU/CSU]: 30 Millionen diese Form von Investitionen. Wir müssen endlich die
Euro!) Ausbeutung in diesen Ländern stoppen. Das ist ein Bei-
Auch das ist ein Unding. So können Sie damit nicht um- trag zur Armutsbekämpfung.
gehen. (Beifall bei der LINKEN)
Herr Niebel, Sie sprechen von jungen Menschen, die Die großen Infrastrukturprojekte sind kein Beitrag zur
Sie unterstützen wollen, und haben eine Werbebroschüre Entwicklung. Auch hier, in Stuttgart, erkennen das die
herausgebracht. Es freut Sie, wenn immer mehr Men- Menschen. Darüber wurde heute schon mehrmals disku-
schen das machen können; aber es gibt nicht genügend tiert. Auch Stuttgart 21 ist ein sinnloses Projekt.
Geld, um Planungssicherheit zu erreichen. Es zeugt für
mich von entwicklungspolitischer Dummheit, wenn man (Harald Leibrecht [FDP]: Ich wusste gar nicht,
in diesem Bereich spart. dass das vom BMZ finanziert wird!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6131
Heike Hänsel
(A) Menschen sowohl in den Ländern des Südens als auch tären Hilfe, zumindest im Bereich des Auswärtigen Am- (C)
hier gehen gegen solche Projekte auf die Straße. Das tes, wird sogar noch gekürzt.
halte ich für sehr wichtig. Die Linke unterstützt diese
Proteste. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Wenn Rot-Grün jedes Jahr Aufwuchs gehabt
(Beifall bei der LINKEN) hätte, hätten wir keine Probleme!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – Dazu komme ich noch, Herr Fischer. Das ist der Ein-
Bitte, Sie müssen zum Ende kommen. wand, der jedes Mal vorgebracht wird. Ich werde immer
das Gleiche darauf sagen.
Heike Hänsel (DIE LINKE): (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Ich komme zum Schluss. Auch Herr Ruck hat sich Aber das ist so!)
hier sehr lange ausgebreitet.
Aus den vorgelegten Haushaltszahlen ist klar erkenn-
(Holger Haibach [CDU/CSU]: Der ist ganz bar, dass die ODA-Quote 2011 sinken wird. Für diejeni-
schmal! Er kann sich nicht ausbreiten!) gen unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich
Herr Niebel, bei unserem Wirtschaftssystem geht es fragen, wer ODA ist: Das ist die Abkürzung für Official
nicht um Solidarität und Entwicklung, sondern da geht Development Assistance. Damit meint man die Summe
es um Profit um jeden Preis, auch wenn es Menschenle- aller Finanzmittel, die ein Staat für Entwicklungszusam-
ben kostet. Deswegen werden wir den Ausverkauf der menarbeit und humanitäre Hilfe ausgibt. Schon seit
Entwicklungspolitik, wie Sie es vorhaben, verhindern. mehr als 30 Jahren wird auf internationalen Konferenzen
immer wieder versprochen, mindestens 0,7 Prozent des
(Beifall bei der LINKEN) Bruttonationalprodukts für Entwicklungszusammenar-
beit und humanitäre Hilfe auszugeben und mit den
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ärmsten der Armen zu teilen. Auf der Millenniumskon-
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion Bünd- ferenz im Jahr 2000 ist dann versprochen worden – viele
nis 90/Die Grünen. Nationen haben es versprochen –, diese Zielmarke bis
2015 endlich zu erreichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Minister hat diese Zielmarke als „heilige Kuh“
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bezeichnet, aber nicht klargemacht, ob er diese heilige
Kuh schlachten will, ob er sich dann von diesem Ziel
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
(B) rede jetzt zum Haushalt. verabschiedet. Mit dem Haushalt, mit den Zahlen, die (D)
vorgelegt werden, können wir dieses Ziel so nicht errei-
(Beifall bei der CDU/CSU – Holger Haibach chen.
[CDU/CSU]: Danke! Ausgesprochen freund-
lich!) Wenn der Haushaltsentwurf der Bundesregierung im
parlamentarischen Verfahren nicht noch sensationell und
Es ist schon viel Richtiges, aber auch sehr viel Verwir- substanziell nachgebessert wird, dann wird Deutschland
rendes gesagt worden. Ich befürchte, dass wir im weite- die international gemachten Zusagen definitiv nicht er-
ren Verlauf der Haushaltsdebatte seitens der Regierung füllen. Jetzt versuchen Sie bitte nicht, die Stagnation
noch viel Jonglieren mit Zahlen und auch viel Schön- auch noch als Erfolg zu verkaufen. Wir haben das heute
rechnerei erleben werden. Das erinnert mich manchmal schon in der ersten Rede nach dem Motto gehört: Haus-
an die Sendung, die man unmittelbar nach Wahlen erle- haltszwänge sind da. Wir mussten überall kürzen, und
ben muss, wenn selbst die Wahlverlierer sagen: Aber im wir haben überall gekürzt. Aber dieser Bereich ist uns so
Vergleich zur Kommunalwahl 1949 haben wir um wichtig, dass er vor weiteren Kürzungen bewahrt wurde.
0,5 Prozent zugelegt. – Lassen wir diese Rechentricks
einmal beiseite. Bitte verkaufen Sie die Bürgerinnen und Bürger und
erst recht nicht diejenigen für dumm, die in den Kirchen,
Wir haben heute schon das Stichwort „Rekordhaus- Initiativen und NGOs und in unseren Durchführungsor-
halt“ gehört. Wir haben immer wieder gehört, Deutsch- ganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit alles
land bleibe drittgrößter Geber. Kein Weg führt daran Mögliche tun, um extreme Armut und Hunger zu über-
vorbei, die Fakten einfach anzuschauen und zur Kennt- winden. Diese Menschen kennen die Zahlen, und sie
nis zu nehmen: In dem Haushalt 2011, den wir heute dis- kennen auch die Haushaltszahlen, die heute vorgelegt
kutieren, klaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurden.
4 Milliarden Euro.
Kommen Sie auch bitte nicht mit dem Argument, es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sei völlig unrealistisch, die ODA-Zusagen einzuhalten.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Man hat sich doch bei der Steuerschätzung verrechnet.
– Das muss man eigentlich nicht beklatschen. – Es sind Jetzt ist gerade die gute Nachricht gekommen, dass die
nicht nur 1,5, sondern 4 Milliarden Euro. 4 Milliarden Steuereinnahmen höher sind als zunächst angenommen.
Euro mehr wären nötig, um auf dem Pfad zu bleiben, der Allein mit diesen Mehreinnahmen, die man vor kurzem
zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels führt. Stattdessen noch gar nicht im Blick hatte, kann die Lücke gefüllt
wird der Entwicklungsetat eingefroren. Bei der humani- werden.
6132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Thilo Hoppe
(A) (Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ Ich kann das bestätigen, ich kann aber auch wieder an- (C)
DIE GRÜNEN] – Hartwig Fischer [Göttingen] dere Zahlen anführen, nämlich dass es 1998 im Ver-
[CDU/CSU]: Ist das auch die Stellungnahme gleich zur Kohl-Regierung einen Aufwuchs gegeben hat
Ihrer Finanzpolitiker?) und dass die Zahlen unter der Kohl-Regierung erst ge-
stiegen und dann im Zuge der deutschen Einheit wieder
Es wäre doch für Frau Merkel und Herrn Niebel viel gesunken sind. Das bringt alles nichts.
schöner und besser, nicht mit leeren Händen nach New
York zu fahren, sondern mitteilen zu können, dass wir Bleiben wir doch dabei: Keine Regierung hat bisher
noch einmal die Kurve gekriegt haben und Deutschland geliefert. Bisher hat keine Regierung die Zusagen mit
den ODA-Stufenplan erfüllt. konkreten Haushaltszahlen unterlegt.
Nein, die Überwindung von extremer Armut und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hunger, die Bekämpfung von Malaria, Tuberkulose und Jetzt werbe ich dafür, dass das nicht für alle Ewigkeit
Aids nehmen Sie zwar ernst – das wollen wir nicht in so bleibt, sondern dass wir uns jetzt durch alle Fraktio-
Abrede stellen – und Sie tun auch etwas, aber sie haben nen einen Ruck geben und uns im Endspurt in Richtung
in der Bundesregierung nicht die Priorität, die sie eigent- New York ins Zeug legen. Wir können nicht immer Ver-
lich haben müssten. sprechungen machen, die wir nicht erfüllen. Wir müssen
Sie tun nicht das, was Sie tun könnten. Sie geben jetzt im Haushaltsverfahren kräftig nachbessern. Sonst
nicht das, was sie geben müssten. produzieren wir nur schöne Worte, statt das zu liefern,
was wir liefern müssen, um die Ärmsten der Armen aus
(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: 200 Millionen der Armut zu befreien.
sind wohl nichts!)
Ich danke Ihnen.
Diesen Vorwurf können und werden wir Ihnen nicht er-
sparen. Gleichzeitig sage ich zum wiederholten Male, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herr Fischer: Dieser Vorwurf trifft auch leider auf beide sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vorgängerregierungen zu. Seit der Millenniumserklä-
rung im Jahr 2000 hat keine Bundesregierung das, was Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sie auf internationaler Ebene versprochen hat, mit kon- Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die
kreten Haushaltszahlen unterlegt. FDP-Fraktion.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo waren die Stei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gerungsraten?) der CDU/CSU)
(B) (D)
Zu kritisieren ist dabei die Mannschaftsleistung. Die
Entwicklungspolitiker haben sich jedes Mal ins Zeug ge- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
worfen und versucht, die Einhaltung der Zusagen zu er- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
reichen, aber die Mannschaftsleistung war mangelhaft. der Haushalt, den wir verabschieden, ein Gesetzentwurf
Sie konnten sich nicht durchsetzen. ist, wünsche ich mir, dass sich jeder Abgeordnete, egal
für welchen Bereich er zuständig ist, mit dem Haushalts-
plan insgesamt beschäftigt. Ich bewundere das Engage-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ment, das jeder in seinem Fachbereich aufbringt, zum
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Beispiel Frau Kollegin Hänsel. Aber ich vermute, dass
Kollegen Fischer? Sie die Frage, wie viele Zinsen die Bundesrepublik
Deutschland für die Schulden zahlen muss, die im Laufe
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Jahre angehäuft worden sind, nicht beantworten kön-
Ja. nen. Ich rate Ihnen deshalb dringend, einen Blick in den
Bundeshaushalt zu werfen.
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Insofern habe ich alle Achtung davor, dass es Minis-
Herr Kollege Hoppe, können Sie mir bestätigen, dass ter Niebel gelungen ist, den Haushalt so aufzustellen,
in der Zeit der rot-grünen Koalition die Beträge im wie er vorgelegt worden ist. Denn angesichts der Einspa-
Haushalt praktisch stabil waren – sie sind sogar leicht rungen, die wir vornehmen müssen, ist das eine großar-
gesunken – und dass es in den vergangenen vier Jahren tige Leistung. Wir haben in den Koalitionsfraktionen er-
einen Aufwuchs um rund 500 Millionen Euro jährlich lebt, wie er für seinen Haushalt gekämpft hat. Das ist mir
gab? wichtig, und dem gelten meine Anerkennung und mein
Respekt.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Herr Kollege Fischer, jetzt geschieht genau das, was
ich am Anfang beschrieben habe. Es ist wie in den Wahl- Es gibt bestimmte Dinge, die bisher nicht erwähnt
sendungen: Jeder bemüht jetzt irgendwelche Statistiken wurden, die man aber auch ansprechen muss. Es geht
und Steigerungsraten. schließlich nicht allein um Geld. Man muss sich auch
fragen, was mit dem Geld geschieht. Insofern hätte ich
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: selbst von der Opposition eine Bemerkung zu dem er-
Nein! Das sind Zahlen!) wartet, was zum Beispiel gerade im Kongo geschehen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6133
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(A) ist, wo die Konten der GTZ gesperrt und Gegenstände (Beifall bei der FDP) (C)
beschlagnahmt wurden. Man müsste auch über die Bud-
gethilfe und andere Fragen sprechen. Herr Minister, ich finde das, was Sie zur ODA-Quote
gesagt haben, sehr gut. Wir sollten die Scheuklappen ab-
Die Probleme sind vielfältig. Aber Sie wollen nur pau- legen und vernünftig darüber diskutieren, ob die ODA-
schal darlegen, dass diese Regierung nicht genügend Quote in der jetzigen Form langfristig Sinn macht. An-
Geld zur Verfügung stellt, und berücksichtigen nicht, dass ders gefragt: Gibt es nicht viele Dinge in unserer Repu-
wir Probleme auch in unserem Land haben. Die Schulden blik, die nicht eingerechnet werden, obwohl sie etwas
sind im Laufe der Jahre so hoch geworden, dass ich im- mit Entwicklungshilfe zu tun haben? Die Situation ist ei-
mer sage: Auf Schuldenbergen können unsere Kinder gentlich viel besser, als die Zahlen, die auf dem Papier
nicht spielen. Daran müssen wir denken. Ich könnte es stehen, es vermuten lassen. Deutschland ist bei der Ent-
mir ganz einfach machen. Nachdem hier beispielsweise wicklungshilfe wirklich spitze. Herr Minister Niebel und
die Hotelsteuer mehrfach angesprochen wurde – darüber die Kollegin Gudrun Kopp haben richtig Schwung in die
kann man streiten –, sage ich an die Adresse der Sozial- Entwicklungshilfe gebracht. Herzlichen Dank dafür!
demokraten: Wenn wir noch die 11 Milliarden hätten, die
Sie durch die Beteiligung der Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
land an der IKB in den Sand gesetzt haben, könnten wir
die ODA-Quote erreichen und noch vieles andere finan- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
zieren. Sie haben über 11 Milliarden Euro in den Sand ge- Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Frak-
setzt! Das ist eine einzige Schande für diese Republik. tion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD)
Herr Minister Niebel, ich bin sehr dankbar, dass Sie
etwas aufgegriffen und gemacht haben, woran schon an- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
dere sich versucht haben und teilweise gescheitert sind. Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Sie haben endlich die richtigen Schritte zur Zusammen- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Niebel hat et-
führung der deutschen Entwicklungshilfe unternom- was über Maßstäbe gesagt. Wer die Schrumpfung zum
men, um sie zu konzentrierter, wirksamer und zielge- Maßstab wählt, für den ist Stagnation schon ein Erfolg.
nauer zu machen. Das ist eine große Leistung. Wir sind
auf einem guten Weg. Über das eine oder andere kann (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
man noch sprechen. Über die Feinheiten kann noch im Wer die Schrumpfung als alleinigen Maßstab wählt, für
Fachausschuss und im Haushaltsausschuss diskutiert den ist sogar eine ein wenig geringere Schrumpfung (D)
(B) werden. Aber eines steht fest: Doppelstrukturen werden
schon ein Erfolg. Wir nehmen einen anderen Maßstab,
abgebaut. Die Entwicklungshilfe wird wirksamer und und zwar die Versprechen des Ministers und der Kanzle-
zielgenauer. Das ist wichtig. rin. Gemessen an diesem Maßstab ist der Haushalt ein
Noch etwas anderes ist wichtig: Sie haben endlich absolutes Desaster.
dieses Ministerium zu einem vollwertigen Ministerium (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gemacht. Es ist nicht mehr ein Marionettenministerium, DIE GRÜNEN)
wie es zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode der
Fall war. Dazu kann ich nur sagen: Alle Achtung! Ich will trotzdem konzedieren, dass Minister Niebel
für seinen Etat gekämpft hat. Der Gesamthaushalt steht
(Beifall bei der FDP – Dr. Sascha Raabe [SPD]: aber unter starkem Druck. Aber warum ist das so? Wa-
Ein peinlicher Auftritt, wie immer!) rum schrumpft er? Das liegt daran, dass man bestimmte
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der mir eben- Dinge getan hat: das schreckliche Klientelwachstumsge-
falls wichtig ist. Das sind die Freiwilligendienste. Ich setz, die Maßnahmen zur Schwächung der Binnennach-
nehme sehr ernst, was Rupert Neudeck und andere zum frage, die Belastung der Schwachen und die Stärkung der
Programm „weltwärts“ gesagt haben. Ich bin für Frei- Reichen. Das alles stellt ein großes Problem für den Ge-
willigendienste, keine Frage. Aber man darf wohl hinter- samthaushalt dar. Ich erinnere daran, wie sehr die Ent-
fragen, was mit dem Geld geschieht, ob diese Dienste wicklungsländer unter der Finanz- und Wirtschafts-
sinnvoll sind und wie die Einsätze aussehen. Nach einer krise leiden, und greife die Frage von Herrn Koppelin
Statistik handelt es sich bei den Teilnehmern zu über auf: Was ist eigentlich mit den Banken? Wir haben be-
90 Prozent um Abiturienten. Schauen Sie sich das alles stimmt Fehler gemacht. Aber warum werden die Banken,
ganz genau an! Lassen Sie uns doch die Freiwilligen- die den Bundeshaushalt belasten, als Verursacher der
dienste für die jungen Menschen effektiv und sinnvoll Krise nicht stärker finanziell beteiligt? Das wäre verdien-
machen! Es darf sich dabei nicht um eine Art Reiseun- termaßen eine Einnahmequelle, die helfen könnte. Aber
ternehmen handeln. Herr Neudeck hat das zu Recht kriti- was machen Sie? Sie machen nichts.
siert. Ich finde es nicht gut, in welcher Form der Ge- (Beifall bei der SPD)
schäftsführer des Deutschen Entwicklungsdienstes die
Äußerungen von Herrn Neudeck kritisiert hat. Ich sage Es gäbe auch andere Möglichkeiten. Man könnte bei-
als Parlamentarier in aller Deutlichkeit: Kritik an Rupert spielsweise über ein Abzinsungsgebot bei den Risiko-
Neudeck in dieser Form steht dem Geschäftsführer des rückstellungen für Atomkraftwerke nachdenken. Das
DED nicht zu. Das ist meine Auffassung. wäre eine gigantische Einnahmequelle. Darüber lohnte
6134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) es sich nachzudenken. Aber Sie wollen mit den Atom- nere mich an Heidemarie Wieczorek-Zeul, die damals in (C)
kraftwerken etwas anderes machen. einer ganz ähnlichen Lage war. Sie hat in einer nicht ganz
einfachen Operation mit Schröder diesen Aktionsplan
Ihre gravierenden Fehlentscheidungen bei der Außen- entwickelt.
steuer in Form von Konzerngeschenken – ich nenne nur
Funktionsverlagerung und Mantelkauf – sind ein Desas- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Aber
ter für diesen Haushalt. Ich nenne auch die fehlende nicht finanziell unterlegt! – Zuruf von der FDP:
Finanztransaktionsteuer. Ich wüsste jetzt gern, ob Dirk Was ist daraus geworden?)
Niebel für oder gegen die Finanztransaktionsteuer ist,
aber das klärt ihr besser unter euch. Zusätzlich bringen Da wir damals alles falsch gemacht haben, jetzt aber al-
noch die Frage der CO2-Zertifikate-Verwendung und na- les sauber laufen soll, vermisse ich diesen Aktionsplan
türlich die gravierende Fehlentscheidung im Zusammen- heute, wenn der Minister diese Erfolge für sich in An-
hang mit der Umsatzsteuer für Hotels diesen Gesamt- spruch nehmen will.
haushalt unter Druck. Gemessen an diesem Druck, dem (Zurufe von der CDU/CSU)
Desaster und der Schrumpfung ist dieser Haushalt – sta-
gnierend – ein Lob für den Minister, das kann man sicher Es gibt da noch einen zweiten Satz in diesem Inter-
sagen. view: Wir müssen festlegen, was wir bis 2015 unterneh-
men wollen. Ich hätte mir gewünscht, das stünde schon
Was sollen wir nun eigentlich tun, um die Verspre- im Haushalt, anstatt zu sagen: „Wir müssen das einmal
chen einzulösen, denn das Ziel haben wir doch alle? – festlegen.“ – Nein, wo sind die Verpflichtungsermächti-
Wir bräuchten 4 Milliarden Euro, das hat der Kollege gungen, die das unterlegen? Wo ist der Gesamthaushalt,
Hoppe schon vorgetragen. Das wird ein ganz schönes der das hergibt? Wo ist die mittelfristige Finanzplanung,
Problem in diesem Haushalt werden. Wir werden uns si- die das begründet?
cher nicht trauen, unsere Vorschläge für 4 Milliarden
Euro vorzutragen, denn wir wissen, dass die Maßnah- Wir stellen fest: Das Versprechen geht in die eine
men, die man für die Gegenfinanzierung bräuchte, in der Richtung, die Haushaltsrealität geht in die andere Rich-
Koalition keine Mehrheit haben. Hätten diese Maßnah- tung. Diesen Widerspruch müsste uns die Koalition noch
men eine Mehrheit, dann hätten wir auch die 4 Milliar- erklären. Im Detail gesprochen: Der Finanzplan schrumpft
den Euro. Diesen Widerspruch müsst ihr unter euch aus- bei einer ODA-Quote, die eigentlich steigen müsste, um
machen. 300 bis 400 Millionen Euro. Das kann man eigentlich
nur dann schaffen, wenn das Bruttoinlandsprodukt dra-
Wie funktioniert dieser Haushalt überhaupt? Vergli- matisch sinken würde, weil die ODA-Quote dann auto-
chen mit dem Haushalt 2010 ist er stabil. Aber zu wel- matisch steigt. Ich glaube aber, das ist nicht das, was Sie
(B) chem Preis? Rechnen wir einmal die Einsparungen bezo- wollen. (D)
gen auf den Finanzplan 2011 heraus, die sich durch
disponible und flexibilisierbare Mittel ausgleichen las- Kommen wir zu einem wichtigen Thema, bei dem ich
sen, dann wird die Lücke von 250 Millionen Euro da- glaube, dass der Minister relativ ordentlich gearbeitet hat,
durch geschlossen, dass man sich verspricht, dies in den jedenfalls über eine lange Zeit, nämlich die Zusammen-
Folgejahren als Kürzung hinzunehmen und in diesem legung der drei Förderinstitutionen InWEnt, DED
Haushalt schon heute eine Schrumpfung der Mittel bis und GTZ, die jetzt zu einem integrierten Gesamtsystem
zum Jahr 2014 eingeplant hat. Jetzt kommt der Kardinal- werden sollen. Das finden wir gut. Im Ausland einen An-
fehler: Man verspricht auch heute noch, bis zum Jahr sprechpartner zu haben, ist gut. Es war auch gut, die drei
2015 auf eine ODA-Quote von 0,7 Prozent zu kommen. Institutionen zu fragen, wie sie sich das vorstellen. Man
Gleichzeitig sieht die Finanzplanung aber sinkende muss aber sagen: Gegenwärtig schweben die Arbeitneh-
Haushaltsmittel vor. Wie dieser Widerspruch halbwegs mer in einer gewissen Unsicherheit. Es gibt keinen Über-
seriös aufgelöst werden soll, müsste die Koalition uns leitungsvertrag. Wir kennen noch keinen Gesellschafts-
noch einmal erklären. vertrag. Wir kennen den Gesellschaftszweck noch nicht.
Die tarifrechtlichen Fragen sind noch ebenso offen wie
Wie fragil dieses gesamte Gebilde überhaupt ist, merkt Fragen der Alterssicherung. Ich finde es ganz schlecht,
man an Bemerkungen, die plötzlich aus einer ganz ande- dass der Integrationsprozess fehlt. Im Moment tut man so,
ren – aber keiner unwichtigen – Ecke des politischen Um- als ob es bis zum 31. Dezember keine Zukunft gibt, um ab
feldes kommen, nämlich aus der Ecke der FDP im Euro- dem 1. Januar so zu tun, als hätte es nie eine Vergangen-
päischen Parlament. Der Kollege Chatzimarkakis hat heit gegeben.
gesagt, man solle das Ministerium mit dem Auswärtigen
Amt verschmelzen. Wenn wir wissen, welche Leistungs- Das ist bei einer Fusion ein schwerer Fehler, wie wir
kraft dort gegenwärtig ist, dann wissen wir auch, was er aus Erfahrungen in der Industrie lernen konnten. Da
damit tatsächlich gemeint hat. muss sehr viel passieren. Wir haben zu Recht eine außer-
ordentliche Aufsichtsratssitzung beantragt, um einen ge-
(Beifall bei der SPD) naueren Einblick zu bekommen, was dort eigentlich pas-
siert, was beabsichtigt ist, welche Ziele definiert sind
Noch vor sechs Jahren hat Dirk Niebel gesagt, er setze und insbesondere wie die politische Steuerung funktio-
sich dafür ein, dass die Staatengemeinschaft hinsichtlich niert.
des Millenniumsgipfels bekräftige, die Ziele bis 2015
gemeinsam erreichen zu wollen. Ich bin zu 100 Prozent (Harald Leibrecht [FDP]: Wir sind auf einem
d’accord, frage aber: Wo ist der Aktionsplan? – Ich erin- guten Weg!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6135
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Oft wird politische Steuerung falsch verstanden, und es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
wird so getan, als ob es ausreiche, wie in einer Abtei- Das Wort hat nun Holger Haibach für die CDU/CSU-
lung, sich kleinkariert in das operative Geschäft einzu- Fraktion.
mischen. Es ist doch interessant, zu wissen, wie die Ziel-
definition des Ministeriums in eine bisherige Auftrags- (Beifall bei der CDU/CSU)
verwaltung übertragen wird.
Holger Haibach (CDU/CSU):
(Harald Leibrecht [FDP]: Die SPD hat in die- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ser Frage völlig versagt!) ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer
Man merkt, dass der Haushalt an einer Stelle falsch un- wieder erstaunt, wie sich die Haushaltsdebatten zu die-
terlegt ist. Hier kommen drei Strukturen zusammen. Für sem Ressort jedes Jahr ähneln. Frau Kofler erklärt uns,
die eine gab es Verpflichtungsermächtigungen, für die wie schlimm die Welt ist und was wir alles falsch ma-
beiden anderen nicht. Jetzt wird fusioniert, aber die Ver- chen. Ich will Sie auf Folgendes hinweisen: Das ist jetzt
pflichtungsermächtigungen betreffen nur die eine Insti- der erste vollständige Haushalt, der in Verantwortung
tution. Was ist eigentlich mit den anderen? Wie ist die dieser Koalition aufgestellt wird. Wenn Sie schlecht über
Zukunft der GIZ, der Gesellschaft für Internationale Zu- das, was wir machen, reden, dann reden Sie auch über
sammenarbeit, überhaupt zu sehen? Da bleibt ein großes das schlecht, was Sie gemacht haben, als Sie in Regie-
Aufgabengebiet. Wir erkennen, dass ein entwicklungs- rungsverantwortung waren. Das sollte Ihnen bewusst
politisches Leitbild fehlt. Eine letzte Bemerkung: Das ist sein.
ein guter Schritt, aber es ist auch wichtig – auch wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
manche Bankvorstände das nicht so sehen würden –, Dr. Sascha Raabe [SPD]: Wir reden nur diesen
künftig die finanzielle Zusammenarbeit in diesen Kom-
Haushalt schlecht!)
plex zu integrieren. Erst dann hat man eine einheitliche
Institution in der Entwicklungszusammenarbeit geschaf- Wenn Sie mit dem Finger auf jemanden zeigen, dann
fen, die Planungssicherheit für die Zukunft gibt. zeigen drei Finger auf Sie selbst. Das ist nicht hilfreich.
Es ist auch nicht hilfreich, wenn man wie die Kollegin
Ich möchte noch eine Frage stellen, die möglicher-
Hänsel das Bild von einem kriegsbesessenen Deutsch-
weise später beantwortet wird. Es fällt bei all diesen Lü-
land mit einer noch kriegsbesesseneren Bundesregierung
cken hinsichtlich der Verpflichtungsermächtigungen auf,
malt, der nichts Schöneres passieren kann, als in ein
dass die Weltbank die höchsten VE bekommen hat, die
Land, in dem die Bundeswehr im Einsatz ist, Geld zu
es bisher in der Geschichte gab. Jetzt fragt man sich, wie
stecken. Ich frage mich, wo Sie gewesen sind, als die
das eigentlich kommt. Hat das etwas mit dem angestreb-
Londoner Konferenz und die Kabuler Konferenz stattge-
(B) ten Sitz im Sicherheitsrat zu tun? Würde möglicher- funden haben. Was hätten Sie denn gesagt, wenn wir uns (D)
weise, wenn dieses Ziel erreicht ist, diesbezüglich etwas
als Einzige in der internationalen Staatengemeinschaft
ganz anderes geschehen? Wir wissen, dass es immer
geweigert hätten, unseren Beitrag zum Wiederaufbau in
noch ein Dogma gibt, über das wir nachdenken müssen:
Afghanistan zu leisten? Es ist doch hanebüchen, was Sie
Das Verhältnis von bilateraler zu multilateraler Hilfe soll
hier erzählen.
zwei zu eins sein. Dabei wird nicht realisiert, dass sich
inzwischen die Arbeitsweise vieler Institutionen in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Welt nicht mehr in dieses Schema pressen lässt. Der Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber anstelle der
Global Fund oder GAVI arbeiten ganz anders, nämlich Bundeswehr und nicht zur Unterstützung!)
in Dreiecksverhältnissen.
– Darüber, dass Sie die Bundeswehr in Afghanistan
nicht haben wollen und Sie die Bundeswehr eigentlich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nirgendwo haben wollen,
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!)
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): können wir lange diskutieren. Aber wir kommen nicht
Man könnte in der Zukunft eine völlig neue Politik zu einem vernünftigen Ergebnis. – Ich will aber eines sa-
gestalten. Vielleicht könnte man sogar eine eigene Haus- gen: Das BMZ hat – das war unter der Leitung von Frau
haltsstelle für GAVI schaffen und GAVI aus dem UN-Ti- Wieczorek-Zeul, damit keine Legenden gestrickt wer-
tel für die UN herausnehmen. Damit würde der Unter- den – bei der Freien Universität Berlin eine Studie über
schied zwischen bilateral, multilateral und einem dritten Afghanistan in Auftrag gegeben. Eines der Ergebnisse
Weg deutlicher. der Studie war, dass es einen Zusammenhang zwischen
Sicherheit und Entwicklung gibt und die internationale
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Gemeinschaft dann den größten Erfolg hat, wenn militä-
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. risches und ziviles Handeln Hand in Hand gehen. Wenn
Sie es uns nicht glauben: Der EU können Sie es am Ende
des Tages glauben.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Dieser Unterschied wird zunehmend verwischt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Heike Hänsel [DIE LINKE]: Trotzdem müs-
Vielen Dank.
sen die NGOs nicht mit der Bundeswehr zu-
(Beifall bei der SPD) sammenarbeiten!)
6136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Holger Haibach
(A) Insofern muss man den Einzelplan, wie er heute vor- Das Vorhandensein eines Handelsregistereintrags am (C)
liegt, in den Kontext der gegenwärtigen Haushaltssitua- 1. Januar hat nichts mit der Frage zu tun: Funktioniert
tion stellen. Das ist genau das, was Herr Binding für die Organisation? Diese Frage wird danach entschieden.
mich überraschenderweise getan hat. Es gibt ein Pro- Die Fragen „Hat man einen gemeinsamen Geist in einer
blem, aber dieses Problem – das hat Herr Hoppe das Organisation? Hat man eine gemeinsame Idee davon,
letzte Mal sehr schön gesagt – ist nicht das Problem un- wie man das machen will? Hat man vernünftig arbei-
serer Koalition; das war schon das Problem aller Koali- tende Strukturen?“ werden in der Zukunft entschieden.
tionen vorher. Natürlich haben wir eine massive Schwie-
rigkeit, und die heißt: Verpflichtungsermächtigungen. Deswegen glaube ich, dass es richtig war, zu sagen:
Die Verpflichtungsermächtigungen sind ein Problem für Wir machen in dieser Legislaturperiode die Reform der
uns – das wissen auch alle Beteiligten –, aber sie waren drei Durchführungsorganisationen, versuchen aber
es schon unter Herrn Eichel und auch unter Herrn nicht das große Modell; denn das ist noch einmal eine
Steinbrück. Deswegen ist das nichts, was Sie speziell ganz andere Baustelle. Ich finde, dass es richtig ist, sich
dieser Bundesregierung oder diesem Minister anlasten da nicht zu beschränken. Es gilt aber, das richtig und gut
können. zu machen. Zu sagen: „Wir reformieren das und legen
das zusammen“, wäre einfach gewesen. Man hätte ent-
(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: scheiden können: Wir machen eine Holding. Dann sind
Wir können es doch mal gemeinsam verän- die drei Organisationen zusammen, und alles ist prima. –
dern!) Nur hätten wir damit nicht den Effekt erreicht, den wir
Nichtsdestoweniger finde ich: Wenn wir eine Auf- damit eigentlich erreichen wollen. Wir wollen wirkliche
gabe im Haushaltsverfahren haben, dann ist es die, ge- Synergien, wirkliche Steuerungsfähigkeit. Dieses Kon-
nau an der Stelle etwas zu machen. zept ist die Grundlage und bietet Gewähr dafür, dass es
funktionieren kann.
(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind uns auch durchaus einig darüber, dass wir das Ich würde gern noch auf ein anderes Thema zu spre-
machen wollen. chen kommen, das aber auch mit Kohärenz und Effi-
zienz zu tun hat. Sie wissen, dass die ODA-fähigen Mit-
Ich möchte die Diskussion über Effizienz und über tel in Deutschland weit über den 6,07 Milliarden Euro
die Frage: „Haben wir einen vernünftigen, effizienten des Einzelplans 23 liegen. Es sind etwa 9,5 Milliar-
und guten Mitteleinsatz?“ nicht als Ersatzdebatte sehen den Euro, wenn ich es richtig im Kopf habe, die von
nach dem Motto: Jetzt haben die nicht genügend Geld mehr als zehn Ministerien verausgabt werden. Das geht
(B) oder wollen nicht genügend Geld bereitstellen, und des- vom Kanzleramt über das Forschungsministerium, das (D)
wegen reden die mal kurz über Effizienz. Auswärtige Amt, das Verteidigungsministerium bis zum
(Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
DIE GRÜNEN] – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: braucherschutz usw. usf. Das bedeutet einen Vorteil in-
Aber das tun Sie!) sofern, als die Entwicklungszusammenarbeit bzw. die
Entwicklungspolitik einen breiteren Ansatz bekommt.
– Nein. Die Reform des entwicklungspolitischen Vor- Aber der Nachteil ist: Es gibt einen hohen Koordina-
felds zur Effizienzsteigerung der deutschen Entwick- tionsaufwand, und auch den gibt es schon seit Jahren.
lungszusammenarbeit war überfällig.
Das Konzept besagt nun deutlich: Wir wollen, dass in
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der Bundesregierung ein Koordinationskreis tätig wird.
SES 90/DIE GRÜNEN) Wir würden uns natürlich wünschen: unter Federführung
Wir haben es in einem Jahr hinbekommen, ein Konzept des BMZ. Damit soll Koordination tatsächlich geleistet
dazu vorzulegen. Sie haben das nicht geschafft. – Das ist werden. Das ist eine neue Qualität. Das halte ich für
der eine Punkt. wichtig; denn wenn wir uns mit einem vernünftigen ge-
meinsamen Auftritt nach außen präsentieren wollen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dann kann uns das nur gelingen, wenn wir unsere Arbeit
Der zweite Punkt. Man muss immer einmal fragen: intern so reibungslos wie möglich gestalten. – Das ist der
Warum macht man das eigentlich? Es gibt mehrere zweite Punkt. Mit meinem dritten Punkt begebe ich mich
Ziele, die erreicht werden sollen, etwa die Effizienzstei- nun auf die internationale Ebene. Ich bin, ehrlich ge-
gerung. Ziel ist aber auch, dass Politik, dass dieses sagt, immer wieder überrascht, mit welcher ideologi-
Ministerium gegenüber den Durchführungsorganisatio- schen Verbissenheit darüber gestritten wird, ob etwas in-
nen tatsächlich steuerungsfähig ist. Es ist vollkommen ternational, bilateral oder multilateral gemacht wird.
klar, dass ein Ministerium, das mit genauso vielen Mitar- Dabei geht es am Ende des Tages ausschließlich um die
beitern wie vor vier oder fünf Jahren anderthalb mal so Frage: Was ist eigentlich erfolgreich? Was ist an welcher
viele Mittel verausgaben kann, das Problem haben wird, Stelle richtig? Das können internationale oder multilate-
Steuerungsfähigkeit in irgendeiner Form vernünftig her- rale Maßnahmen genauso gut wie bilaterale sein.
zustellen. Auch das ist etwas, was wir mit der Vorfeldre- (Zurufe von der SPD)
form erreichen wollen. All die Fragen, die Herr Binding
angesprochen hat, sind auch wichtig, müssen auch gelöst Viel wichtiger ist, dass unser Handeln konsistent ist.
werden, aber das weiß doch auch jeder von uns. Ich weise immer wieder darauf hin: Deutschland gibt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6137
Holger Haibach
(A) nach sehr strengen Kriterien neun Ländern Budgethilfe. zu verdanken, dass trotzdem am Ende alle, die eine Zu- (C)
Gleichzeitig finanzieren wir den Europäischen Entwick- sage bekommen haben, auch einen Platz erhalten haben.
lungsfonds, der nach viel lascheren Bedingungen we-
sentlich mehr Ländern Budgethilfe gibt. Warum ist das Nun zur Frage, ob die vorgesehenen Mittel jetzt rei-
so? Weil der Europäische Entwicklungsfonds offensicht- chen. Wir haben in diesem Jahr 30 Millionen Euro im
lich ein Mittelabflussproblem hat. Insofern ist es richtig, Haushalt angesetzt. Das sind 3 Millionen Euro mehr, als
sich das einmal genauer anzuschauen. Es kann doch nur im Jahr 2009 abgeflossen sind. Kreieren Sie also bitte
eins von beiden richtig sein. Selbst wenn man ein großer kein Problem, wo keines ist. Das können wir Ihnen an
Fan von multilateralen Maßnahmen ist, sollte man ein dieser Stelle auf keinen Fall durchgehen lassen.
Interesse daran haben, dass das einmal überprüft wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lebendige Entwicklungspolitik wird in Zukunft, wie
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE ich glaube, noch mehr davon abhängen, dass koordiniert
GRÜNEN]: Können Sie doch machen! Dafür vorgegangen wird. Wir brauchen ausreichend Mittel,
haben Sie doch Ihre Regierung!) aber wir brauchen auch entsprechende Strukturen. Dass
diese entstehen, dabei können wir alle mithelfen.
In dem Zusammenhang möchte ich noch auf ein Wei-
teres zu sprechen kommen: Die ursprüngliche Idee für Danke sehr.
europäische Entwicklungshilfe war, abgestimmt vor-
zugehen. Europäische Entwicklungspolitik sollte da ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
greifen, wo nationalstaatliche Entwicklungspolitik aus
welchen Gründen auch immer keinen Platz hat. Dieses Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Verhältnis hat sich inzwischen fast umgedreht. Man Das Wort hat nun Niema Movassat von der Fraktion
muss inzwischen geradezu aufpassen, dass nationalstaat- Die Linke.
liche Entwicklungspolitik in irgendeiner Form überhaupt
noch stattfindet. (Beifall bei der LINKEN)

Vielleicht liegt darin aber auch die Lösung für ein Niema Movassat (DIE LINKE):
Problem. Christian Ruck hat darauf hingewiesen, dass
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ist
die großen Aufwüchse – das ist auch meine persönliche
es blanker Zynismus oder eine Tragikomödie? Das habe
Überzeugung –, wenn sie denn kommen, nur durch
ich mich gefragt, als ich mir den Haushalt des Entwick-
nichtoriginäre Haushaltsmittel finanziert werden. Er hat
lungsministeriums angeschaut habe. Ich muss wohl
den Emissionshandel und viele andere Möglichkeiten
(B) kaum daran erinnern, dass sich Deutschland 1970 durch (D)
genannt. Wenn das so kommen sollte, dann gibt es zwar
Annahme einer UN-Resolution verpflichtet hat, 0,7 Pro-
eine Schnittmenge zwischen Klimaschutz und Armuts-
zent seines Bruttonationaleinkommens für die öffentli-
bekämpfung, aber beides wäre trotzdem nicht zu
che Entwicklungshilfe aufzuwenden. Trotzdem besaß
100 Prozent deckungsgleich. Armutsbekämpfung muss
Minister Niebel Anfang des Jahres, also ganze 40 Jahre
aber in vollem Umfang geleistet werden; denn wir sind
später, die Frechheit, dieses Ziel als „sportlich“ zu be-
uns ja einig, dass diese eine der konstitutiven Elemente
zeichnen.
von Entwicklungspolitik ist. Hier stellt sich nun die
Frage, ob man nicht in Kooperation mit der europäi- (Beifall bei der LINKEN)
schen Ebene zu vernünftigen Lösungen kommen kann,
damit am Ende des Tages wirklich eine vernünftige und Gleichzeitig betonte er, die Regierung halte an dem Ziel
konsistente Entwicklungspolitik gemacht wird. fest. Der vorliegende Haushaltsentwurf jedoch beweist,
dass Sie dieses Ziel bereits aufgegeben haben. Sie haben
Es ist also notwendig, alles miteinander zu verzahnen. das EU-weit vereinbarte Zwischenziel für 2010 von
Ein nüchterner Blick auf die Dinge hilft dabei. Deswe- 0,51 Prozent nicht erreicht und wollen auch 2011 das
gen habe ich mich ein bisschen über die Bemerkungen Budget nicht erhöhen.
zum Thema „weltwärts“ geärgert. Jeder, der die Debatte
zum Thema „weltwärts“ in den letzten Wochen und Mo- Das Finanzministerium rechnet sogar damit, dass die
naten verfolgt hat, weiß, dass die Probleme dadurch ent- Ausgaben für die Entwicklungshilfe bis 2014 um
standen sind, dass einige Entsendeorganisationen nicht 400 Millionen Euro sinken werden. Zahlreiche europäi-
gewartet haben, bis der Haushalt verabschiedet wurde, sche Staaten haben ihre Verpflichtungen trotz Wirt-
schaftskrise bereits heute erfüllt. Die Fraktion Die Linke
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hat hier beantragt, das 0,7-Prozent-Ziel gesetzlich zu
Wie denn?) verankern. Geben Sie doch wenigstens zu, dass Sie gar
nicht mehr den Willen zur Zielerreichung haben.
sondern auf Basis eines Ansatzes, der aber nicht mit dem
des beschlossenen Haushaltes identisch war, Anmeldun- (Beifall bei der LINKEN)
gen bestätigt haben. Auch die Ankündigung des Entwicklungsministers,
(Zurufe von der SPD) nach 2011 die Zahlungen an den Globalen Fonds zur
Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Mala-
So kann man nicht verfahren, weil keiner weiß, was ria einzustellen, ist zynisch. Der Ausstieg steht auch in
dann am Ende wirklich kommt. Es ist dem Ministerium einem krassen Widerspruch zu dem Versprechen der
6138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Niema Movassat
(A) Bundeskanzlerin. Diese tingelt von Gipfel zu Gipfel und lungspolitisch offensichtlich unnützen Fähre für Indone- (C)
macht fromme Ankündigungen. sien leisten. Das Entwicklungsministerium fördert mitt-
lerweile über 3 000 öffentlich-private Partnerschaften.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es soll noch mehr Geld in diesen Bereich fließen. Längst
Herr Kollege Movassat, gestatten Sie eine Zwischen- ist jedoch bewiesen: Den größten Nutzen aus diesen Mo-
frage des Kollegen Haibach? dellen ziehen nicht die Menschen in den Partnerländern,
sondern die Privatunternehmen. Sie betreiben daher
keine Entwicklungspolitik, sondern Außenwirtschafts-
Niema Movassat (DIE LINKE): politik. Das lehnen wir ganz eindeutig ab.
Nein. Er kann gerne nach meiner Rede eine Kurz-
intervention machen. (Beifall bei der LINKEN)
Noch beim letzten G-8-Treffen vor drei Monaten hat Statt einem Menschen in Afrika den Zugang zu lebens-
die Bundeskanzlerin versprochen, sich für den Erfolg wichtigen Medikamenten zu verschaffen, ermöglichen
der anstehenden Geberkonferenz für den Globalen Sie lieber dem einen oder anderen deutschen Unterneh-
Fonds einzusetzen. Keinen Pfifferling sind die Zusagen mer eine satte Gewinnzulage.
der Kanzlerin wert.
(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen
(Beifall bei der LINKEN) das aufgeschrieben?)
Der Globale Fonds hat seit 2002 fast 6 Millionen Diese Wirtschafts- und Wettbewerbsfixierung setzt
Menschen das Leben gerettet. Trotzdem sterben noch sich im Übrigen auch in der Institutionsreform fort. Sie
heute jährlich 2 Millionen Menschen allein an HIV/ wollen die Entwicklungsorganisationen der technischen
AIDS. Ich bin deshalb der Ansicht, die Finanzierung des Zusammenarbeit fusionieren.
Globalen Fonds sollte durch einen völkerrechtlichen
Vertrag abgesichert und deutlich erhöht werden. Dieser (Harald Leibrecht [FDP]: Richtig!)
Fonds ist die beste derzeit vorhandene Maßnahme zur
Dabei soll die Unterstützung der deutschen Consulting-
Bekämpfung der Krankheiten, die die Menschheit am
Wirtschaft eine erhebliche Rolle spielen. Zum anderen
meisten betreffen. Eine Einstellung der Zahlung an den
wollen Sie den Wettbewerb der öffentlichen Entwick-
Globalen Fonds ist deshalb wider jede menschliche Lo-
lungsorganisationen mit der Privatwirtschaft um die
gik und bedeutet für die Ärmsten dieser Welt eine unter-
Aufträge des Ministeriums stärken. Das ist wieder eine
lassene Hilfeleistung.
Maßnahme vor allem zugunsten der deutschen Unter-
(Beifall bei der LINKEN – Harald Leibrecht nehmen und nicht primär zugunsten der Entwicklungs-
(B) [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Das wird länder. Eine solche Fusion lehnen wir ab. (D)
doch gar nicht eingestellt! Was sagen Sie denn
hier?) (Beifall bei der LINKEN)

Nächste Woche findet in New York die UN-Konfe- Für die Linke ist ganz klar: Die koloniale Vergangen-
renz zur Erreichung der Millenniumentwicklungsziele heit und unser heutiges Wirtschaftssystem sind Ursache
statt. Es geht um den Kampf gegen die Tatsache, dass für endloses Leid und Elend in der Welt. Entwicklungs-
fast 1 Milliarde Menschen hungern und dass Armut und politik ist deshalb eine Verpflichtung gegenüber den
Krankheiten große Teile der Weltbevölkerung in Geisel- ärmsten Ländern und darf auf keinen Fall mit eigenen
haft halten. Angesichts Ihrer aktuellen Haushaltsplanung wirtschaftlichen Interessen verknüpft werden. Die Ent-
appelliere ich an Sie, Herr Niebel und Frau Merkel: Fah- wicklungspolitik dieser Regierung ist deshalb eine Kata-
ren Sie nicht, wie angekündigt, zum UN-Gipfel nach strophe.
New York! Blamieren Sie Deutschland nicht vor der in- Danke für die Aufmerksamkeit.
ternationalen Gemeinschaft mit weiteren Lippenbe-
kenntnissen zu den Millenniumentwicklungszielen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Jürgen
Koppelin [FDP]: Ihre Rede war auch eine Ka-
(Beifall bei der LINKEN)
tastrophe!)
Dass die Versprechen der reichen Staaten an die ärmsten
Staaten oft Schall und Rauch sind, ist leider nichts Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Neues. Ihre Unzuverlässigkeit aber bringt das Fass end-
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
gültig zum Überlaufen. „Weltmeister im Brechen von
Kollegen Holger Haibach.
Versprechen“ ist der Titel, den Sie sich zu Recht einhan-
deln werden.
Holger Haibach (CDU/CSU):
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Präsident, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir
Die eingesparten Mittel steckt Herr Niebel übrigens die Chance geben, noch etwas zu dem wichtigen Thema
nicht etwa in einen anderen Bereich der Entwicklungs- „Gesundheitsförderung in Entwicklungsländern“ zu sa-
zusammenarbeit. Er leitet die Gelder stattdessen direkt gen. – Herr Movassat, es tut mir wahnsinnig leid, dass
weiter an die deutsche Privatwirtschaft. Jetzt will er zum ich sagen muss: Einige Ihrer Aussagen stimmen einfach
Beispiel der Papenburger Meyer Werft Unterstützung in nicht. Das liegt vielleicht daran, dass Sie noch nicht allzu
Höhe von 50 Millionen Euro für den Bau einer entwick- lange im Parlament sind.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6139
Holger Haibach
(A) Erstens. Im Haushaltsentwurf sind 200 Millionen dern schlicht und einfach um Fakten, die vielleicht auch (C)
Euro für den GFATM vorgesehen. Ich bitte darum, das Sie zur Kenntnis nehmen sollten. Der Etat des Bundes-
zur Kenntnis zu nehmen und nichts anders zu behaupten. ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit sta-
gniert im Jahre 2011. Nach der Finanzplanung wird er
Zweitens. Die Zusage der Bundesregierung, der
im Jahr 2012 um 5 Prozent und im Jahre 2013 um wei-
Kanzlerin, der vorhergehenden Bundesregierung bezieht
tere 1,5 Prozent reduziert. Das bedeutet ein Minus von
sich auf Gelder in dieser Höhe für Maßnahmen in die-
400 Millionen Euro im Jahre 2013.
sem Bereich und nicht ausdrücklich auf den GFATM.
Der GFATM ist ein mögliches Mittel; aber es können ge- Nichts gegen Wirksamkeit, was den Einsatz von Mit-
nauso gut andere mögliche Mittel genutzt werden. Es teln angeht, Herr Niebel. Aber wenn immer weniger
können natürlich genauso gut bilaterale Maßnahmen ge- Geld vorhanden ist, dann wird eigentlich nur eines wirk-
nutzt werden, um diese Zusage einzuhalten und damit sam, nämlich die alte Forderung der FDP, dieses Minis-
auch ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen. terium abzuschaffen. Denn wenn keine Entwicklungs-
Die öffentliche Diskussion, wie sie jetzt in Deutsch- zusammenarbeit zu finanzieren ist, dann brauchen wir es
land abläuft, geht an dieser Stelle leider an der Wahrheit irgendwann nicht mehr.
vorbei. Auch Sie haben diesen Fehler gemacht. Unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Politik steht – selbst wenn es irgendwann zu einer Ab- und bei der SPD)
senkung kommen sollte – nicht in krassem Widerspruch
zu dem, was Zusage deutscher Regierungen gewesen ist, Auch nach Ihren eigenen Aussagen, Herr Niebel,
und dabei bleibt es auch. wird Deutschland im Jahre 2010 statt einer ODA-Quote
von 0,51 Prozent eine ODA-Quote von nur 0,4 Prozent
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erfüllen. Insofern ist es schon ein sportliches Ziel,
0,7 Prozent bis 2015 zu erreichen. Bis dahin müssten ei-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gentlich 10 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt
Herr Kollege, wollen Sie darauf erwidern? – Bitte werden, aber nicht einfach so, damit man Geld ausgibt
schön. – so wurde es hier suggeriert –, sondern zum Beispiel,
um Grundbildung in den Entwicklungsländern zu finan-
Niema Movassat (DIE LINKE): zieren, damit die Menschen dort ihre Existenz gründen
Sehr geehrter Herr Kollege Haibach, die Kanzlerin können, damit gute Verwaltungsstrukturen aufgebaut
hat vor drei Monaten einen Erfolg bei der Wiederauffül- werden können, damit diese Länder also aus sich selbst
lungskonferenz versprochen. Der Globale Fonds ist ein heraus leben und wirtschaften können. Ich verweise in
diesem Zusammenhang auf Maßnahmen zur Anpassung
(B) Erfolgsmittel in diesem Bereich. Deshalb sind die Aus- an den Klimawandel. (D)
sagen der Bundesregierung, die alle darauf abzielen
– Sie haben es mit Ihrem Wortbeitrag gerade im Prinzip Auch hier versagen Sie. In Kopenhagen hat Frau
bestätigt –, diesem Fonds mit der Zeit die Mittel zu ent- Merkel höchstpersönlich zugesagt, jährlich 420 Millio-
ziehen und sie in bilaterale Entwicklungszusammen- nen Euro für Klimaschutzmaßnahmen bereitzustellen.
arbeit zu investieren, der falsche Weg. Woher wissen wir Im letzten Jahr haben Sie nach heftigem Ringen mit der
denn, dass die Modelle für bilaterale Entwicklungs- Opposition 70 Millionen Euro eingestellt, davon 35 Mil-
zusammenarbeit, die entwickelt werden, wirklich besser lionen Euro im BMZ-Haushalt. Im Entwurf des Haus-
sind als der Globale Fonds? Dieser hat Erfolg gehabt. halts für das Jahr 2011 steht dafür kein einziger Euro zur
Ich finde, man sollte eine erfolgreiche Mittelvergabe Verfügung. Wir haben gerade in Pakistan gesehen, wel-
fortsetzen und unterstützen. Deshalb ist es richtig und che Auswirkungen es hat, wenn der Klimawandel voran-
wichtig, den Globalen Fonds wieder aufzufüllen. schreitet. Es macht doch keinen Sinn, immer wieder
Dieser Fonds braucht noch eine deutliche Mittelerhö- Nothilfe zu leisten. Nein, wir müssen Gelder präventiv
hung. Insofern sollte Deutschland hier vorbildhaft vo- einsetzen, gerade für die Entwicklungszusammenarbeit,
rangehen und sich für eine Erhöhung der Mittel einset- damit der Klimawandel eingedämmt werden kann.
zen, und zwar auch im vorliegenden Haushaltsentwurf,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
statt perspektivisch eine Senkung und damit eine Ab-
und bei der SPD)
schaffung der Beiträge in Erwägung zu ziehen.
Danke. Wer hindert Sie eigentlich daran, das, was in der Ka-
binettsvorlage steht, umzusetzen, nämlich die Einfüh-
(Beifall bei der LINKEN) rung neuer, innovativer Finanzierungsinstrumente?
Das steht darin; das brauchen Sie, um die ODA-Quote
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu erreichen. Was ist mit der Finanztransaktionsteuer?
Das Wort hat nun Kollegin Priska Hinz von der Frak- Wie steht es darum, das Mehrwertsteuerprivileg bei Flü-
tion Bündnis 90/Die Grünen. gen aufzuheben? Sie regieren doch; zumindest sollten
Sie regieren. Führen Sie bitte solche innovativen Finan-
zierungsinstrumente ein! Wir unterstützen Sie, damit die
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Haushaltsentwürfe ab 2011 besser aussehen.
NEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Ruck, es geht in dieser Debatte nicht um Kleinmut, son- der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])
6140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Priska Hinz (Herborn)


(A) Wenn man sich die Verpflichtungsermächtigungen im schusses – wir sind schließlich die Elite dieses Parla- (C)
Bereich der technischen Zusammenarbeit im Haushalts- ments –: Wir sollten uns an die Vorgaben des Rech-
entwurf ansieht, dann erkennt man, wie ernst Sie die Er- nungshofes halten.
füllung Ihrer internationalen Verpflichtungen nehmen:
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Hier ist ein Minus von 130 Millionen Euro vorgesehen.
Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
Bei der finanziellen Zusammenarbeit ist ein Minus von
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
311 Millionen Euro veranschlagt. Das bedeutet, dass Sie
die von Ihnen selbst in Angriff genommene Fusion der – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist gar nicht
Vorfeldorganisationen behindern; denn sie brauchen lächerlich.
VEs, damit sie Projekte planen können, damit die Um-
stellung auf das Auftragsverfahren vollzogen und der Ich sage ernsthaft: Jeder weiß, dass die Mitgliedschaft
Bestandsschutz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Haushaltsausschuss das Höchste ist, was man im
– Sie haben ihn versprochen – gewährleistet werden Deutschen Bundestag erreichen kann, es sei denn, man
können. wird Präsident dieses Parlaments. Ich bitte um Nach-
sicht.
Wir Grünen werden Ihnen bei den Haushaltsberatun-
gen zeigen, wie wir bei Einhaltung der Schuldenbremse Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
das 0,7-Prozent-Ziel erreichen können. Wir erwarten Lieber Kollege, es ist gut, dass Sie gerade noch die
mehr Einsatz vom Minister. Unseren Einsatz werden wir Kurve gekriegt haben.
bringen.
(Heiterkeit)
Danke schön.
Bitte schön, Kollegin Hinz, zur Erwiderung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
NEN):
Frau Kollegin, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage zulassen. Jetzt sind Sie schon da- Herr Kollege, da ich so belesen bin, lese ich nicht nur
vongestürzt. Ich konnte Ihren Redefluss nicht eher unter- Rechnungsprüfungsberichte und Haushalte, sondern
brechen. Sie haben nicht einmal Luft geholt. kümmere mich auch darum, wie die Fusion von GTZ,
InWEnt und DED funktionieren soll. Ich weiß deshalb,
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Darf ich eine dass diese Fusion und die Umstellung auf das Auftrags-
Kurzintervention machen?) verfahren nur funktionieren, wenn Verpflichtungsermäch-
(B) – Ja, dann bitte sofort. tigungen nicht nur für die GTZ zur Verfügung stehen, son- (D)
dern eben auch für die neue, größere Organisation; denn
DED und InWEnt müssen das ganze Haushaltsverfahren
Georg Schirmbeck (CDU/CSU): umstellen. Deswegen ist es in diesem speziellen Fall tat-
Verehrte Frau Kollegin, wenn ich es richtig sehe, sind sächlich notwendig – das sollten wir als Haushälter eben
wir beide sowohl im Haushaltsausschuss als auch im auch zur Kenntnis nehmen –, Umfang und Anzahl der
Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundes- Verpflichtungsermächtigungen zu erhöhen.
tages.
Lieber Herr Kollege, ich finde, wir sollten, wenn wir
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE schon zur Elite gehören, über den Tellerrand hinaus-
GRÜNEN]: So ist es!) schauen und uns neue Erkenntnisse zu Gemüte führen,
Da ich weiß, dass Sie eine der belesensten Kolleginnen um zu guten Ergebnissen im Sinne der Entwicklungszu-
sind und genau wissen, was in den einzelnen Bereichen sammenarbeit und der Effizienz bei der Ausgabe von
läuft, unterstelle ich einmal, dass Sie davon Kenntnis ha- Mitteln zu kommen.
ben, dass der Bundesrechnungshof den Bundeshaushalt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
überprüft. Der Rechnungshof hat sich einmal mit den
Verpflichtungsermächtigungen in den Bundeshaushal-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ten der Vergangenheit auseinandergesetzt: Er hat war-
nend festgestellt, dass wir viel zu viele Verpflichtungs- Das Wort hat nun Kollege Jürgen Klimke für die
ermächtigungen ausbringen und dass ihre Anzahl CDU/CSU-Fraktion.
drastisch verringert werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn sich jetzt die Bundesregierung an das hält, was
der Rechnungshof vorgegeben hat und was wir im Haus- Jürgen Klimke (CDU/CSU):
haltsausschuss zustimmend zur Kenntnis genommen ha- Danke sehr. – Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ben, dann können Sie nicht hingehen und die Bundes- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen von
regierung hier für ihr richtiges Verhalten kritisieren. der Elite zur Normalität zurück. Vielleicht erinnern Sie
Würde man Ihrer Kritik folgen, hätte dies zur Konse- sich gemeinsam mit mir an die letzte Haushaltsdebatte,
quenz, dass an der einen oder anderen Stelle mehr Ver- die wir vor sechs Monaten geführt haben. Dort ging es
pflichtungsermächtigungen ausgebracht werden müssen. ähnlich aufgeregt zu. Man hat damals Minister Niebel
Ich sage Ihnen bei allem Respekt unter uns Haushältern vorgeworfen, er könne es nicht, das von ihm protegierte
bzw. unter uns Vertretern des Rechnungsprüfungsaus- Team in seinem Ministerium würde es ebenfalls nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6141
Jürgen Klimke
(A) packen. Es gab Personal- und Umstrukturierungsdiskus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
sionen. Im Übrigen wurde behauptet, mit der Entwick-
Nichts ist sinnvoller und notwendiger als beispiels-
lungszusammenarbeit und der Entwicklungspolitik gehe
weise ein verstärktes Engagement des deutschen Mit-
es steil bergab. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir ha-
telstandes in den Entwicklungsländern. Das wird dort
ben mehrfach darauf hingewiesen – ich wiederhole es –:
auch erwartet. Gerade der deutsche Mittelstand hat einen
Der Bundeshaushalt geht insgesamt um 3,8 Prozent zu-
besonders guten Ruf, in folgenden Bereichen über aus-
rück. In unserem Einzelplan ist immerhin ein Aufwuchs
reichend Know-how zu verfügen: beim Klimaschutz, im
von 3 Millionen Euro vorgesehen. Das muss man fest-
Wasserbereich, im Energiesektor, im Rohstoffbereich
halten. Lassen wir doch einmal die Kirche im Dorf.
und bei den Wertschöpfungsketten im Gesundheitsbe-
(Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) reich. Das sind Bereiche, in die sich der deutsche Mittel-
stand bei der Entwicklungszusammenarbeit einbringen
Ich möchte auch auf etwas anderes hinweisen. Die taz kann.
und Der Spiegel kommen in diesen Tagen an einem Lob
für Minister Niebel nicht vorbei. Die Lobeshymnen der Wir wollen, dass deutsche Unternehmen sozial und
Zeitungen aus dem linken Spektrum sind nicht nur eine umweltfreundlich investieren. Dazu hat das BMZ eine
Bestätigung, nein, sie stellen zusätzlich eine Prognose Servicestelle „Entwicklungszusammenarbeit und Wirt-
für seine weitere Amtszeit dar. Seine Arbeit wird kurz schaft“ eingerichtet, die mittelständische Unternehmen
und bündig als positiv und konstruktiv beschrieben. Ich berät. Das ist gut so. Darüber hinaus haben wir zusätzlich
freue mich darüber, dass die meisten anderen Medien die 10 Millionen Euro für Programme zur Förderung der Zu-
Richtigkeit dieses Urteils inzwischen eingesehen und die sammenarbeit mit der Wirtschaft in den Haushalt einge-
Kritik an Minister Niebel eingestellt haben. stellt, und wir haben sogenannte Entwicklungsscouts als
Verbindungsreferenten in die großen Wirtschaftsver-
Nun muss sich die Opposition fragen, ob sie den ei- bände geschickt. Diese Scouts sollen vor allen Dingen
nen oder anderen Satz der Anerkennung oder der persön- Direktinvestitionen der deutschen mittelständischen Un-
lichen Wertschätzung des Ministers – zwei, drei Ansätze ternehmen in den Partnerländern unterstützen und neue
dazu hat es gegeben – artikulieren könnte. Man hat ange- Konzepte bei der Mikrofinanzierung und der Mikroversi-
sichts der Oppositionsarbeit in den letzten Monaten cherung als zusätzliches Angebot in die Entwicklungs-
manchmal das Gefühl, dass die Ideen und die Vorstellun- länder mitnehmen. Das ist etwas sehr Gutes.
gen der Opposition regressiv sind und dass programma-
tisch eher von mangelnder Kreativität gesprochen wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den sollte. Ein letzter Punkt zu diesem Bereich. Die PPP-Pro-
Die Opposition will zum Beispiel mehr Budgethilfe gramme sind ausgebaut worden. „DeveloPPP“ ist ein
(B) (D)
für Länder, die nachweislich korrupt sind. Das ist nicht neues Programm. Es ist klar, liebe Opposition, dass guter
kreativ. Die Opposition verneint, dass der Aufbau wirt- Wille die Probleme in unseren Partnerländern nur be-
schaftlicher Leistungskraft auf regionalen Märkten mithilfe dingt löst. Wir verfügen auch über die nötigen Konzepte.
des Know-hows der deutschen Wirtschaft zukunftswei- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oh je!)
send ist. Die Opposition stellt sich gegen den entwick-
lungspolitischen Nutzen von Infrastrukturprojekten; das Das ist das Wesentliche.
haben wir hier mehrfach gehört. Sie ist gegen die Förde- (Beifall bei der CDU/CSU)
rung innovativer Agrarforschung, mit der in den nächsten
Jahren die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden Konzepte für Finanzierungsinstrumente im Rahmen
kann. Einige von denen, die jetzt in der Opposition sind, des Einzeletats 23 hat der Kollege Ruck vorhin vorge-
haben in Regierungsverantwortung ein Jahrzehnt lang die stellt. Das sind Konzepte kreativer Art; das ist das Ent-
Mittel für zukunftsweisende Sektoren, zum Beispiel für scheidende. Was haben Sie unter Ihrem Kanzler Schröder
den Bereich Bildung, zurückgefahren. Im Gegensatz dazu gemacht? Sie haben unter dem Eindruck der damaligen
haben wir, die Entwicklungspolitiker von Union und Wirtschaftskrise einfach bei den Geldern für die Armen
FDP, konstruktive Vorstellungen, die wir gemeinsam in in der Welt gespart. Das ist aus meiner Sicht Doppelmo-
der Koalition umsetzen. Man merkt, dass nicht mehr ge- ral. Wir sind da kreativer und versuchen, neue Finanzie-
bremst wird, wie von der SPD zu Zeiten der Großen Ko- rungsinstrumente zu schaffen.
alition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lassen Sie mich auch auf die Fusion der techni- Kreativität ist auch an einem anderen Punkt entschei-
schen Zusammenarbeit hinweisen; wir haben das dend. Ich bin besonders stolz darauf, dass meine Partei
mehrfach angesprochen. Zum 1. Januar 2010 geht es los. zusammen mit der CSU dadurch ihre Fähigkeit zu pro-
Das möchte ich festhalten. grammatischer Entwicklung unter Beweis stellt, dass sie
die Bundeswehr zu einer effizienten und den aktuellen
Außerdem ist es wichtig – ich betone das immer wie-
Problemen angemessenen Armee im Einsatz umbauen
der gerne, weil es deutliche Defizite in den letzten Jah-
will, zu einer Armee, die sich der vernetzten Sicherheit
ren gegeben hat –, die Kooperation mit der Wirtschaft
verpflichtet fühlt – das zeigt das Beispiel Afghanistan –,
zu stärken. Der vorliegende Haushalt belegt diese pro-
zu einer Armee, die neben dem sicherheitspolitischen
grammatische Neuausrichtung. Das ist eine Grundaus-
Aspekt auch einen humanitären
richtung, wie die SPD sie immer verhindert hat. Jetzt
werden die Vorhaben endlich umgesetzt. (Lachen der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])
6142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Jürgen Klimke
(A) und einen entwicklungspolitischen Ansatz verfolgt, Frau werden das 0,7-Prozent-Ziel und das Ziel, schon in die- (C)
Hänsel, und diesen Ansatz mehr und mehr in ihre Arbeit sem Jahr 0,51 Prozent zur Verfügung zu stellen, noch
aufnimmt. Gerade diese Reform beweist die Regierungs- einmal ausdrücklich angemahnt.
fähigkeit der Union und macht deutlich, dass wir in der
Lage sind, Bewährtes neuen Strukturen anzupassen. Ich zitiere aus einer Hausmitteilung des BMZ: Dirk
Niebel fährt nicht mit leeren Händen nach New York
Ein weiterer Punkt ist die Durchsetzung der Men- zum MDG-Gipfel. Gemeinsam mit der Kanzlerin bringt
schenrechte in der Entwicklungs- und Außenpolitik. er wichtige Vorschläge in die Verhandlungen ein. Unsere
Auch das ist zur Zeit der Großen Koalition nicht immer wichtige Botschaft ist, dass wir unser Versprechen hal-
leicht gewesen. In unseren Partnerländern, in denen die ten.
Menschenrechte mit Füßen getreten werden, machen wir
deutlich, dass wir dies nicht länger dulden wollen. Das Ich meine, wer heute die Debatte verfolgt hat, den
Gleiche gilt für Korruption. Die Lage der Homosexuel- Haushaltsentwurf liest und rechnen kann, Herr Minister,
len in Uganda, die Rolle der GTZ im Kongo, der sieht ganz klar, dass Sie hier das Gegenteil tun. Sie
brechen das Versprechen. Sie sollten nicht auch noch die
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Öffentlichkeit auf den Arm nehmen und so tun, als wür-
NEN]: Was machen Sie mit Äthiopien?) den Sie das Versprechen halten. Sie fahren mit leeren
Händen nach New York. Das ist beschämend für die
aber auch der Druck von uns und von der EU auf die Re-
ärmsten Menschen der Welt. Das müssen wir hier heute
gierung in Mosambik machen deutlich, dass wir es ein-
ganz klar feststellen.
fach nicht mehr hinnehmen, wenn wesentliche Elemente
unserer Grundauffassung von unserer Politik, wie die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Einhaltung der Menschenrechte, mit Füßen getreten wer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
den. Dann wird eingegriffen.
Sie müssen sich schon entscheiden. Sie sagen immer,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Geld sei nicht entscheidend, sondern die Effizienz.
Auf einen weiteren Punkt, die Millenniumsentwick- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der gute
lungsgrundsätze, die wir in vollem Umfang realisieren
Wille!)
wollen, hat der Kollege Haibach hingewiesen. Es ist
wichtig, zu sagen, dass wir zu den Geldern des Global Dann müssen Sie jetzt erst einmal einräumen, dass Sie
Fund stehen und verstärkt bilateral investieren wollen. das erforderliche Geld nicht zur Verfügung stellen. Ich
Ziel ist die Bekämpfung der Krankheiten mit vielen In- bin gerne bereit, mit Ihnen die Effizienzdebatte zu füh-
(B) strumenten, nicht nur global, sondern auch bilateral. ren. Einige Vorredner haben immer so getan, als wäre (D)
das, was Sie da verbessern, schon in Ordnung. Aber was
In der nächsten Woche stehen die Millenniumsent-
machen Sie in dem Bereich? Sie treten die Instrumente,
wicklungsziele auf der Tagesordnung des Gipfels in New
auf die sich die internationale Gemeinschaft geeinigt hat,
York. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir dort folgende
um wirksamer zu werden, doch mit Füßen. Statt sich in
Schwerpunkte setzen: Wir müssen die Eigenverantwor-
eine multilaterale, international abgestimmte Politik ein-
tung unserer Partnerländer stärken, die Zivilgesellschaft
zuordnen, wollen Sie weiterhin überall deutsche Flaggen
in den jeweiligen Ländern stärker fördern, nachhaltiges
auf die Projekte setzen und in die Steinzeit der Projekti-
Wirtschaftswachstum dort begünstigen und die Fähigkei-
tis zurückfallen. All diese Dinge werden Ihnen zu Recht
ten der Menschen vor Ort unterstützen, damit sie in der
vorgeworfen.
Lage sind, sich selbst zu helfen und voranzukommen.
Wenn es uns gelingt, die anderen Gebernationen von die- Da der Kollege Klimke behauptet hat, die linke Presse
sen Grundsätzen zu überzeugen, dann kann dieser Gipfel habe Herrn Niebel gelobt, zitiere ich einmal aus dem Ar-
ein großer Erfolg werden. Wir sollten uns das gemeinsam tikel „Am Hofe Niebel“ aus dem Spiegel vom 23. Au-
wünschen, auch im Interesse der Entwicklungsländer. gust 2010.
Danke sehr. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Spiegel
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist doch keine linke Presse! Was lesen Sie
überhaupt für Zeitungen?)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dort steht, dass der Globale Fonds entgegen den Rat-
Das Wort hat nun Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. schlägen der Experten nicht fortgeführt werden soll.
Weiter heißt es:
Dr. Sascha Raabe (SPD): Aus Niebels Sicht hat der Fonds einen Makel: Es ist
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen eine multilaterale Organisation, die nicht vor ihren
und Kollegen! In der nächsten Woche findet eine wich- Projekten die deutsche Fahne hochzieht – mit
tige Konferenz in New York statt. Auch einige aus die- Folgen. …
sem Haus werden hinfahren, etwa Herr Minister Niebel Niebel wird in der Branche nicht als erster Anwalt
und die Kanzlerin. Die Abschlussresolution dieser Kon- seiner Sache wahrgenommen. So muss er sich vor-
ferenz, der Konferenz zur Überprüfung der Millen- halten lassen … bei den Etatverhandlungen fast leer
niumsentwicklungsziele, liegt uns schon vor. Darin ausgegangen zu sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6143
Dr. Sascha Raabe
(A) An einer anderen Stelle heißt es: folgt hat: dass die Wohlstandsdeutschen Mitgefühl mit (C)
Afrikanern hätten, dass aber das, was hier im Lande ge-
Nichtregierungsorganisationen, die bislang eng mit schehe, auf der Strecke bleibe.
dem Ressort kooperierten, gehen auf Distanz. Wer
Kritik übt, bekommt Niebels Zorn zu spüren. (Patrick Döring [FDP]: Alles abgeräumt! –
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das war
Im Spiegel steht auch, was das Personal im BMZ sagt: Sarrazin, der das gesagt hat!)
… die Urteile sind vernichtend: „Die FDP hat sich Herr Koppelin hat schon im letzten Jahr dafür ge-
unser Ministerium zur Beute gemacht“, „Wir wis- sorgt, dass ein erfolgreiches Programm wie „weltwärts“,
sen nicht, was Niebel inhaltlich will, es kommen das jungen Menschen die Möglichkeit gibt, eigene wert-
nur Phrasen“. Die Stimmung ist miserabel. volle Erfahrungen zu sammeln – sie leisten dabei in Ent-
Dem kann ich mich nur anschließen, Herr Minister. Sie wicklungsländern wertvolle Aufbauarbeit –, diskreditiert
haben es in einem Jahr geschafft, die gute deutsche Ent- wird. Herr Niebels Etat wurde an dieser Stelle gekürzt.
wicklungszusammenarbeit so zu beschädigen, dass Ih- Man hat sich von Herrn Koppelin schon mehrfach am
nen das zu Recht von Nichtregierungsorganisationen Nasenring herumführen lassen.
und auch der freien Presse vorgehalten wird. (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist nicht zu erwarten, dass in diesen Verhandlungen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – für „weltwärts“ noch etwas herausgeholt wird.
Patrick Döring [FDP]: Sie glauben doch Ihre
eigenen Worte nicht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das müssen Sie sich auch von uns vorhalten lassen, Ihre Redezeit ist bereits vorüber.
Herr Minister. Wenn Sie in andere Länder gehen und
gute Regierungsführung einfordern, dann muss man Dr. Sascha Raabe (SPD):
hier einmal schauen, wie diese Bundesregierung dieses Ich will – –
Land mittlerweile zur Beute von Atomlobbyisten und
Hotellobbyisten gemacht hat.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nein, Ihre Redezeit ist vorüber.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu-
rufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) Dr. Sascha Raabe (SPD):
Überall dort wäre Geld zu holen. Meine lieben Haushäl- Dann ist es auch ganz gut, dass der Koppelin jetzt
(B) ter, die Sie sich hier selbst als Elite des Parlaments be- nichts mehr sagt. (D)
zeichnen, wenn Sie bei der Besteuerung der Energiewirt- (Patrick Döring [FDP]: Das ist der Kollege
schaft einmal auf den Gedanken gekommen wären, Koppelin! Wo sind wir denn hier!)
denen jetzt nicht unter dem Strich 80 oder 90 Milliarden
Euro zu schenken, sondern dort ein bisschen kräftiger Ich kann zu Herrn Kollegen Koppelin, der die jungen
zuzuschlagen, Menschen hier diskreditiert, nur sagen, dass ich –
(Patrick Döring [FDP]: Äußern Sie sich doch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
zu Dingen, die Sie verstehen!)
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie müssen
dann hätten Sie auch das nötige Geld, um die Mittel für zum Schluss kommen.
Entwicklungszusammenarbeit entsprechend internatio-
nalen Zusagen zu steigern. Wir sollten, wenn wir von Dr. Sascha Raabe (SPD):
guter Regierungsführung sprechen, hier in diesem Hause – zum Schluss – auf Auslandsreisen in Entwicklungs-
damit anfangen, Herr Minister. Da gäbe es sehr viel zu ländern immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass
tun. diese jungen Leute ganz schwere Arbeit machen, dass
(Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/ sie etwas Gutes für die Ärmsten der Armen tun und dass
CSU]: Das musste gesagt werden!) sie in Kindergärten und Schulen helfen. Wenn ein Abi-
turient dort Englisch unterrichtet, ist dieser – leider – oft-
In der Tat, wo sollen die Mittel herkommen? Die Ein- mals besser ausgebildet als der eine oder andere Lehrer.
nahmen aus der Flugticketabgabe gehen jetzt in den
Haushalt und werden nicht für die Entwicklungszusam- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
menarbeit verwendet, wie es einmal gedacht war. Die Fi-
Herr Kollege!
nanztransaktionsteuer lehnt der Herr Minister ab. Es ist
schon interessant, dass man sich dafür rechtfertigt, dass
man die Mittel nicht erhöht, indem man darauf hinweist, Dr. Sascha Raabe (SPD):
dass es in vielen Entwicklungsländern Korruption gibt Ich habe großen Respekt vor der Aufgabe der Men-
und man deswegen kein Geld dorthin geben muss. Wenn schen dort. Deswegen, Herr Kollege Koppelin, sollten
Herr Koppelin in seiner Rede sagt, wir Entwicklungspo- Sie Ihre Kritik an „weltwärts“ zurücknehmen.
litiker wollten immer nur mehr Geld für die EZ, es gebe Danke.
doch genug Probleme in Deutschland, dann liegt das ge-
nau auf der Linie, die auch Frau Steinbach neulich ver- (Beifall bei der SPD)
6144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Meine Damen und Herren, besser ist immer möglich, (C)
Nun hat Kollege Koppelin eine Kurzintervention von und das Bessere ist der Feind des Guten. Das wissen wir
zwei Sätzen erbeten. Mal sehen! alle. Dass mehr Geld auch mehr Freude in jedem Haus-
halt auslöst, ist ebenfalls klar. Insofern hat der Kollege
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Hoppe mit seiner durchaus sehr selbstkritischen Anmer-
kung im Prinzip recht. Am Ende der Diskussion will ich
Satz Nummer eins lautet: Ich hätte auch keine Zwi- jedoch vermeiden, dass ein komplett falscher Eindruck
schenfrage mehr gestellt, weil ein allgemeines Aufatmen vom Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zu-
zu vernehmen war, als es hieß, die Rede sei zu Ende. sammenarbeit und Entwicklung entsteht.
Satz zwei: Ich kann nicht ernst nehmen, was der Kol- Natürlich reden wir über einen Sparhaushalt der Bun-
lege vorhin vorgetragen hat, wie ich auch vieles andere desrepublik Deutschland für das Jahr 2011. Dieser Spar-
nicht ernst nehmen kann. Ich erinnere an die letzte De- haushalt beinhaltet, dass wir die Ausgaben im nächsten
batte. Damals habe ich zum Beispiel gesagt, die ODA- Jahr um 3 Prozent kürzen müssen. Aufgrund unserer
Quote habe im Jahr 2009 bei 0,36 Prozent gelegen. Da- Verantwortung für kommende Generationen ist das auch
mals hat er mich als Lügner und als sonst etwas bezich- richtig so. Ich glaube, wir müssen uns daran gewöhnen,
tigt. Insofern nehme ich auch diese Bemerkung jetzt dass es nicht nur moralisch gut ist, Geld für schöne Zwe-
nicht so ernst. Meistens haben Sie danebengelegen, Herr cke auszugeben, sondern dass es auch moralisch gut ist,
Kollege. kein Geld auszugeben und unseren Nachfolgern weniger
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Schulden zu hinterlassen.
Deswegen ist es richtig, das Haushaltsvolumen um
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 3 Prozent herunterzufahren. Wenn vor diesem Hinter-
Können auch Sie sich auf zwei Sätze beschränken? grund der Einzelplan, über den wir hier reden, sogar um
3 Millionen Euro aufwächst, dann bedeutet das doch
nichts anderes, als dass das Gewicht der internationalen
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Verantwortung innerhalb unseres Gesamthaushalts grö-
Jetzt führen Sie alte Debatten an, in denen ich zu ßer wird. Das kann man hin und her rechnen, aber es ist
Recht darauf hingewiesen habe, dass Sie zu dem Zeit- nun einmal eine Tatsache.
punkt die ODA-Quote noch nicht kennen konnten, weil
der Entwicklungsausschuss der OECD die Zahlen noch (Beifall bei der CDU/CSU)
nicht überprüft hatte. Damals konnten wir nicht wissen, Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir uns in den
dass der Herr Minister in den vergangenen Monaten die Wahlkreisen genau dafür verantworten und begründen,
(B) vorgesehenen Mittel nicht hat abfließen lassen, um seine (D)
warum wir so viel Geld für diesen Bereich ausgeben.
ODA-Zahlen für das Jahr 2009 zu schönen. Das ist be-
legbar. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist es!)
(Patrick Döring [FDP]: Das ist falsch!) Natürlich gibt es kritische Fragen angesichts der Ge-
samtverschuldung und angesichts der anderen Aufga-
Deshalb weise ich die Unterstellung der Lüge aufs ben, um die wir uns auch kümmern müssen. Wir müssen
Schärfste zurück, Herr Kollege Koppelin. aber dazu stehen und sagen, dass es richtig ist, für die in-
Sie haben die ODA-Zahlen für 2009 frisiert, um hier ternationale Verantwortung so viel auszugeben. Unsere
besser dazustehen. Ich möchte Sie bitten, nicht auf eine Verantwortung endet eben nicht an unseren Grenzen.
Wortwahl zurückzugreifen, die in der Sache nicht richtig Das sind wir unserem christlichen Menschenbild schul-
ist. dig.
Das ist nicht nur altruistisch, sondern auch in unserem
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: eigenen, deutschen Interesse. Denn wenn wir anderen
Nun hat Kollege Volkmar Klein von der CDU/CSU- Ländern helfen, aus der Armut herauszukommen, dann
Fraktion das Wort. wird die Welt stabiler, dann werden die Chancen auch
für unsere Wirtschaft größer, und dann wird es seltener
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der Fall sein, dass Menschen aus Armutsgründen in un-
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Guter Mann! sere Länder migrieren. Es ist also richtig, so viel Geld,
Endlich wieder ein Haushälter!) mehr Geld als im vergangenen Jahr, für diesen Bereich
auszugeben.
Volkmar Klein (CDU/CSU): Trotzdem müssen wir uns fragen: Ist die Effizienz
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ausreichend? Ich glaube, dass es richtig ist, die Schwer-
Herren! Ich glaube, die gerade geführte Diskussion brau- punkte ein bisschen zu verändern und effizienter zu wer-
chen wir nicht besonders ernst zu nehmen. Bei dem ge- den.
samten Beitrag des Kollegen Raabe hatte man den Ein-
druck, dass bei ihm die Textbausteine irgendwie ein Erster Punkt: die Fusion im Rahmen der Vorfeldre-
bisschen durcheinandergeraten sind. form. Ich will dazu inhaltlich gar nichts mehr sagen, son-
dern nur Frau Hinz den Hinweis geben: Die gesamte Fu-
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Kennst sion ist im Haushalt überhaupt noch nicht abgebildet,
du eigentlich Hans Huckebein?) weil wir alle noch darauf warten, dass die entsprechen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6145
Volkmar Klein
(A) den Wirtschaftlichkeitsberechnungen vorgelegt werden; Ja! Wir müssen die Steueroasen schließen! (C)
auch ich hätte sie gerne schon früher gehabt. Erst wenn Das Geld liegt auch auf deutschen Konten!)
diese vorliegen, können wir sie inklusive der Verpflich-
tungsermächtigungen für die bisherigen Zuwendungs- Gestern Abend fand hier in Berlin eine eindrucksvolle
empfänger InWEnt und DED, nach denen zu Recht ge- Veranstaltung mit John Kufuor, dem Ex-Präsidenten
fragt worden ist, im Haushalt für das nächste Jahr Ghanas und der Afrikanischen Union, statt. Diese Veran-
aufgreifen. Dann müssen wir als Parlament die notwen- staltung war unter anderem deswegen eindrucksvoll,
digen Änderungen in den Haushalt einbringen, damit das weil der Kollege Fischer dort einen hervorragenden Bei-
Verfahren wirklich zum 1. Januar des nächsten Jahres trag geleistet hat,
beginnen kann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE vor allen Dingen aber, weil wir gemeinsam ein Gespräch
GRÜNEN]: Fragen Sie doch mal Herrn über die Frage geführt haben: Wie müssen wir soziale
Schirmbeck, was alles notwendig ist! – Gegen- Marktwirtschaft im internationalen Kontext heute neu
ruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: definieren? John Kufuor hat seine Erkenntnisse in fol-
Der Mann hat Ahnung! Er ist schließlich im gendem Satz zusammengefasst: Afrika braucht Compe-
Haushaltsausschuss!) tence for Competition. – Ich finde das toll: Afrika
Zweitens ist es richtig, die Schwerpunkte unserer Ent- braucht Wettbewerbsfähigkeit, die es ermöglicht, aus der
wicklungszusammenarbeit ein bisschen zu verschieben, Armut herauszukommen, um auf eigenen Beinen zu ste-
in Form von Mikrokrediten und Folgefinanzierungen hen. Das wäre dann auch nachhaltig.
mehr Private einzubinden und für mehr Unternehmen, John Kufuor hat beklagt, dass der innerafrikanische
für mehr Arbeitgeber in den Entwicklungsländern zu Handel bisher leider nur 10 Prozent des Gesamthandels
sorgen. Das ist ein Erfolg, den wir anstreben müssen, der der afrikanischen Länder ausmacht. Das ist ein Armuts-
aber wenig mit der Menge des dafür ausgegebenen Gel- zeugnis, und das gilt es zu ändern.
des zu tun hat.
Ich denke, wir sollten uns weniger mit dem kleinka-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rierten Aufrechnen irgendwelcher Zahlen beschäftigen,
neten der FDP) wie es von der linken Seite dieses Hauses heute ständig
Der Abbau von Handelshemmnissen bringt zwar keine getan wurde.
Erhöhung der ODA-Quote, auf die Sie geradezu fetisch- Lasst uns gemeinsam helfen und gemeinsam dafür sor-
artig blicken, mit sich; aber er hilft. Er hilft sogar viel gen, dass John Kufuors Vision von Afrika Wirklichkeit
mehr als manche ODA-Mittel oder Almosen. wird!
(B) (D)
Meine Damen und Herren, jüngst hat uns eine Afrika- Danke sehr.
nerin, die sambische Wirtschaftswissenschaftlerin Dam-
bisa Moyo, in ihrem eindrucksvollen Buch die Botschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
präsentiert, dass wir die eine oder andere Selbstverständ-
lichkeit unserer bisherigen Entwicklungshilfe durchaus Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
einmal hinterfragen sollten. Wir müssen helfen, wirt-
Bundesminister Niebel hat noch einmal ums Wort ge-
schaftliche Chancen zu eröffnen, die in den Entwick- beten, wohl wissend, dass er damit die Debatte neu er-
lungsländern für Arbeit sorgen. Das ist nicht nur für
öffnet.
deutsche Unternehmen gut, die dort vielleicht über Di-
rektinvestitionen Arbeitsplätze schaffen; vielmehr ist es (Zuruf von der LINKEN: Nein! Jedes Mal das-
auch gut für Afrika, denn diejenigen in Afrika, die Geld selbe Theater!)
haben, investieren es bisher leider noch viel zu wenig
dort. Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
Die UNCTAD, die United Nations Conference on sammenarbeit und Entwicklung:
Trade and Development, hat für ihren Bericht im Herr Präsident! Ihre Anmerkung ist vollkommen rich-
Jahre 2007 die Kapitalflucht aus Afrika analysiert und tig. Da ich in meiner Funktion als Abgeordneter nicht zu
ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in den Jahren 1970 einer Kurzintervention zugelassen wurde, kann ich in
bis 2005 rund 400 Milliarden Euro aus Afrika abgeflos- meiner Funktion als Bundesminister hier einige Unklar-
sen sind. Andere Wirtschaftswissenschaftler haben er- heiten ausräumen.
mittelt, dass das von Privatleuten in einigen Ländern
Der Abgeordnete Raabe hat Jürgen Koppelin, der lei-
Afrikas gehaltene Auslandsvermögen – ich könnte Ihnen
der wegen einer Veranstaltung eher gehen musste, in der
jetzt die einzelnen Zahlen nennen – deutlich größer als
von ihm angesprochenen Debatte wissentlich der Lüge
die Gesamtverschuldung des jeweiligen Landes ist.
bezichtigt, weil Jürgen Koppelin hier behauptet habe,
Meine Damen und Herren, wir müssen darauf hinweisen
dass die ODA-Quote der Vorgängerregierung im letzten
dürfen, wie wichtig es ist, dass die Menschen in Afrika
Jahr 0,36 Prozent des Bruttonationaleinkommens betra-
Vertrauen in ihr eigenes Land haben und auch ihr eige-
gen habe. Er hat das damit begründet, dass die Zahlen
nes Geld für dessen Entwicklung einsetzen.
noch nicht haben vorliegen können, weil der DAC Peer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Review noch nicht abschließend durchgeführt worden
neten der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: sei.
6146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010

Bundesminister Dirk Niebel


(A) Er weiß aus seiner Zeit als Mitglied einer Regierungs- Dr. Sascha Raabe (SPD): (C)
partei natürlich, dass man diese Daten im Wesentlichen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist na-
schon im Vorhinein, bevor sie offiziell abgestimmt sind, türlich immer ungünstig, wenn ein Kollege einem etwas
hat. Er weiß darüber hinaus auch – deswegen hatte ich aus einer vorangegangenen Debatte vorwirft, der Kol-
mich zu der Kurzintervention gemeldet –, dass die neue lege nicht mehr da ist und dann der Minister hier dazu
Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Stellung nimmt. Ich kann das alles aber noch sehr gut re-
Mittel willentlich nicht hat abfließen lassen, um irgend- kapitulieren. Ich habe damals in der Debatte gesagt
welche Quoten zu verändern, sondern dass eine Ent- – und dabei bleibe ich –, dass Herr Koppelin zum dama-
schuldungsverhandlung – ich meine, es sei mit Liberia ligen Zeitpunkt noch nicht die Ergebnisse des Entwick-
gewesen; das lässt sich aber nachprüfen –, die nicht vom lungsausschusses der OECD zu den ODA-Zahlen haben
Ministerium, sondern von der KfW Entwicklungsbank konnte.
geführt wurde, nicht abschlussfähig gewesen ist.
Er wollte mit dem Vorwurf, dass die Bundesregierung Herr Minister, Sie haben recht: Ich war Mitglied der
willentlich Gelder nicht habe abfließen lassen, um sich Regierungspartei, und wir sind fest davon ausgegangen,
statistisch besser darzustellen, nichts anderes tun, als dass die ODA-Quote im Jahre 2009 bei fast 0,4 Prozent
vom Versagen der Vorgängerregierung abzulenken, die liegen würde, weil wir die Mittel im Gegensatz zu Ihnen
eine ODA-Quote von 0,35 Prozent, also deutlich unter im Jahre 2009 noch einmal um 679 Millionen Euro, also
allen vereinbarten Stufenplänen, die man hier immer wie um 13,2 Prozent, gesteigert hatten. Wir hatten im Jahr
eine Monstranz vor sich herträgt, erreicht hat. Zudem 2009 eine Steigerung von 13,2 Prozent, fast 700 Millio-
wollte er davon ablenken, dass die Quote der neuen Bun- nen Euro mehr. Deswegen haben wir – zu Recht – ge-
desregierung im Jahre 2010 aller Voraussicht nach zwar dacht, dass sich das auch in der ODA-Quote nieder-
auch unterhalb des Stufenplans, mit 0,4 Prozent aber im- schlägt, Herr Minister. Dann aber haben Sie nach
merhin deutlich höher sein würde. Übernahme des Amtes im September in zwei wichtigen
Feldern die Verträge nicht mehr unterschrieben und die
Ich glaube, das macht in bezeichnender Art und Mittel, die dafür vorgesehen waren, nicht abfließen las-
Weise deutlich, wie unsinnig es ist, sich über den Ab- sen. Das war zum einen der Klimaschutzfonds der Welt-
fluss von irgendwelchen Summen zu unterhalten, und bank, zum anderen waren es die Infrastrukturfazilität der
wie richtig es ist, dass sich diese Bundesregierung auf Weltbank und auch einige Schuldenerlasse.
Effizienz, Wirksamkeit und wirkliche Hilfeleistung kon-
zentriert. Herr Niebel, ich würde Ihnen gar nicht bei allen die-
Vielen Dank. sen Punkten Boshaftigkeit unterstellen oder dass Sie aus
(B) reiner Absicht nicht mehr alles auf den Weg gebracht ha- (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben. Mich stört aber, dass Sie, obwohl wir die Mittel zur
Verfügung gestellt haben, um auf eine hohe ODA-Quote
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu kommen – Sie können es im Haushalt nachlesen; das
Herr Kollege Niebel, ich darf Sie an Ihre Zeit als Ab- waren 680 Millionen Euro mehr –, und die Mittel dann
geordneter erinnern: Erstens ist es unüblich, dass ein durch den Regierungswechsel nicht mehr abgeflossen
Präsident kritisiert wird. Zweitens ist es unüblich, dass sind, uns vorwerfen, dass wir wenig Geld zur Verfügung
eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention zuge- gestellt hätten und deshalb die ODA-Quote gesunken
lassen wird. Mit Kurzinterventionen soll auf Reden re- sei.
agiert werden. Das ist unsere Praxis.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Patrick
(Patrick Döring [FDP]: Aber das hat der Kol- Döring [FDP]: Ihr habt es nicht hingekriegt!
lege Raabe in seiner Antwort auf die Kurzin- Das ist der Punkt!)
tervention des Kollegen Koppelin ja nicht ge-
macht!) Dann ist es nur richtig, darauf hinzuweisen, dass die Mit-
tel, die wir 2009 eingestellt hatten und die Sie 2010 ver-
– Ja, aber er wollte auf die Kurzintervention des Kolle- ausgabt haben, obwohl sie schon ein Jahr früher hätten
gen – – verausgabt werden sollen, natürlich die ODA-Quote für
(Patrick Döring [FDP]: Zu Recht! Der Kollege 2010 nach oben treiben.
Raabe hat das nicht getan! Dazu hat es also
Anlass gegeben) (Patrick Döring [FDP]: Eure Ministerin hat es
2009 nicht hingekriegt! So einfach ist das!)
– Moment! Ob zu Recht oder nicht, ist eine inhaltliche
Frage, die ich nicht zu bewerten habe. Wir haben Forma- Ich sage einmal: Dem einen oder anderen Mitglied im
lien und Regularien, an die ich mich halten muss. Parlament nehme ich es nicht übel, wenn er diese zuge-
gebenermaßen komplizierte Berechnung nicht versteht.
Jetzt können wir die Sache vielleicht so verkürzen, Aber der Kollege Koppelin weiß, wie es geht. Wenn ein
dass Kollege Raabe noch einmal möglichst kurz – zwei,
langjähriger Haushälter wie Herr Koppelin dann behaup-
drei Minuten – darauf reagiert und wir dann zum Schluss
tet, wir hätten so wenig Geld zur Verfügung gestellt, dass
der heutigen Debatte kommen.
die ODA-Quote auf einmal auf 0,35 Prozent gesunken
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Aber nicht das- sei – wie soll das gehen, wenn man den Haushalt um
selbe noch einmal vorlesen!) 680 Millionen Euro aufwachsen lässt? –,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6147
Dr. Sascha Raabe
(A) (Patrick Döring [FDP]: Es geht doch nicht nur Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
um Zahlen! Es muss auch etwas dahinter ste- Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
cken!) nicht vor.
dann muss ich der Klarheit halber ganz einfach sagen,
dass meine Aussagen und meine Kritik an Herrn Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
Koppelin richtig waren. ordnung.
Ich halte fest: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir 2008 Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
und 2009 den Haushalt immer um 13 oder 14 Prozent destages auf morgen, Donnerstag, den 16. September
gesteigert. Bei Ihnen wird er um 0 Prozent gesteigert. 2010, 9 Uhr, ein.
Das macht nach Adam Riese: Wir haben mehr Geld für
Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben als Sie. Dabei Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
bleibt es.
freundlichen Abend.
(Beifall bei der SPD – Harald Leibrecht
[FDP]: Reine Schönrechnerei!) (Schluss: 19.16 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 2010 6149

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bartol, Sören SPD 15.09.2010 Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 15.09.2010


Andreas
Bernschneider, FDP 15.09.2010
Florian Dr. Schui, Herbert DIE LINKE 15.09.2010

Binder, Karin DIE LINKE 15.09.2010 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 15.09.2010

Maurer, Ulrich DIE LINKE 15.09.2010 Dr. Steinmeier, Frank- SPD 15.09.2010
Walter
Oswald, Eduard CDU/CSU 15.09.2010
Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 15.09.2010
Roth, Michael SPD 15.09.2010 DIE GRÜNEN
(Heringen)
Ulrich, Alexander DIE LINKE 15.09.2010

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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