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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
55. Sitzung
Inhalt:
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
neten Dr. Peter Danckert, Beatrix Philipp, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5591 C
Gerda Hasselfeldt und Petra Crone . . . . . . 5583 B
Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . 5592 C
Wahl des Abgeordneten Jimmy Schulz als
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 5593 C
stellvertretendes Mitglied im Kuratorium
der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5595 A
und Zukunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5583 B
Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5595 D
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5583 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5596 C
Absetzung der Tagesordnungspunkte 10 und Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5597 B
11a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5585 A
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5598 D
Tagesordnungspunkt 3: Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5598 D
a) Antrag der Abgeordneten Volker Kauder, Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5599 A
Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5600 A
CSU sowie der Abgeordneten Marina
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 5600 C
Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Religionsfreiheit weltweit schützen
(Drucksache 17/2334) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4:
5585 B
a) Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber,
b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck
Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-
(Köln), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler,
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der Fraktion der SPD: Brennelemente-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Men-
steuer – Windfall Profits der Atomwirt-
schenrecht auf Religions- und Glau-
schaft abschöpfen
bensfreiheit stärken
(Drucksache 17/2410) . . . . . . . . . . . . . . . 5601 D
(Drucksache 17/2424) . . . . . . . . . . . . . . . . 5585 C
b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5585 C Uhl, Lisa Paus, Bärbel Höhn, weiterer Ab-
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5587 B geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Atomkosten anlasten –
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister Brennelementesteuer jetzt einführen
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5588 C (Drucksache 17/2425) . . . . . . . . . . . . . . . 5602 A
Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5590 A Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5602 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5603 B Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD: Neue Initiative für
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5604 D
Neuheitsschonfrist im Patentrecht star-
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 5605 A ten
(Drucksache 17/1052) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 A
Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 5606 C
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ d) Antrag des Bundesministeriums der Fi-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5607 C nanzen: Entlastung der Bundesregie-
rung für das Haushaltsjahr 2009 – Vor-
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5608 D lage der Vermögensrechnung des Bundes
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ für das Haushaltsjahr 2009 –
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5609 B (Drucksache 17/2305) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 B
Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5611 C e) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5613 A Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE: Auch Verletzten-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5613 B renten von NVA-Angehörigen der DDR
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5613 D anrechnungsfrei auf die Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende stellen
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5614 D (Drucksache 17/2326) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 B
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5615 D f) Antrag der Abgeordneten Katrin Werner,
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5617 B rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Menschenrechte und Friedens-
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5619 A prozess in Sri Lanka fördern
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5619 D (Drucksache 17/2417) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 C
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . 5621 C g) Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 5622 A Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5622 B LINKE: Wohnungslosigkeit in Deutsch-
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5622 D land – Einführung einer Bundesstatistik
(Drucksache 17/2434) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 C
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5622 D
h) Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle,
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5624 C
Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5625 A Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: PKW-Energie-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
verbrauchskennzeichnung am Klima-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5625 B
schutz ausrichten
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5625 C (Drucksache 17/2435) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 C
i) Antrag der Abgeordneten Markus Tressel,
Tagesordnungspunkt 38: Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN: Reisende besser
Bettina Herlitzius, Friedrich Ostendorff, schützen
Undine Kurth (Quedlinburg), weiteren Ab- (Drucksache 17/2428) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 D
geordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- j) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
nes Ersten Gesetzes zur Änderung des Strengmann-Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
Baugesetzbuchs – Beschränkung der Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
Massentierhaltung im Außenbereich der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
(Drucksache 17/1582) . . . . . . . . . . . . . . . . 5626 A Mindestbeiträge zur Rentenversiche-
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung verbessern, statt sie zu streichen
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 17/2436) . . . . . . . . . . . . . . . 5626 D
zes über die weitere Bereinigung von
k) Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Bundesrecht
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
(Drucksache 17/2279) . . . . . . . . . . . . . . . . 5626 A
(Köln), weiterer Abgeordneter und der
c) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Unterrichtungs- und Mitwirkungsrechte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 III
des Bundestages in Bezug auf Europäi- schen Parlaments aus der Bundesrepu-
sche Räte stärken blik Deutschland am 7. Juni 2009
(Drucksache 17/2437) . . . . . . . . . . . . . . . . 5626 B (Drucksache 17/2200) . . . . . . . . . . . . . . . 5628 A
l) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 5628 B
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck
b) Beratung der Ersten Beschlussempfehlung
(Köln), weiterer Abgeordneter und der
des Wahlprüfungsausschusses: zu Ein-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ge-
sprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
meinsamen Standpunkt der EU für Waf-
zum 17. Deutschen Bundestag am 27.
fenausfuhren auch bei Rüstungsexporten
September 2009
an EU, NATO und NATO-gleichgestellte
(Drucksache 17/2250) . . . . . . . . . . . . . . . 5629 C
Länder konsequent umsetzen
(Drucksache 17/2438) . . . . . . . . . . . . . . . . 5627 A c) – Zweite Beratung und Schlussabstim-
mung des von der Bundesregierung
m) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Volker Beck (Köln), Josef Philip Winkler, zes zu dem Änderungsprotokoll vom
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 11. Dezember 2009 zum Abkommen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weitere vom 23. August 1958 zwischen der
iranische Flüchtlinge aus der Türkei in Bundesrepublik Deutschland und
Deutschland aufnehmen dem Großherzogtum Luxemburg
(Drucksache 17/2439) . . . . . . . . . . . . . . . . 5627 B zur Vermeidung der Doppelbesteue-
rungen und über gegenseitige Amts-
und Rechtshilfe auf dem Gebiete der
Tagesordnungspunkt 11: Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen sowie der Gewerbesteu-
b) Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ern und der Grundsteuern
(Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von (Drucksache 17/1943) . . . . . . . . . . . . . 5629 D
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Zweite Beratung und Schlussabstim-
NEN: Modernisierung braucht Rechts- mung des von der Bundesregierung
staatlichkeit – Partnerschaft mit Russ- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
land fördern zu dem Abkommen vom 13. Juli 2006
(Drucksache 17/2426) . . . . . . . . . . . . . . . . 5627 B zwischen der Regierung der Bundes-
republik Deutschland und der maze-
donischen Regierung zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung auf
Zusatztagesordnungspunkt 2: dem Gebiet der Steuern vom Ein-
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten kommen und vom Vermögen
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, (Drucksachen 17/1944, 17/2248) . . . . 5629 D
Marieluise Beck (Bremen), weiteren Ab- d) Zweite und dritte Beratung des von der
geordneten und der Fraktion BÜND- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- eines Gesetzes über die Verwendung
wurfs eines Gesetzes zu dem EFSF-Rah- von Verwaltungsdaten für Wirtschafts-
menvertrag vom 7. Juni 2010 statistiken und zur Änderung von Sta-
(Drucksache 17/2412) . . . . . . . . . . . . . . . . 5627 B tistikgesetzen
b) Antrag der Abgeordneten Ernst-Reinhard (Drucksachen 17/1899, 17/2467) . . . . . . . 5630 B
Beck (Reutlingen), Peter Altmaier, Michael e) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
Brand, weiterer Abgeordneter und der des von der Bundesregierung eingebrach-
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
ordneten Elke Hoff, Rainer Erdel, tokoll vom 15. Mai 2003 zur Änderung
Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Ab- des Europäischen Übereinkommens
geordneter und der Fraktion der FDP: Ver- vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung
besserung der Regelungen zur Einsatz- des Terrorismus
versorgung (Drucksachen 17/2067, 17/2370) . . . . . . . 5630 C
(Drucksache 17/2433) . . . . . . . . . . . . . . . . 5627 C
f) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie
Tagesordnungspunkt 39: zu der Verordnung der Bundesregierung:
Einhundertneunte Verordnung zur Än-
a) Beratung der Zweiten Beschlussempfeh- derung der Ausfuhrliste – Anlage AL
lung des Wahlprüfungsausschusses: zu zur Außenwirtschaftsverordnung –
Einsprüchen gegen die Gültigkeit der (Drucksachen 17/1624, 17/1819 Nr. 2, 17/
Wahl der Abgeordneten des Europäi- 2379) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5630 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
– zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . 5673 B
Movassat, Heike Hänsel, Annette Groth,
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
weiterer Abgeordneter und der Frak-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5674 A
tion DIE LINKE: Steigerung der Ent-
wicklungshilfequote auf 0,7 Prozent Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 5674 D
gesetzlich festlegen
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5675 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 5677 A
Hoppe, Uwe Kekeritz, Ute Koczy,
weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Mit dem Global Green New Deal die Tagesordnungspunkt 8:
Millenniumsentwicklungsziele errei- a) Zweite und dritte Beratung des von der
chen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
(Drucksachen 17/2018, 17/2024, 17/2132, eines Gesetzes für bessere Beschäfti-
17/2464) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gungschancen am Arbeitsmarkt – Be-
5652 A
schäftigungschancengesetz
Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin (Drucksachen 17/1945, 17/2454) . . . . . . . 5678 B
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5652 B
– Bericht des Haushaltsausschusses ge-
Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5653 B mäß § 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/2455) . . . . . . . . . . . . . 5678 B
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5655 B
b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5657 A
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5658 B Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus
Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5659 B
der Fraktion der SPD: Arbeitsmarktpoli-
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5660 A tik erfolgreich umsetzen und ausbauen
(Drucksachen 17/2321, 17/2454) . . . . . . . 5678 B
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 5661 A
c) Zweite und dritte Beratung des von den
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 5662 D
Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5663 A Krellmann, Klaus Ernst, weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion DIE LINKE
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . 5663 B
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ zur Entfristung der freiwilligen Weiter-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5664 B versicherung in der Arbeitslosenversi-
cherung
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5665 A (Drucksachen 17/1141, 17/1636) . . . . . . . 5678 C
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Tagesordnungspunkt 7: Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-
Halina Wawzyniak, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Ge-
Freiwillige Arbeitslosenversicherung für
setzes zur Änderung des Grundgesetzes
Selbstständige entfristen und ausbauen
(Einführung der dreistufigen Volksgesetz-
(Drucksachen 17/1166, 17/1636) . . . . . . . 5678 C
gebung in das Grundgesetz)
(Drucksache 17/1199) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5666 D Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5678 D
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5666 D
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5680 B
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5667 D
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5681 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5668 D Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 5682 D
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5669 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5684 A
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . 5670 D Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5685 A
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . 5671 B Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 5686 D
Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5672 C Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 5687 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
dem Vorschlag für eine Richtlinie des Eu- – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
ropäischen Parlaments und des Rates zur Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer
Verhütung und Bekämpfung von Men- (Altötting), weiterer Abgeordneter und der
schenhandel und zum Opferschutz sowie Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses ordneten Joachim Günther (Plauen), Dr.
2002/629/JI des Rates (Ratsdok. 8157/10) Lutz Knopek, Gisela Piltz, weiterer Abge-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- ordneter und der Fraktion der FDP: Eu-
desregierung gemäß Artikel 23 Ab- ropa in Bewegung – Mit Kompetenz
satz 3 des Grundgesetzes und Verantwortung für einen europäi-
Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz schen Mehrwert im Sport
stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
(Drucksache 17/2344) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5720 A Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher,
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 5720 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD: Den Sport in Europa voran-
Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5722 A bringen
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5723 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Viola
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 5723 D von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5724 B GRÜNEN: Sport in der Europäischen
Union – Den Lissabon-Vertrag mit Le-
ben füllen
Tagesordnungspunkt 16:
(Drucksachen 17/2129, 17/1406, 17/1420,
Vereinbarte Debatte: Legislativ- und Ar- 17/2468) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5739 C
beitsprogramm der Europäischen Kommis-
sion für 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5725 C Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5739 D
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5725 C Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 0000 A
5741
Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . 5726 D Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5741 D
Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5728 A Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . 5742 C
Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5729 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . 5743 B
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5743 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5729 D Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/
Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5730 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5745 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Änderung des Vormundschaftsrechts und
Katja Dörner, weiterer Abgeordneter weitere familienrechtliche Maßnahmen
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (Drucksache 17/2411) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5757 B
GRÜNEN: Handlungsaufträge aus
dem UN-Übereinkommen über die Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5757 C
Rechte von Menschen mit Behinde- Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5758 D
rungen
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5759 C
(Drucksachen 17/1578, 17/1761, 17/2091) 5746 B
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5760 B
c) Antrag der Fraktion der SPD: Erstellung
des Berichts der Bundesregierung auf Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
Grundlage der UN-Konvention – Ak- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5760 D
tionsplan zur Umsetzung auf den Weg
bringen
(Drucksache 17/2367) . . . . . . . . . . . . . . . . 5746 C Tagesordnungspunkt 23:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
Tagesordnungspunkt 19: lung zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Volkmar
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Vogel (Kleinsaara), weiterer Abgeordneter
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Europäischen Parlaments und des Rates Abgeordneten Patrick Döring, Oliver Luksic,
über Endenergieeffizienz und Energie- Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und
dienstleistungen der Fraktion der FDP: Erwerb von Zweirad-
(Drucksachen 17/1719, 17/2280, 17/2466) . . 5747 A führerscheinen erleichtern
(Drucksachen 17/1574, 17/2456) . . . . . . . . . . 5761 C
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5747 B
0000
Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5761 D
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5748 C
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 5763 C
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5749 D
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5764 A
Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 5750 D
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5765 B
Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5751 B Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5766 B
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5766 D
Tagesordnungspunkt 21:
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 27:
Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbe- Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Barthel,
schlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Fe- Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer
bruar 2005 über die Anwendung des Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ar-
Grundsatzes der gegenseitigen Anerken- beitsbedingungen im Briefmarkt – Sozial-
nung von Geldstrafen und Geldbußen klausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3
(Drucksachen 17/1288, 17/2458) . . . . . . . . . . 5752 C Postgesetz und Verordnung über zwingende
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5752 D Arbeitsbedingungen für die Branche Brief-
dienstleistungen auf Grund des Arbeitneh-
Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5753 D mer-Entsendegesetzes
(Drucksache 17/1615) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5767 D
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5755 A
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5767 D
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 5755 C
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5768 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5756 C Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5769 D
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 5771 B
Tagesordnungspunkt 22: Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5772 A
Antrag der Abgeordneten Sonja Steffen, Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, wei- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5772 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 IX
Anlage 2 Anlage 8
Erklärung des Abgeordneten Volker Beck Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
(Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zur Kersten Steinke, Jens Petermann, Frank Tempel,
Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Ralph Lenkert, Raju Sharma, Katrin Kunert,
Übersicht 3 Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Harald Koch,
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Sabine Zimmermann, Michael Leutert, Dr.
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Axel Troost, Katja Kipping, Dr. Ilja Seifert,
gericht (Tagesordnungspunkt 39 i) . . . . . . . . . 5819 B Yvonne Ploetz, Alexander Ulrich, Katrin
Werner, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler,
Matthias W. Birkwald, Ulla Lötzer, Ingrid
Anlage 3 Remmers, Niema Movassat, Sahra Wagenknecht,
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Andrej Konstantin Hunko, Inge Höger, Ulla
Fritz Rudolf Körper (SPD) zur Wahl von Mit- Jelpke, Dr. Herbert Schui, Heidrun Dittrich,
gliedern des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht, Herbert Behrens, Paul Schäfer (Köln), Dr.
Vertreibung, Versöhnung“ (Tagesordnungs- Diether Dehm, Jutta Krellmann, Dr. Petra
punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5819 B Sitte, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, Dr.
Gesine Lötzsch, Werner Dreibus, Ulrich
Maurer, Petra Pau, Jan van Aken, Cornelia
Anlage 4 Möhring, Dr. Dagmar Enkelmann, Thomas
Nord, Agnes Alpers, Wolfgang Gehrcke, Dr.
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Martina Bunge, Steffen Bockhahn, Dr. Gregor
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) zur Wahl von Gysi, Wolfgang Nešković, Sabine Stüber, Dr.
Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung Kirsten Tackmann, Stefan Liebich, Alexander
Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Tagesord- Süßmair, Nicole Gohlke, Harald Weinberg,
nungspunkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5819 C Eva Bulling-Schröter, Michael Schlecht, Richard
Pitterle, Annette Groth, Karin Binder, Heike
Hänsel und Dr. Barbara Höll (alle DIE
Anlage 5 LINKE) zur Wahl von Mitgliedern des Stif-
tungsrates der „Stiftung Flucht, Vertreibung,
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Versöhnung“ (Tagesordnungspunkt 5) . . . . . . 5821 D
Dr. Marlies Volkmer (SPD) zur Wahl von
Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung
Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Tagesord-
nungspunkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5820 A Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . . 5823 D handel für erneuerbare Energien und zur Ver-
ringerung prozessbedingter Emissionen (Zu-
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5825 B satztagesordnungspunkt 5)
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5826 C
Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5829 A
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5827 C Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0000
5830 A
C
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5832 A
Anlage 10: Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 5832 B
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
Antrags: EU-Fördermittel aus dem Emissions- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5833 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5583
(A) (C)
Redetext
55. Sitzung
Präsident Dr. Norbert Lammert: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD:
Sitzung ist eröffnet.
Steigende Beiträge als Ergebnis der Gesund-
Das Leben geht weiter, auch wenn gelegentlich die heitsreform – Weniger Netto vom Brutto
Hoffnungen größer sind als die Möglichkeiten. Aber (siehe 54. Sitzung)
dass nicht immer alles so gelingt, wie man sich das vor-
genommen hat, wissen wir aus eigenen Erfahrungen. ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
Trotz des Ergebnisses des gestrigen Abends haben fahren
wir allen Anlass, der deutschen Mannschaft für ein fa- Ergänzung zu TOP 38
moses Turnier zu danken. Im Übrigen können wir uns
ein bisschen darüber freuen, dass der Weltmeistertitel a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
wieder mal in Europa bleibt. Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, (D)
(B)
(Beifall) Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abge-
ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Es gibt im Übrigen eine Reihe weiterer freudiger Er- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
eignisse. Der Kollege Dr. Peter Danckert feiert heute setzes zu dem EFSF-Rahmenvertrag vom
seinen 70. Geburtstag. 7. Juni 2010
(Beifall) – Drucksache 17/2412 –
Ich gratuliere ihm herzlich im Namen des ganzen Hau- Überweisungsvorschlag:
ses. Ebenso herzlich gratuliere ich der Kollegin Beatrix Haushaltsausschuss (f)
Philipp zu ihrem gestrigen 65. Geburtstag und der Kol- Rechtsausschuss
Finanzausschuss
legin Gerda Hasselfeldt zu ihrem 60. Geburtstag. Die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Kollegin Petra Crone feierte diesen runden Geburtstag Union
bereits am vergangenen Samstag.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
(Beifall) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Peter
Ihnen allen unsere geballten guten Wünsche für die Altmaier, Michael Brand, weiterer Abgeord-
nächsten Jahre und Jahrzehnte. neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Elke Hoff, Rainer Erdel,
Auf Vorschlag der FDP-Fraktion soll der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abge-
Jimmy Schulz anstelle des ausgeschiedenen Kollegen ordneter und der Fraktion der FDP
Hellmut Königshaus neues stellvertretendes Mitglied im
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- Verbesserung der Regelungen zur Einsatz-
tung und Zukunft“ werden. Eine Aussprache ist dazu versorgung
nicht vorgesehen. Sind Sie auch ohne Aussprache damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist – Drucksache 17/2433 –
der Kollege Schulz gewählt. Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Innenausschuss
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
geführten Punkte zu erweitern: Haushaltsausschuss
5584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
An den vereinbarten Redezeiten ändert sich dadurch je- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
denfalls nichts. Orissa ist nur ein aktuelles Beispiel für das, was welt-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: weit geschieht. Deshalb haben wir heute Morgen
Schwester Justine Senapati und Vater Dr. Augustine
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Singh aus Orissa eingeladen. Sie sitzen auf der Tribüne,
Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Beifall)
sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal begleitet von den Vertretern der christlichen Kirchen hier
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und am Sitz von Bundestag und Bundesregierung in Berlin.
der Fraktion der FDP Die beiden waren beim Menschenrechtsrat in Genf.
Religionsfreiheit weltweit schützen Heute sind sie in Deutschland und werben dafür, das
Los, das Schicksal bedrängter und verfolgter Christen
– Drucksache 17/2334 – nicht zu vergessen.
5586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Volker Kauder
(A) Am Beispiel Orissa können wir sehen, wo die Pro- schen ist unantastbar.“ Und zur Würde des Menschen (C)
bleme liegen. Indien ist der Verfassung nach eine mo- gehört auch sein religiöses Bekenntnis.
derne Demokratie. Die Bundesregierung Indiens schützt
die Religionsausübung und die Religionsfreiheit und be- Wir, die christlichen Demokraten, und die FDP setzen
kennt sich immer wieder dazu, dass alle Menschen – in uns dafür ein, dass in diesem Land Religionsfreiheit ge-
Indien geht es vor allem um Christen, Hindus und Mus- lebt werden darf. Ich kenne die Diskussionen in vielen
lime – ihre Religion frei ausüben können. Aber in den Kommunen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin dafür – wer
einzelnen Bundesstaaten kann die Zentralregierung vie- für Religionsfreiheit ist, der ist dafür –, dass Muslime in
les von dem nicht umsetzen. So kommt es zu brutalen diesem Land Moscheen bauen können und dass sie in
Übergriffen. Christen werden verfolgt, bedrängt und ver- diesen Moscheen beten können.
trieben. Allein in der Region Orissa wurden in der letz- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
ten Zeit 60, 70 Kirchen und 4 000 Häuser angezündet. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Es werden Christen getötet, vergewaltigt, und noch im- bei Abgeordneten der LINKEN)
mer sind Zehntausende in Flüchtlingslagern unterge-
bracht. Das ist keine Christenverfolgung durch den Aber ich erwarte genau das Gleiche von allen anderen
Staat. Aber wir erwarten schon, dass nicht das eintritt, Ländern in der Welt. Ich erwarte, dass die Christen in
was die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ge- der Türkei ihre Kirchen so bauen können wie die Mus-
schrieben hat, nämlich dass die Behörden zuschauen. lime in Deutschland ihre Moscheen.
Wir erwarten, dass die Behörden die Christen schützen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
und alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] –
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Sehr gut! Bravo!)
Christen werden weltweit verfolgt. In über 60 Staaten
gibt es Verfolgung oder Bedrängung. Zwei Drittel der In vielen Ländern dieser Welt erleben wir eine subtile
verfolgten Christen leben in diesen 60 Staaten. 200 Mil- Bedrängung von Christen. Die Christen sind im Übrigen
lionen Christen sind von Bedrängung und Verfolgung die am meisten verfolgte Gruppe in der ganzen Welt.
betroffen. Übertritte von einer anderen Religion zum Christentum
werden unter Strafe gestellt. Christen wird es untersagt,
Ich will kurz einige Beispiele ansprechen. Wir haben für ihre Religion einzutreten, weil dies als unerlaubte
vor wenigen Wochen einen Besuch in die Türkei unter- Werbung gilt. Es wird verboten, dass Christen in diesen
nommen, um dort vor allem das bedrängte Kloster Mor Ländern die Ausbildung ihrer Pfarrer und Priester durch-
(B) Gabriel zu besuchen. Um es klar zu sagen: Es gibt in der führen, und Christen wird ein besonderer Stempel in den (D)
Türkei keine Christenverfolgung durch den Staat. Aber Ausweis gedrückt, damit sie möglichst viele Probleme
es gibt Bedrängungen, die dazu führen, dass Christen ih- im täglichen Leben haben. Ich weiß, dass die Verfolgung
ren Glauben nicht leben können. Wir haben in der letzten von Christen viele Ursachen hat. Auf der einen Seite
Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag in einem geht es darum, die eigene Religionsmehrheit zu schüt-
Antrag die türkische Regierung aufgefordert, die Re- zen. Auf der anderen Seite sind nationale Themen ur-
pressalien, das Drucksystem gegen das Kloster Mor sächlich. In einigen Fällen sind die Radikalität der Ver-
Gabriel aufzuheben. Bis zum heutigen Tag ist nichts ge- folgung und die emotionale Auseinandersetzung auch
schehen, und dies ist nicht hinzunehmen. ein Ergebnis der wirtschaftlichen Situation, der Armut in
diesen Ländern.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung das Thema
bei Abgeordneten der LINKEN) Christenverfolgung/Christenbedrängung in den Katalog
ihrer Arbeit aufgenommen hat. Wir fordern, dass die Re-
Wir eröffnen in den Beitrittsverhandlungen mit der Tür- ligionsfreiheit im Bereich der Entwicklungshilfe als
kei Kapitel um Kapitel. Aber ein Land, das näher zu Eu- Teil der Menschenrechtsdiskussion ein zentrales Thema
ropa will, muss den elementaren Menschenrechtsgrund- ist. Ich bin Bundesaußenminister Guido Westerwelle
satz, dass Religionsfreiheit gelebt werden kann, erfüllen. dankbar, dass er das Thema Christenverfolgung nicht
Da gibt es kein Wenn und kein Aber. nur in seinen Katalog einer wertegeleiteten Außenpolitik
aufgenommen hat, sondern das Thema auch in Genf an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gesprochen hat und dies heute vor dem Deutschen Bun-
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
destag erläutern will.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir bzw. die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes
haben im Grundgesetz die Konsequenzen aus unserer Ich weiß, dass die Bundeskanzlerin auf ihren vielen
dramatischen jüngeren Geschichte gezogen. Christen Reisen nach China und in andere Länder der Welt dieses
wurden auch in unserem Land während der Terrorherr- Thema ebenfalls angesprochen hat. Ich finde, wir müs-
schaft des Nationalsozialismus verfolgt. Deshalb ist die sen dieses wichtige Menschenrechtsthema mit aller
Religionsfreiheit in unserem Grundgesetz ein zentraler Kraft ansprechen und dürfen nicht zurückweichen, wenn
Artikel. Er ist unmittelbar verbunden mit dem Kernsatz, es heißt: Wenn ihr dieses Thema ansprecht, könnte es
der die Menschenrechte betrifft: „Die Würde des Men- unangenehme Konsequenzen haben. – Meine Erfahrung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5587
Volker Kauder
(A) ist: Wenn wir darauf hinweisen, in welchen Ländern Be- – Die Zeiten sind nun Gott sei dank vorbei; die wollen (C)
drängungen und Verfolgungen von Christen stattfinden, wir auch nicht wiederhaben. Aber es ist schon gut, dass
dann hat dies auch Wirkung. Denn dauerhaft will keines ich Gelegenheit habe, darauf zu reagieren. Es ist wichtig,
dieser Länder am Pranger der Öffentlichkeit stehen. Sie festzustellen, dass wir jedenfalls an dieser Stelle keinen
wollen nicht, dass man erkennt, wie man mit Menschen weitgehenden Dissens haben.
umgeht, die anderen Glaubens als die Mehrheit in dem
entsprechenden Land sind. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da gibt es kei-
nen Streit!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich darf darauf hinweisen, dass wir im Deutschen
Deswegen macht es Sinn, dies anzusprechen. Bundestag am 24. Mai 2007 gemeinsam – SPD und
CDU/CSU – mit großer Mehrheit einen Antrag mit der
Wir verstehen diese Debatte nicht als eine Anklage, Überschrift „Solidarität mit verfolgten Christen und ande-
sondern als Aufforderung, dieses elementare Menschen- ren verfolgten religiösen Minderheiten“ beschlossen ha-
recht auch umzusetzen. Wir wollen, dass am Beispiel ben. Wir haben noch vor wenigen Wochen in diesem Haus
Europa auch andere Länder erkennen können, welche über Anträge, die dieses Thema betreffen, diskutiert. Da-
beglückende Erfahrung im Zusammenleben der Men- rüber bin ich sehr froh. Ich teile nicht die Meinung des
schen es ist, wenn jeder seine Religion friedlich leben Kollegen Heinrich, der, als wir über Oppositionsanträge
und nach ihr friedlich sein Leben ausrichten kann. Reli- zum Thema „Folter und Todesstrafe“ nicht zum ersten,
gion, der Glaube an etwas nach diesem Leben, die Über- sondern zum zweiten und dritten Mal diskutierten, ge-
zeugung, dass es da etwas anderes gibt, dass es etwas sagt hat, dass dies eine Art von Polemik sei und die Ar-
Transzendentales, dass es Gott gibt, diese glückliche Er- beit behindere. Ich glaube, das genaue Gegenteil ist der
fahrung muss jeder in der Welt machen können. Solange Fall. Gerade die Beispiele, die Sie, Herr Kauder, genannt
dies nicht erreicht ist, werden wir nicht lockerlassen und haben, zeigen, dass es wichtig ist, sich immer und immer
dies regelmäßig zum Thema unserer politischen Diskus- wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen, solange
sion hier in Deutschland und in der ganzen Welt machen. es in der Welt zu Verfolgungen aufgrund der religiö-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sen Zugehörigkeit kommt. Ich glaube, das sind ein
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wichtiger Beitrag und ein wichtiges Signal für die De-
GRÜNEN) batte, die wir hier heute beginnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Präsident Dr. Norbert Lammert: der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) (D)
für die SPD-Fraktion. Ich möchte einige Punkte ansprechen, über die wir,
(Beifall bei der SPD) wie ich glaube, dringend diskutieren müssen. Der An-
trag, den Sie gestellt haben, enthält viele Punkte, die eins
zu eins dem entsprechen, was wir in der Großen Koali-
Christoph Strässer (SPD): tion beschlossen haben, und die in der Gesellschaft kon-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber sensfähig sind. Aber unter bestimmten Voraussetzungen
Kollege Kauder, vieles von dem, was Sie gesagt haben, springt dieser Antrag an einigen Stellen zu kurz. Deshalb
unterstreiche ich eins zu eins. Es ist nicht ganz das möchte ich zwei Probleme ansprechen, die mir ganz
Thema, über das wir uns streiten sollten. Denn in der wichtig sind; diese haben nichts mit einer Relativierung
Überschrift Ihres Antrags geht es nicht um Christenver- von Christenverfolgung zu tun. Wir haben mit großer
folgung, sondern um Religionsfreiheit weltweit. Das ist Aufmerksamkeit die Berichte von Frau Granold und
ein weiter gefasstes Thema als das, was Sie angespro- Herrn Kober über ihre Reise nach Orissa verfolgt. Es ist
chen haben. Gleichwohl ist es wichtig. bedrückend und beschämend, dass es nicht gelingt, die
Menschen dort zu schützen.
Zu einer Stelle – die mich ein klein wenig betroffen
gemacht hat – möchte ich eine Bemerkung machen. Sie Wenn wir über Menschenrechtsverletzungen im Zu-
haben hier vorgetragen, dass sich die CDU/CSU und die sammenhang mit Religionsfreiheit reden – das sage ich
FDP in diesem Hause für Religionsfreiheit und gegen mit aller Klarheit –, dann darf und kann das jedoch nicht
Christenverfolgung aussprechen. Ich bitte Sie ganz unter dem Aspekt der Quantität geschehen. Ja, es ist so:
ernsthaft, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich nicht nur Die Christen sind in diesen Gesellschaften, um die es
die Fraktionen auf der rechten Seite des Hauses dafür geht, wahrscheinlich die religiöse Minderheit, die am
aussprechen, sondern dass sich der gesamte Deutsche meisten verfolgt wird. Aber – darauf möchte ich ganz
Bundestag – auch SPD, Grüne und die Linkspartei – da- massiv hinweisen – wenn wir uns in unserer Politik auf
für einsetzt. Das ist völlig klar. diese Gruppe konzentrieren und andere am Rande las-
sen, sie allenfalls marginal erwähnen, dann ist das kein
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Beitrag zur Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechts-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker politik.
Kauder [CDU/CSU]: Ich spreche nur für die
CDU/CSU-Fraktion und nicht für die FDP! Sie haben zwei andere betroffene Gruppen am Rande
Wenn Sie es wünschen, tue ich das auch für angesprochen: die Bahai und verfolgte Muslime in be-
Sie!) stimmten Regionen dieser Welt. Da würde ich mir ein
5588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Christoph Strässer
(A) bisschen mehr Deutlichkeit wünschen. Wenn wir wis- Ich möchte mit einem Glückwunsch an einen Kolle- (C)
sen, dass in diesen Zeiten fünf Führer der Bahai-Reli- gen schließen, der nicht im Deutschen Bundestag sitzt,
gion – sie hat nicht viele Anhänger und gehört zu den am aber vielen von uns aufgrund seiner Arbeit im Deutschen
meisten gefährdeten Religionen der Welt – aufgrund ih- Institut für Menschenrechte bekannt ist: Heiner Bielefeldt.
rer Religionszugehörigkeit im Iran von der Todesstrafe Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass jemand wie
bedroht sind, dass es dort Verfahren gibt, dass aber in Heiner Bielefeldt als Sonderberichterstatter der Verein-
diesen Anträgen dazu nichts steht, dann können wir die- ten Nationen für die Fragen der Religionsfreiheit be-
sen nicht zustimmen; denn das gehört in das Zentrum nannt worden ist. Ich finde, wir sollten uns darum küm-
unserer Auseinandersetzung. Darüber müssen wir bei mern, dass er hier im Deutschen Bundestag – wir haben
diesem Thema reden. eine Anhörung im Menschenrechtsausschuss, zu der wir
ihn eingeladen haben – zu diesen Fragen Stellung
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie nimmt. Wir müssen über diese Anträge diskutieren. Wir
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE werden uns auch positiv in diese Diskussion einmischen.
GRÜNEN) Ich hoffe, dass wir an dieser Stelle gute Beratungen hin-
Es geht nicht darum, einen Katalog von Qualitäten bekommen und dass der Deutsche Bundestag bei der
und Quantitäten von verfolgten Minderheiten in der Welt Geltung der Menschenrechte und insbesondere der Reli-
aufzustellen. gionsfreiheit in der ganzen Welt – in Deutschland, Eu-
ropa und darüber hinaus – klare Signale setzt.
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder ein
Thema angesprochen. Es gibt eine große verfolgte Min- Herzlichen Dank.
derheit in China: die Buddhisten in Tibet. Sie sind stän-
dig in der Gefahr, von diesem Regime verfolgt zu wer- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
den, nicht nur aufgrund der Diskussionen über die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Eigenständigkeit Tibets, sondern auch aufgrund ihrer
kulturellen und religiösen Zugehörigkeit. Auch dieses Präsident Dr. Norbert Lammert:
Thema gehört in die Anträge. Darüber müssen wir reden. Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Herr
Wenn wir das nicht tun, dann ist dieser Antrag an dieser Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle.
Stelle unvollständig. Wir können ihm in dieser Form
nicht zustimmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
GRÜNEN) wärtigen:
(B) (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Ein weiterer Punkt, der mir wichtig ist, ist der welt- ren! Kolleginnen und Kollegen! Eine aktive Menschen-
weite Schutz der Religionsfreiheit. „Weltweit“ umfasst rechtspolitik ist Markenzeichen deutscher Außenpolitik.
– das findet man leider nicht in Ihrem Antrag – natürlich Der Einsatz für Religionsfreiheit ist Teil unserer aktiven
auch unseren eigenen Kontinent. An der einen oder an- Menschenrechtspolitik. Ich habe um das Wort gebeten,
deren Stelle muss man darüber nachdenken, wie der Zu- weil ich nachdrücklich unterstreichen möchte, dass das
stand der Religionsfreiheit in Europa ist. Dies muss Engagement der Antragsteller und, wie ich denke, des
man unter einem anderen Aspekt sehen; ich will das gar gesamten Hohen Hauses für Religionsfreiheit, für Plura-
nicht gleichstellen. In Europa gibt es in der Auseinander- lität und gegen Verfolgung und Unterdrückung aus reli-
setzung um Religionsfreiheit keine Verfolgung und Ge- giösen Gründen nicht nur das Anliegen des Parlamentes
fahr für Leib und Leben mehr. Aber wir haben natürlich ist, sondern ausdrücklich auch ein zentrales Anliegen der
auch Diskussionen, und die Religionsfreiheit ist vielfäl- Bundesregierung.
tig. Ich wünsche mir, dass wir über Fragen wie die des
Baus von Minaretten ganz offene Diskussionen führen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dies betrifft auch die Frage: Wie ist es eigentlich um die
Religionsfreiheit bestellt, wenn wir – zu Recht – die Isla- Wenn Millionen Christen in der Welt ihren Glauben
mische Charta und die Beschlüsse des Menschenrechts- nicht frei leben können, dann wollen wir nicht schwei-
rates in Genf zur Islamophobie kritisieren und es in gen. Es ist richtig, dass dies ein Anliegen ist, das uns
Deutschland noch immer einen § 166 des Strafgesetzbu- über die Parteigrenzen hinweg verbindet. In vielen Län-
ches gibt? dern darf die Bibel weder gekauft noch gelesen werden;
Gottesdienste werden behindert; Christen werden ins
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gefängnis geworfen oder kommen ins Arbeitslager.
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Auch vor Angriffen auf Leib und Leben sind sie nicht
GRÜNEN]: Na ja, das ist Äpfel mit Birnen gefeit. Viele Staaten unterdrücken die freie Religions-
vergleichen!) ausübung mit Verboten, Polizei und Strafen. Anderer-
Das sind Punkte, die wir nicht ignorieren dürfen. Wir seits lassen sie ihre Bürger oft genug frei gewähren,
müssen über diese Themen reden. Ich denke, es wird uns wenn sie Jagd auf Andersgläubige machen. Beides sind
in diesem Hohen Hause guttun, da ein Stück Selbstkritik Formen der Unterdrückung von Religionsausübung:
zu üben. die staatliche Pression und Verfolgung, aber auch das
Zulassen von Verfolgung durch Mob und durch Kräfte,
(Beifall des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]) die die Toleranz nicht akzeptieren wollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5589
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie dern auf Religionsfreiheit zu drängen; es ist vielmehr die (C)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Lehre aus unserer eigenen Geschichte, dass wir uns für
NISSES 90/DIE GRÜNEN) religiöse Pluralität überall in der Welt einsetzen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen – hier müssen wir (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
uns auf Schätzungen verlassen –, dass Nichtregierungs- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
organisationen weltweit von mindestens 100 Millionen bei Abgeordneten der LINKEN)
verfolgten Christen ausgehen. Uns geht es aber nicht nur
um ein Engagement für den christlichen Glauben, die Die Würde des Menschen, die Freiheit, die Eigenverant-
christlichen Religionen. Vielmehr geht es hier um eine wortung, das ist unser Fundament; das ist auch ein Er-
grundsätzliche Frage. Wir sind der Überzeugung: Jeder folg der europäischen Aufklärung. Für dieses Staatsver-
Mensch muss den Glauben leben dürfen, den er für sich ständnis stehen wir, und für dieses Staatsverständnis
als wahr erkannt hat. Religionsfreiheit ist immer auch setzen wir uns weltweit ein.
die Freiheit, seine Religion ungehindert auszuüben oder Wir müssen aber allen Versuchen entgegentreten, die
zu wechseln. Auch gar keiner Religion anzugehören, ist Achtung der Menschenrechte unter den Vorbehalt kul-
ein Ausdruck von Religionsfreiheit. Das ist das plurale tureller Eigenheiten zu stellen. Sehr oft hört man: Dieses
Verständnis von Religionsfreiheit, das uns nicht nur oder jenes müsse man verstehen; denn es sei gewisser-
über das Grundgesetz, sondern auch in unserer täglichen maßen das Ergebnis kultureller Herkunft und kultureller
Politik hier verbindet. Eigenheit. Das ist eine Form der Relativierung von Wer-
ten, die wir nicht akzeptieren können. Religionsunter-
(Beifall im ganzen Hause)
drückung ist nicht Ausdruck von Kultur, es ist Ausdruck
Religionsfreiheit muss also für Angehörige christli- von Unkultur.
cher Minderheiten wie für Anhänger anderer Religionen
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
gelten. Wenn wir die Freiheit für Christen auf der ganzen
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Welt glaubhaft einfordern, dann heißt das natürlich auch,
bei Abgeordneten der LINKEN)
dass der Staat in Deutschland zuerst die Freiheit aller
religiösen Bekenntnisse bei uns zu Hause schützt. Ich Das vertreten wir auch in unserer Politik, und dafür en-
unterstreiche nachdrücklich, was der Fraktionsvorsit- gagieren wir uns auch gemeinsam.
zende der CDU/CSU, Volker Kauder, hier dazu gesagt
hat: Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit – nicht Oft genug wird aus Religionsfreiheit und Meinungs-
nur weil wir von Verfassungs wegen dazu verpflichtet freiheit ein Gegensatz konstruiert. Es ist uns ein wichti-
sind, sondern weil wir es in uns selbst fühlen und es an- ges Anliegen, immer und immer wieder darauf aufmerk-
(B) streben –, dass wir, so wie wir in anderen Ländern auf sam zu machen: Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit (D)
Religionsfreiheit setzen, immer und immer wieder alles sind gewissermaßen zwei Früchte vom selben Baum,
dafür tun werden – mit der gesamten staatlichen Gewalt nämlich vom großen, wunderschönen Baum der Freiheit.
und dem gesamten zivilen Engagement, das es bei uns Darum geht es. Auch wenn man als jemand, der religiös
gibt –, dass auch bei uns in vollem Umfang Religions- denkt, lebt, erzogen worden ist, das Gefühl hat, dass der
freiheit gewährt wird. Das ist mehr als nur eine Frage eigene Glaube, vielleicht durch Karikaturen oder Mei-
von Gebäuden. In Wahrheit ist es auch eine Frage des nungsäußerungen, beeinträchtigt wird, gibt es dennoch
gesellschaftlichen Klimas. Auch darum wollen wir uns keine Rechtfertigung, gegen irgendjemanden gewalttätig
gemeinsam bemühen. zu werden. Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit sind
keine Gegensätze. Sie sind in Wahrheit ein wunderbares
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Paar, meine sehr geehrten Damen und Herren.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
Wenn sich Christen nur um die Freiheit von Christen geordneten der SPD und der LINKEN)
kümmern, Hindus nur um die Freiheit von Hindus, Mus-
lime nur um die Freiheit von Muslimen, dann ist das Ich möchte für die Bundesregierung mit einem klaren
nicht das Miteinander von Religionen, das wir meinen. Bekenntnis schließen. Wer Hass zwischen den Religio-
Das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen nen schürt, verfolgt vor allem politische Ziele, keine reli-
gelingt nur mit Respekt und Dialog. Wir wollen uns da- giösen. Religion darf nie Vorwand für Hass, nie Ent-
bei nicht selber etwas vormachen. Es hat auch bei uns schuldigung für Gewalt und Krieg sein. Deswegen wird
Jahrhunderte gedauert – ich rede nicht vom Mittelalter –, sich die Bundesregierung im, wie ich denke, Namen des
bis sich in Europa ein Wertekanon entwickelt hat, in ganzen Hohen Hauses auch international dafür einset-
dessen Mittelpunkt der Mensch steht, einschließlich der zen, indem ein Kernbestandteil unserer Menschen-
freien Ausübung der Religion. rechtspolitik das Bekenntnis zur Religionsfreiheit ist.
Ich selbst habe beim Menschenrechtsrat der Vereinten
Wir sollten uns als Deutsche auch daran erinnern, Nationen in Genf ziemlich am Anfang meiner Amtszeit
dass Religionsausübung in Deutschland noch im letzten die Religionsfreiheit, ausdrücklich auch die Freiheit der
Jahrhundert alles andere als selbstverständlich war. Mil- Christen im Hinblick auf ihre Religion und ihr religiöses
lionenfacher Mord, auch auf religiöser Zugehörigkeit Bekenntnis, in den Mittelpunkt meiner Ausführungen
begründet, hat auf deutschem Boden stattgefunden. Des- gestellt, weil ich den Eindruck habe, dass wir nicht zu-
wegen ist es nicht belehrend, gegenüber anderen Län- lassen dürfen, dass dies ignoriert wird.
5590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Wenn die Öffentlichkeit sieht, dass wir bei diesen fun- (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
damentalen Wertefragen übereinstimmen, dann, so denke
Auch das hat in der Linken Tradition: Freiheit und
ich, ist das ein gutes Zeichen. Man kann das – wenn Sie
Gleichheit begreifen wir nicht als Gegensatz, sondern
mir erlauben, dies als Abgeordneter am Schluss meiner
als sich ergänzende und sich bedingende Elemente der
Rede zu sagen – auch durch gemeinsame Beschlussfas-
Demokratie, ohne dass eines von beiden größer ge-
sungen dokumentieren.
schrieben würde.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass das bekann-
geordneten der SPD und der LINKEN) teste Zitat zur Freiheit von einer Sozialistin stammt. Das
gilt ganz besonders für den Bereich, der den Menschen
tief berührt und sein Selbstverständnis betrifft; somit ist
Präsident Dr. Norbert Lammert: auch ganz klar: Freiheit ist immer auch die Freiheit des
Nächster Redner ist der Kollege Raju Sharma für die Andersgläubigen.
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Beifall bei der LINKEN) Christoph Strässer [SPD])
Raju Sharma (DIE LINKE): Wir verurteilen es natürlich, wenn in vielen Ländern
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In ihrem dieser Welt Religionsfreiheit noch keine Selbstverständ-
Antrag fordern die Koalitionsfraktionen, Religionsfrei- lichkeit ist. Ein Beispiel ist Tibet, das im Antrag von
heit weltweit zu schützen. Wir als Linke können das nur CDU/CSU und FDP leider gar nicht erwähnt wird. Völ-
unterstützen. Denn natürlich schätzen und achten wir die lig zu Recht hat der Dalai Lama den Friedensnobelpreis
erhalten. In seinen Bemühungen um die Tibeter verdient
(B) Freiheit jedes Menschen, seinen Glauben frei von Unter- er aus meiner Sicht unsere volle Unterstützung, (D)
drückung und Verfolgung zu leben,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN)
neten der SPD) genauso wie alle anderen Menschen, die sich weltweit
genauso wie wir die Freiheit grundsätzlich achten; denn für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit starkma-
tatsächlich ist die Linke die Partei der Freiheit. chen und dafür eintreten, dass sich Rechtslage und
Rechtspraxis in ihrem Land so entwickeln, dass das öf-
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- fentliche Bekennen der eigenen Religion gewährleistet
ordneten der CDU/CSU und der FDP – ist.
Christoph Strässer [SPD]: Oh ja! Vor allem die
Partei der Wahlfreiheit!) Der Antrag der Koalitionsfraktionen findet insofern
ebenso grundsätzlich meine Zustimmung wie der von
Hören Sie ruhig zu! Das mag einige von Ihnen überra- den Grünen. Allerdings bin ich der Meinung, dass sich
schen, CDU/CSU und FDP um etwas mehr Ausgewogenheit
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: hätten bemühen können. Ihr Antrag konzentriert sich
Freuen Sie sich darüber!) vorwiegend – das ist schon gesagt worden – auf die
christlichen Minderheiten, was das im Antrag enthaltene
weil wir die Rechtsnachfolgerin der SED sind, die be- Islam-Bashing noch verstärkt und die verschiedenen Re-
kanntermaßen die Freiheit nicht geschätzt und geachtet ligionen unnötig gegeneinander in Stellung bringt.
hat, anders als wir Linke heute. Wir stehen zu dieser Ver-
gangenheit, wir stellen uns ihr, und wir haben aus ihr ge- Zudem erweist sich die Haltung der Koalition nicht
lernt. wirklich als konsequent; denn wer die UN-Resolution
gegen die Diffamierung von Religionen – sicher richti-
(Beifall bei der LINKEN) gerweise – ablehnt und darin einen Beweis für die Unter-
Heute ist die Linke diejenige unter allen demokratischen drückung der Meinungsfreiheit im Islam sieht, der sollte
Parteien, die im innerparteilichen Diskurs die Meinungs- auch einen Blick in das deutsche Strafgesetzbuch werfen
vielfalt nicht nur toleriert, sondern als Reichtum begreift – auch das ist schon gesagt worden –: Zumindest in der
und deshalb unterstützt und fördert. praktischen Handhabung ist das in § 166 des Strafge-
setzbuches enthaltene Verbot einer Beschimpfung von
(Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler Religionsgesellschaften nicht allzu weit von der geschol-
[SPD]: Das haben wir letzte Woche gesehen! – tenen Resolution entfernt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5591
Raju Sharma
(A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
GRÜNEN]: Falsch!) Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich meine, wir sollten alle Religionen mit demselben
Respekt behandeln.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
neten der SPD) Westerwelle, ich will Ihr Angebot ausdrücklich aufgrei-
Außerdem stünde es der Regierung nicht schlecht an, fen, in den Ausschussberatungen zu gemeinsamen Be-
ein Urbi et Orbi auch für sich zu beherzigen. In Sachen schlussfassungen zu kommen, weil ich denke, das
Religionsfreiheit lohnt sich nämlich nicht nur der Blick Thema der Religions- und Glaubensfreiheit ist so wich-
in die Welt, sondern auch ins eigene Land. Eine staatli- tig, dass der Deutsche Bundestag das über die Grenzen
che Unterdrückung oder Verfolgung einzelner Religions- von Koalition und Opposition hinweg tun sollte, weil er
gemeinschaften ist hier zwar nicht zu beklagen, aber be- so seine Position stärker zum Ausdruck bringen kann.
dingungslose Religionsfreiheit ohne jede Einschränkung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
findet man auch bei uns nicht, jedenfalls dann nicht, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
wenn man auch die konsequente Gleichbehandlung al- KEN)
ler Glaubensgemeinschaften darunter versteht.
Herr Sharma, Sie haben hier das Religionsverfas-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE sungsrecht der Bundesrepublik Deutschland kriti-
GRÜNEN]: Wir arbeiten daran!) siert. Das Entscheidende ist, dass wir alle Glaubensge-
Wenn nämlich ein Muslim zu häufig sein Gotteshaus meinschaften und weltanschaulichen Haltungen gleich
besucht, dann kann es schon passieren, dass er als poten- behandeln. Es gibt unterschiedliche Rechtstraditionen:
ziell Verdächtiger in der Antiterrordatei landet. Frankreich und die Türkei haben einen eher laizistischen
Ansatz, und in der Türkei existiert außerdem die Beson-
(Frank Schäffler [FDP]: Quatsch! – Hartfrid derheit der Privilegierung des sunnitischen Islam. In
Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ach was!) Deutschland besteht die „hinkende“ Trennung von Staat
Ein eifriger Kirchgänger muss das nicht befürchten. und Kirche. Das Entscheidende, das wir hier in Deutsch-
land tun müssen, ist, dass wir alle Religionen gleich be-
Wenn deutsche Behörden Fluggastdaten an die USA handeln. Das heißt aber nicht zwingend, dass wir die
übermitteln, die nicht nur Angaben über die Mitglied- Grundsätze unseres Religionsverfassungsrechtes deshalb
schaft in Gewerkschaften enthalten, sondern auch solche aufgeben müssten.
(B) über Essgewohnheiten oder die Religionszugehörigkeit, (D)
dann geschieht das bekanntermaßen nicht, um den Bord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
service für die Passagiere zu optimieren. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, ich nehme wohl wahr,
Auch in manch anderer Hinsicht findet staatliche Un- dass diese Debatte heute hier anders verläuft als in der
gleichbehandlung statt. Noch immer werden die evange- Vergangenheit. Trotzdem erfolgte in Ihrem Beitrag, Herr
lische und die katholische Kirche gegenüber anderen Re- Kauder, und auch in Ihrem Antrag eine zu einseitige
ligionsgemeinschaften bevorzugt. Eine konsequente Zentrierung auf die Verfolgung der Christen. Ich denke,
Trennung von Staat und Religion ist in Deutschland wir erweisen den Christen, die in anderen Ländern ver-
noch längst nicht Wirklichkeit. Ich sage nur: Staatsleis- folgt werden, einen Bärendienst, wenn wir nicht um das
tungen, Kirchensteuer, Religionsunterricht. Hier könnten Recht der Religionsfreiheit streiten, sondern uns einsei-
wir von unseren Nachbarn lernen: In Frankreich ist der tig auf „unsere“ Leute fokussieren, die woanders ver-
Laizismus als Grundsatz in der Verfassung festgeschrie- folgt werden. Das ist die falsche Perspektive. Es muss
ben – wir haben Gott in der Präambel des Grundgeset- um das Prinzip der individuellen, der kollektiven und
zes. auch der negativen Glaubensfreiheit gehen. Wenn wir
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das ist auch gut um das Prinzip streiten, dann können wir weltweit auch
so!) viel für die verfolgten Christen tun.
Immerhin bekennt sich die Koalition in ihrem Antrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
auch zur Freiheit der Nichtgläubigen, die anerkannt sowie bei Abgeordneten der SPD)
und geschützt werden soll. Es besteht also ein breiter Nicht nur Christen aus Orissa haben auf der Tribühne
Konsens darüber, dass die Zeit des Missionierens end- Platz genommen, sondern auch ein Vertreter des Natio-
gültig vorbei ist. Wenn Menschen zum Glauben finden, nalen Geistigen Rats der Bahai, einer kleinen Weltreli-
dann sollten sie das in Freiheit tun: hier und im Rest der gion mit 300 000 Gläubigen im Iran. Was wird aber da-
Welt. durch ausgesagt, dass zahlenmäßig weniger Bahai als
Vielen Dank. Christen verfolgt werden, weil es nun einmal weniger
Bahai als Christen gibt? Gerade für diese religiöse Min-
(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder derheit ist die Situation im Iran dramatisch, weil die ira-
[CDU/CSU]: Die Zeit des Missionierens ist nischen Muslime nicht akzeptieren, dass es nach
nicht vorbei!) Mohammed einen neuen Offenbarer gab, der für sich in
5592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Bei den Gründervätern der Bundesrepublik Deutsch- Die Religionsfreiheit ist ein individuelles Freiheits-
land herrschte die Überzeugung vor, dass erst der Abfall recht, wie die Meinungsfreiheit auch. Es geht um
von Gott den Weg freigemacht hatte für das schranken- die Freiheit, sich zu einem Glauben zu bekennen
lose Machtsystem tiefster menschlicher Erniedrigung oder auch nicht.
des Nationalsozialismus. Auf dieser Grundlage unserer Das heißt, man darf nicht dazu gezwungen werden, sei-
Verfassung haben wir die Religionsfreiheit definiert und nen Glauben zu verbergen, aber auch nicht, ihn zu offen-
garantiert. Wir wollen diese Erfahrungen nicht besser- baren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Möglichkeit, im
wisserisch anderen aufdrängen, aber es ist uns von der Deutschen Bundestag zum Beispiel bei der Eidesformel
Union wie auch, glaube ich, allen Mitgliedern dieses den letzten Satz wegzulassen.
Hauses wichtig, dass die Religionsfreiheit als Men-
schenrecht über nationale Grenzen hinweg verwirklicht Religionsfreiheit bedeutet auch die Freiheit, den
wird. Deshalb werden wir darauf achten, dass die Frei- Glauben ohne Druck und Zwang, aber auch ohne Konse-
heit des Gewissens und Glaubens bei unseren Partnern quenz für Leib und Leben oder die berufliche Existenz
und den Mitgliedern der internationalen Völkergemein- zu wechseln oder zu behalten. Dies ist in einer Vielzahl
schaft gewährleistet wird, und wir werden diese auch von Ländern – das ist schon mehrfach angesprochen
einfordern. worden – nicht möglich. Beispiele dafür sind der Iran
oder Saudi-Arabien. Dort steht auf Apostasie, also den
Ein wichtiger Schutzschirm für verfolgte und be- Abfall vom Islam, die Todesstrafe, ebenso wie in Pakis-
drohte Minderheiten, insbesondere Christen, ist die Her- tan auf die Beleidigung des Propheten Mohammed. Dort
stellung der Öffentlichkeit bei uns und weltweit. Des- wie in vielen anderen Ländern darf nicht für einen Reli-
5594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: dere Grundrechte vorenthalten möchte, hat mit unserem (C)
Pascal Kober erhält nun das Wort für die FDP-Frak- entschiedenen Widerspruch zu rechnen.
tion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Religionsfreiheit gibt es für uns nur innerhalb des Rah-
der CDU/CSU)
mens der für alle gültigen universellen und unteilbaren
Menschenrechte.
Pascal Kober (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Was wir mit unserer wertegeleiteten Außenpolitik von
Sehnsucht nach Freiheit, die Sehnsucht nach Freiheit der allen Religionen und Weltanschauungen einfordern, ist
innersten Bindungen und der innersten Grundüberzeu- gegenseitige Toleranz, aber keine Toleranz, die dem Dia-
gungen von äußerem Zwang – wir würden heute sagen: log um Wertefragen ausweicht, sondern eine Toleranz,
die Sehnsucht nach der Freiheit des Gewissens, die die den Dialog um die Wahrheit und Gültigkeit von Wer-
Glaubens- und Religionsfreiheit – ist geradezu der Aus- ten, die den Dialog um die Weise eines friedlichen Zu-
gangsimpuls für die gesellschaftliche Freiheitsbewe- sammenlebens aller innerhalb der Friedensordnung, die
gung, in deren Folge sich die freiheitlichen Demokratien die unveräußerlichen Menschenrechte jedem gewähren,
auf dem Boden unveräußerlicher Grundrechte ausgebil- sucht. Deshalb sind die Mittel und Wege, mit denen die
det haben. christlich-liberale Regierungskoalition weltweit für Men-
schenrechte eintritt, vor allen Dingen der entschiedene
Es ist kein Widerspruch, dass wiederum der Grund- Menschenrechtsdialog auf allen Ebenen, die Menschen-
wert der Glaubens- und Gewissensfreiheit in unserer rechtsbildung, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Geistesgeschichte seinen Ausgangspunkt in der jüdisch- Entwicklung aufgrund der Einsicht, dass gesellschaftli-
christlichen Tradition hat, nach Jahrhunderten der Ver- che Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einerseits und öko-
dunklung durch theologische Missinterpretation wieder- nomische Unabhängigkeit andererseits einander positiv
entdeckt und aufgedeckt in der Reformation und säkular- bedingen.
politisch durchdacht, ausformuliert und erkämpft in der
Freiheitsbewegung der Aufklärung. Als christlich-liberale Koalitionsfraktionen fordern wir
mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, in ihren
Jüdisch-christliche Tradition, Reformation und Auf- Anstrengungen für Religionsfreiheit und Menschen-
klärung – wir wären uns selbst nicht treu, liebe Kollegin- rechte nicht nachzulassen, und sichern zugleich unsere
nen und Kollegen, sondern geradezu selbstvergessen, Unterstützung zu.
würden nicht gerade wir als christlich-liberale Koalition
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) für das unveräußerliche Recht auf Glaubens- und Gewis- (D)
sensfreiheit, auf Religionsfreiheit weltweit entschieden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
eintreten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Norbert Lammert:
der CDU/CSU) Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Groth für
die Fraktion Die Linke.
Was die Religionsfreiheit, für die die christlich-libe-
rale Koalition weltweit im Rahmen ihrer kohärenten und (Beifall bei der LINKEN)
wertegeleiteten Außenpolitik eintritt, aber nicht meint,
und was die Toleranz unter den Religionen und Weltan-
Annette Groth (DIE LINKE):
schauungen, die wir einfordern, nicht meint, ist eine rela-
tivistische Toleranz oder Religionsfreiheit, die der Frage Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
nach der Gültigkeit von Werten, die, wenn man so will, und Kollegen! Als linke, ökumenisch geprägte Protestan-
der Wahrheitsfrage ausweicht. tin begrüße ich die heutige Debatte über die Glaubens-
und Gewissensfreiheit als ein elementares Menschenrecht.
Denn wem alles gleich gültig ist, dem ist auch alles Religion ist für viele Menschen von zentraler Bedeutung.
gleichgültig. Das ist das genaue Gegenteil einer wertege- Deshalb müssen sich Staaten gegenüber Religionen und
bundenen und wertegeleiteten Außenpolitik Weltanschauungen neutral verhalten und eine freie Reli-
gionsausübung gewährleisten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wie einige Vorrednerinnen und Vorredner unterstütze
und das genaue Gegenteil der Idee universell gültiger ich ausdrücklich die deutliche Kritik am Minarettverbot
unveräußerlicher Menschenrechte. in der Schweiz.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef
NEN]: Ich bin auch christlich! Ich bin auch li- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
beral! Nicht so ausgrenzen!) NEN])
Das Konzept der Religionsfreiheit, für das wir als Aber auch in Deutschland versuchen Bürgerinitiativen
christlich-liberale Koalition weltweit eintreten, ist das häufig, den Bau von Moscheen zu verhindern. So wird
Konzept einer Toleranz, die nicht alles für richtig hält die Religionsfreiheit behindert.
und auch nicht jedem recht gibt. Wer beispielsweise un-
ter dem Deckmantel der Religionsfreiheit anderen an- (Beifall bei der LINKEN)
5596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Annette Groth
(A) Seit einiger Zeit beobachte ich mit großer Sorge, dass viele Millionen armer Bäuerinnen und Bauern ihre Exis- (C)
in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten mit tenzgrundlage verlieren, weil billige subventionierte Le-
Begriffen wie „islamistisch“ eine ganze Religion diskre- bensmittel aus der EU den indischen Markt zerstören,
ditiert wird. Eine solche Kategorisierung trägt dazu bei, befürchte ich, dass die Hassprediger noch mehr Zulauf
dass bei der Mehrheitsgesellschaft Ressentiments gegen und Gehör finden könnten als bisher. Deswegen müssen
Muslime geschürt werden. Als Reaktion auf diese Dis- wir auch durch eine gerechte Handelspolitik dazu beitra-
kriminierung und Stigmatisierung könnten Muslime in gen, dass Armut sich nicht weiter verschärft.
die Arme von Extremisten getrieben werden. Deshalb Die Linke fordert von der Bundesregierung eine Men-
hat sich die US-Regierung kürzlich von Begriffen wie schenrechtspolitik, die sich für alle Verfolgten und Be-
„radikaler Islam“ und „islamistischer Terror“ ganz ver- drohten, egal welcher Religionsgemeinschaft sie ange-
abschiedet. hören, einsetzt.
Verehrte Damen und Herren, zu einer fortschrittlichen Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Menschenrechtspolitik gehört die Analyse der tieferen
Ursachen von religiösen Konflikten. Oft zeigt sich, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
dass Diskriminierungen oder Gewaltakte gegen eine be- neten der SPD)
stimmte Religion der Katalysator für soziale und ökono-
mische Konflikte sind. Wenn Angehörige einer Religion Präsident Dr. Norbert Lammert:
von der Politik bevorzugt werden, werden bei anderen Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs für die
Religionsgemeinschaften Ressentiments geschürt. Dann Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
wird Religion als Machtinstrument missbraucht.
Herr Kauder sowie andere Rednerinnen und Redner Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
haben den Fall Orissa bereits erwähnt. An den Überfällen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
waren Mitglieder der Lokalregierung und der indischen Herren! Der Antrag der Regierungsfraktionen behandelt
Volkspartei BJP, deren Mitglieder nationalistische Hin- vor allem die Verletzung der Religionsfreiheit in fernen
dus sind, beteiligt. Ein Grund für diese gewaltigen Aus- Ländern. Das ist aber nicht genug. Wer die Religions-
schreitungen sind die große Armut und der seit Jahren ge- freiheit beschneidet oder missachtet, der missachtet auch
Europa; denn Europa ist ein politisches Projekt der bür-
schürte Hass auf Andersgläubige. Viele der 35 Millionen
gerlichen Freiheiten einschließlich der Religionsfreiheit
Einwohnerinnen und Einwohner Orissas leben in großer
und gerade der Religionsfreiheit. Diese grundlegenden
Armut. Diese sozialen Verhältnisse machen es religiösen
Freiheitsrechte sind im Grad ihrer Durchsetzung und in
Hasspredigern leicht, die Frustration über die sozialen der Entwicklung ihres Instrumentariums ein Markenzei-
(B) Ungerechtigkeiten auf andere zu lenken. chen Europas und nicht nur, Herr Bundesaußenminister, (D)
Im Bundesstaat Karnataka hat die regierende BJP Deutschlands.
kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das den Religions- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wechsel weg vom Hinduismus verhindern soll. Dieses sowie bei Abgeordneten der SPD)
Gesetz stellt „unredliche Bekehrung“ unter Strafe und
legt fest, dass jeder Übertritt zum Christentum den Be- Wenn ich mich in Europa umsehe, dann sehe ich aber
hörden gemeldet werden muss. Mit der toleranten indi- Debatten, die an diesem Fundament des europäischen
schen Verfassung ist dieses Gesetz eigentlich nicht ver- Selbstverständnisses rütteln. Die Mehrheit der Schwei-
einbar. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie zer ist gegen Minarette. Italienische und spanische Kom-
solche Diskriminierungen, ganz gleich, ob sie Muslime, munen stellen die Vollverschleierung der Frau unter
Christen oder andere Religionsgemeinschaften betreffen, Strafe. In Belgien und Frankreich strebt man ein Verbot
in ihren Gesprächen mit Indien deutlich verurteilt. von Burka und Niqab an. Über ein Verbot der Burka
wurde erst vorgestern wieder in der französischen Natio-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nalversammlung beraten. Immer haben diese Debatten
neten der SPD) eine deutlich fremden- und freiheitsfeindliche, eine natio-
nalistische und vor allem antieuropäische Konnotation.
Verehrte Damen und Herren, die Regierung in Orissa
hat auf die Armut mit einer zerstörerischen Industriali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sierung reagiert. Durch die Ansiedlung eines Stahlwerks sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
mit 4 Milliarden Euro Umsatz wurde eine fundamentale KEN)
Veränderung der betroffenen Region eingeleitet. Das Darauf müssen wir achten; denn das sind Diskussionen,
Stahlwerk verbraucht riesige Wassermengen und zerstört die auch zu uns nach Deutschland kommen werden, und
die Lebensgrundlage von vielen Bäuerinnen und Bauern. dabei geht es um den Kern unserer Freiheitsrechte, der
Dadurch wird die Wut vieler Betroffener noch mehr ge- Freiheitsrechte von Deutschland und von Europa.
steigert.
Den freiheitsfeindlichen und reaktionären Tendenzen
Es gibt in vielen Ländern ähnliche Auseinanderset- müssen wir eine sachliche Erwägung dessen entgegen-
zungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Religio- setzen, was Menschenrechte und Freiheiten sind und wo
nen. Ich habe Orissa als Beispiel gewählt, weil hier ex- sie durch Menschenrechte und Freiheiten anderer be-
emplarisch der Zusammenhang zwischen Armut und grenzt werden. Sie dürfen nur dann begrenzt werden,
religiösem Fanatismus aufgezeigt wird. Wenn durch das wenn sie Freiheiten und Menschenrechten anderer ent-
geplante Freihandelsabkommen der EU mit Indien gegenstehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5597
Tom Koenigs
(A) Europa steht dafür, dass das einzelne, schwache Indi- Die Situation in Deutschland und in Europa, die (C)
viduum vor Begehrlichkeiten von starken, überindividu- geprägt ist von Debatten über Detailfragen, wie hier Re-
ellen Institutionen geschützt wird, auch vor Staaten oder ligionsfreiheit ausgestaltet werden kann, lässt sich über-
Schulen, selbst vor Religionsgemeinschaften, egal wie haupt nicht mit der Situation von vielen religiösen Min-
hoheitlich, traditionsreich oder hochwürdig sie daher- derheiten – dazu zählen in vielen Staaten auch die
kommen mögen. Wenn wir Abstriche am Schutz dieser Christen –, die unter Existenzsorgen leiden, vergleichen.
Menschenrechte zulassen, dann gefährden wir das politi- Mit Blick auf die Umsetzung der Menschenrechte und
sche Projekt Europa. des Rechts auf Religionsfreiheit kann man sagen, dass
dazwischen wirklich Welten liegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb sollten wir uns davor hüten, nicht Stellung zu
beziehen oder wegzuschauen, wenn wir dergleichen se- Wir in Europa und insbesondere in Deutschland sind
hen können. geprägt – das hat der Kollege Singhammer vorhin zu
Recht angesprochen – von den Erfahrungen des Dreißig-
Leute wie Sarkozy oder Wilders sagen es nicht so
jährigen Krieges. Durch diese religiöse Auseinanderset-
deutlich, aber im Hintergrund der Debatten um Burka
zung von Christen gegen Christen wurde die deutsche
und Minarette steht immer noch die Vorstellung von ei-
Bevölkerung um 20 bis 40 Prozent dezimiert. Diese Er-
nem christlichen Abendland. Sie sagen in etwa: Europa
fahrung, die uns geprägt hat, hat uns zu der Überzeugung
ist da, wo die Burka nicht ist, und dass manche Religio-
gebracht, dass es Religionsfreiheit geben muss. Aber
nen mit unseren Werten weniger zusammenpassen als
durch die Jahrhunderte waren Religionskämpfe auch
andere. Europa ist aber mehr als das christliche Abend-
immer machtpolitische Instrumente, und es waren auch
land. Europa ist nicht das Projekt einer Religion, sondern
neidgesteuerte Elemente dabei. Auch das ist deutlich er-
das von vielen Gläubigen und Ungläubigen, Religionen
kennbar.
und Religionsgemeinschaften sowie Areligiösen.
Angesichts der historischen Entwicklung unseres
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landes durch die Jahrhunderte freuen wir uns natürlich,
sowie bei Abgeordneten der SPD)
dass Religionsfreiheit inzwischen ein elementares Men-
Noch ist die Religionsfreiheit in Europa besser umge- schenrecht ist; wir müssen dieses Recht wirklich enga-
setzt als in vielen anderen Teilen der Welt – und zwar giert vertreten. Dieses Recht wird nicht nur im Grundge-
nicht nur in den Gesetzestexten, sondern auch im gesell- setz garantiert, sondern auch in der Allgemeinen
schaftlichen Miteinander. Religionsfreiheit weltweit zu Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen
schützen heißt aber auch, weltweit und in Europa einen Pakt für bürgerliche und politische Rechte.
(B) Fundamentalismus zu bekämpfen, der nicht nur unter (D)
Muslimen, sondern auch unter Christen, Juden, Orthodo- Aber seit vielen Jahren müssen wir mit großer Sorge
xen und Ungläubigen zurzeit immer stärker wird. beobachten, dass Religionsfreiheit zwar in vielen Län-
dern auf dem Papier steht – Papier ist geduldig –, dass
Religionsfreiheit und Liberalität sind Identitätszei- aber diese Religionsfreiheit nicht umgesetzt wird.
chen Europas. Für viele in der Welt ist Europa gerade Grundsätzlich wird sie zugesichert, aber zum Beispiel
wegen dieser Freiheit so attraktiv. Wenn wir auf Europa in den muslimischen Ländern wird sie sehr häufig nur
stolz sein wollen, dann sollten wir das gerade deswegen unter dem Diktum der Scharia angewandt. In mindes-
sein. Die Idee Europa braucht Religionsfreiheit. Wir tens 64 Ländern der Erde – mindestens –, in denen fast
sollten sie mit allem Nachdruck vor jeder Relativierung 70 Prozent der Weltbevölkerung leben, ist die Religions-
schützen. freiheit sehr stark eingeschränkt oder sie existiert über-
haupt nicht.
Vielen Dank.
Die kleine Religionsgemeinschaft der Bahai – Herr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beck, Sie brauchen uns nicht zu überzeugen – lebt unter
und bei der SPD) großer Bedrängnis und in existenzieller Not. Wir führen
ständig Gespräche mit ihren Vertretern in Deutschland.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Natürlich stehen wir auch an der Seite der Bahai, aber
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Erika Steinbach für das heißt doch nicht, dass wir nur dort den Blick hinwen-
die CDU/CSU-Fraktion. den dürfen. Wir dürfen nicht verkennen, dass weltweit
vor allem Christen die am häufigsten verfolgte und un-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ter Druck stehende religiöse Minderheit sind. Sie sind
Pascal Kober [FDP]) die größte Religionsgemeinschaft weltweit, aber in den
Ländern, in denen sie verfolgt werden, sind sie in einer
Erika Steinbach (CDU/CSU): Minderheitensituation.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn weltweit so viel Religionsfreiheit herrschen Keine andere Religionsgemeinschaft wird intensiver
würde wie in der Europäischen Union, dann müssten wir verfolgt als die christliche. Ich will nur wenige Beispiele
uns heute manche Gedanken nicht machen. Das muss nennen, man könnte eine seitenlange Liste aufführen. In
ich einmal deutlich feststellen. Indonesien wurden in den Jahren 2000 bis 2001 rund
100 000 Christen von den Molukken vertrieben. Im indi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Bundesstaat Orissa wurden zwischen 2007 und
5598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Erika Steinbach
(A) 2009 rund 50 000 Christen vertrieben, ermordet oder des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist (C)
vergewaltigt. Ich freue mich sehr, dass heute Vertreter logisch!)
der christlichen Minderheit hier sind. Bitte nehmen Sie
– Nein, nicht nur, das habe ich eben deutlich gemacht.
folgende Botschaft mit zu Ihren Glaubensgeschwistern:
Wir stehen an Ihrer Seite. Wir haben Sie nicht vergessen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Wir unterstützen Sie. GRÜNEN]: Dann gibt es keinen Dissens!)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der Missverstehen Sie die Dinge doch nicht so, wie Sie es
SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler wollen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich glaube, es war gut und richtig, dass Deutschland
Lassen Sie mich weitere Beispiele nennen: Im Irak seinerzeit verfolgte christliche Iraker aus Syrien und Jor-
leiden rund 385 000 Christen unter Verfolgung. Wir danien aufgenommen hat. Es ist gut, dass wir uns im
müssen feststellen: 80 Prozent aller aus religiösen Grün- Deutschen Bundestag in einer Kernzeitdebatte dafür aus-
den verfolgten Menschen sind Christen. Man geht welt- sprechen, dass kein Mensch auf diesem Erdball wegen
weit von mindestens 200 Millionen verfolgten Christen der Ausübung seiner Religion und seiner Religionszuge-
aus. Das größte Ausmaß nimmt die Diskriminierung und hörigkeit verfolgt wird.
Unterdrückung leider in mehrheitlich muslimisch ge- Herr Außenminister, ich bedanke mich bei der Bun-
prägten Ländern an. desregierung dafür, dass Sie bei Ihren Gesprächen mit
Selbst in der Türkei – das halte ich für besonders be- Ihren Auslandskontakten immer wieder darauf hinwei-
denklich –, die ihren Blick bekanntermaßen in Richtung sen, dass die Religionsfreiheit für uns ein hohes Gut ist
Europa gelenkt hat, leben Christen nicht ungefährdet. und dass wir von unseren Gesprächspartnern durchaus
Die Religionsfreiheit steht im Grunde genommen nur erwarten, dass sie das auch ernst nehmen.
auf dem Papier. Der Bau von Kirchen ist nicht möglich, Ich bedanke mich.
theoretisch wohl, aber in der Praxis lässt es sich fast
nicht umsetzen. Christliche Geistliche schweben in Le- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bensgefahr, etliche sind schon umgebracht worden. Mis-
sion, ein Teil der christlichen Religion, ist unmöglich. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Predigten dürfen nur an bestimmten Tagen abgehalten Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
werden. Eine Zahl spricht Bände: Vor 60 Jahren betrug Beck das Wort.
der Anteil der Christen in der Türkei 20 Prozent. Derzeit
beträgt der Anteil an Christen in der Türkei nur noch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Er ist gar nicht
(B) 0,15 Prozent. Diese wenigen werden trotz der Beitritts- angesprochen worden!) (D)
verhandlungen gezielt unterschwellig unterdrückt. In
Ankara hören Sie nur Stimmen der Unterstützung und Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
des Verständnisses, aber vor Ort sieht die Welt völlig an- Ich will es ganz kurz machen. Das ist keine persönli-
ders aus. che Bemerkung, Herr Kauder, sondern eine Kurzinter-
vention. Eigentlich wollte ich eine Zwischenfrage an
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Frau Steinbach stellen.
GRÜNEN]: Das stimmt!)
Von Christ zu Christin: Sehen wir uns nur an der Seite
Erst kürzlich hat mir ein Pastor aus Izmir, dessen Na- anderer Christen, oder sehen wir uns an der Seite von
men ich nicht nennen will, von seinen Ängsten und von Verfolgten? Das halte ich für die christliche Haltung.
seiner Drangsal berichtet. Diese ungute Entwicklung
muss uns alle hier im Hause zutiefst beunruhigen. Nicht (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das
nur in Deutschland, sondern auch weltweit brauchen wir hat sie doch gesagt!)
ein friedliches Miteinander der Religionen. Herr Kollege Können wir uns gemeinsam darauf verständigen, dass
Koenigs, Sie haben ausgeführt, dass es eigentlich kein wir das Aggiornamento des II. Vatikanums zugrunde le-
christliches Abendland gibt. Ich sage Ihnen: Wir leben gen, obwohl Sie keine Katholikin sind? Wir können
auf dem Fundament eines christlich geprägten Abend- Gott, den Vater aller Menschen, nicht anrufen, wenn wir
landes, und das lasse ich mir auch nicht ausreden. irgendwelchen Menschen, die nach dem Ebenbild Gottes
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – geschaffen sind, die brüderliche Haltung verwehren. Das
Ulrich Kelber [SPD]: Dann müssen Sie einmal ist vielleicht eine gute gemeinsame Grundlage. Da geht
einige Stellen in der Bibel nachlesen!) es nicht um Christen oder Nichtchristen, sondern um
Menschen.
Als Christin füge ich auch hinzu: Selbstverständlich
stehe ich solidarisch an der Seite anderer Christen. Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Beck, Sie wissen doch selber, wo Sie solidarisch stehen.
Ich als Christin stehe solidarisch an der Seite verfolgter Erika Steinbach (CDU/CSU):
Christen auf dieser Welt. Herr Kollege Beck, wer durch des Argwohns Brille
schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
GRÜNEN]: Hoffentlich nicht nur! – Gegenruf SES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5599
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ein weiteres Beispiel bietet auf dem afrikanischen (C)
Siegmund Ehrmann ist der nächste Redner für die Kontinent Eritrea. Hier sind lediglich vier Konfessionen
SPD-Fraktion. erlaubt. Alle anderen Religionen werden automatisch
kriminalisiert. Das belegen die Zahlen der Inhaftierun-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen, welche die Sicherheitsdienste von Gläubigen ande-
rer Religionsgemeinschaften vornehmen.
Siegmund Ehrmann (SPD):
Die Nichteinhaltung der Glaubens- und Religionsfrei-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe heit ist – ich habe es eingangs deutlich gemacht – nicht
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach ange- nur ein außereuropäisches Problem. Das Minarettverbot
sprochen worden: Europa und Deutschland sind durch in der Schweiz ist angesprochen worden. Ich beobachte
fürchterliche Epochen gegangen. Das, was wir als unteil- das auch in unserer Region: Wenn es um den Bau von
bare Menschenrechte verstehen, ist auch in unserem Moscheen und Minaretten geht, ist das nicht ganz so
Land nicht vom Himmel gefallen. stressfrei, wie es hier in der Debatte angedeutet wird.
Die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiö- (Beifall bei der SPD)
sen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind Rechte des
Einzelnen. Wir messen ihnen in unserer Verfassung den Da werden – das ist rechtsstaatlich nicht zu beanstan-
höchsten Rang zu. Ob Christ, Jude, Muslim, Buddhist, den – die Instrumente des Bau- und Planungsrechts be-
Hindu oder Mitglied einer anderen Glaubensgemein- nutzt. Gleichwohl gibt es tiefe Nachbarschaftskonflikte,
schaft, alle haben das Recht, ihren Glauben zu leben, zu hinter denen sich auch andere Motive verbergen. Auch
predigen, nach außen zu tragen. Das zeigt sich zum Bei- das, denke ich, muss benannt werden, wenn wir uns mit
spiel an den Moscheen und Gotteshäusern, im Tragen diesen grundlegenden Fragen auseinandersetzen.
des Kreuzes oder im Verzehr koscheren Essens.
(Beifall bei der SPD – Josef Philip Winkler
Doch nicht nur Art. 4 des Grundgesetzes schützt die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die meisten
Mitglieder von Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Moscheen stehen im Gewerbegebiet! So sieht
Das Grundgesetz gibt uns außerdem auf, dafür Sorge zu es aus!)
tragen, dass keiner aufgrund seines Glaubens benachtei-
ligt wird. Gläubige, die offen zu ihrer Religion stehen, Noch etwas möchte ich ausdrücklich ansprechen: Na-
müssen nicht fürchten, deswegen diskriminiert zu wer- türlich ist die Religionsfreiheit im positiven Sinne ein
den. Religionsfreiheit schließt allerdings auch ein, sich kostbares Gut. Aber dazu gehört auch die Freiheit, die
nicht religiös zu bekennen. Religion zu wechseln sowie keiner anzugehören. Es ist
(B) damit aber auch die Freiheit verbunden, sich kritisch zu (D)
Das ist der Verfassungsrahmen in unserem Land. Die besonderen religiösen Auffassungen zu äußern; denn
Realität zeigt jedoch, dass es auch hier immer wieder zu nicht nur Gläubige werden in manchen Ländern erpresst,
Konflikten kommt, bei denen die Religionsfreiheit auf belästigt und bedroht. Gleiches gilt für Atheisten und
dem Prüfstand steht. Ich erinnere an die Debatten über Kritiker. Es gibt Länder, in denen nicht nur Andersgläu-
die Ladenschlusszeiten, die Kopftücher oder die Mo- bige, sondern eben auch Kritiker und Atheisten bedroht
scheebauten. Die Bedeutung der werteprägenden Kraft sind. Da wird das Spannungsverhältnis zwischen positi-
von Religion und Glauben für das soziale Miteinander ver Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit deutlich.
hebt Böckenförde in der oftmals zitierten Aussage her-
vor: Wir werden uns – das sage ich abschließend – in den
Ausschüssen mit den Anträgen auseinandersetzen.
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Vo- Meine Fraktion wird sich mit einem eigenen Antrag an
raussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. dieser Debatte beteiligen. Ich möchte an einen Gedanken
Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit erinnern, den Hans Küng in seinen Ausdeutungen des
willen, eingegangen ist. Weltethos formuliert hat: Was sind die Bedingungen für
Diese Voraussetzungen liegen eben auch in einer den Frieden? Kurz zusammengefasst stellt er fest: Die
Werteorientierung, die von Religion und Glauben ge- Bedingungen für den Frieden setzen einen Dialog der
prägt sind. Unser demokratisches Gemeinwesen nimmt Kulturen voraus. Ein Dialog der Kulturen ist nur mög-
Religions- und Glaubensgemeinschaften nicht etwa billi- lich, wenn es auch zu einem Dialog der Religionen
gend in Kauf. Sie sind vielmehr eine Voraussetzung für kommt. Dieser Dialog – wie auch der Dialog der Reli-
das Zusammenleben. So weit der Blick auf unser Land. gionen – setzt den Respekt vor den Überzeugungen der
anderen voraus.
Die Topografie der Verfolgung religiöser Minder-
heiten ist hier an vielen Beispielen aus der Welt konkre- Herzlichen Dank.
tisiert worden. Ich möchte zwei Beispiele anfügen: (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Kürzlich bin ich darauf aufmerksam gemacht worden,
dass insbesondere in Belarus aufgrund der Sonderstel- Präsident Dr. Norbert Lammert:
lung der russisch-orthodoxen Kirchen andere Religions- Dr. Stefan Ruppert erhält das Wort für die FDP-Frak-
gemeinschaften durch eine repressive Politik und ent- tion.
sprechende Maßnahmen kriminalisiert und in die
Defensive getrieben werden. (Beifall bei der FDP)
5600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Dr. Stefan Ruppert (FDP): Ich glaube, das ist das Fundament einer guten Außen- (C)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- politik, wie diese Koalition sie prägt. Insofern sollten wir
ren! Ich freue mich, dass wir an so prominenter Stelle da keinen Gegensatz konstruieren. Ich bin sehr froh über
ein so wichtiges Thema wie die Religionsfreiheit, die diese Debatte am heutigen Vormittag.
wir weltweit schützen wollen, behandeln. Ich glaube, der
Erfolg deutscher Außenpolitik wird davon abhängen, Vielen Dank.
dass wir dieses Thema sehr ernst nehmen. Die Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
schichte von der linearen Säkularisierung in Deutsch- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das
land und weltweit – dabei geht es um den Bedeutungs- war zauberhaft!)
verlust der Religionen –, die bisweilen erzählt wird, ist
meiner Meinung nach so nicht richtig.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Immer noch – als protestantischer Christ sage ich:
Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
zum Glück – bewegt Religion viele Menschen. Religion
ist die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion.
ist in der Lage, Emotionalität und Verhalten entschei-
dend zu beeinflussen. Deswegen ist die Globalisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kein rein ökonomischer Prozess, sondern der Erfolg der
Globalisierung wird auch davon abhängen, welchen
Respekt wir Religionen bzw. religiösen Überzeugungen Ute Granold (CDU/CSU):
und dem religiösen Miteinander weltweit zollen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende dieser Debatte brauche ich vieles von dem, das ich
Meine Oma, die ich sehr schätze, sagt häufig – – Viel- hier sagen wollte, gar nicht mehr zu erwähnen, da es be-
leicht sieht sie mich an dieser Stelle. reits besprochen wurde. Lassen Sie mich ganz kurz auf
(Heiterkeit im ganzen Hause) einige Punkte eingehen. In einer Presseerklärung steht,
dass der Menschenrechtsbeauftragte von missio Deutsch-
Ich will sie jetzt nicht grüßen. Aber sie sagt häufig – – land, Dr. Oehring – er ist heute auch anwesend –, gesagt
hat, er finde es sehr gut, dass zu prominenter Zeit eine
Präsident Dr. Norbert Lammert: Debatte über die Religionsfreiheit weltweit stattfindet,
bei der wahrscheinlich wortgewaltige Reden gehalten
Aber Sie hätten doch sicher keine Einwände, wenn
werden. Aber was kommt danach? Den Worten müssen
ich im Namen des Deutschen Bundestages herzliche
Taten folgen.
Grüße übermitteln würde.
(B) (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause – Ich denke, als ein Land, in dem Religionsfreiheit be- (D)
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Auch steht, haben wir den Auftrag, den Menschen in Not, und
der Bundesregierung!) zwar unabhängig davon, welcher Religion sie angehö-
ren, zu helfen. Diesem Auftrag sind wir auch bislang
nachgekommen. Wir haben – Kollege Strässer und auch
Dr. Stefan Ruppert (FDP): andere haben es vorhin angedeutet – im Jahr 1999 über
Ich danke dem Präsidenten. – Meine Großmutter – sie eine Große Anfrage der Union zur Religionsfreiheit, zu
ist eine tolerante und weltoffene Frau, deshalb meint sie den christlichen Minderheiten, zur Christenverfolgung
es eigentlich nicht so, wie sie es sagt – sagt als über- debattiert. Wir haben dann in der Großen Koalition einen
zeugte Lutheranerin aus Frankfurt: Der guckt schon so gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht. Nun liegt
katholisch. An diesem Sprachgebrauch sieht man, dass der Antrag der christlich-liberalen Koalition vor. Mittler-
das Gegeneinander von Konfessionen bisweilen bis weit weile haben wir schon einiges umgesetzt.
in das letzte Jahrhundert hinein sehr wirksam war. Wir
müssen den religiösen Dialog, den Respekt und die Tole- Wenn Sie, Herr Kollege Koenigs und Herr Beck, im-
ranz in Deutschland und weltweit pflegen. Das ist eine mer wieder auf Deutschland und Europa zurückkommen
Arbeit, die jeden Tag geleistet werden muss. und da die großen Probleme sehen – zum Beispiel christ-
liche Fundamentalisten? – dann haben Sie ein etwas ver-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wischtes Bild. Ich finde das sehr bedauerlich.
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich glaube auch nicht, dass es das Gegeneinander,
das hier bisweilen im Raum stand, gibt. Es ist kein Ge- Wir leben hier auf der Basis der Werte des christlichen
gensatz, auf der einen Seite auf die Situation von ver- Abendlandes. Ich nehme mir sehr wohl das Recht he-
folgten Christen weltweit aufmerksam zu machen und raus, als Katholikin – gerade wurden die Protestanten
auf der anderen Seite religiöse Toleranz gegenüber allen genannt – dort in der Welt, wo die Christen unterdrückt
Religionen und religiöse Toleranz, auch nichts zu glau- werden, den Finger in die Wunde zu legen. Eine Reli-
ben, zu fordern. Dieser Gegensatz wurde hier bisweilen gion wie zum Beispiel der Islam muss sich auch daran
konstruiert. Wir weisen auf die Verfolgung der Christen messen lassen, wie sie sich da verhält, wo sie eine Min-
hin und sagen, dass viele Hundert Millionen Menschen derheit ist, beispielsweise in Europa, in Deutschland,
weltweit bedroht sind. Wir kämpfen aber auch für Welt- und wie sie sich da verhält, wo sie in der Mehrheit ist;
offenheit und Toleranz gegenüber allen Religionen. ich denke hier zum Beispiel an die Türkei oder den Iran.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5601
Ute Granold
(A) Wir haben in unserem Antrag natürlich die Bahai und Deutschland Vorbild für Europa, das insgesamt 10 000 (C)
die Muslime angesprochen. Ich würde Sie bitten, dass Flüchtlinge aufnehmen wird. Diesen Weg haben wir ge-
Sie den Antrag noch einmal lesen. meinsam beschritten; wir sollten ihn weitergehen.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
GRÜNEN]: Das bezweifelt niemand!) Es gibt viele Bereiche, in denen wir weiter tätig wer-
Es geht auch nicht darum, dass wir irgendeine Religion den können, über die wir mit den Regierungen sprechen
bevorzugt herausheben oder überhaupt nicht erwähnen, müssen. Unser Außenminister hat beim Menschen-
rechtsrat in Genf eine Rede gehalten. Wir waren kurz da-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nach auch beim Menschenrechtsrat und wurden auf
GRÜNEN]: Das ist genau der Punkt!) seine Rede angesprochen: Die wertegeleitete Außenpoli-
tik und das Achten auf die Religionsfreiheit waren in den
sondern es geht darum, dass wir jedem seine Religion in- Gesprächen ein wichtiger Baustein. Deutschland hat
dividuell lassen, dass jeder die Möglichkeit hat, seine eine führende Stellung in der Welt. Wenn es darum geht,
Religion in der Gemeinschaft zu leben. Die Freiheit, den Finger in die Wunde zu legen, wenn Menschen-
keine Religion zu haben, oder auch die Möglichkeit, eine rechte, insbesondere die Religionsfreiheit, verletzt wer-
Religion zu wechseln, sind vielerorts nicht gegeben. den, stellen wir die Bedingungen, die erfüllt werden
Denken wir an Ägypten, den Iran und viele andere mehr. müssen.
Selbstverständlich kümmern wir uns auch um all dies. Als Letztes möchte ich sagen, dass auch wir von der
Dieses Kümmern möchte ich ansprechen. Welche Mög- Union konkret handeln: Wir haben in Erinnerung an den
lichkeiten haben wir, unseren bedrängten christlichen ersten christlichen Märtyrer den Stephanus-Kreis ge-
Glaubensbrüdern und -schwestern, aber auch anderen in gründet und treffen uns, um anhand verschiedener Län-
vielen Regionen dieser Welt zu helfen? Orissa in Indien der wie Indien und der Türkei über die Religionsfreiheit
wurde angesprochen. Wir haben Gäste aus Orissa, und weltweit zu sprechen. Dabei wollen wir – auch finan-
der Kollege Kober und ich waren vor Ort. Dort sind die ziell – helfen und speziell die Menschen unterstützen,
Christen massiv verfolgt worden; auch heute noch be- die in Not sind, die in Haft sind oder einem anderen
steht eine ganz furchtbare Situation. Der Bundesstaat Drangsal ausgesetzt sind. Wir haben für die Menschen in
kommt nicht in die Gänge, um die schlimmen Verbre- Orissa Geld von Misereor beschafft, damit sie aus ihren
chen aufzuarbeiten, die 2008 geschehen sind. Heute sind alten Zelten herauskommen. Über 5 000 ihrer Häuser
noch viele unter prekären Verhältnissen auf der Flucht. wurden zerstört. Wir haben dafür gesorgt, dass Zelte ge-
Wir haben mit den Christen dort gesprochen. Sie waren kauft werden, bevor der Monsun kommt. Danke an
so froh, dass es eine Solidarität im Glauben gibt, dass Misereor! Das ist ein kleiner Tropfen auf den heißen
(B) Stein; aber viele kleine Tropfen helfen sicherlich auch. (D)
wir aus dem fernen Europa gekommen sind, um gemein-
sam Gottesdienst zu feiern und Solidarität zu zeigen. Es Ich möchte Sie alle bitten, weiter zu helfen. Wenn
ist den Menschen sehr viel wert, Öffentlichkeit zu schaf- Probleme bestehen, müssen wir sie ansprechen und Öf-
fen. Wir haben es versprochen und dann im Ausschuss fentlichkeit schaffen. Viele wissen gar nicht, wie
beraten. Wir haben mit den Botschaftern gesprochen. schlimm die Situation in Indien ist. Wir müssen das an-
sprechen, damit zum Beispiel Indien beim Thema Men-
Ich möchte aber auch erwähnen, dass wir in Gujarat schenrechte, insbesondere bei der Religionsfreiheit, ei-
waren. Das liegt in Westindien und ist einer der reichsten nen besseren Weg beschreitet.
Bundesstaaten Indiens. Dort wurden 2 000 Muslime um-
gebracht. Die dortige Regierung war in dieses Massaker Vielen Dank.
involviert. Auch das muss aufgearbeitet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir kümmern uns im Besonderen um die Christen –
das stimmt. Ich denke an die Aktion damals, als wir den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Flüchtlingen aus dem Irak helfen wollten, die zum größ- Ich schließe die Aussprache.
ten Teil nach Syrien oder Jordanien geflüchtet waren und
meist keine Möglichkeit hatten, in den Irak zurückzu- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
kehren. Diese Flüchtlinge sagten: Wir rennen um unser den Drucksachen 17/2334 und 17/2424 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Leben. Davon hat uns etwa eine junge Mutter berichtet,
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig der
die sagte: Wir möchten irgendwohin, nur nicht zurück in
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
den Irak, weil wir nicht wissen, ob wir da am Leben blei-
ben werden. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und
4 b:
Wir richten hier einen Fokus auf die Christen, weil An-
gehörige anderer Religionen, die verfolgt werden – auch a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Muslime –, Rückzugsmöglichkeiten im arabischen Raum Kelber, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-
haben, die Christen aber nicht. Deshalb galt unser Au- Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
genmerk auch im Zusammenhang mit dem Irak den Fraktion der SPD
christlichen Religionsgemeinschaften. Bis zum heutigen Brennelementesteuer – Windfall Profits der
Tage konnten 1 569 Angehörige religiöser Minderheiten Atomwirtschaft abschöpfen
von den 2 500 irakischen Flüchtlingen nach Deutschland
kommen. Ich denke, das ist eine gute Sache; hier war – Drucksache 17/2410 –
5602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Die Steuer ist im Rahmen des Sparpaketes als Erbringer Die Brennelementesteuer ist eine Steuer auf den Ver-
von 2,3 Milliarden Euro pro Jahr angelegt. Leider gibt es brauch von Brennelementen. Sie ist europarechtskon-
wenig Inhaltliches zu vermelden. Ich habe das Gefühl, form.
dass kein Konzept hinterlegt ist. Deswegen möchten wir (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]:
mit unserem Antrag das Wort ein wenig mit Inhalt fül- Sozialistische Planwirtschaft!)
len. Wir wären froh und dankbar, wenn Sie zu unser aller
Nutzen die Inhalte übernehmen würden. In Schweden gibt es sie in ähnlicher Form seit den 80er-
Jahren. Daran hat sich nie jemand gestört. Es hat auch
(Beifall bei der SPD) nie jemand ihre Abschaffung verlangt.
Im Jahre 2000 wurde der Atomausstieg vereinbart, Die Brennelementesteuer ist unabhängig von einer
der im Jahr 2021 abgeschlossen sein wird. Seit 2000 hat Laufzeitverlängerung – im Gegenteil. Sie wurde im Hin-
sich die Energieversorgung in unserem Land allerdings blick auf Laufzeiten bis 2021 berechnet. Ich denke, län-
gravierend geändert. Die Kosten für die sichere Lage- ger müssen die Laufzeiten der Atomkraftwerke in die-
rung radioaktiver Abfälle und die Sanierungskosten ha- sem Land auch nicht sein. Wir dürfen diesem Land
ben sich seither vervielfacht. Wir alle wissen nicht, ob durch alte Reaktoren nicht noch mehr Risiken zumuten.
die Rückstellungen, die von den Atomkraftwerksbetrei-
bern gebildet werden, ausreichen werden. Kosten, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nicht von den Verursachern getragen werden, muss der DIE GRÜNEN)
Steuerzahler tragen. Das Bundesumweltministerium Das würde in der Konsequenz übrigens eine beträchtli-
rechnet alleine für die Sanierung von Asse II und Mors- che Erhöhung der Steuer nach sich ziehen.
leben mit Kosten in Höhe von 7,7 Milliarden Euro.
Wir fordern die Bundesregierung zu Folgendem auf:
Die Atomenergiewirtschaft ist begünstigt, da sie keine
CO2-Zertifikate kaufen muss. Da sie keine CO2-Schad- Erstens. An den Laufzeiten, die im Jahr 2000 verein-
stoffe ausstößt – in der Wertschöpfungskette schon, aber bart wurden, muss festgehalten werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5603
Ingrid Arndt-Brauer
(A) Zweitens. Eine Verbrauchsteuer auf die Spaltung von – Ich glaube, Sie sollten sich mit Ihren Zwischenrufen (C)
Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von sehr zurückhalten, denn Folgendes ist schon sehr be-
Elektrizität, also eine Brennelementesteuer, muss einge- fremdlich: Nachdem gestern die Bundesregierung diesen
führt werden. wirklich wichtigen Beschluss getroffen hat, diskutieren
wir heute Ihre Anträge dazu im Parlament, obwohl Sie
Drittens. Der Tarif der Brennelementesteuer wird an- dafür elf Jahre Zeit hatten.
fänglich, umgerechnet auf die erzeugte Elektrizitäts-
menge, 3,1 Cent je Kilowattstunde betragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das in der
Viertens. Alle zwei Jahre fordern wir von der Bundes- Großen Koalition doch abgelehnt! Jetzt blei-
regierung einen Bericht über die Entwicklung der Kos- ben Sie doch bei der Wahrheit! Das ist un-
ten der Kernenergie bzw. über die Auswirkungen, die die glaublich!)
Erhebung der Brennelementesteuer auf die Ertragsteuer-
einnahmen der Gebietskörperschaften hat. Es muss na- – Ihnen steckt die Niederlage beim Fußball noch in den
türlich einen fairen Bund-Länder-Ausgleich geben. Es Knochen. Bleiben Sie gelassen! Lassen Sie uns das
kann nicht sein, dass die Gewinne der Atommeiler durch Thema sehr präzise diskutieren.
diese Steuer verringert werden, wodurch in den Ländern Sie hatten unter Rot-Grün sieben Jahre dazu Zeit.
weniger Steuereinnahmen anfallen würden. Hier muss Bundesumweltminister Trittin hatte erst mit Herrn
es, wie gesagt, einen Ausgleich geben. Das ist allerdings Lafontaine und dann mit Herrn Eichel als Finanzminister
zu machen. Zeit, das Thema anzustoßen, möglicherweise sogar im
Fünftens bitten wir die Bundesregierung, auf europäi- Rahmen der Laufzeitverkürzung festzulegen, die Sie
scher Ebene einen Anstoß zu geben und auch die Betrei- 2000 beschlossen haben. Dann hatten Sie in der Großen
ber von Atomkraftwerken im restlichen Europa zur Koalition beide Ressorts. Herr Gabriel, Ihr Parteivorsit-
Finanzierung der Kosten der Atomenergienutzung he- zender, der jetzt schlaue Vorschläge macht, hatte mit Fi-
ranzuziehen, damit wir bei der Energiebesteuerung in nanzminister Steinbrück vier Jahre Zeit, das Thema zu
Europa eine Harmonisierung hinbekommen. diskutieren und voranzubringen. Sie haben es nicht ge-
tan. Heute machen Sie schlaue Vorschläge. Das geht frei
Ich möchte Sie ausdrücklich bitten, dieses Vorhaben nach Goethe: Man spürt die Absicht. Man ist verstimmt.
zu unterstützen, diese Steuer einzuführen und im Sinne
der zukünftigen Generationen eine verantwortungsvolle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Politik zu machen. Sie sprechen ja immer von nachhalti- Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie eigentlich Le-
gem Wachstum. Ich sage Ihnen: Wachsende Nachhaltig- sen gelernt?)
(B) keit sollte die Maxime sein. Dazu möchte ich Sie auffor- Wir halten es für richtig, diese Brennelementesteuer (D)
dern. einzuführen, denn die Kernenergie ist eben nicht vom
CO2-Emissionshandel betroffen und somit gegenüber an-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
deren Energieträgern bevorzugt. Wir halten das auch für
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richtig, weil gerade die Kosten für Endlagerung und für
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den Rückbau der Kernkraftwerke im Wesentlichen vom
LINKEN) Steuerzahler in Deutschland getragen werden. Wir halten
das für richtig, weil der Strommarkt mehr Chancen-
gleichheit braucht und gerade die großen vier nationalen
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Stromversorger hier einen Wettbewerbsvorteil gegenüber
Dr. Frank Steffel ist der nächste Redner für die CDU/ vielen kleinen und mittelständischen Stromanbietern ha-
CSU-Fraktion. ben. Auch hier wollen wir Chancengerechtigkeit und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr Wettbewerb.
Wir halten es für richtig, weil der Begriff „Steuer“ ir-
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): reführend ist. Es handelt sich im Wesentlichen nämlich
nicht um eine Steuer, sondern um einen Subventionsab-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
bau. Auch das ist Teil des Sparpakets. Deshalb sagen
ren! Sehr geehrte Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie haben
wir: Es werden die wirtschaftlichen Vorteile der Kern-
völlig recht: Die Bundesregierung hat gestern beschlos-
energie reduziert und zusätzliche Anreize für regenera-
sen, dass ab dem 1. Januar 2011 für die Betreiber von
tive Energien geschaffen. Das ist in den kommenden
Kernkraftwerken in Deutschland eine Steuer auf den Ver-
Jahren der richtige Weg.
brauch von Brennstäben eingeführt wird. Diese Brenn-
elementesteuer bringt dem Bund jährlich 2,3 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Euro Steuereinnahmen und wird für den Schuldenabbau
im Rahmen des Sparpakets genutzt. Wir halten diese Die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke hängt
Steuer aus ökologischen und ökonomischen Gründen für natürlich politisch mit diesem Thema zusammen; das
richtig und zielführend. wissen wir alle. Aber formal sagen wir sehr klar, dass die
Einführung der Brennelementesteuer im Rahmen des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sparpakets damit nicht direkt im Zusammenhang steht.
Ulrich Kelber [SPD]: Dann haben Sie dazuge- Die Bundesregierung wird zu dem Gesamtthema im
lernt!) Herbst ein Energiekonzept vorlegen. Dabei geht es im
5604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Eva Bulling-Schröter
(A) winnen auch jene Kosten berücksichtigt werden, die für Wir wollen mehr regenerative Energien. Mit der von (C)
die Altlastensanierung auflaufen. Die Bruchbuden Ihnen beabsichtigten Laufzeitverlängerung werden Sie
Asse und Morsleben sind zu einem gehörigen Teil durch den Ausbau regenerativer Energien verhindern. Sie wol-
westdeutsche AKWs bestückt worden. len die Konzernmacht weiter stärken. Das wollen wir
(Zuruf von der FDP: Morsleben? – Gegenruf nicht. Aus diesem Grunde brauchen wir diese Steuer und
von Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Gewinnabschöpfung der großen Konzerne.
NEN]: Wussten Sie das nicht? Erkundigen Sie Danke.
sich mal! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr als die Hälfte!) (Beifall bei der LINKEN)
Dafür haben sie nur Peanuts bezahlt. Darum ist jetzt ein
Nachschlag fällig. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund
Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, von der FDP-Fraktion.
FÖS, hat zur Höhe der Steuer Vorschläge gemacht. Ich
denke, ein Steuersatz, der am Ende rund 3,5 Cent je Ki- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
lowattstunde Atomstrom entspricht, wäre durchaus an- der CDU/CSU)
gemessen. Das ergäbe zusätzliche Haushaltseinnahmen
von knapp 5 Milliarden Euro jährlich, Dr. Birgit Reinemund (FDP):
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wer zahlt die denn?) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was
Frau Bulling-Schröter am Ende ihrer Rede gesagt hat,
also mehr als das Doppelte dessen, was dem Finanzmi- wollen wir alle: Wir wollen an die Gewinne der Atom-
nister vorschwebt. wirtschaft heran und einen Teil davon dem Haushalt zu-
Atomkonzerne saftig besteuern statt Sozialleistungen führen.
kürzen – über den tollen Sparhaushalt wurde bereits dis- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
kutiert –: Stattdessen geht es immer nur um eine Umver- Mit Verlängerung oder ohne?)
teilung von unten nach oben. Es werden die Ärmsten
sein, die durch diesen Sparhaushalt bluten müssen, statt Wenn die Opposition ein laufendes Gesetzesvorhaben
diejenigen, die die Profite einfahren. der Bundesregierung begrüßt und sogar noch beschleu-
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Ärmsten zahlen nigen will, dann frage ich mich, was dahintersteckt.
auch den Strompreis! – Gegenruf der Abg. Wenn SPD und Grüne die Chance auf eine zusätzliche
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einnahme wittern, dann löst das sofort den Reflex aus,
(B)
Deshalb wollen sie auch keinen Wettbewerb festzulegen, wofür diese zusätzlichen Mittel konkret (D)
und die schlechte Wettbewerbssituation weiter ausgegeben werden sollen. Sie wissen aber genauso gut
beibehalten! Damit wir höhere Strompreise ha- wie ich, dass Steuereinnahmen nicht per se zweckgebun-
ben! Absurd ist das!) den sind, sondern in den allgemeinen Haushalt fließen.
Atomkonzerne saftig besteuern statt Sozialleistungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
kürzen – das wäre zukunftsfähige Finanzpolitik. der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) So werden der Soli nicht für den Aufbau Ost, die Öko-
steuer nicht für die Umwelt und die Brennelemente-
Es wird immer gesagt, das gehe nicht, das sei nicht EU- steuer nicht automatisch zur Finanzierung der Folgekos-
kompatibel. Finnland und Schweden machen uns aber ten der Atomwirtschaft verwendet, sondern sie dienen
vor, dass eine vergleichbare Steuer möglich ist. primär der Haushaltskonsolidierung.
(Beifall bei der LINKEN)
(Ulrich Kelber [SPD]: Die müssen aber auch
Die Argumente, das alles sei nach EU-Recht nicht mög- aus dem Haushalt bezahlt werden!)
lich, sind also vorgeschoben. Ich meine, Herr Schäuble
sollte jetzt handeln. Seit 1999 sind unter der Verantwortung von SPD-Fi-
nanzministern über 300 Milliarden Euro zusätzliche
Ich komme zum Schluss. Wir haben gestern im Um- Schulden aufgenommen worden. Die Euro-Krise hat ge-
weltausschuss sehr intensiv darüber diskutiert. An der zeigt, welche verheerenden Auswirkungen Staatsdefi-
Sitzung hat auch ein Vorstandsmitglied von RWE teilge- zite auf die Stabilität der Währung und auf die Stabilität
nommen. Nach dem, was er sagt, könnte man meinen, ganzer Staaten haben.
sie wären sehr arm: Wenn sie eine Brennelementesteuer
zahlen müssten, dann seien sie nicht mehr börsenfähig. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was hat das jetzt
Dabei werden enorme Gewinne erzielt, wie wir in den mit der Brennelementesteuer zu tun?)
Börsenblättern lesen können. Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesamtpa-
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, re- ket zur Haushaltskonsolidierung inklusive der Brennele-
den immer davon, dass der Verbraucher mehr bezahlen mentesteuer in Höhe von beachtlichen 82 Milliarden
muss. Wir wollen an die Gewinne dieser großen Kon- Euro bis 2014 ist das größte Sparpaket in der Geschichte
zerne heran. Das ist sozial, und es ist ökologisch. Deutschlands und bezieht alle mit ein:
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5607
Dr. Birgit Reinemund
(A) den Finanzsektor, die Wirtschaft, die öffentliche Verwal- nanzminister Schäuble auch in Richtung Fonds oder Ab- (C)
tung und den Sozialbereich, und zwar ausgewogen und gabe. Das hätte den Charme, dass das Geld dann
maßvoll. Erstmals werden jetzt die Staatsausgaben real zweckbezogen verwendet werden könnte. Nutzen wir
gesenkt: von 320 Milliarden Euro in diesem Jahr auf die Zeit, die besten Lösungen zu finden.
301 Milliarden innerhalb der nächsten zwei Jahre.
Heute tagt die Kommission zur Neuordnung der Ge-
Unser erklärtes Ziel ist es, die Neuverschuldung zu- meindefinanzen. Ob die Gewerbesteuer in der Form wei-
rückzuführen, die im Grundgesetz verankerte Schulden- ter bestehen wird, um auf den Zwischenruf einzugehen,
bremse einzuhalten, die Maastricht-Kriterien wieder ein- und ob diese Auswirkungen einberechnet werden müs-
zuhalten sowie dem G-20-Beschluss Rechnung zu tragen sen, bleibt zu klären. Am 27. August wird es einen Kabi-
und das Staatsdefizit zu halbieren. Dazu muss gerade nettsbeschluss über das Energiekonzept für Deutsch-
auch die Atomwirtschaft ihren Beitrag leisten, besonders land geben. Es wäre schon geschickt, diese beiden
vor dem Hintergrund, dass sie in der Vergangenheit Beratungsergebnisse in die Überlegungen einzubezie-
enorme Kosten für den Bundeshaushalt verursacht hat hen. Beschlossen ist, dass die Atomwirtschaft ihren Bei-
trag leisten muss. Beschlossen ist, dass dieser mindes-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: In Zukunft auch
tens 2,3 Milliarden Euro betragen wird. In welcher
noch!)
Form? In der optimalen. Lassen Sie uns nach der Som-
und auch in Zukunft verursachen wird, zum Beispiel für merpause über rechtlich geprüfte Gesetzentwürfe disku-
die Sanierung von Asse, wie es im Koalitionsvertrag tieren. Ihre Anträge hier und heute sind eher Selbstbe-
festgelegt ist. schäftigung.
In Verbindung mit der geplanten Laufzeitverlänge- Vielen Dank.
rung kann die Abschöpfung von Zusatzgewinnen, die
Sie alle wollen, deutlich höher ausfallen als die jetzt ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
geplanten 2,3 Milliarden Euro pro Jahr. der CDU/CSU)
(Ulrich Kelber [SPD]: Besteht dazu Einigkeit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
in der Koalition?)
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von
Ohne Zweifel wollen wir schnellstmöglich den Über- Bündnis 90/Die Grünen.
gang zu regenerativen Energien schaffen. Trotzdem ist
es – auf der Zeitschiene gesehen – notwendig, im Rah- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
men des kommenden Energiekonzepts Kernkraftwerke Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
als Brückentechnologie länger am Netz zu lassen. Wa- Eine Aussage aus dem Kabinett ist richtig, nämlich die (D)
(B)
rum jetzt plötzlich die Eile? Sie hatten elf Jahre Zeit, das Aussage von Herrn Finanzminister Schäuble, von der er
Thema anzugehen. sich leider inzwischen schon wieder distanziert hat:
(Ulrich Kelber [SPD]: Gerade erklärt!) Laufzeitverlängerung und Brennelementesteuer stehen
in keinem Zusammenhang. – Sie dürfen auch in keinem
Das Vorhaben ist bereits auf den Weg gebracht. Statt Ih- Zusammenhang stehen. So ein Deal ist Mafiagebaren,
rer Schnellschüsse und Vorfestlegungen, meine Damen das ist kein demokratisches Regierungshandeln.
und Herren von der SPD und den Grünen, gilt für die
christlich-liberale Koalition: Gründlichkeit vor Schnel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ligkeit. sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das gesamte Sparpaket inklusive Einführung einer Es ist auch nicht in Ordnung, der Bevölkerung die be-
Brennelementesteuer hat das Kabinett gestern be- absichtigte und nicht besonders geliebte Laufzeitver-
schlossen. Wir diskutieren derzeit über eine Steuer, de- längerung – wir wissen: längere Laufzeiten verlängern
ren konkrete Ausgestaltung mitten in der Prüfung ist. das Risiko, vermehren den Müll und stehen dem Ausbau
Viele Fragen sind dabei noch offen: Wie soll die Brenn- der erneuerbaren Energien im Weg – dadurch schmack-
elementesteuer konkret ausgestaltet werden? Wird sie haft zu machen, dass man sagt: Dafür gibt es Geld von
brutto oder netto erhoben? Gilt sie als Betriebsaus- den Konzernen,
gabe? Wie gehen wir mit den enormen Auswirkungen
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist eine
auf die Gewerbesteuer und damit auf die Einnahmen der
Sauerei!)
Standortkommunen um?
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Die Gewerbe- und das geben wir für euch aus. – All das ist unseriös.
steuer wollen Sie auch abschaffen!) Seriös ist, die Brennelementesteuer mit einer Begrün-
dung zu erheben, wie wir sie in unserem Antrag geben.
Kann eine zusätzliche Energiesteuer EU-konform gestal- Wir sagen: An die gesellschaftlichen Schulden, die die
tet werden? – Das ist bei weitem nicht so klar, wie die Atomwirtschaft aufgehäuft hat, seit sie besteht – wir re-
Damen der Opposition uns suggerieren wollen. den von 150 Milliarden Euro –, wollen wir rückwirkend
gar nicht heran. Aber die 30 Milliarden Euro, die nach
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber in Schwe-
Schätzung der jetzigen Bundesregierung in den nächsten
den klappt das auch!)
Jahrzehnten durch Rückbau und Sanierung der Endlager
Hier erwarten wir kurzfristig eine Klärung des Finanz- und der atomaren Forschungseinrichtungen auf uns zu-
ministeriums. Seit gestern gehen Überlegungen von Fi- kommen, wollen wir nicht auch noch den Steuerzahle-
5608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Sylvia Kotting-Uhl
(A) rinnen und Steuerzahlern aufbürden. Die soll die Atom- Zur Laufzeitverlängerung, die eines der großen (C)
wirtschaft selbst bezahlen. Dafür wollen wir die Streitthemen der Regierung ist, will ich Ihnen noch
Brennelementesteuer. etwas sagen. Sie sollten nicht so viele Ressourcen auf
den Streit verschwenden, ob es 8 Jahre, 15 Jahre oder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 28 Jahre sein sollen – mal mit Zustimmung des Bundes-
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel rates, mal ohne Zustimmung des Bundesrates. Dann le-
Volk [FDP]: Warum haben Sie das nicht schon gen die Bundesländer auch noch eigene Vorschläge vor.
in den sieben Jahren Ihrer Regierungszeit ge- Was Sie da aufführen, ist doch ein Kasperletheater. Hö-
tan? – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: ren Sie auf damit! Hören Sie auf Ihren Sachverständi-
Das hätten Sie doch lange machen können!) genrat! Hören Sie auf Ihr Umweltbundesamt! Sie alle
– Hätten Sie in Bezug auf Atomkraft in Ihrer Regie- rechnen Ihnen vor, dass Laufzeitverlängerungen nicht
rungszeit auch nur halb so viel vor, wie wir damals ge- nur unnötig, sondern auch kontraproduktiv für das ge-
macht haben, dann könnten wir mit Ihnen zufrieden sein. meinsame Ziel des Klimaschutzes sind. Sie müssen ja
gar nicht auf die Opposition hören;
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber Sie fordern es
doch jetzt!) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das müssen
wir wirklich nicht! Gott sei Dank!)
– Die Verhältnisse haben sich geändert. Sie hätten vorhin
Herrn Kelber zuhören sollen. Stellen Sie eine Zwischen- wir wissen ja, dass Sie da beratungsresistent sind. Hören
frage! Sie aber auf Ihre eigenen Berater! Machen Sie, was die
Ihnen empfehlen!
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie
haben nur geredet!) Hören Sie mit diesem internen Regierungsstreit auf,
Herr Dr. Steffel, der Bundestag führt eine Brennele- der Ihre wenigen Ressourcen, die Sie ohnehin schon
mentesteuer ein, nicht das Kabinett, wenn ich Sie daran dauernd mit Streitereien vergeuden, auch an dieser Stelle
erinnern darf. noch bindet. Konzentrieren Sie sich auf das, was ansteht,
nämlich auf den Umstieg in der Energieversorgung,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um nach 2020 so schnell wie möglich auf einen Anteil
sowie bei Abgeordneten der SPD) von 100 Prozent erneuerbare Energien zu kommen.
Dazu brauchen wir eine Flexibilisierung des Kraftwerks-
Was Sie gestern beschlossen haben, ist offensichtlich so-
parks, die Bereitstellung von Speichern und den Ausbau
wieso irrelevant; denn bereits gestern haben wir völlig
der Netze. Das haben wir gestern in der Anhörung alle
andere Verlautbarungen gehört. Die Bundesregierung
gemeinsam gehört. Hören Sie auf Ihre eigenen Berater!
(B) hat doch überhaupt nicht den Mut gegenüber der Atom- (D)
wirtschaft, diese Brennelementesteuer ohne das Gegen- Wenn Sie darüber hinaus noch ein bisschen mehr tun
geschenk der Laufzeitverlängerung einzuführen. und einen Schritt der Vernunft gehen wollen, dann stim-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men Sie heute einem der vorliegenden Anträge zu. Sie
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der haben die Wahl zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grü-
LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ nen. Unsere Anträge unterscheiden sich nur marginal.
CSU]: Wo war denn Ihr Mut?) Im Ziel – Brennelementesteuer ohne Verbindung mit ei-
ner Laufzeitverlängerung – unterscheiden sie sich nicht.
Die Atomwirtschaft verhandelt doch schon selber wieder Stimmen Sie einem dieser Anträge zu. Das wäre einer
mit, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen sie der ersten vernünftigen Schritte dieser Koalition.
eine Steuer oder eine Abgabe zahlt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie bei der SPD und der LINKEN)
haben doch Vereinbarungen mit der Atomwirt-
schaft getroffen!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Erzählen Sie doch nicht, was Sie beschlossen haben. Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der
Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer der SPD und CDU/CSU-Fraktion.
einer der Grünen. Stimmen Sie den Anträgen zu! Dann
haben Sie eine anständige Begründung für die Brennele- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mentesteuer und begeben sich nicht in ein vages, diffu-
ses Feld irgendwelcher Deals, was mit seriöser Politik Thomas Bareiß (CDU/CSU):
nichts mehr zu tun hat. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herren! Liebe Frau Kotting-Uhl, zunächst sage ich ein
bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel herzliches Dankeschön für Ihren Antrag – auch für den
Volk [FDP]: Wer hat denn den Deal beschlos- Antrag der SPD –, der uns wieder einmal die Gelegen-
sen, dass keine Abgabe bei der Stromwirt- heit gibt, uns über die Energiepolitik und auch über das
schaft erhoben wird? Das war doch Rot- wichtige Thema der Kernenergie zu unterhalten.
Grün!)
Lassen Sie mich vorweg auf einen der Punkte einge-
Wir fordern die Brennelementesteuer ohne Verbindung hen, der Ihnen ganz besonders wichtig ist und auch im
mit einer Laufzeitverlängerung. Antrag der SPD eine herausragende Stellung einnimmt,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5609
Thomas Bareiß
(A) nämlich auf die Frage: Brauchen wir eine Laufzeitver- zeugen und gleichzeitig auch noch 200 000 neue Ar- (C)
längerung? beitsplätze zu schaffen. – Ich kann mir übrigens gar
nicht vorstellen, wie in diesem Bereich neue Arbeits-
(Zurufe von der SPD: Nein!)
plätze geschaffen werden sollen, falls es zu einer Lauf-
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir die Lauf- zeitverlängerung kommt. – Der Vertreter des Sachver-
zeitverlängerung brauchen und dass dies auch nicht im ständigenrats für Umweltfragen hat erklärt – so Herr
Widerspruch zum Ausbau der erneuerbaren Energien Hohmeyer im Umweltausschuss –, bis 2030 könne man
steht, im Prinzip auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstel-
len. Das Umweltbundesamt hat dieser Tage ebenfalls
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Doch!) eine neue Studie vorgestellt, wonach in kurzer Zeit eine
sondern dass die erneuerbaren Energien in der Zukunft Vollversorgung möglich ist.
dadurch ergänzt werden.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wo ist die Frage?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Warum ignorieren Sie all diese Möglichkeiten und be-
Wir haben eine ambitionierte Ausbaustrategie. Bis haupten einfach fest überzeugt, man brauche die Lauf-
2020 wollen wir einen Anteil von 30 Prozent erneuer- zeitverlängerung, wenn die Möglichkeiten der Nutzung
baren Energien erreichen. Mit diesem Ziel haben wir der erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollten? In
das, was Sie in den letzten Jahren gefordert haben, noch Wirklichkeit wirkt die Laufzeitverlängerung doch wie
getoppt. eine Bremse, weil nicht mehr genügend Volumen für die
erneuerbaren Energien unter Beibehaltung der heutigen
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind beeindruckt!) Wachstumsgeschwindigkeit vorhanden ist.
Bis 2050 wollen wir den Hauptanteil der Energie aus er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
neuerbaren Energieträgern generieren.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: KEN)
Aber 100 Prozent sind möglich! Warum ma-
chen Sie das nicht?) Thomas Bareiß (CDU/CSU):
Auf dieser Wegstrecke haben wir aber enorme Heraus- Herr Fell, die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt
forderungen zu meistern. Dies müssen wir gemeinsam der Glaube. Ich sage Ihnen ganz offen: Um die Träger
angehen. erneuerbarer Energien ans Netz zu bringen und in den
Markt zu integrieren, brauchen wir zwei Dinge: einer-
Ich nenne nur das Thema Netzausbau. Wie wollen Sie seits eine bessere Netzinfrastruktur, sowohl im Über- (D)
(B) gewährleisten, dass, wenn wir im Norden in Offshore-
tragungs- als auch im Verteilungsnetzbereich, anderer-
windparks 20 Gigawatt Leistung aufbauen und im Süden seits Speichertechnologie.
12 Gigawatt vom Netz nehmen, diese Strommenge über
die Riesendistanz von Norden nach Süden transferiert Überall, wo man Netze ausbauen oder Speicher auf-
wird? Dazu müssen wir die Netze ausbauen. Das ist bauen will – beispielsweise den Schluchseespeicher im
dringend notwendig. Schwarzwald; man versucht dort, ein 1000-Megawatt-
Pumpspeicherkraftwerk zu errichten –, gibt es vor Ort
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: grüne Gruppen, die gegen diese Projekte demonstrieren.
Herr Kollege Bareiß, ich muss Sie unterbrechen. Er- (Beifall bei Abgeordneten der FDP –
lauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell? Dr. Daniel Volk [FDP]: Aha!)
Sie behaupten, dass diese Projekte den Kernkraftausbau
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
begünstigen. Das, was Sie hier sagen, passt nicht zu
Ja, sehr gerne. dem, was Ihre Parteifreunde vor Ort machen. Diesen Wi-
derspruch müssen Sie einmal auflösen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Fell. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt die Probleme mit dem Netzausbau, die ich ge-
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rade beschrieben habe. Ein weiterer wichtiger Bereich
Herr Kollege Bareiß, Sie haben gerade das Ziel der sind die Speichertechnologien. Außerdem müssen wir
Bundesregierung, bis 2020 30 Prozent des Stroms aus die Frage beantworten, wie wir die erneuerbaren Ener-
erneuerbaren Energieträgern zu erzeugen, als ambitio- gien in den Wettbewerb bringen. Auch damit wird in den
niert bezeichnet. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass es nächsten Jahren eine ganz große Herausforderung ver-
eine Unmenge von Studien und Angeboten gibt, nach bunden sein. Wenn ich mir das Ganze ernsthaft an-
denen weit darüber hinausgegangen werden kann, wenn schaue, dann komme ich zu der Überzeugung, dass wir
man die heutige Wachstumsgeschwindigkeit der erneu- den von Rot-Grün beschlossenen Ausstieg aus der
erbaren Energien fortsetzt? Atomenergie im Jahre 2022 leider nicht schaffen kön-
nen.
Schon vor Jahren hat der Bundesverband Erneuerbare
Energie der Bundesregierung angeboten, bis 2020 fast (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
50 Prozent Strom aus erneuerbaren Energieträgern zu er- GRÜNEN]: Sie nicht!)
5610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Thomas Bareiß
(A) Ich bin davon überzeugt, dass wir ihn auch 2025 nicht Wir haben immer gesagt: Die Laufzeitverlängerung wird (C)
schaffen werden. es nur in Verbindung mit der Abschöpfung von Zusatz-
gewinnen geben, und die so eingenommenen Mittel wer-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den in Zukunftsprojekte investiert.
Aber eine Menge Wissenschaftler sehen das
anders!) Ein ganz wichtiges Projekt ist für mich hierbei die
Energieeffizienz. Wir sind uns einig, dass wir in diesem
Auch 2030 werden wir ihn wahrscheinlich nicht schaf-
Bereich viel mehr machen müssen. Wir dürfen an diese
fen, wenn wir so weitermachen wie bisher. Deshalb
Aufgabe nicht nur ordnungspolitisch und durch die Stär-
brauchen wir die Laufzeitverlängerung. Ich sage Ihnen:
kung des Wettbewerbs, was ich ebenfalls für wichtig und
Die Menschen wissen, dass wir die Laufzeitverlänge-
sinnvoll erachte, herangehen, sondern wir müssen auch
rung brauchen,
Geld investieren, gerade im Gebäudesanierungsbereich.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen haben Sie
Das wissen die Menschen eben nicht! Selbst
dort gekürzt!)
die Kanzlerin hat das Gegenteil unterschrie-
ben!) – Auch ich bin damit nicht einverstanden, lieber Herr
Kelber. – Wir müssen schauen, wie wir diese Mittel ver-
weil wir diese Herausforderung nicht so bewältigen kön-
stetigen. Ich sehe eine gute Chance, durch die Abschöp-
nen, wie wir es wollten. Wenn Sie ganz ehrlich sind,
fung von Zusatzgewinnen den Übergang in das regene-
dann stimmen Sie uns doch zu. Eigentlich sind Sie dank-
rative Zeitalter sinnvoll zu gestalten.
bar, dass wir dieses Thema in den nächsten Monaten
endlich anpacken. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die End-
lagerfrage klären. Ich bin dankbar, dass wir in der jetzi-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gen Koalition dieses Problem der Endlagerung endlich
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Für den
angehen. Sie haben das über Jahre verhindert,
Satz haben Sie aber lange gebraucht!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Vorsicht! Wir fragen
Meine Damen und Herren, ich warne davor, dass wir
auch in dieser Debatte irgendwelche Zahlenspielchen wieder nach!)
machen. Die einen sagen: Wir brauchen vier bis acht haben dieses Thema aufs Abstellgleis geschoben.
Jahre. Die anderen sagen: Wir brauchen 28 Jahre. Die
besonders Schlauen sagen: Richtig ist die goldene Mitte; (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja, nichts getan!)
wir brauchen 15 Jahre. Ich glaube, so vorzugehen, ist Wir packen es an.
(B) keine seriöse Energiepolitik. (D)
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE CSU])
GRÜNEN]: Richtig!)
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung: die Probleme
Wir brauchen in den nächsten Monaten eine solide Da- lösen und nicht ständig nur Hindernisse sehen.
tenbasis. Eine solche Basis werden wir Ende August be-
kommen: Am 27. August erhalten wir die Szenarienbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
rechnungen der Institute. Dann muss aufgeschlüsselt der FDP)
sein, was in den nächsten Jahren technisch machbar ist
Ein weiterer Punkt ist das Sicherheitskonzept. Auch
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das wird bei der Laufzeitverlängerung eine Rolle spie-
Das haben Sie doch gar nicht prüfen lassen! len. Wenn wir die Kernreaktoren hier – sie gehören
Sie haben doch 100 Prozent Erneuerbare gar schon heute zu den sichersten der Welt – länger laufen
nicht prüfen lassen!) lassen wollen, dann müssen wir den Anspruch, den wir
eh schon haben, noch einmal erhöhen und schauen: Wo
und an welchen Stellschrauben wir ansetzen müssen. gibt es Stellschrauben, mit deren Hilfe wir die Bedenken
Wenn wir wissen, was das kostet, müssen wir überlegen, der Bevölkerung aufnehmen können? Wie können wir
wie wir diese Kosten decken können und welche gesetz- Sicherheit noch einmal neu und besser definieren? Dazu
lichen Rahmenbedingungen notwendig sind. Unsere wird es bis Ende Juli Vorschläge der Bundesregierung
Überlegungen werden wir dann in ein Energiekonzept geben.
gießen. Das ist für mich eine verlässliche Politik in Sa-
chen Energie. Ich glaube, es lohnt sich, sich im Herbst (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ganz viel Zeit zu nehmen. Der Wirtschaftsminister will weniger Sicher-
heit als der Umweltminister!)
Ich sehe jetzt die große Chance, die Laufzeitverlänge-
rung, die ich für notwendig halte, zu gestalten. Damit Wir werden dann schauen, wie wir die konkret umset-
sind viele Themen verbunden. In vielen Punkten kom- zen. Das muss im Gesamtpaket eine wichtige Rolle spie-
men wir sicherlich zueinander; manchmal werden wir len.
vermutlich gegeneinander arbeiten.
Der letzte Punkt, liebe Frau Höhn, ist der Wettbe-
Ein Thema ist die Brennelementesteuer. Sie wird in werb, und er ist wichtig. Das nehmen wir gern von Ih-
diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Eine nen auf. Auch ich mache mir Sorgen über die Oligopol-
Laufzeitverlängerung wird es nicht zum Nulltarif geben. struktur im Strombereich. 60 Prozent des Strommarkts
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5611
Thomas Bareiß
(A) werden über die vier großen Energieversorgungsunter- (Beifall bei der SPD) (C)
nehmen gehandelt.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Oliver Kaczmarek (SPD):
GRÜNEN]: Ja! Und das wollen Sie verlän- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
gern! – Gegenruf des Abg. Dr. Daniel Volk heute im Deutschen Bundestag über die Brennelemente-
[FDP]: Unsinn!) steuer debattieren, dann müssen wir zunächst einmal
festhalten, dass die Vorzeichen erfreulicher sind als in
Wir wollen schauen, wie eine Laufzeitverlängerung da der vergangenen Zeit; denn als Sigmar Gabriel noch als
hineinspielt. Das müssen wir einmal untersuchen. Bundesumweltminister diese Idee vorgebracht hat,
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ist er gescheitert!)
NEN]: Das kann man leicht ausrechnen!)
wurde ihm insbesondere aus den Reihen des damaligen
Darüber müssen wir sprechen.
Koalitionspartners, aus den Reihen der Union, „reine
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ideologie“ vorgeworfen: so etwa von Herrn Oettinger.
Erst verlängern und dann mal gucken!) Herr Dobrindt hat ihn sogar einen Ökostalinisten ge-
nannt. Dass die derzeitige Regierungskoalition sich nun
Wir müssen schauen, welche Instrumente wir finden, um im Grundsatz dieser Forderung angeschlossen hat, ist als
die Oligopolstruktur für die Zukunft aufzuheben; denn Erfolg zu werten. Sie hätten es aber schon während der
ein ganz großes Thema ist, den Wettbewerb im Strom- Großen Koalition haben können. Das gehört zur Wahr-
markt in den nächsten Jahren zu stärken, um stabile heit dazu.
Preise für die Zukunft zu gewährleisten.
(Beifall bei der SPD)
Unsere Energiepolitik – ich glaube, das kann man
nicht oft genug sagen – beruht auf drei Säulen. Wir wol- Mir scheint die Debatte in der Koalition aber immer
len sichere und verlässliche Energie für die Zukunft. Wir noch ideologisch aufgeladen zu sein. Seit dem Gespräch,
wollen vor allen Dingen saubere und klimafreundliche das der Bundesfinanzminister mit den Spitzen der Atom-
Energie für die Zukunft. Dabei spielt auch die Kernener- konzerne geführt hat, ist auch wieder weniger deutlich,
gie – das nur als Nebensatz – wegen der CO2-Freiheit was eigentlich konkret umgesetzt werden soll.
eine ganz besondere Rolle. Wir wollen letztendlich eine
bezahlbare und – das sage ich ganz offen – günstige Dabei geht es in dieser Frage im Prinzip um einen
Energie, nicht nur für Großfamilien mit vielen Kindern, simplen Sachverhalt. Derzeit muss der Steuerzahler für
die auch einen entsprechend hohen Energieverbrauch viele Kosten aufkommen. Es entstehen nämlich Kosten
(B) haben, sondern auch für die Industrie, weil sie für die für den Rückbau kerntechnischer Anlagen, für die Sanie- (D)
Arbeitsplätze in Deutschland ganz wichtig ist. Auch das rung der Endlager, teilweise zumindest, für die kerntech-
ist Kernbestandteil unserer Energiepolitik. nische Forschung oder für die Sicherung der Castor-
Transporte. Das sind Kosten, die der Steuerzahler nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verursacht hat, aber von der Atomindustrie, wenn man
neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie ha- so will, externalisiert werden. Die Beträge fließen bei
ben überhaupt keine Energiepolitik! Das ist den Atomkraftwerksbetreibern direkt in die Gewinne.
das Hauptproblem!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
– Warten Sie es einmal ab! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Uns wird im September von der Bundesregierung ein Deshalb führen wir keine ideologische Diskussion, son-
Energiekonzept vorgelegt. Das werden wir diskutieren. dern eine sachliche Diskussion über die Lastenvertei-
Dazu wird der Bundestag viele Entscheidungen treffen lung bei den ökologischen und gesellschaftlichen Kos-
müssen. Das werden wir also viel diskutieren. Wir ma- ten der Atomenergie und über Wettbewerbsgleichheit.
chen ein Energiekonzept aus einem Guss – ich glaube, Deswegen – das will ich noch einmal sagen – ist es kein
das ist dringend notwendig –, ideologischer Ballast, sondern vor allem eine ökonomi-
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sche Notwendigkeit, über die wir heute Morgen disku-
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tieren.
Ein Atomkonzept aus einem Guss!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bei dem die Kernenergie eine Rolle spielt, bei dem aber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Ausbau der erneuerbaren Energien im Vordergrund Allerdings – bei aller Freude, dass die Koalition auf
steht. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz für die diese Linie eingeschwenkt ist – fehlt ihr offenbar die
nächsten Jahre. Einsicht in die Notwendigkeit dieser Steuer; denn zu
Herzlichen Dank. deutlich ist der Zusammenhang, der hier im Kontext von
Sparpaket und Laufzeitverlängerung für die Atom-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kraftwerke hergestellt wird. Die Bundesregierung will
offensichtlich angesichts der dramatischen und von
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nahezu allen Kommentatoren festgestellten sozialen
Das Wort hat jetzt der Kollege Oliver Kaczmarek von Schieflage ihres Sparpaketes den Anschein erwecken,
der SPD-Fraktion. auch die Großen zu schröpfen und ihnen etwas abzuneh-
5612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Oliver Kaczmarek
(A) men für die Sanierung des Staatshaushaltes. In Wahrheit Menschen im Land nicht mitmachen. Dagegen wird es (C)
geht es jedoch vor allem um die Akzeptanz für die Lauf- Widerstand geben. Ich bin da sehr sicher.
zeitverlängerung; denn die Atomenergie hat in Deutsch-
land keinen guten Ruf. Sie wird von den Menschen ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fach nicht akzeptiert. Das ist, wie der Umweltminister DIE GRÜNEN)
jüngst richtig festgestellt hat, auch nach 40 Jahren noch Es ist deshalb mehr als nur Symbolik – es sei mir als
so. Es stellt sich langsam die Frage, warum wir über das Nordrhein-Westfale erlaubt, das hier anzusprechen –, es
Thema Laufzeitverlängerung jetzt diskutieren, wenn ist eine fundamentale energiepolitische und gesell-
doch in den letzten 40 Jahren keine Akzeptanz bei den schaftspolitische Entscheidung, wenn die neue Landes-
Menschen erreicht werden konnte. regierung von Nordrhein-Westfalen – ich bin sicher, sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird dafür nicht nur im nordrhein-westfälischen Landtag
DIE GRÜNEN) die Mehrheit bekommen, sondern auch die Unterstüt-
zung der Menschen in Nordrhein-Westfalen – zusammen
Dennoch hat sich die derzeitige Regierungskoalition mit anderen Bundesländern im Bundesrat dafür sorgen
vorgenommen, gegen den gesellschaftlichen Wider- wird, dass es keine Laufzeitverlängerung geben wird.
stand die Laufzeiten für die 17 in Deutschland noch in Das ist ein Akt der politischen Vernunft und der Verant-
Betrieb befindlichen Atomkraftwerke zu verlängern. wortung und verdient Unterstützung.
Diesen Widerstand dagegen reden wir nicht herbei. Ihn
kann man sehen. Jüngst konnte man ihn – ich glaube, es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
war Ende April – bei einer Menschenkette mit mehr als der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen GRÜNEN)
den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel be-
Es ist dagegen unvernünftig, wenn die Koalition nun
obachten.
nach Wegen sucht, den Bundesrat auf der Grundlage
Die sachlichen Erwägungen gegen eine Laufzeitver- zweifelhafter Gutachten zu umgehen. Es ist klar, dass sie
längerung sind gestern im Umweltausschuss breit debat- damit einen neuen politischen und gesellschaftlichen
tiert und von den Experten ausführlich dargestellt wor- Großkonflikt in dieser Republik mit allen Begleit-
den. Es ist noch einmal deutlich gemacht worden, dass erscheinungen und Nebenwirkungen in Kauf nimmt.
wir hier nicht über eine absolut sichere und risikofreie Diesen Konflikt und die damit verbundene Unruhe und
Technologie reden, sondern dass es Sicherheitsrisiken Unsicherheit bei den Menschen zu riskieren, ist falsch in
gibt. Dies wird insbesondere bei den ältesten Atom- der Sache und stellt überdies eine Fehlkalkulation dar.
kraftwerken, deren Laufzeiten Sie verlängern wollen, Denn selbst wenn sie es wollte – so können wir nach den
(B) deutlich: Das Atomkraftwerk Krümmel, 1983 in Betrieb Erfahrungen der letzten Wochen und Monate sagen –, (D)
genommen, hat seit 1994 82 sicherheitsrelevante Ereig- fehlte der jetzigen Regierungskoalition die Mehrheit im
nisse gemeldet, Brunsbüttel, 1976 in Betrieb genommen, Volk, im Bundesrat und vor allem die politische Klarheit
hat 80 und Biblis A, das älteste noch in Betrieb befindli- und Kraft, einen solchen Konflikt durchzustehen. Des-
che Atomkraftwerk Deutschlands, hat 66 solcher Ereig- wegen sollten Sie im eigenen Interesse davon Abstand
nisse gemeldet. nehmen.
Auch wenn die Anzahl der im Jahresdurchschnitt ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
meldeten Ereignisse gering erscheint – ich stelle mir die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frage, ob es bei einer solchen Hochrisikotechnologie tat-
sächlich eine Toleranzschwelle bei der Anzahl von Si- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erhalten die Un-
cherheitsereignissen geben kann –, so ist doch Fakt: Die terstützung auch unserer Fraktion, wenn Sie eine ernst
Stillstandszeiten sind in keinem anderen industriellen gemeinte Brennelementesteuer einführen wollen. Aber
Bereich so hoch wie in Atomkraftwerken. Fakt ist auch, Sie werden den Widerstand nicht nur der Opposition hier
dass sie mit längerer Lebensdauer eben nicht weniger im Haus, im Bundesrat oder vor dem Bundesverfas-
stör- und verschleißanfällig werden. Deswegen stellt sungsgericht, sondern vor allem in der gesamten Repu-
eine Laufzeitverlängerung natürlich ein Sicherheitsrisiko blik, in Gorleben, in Lüchow-Dannenberg, in Ahaus,
dar. Zumindest verstößt sie gegen das Sicherheitsemp- Brunsbüttel und anderswo erleben, wenn Sie dieses Vor-
finden der Menschen. Das sollten wir im Deutschen haben an eine Laufzeitverlängerung koppeln wollen.
Bundestag akzeptieren. Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen Dank.
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die Brennelementesteuer darf deshalb aus unserer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sicht nicht zum Alibi für eine Laufzeitverlängerung wer-
den. Offensichtlich geht es der Bundesregierung auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
darum, sich nachlassende Sicherheit in den älteren Herr Kollege Kaczmarek, ich gratuliere Ihnen im Na-
Atomkraftwerken mit dem Geld aus der Brennelemente- men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
steuer teuer bezahlen zu lassen. Aber ich sage auch ganz schen Bundestag.
deutlich: Diese Art von Ablasshandel für Biblis A und
andere alte Reaktoren werden wir und vor allem die (Beifall)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5613
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
der FDP-Fraktion. bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel
Volk [FDP]: Was hat das mit dem Koalitions-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vertrag zu tun?)
der CDU/CSU)
Michael Kauch (FDP):
Michael Kauch (FDP): Liebe Frau Höhn, Sie kennen ebenso wie ich die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Energieversorgungsstruktur in Nordrhein-Westfalen.
Kaczmarek hat angesprochen, welche Großtaten die Wir haben keine Kernkraftwerke, sondern wir haben vor
neue nordrhein-westfälische Koalition in rot-grüner allem Kohlekraftwerke. In Nordrhein-Westfalen stehen
Färbung vollbringen will. Ich habe mir gestern die Mühe die größten CO2-Schleudern Europas. Die Politik von
gemacht, in diesen Koalitionsvertrag hineinzuschauen. Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen war immer:
Da wird die ganze Aberwitzigkeit Ihrer Klimapolitik Diese Dreckschleudern müssen durch moderne Kraft-
deutlich; denn wegen Ihres grünen Koalitionspartners werke ersetzt werden.
verzichten Sie auf das Kraftwerkserneuerungspro-
gramm. Die Grünen werden jetzt sagen: Prima. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist ein Fehler!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zu Recht!) Genau das verhindern Sie. Deshalb sind Sie diejenigen,
die in Ihrem Koalitionsvertrag offenbaren, dass man mit
Heimlich, still und leise steht im rot-grünen Koali- Ihrer Politik weniger CO2 einsparen kann als mit unserer
tionsvertrag – zuerst dachte ich, es ist ein Druckfehler –, Politik.
dass Sie die CO2-Emissionen um 25 Prozent bis 2020 im
Vergleich zu 1990 verringern wollen. Man denkt: Tolle (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Tat! Aber die alte Regierung wollte 33 Prozent, und im Jetzt kommt es raus!)
Bund haben wir 40 Prozent vorgesehen. Das heißt, Rot- Im Übrigen, wenn man in Ihrem Koalitionsvertrag wei-
Grün bedeutet weniger Klimaschutz in Nordrhein-West- terliest, dann erfährt man, dass Sie keinen eigenen mü-
falen, das ist doch absurd. den Euro aus Ihrem Landeshaushalt dafür aufwenden
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wollen, dass Klimaschutzprojekte auf den Weg gebracht
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werden.
Aber die alte Bundesregierung hat das gar (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
nicht gemacht! – Dr. Frank Steffel [CDU/ GRÜNEN]: Sie haben doch gar nichts einge-
(B) CSU]: Das ist ein Skandal! Jetzt kommt die spart!) (D)
Wahrheit ans Licht! – Dr. Daniel Volk [FDP]:
Jetzt kommt Ihre Scheinheiligkeit ans Licht!) Zur Finanzierung Ihrer Klimaschutzprojekte heißt es
im Koalitionsvertrag: Der Bund muss quotiert 44 Pro-
zent der Emissionshandelserlöse an Nordrhein-Westfa-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: len abgeben. Sie wollen nur Klimaschutz betreiben,
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine Zwischenfrage wenn es der Bund bezahlt. Das ist Ihr Versagen in Nord-
der Kollegin Höhn? rhein-Westfalen. Davon können Sie nicht ablenken.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Michael Kauch (FDP):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine weitere Zwi-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schenfrage des Kollegen Kelber?
Bitte, Frau Höhn.
Michael Kauch (FDP):
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerne. Das verlängert die Redezeit.
Herr Kollege Kauch, können Sie bestätigen, dass sich
Schwarz-Gelb in der letzten Legislaturperiode in Nord- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
rhein-Westfalen gegen jede Windkraftanlage gestellt NEN]: Aber dann mal zum Thema!)
hat und dass sich dadurch die CO2-Reduktion in Nord-
rhein-Westfalen nicht gemindert hat? Sie sind massiv ge- Ulrich Kelber (SPD):
gen erneuerbare Energien vorgegangen. Können Sie be- Das stimmt, das verlängert Ihre Redezeit.
stätigen, dass unter Schwarz-Gelb in Nordrhein-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
Westfalen die Kapazität der Kraftwerke enorm gestiegen
GRÜNEN]: Er muss doch mal zum Thema
ist? Damit stand zwar die Zahl – eine Reduktion von
kommen!)
33 Prozent bis 2020 – auf dem Papier, aber in der Politik
ist das Gegenteil gemacht worden. Zu Ihrer Regierungs- Trotzdem ist die Frage wichtig. – Können Sie erstens be-
zeit sind die CO2-Emissionen in Nordrhein-Westfalen stätigen, dass unter der jetzigen Landesregierung die frü-
gestiegen und nicht gefallen. Wir haben Ihre Altlasten here Vereinbarung von Rot-Grün mit der Kraftwerks-
jetzt abzutragen. Das ist die Wahrheit. wirtschaft, in der vorgesehen ist, alte Kraftwerke sofort
5614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Ulrich Kelber
(A) abzuschalten, wenn das neue am Netz ist, beispielsweise Gewinne vornehmen würden. Momentan haben wir in (C)
im rheinischen Braunkohlerevier, aufgehoben wurde und der Tat eine Steigerung bei den Strompreisen; Frau
deswegen die alten Kraftwerke weiterlaufen? Das ist Bulling-Schröter, ich war erstaunt, dass von einer Lin-
Realität, nicht Ziel. ken eine sachliche volkswirtschaftliche Darstellung
kam. Dadurch, dass die Zertifikate, die man kostenlos
(Joachim Poß [SPD]: Ach!) bekommen hat, eingepreist wurden, haben die Unterneh-
Können Sie zweitens bestätigen, dass Sie den Klima- men mehrere Milliarden Euro Zusatzgewinne gemacht.
schutz als Ziel aus den Landesgesetzen herausgestrichen Jetzt haben wir fraktionsübergreifend durchgesetzt, dass
haben? die Zertifikate für die Kohlewirtschaft ab 2013 voll ver-
steigert werden. Es wäre eine Wettbewerbsungleichheit,
wenn wir es bei den mit Kernkraft produzierenden Un-
Michael Kauch (FDP): ternehmen weiterhin so belassen würden.
Lieber Herr Kelber, wenn Sie auf Datteln anspielen
– darum geht es ja offensichtlich –, (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt wird versteigert!)
(Ulrich Kelber [SPD]: Lex Eon!) Deshalb ist die Zielsetzung der Brennelementesteuer,
die das Kabinett beschlossen hat, richtig. Dennoch sage
dann kann ich nur sagen, dass dies das effizienteste Koh- ich: Natürlich gibt es einen politischen Zusammenhang
lekraftwerk ist, das wir momentan in Deutschland bauen. zur Laufzeitverlängerung. Für uns ist das durchaus ein
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Paket. Ich sage aber auch: Für die Laufzeitverlängerung
GRÜNEN]: Ja! Zusätzlich!) der Kernkraftwerke ist das, was die Regierung hier vor-
legt, nicht das Ende der Fahnenstange. Das ist nicht die
Das genau ist der Unterschied. Wir machen Klima- Abschöpfung der Gewinne aus der Laufzeitverlänge-
schutz mit dem Emissionshandel und versuchen nicht, rung. Ich sage auch sehr deutlich: In den Wahlprogram-
den Bau solcher Anlagen durch Gerichtsurteile zu torpe- men von Union und FDP finden wir die Aussage, dass
dieren. ein Teil der Erlöse, die aus der Laufzeitverlängerung re-
sultieren, im Bereich erneuerbare Energien zu verwen-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE den ist. Genau das lässt der Kabinettsbeschluss weiterhin
GRÜNEN]: Zusätzlich emittieren!) zu.
Wir wollen, dass diese modernen Kraftwerke die Dreck- Wir haben 2,3 Milliarden Euro für den Haushalt. Ich
schleudern ersetzen, glaube, der Finanzminister hat damit das, was er bekom-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE men muss. Wenn wir für die Laufzeitverlängerung noch
GRÜNEN]: Tun Sie ja nicht!) eine Schippe drauflegen, dann muss auch deutlich wer-
(B) den, dass der Bereich der erneuerbaren Energien davon (D)
deren Betrieb die rot-grüne Regierung, zum Beispiel im profitiert.
Zusammenhang mit dem Tagebau Garzweiler, ermög-
licht hat, Herr Kelber. Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
der CDU/CSU)
Jetzt kommen wir zurück zum Thema, zu dem, was
wir auf Bundesebene tun, zur Brennelementesteuer. Für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die Brennelementesteuer werden im Kabinettsbeschluss Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der
sehr klug zwei Gründe genannt: Fraktion Die Linke.
Erstens geht es um die Kosten der Asse. Die FDP hat (Beifall bei der LINKEN)
diesen Punkt in den Koalitionsverhandlungen sehr nach-
drücklich unterstützt. Wir sagen: Wenn es Altlasten gibt, Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
die dadurch entstanden sind, dass in der Vergangenheit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
viele Menschen Fehler gemacht haben, dann kann man Kollegen! Im Dezember 2009 postulierte die Bundesre-
das hinterher nicht einfach dem Stromkunden oder dem gierung in Fortsetzung ihrer Politik, sie plane keine Ein-
Steuerzahler vor die Füße werfen, sondern dann müssen führung der Brennelementesteuer. Im Juni 2010 kommt
sich auch diejenigen, die von diesem Bergwerk profitiert Ihnen die Erkenntnis dann doch, weil die Atomindustrie
haben, beteiligen; das ist neben staatlichen Forschungs- von dem Handel mit den CO2-Zertifikaten über höhere
einrichtungen die Kraftwerkswirtschaft. Ganz klar ist: Strompreise profitiert. Das sind jährlich immerhin
Die Asse wird maximal etwa 4 Milliarden Euro kosten. 3,4 Milliarden Euro. Allerdings sagen Sie – ich zitiere
(Ulrich Kelber [SPD]: Das wissen Sie schon aus Ihrem Programm „Die Grundpfeiler unserer Zukunft
jetzt! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ stärken“ –: Es wird „im Rahmen eines Gesamtenergie-
DIE GRÜNEN]: „Maximal“!) Konzepts notwendig sein, die Laufzeiten von Kernkraft-
werken zu verlängern.“
Das entspricht den Einnahmen von zwei Jahren aus der
Brennelementesteuer. Dadurch ist diese Steuer sehr klar (Michael Kauch [FDP]: Tolles Programm!)
legitimiert. Zukunft stärken und Laufzeitverlängerung sind ein
Widerspruch in sich, sagt die Linke.
Das Zweite ist die Ungleichbehandlung, die es ab
2013 geben würde, wenn wir keine Abschöpfung der (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5615
Dr. Barbara Höll
(A) Im Klartext: Die ganze Aktion der Brennelementebe- fonds verwendet werden, um die Entwicklung im Be- (C)
steuerung ist ein ausgeklügelter Deal zwischen Ihnen reich der erneuerbaren Energien voranzutreiben.
und der Atomlobby; denn durch diesen billigen Trick
wollen Sie den hart erkämpften Atomkompromiss auf- Nun möchte ich noch eine kurze Bemerkung zu Herrn
weichen und damit ein späteres Abschalten aller Atom- Fuchs machen, der nachher noch spricht.
kraftwerke in Deutschland erreichen. (Zuruf von der FDP: Jetzt schon? – Heiterkeit)
Nun komme ich zu Ihrem tollen Plan. Sie wollen mit Sie haben in der vergangenen Woche das Erneuer-
der Brennelementesteuer 2,3 Milliarden Euro jährlich bare-Energien-Gesetz als Begründung vorgeschoben,
einnehmen, unter anderem zum Zwecke der Sanierung um Atomenergie weiterhin zu legitimieren. Ich sage Ih-
– wie Sie selbst sagen; ich zitiere noch einmal –: nen: Das ist schlicht eine Frechheit und ein Schlag ins
Gesicht all der Menschen, die heute im Bereich der Er-
Allein durch die Stilllegung und den Rückbau von zeugung erneuerbarer Energien arbeiten.
kerntechnischen Anlagen – einschließlich voraus-
sichtlicher Kosten für die Endlager von Atommüll – (Beifall bei der LINKEN)
wird der Bund erheblich belastet.
Sie sagten letzten Donnerstag, dass die Energiekosten
Selbst die Zwischenlager sind derzeit in einem skan- für einen Vier-Personen-Haushalt im Rahmen des EEG
dalösen Zustand. Es gibt noch gar kein Endlager. Die ab dem nächsten Jahr um circa 200 Euro steigen würden.
Kosten für Lagerung und Sanierung der Lagerstätten ha- Deshalb brauchten wir auch weiterhin den ach so billi-
ben sich vervielfacht; es wurde schon vorhin die Zahl gen Atomstrom.
von über 7 Milliarden Euro genannt. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Richtig!)
Nun planen Sie frisch und fröhlich eine Laufzeitver- Ich staune immer wieder über Ihre Kurzsichtigkeit. Sie
längerung. In diesem Zusammenhang frage ich Sie: sind es doch, die vernünftige Rahmenbedingungen schaf-
Wieso soll denn der Bund, das heißt, die Steuerzahlerin- fen könnten. Sie könnten erneuerbare Energien über eine
nen und Steuerzahler, die Folgekosten für die Endlage- vernünftige Steuergesetzgebung billiger machen. Wenn
rung tragen? Wieso sollen das nicht die Verursacher, die Sie beim Preis für den Atomstrom alle Folgekosten mit
Atomwirtschaft, tun, und zwar selbstverständlich in vol- einfließen lassen würden, wäre Atomstrom eben nicht
ler Höhe? billig. Er ist schon heute viel teurer als der Strom aus er-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- neuerbaren Energien.
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der LINKEN)
(B) ten der SPD) (D)
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat Ihnen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ausdrücklich aufgeschrieben, dass es möglich ist, dass Frau Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deutschland als Industriestandort bei Weiterentwicklung
der bisherigen erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
allen Strom aus diesen erneuerbaren Energien bezieht. Schieben Sie den Schwarzen Peter nicht auf andere.
Hierfür brauchen wir natürlich einen konsequenten Um- Handeln Sie endlich selbst einmal weitsichtig; das ist
bau hin zu den erneuerbaren Energien. Dazu braucht notwendig.
man eben – das wurde bereits erwähnt – umfangreiche
Mittel für die Netzerneuerung und für das Erschließen (Beifall bei der LINKEN)
neuer Speicherkapazitäten.
Selbst der Bundesumweltminister, Herr Röttgen, be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
stätigte, dass der Anteil der erneuerbaren Energien 2022, Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der
konservativ gerechnet, auf knapp 40 Prozent gestiegen CDU/CSU-Fraktion.
sein wird, sodass dann tatsächlich alle AKWs in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU)
land abgeschaltet werden könnten. Sie erinnern sich:
Hierzu liegt eine Studie aus dem Jahre 2009 vor; inzwi-
schen wird das oft verschwiegen. Das heißt, eine Verlän- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
gerung der Laufzeiten ist völlig irrational und falsch. Wir Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich
fordern deshalb einen schnellstmöglichen Atomausstieg finde es bemerkenswert, dass wir die Diskussion offen-
und nicht erst 2022. bar so reflexhaft miteinander führen können, dass man,
Frau Höll, bereits im Vorhinein auf einen nachfolgenden
(Beifall bei der LINKEN) Redner eingehen kann; das ist schon etwas Besonderes.
Wir fordern das auch deshalb, um die Folgekosten aus Ich bin jetzt nicht enttäuscht – das sage ich Ihnen
der Nutzung der Atomkraft zu reduzieren. Wir wollen, ganz offen –, dass es keine Loblieder auf das gibt, was
dass die Atomwirtschaft die von ihr verursachten Kosten wir hier als Koalition planen, nämlich eine Brennele-
in vollem Umfang trägt. Führen Sie deshalb als ersten mentesteuer, obwohl ich zugebe, dass ich schon das
Schritt die Brennelementesteuer so ein, dass mindestens eine oder andere wohlwollende Wort erwarte, wenn man
5 Milliarden Euro jährlich an Einnahmen erzielt werden. Dinge umsetzt, die andere vorher angeblich so gefördert
Diese Einnahmen sollten dann für einen Energiespar- haben.
5616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Bärbel Höhn
(A) testeuer unabhängig von den Laufzeiten kommen soll. FDP: Hören Sie doch endlich mal mit Ihrer (C)
Ich wiederhole: unabhängig von Laufzeiten. künstlichen Erregung auf! Sie können von bei-
den noch viel lernen!)
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das haben
Sie ja verhindert!) Das, was Herr Kauch zum Thema Wettbewerb gesagt
hat, fand ich spannend. Denn der Chef des Kartellamts,
Noch am 11. Juni dieses Jahres hat er gesagt, die Brenn-
ein FDP-Mann, hat gesagt, man darf der Laufzeitverlän-
elementesteuer sei unabhängig vom Beschluss über län-
gerung der Atomkraftwerke nicht zustimmen, weil es
gere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Anders als Sie,
auf dem Strommarkt dann keinen Wettbewerb mehr gibt,
Herr Fuchs, hat Herr Schäuble bisher eine kluge Mei-
weil die großen Energiekonzerne die Preise in die Höhe
nung vertreten. Denn es ist ganz entscheidend, dass die
treiben können und weil am Ende, egal wie hoch die
Brennelementesteuer unabhängig von der Laufzeitver-
Brennelementesteuer ist, die Verbraucherinnen und Ver-
längerung der Atomkraftwerke in diesem Land ist. Ich
braucher aufgrund dann höherer Strompreise große Ge-
sage Ihnen: Das ist absolut wichtig. Auch die Kanzlerin
winne in die Kassen der Energiekonzerne spülen wer-
hat das bestätigt und damit Leuten wie Ihnen, Herr
den. Das ist der Punkt. Ihr Mann an der Spitze des
Fuchs, einen Riegel vorgeschoben.
Kartellamts, ein FDP-Mann, sagt: keine Laufzeitverlän-
Gestern sagte der Finanzminister: Dass die Brennele- gerung, damit die Preise für die Verbraucher nicht explo-
mentesteuer in einem politischen Zusammenhang mit dieren.
der Frage der Restlaufzeiten stehe, sei völlig unbestrit-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sein Vorgänger und
ten. Das ist nichts anderes, als dass Sie sagen: Sicherheit
sein Vorvorgänger haben das auch gesagt!)
gegen Geld. Sie wollen die Laufzeiten der alten Atom-
kraftwerke verlängern, um bei den Atomkonzernen Geld Das ist die Wahrheit über das Vorhaben, das Sie momen-
einsammeln zu können. Das ist ein Deal, den man nicht tan auf den Weg bringen.
zulassen darf.
Gleichzeitig muss man sehen, dass die Stadtwerke
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sagen: Wir können diese Laufzeitverlängerung nicht mit
bei der SPD und der LINKEN) uns machen lassen, weil es dann keinen Wettbewerb
Wenn es um die Sicherheit von Atomkraftwerken mehr gibt. Dann können wir nicht mehr mithalten. Durch
geht, dann dürfen finanzielle Erwägungen keine Rolle die Laufzeitverlängerung zerstören Sie den Wettbewerb
spielen; das ist ganz entscheidend. Vor allen Dingen auf dem Strommarkt.
kommen Sie in eine große Bredouille. Wenn Sie Ihr Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haben nämlich, wie Sie es planen, am Bundesrat vorbei sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
(B) durchsetzen wollen, dann werden wir klagen. Wir von KEN) (D)
Grünen und SPD werden eine Normenkontrollklage
auf den Weg bringen. Angesichts der Ergebnisse all der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gutachten, die uns vorliegen, bin ich sicher, dass wir
Frau Kollegin Höhn, kommen Sie bitte zum Schluss.
recht bekommen werden. Sie werden den Ausstieg aus
der Atomkraftnutzung nicht rückgängig machen können,
indem Sie den Bundesrat umgehen. Dem werden wir ei- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nen Riegel vorschieben, und wir werden gewinnen. Sie Ich komme zum Schluss. – 150 000 Menschen haben
kommen damit nicht einfach durch. Ende April dieses Jahres gegen Ihren Ausstieg aus dem
Atomausstieg demonstriert. 150 000 Menschen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/ (Zuruf von der FDP: Das ist doch die Minder-
CSU]: Ja, ja! Reden Sie nur! – Zuruf von der heit! Es waren 150 000 von 82 Millionen!)
FDP: Warten Sie erst einmal die Wahl in NRW All diese Menschen haben Sie nicht berücksichtigt. Ihre
ab!) eigenen Leute in den Stadtwerken haben Sie nicht be-
– Sie kommen damit nicht einfach durch. rücksichtigt. Umweltverbände und das Bundeskartellamt
haben Sie nicht berücksichtigt. Wenn Sie nur die Interes-
Dass vier Energiekonzerne einfach zum Finanz- sen der Atomkonzerne vertreten, dürfen Sie sich nicht
ministerium gehen und dort Politik machen, ist ein un- wundern, dass Sie dann letzten Endes nicht die Interes-
glaublicher Vorgang. Das müssen wir uns einmal auf der sen des Volkes vertreten. Dafür sind Sie allerdings ge-
Zunge zergehen lassen. Wenn ich höre, wie zum Beispiel wählt worden. Machen Sie sich nichts vor: Ihre schlech-
der Fraktionsvorsitzende Kauder und die Fraktionsvor- ten Umfragewerte liegen an der Politik, die Sie machen.
sitzende Homburger – ich sage es einmal so – den bösen
Schein erwecken, als seien sie nichts anderes als die (Zuruf von der FDP: Schalten Sie doch endlich
Sprecher von EnBW, sage ich Ihnen: Das wirft ein ganz diese Phrasendreschmaschine ab! Das ist ja
schlechtes Licht auf Ihre Politik und Ihre Regierungsko- nicht auszuhalten!)
alition. Das ist der Punkt: Diese Koalition vertritt die In- Ändern Sie endlich Ihre Politik!
teressen der großen Stromkonzerne und der Atomkon-
zerne, nicht mehr und nicht weniger. Das ist Ihr Fehler. Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5619
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ulrich Kelber [SPD]: Steuerfreie Rückstel- (C)
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDP- lungen!)
Fraktion. von annähernd 30 Milliarden Euro angesammelt wor-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den.
der CDU/CSU) Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, Gewinne
aus einer Laufzeitverlängerung nutzbringend einzuset-
Klaus Breil (FDP): zen. Dies erfolgt nicht willkürlich, sondern wettbewerbs-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- konform. Wie das konkret aussehen wird, ergibt sich aus
gen! Heute debattieren wir über die Einführung einer unserem Energiekonzept. Bei uns herrscht schließlich
Brennelementesteuer. Darüber scheinen wir uns fast alle das Ordnungsprinzip: erst der Rahmen, dann die Details.
einig zu sein, doch die Gemeinsamkeiten verlieren sich
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben sich auf die
leider im Detail. Sie nutzen nämlich diese Kostenerhe-
Laufzeitverlängerung festgelegt!)
bung als Generalangriff auf die Kernkraftindustrie. So
sollen die Kernkraftbetreiber zum Beispiel die Entsor- Nach der Sommerpause im September wird die Bundes-
gung aller kerntechnischen Forschungsanlagen des regierung dieses Konzept vorlegen. Es wird sich auf
Bundes gleich mitbezahlen. nüchterne Analysen gründen, nicht auf Hoffnungen oder
Wunschdenken. Es wird die Kernenergie in den künfti-
Wir hingegen schaffen einen angemessenen Aus- gen Energiemix einbeziehen, und zwar so weit, wie es
gleich für die Kosten der Asse. Wir garantieren die sinnvoll ist.
Gleichbehandlung von Kohle und Kernkraft beim Emis-
sionshandel. Für uns stehen zwei Ziele im Vordergrund: Die Fakten hierzu kennen wir alle: Immer noch stellt
die Sanierung des Haushaltes und die regenerative Er- die Kernenergie 23 Prozent der Stromproduktion
neuerung unseres Energiewesens. Sie sehen also, dass
(Ulrich Kelber [SPD]: 21 Prozent!)
wir in der Wirtschafts- und Umweltpolitik an einem
Strang ziehen. und nahezu 50 Prozent des Grundlastanteils. So kann die
Leistung der Kernenergieanlagen fast bis zur Hälfte fle-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
xibel gefahren werden. Produktionsschwankungen der
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Ge-
Wind- und Sonnenenergie können durch sie aufgefangen
meinsam in die falsche Richtung!)
werden. Und sie verursacht kein CO2. Die Zuverlässig-
Sie aber operieren mit Zahlen und Forderungen, die keit, mit der Strom produziert wird, liegt bei Anlagen der
aus der Luft gegriffen sind. Sie gaukeln uns etwas vor, Kernenergie über 95 Prozent, bei Windenergie bei 5 bis
(B) was es nicht gibt. Sie führen die Bürger hinters Licht. Ih- 10 Prozent und bei Solaranlagen bei 1 Prozent. Dabei (D)
ren Behauptungen nach wurden Kernkraftwerke vom sind erneuerbare Energien ohnehin äußerst schwankende
Staat mit Finanzhilfen und Steuervergünstigungen Energiequellen.
von insgesamt 125 Milliarden Euro finanziert, eine Mär, Wir werden die Betreiber der Kernkraftwerke in eine
die unters Volk zu bringen Sie nicht müde werden. angemessene gesellschaftliche Verantwortung nehmen:
(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ mit Maß und Vernunft, nicht mehr und nicht weniger.
CSU]) Vielen Dank.
Für Sie scheint die Kernenergieindustrie so etwas wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ein großer Geldspeicher zu sein – wissen Sie, so einer der CDU/CSU)
wie bei Dagobert Duck –, und Sie sind die Panzerkna-
cker:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber von der SPD-
CSU]) Fraktion.
Man muss das Ding nur anbohren, und schon sprudelt (Beifall bei der SPD)
unablässig das Geld. So funktioniert das aber nicht.
(Beifall bei der FDP) Ulrich Kelber (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Die Betreiber von Kernkraftwerken erhielten keiner- ren! Seit Monaten muss Deutschland einen schwarz-gel-
lei Steuersubventionen. Das wurde auch zu Zeiten der ben Überbietungswettbewerb von Ergebenheitsadressen
rot-grünen Bundesregierung immer wieder bestätigt. und Gewinnversprechen an die Atomwirtschaft ertragen.
(Ulrich Kelber [SPD]: Wie bitte? – Ingrid Wenn es dann einmal einen lichten Moment wie die Ka-
Arndt-Brauer [SPD]: Das ist Quatsch!) binettsklausur gibt, in der man sich auf die Einführung
einer Brennelementesteuer verständigt, gibt es sofort die
Lediglich im Bereich der Entwicklung und Forschung Blutgrätsche des Herrn Kauder, Fraktionsvorsitzender
wurden staatliche Mittel eingesetzt. Der Rückbau stillge- der CDU, der direkt sagt: Wir führen die Brennelemente-
legter Kernkraftwerke und die Entsorgung der Abfälle steuer mit Einnahmen von 2,3 Milliarden Euro nur dann
werden durch die Betreiber finanziert. Die Mittel dafür ein, wenn wir vorher politisch festgelegt haben, den Be-
sind durch Rückstellungen der Energieversorger treibern von Kernkraftanlagen 6 bis 8 Milliarden Euro
5620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Ulrich Kelber
(A) pro Jahr durch eine Laufzeitverlängerung zu schenken. muss deswegen aus einer Brennelementesteuer bezahlt (C)
Das ist dann die Reaktion auf den ersten lichten Mo- werden, die nicht an die Bedingung einer Laufzeitver-
ment. längerung geknüpft sein darf, weil das bereits entstande-
ner Atommüll ist. Alles andere wäre eine Subvention der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
bestverdienenden Unternehmen dieses Landes.
Jetzt geht es darum, den Spieß umzudrehen. Die SPD
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
will die Atomlobby für die enormen Kosten der Altlas-
DIE GRÜNEN)
ten zur Kasse bitten, und zwar nicht nur für Asse und
Morsleben, Jülich und Karlsruhe, sondern auch für die Ich habe mitbekommen, dass die Kanzlerin den Fi-
leistungslosen Zusatzgewinne aus dem Emissionshan- nanzminister angewiesen hat, eine Alternative zur
del. Es wurde nie zugesagt, dass diese Gewinne behalten Brennelementesteuer zu prüfen, nämlich einen Fonds,
werden können. Wir wollen das nicht mit einer Debatte den die Energiewirtschaft vorgeschlagen hat. Man muss
über Laufzeitverlängerungen verbinden, sondern wir sich das so vorstellen: Die Unternehmen nehmen bei der
sind der Überzeugung, dass es jetzt nach diesem schnel- Kreditanstalt für Wiederaufbau einen Kredit auf. Das
len Ausbau der erneuerbaren Energien längst um die ganze Geld, das man ihnen nehmen will – ein Viertel ih-
Frage einer Laufzeitverkürzung geht. rer Zusatzgewinne –, wird mit einem Mal an die Bundes-
Wer in der politischen Diskussion die Brennelemente- regierung übergeben. Dieser Kredit wird aber nur so
steuer mit einer Laufzeitverlängerung verbindet, der be- lange abbezahlt, wie der Deutsche Bundestag die Lauf-
treibt den Ausverkauf von Sicherheit in diesem Lande, zeitverlängerung nicht zurücknimmt. Danach müssen
das wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler be-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zahlen.
DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
Ach Gott!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und wer das mit der Zusage verbindet, dass 6 bis 8 Mil- Das ist ein Ausverkauf der Demokratie. Sie wollen
liarden Euro an Zusatzgewinnen pro Jahr anfallen, der den Menschen verbieten, sich bei Wahlen anders zu ent-
macht Geschenke an die bestverdienenden Unternehmen scheiden, und Sie wollen dem Deutschen Bundestag ver-
unseres Landes und verzerrt den Wettbewerb am bieten, Energiepolitik zu machen. Wer das tut, der ent-
Strommarkt. mündigt die Bürger und dieses Parlament.
Die Kollegin Höhn hat den derzeitigen Präsidenten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
des Bundeskartellamts zitiert. Sein Vorgänger hat, we- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nige Wochen bevor er Staatssekretär dieser Regierung LINKEN)
(B) (D)
geworden ist, das Gleiche gesagt, und dessen Vorgänger Man kann das ganz konkret machen: Stellen Sie sich
hat in einem Gutachten für die Stadtwerke ebenfalls das vor, dieser Fonds wird von Ihnen eingeführt, Sie haben
Gleiche gesagt. das Geld bekommen, und im Augenblick zahlen die
Worum geht es? Energiekonzerne den Kredit ab. Zu diesem Zeitpunkt sa-
gen wir in der Politik: Wir schätzen die Terrorismusge-
Erstens. Die Zusatzgewinne. Der Emissionshandel fahr neu ein und wollen die ältesten Atomkraftwerke frü-
– erst ab 2012 gibt es eine volle Versteigerung, Herr her stilllegen, weil sie gegen Angriffe aus der Luft nicht
Steffel – war vor zehn Jahren, zu dem Zeitpunkt, an dem richtig zu schützen sind. Dann wird gesagt: Ja, natürlich
der Atomkompromiss geschlossen wurde, noch nicht ak- dürft ihr das machen. Ihr könnt uns anweisen, sie stillzu-
tuell. Daraus sind Zusatzgewinne entstanden, die der legen, aber pro Reaktor und Jahr wollen wir 500 Millio-
Atomwirtschaft nie zugestanden haben; es wurde auch nen Euro von euch an den Fonds gezahlt haben.
nie versprochen, dass sie sie behalten darf. Im Atom-
kompromiss – Sie hätten richtig zitieren sollen, Herr Ein anderer Fall: Die Atomaufsicht sagt: Wir haben
Dr. Nüßlein – steht nämlich nur etwas davon, dass es neue Erkenntnisse über den sicheren Betrieb, sodass wir
keine Zusatzbelastungen geben darf, und nichts vom euch jetzt etwas Neues vorschreiben wollen. Ansonsten
Behalten von Zusatzgewinnen. Dieses Geld gehört nicht legen wir die Anlage still. Dann wird gesagt: Ja, ihr dürft
den Aktionären von Eon oder RWE; es gehört der Ge- sie stilllegen, das kostet euch aber 250 Millionen Euro
sellschaft. So war der Emissionshandel von vornherein pro Jahr.
angelegt. Wir wollen dieses Geld abschöpfen. Wenn die Atomaufsicht nicht mehr unabhängig ar-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitet, sondern vor den finanziellen Konsequenzen ihrer
DIE GRÜNEN) Entscheidungen Angst haben muss, dann haben Sie mit
Ihren Tricks an dieser Stelle nicht nur die Demokratie,
Zweitens, die Altlasten von 10 Milliarden Euro für sondern auch die Sicherheit ausverkauft.
Asse, Morsleben, Karlsruhe und Jülich. In Jülich liegen
aus der Zeit, in der die Atomwirtschaft aktiv war, Altlas- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
ten, von denen wir noch nicht wissen, wie wir sie tech- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nisch anfassen sollen. LINKEN)
Dieses Geld soll nicht die nächste Generation zahlen, Nach mir spricht ja noch Herr Dr. Fuchs, der auch in
sondern dieses Geld sollen im Sinne der Nachhaltigkeit der Energiepolitik immer sehr vehement bei der Sache
diejenigen zahlen, die davon profitiert haben. Auch das ist. Wir haben hier vielleicht die gleichen Emotionen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5621
Ulrich Kelber
(A) Sie haben ja die Chance, hier einmal ein paar Dinge klar- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): (C)
zustellen: Herr Kollege Kelber, Sie haben mehrfach ausgeführt,
dass RWE und andere die größten Eigenkapitalrendi-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er versteht da-
ten haben, die sicherlich zum Teil auf mangelnden Wett-
von auch ein bisschen mehr als Sie!)
bewerb zurückzuführen sind. Darin sind wir uns einig:
Ist das politisch verbunden? Wie viel Prozent der Zu- Wir wollen einen besseren Wettbewerb erreichen.
satzgewinne wollen Sie abschöpfen? – All das können
Die Aussage, dass das die höchsten Renditen sind, ist
Sie heute hier einmal sagen.
aber, glaube ich, nicht ganz korrekt. Wenn ich richtig in-
Was mich aber immer am meisten interessiert, ist die formiert bin – vielleicht können Sie das bestätigen oder
Gleichzeitigkeit in Ihrer Energiepolitik. Es geht gar nicht auch nicht –, dann hat beispielsweise die Solarworld AG
darum, dass im Augenblick gar keine Investitionen getä- in 2008 nicht eine Eigenkapitalrendite, sondern, wenn
tigt werden, weil alle auf ein immer wieder angekündig- ich richtig informiert bin, eine Umsatzrendite – das ist
tes Energiekonzept warten, von dem ja nur eine Sache ein kleiner Unterschied – von annähernd 50 Prozent er-
feststeht, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nämlich zielt, und zwar allein aufgrund von Aktivitäten, die
die Verlängerung der Atomlaufzeit. Was Sie in dieser durch das EEG und andere Dinge politisch verursacht
Woche machen, ist aber doch spannend: Die Brennele- sind.
mentesteuer wird nur eingeführt, wenn wir ihnen durch
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
eine Laufzeitverlängerung das Vierfache schenken, und
die Unterstützung der Solarindustrie wird gekürzt, weil Ist es in der Tat richtig, dass die Solarworld AG bei-
– das wird von CDU/CSU oft mit zittriger Stimme ge- spielsweise Ihnen sechsstellige Spendenbeträge über-
sagt – dort zweistellige Renditen möglich sind. wiesen hat? Dazu muss ich sagen: Das ist dann unerhört.
Gibt es dort Zusammenhänge? Oder können Sie das
Wissen Sie eigentlich, dass RWE und Eon in ihren
nicht bestätigen? Das ist schon spannend.
Unternehmenspublikationen ausweisen, dass dort jedes
Jahr 15 Prozent Rendite erreicht werden und dass diese (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr peinlich!)
beiden Unternehmen zusammen mehr Gewinn machen
als alle anderen börsennotierten deutschen Unternehmen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zusammen, nämlich 200 Euro pro Kopf der deutschen Herr Kelber möchte direkt darauf eingehen.
Bevölkerung? Diese Gewinne fließen dorthin ab – Ge-
winne, die Sie nicht abschöpfen, sondern erhöhen wol-
len, während Sie bei den erneuerbaren Energien reingrät- Ulrich Kelber (SPD):
schen. Ja, darauf muss man schon einzeln eingehen. Zu-
(B) nächst einmal: Ich würde mich freuen, wenn ich in der (D)
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach geh!) Lage wäre, einen Vergleich von RWE und Eon aus 2009
Herr Kauch – ist er noch da? –, Sie hatten ja gesagt, es und entsprechende Zahlen aus 2009 zu nennen. Dann
ist nicht ausgeschlossen, dass die Einnahmen aus der würden Sie nämlich sehen, dass viele der Solarunterneh-
Brennelementesteuer für den Ausbau der erneuerbaren men bereits ins Minus gerutscht sind.
Energien ausgegeben werden. Aber der Haushaltsent- (Zuruf von der FDP: Aber nicht so lange!)
wurf liegt auf dem Tisch: Die Einnahmen aus der Brenn-
elementesteuer sind darin enthalten, aber die Ausgaben Fragen Sie einmal Ihre Kollegen aus Sachsen-Anhalt,
für die erneuerbaren Energien werden in Ihrem Haushalt aus Thüringen und Sachsen. Das ist der erste Punkt.
2011 gekürzt. Das heißt, Sie erzielen Einnahmen, aber Der zweite Punkt ist: Herr Dr. Pfeiffer, ich finde es
kürzen gleichzeitig die Ausgaben für den Ausbau der er- schon spannend, dass Sie a) eine Lüge wiederholen und
neuerbaren Energien. Das ist schwarz-gelbe Energiepoli- sich b) trauen, sich hier hinzustellen. Erstens. Ich als
tik schwarz auf weiß. Person habe keinen Cent Spenden erhalten – Punkt.
(Beifall bei der SPD) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie als Person!)
– Ja, einen Augenblick. Wir kommen gleich dazu.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischen- Zweitens. Sie als Person weisen auf Ihrer Website
frage des Kollegen Dr. Pfeiffer und dann des Kollegen aus, dass Sie – von wem auch immer und für welche Be-
Kauch? ratungsleistung auch immer – persönliche Einnahmen –
also für Ihre Nebentätigkeit – in wer weiß welcher Höhe
Ulrich Kelber (SPD): bekommen haben. Ich denke, Sie sind in diesem Parla-
Aber gerne doch. ment einer der Letzten, der sich auf Kolleginnen und
Kollegen beziehen sollte, die über das gesetzliche Maß
hinausgehend, Herr Hinsken, Spenden an Ortsverbände
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und Kreisverbände veröffentlichen. Das macht kein ein-
Vielleicht lassen wir beide Zwischenfragen nachein- ziger Abgeordneter der CDU/CSU. Ich tue dies als einzi-
ander stellen, und Sie können dann darauf antworten. ger Abgeordneter freiwillig. Das sollten Sie sich viel-
leicht als Beispiel nehmen. Gewöhnen Sie sich an diese
Ulrich Kelber (SPD): Transparenz, dann können wir uns gerne weiter unterhal-
Wenn beide stehen bleiben! – Gerne. ten. Und nennen Sie endlich einmal die Namen der Un-
5622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Ulrich Kelber
(A) ternehmen, für die Sie Beratungsleistungen für Ihre pri- Er hat schon einmal hier behauptet, ich würde die (C)
vate Geldtasche erbringen, Herr Dr. Pfeiffer – vor allem Energiewirtschaft beraten – das hat er gerade wieder-
mit Blick auf Ihre Herkunft aus der Energiewirtschaft. holt –, und darauf hingewiesen, dass ich aus der Energie-
Das finde ich wirklich spannend. wirtschaft komme. Dazu will ich in aller Deutlichkeit sa-
gen, dass ich zwar in der Tat freiberuflich beratend tätig
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bin, aber zu keiner Zeit in der Vergangenheit oder heute
– ich plane es auch nicht für die Zukunft – in irgendeiner
Jetzt liegt noch eine Wortmeldung des Kollegen
Weise beratend oder in sonstiger Art und Weise für die
Kauch vor, den Sie auch angesprochen haben.
Energiewirtschaft tätig bin.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Pfeiffer, habe ich Ihre Wortmeldung als Antrag Jetzt hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungs-
auf eine Kurzintervention zu verstehen, oder ist das punkt der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/
falsch? – Das ist so. Eine Zwischenfrage können Sie CSU-Fraktion das Wort.
jetzt nicht mehr stellen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): der FDP)
Ich möchte kurz auf das eingehen, was der Kollege
Kelber gesagt hat. Ich bin ihm dankbar, dass er das wie- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
derholt hat, was er schon in einer früheren Plenardebatte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
angesprochen hat, ohne dass ich die Möglichkeit hatte, Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kelber,
darauf einzugehen. Ich musste mich belehren lassen, Lesen bildet. Es wäre sinnvoll, sich die Verhaltensre-
dass hier alles gesagt werden kann; man kann nicht dafür geln des Deutschen Bundestages durchzulesen. Darin ist
zur Rechenschaft gezogen werden. das, was Sie gerade gesagt haben, exakt aufgeführt. Der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5623
Dr. Michael Fuchs
(A) Kollege Pfeiffer verhält sich exakt so, wie es im Deut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
schen Bundestag vorgeschrieben ist. Herr Kollege Fuchs, mir liegen mehrere Bitten um
Zwischenfragen vor.
(Ulrich Kelber [SPD]: Ich mache nur einfach
mehr!)
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Man kann ihm schlecht vorwerfen, dass er sich an die Nein, wir haben heute genug gehört.
Vorschriften hält.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ulrich Kelber [SPD]: Sie verhindern Transpa- Danke.
renz! Das ist ja unglaublich!)
Der nächste Punkt: Sie sollten hier auch sagen – das Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
mache ich für Sie –, dass Sie Ihren gesamten Wahl- In der Unionsfraktion gibt es keinen Zweifel daran,
kampf durch Herrn Asbeck und die Firma Solarworld fi- dass die Einführung einer Brennelementesteuer aus-
nanzieren lassen, der Ihre Kreispartei massivst unter- schließlich im Zusammenhang mit einer Laufzeitverlän-
stützt. gerung gesehen werden muss. Durch Ihr Handeln sind
wir dazu gezwungen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Aber kommen wir zur Sache: Ja, wir führen eine
Brennelementesteuer ein. Ja, wir werden auch die Lauf- Darüber hinaus zitiere ich aus unserem Koalitionsver-
zeiten der Kernkraftwerke verlängern. Allerdings zeich- trag. Darin heißt es wörtlich:
net sich eine bürgerliche Koalition im Vergleich zu einer Der wesentliche Teil der zusätzlich generierten Ge-
linken dadurch aus, dass sie den Unternehmen bei ver- winne aus der Laufzeitverlängerung der Kernener-
bindlich getroffenen Vereinbarungen Verlässlichkeit gie soll von der öffentlichen Hand vereinnahmt
bietet. werden. Mit diesen Einnahmen wollen wir auch
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE eine zukunftsfähige und nachhaltige Energieversor-
GRÜNEN]: Bürgerliche Koalition? Das ist ja gung und -nutzung, z. B die Erforschung von Spei-
lächerlich! Sie wissen gar nicht, was der Be- chertechnologien
griff „bürgerlich“ bedeutet!) – damit haben Sie sich nie beschäftigt –
(B) Wirtschaftspolitische Vernunft wird von Bürgern und für erneuerbare Energien, oder stärkere Energieeffi- (D)
der Wirtschaft außerordentlich geschätzt. Deshalb wur- zienz fördern.
den wir gewählt und nicht Sie.
Genau deswegen werden wir das so machen. Ich
In der Ausstiegsvereinbarung vom 14. Juni 2000 weiß, dass es Ihnen schwerfällt, zu begreifen, dass wir
wurde zwischen der Bundesregierung und den Kraft- heute noch nicht aus der Kernenergie aussteigen wollen.
werksbetreibern vereinbart, dass ihnen im Gegenzug zu Ich will Ihnen einfach einige Zahlen nennen. Wissen Sie,
den verkürzten Laufzeiten keine zusätzlichen Belastun- wie viele Stunden ein Jahr hat? 8 760. Kennen Sie die
gen aufgebürdet werden können. Eine Brennelemente- durchschnittliche Wirkungszeit einer Solarzelle in
steuer unabhängig von einer Laufzeitverlängerung ist Deutschland? 940 Stunden. Sie können also 10,7 Pro-
durch Ihr Handeln nicht möglich. zent des Jahres mit Solarstrom abdecken.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ulrich Kelber [SPD]: Aua! Leistung und Ar-
Sie wollen die ganze Vereinbarung killen!) beit sollten Sie auch mal verstehen!)
Sie fordern quasi dazu auf, eine Vereinbarung, die Sie Kennen Sie die Ausnutzungsdauer von Onshorewind-
selbst getroffen haben, zu brechen. Das ist nicht unsere anlagen? 1 560 Stunden. Das sind 17,8 Prozent. Bei Off-
Politik. So etwas tun wir nicht. shoreanlagen sieht es ein bisschen besser aus. Da beträgt
Dass Sie sich von Schröder distanzieren, kann ich sie 3 000 Stunden; das entspricht 34,2 Prozent. Das zeigt
verstehen. ganz deutlich, dass wir bis heute keine Möglichkeit ha-
ben, auf die Grundlasterzeugung durch andere Energien
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das heißt zu setzen. Welche Grundlastversorgung haben wir? Wir
„von Herrn Bundeskanzler“!) haben fossile Energien,
Das haben Sie schon mehrfach gemacht. Dass Sie sich (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
jetzt aber auch noch von Ihrem grünen Fraktionsvorsit- Das ist sehr ideologisch, Herr Kollege!)
zenden distanzieren – denn er hat das Ganze mit unter-
schrieben –, wie Sie es jetzt getan haben, kann ich nicht wir haben in ganz kleinem Maße Biomasse – das liegt
verstehen. Wahrscheinlich ist er nicht anwesend, weil er unter 1 Prozent –, und wir haben Kernkraft. Kernkraft
sich für Sie schämt. deckt momentan 23 Prozent unseres gesamten Strom-
bedarfs, aber 48 Prozent unserer Grundlast. Was pas-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und siert dann, wenn wir die Kernkraftwerke abschalten?
der FDP) Dann bleibt uns nichts anderes übrig – Frau Höhn, das
5624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: konsens, den Sie vorhin zitiert haben. In der Tat steht in (C)
Zur Erwiderung, Herr Fuchs. diesem Vertrag zwischen den Betreibern und der damali-
gen rot-grünen Bundesregierung, dass keine einseitig
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): diskriminierenden Maßnahmen getroffen werden sollen,
Herr Kollege, man sollte vielleicht das Parteienfinan- wozu auch Steuern gehören, die die Atomkraft einseitig
zierungsgesetz kennen, wenn man in diesem Hohen belasten.
Hause arbeiten darf. Wie wir heute mehrfach gehört haben – auch Sie ha-
(Ulrich Kelber [SPD]: So ist es!) ben es gehört, Herr Dr. Fuchs –, stehen wir inzwischen
vor neuen Fakten. Mittlerweile sieht die Situation so aus,
Ich halte das schon für notwendig. Sie sind nämlich ver- dass die Atomwirtschaft seit dem Emissionshandel de
öffentlichungspflichtig. Wenn ein Kreisverband eine facto einseitig privilegiert ist. Wenn man denn wollte,
Spende über 10 000 Euro erhält, muss das veröffentlicht könnte die Argumentation also wie folgt lauten: Dieses
werden. einseitige Privileg wird aufgehoben.
(Ulrich Kelber [SPD]: Nein! Was Sie sagen, ist Mir geht es in meiner Kurzintervention aber um etwas
falsch!) anderes. Sie haben sich hier der Klage der Atomwirt-
– Bitte schön, das können Sie beim Bundestagspräsiden- schaft angeschlossen und gesagt, das sei in der Tat unge-
ten nachschauen. recht; wir würden mit unseren Anträgen jetzt den Vertrag
brechen, den wir damals selbst unterschrieben hätten.
(Ulrich Kelber [SPD]: Mit zwei Jahren Ver-
spätung in der Sammelübersicht!) Herr Dr. Fuchs, ist Ihnen bekannt, womit dieser Ver-
trag beginnt? In seiner Einleitung steht der Satz:
Das ist veröffentlichungspflichtig.
An meinen Kreisverband hat es nicht eine Spende Beide Seiten werden ihren Teil dazu beitragen, dass
über 10 000 Euro gegeben. der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt
wird.
Bitte sagen Sie uns dann auch – wir können es auch
nachschauen –, wie viele Spenden Sie von Solarworld Stimmen Sie mit mir überein, dass die Atomwirtschaft
bekommen haben. diesen Vertrag nicht einhält?
(Ulrich Kelber [SPD]: Das steht auf der Web-
seite!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Fuchs zur Erwiderung.
(B) Das würde Ehrlichkeit bedeuten. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Ulrich Kelber [SPD]: Herr Fuchs, Sie sagen Wir bringen in unserem Koalitionsvertrag klar zum
die Unwahrheit, und Sie wissen es!) Ausdruck – ich habe eben daraus zitiert –, dass wir die
Laufzeiten verlängern wollen. Das ist eine politische
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Entscheidung der christlich-liberalen Koalition. Dazu
Zwar könnte ich Auskunft geben, weil ich darüber gut stehen wir auch.
Bescheid weiß. Ich bin aber gehalten, mich hier neutral
zu verhalten, Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass nach dem
von Ihnen ausgehandelten Vertrag zum sogenannten
(Ulrich Kelber [SPD]: Nach zwei Jahren in der Atomkonsens die von Ihnen angestrebte Behandlung
Sammelübersicht der Bundespartei! Das ist eben nicht möglich ist. Das ist eine technische Frage;
der Unterschied!) man bricht diesen Vertrag ja nicht. Die Verlängerung der
keine Meinung zu äußern und auch keine Fachaufklä- Laufzeiten ist eine politische Entscheidung der christ-
rung zu leisten. Alle Spenden eines Spenders müssen lich-liberalen Koalition. Also können wir mit den Atom-
aber – unabhängig davon, an wie viele Untergliederun- kraftwerksbetreibern durchaus einen neuen Vertrag ver-
gen einer Parteien sie gehen – öffentlich berichtet wer- einbaren; schließlich tun wir damit nichts Schädigendes –
den. anders als Sie damals.
(Ulrich Kelber [SPD]: Als Sammelübersicht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Nein, sie müssen im Rechenschaftsbericht öffentlich NEN]: Glückwunsch zur Logik!)
berichtet werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt kommt eine weitere Kurzintervention der Kolle- Ich schließe die Aussprache.
gin Kotting-Uhl. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2410 und 17/2425 an die in der Ta-
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Herr Dr. Fuchs, bei meiner Kurzintervention geht es Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
nicht um Spenden, sondern um den Vertrag zum Atom- sind die Überweisungen so beschlossen.
5626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Gesundheitspolitik ohne Perspektive Alle reden von den Erfordernissen aufgrund des de-
mografischen Wandels bzw. der älter werdenden Gesell-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin schaft und vom rasanten medizinischen Fortschritt. Wie
Martina Bunge für die Fraktion Die Linke. eine Monstranz trägt man das vor sich her. Aber sind wir
wirklich darauf eingestellt? Wir sagen Nein.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Ein Blick in Ihr lange ausgebrütetes Konzept bestätigt
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! dies: kein Wort zu Strukturveränderungen. Vielmehr:
Ja, wir haben beantragt, heute eine zweite Aktuelle Der Wettbewerb soll es richten. Ausgaben werden dabei
Stunde in dieser Sitzungswoche zur Gesundheitspolitik pauschal gekürzt.
durchzuführen. Während wir uns gestern über den zu- Nehmen wir nur das Beispiel der Krankenhäuser: Der
tiefst unsozialen Charakter des Konzepts von Ihnen, Ausgabendeckel wird gesenkt – die Ausgaben dürfen
Herr Minister Rösler, und der Kolleginnen und Kollegen maximal in Höhe der halben Steigerung der Grundlohn-
der Koalition ausgetauscht haben, hat die Linke für summe wachsen –, und für Mehrleistungen ist ein Effi-
heute eine Aktuelle Stunde beantragt, die zeigen soll, zienzabschlag von 30 Prozent zu zahlen. Meinen Sie
dass Ihr Konzept, dass Ihre Politik ohne Perspektive ist. denn, die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht aus
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Jux und Dollerei von einem Sanierungsdefizit in Höhe
neten der SPD) von 50 Milliarden Euro? Meinen Sie, Verdi fordert aus
Jux und Dollerei: „Weg mit dem Deckel!“?
Sie bieten für die Zukunft keine brauchbaren Antworten.
Die Finanzlöcher in den Krankenhäusern werden zu-
Mit Beitragssatzerhöhungen und Zusatzbeiträgen mu- lasten der dort Beschäftigten gestopft. Immer unerträgli-
ten Sie den gesetzlich Versicherten mit 10,2 Prozent, chere Arbeitszeiten, enorme Arbeitszeitverdichtungen,
8,2 plus 2 Prozent, den höchsten Beitragssatz aller Zei- physische und psychische Belastungen von Ärztinnen
ten zu; den müssen schon bald alle schultern. Heute und Ärzten, Schwestern und Pflegern sind die Realität.
Morgen gab es ja die ersten Meldungen, dass das Defizit Letztlich wirkt sich dies auch auf die Versorgung der Pa-
2011 laut Rechnungen des Bundesgesundheitsministeri- tientinnen und Patienten aus. Technik und Pillen allein
ums gedeckt sein könnte, dass aber schon Milliardende- heilen nicht. Zum Heilungsprozess gehören auch ein
fizite für 2012, 2013 und 2014 – wir reden über 4 bis aufmunterndes Lächeln und ein gutes Wort. Doch wo
10 Milliarden Euro – absehbar sind. Das allein sollen die gibt es das bei allem Engagement der Beschäftigten
Versicherten schultern, und insbesondere Menschen mit – das will ich nicht in Abrede stellen – noch?
den kleinsten Einkommen, also Geringverdiener, Ar- (Beifall bei der LINKEN)
beitslose, Rentnerinnen und Rentner sowie Studierende,
überproportional, während die Arbeitgeber und Bestver- Wir brauchen endlich konsequente Schritte, um den
dienenden außen vor bleiben? Das alles ist zutiefst unso- medizinischen Bedarf in den Regionen unseres Landes
zial. konkret zu ermitteln und dabei auch schier unüberwind-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5637
Dr. Martina Bunge
(A) bare Sektorengrenzen zu überdenken. Man muss ent- (Heinz Lanfermann [FDP]: Bis sie es verste- (C)
scheiden: Wo wird die Behandlung am besten gemacht? hen!)
Wo können sich Krankenhaus und ambulant Tätige ge-
meinsam engagieren? Neue Versorgungsformen wie das Wir haben ein faires Paket geschnürt, das in seiner Kom-
erfolgreiche Modell AGnES brauchen eine echte bination sowohl kurzfristig die Herausforderungen an-
Chance. Dann könnten auch unter Bundesbeteiligung In- geht als auch strukturell für die Zukunft eine Perspektive
vestitionsmittel in die Hand genommen und ein zielge- beinhaltet.
richteter Ausbau der Infrastruktur gewährleistet werden. Erstens. Angesichts eines Defizites von über
Dann könnten Krankenkassenbeiträge für medizinische 10 Milliarden Euro – das größte Defizit in der Ge-
Leistungen und Beschäftigte in ausreichendem Maße schichte der gesetzlichen Krankenversicherung – müs-
dorthin fließen, wo die Behandlung effizient stattfindet. sen wir es schaffen, die Ausgabenzuwächse im nächsten
Dann würde Arbeit im Gesundheitsbereich endlich wie- Jahr zu begrenzen. Da geht es etwa um Bereiche wie die
der attraktiv. Versorgung durch Niedergelassene, die Krankenhäuser
Machen Sie mit der Bürgerinnen- und Bürgerver- und die Verwaltungskosten der Krankenkassen.
sicherung das Gesundheitssystem zukunftsfest! Lassen Es ist schon spannend, immer wieder zu hören – ich
Sie von Ihrer verkappten Kopfpauschale die Finger! ahne es, Sie werden es gleich wieder sagen, Herr Kol-
Danke schön. lege Lauterbach; auch gestern klang das schon an –, all
das sei viel zu wenig.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Bärbel Bas [SPD]: Wo er recht hat, hat er
recht!)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich will Ihnen sagen – Frau Kollegin Bunge hat darauf
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak- schon hingewiesen –, was das für die Beschäftigten in
tion. den Krankenhäusern bedeutet: für die vielen Pflege-
kräfte, die Ärzte und die vielen Beschäftigten in den nie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dergelassenen Praxen. Wir haben auch Gespräche mit
den Betriebsräten der Pharmaunternehmen geführt. Na-
Jens Spahn (CDU/CSU): türlich wollen wir die Kostensteigerungen der nächsten
Herr Präsident, Sie sagen zu Recht zu mir: Sie habe Jahre begrenzen. Natürlich müssen wir die großen Aus-
ich doch schon gestern gehört. Das ist richtig. gabenblöcke in den Blick nehmen. Wenn wir angesichts
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Morgen noch von Hunderten Milliarden Euro bis zu 4 Milliarden Euro
(B)
einmal!) einsparen wollen, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen (D)
von der Opposition, aber sagen, das seien nur Kleckerbe-
Das macht deutlich, dass es der Opposition offensicht- träge, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der betroffenen
lich nicht gelungen ist, sich darauf zu einigen, wie sie Menschen, die sich Sorgen machen. Deswegen sollten
denn mit diesem Thema in dieser Woche umgehen will. Sie genau aufpassen, wie Sie sich an dieser Stelle einlas-
(Zurufe von Abgeordneten der LINKEN) sen.
Sie können uns gerne ob der einen oder anderen Debatte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kritisieren, die wir in der Koalition führen. Aber wir füh- Normalerweise fordern Sie immer abstrakt das Spa-
ren die Debatten wenigstens in der Sache und ringen um ren ein. Abstrakt Sparen zu fordern, ist immer einfach.
die beste Lösung für die Gesundheitsversorgung der Aber wenn es dann konkret wird, wird es schwieriger.
Menschen. Sie sind in den letzten Wochen einmal konkret gewor-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der den. Sie haben gesagt, wir sollen den Rabatt der Pharma-
LINKEN) industrie auf Arzneimittel um 10 Prozentpunkte erhö-
hen. Wir haben vor zwei Wochen hier im Deutschen
Aber weil sich Linke und SPD nach der Zerlegung bei Bundestag mit dem GKV-Änderungsgesetz die Erhö-
der Bundespräsidentenwahl nicht einigen können und hung des Zwangsrabattes auf Arzneimittel für die ge-
sich vollends auf die Taktiererei nach dem Motto verlegt setzliche Krankenversicherung durch die Pharmaindus-
haben: „Und täglich grüßt das Murmeltier“, gab es ges- trie um 10 Prozentpunkte beschlossen. Die einzige
tern eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema und heute Fraktion, die dagegengestimmt hat, war die SPD-Frak-
wieder eine. tion.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!)
NEN]: Freuen Sie sich doch!)
Das soll mir doch einmal jemand erklären: Sie stellen
Das ist das eigentliche Armutszeugnis dieser ganzen sich hierhin, schreien fortwährend, man solle sparen,
Veranstaltung. wenn aber dann gespart wird, dann stimmen Sie dage-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen. Das ist doch nicht mehr zu verstehen, Herr Kollege
Lauterbach. Das macht das Ganze nur noch alberner.
Das gibt uns andersherum die Gelegenheit, noch ein-
mal deutlich zu machen, warum der Kompromiss der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
Koalition gelungen ist. ruf von der SPD: Zuhören!)
5638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Jens Spahn
(A) Zweitens. Neben der Frage der Zuwachsbegrenzung Innovationen, und zwar für jedermann – unabhängig (C)
im nächsten Jahr ist die Rückkehr zum alten Beitragssatz vom Alter und Einkommen. Damit das in einer älter
der gesetzlichen Krankenversicherung von 15,5 Prozent werdenden Gesellschaft und bei medizinischem Fort-
ein weiterer Punkt. Diesen Beitragssatz haben wir zum schritt, etwa bei der Krebsdiagnose und -therapie, mög-
1. Januar 2009 in der Großen Koalition gemeinsam be- lich ist, braucht man eine breitere Finanzierungsgrund-
schlossen. In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir lage.
den Satz Mitte 2009 auf 14,9 Prozent gesenkt, um An-
reize zu setzen, Arbeitsplätze zu erhalten und zusätzliche Es ist es übrigens wert, in einer Koalition ein paar
zu schaffen. Jetzt, zum Ende der Krise – die Zahl der Ar- Wochen und Monate darum in der Sache zu ringen,
beitslosen sinkt bemerkenswert stark, die Wirtschaft er- wenn am Ende ein gutes Ergebnis dabei herauskommt.
holt sich gut –, kehren wir zu diesem alten Beitragssatz (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Neun Mo-
zurück. Entgegen dem, was an der einen oder anderen nate!)
Stelle behauptet wird, ist es im Übrigen auch völlig in
Ordnung, dass auch die Arbeitgeber mit in der Verant- Genau das wollen wir in den nächsten Wochen und Mo-
wortung sind und zusätzlich zahlen müssen. naten umsetzen. Es wäre schön, wenn Sie sich einmal
konstruktiv und nicht nur durch Geschrei in Aktuellen
Zum Dritten werden wir – das ist die Perspektive für Stunden beteiligen würden.
die Zukunft – den Zusatzbeitrag, den wir übrigens
– auch das will ich Ihnen einmal sagen – in der Großen Danke schön.
Koalition zusammen beschlossen und eingeführt haben –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
SPD und Union haben diesen Zusatzbeitrag gemeinsam
Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Keine
beschlossen;
Hoffnung!)
(Mechthild Rawert [SPD]: Gedeckelt!)
ich weiß, dass Sie diesbezüglich eine politische Demenz Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
haben, das haben wir ja gestern schon hinreichend ge- Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-
hört –, so weiterentwickeln, dass das, was damit be- tion.
zweckt ist, auch erreicht wird
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schwarz-
gelbes Chaos!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir müssen uns daran erinnern, was hier von
und dass wir zu gerechteren Verhältnissen als bisher Minister Rösler und auch von der Koalition versprochen
(B) kommen. Wir werden nämlich den sozialen Ausgleich (D)
wurde. Es sollte eine Reform aus einem Guss werden:
aus Steuermitteln vornehmen, das heißt, wir werden den keine Flickschusterei, keine Beitragssatzerhöhung. Die
sozialen Ausgleich auf mehr und breitere Schultern ver- solidarische Absicherung sollte ein Stück weit geschützt
teilen. Nicht mehr nur die 28 Millionen abhängig Be- werden, und die 1-Prozent-Regel – so wurde damals be-
schäftigten und ihre Arbeitgeber, die in die gesetzliche hauptet – sollte auch nicht wegfallen. Es sollte eine
Krankenversicherung einzahlen, sondern auch alle ande- nachhaltige Reform werden. Echte Strukturreformen
ren Steuerpflichtigen – die Bezieher aller Einkommens- wurden angekündigt. Das ist also das, was damals ange-
arten, die Privatversicherten und auch die Bezieher von kündigt wurde.
Einkommen über der Bemessungsgrenze – finanzieren
den Sozialausgleich. Das ist am Ende gerechter und Wenn Sie eine solche Reform gemacht hätten, dann
sollte doch gerade die Sozialdemokratische Partei hätten Sie tatsächlich unsere Zustimmung verlangen und
Deutschlands freuen. erwarten können. Was haben Sie stattdessen vorgelegt?
Was liegt heute vor? Seien wir doch ehrlich!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Elke Ferner [SPD]: Murks!)
Am Ende steht das Ziel – um das geht es im Kern –,
eine flächendeckende Versorgung zu erhalten. Ich Es liegt eine Beitragssatzerhöhung vor, aber überhaupt
komme aus dem Münsterland, also einer ländlichen Re- keine Strukturreform; es gibt ein paar unsystematische
gion. Es geht nicht nur um Spitzenmedizin in München, und im Wesentlichen nicht besonders wirksame Sparvor-
Düsseldorf oder Berlin. Der Zugang zu medizinischer schläge, die Kopfpauschale wurde „durch die Hintertür“
Innovation ist ein hohes Gut. Wir haben eines der weni- eingeführt – hier ist Herr Seehofer, das sage ich einmal
gen Gesundheitssysteme auf der Welt, innerhalb dessen ganz offen, relativ erbärmlich eingeknickt –,
medizinische Innovationen und neue Arzneimittel für (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie verstehen es
die gesetzlich Versicherten direkt verfügbar und zugäng- nicht!)
lich sind. Vor allem sind sie für jeden in Deutschland zu-
gänglich. Was nützt Ihnen eine Spitzenmedizin, wenn und es gibt einen Sozialausgleich mit Alibifunktion. Das
wie zum Beispiel in den USA noch immer bis zu ist das, was vorliegt. Daher ist diese Reform aus meiner
40 Millionen Menschen ohne Versicherung und Gesund- Sicht auf der ganzen Linie gescheitert.
heitsschutz sind?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Diese drei Ziele wollen wir erreichen: eine flächende- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ckende Versorgung, einen weiterhin direkten Zugang zu LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5639
Dr. Karl Lauterbach
(A) Minister Rösler hat damals sinngemäß gesagt – ich Die Wahrheit ist doch, dass wir Überschüsse hatten. (C)
muss sagen, das fand ich beeindruckend, weil das eine Keine einzige Krankenkasse hatte einen Zusatzbeitrag
außergewöhnliche Ankündigung war –: Wenn die Re- erhoben. Das wissen Sie selbst doch ganz genau. Wir
form misslingt, dann will mich niemand mehr als Minis- hatten einen ausgeglichenen Haushalt. Jetzt kann man
ter haben. – Ich kann nur sagen: Dieser Fall ist jetzt ein- unterschiedlicher Meinung sein, wie viel davon – –
getreten; jetzt ist es so weit. Das ist jetzt sozusagen der
(Heinz Lanfermann [FDP]: Kennen Sie den
Zeitpunkt dafür, den zweiten Schuh fallen zu lassen. Es
Schätzerkreis? – Ulrike Flach [FDP]: Das ist
ist so weit. Die Reform ist misslungen, und daher will
aber eine Geschichtsklitterung! Schämen Sie
der Bürger Sie als Minister, ehrlich gesagt, auch nicht
sich!)
mehr haben.
– Die KV-45-Tafel ist keine Schätzung, sondern das wa-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus
ren die Zahlen bei der damaligen Übergabe, das war der
Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –
Bestand. Das ist die Bilanz, Herr Lanfermann. Die Bi-
Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist
lanz war damals positiv mit 1,4 Milliarden Euro.
das hier Ihre Fernsehshow?)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz
– Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind ja gar nicht zu
Lanfermann [FDP]: Das Defizit kommt vom
sehen, Herr Kollege.
Schätzerkreis!)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber Sie sagen, wir hätten Ihnen 10 Milliarden Euro an
Zu Ihnen gibt es keinen Kommentar. Sie sind nicht zu Schulden überlassen. Das ist schlicht und ergreifend eine
sehen, von daher gibt es auch keine Kritik. Lüge, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
sind Ihre Schulden.
(Zuruf von Hartwig Fischer [Göttingen]
[CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]:
Das sagen nicht wir, das sagt der Schätzer-
Wäre diese Beitragssatzerhöhung vermeidbar gewe- kreis!)
sen? Natürlich wäre die Beitragssatzerhöhung vermeid-
bar gewesen. Seit neun Monaten haben wir keinerlei – Das ist keine Schätzung, verstehen Sie.
Sparbemühungen gesehen. Wir haben auch kein Vor- (Ulrike Flach [FDP]: Natürlich! Was denn
schaltgesetz gesehen. Wir haben damals unter dem sonst!)
Druck drohender Beitragssatzerhöhungen immer Vor-
schaltgesetze gemacht. Jetzt steigen die Kosten im Ich wiederhole ja nur, was Herr Spahn sagt.
(B) Pharmabereich, im Krankenhausbereich und bei den nie- (Heinz Lanfermann [FDP]: Das Defizit von 2011 (D)
dergelassenen Ärzten um 6 Prozent; und jetzt kommt die stammt vom Schätzerkreis!)
Beitragssatzerhöhung. Da sagen Herr Spahn und andere,
wir hätten Sie mit den Schulden belastet. Das ist schlicht – Nein, ich muss es Ihnen erläutern. Es geht nicht um
und ergreifend eine Lüge. den Schätzerkreis. Herr Spahn sagt, wir hätten Ihnen ein
Defizit von 10 Milliarden Euro hinterlassen. Ich sage:
(Beifall bei der SPD) Das ist schlicht eine Lüge.
Als wir damals das Ministerium an Herrn Rösler (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist für 2011 zu
übergeben haben erwarten! – Gegenruf von Elke Ferner [SPD]:
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer ist wir? Das Wie können wir denn für 2011 etwas hinterlas-
deutsche Volk!) sen?)
– nein, die Große Koalition; unter anderem wir beide –, Das hat nichts mit dem Schätzerkreis zu tun: Hören Sie
genau zu, was ich sage!
(Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der
SPD und der LINKEN) Was ist passiert? Ich bringe es auf den Punkt: Wir ha-
ben hier keine Strukturreform, wir haben die Kopfpau-
als die Große Koalition das Ministerium übergeben hat, schale durch die Hintertür. Die Kopfpauschale wird die
hatten wir in der KV-45-Tabelle Bezieher mittlerer und geringer Einkommen besonders
belasten. Die kleinen Leute werden belastet. Kapitaleig-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Ich wusste gar nicht,
ner, Gutverdiener, Privatversicherte, diejenigen, die
dass Sie dabei waren, Herr Spahn!)
oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen, werden
– Herr Lanfermann, das wäre auch für Sie ganz interes- geschont. Die Arbeitgeber sollen demnächst nicht mehr
sant – einen Überschuss von 1,4 Milliarden Euro. Jetzt mitbezahlen. Nur die kleinen Selbstständigen, nur die
schwadronieren Sie von einem Defizit von 10 Milliarden kleinen Arbeitnehmer müssen bezahlen.
Euro und verbreiten die Legende, um nicht zu sagen, die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Lüge, wir hätten Sie mit einem Schuldenhaushalt von
10 Milliarden Euro belastet. Das stimmt doch gar nicht! Sie quetschen die Menschen aus, die von ihrer Hände
Arbeit leben müssen. Dafür werden Sie abgewählt. Sie
(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann
stehen jetzt bei 4 Prozent.
[FDP]: Was haben Sie denn gegen den Schät-
zerkreis?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
5640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Kommen wir zur Sache: Die Menschen werden im (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Schnitt immer älter. Das müssen wir immer wieder ver- CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das
breiten. Der medizinische Fortschritt ist eine erfreuliche glauben Sie doch selbst nicht!)
Tatsache. Die altersbedingten Krankheiten werden stark Wenn die Leistungserbringer ihren Teil zur Reform
zunehmen. beitragen, müssen selbstverständlich auch die Leistungs-
Dazu im Einzelnen ganz konkret: Die Zahl der zu er- empfänger herangezogen werden. Das ist genauso fair
(B) (D)
wartenden Herzinfarkte steigt bis zum Jahr 2050 um wie einleuchtend.
75 Prozent. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht gleich dop-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pelt!)
NEN]: Wenn Sie an der Regierung bleiben, be-
stimmt!) Deshalb wird der allgemeine Beitragssatz auf das Vor-
Wirtschaftskrisenniveau von 15,5 Prozent angepasst.
Bei Schlaganfällen gibt es ein zu erwartendes Plus von Damit nehmen wir die im Zuge der Konjunkturkrise mit
62 Prozent, und die Zahl der Demenzpatienten wird sich Steuermitteln, also auf Pump, finanzierte Absenkung der
bis zum Jahr 2050 verdoppelt haben. An dieser Tatsache Beiträge wieder zurück. Denn die Zeit der ungebremsten
kommen wir leider nicht vorbei. Sogar ein Schulkind Verschuldung ist endgültig vorbei.
kann sich ausrechnen: mehr alte Menschen, mehr Krank-
heiten, die erst bei alten Menschen auftreten, mehr Mög- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
lichkeiten, die Krankheiten erfolgreich zu therapieren. der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜND-
All das kostet Geld, und zwar mehr als das, was uns bis NIS 90/DIE GRÜNEN]: Rekordverschul-
dato zur Verfügung steht. dung!)
Wir sagen den Menschen hier ganz ehrlich: Ja, wir Mit der Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge kom-
brauchen mehr Geld für die Gesundheit. Ja, die Men- men wir endlich weg von der beschäftigungsfeindlichen
schen werden deshalb in Zukunft mehr bezahlen müssen Koppelung der Krankheitskosten an die Einkommen der
als in der Vergangenheit. Ja, es wird auf absehbare Zeit Arbeitnehmer. Wir haben doch erlebt, dass sich jede
nicht billiger, sondern eher teuerer. Aber dafür werden Konjunkturschwankung direkt auf die Gesundheitskas-
wir auch weiterhin das beste und weltweit anerkannteste sen auswirkt. Das können wir nicht weiter hinnehmen.
Gesundheitssystem behalten, und das ist gut so. Die Kassen erhalten nun die Möglichkeit, einkom-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mensunabhängige, individuelle Zusatzbeiträge festzule-
der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜND- gen.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen wir (Zuruf von der LINKEN: Das ist unsozial!)
aber die Finanzierung gerechter machen!)
Die Kassen erhalten damit mehr Beitragsautonomie;
Die Alternative dazu wäre Rationierung. Ich hoffe, wir denn die Zusatzbeiträge landen direkt bei der Kranken-
sind uns darüber einig, dass wir das nicht wollen. kasse und werden nicht über den Gesundheitsfonds ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5641
Christine Aschenberg-Dugnus
(A) schleust. Auch das war uns sehr wichtig. Damit schaffen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
wir den dringend notwendigen Wettbewerb zwischen Das Wort hat nun Kollegin Maria Klein-Schmeink für
den Krankenkassen. die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Unterschiedliche Prämien bieten nämlich Anreize für
Kassen und Patienten. Der Patient kann also die völlig Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
transparenten Preise und Leistungen der Kassen verglei- gen! Wie immer bekomme ich die besonderen Stich-
chen. Man darf den Menschen ruhig zutrauen, dass sie worte von den Vorrednerinnen und Vorrednern der FDP.
unterschiedliche Preisniveaus bewerten können. Das war auch dieses Mal der Fall. Wenn hier von Plan-
wirtschaft gesprochen wird, dann muss man doch der
(Ulrike Flach [FDP]: Das ist wohl wahr!) FDP ganz klar vorwerfen: Sie sind marktradikale An-
Ich zitiere Herrn Böll auf Spiegel Online vom gestri- hänger einer Theorie, die die Steuerung der gesundheitli-
gen Tage: chen Versorgung dem Wettbewerb überlassen will.
Wer wegen einer 5-Cent-Ersparnis beim Joghurt (Ulrike Flach [FDP]: Das glauben Sie nicht
fünf Kilometer fährt, dürfte auf solche Preissignale wirklich!)
bei den Zusatzbeiträgen ebenfalls reagieren. Das werden wir jedenfalls nicht mitmachen, und das
Recht hat der Mann! wird auch der Großteil der Bevölkerung nicht mitma-
chen. Seien Sie sich dessen sicher!
(Mechthild Rawert [SPD]: Das machen nur die
Leute mit geringerem Einkommen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Außerdem führen wir weitere strukturelle Änderun- LINKEN)
gen im System durch: eine Honorarreform für den ambu-
lanten Bereich mit klar erkennbaren Preisen, Auswei- Sie haben sich sehr viel Mühe gegeben, meine Vor-
tung der Kostenerstattung und die Reform der Selbst- redner und Vorrednerinnen von den Regierungsparteien,
verwaltungsorgane. Außerdem werden wir eine Präven- deutlich zu machen, es handle sich hier um ein faires Pa-
tionsstrategie entwickeln und die Gesundheits- und Ver- ket. Was fair daran sein soll, dass sämtliche Kostenstei-
sorgungsforschung ausbauen. Der Vorwurf der Opposi- gerungen in der Zukunft allein von den Versicherten auf-
tion entbehrt daher jeder Grundlage, Frau Bunge und gefangen werden müssen – einmal über die Beiträge,
(B) Herr Lauterbach. zum anderen über die Zusatzbeiträge –, müssen Sie uns (D)
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das werden Sie und der Bevölkerung einmal erklären. Ich glaube, das
sehen! Keine Sorge!) wird Ihnen nicht gelingen.
Wir stellen sicher, dass die Zusatzbeiträge direkt an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
die Kassen gehen und dass diejenigen, die davon über- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
fordert werden, einen Ausgleich erhalten. Sie sehen also: LINKEN – Christine Aschenberg-Dugnus
Wettbewerb und soziale Verantwortung gehen bei uns [FDP]: Nicht zugehört!)
Hand in Hand. Wenn Sie in die Presse schauen, können Sie feststellen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass keiner der Autoren Ihre Argumentation auch nur in
der CDU/CSU) Ansätzen nachvollzogen hat.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Da le-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sen Sie die falschen Zeitungen!)
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Alle sagen rundweg – Sie können sich den Presse-
spiegel anschauen –: Es handelt sich um einen faulen
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Kompromiss. – Es ist völlig klar: Die Zuwächse werden
Ich komme zum Ende. – Mit den von uns eingeleite- von den Patienten und von den Versicherten zu zahlen
ten Maßnahmen zur Reduzierung der Ausgaben und Sta- sein.
bilisierung der Einnahmen haben wir ein sehr wirksames
Mittel gefunden, der bisherigen Planwirtschaft im Ge- Das heutige Thema sind aber die Perspektiven der
sundheitswesen ein Ende zu bereiten. Gesundheitspolitik. Da stellt sich die Frage, welche Per-
spektiven eigentlich aufscheinen. Haben Sie uns über-
Herzlichen Dank.
haupt Perspektiven aufgezeigt? Als Erstes haben Sie es
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gerade einmal geschafft, das kommende Defizit in den
der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD Griff zu bekommen. Darauf sind Sie stolz wie Oskar. Ich
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – verstehe diesen Stolz nicht. Sie hätten dieses Defizit
Mechthild Rawert [SPD]: Planwirtschaft hat gleich zu Beginn dieses Jahres durch einen Federstrich
wenigstens noch einen Plan! – Heinz vermeiden können. Das wäre im Haushaltsgesetz leicht
Lanfermann [FDP]: Man kann ja auch sachlich möglich gewesen. Sie hätten sich dieses ganze Theater
reden, wie es gerade gemacht wurde!) sparen können. Es ist überhaupt kein Stolz angebracht.
5642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Harald Weinberg (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (C)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Ihr Problem ist: Sie wollen einen kompletten System-
Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Prozess des
wechsel – zumindest die eine Seite der Koalition –, aber
vorliegenden Reformwerkes, die verschiedenen Stufen
gleichzeitig soll es so aussehen, als bliebe alles beim Al-
und die verschiedenen Ideen, die uns dargelegt wurden,
ten. Was dabei herauskommt, ist unsozialer Murks.
zeigen uns im Wesentlichen eines: Die Bundesregierung
– darin vor allem die FDP – hat keinen Plan. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN)
GRÜNEN)
Im Übrigen geht es mit dem Chaos – das Sie uns vor- Herr Rösler, Sie meinen, Sie hätten eine nachhaltige
werfen wollen – weiter. Es gab eine Pressemeldung, in und soziale Finanzierung geschaffen. Ihr Modell läuft
der zu lesen war, dass die CSU am unbürokratischen darauf hinaus, dass in wenigen Jahren die Zusatzbeiträge
Sozialausgleich zweifelt. Ihr Gesundheitsexperte bis zur Belastungsgrenze von 2 Prozent des Einkom-
Straubinger führt aus: „Ich kann nicht erkennen, wie das mens steigen werden, zuerst bei den armen Versicherten,
umgesetzt werden soll.“ So geht das mit dem Chaos in später bei allen, zuerst bei klammen Kassen, später bei
dieser Regierung ein Stück weiter. allen Kassen. Was passiert denn dann, nachdem Sie allen
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir diskutieren we- eine 2-prozentige Einkommenskürzung verpasst haben?
nigstens in der Sache!) Dann verwandelt sich Ihr sogenannter Sozialausgleich
automatisch in ein Instrument, das alle weiteren Kosten-
„Wichtig ist, was hinten rauskommt“, sagte Helmut steigerungen aus Steuern finanziert. Ein steuerfinanzier-
Kohl. Seiner politischen Erbin hingegen, der jetzigen tes Gesundheitssystem? Ist das das liberale Idealbild?
Kanzlerin, scheint es egal zu sein, was das Ergebnis für
die Versicherten, die Patientinnen und Patienten sowie Ihren Vorschlägen ist eines gemein: Am Ende zahlen
für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bedeutet. die Versicherten. Wie schon die Vorgängerregierungen
Hinten rauskommen soll vor allem eines: der Koalitions- laden Sie fast alle Kostensteigerungen bei den Versicher-
frieden. ten und bei den Kranken ab. Als Feigenblatt haben Sie
sich überlegt, den Arbeitgeberbeitrag zunächst um
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Hauptsache für 0,3 Prozent zu erhöhen, dann aber für alle Zeiten festzu-
die Bundesregierung! Genau!) schreiben. Das heißt, über kurz oder lang haben die Ver-
Liebe Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, raten sicherten eine zusätzliche Belastung von 2,3 Prozent. Sie
Sie mal, wer das zahlen darf. belasten die Versicherten in unserem Land fast achtmal
stärker als die Arbeitgeber. Ich frage Sie: Ist das sozial
(B) (Beifall bei der LINKEN) (D)
gerecht? Ist es sozial gerecht, dass die Versicherten oh-
Die Menschen in diesem Land wissen genau, dass die nehin schon 0,9 Prozent mehr Beiträge zahlen als die Ar-
Koalition auf ihre Kosten gerettet werden soll. Herr beitgeber? Dazu kommen die Praxisgebühr, Zuzahlun-
Rösler wird zwar nicht müde, zu behaupten, der Einstieg gen, wirtschaftliche Aufzahlungen und Leistungen, die
in eine dauerhaft solide Finanzierung sei geschafft. Das nicht mehr von der Krankenkasse übernommen werden.
glauben ihm nach einer Umfrage auf tagesschau.de, an Das ist weder sozial noch gerecht, und das wissen alle
der sich schon 15 000 Bürgerinnen und Bürger beteiligt Menschen draußen im Land.
haben, gerade mal 2,4 Prozent. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Es gibt noch zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
viele FDP-Wähler! – Zurufe von Abgeordne- Noch eine Bemerkung zum Mythos Lohnnebenkos-
ten der CDU/CSU und der FDP: Oh!) ten, der auch hier wieder bemüht worden ist: Die Export-
Damit glauben ihm das noch nicht einmal die 4 Prozent industrie hat diese Koalition offensichtlich vor den Kar-
verbliebenen FDP-Anhänger. ren gespannt. Sie kämpfen bei den Lohnnebenkosten
merkwürdigerweise um jeden Cent Entlastung, wohlge-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- merkt als höchstes Ziel der Gesundheitspolitik. Mit Hän-
neten der SPD) den und Füßen wehren Sie sich zum Beispiel dagegen,
Die Koalition will Unvereinbares zusammenbringen. das Defizit des nächsten Jahres dadurch auszugleichen,
Einerseits hätte die FDP das Gesicht verloren, wenn es dass die Arbeitgeber wieder den gleichen Beitragssatz
keine Kopfpauschale gegeben hätte, andererseits war die zahlen wie die Versicherten.
CSU – im Übrigen zu Recht – dagegen. Was haben Sie Wie würde sich eine Beitragssatzsteigerung um
gemacht? Sie haben pauschale Zusatzbeiträge geschaf- 0,9 Prozentpunkte für die Arbeitgeber auf die Exportin-
fen, die der Kopfpauschale in nichts nachstehen. dustrie auswirken? Nehmen wir ein typisches Exportgut,
den VW Golf mit einem Listenpreis von 18 275 Euro.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Das ist
Diese Beitragssatzsteigerung würde bei einem Lohnkos-
ein großer Unterschied! Sie haben das nicht
tenanteil von 15 Prozent – Tendenz sinkend – am Preis
kapiert! – Ulrike Flach [FDP]: Die Kopfpau-
gerade einmal 20 Euro ausmachen. 1 Prozent Wechsel-
schale hat keiner gewollt!)
kursschwankungen, die wir in der letzten Zeit ja mitun-
Die sind das ungerechteste Finanzierungsinstrument, das ter täglich haben, machen 185 Euro aus. Das ist also
es überhaupt gibt. deutlich mehr.
5648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Harald Weinberg
(A) Sie hingegen belasten den VW-Facharbeiter durch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
den 0,9-prozentigen Sonderbeitrag mit 405 Euro zusätz- neten der FDP)
lich im Jahr. Das soll gerecht sein? Wirtschaftlich sinn-
voller wäre es, wenn sich der Arbeitgeber an diesen Kos- Nicht anbiedern, Herr Lauterbach, sondern mit guter
ten wieder zur Hälfte beteiligen würde und der Politik überzeugen! Weil Sie dazu nicht in der Lage sind,
Facharbeiter das Geld zum Ausgeben hätte. sind Sie zu Recht da, wo Sie hingehören, nämlich auf
den Oppositionsbänken.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
GRÜNEN) Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nicht mehr lange!)
Dadurch, dass Sie über Ihr Konzept schreiben, es sei Weil Sie nicht in der Lage sind, verantwortungsvoll Poli-
gerecht, sozial, stabil, wettbewerblich und transparent, tik zu gestalten, haben Sie auch keine Antworten auf die
wird das, was unter dieser Überschrift steht, nicht besser. Herausforderungen, jedenfalls nicht solche, die über den
Die Menschen wollen keine stufenweise Abschaffung Tag hinausreichen. Das gilt insbesondere für die Ge-
der Solidarität im Gesundheitssystem. Sie wollen eine sundheitspolitik.
tatsächlich sozial gerechte Finanzierung, bei der starke (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist
Schultern mehr tragen als schwache. Das will die Linke es! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Fangen Sie
auch. Das werden wir versuchen, durchzusetzen. an mit Ihrer Rede!)
Danke. Die Herausforderungen sind wirklich groß. Das für
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 2011 erwartete Defizit beträgt rund 11 Milliarden Euro.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht
stark auseinander. Deswegen ist die Politik aufgefordert,
zu reagieren.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Stephan Stracke für die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
CDU/CSU-Fraktion.
Dabei ist die Leitlinie unserer Politik: Wir wollen keine
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kürzungen von Leistungen zulasten der Patientinnen
neten der FDP) und Patienten; wir wollen keine Rationierung und Priori-
sierung von Leistungen.
Stephan Stracke (CDU/CSU):
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben noch
(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (D)
nichts Konkretes gesagt! Sie haben noch gar
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nichts gesagt!)
Bei den Redebeiträgen der Opposition von gestern und
heute habe ich ein Rauschen im Ohr. Das klingt wie ein Im Gegenteil: Wir gewährleisten, dass jede und jeder
Föhn. ungehinderten Zugang zu unserem exzellenten Gesund-
heitswesen hat, unabhängig von Alter, Geschlecht, Ein-
(Mechthild Rawert [SPD]: Gehen Sie einmal kommen und Krankheitsrisiko.
zum Hausarzt!)
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist
Sie produzieren in diesem Saal nichts als heiße Luft. Mir
es!)
ist klar geworden, warum Sie zwei Aktuelle Stunden
brauchen – gestern und heute –: Sie verstehen es einfach Wir sorgen dafür, dass jede und jeder Teilhabe hat an
nicht, und, schlimmer noch, Sie haben keine eigenen Innovationen und medizinisch-technischen Fortschrit-
Vorschläge. ten.
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Herr Lauterbach, genau dafür sorgen wir mit unseren
der SPD) vorgelegten Eckpunkten.
Wenn es dem Erkenntnisfortschritt auf der linken Seite (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])
dieses Hauses dient, erklären wir Ihnen die gute Gesund-
heitspolitik der christlich-liberalen Koalition herzlich Dabei gehen wir anders vor als die Opposition. Diese be-
gerne. trachtet ausschließlich die Einnahmeseite mit der Idee
einer sozialistischen Einheitsversicherung im Kopf,
Durchgängig bildet sich ein deutliches Muster ab: Da
steht die deutsche Sozialdemokratie, den Linken zuge- (Lachen bei der SPD – Steffen-Claudio
wandt, mit weit ausgebreiteten Armen, Lemme [SPD]: Solidarisch, nicht sozialis-
tisch!)
(Lachen bei der SPD – Dr. Karl Lauterbach [SPD]:
Bekämpfen Sie den Populismus!) die hinsichtlich der Wirkungen nichts anderes ist als ein
tiefer Griff in die Taschen der Menschen in Form einer
mit offenem Herzen, aber trübem Blick, sei es, wenn es zweiten Einkommensteuer und im Ergebnis eine
um die Wahl des Bundespräsidenten geht, sei es, wenn schlechtere medizinische Versorgung für alle bedeutet.
es um NRW geht; doch die Linke lässt sie abblitzen. Ja,
enttäuschte Liebe kann ganz schön nachtragend machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5649
Stephan Stracke
(A) Wir hingegen machen im Bereich der Gesundheit zu- Steffen-Claudio Lemme (SPD): (C)
nächst genau das, was wir auch beim Bundeshaushalt Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
tun, wenn es um die Reduzierung der Neuverschuldung ren! Herr Minister Dr. Rösler, Frau Staatssekretärin
geht: Wir heben Sparpotenziale – gerecht und fair –; Widmann-Mauz! Ich muss zugeben, dass die sogenannte
denn es ist fair, dass zunächst nach möglichen Sparbei- Gesundheitsreform der schwarz-gelben Regierungsko-
trägen im System gesucht wird. alition meine Erwartungen mehr als übertroffen hat. Ich
Vorschläge der Opposition dazu gibt es – bis auf ganz hatte mir, ehrlich gesagt, bis vorgestern nicht vorstellen
kleine – nicht, Fehlanzeige. Wir hingegen ziehen alle können, wie respektlos diese Bundesregierung, insbe-
Akteure heran, die Leistungserbringerseite mit der Phar- sondere der Gesundheitsminister, mit den 50 Millionen
maindustrie, den Apothekern, den Ärzten und Kranken- GKV-Beitragszahlern in unserem Land umgeht.
häusern auf der einen Seite und natürlich auch die Kran-
kenkassen auf der anderen Seite durch einen Stopp bei (Beifall bei der SPD)
den Verwaltungskosten. Der Sparbeitrag beträgt rund Diese Regierung ist dabei – nach rund neun Monaten
3,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr und 4 Milliar- Koalitionsgezänk und kollektiver Orientierungslosigkeit
den Euro im Jahr 2012. Wir nehmen auch die Arbeitge- in der eigenen Gesundheitsreformdebatte –, sich ihre
ber mit in die Verantwortung, indem wir den paritätisch Handlungsunfähigkeit von den Beitragszahlern finan-
finanzierten Beitragssatz wieder auf das Niveau von vor ziell ausgleichen zu lassen.
der Finanz- und Wirtschaftskrise anheben. Ferner neh-
men wir Steuermittel in Form eines steuerlichen Bundes- (Beifall bei der SPD)
zuschusses in die Hand.
In Kurzform: Es wird bei den Versicherten mit einer
So nehmen wir zur Bewältigung des Defizits alle in Beitragsanhebung und einer glatten Verdoppelung des
den Blick: Arbeitgeber, Arbeitnehmer, die Leistungser- Zusatzbeitragsvolumens ungeniert abkassiert. Damit wird
bringer, die Krankenkassen und den Steuerzahler. Ich die Konjunktur geschwächt und somit durch die Hintertür
finde, wir haben hier ein ausgewogenes Konzept auf den auch die kleine Variante der unsozialen sogenannten
Weg gebracht, das Einseitigkeiten vermeidet und die So- Kopfpauschale eingeführt. Bei dieser Gesundheitsreform
lidarität im Gesundheitswesen erhält. komme ich nicht umhin, festzustellen, dass die Führungs-
Sicherlich wird es auch nach dieser Reform Kosten- riege im Gesundheitsministerium wohl völlig den Bezug
steigerungen geben. Wir verzeichnen jährlich Steigerun- zu den Versicherten verloren hat.
gen von 1 bis 3 Prozent. Wenn wir auch in Zukunft einen
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zuruf
ungehinderten Zugang zum Gesundheitswesen und Teil-
von der SPD: Dafür haben die ja uns!)
(B) habe an Innovation und Fortschritt gewährleisten wol- (D)
len, dann müssen wir auch künftige Kostensteigerungen Ich empfehle den Kolleginnen und Kollegen auf der
mit aufnehmen. Deshalb bedarf es Veränderungen auf Regierungsbank dringend, sich mit den Nöten der Bür-
der Einnahmeseite, und diese nehmen wir auch vor. gerinnen und Bürger sowie der Arbeitnehmerinnen und
Klar ist aber auch: Die Begrenzung zukünftiger Aus- Arbeitnehmer zu befassen, denen durch Ihr Sparpaket
gabensteigerungen wird eine Daueraufgabe sein. Ich Sozialleistungen gestrichen und gleichzeitig noch deut-
glaube, dass bei einem Gesamtvolumen von 174 Milliar- lich höhere Ausgaben für ihren Krankenversicherungs-
den Euro, die wir Jahr für Jahr in der gesetzlichen Kran- schutz zugemutet werden.
kenversicherung ausgeben, genug Spielraum sein wird,
um das System zu optimieren. Im Bereich der Verwal- Für die Damen und Herren der Regierungskoalition
tungskosten der Krankenkassen und im Bereich der ge- ein kurzes Rechenbeispiel: Der Durchschnittsverdienst
samten Behandlungskette müssen wir die Schnittstellen meiner Thüringer Landsleute liegt gegenwärtig bei
im System zu Nahtstellen machen. 1 857 Euro brutto. Diese Beitragszahler müssen sich nun
aufgrund Ihrer Politik auf Mehrausgaben in Höhe von
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Filibustern!) 5,60 Euro für den regulären Beitrag und in der Ober-
Was den Mehrwert für Patienten angeht, so müssen grenze auf 37,14 Euro Zusatzbeitrag einstellen. Das sind
wir, genauso wie im Arzneimittelbereich, bei der Be- über 40 Euro weniger Haushaltseinkommen im Monat.
handlung Instrumente entwickeln, die qualitätsgerichtet Ich finde das, ehrlich gesagt, skandalös.
sind, sei es in der integrierten Versorgung, sei es im Di- (Beifall bei der SPD und der LINKEN –
sease-Management. Vor uns liegen viele Herausforde- Ulrike Flach [FDP]: Das ist aber nicht das Mo-
rungen. Wir werden diese entschlossen anpacken. dell!)
Herzlichen Dank.
– Frau Flach, genau das ist das Modell.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Filibustern!) (Ulrike Flach [FDP]: Eben nicht!)
– Sie können es ja selbst nicht erläutern – das ist ja Ihr
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Problem –, und andere verstehen es nicht. Deshalb ist so
Das Wort hat nun Steffen-Claudio Lemme für die ein Wirrwarr entstanden.
SPD-Fraktion.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie verstehen es
(Beifall bei der SPD) nicht! Das ist wahr!)
5650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Steffen-Claudio Lemme
(A) Ich möchte kurz auf zwei Detailfragen eingehen. Zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
einen ist meiner Ansicht nach die zukünftige Festschrei- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
bung des Arbeitgeberbeitrages nichts anderes als ein GRÜNEN)
Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der SPD) Das Wort hat nun Kollege Rolf Koschorrek für die
CDU/CSU-Fraktion.
Die Arbeitgeber werden ganz bewusst aus der Verant- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wortung für das zukünftige Wachstum der Gesundheits- neten der FDP)
kosten entlassen. Wir als SPD-Fraktion fordern unmiss-
verständlich die Rückkehr zur Parität,
Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
CSU]: Wer hat sie denn aufgegeben?) Kollegen! Wir befassen uns innerhalb weniger Stunden
zum zweiten Mal in einer Aktuellen Stunde mit dem
um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital wie- gleichen Thema. Das ist eine interessante Déjà-vu-Ver-
derherzustellen und die Lasten gerecht zu verteilen. anstaltung.
(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das (Zuruf von der SPD: Weil Sie es beim ersten
habt ihr in der Vergangenheit genauso ge- Mal nicht verstehen!)
macht, oder?)
Wir haben jetzt mittlerweile zwölf Redner der Opposi-
Die paritätische Finanzierung war ursprünglich die Legi- tion gehört, die Kritik an Dingen üben, die wir gar nicht
timationsgrundlage für die Mitbestimmung der Versi- beschlossen haben,
cherten und Arbeitgeber in den Kassen. Ihre Beitragsdis- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
parität muss sich in meinen Augen nun auch in der NEN]: Darüber haben wir gar nicht gespro-
Zusammensetzung der sozialen Selbstverwaltung der chen!)
Kassen mit Vertretern beider Seiten niederschlagen. Das
heißt, dass derjenige, der mehr in die sozialen Versiche- und die uns bisher keine eigenen Vorschläge genannt ha-
rungssysteme einzahlt, auch mehr Mitbestimmungs- ben. Der einzige konkrete Vorschlag, der heute im Raum
rechte in den Selbstverwaltungsgremien genießt. steht, ist die Forderung nach einem Vorschaltgesetz, was
auch immer das beinhalten mag. Ansonsten waren zum
Zum anderen wird unter Punkt 1 des Gesundheitsre- Teil ganz drollige Dinge zu hören.
(B) (D)
formpapiers, bei der Frage der Ausgabenstabilisierung,
der Anschein erweckt, Sie würden die Leistungserbrin- Herr Kollege Lemme, wir haben vor nicht langer Zeit
ger im selben Maße zur Konsolidierung der GKV heran- gemeinsam eine Resolution mit unterschrieben, in der
ziehen wie die Versicherten. Sie verschweigen der Öf- wir genau das gefordert und dringend angemahnt haben,
fentlichkeit jedoch – ich glaube, mit Methode –, dass Sie was Sie jetzt gerade kritisieren. Es geht darum, dass wir
etwa bei den Zahnärzten bereits jetzt das Ende der sehr wohl für die Angleichung der Ost- an die Westho-
Grundlohnsummenanbindung für die Budgetsteigerun- norare eingetreten sind. Bis vor wenigen Stunden war
gen und damit die späteren Einkommenszuwächse zuge- ich der Meinung, dass Sie das mitgetragen haben. Ich
sagt haben, kann Ihnen Ihre Unterschrift unter der Resolution gern
zeigen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wollen Sie Ost- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
West-Angleich?) Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Aber nicht nur
frei nach dem Motto: Haltet noch kurz die Füße still, der bei den Zahnärzten, Herr Kollege!)
große Schluck aus der Pulle wird nachgereicht. Bei den anderen Bereichen ist das längst erfolgt; viel-
leicht sind Sie da noch nicht auf dem neuesten Stand.
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Seit einigen Jahren ist das in allen anderen Leistungsbe-
Will Thüringen Ost-West-Angleich oder reichen abgearbeitet worden.
nicht? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vor ei-
nem halben Jahr haben Sie noch das Gegenteil (Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Wir haben
gesagt!) keinen flächendeckenden Mindestlohn!)
Diese Koalition hat vorgestern den nächsten Akt ihrer Insofern hinken Sie da gewaltig hinterher.
verfahrenen Gesundheitspolitik – nennen wir es einmal Ich muss sagen: Das, was hier in den letzten zwei Ta-
so – eingeläutet. Nur haben die Hauptakteure noch nicht gen gelaufen ist, ist für mich erschreckend. Wir haben si-
mitbekommen, dass ihnen das Publikum nicht applau- cherlich einen gewissen Anteil des Salärs, das wir hier
dieren kann, da es aus Enttäuschung und Frust bereits bekommen, unter der Rubrik Schmerzensgeld zu verbu-
den Saal verlassen hat. In Richtung der Regierungsbank chen. Das, was wir hier hören mussten, ist grenzwertig
sage ich: Ziehen Sie bitte schnell Ihre Konsequenzen und zeigt, dass Sie überhaupt nicht bereit sind, konstruk-
und beenden Sie alsbald Ihre Spielzeit. tiv an der Lösung unserer Probleme mitzuarbeiten.
Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5651
Dr. Rolf Koschorrek
(A) Das, was Sie in der Debatte des heutigen Tages zur Be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
wältigung der Zukunftsprobleme der gesetzlichen Kran- Als letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde erteile ich
kenversicherung gesagt haben – Sie haben das Thema Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion das
selbst gewählt –, war beschämend, gerade auch von Ihnen Wort.
aus der Abteilung der Linken. Sie reden von einer Bürge-
rinnen- und Bürgerversicherung und wissen ganz genau, (Beifall bei der CDU/CSU)
dass Sie damit rechts- und finanzpolitisch einen Blindflug
der allerersten Sorte hinlegen, weil Sie ein entsprechen- Maria Michalk (CDU/CSU):
des Modell weder bestimmen noch berechnen können.
Sie würden damit in einer nicht umsetzbaren Weise in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Rechtsbestände eingreifen. Deswegen haben Sie bis zum Herren! Jetzt haben wir über eine Stunde lang die Aktu-
heutigen Tag das vor langem gemachte Versprechen nicht elle Stunde auf Antrag der Linken verfolgt. Außer Vorur-
einlösen können, ein wirklich durchgerechnetes und im teilen, Zweckbehauptungen
Hinblick auf die Rechtssystematik haltbares Modell einer (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Planwirt-
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung – so nennen Sie es – schaft nicht vergessen!)
vorzulegen. Dort scheitern Sie schon im Ansatz; das Mo-
dell ist nicht einmal vorlagefähig. und umfragengestützter Politik haben wir nichts gehört.
Auch wir von CDU und CSU haben durchaus schon (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
harte Zeiten in der Opposition verbracht. der FDP)
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Bald wieder!) Sie sind so etwas von beratungsresistent, dass ich es mir
jetzt schenke, meine Rede zu halten. Sie kapieren die
Unsere Auffassung von der Opposition war aber immer, Vorgänge jedenfalls heute offensichtlich nicht. Deshalb
nicht nur zu kritisieren, sondern die jeweils Regierenden können Sie das besser im Protokoll nachlesen.
mit konstruktiven Vorschlägen dazu zu ermutigen,
Danke schön.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Besser wäre das
jetzt!) (Abg. Maria Michalk [CDU/CSU] überreicht
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse ihr
zu besseren, schnelleren und konstruktiveren Lösungen Redemanuskript – Heiterkeit und Beifall bei
zu kommen; wir haben uns da gemeinsamen Lösungen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem
nicht verschlossen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
(B) geordneten der LINKEN) (D)
Wir haben im nächsten Jahr ein Defizit zu erwarten,
das eine konstruktive Mitarbeit, nicht nur destruktive
Kritik, dringend erforderlich macht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Liebe Kollegin, ich hoffe, Sie haben nicht gemeint,
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Fangen Sie mit dass ich das jetzt vorlese.
der CSU an!)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP so-
Ich finde, Sie sollten sich in den nächsten Wochen zu- wie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN
sammenreißen. Wir haben schon morgen die nächste Ge- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
legenheit, in einer Gesundheitsdebatte miteinander zu
ringen, um diese Dinge vernünftig voranzubringen. Ich Ich schließe also mit unser aller Einverständnis die
hoffe, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen zu Aussprache.
konstruktiveren Ansätzen kommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a bis
Die Vorschläge, die wir gemacht haben, sind ein Weg 6 c:
zur Verbesserung der Zukunft der gesetzlichen Kranken- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
versicherung in Deutschland. Wir werden das System Weiss (Wesel I), Holger Haibach, Dr. Christian
demografiefester machen. Wir werden dafür sorgen, dass Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
wir in den nächsten Jahren die finanzielle Basis bekom- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald
men, auf der wir miteinander Diskussionen über die Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther (Plauen),
Strukturen führen können. Auf diese Diskussionen freue weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
ich mich sehr. Wir können aber nur vor dem Hintergrund
einer zumindest mittelfristig gesicherten Finanzplanung Bemühungen zur Umsetzung der Millenniums-
über strukturelle Reformen diskutieren. Die Grundlage entwicklungsziele bis 2015 verstärken
dafür – nicht mehr und nicht weniger – haben wir mit
diesem Gesetzespaket, mit diesen Initiativen gelegt. Ich – Drucksache 17/2421 –
bitte um Unterstützung.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Danke schön. Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht,
5652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(Zuruf von der FDP: Das ist die Wahrheit!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Auch in anderen Bereichen müssen die Geber ihre
Hausaufgaben machen, um eine stärkere Kohärenz ihres Wahr ist auch, dass Ihr letzter Haushaltsentwurf einen
Handelns zu erreichen. Zum Beispiel müssen die Geber Anstieg um 23 Millionen Euro vorsah. Damals hatte
gegenüber rohstoffreichen Staaten gemeinsam und koor- nämlich bereits die Krise eingesetzt. Wir haben damals
diniert auftreten, um zerstörerische Fehlentwicklungen zusammen regiert, und das, was Sie jetzt sagen – oder
wie mit Blutdiamanten oder Blutöl zu vermeiden. Sie auch du, Bärbel Kofler –, stand in einem ganz anderen
dürfen sich dabei nicht wegen Wirtschaftsinteressen ge- Zusammenhang. Das war damals die Wahrheit, und jetzt
geneinander ausspielen lassen. Als Entwicklungspoliti- soll alles falsch sein. Die christlich-liberale Koalition hat
ker müssen wir uns dafür einsetzen, dass aus dem Fluch in ihrem ersten Haushalt einen Aufwuchs zu verzeich-
von Rohstoffreichtum ein Segen für die Entwicklung der nen, der das Zehnfache des Ansatzes der ehemaligen
Menschen wird. Das Gleiche gilt für die Handelspolitik. Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul ausmacht. Da-
Auch da haben wir viele Gemeinsamkeiten. Wir müssen ran erkennt man eure fadenscheinigen Argumente.
Wert darauf legen, dass jede weitere Öffnung durch die Zu den Grünen möchte ich prophylaktisch nur eines
Doha-Runde oder durch die EPAs auch zu entwicklungs- sagen: Nachdem ihr aus der Regierung ausgeschieden
politischen Fortschritten in diesen Ländern führt. wart, wurde der Ansatz für Klimaschutzmaßnahmen im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) BMZ verdreifacht, der für die Biodiversität wurde ver-
vierfacht. Daran sieht man, wer die wahren Grünen im
Jetzt komme ich zum Geld. Wir können nicht über die Parlament sind.
Millenniumsziele sprechen, ohne über Geld zu sprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Genau!) Wir kämpfen dafür, obwohl wir zur Schuldenbremse
stehen, die auch die SPD mitbeschlossen hat, und ob-
– Genau. – Ich weiche dieser Diskussion auch nicht aus, wohl wir knappe Haushaltsmittel haben –
weil es wahr ist, dass wir nach wie vor vor großen He-
rausforderungen stehen: beim Klimaschutz, beim Schutz
der Ökosysteme, beim Aufbau von fragilen Staaten, bei Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der Ernährungssicherung und vielem mehr. Darüber sind Herr Kollege!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5657
(A) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Weichen in der Entwicklungszusammenarbeit stellen (C)
– das ist mein letzter Satz –, dass die Bundeskanzlerin wollen und mit Ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen
– darauf können sich auch die NGOs verlassen – ihre Vorstellungen, die Armut erzeugen, Armut bekämpfen
Zusagen einhalten kann. Das gilt auch für diesen Herbst. wollen. Sie werden nicht müde, hier und in den Entwick-
Sie hat bis jetzt mit unserer Hilfe noch jede Zusage ein- lungsländern die freie Marktwirtschaft als Entwick-
halten können. lungsmodell zu propagieren.
Vielen Dank. (Zuruf von der FDP: Soziale Marktwirtschaft, Frau
Kollegin! Das ist ein Unterschied!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was bedeutet das konkret für die Länder des Südens?
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich möchte zwei Beispiele nennen.
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die Erstens. Die Bundesregierung verhandelt im Rahmen
Linke. der EU über ein Freihandelsabkommen mit Indien. Die
(Beifall bei der LINKEN) Europäische Union will in diesem Zusammenhang das
Patentrecht verschärfen, was zum Ergebnis hat, dass bil-
Heike Hänsel (DIE LINKE): lige Nachahmerprodukte erst viel später und deutlich
teurer produziert werden können. Die Bundesregierung
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
vertritt ganz im Sinne der freien Marktwirtschaft
sprechen heute im Vorfeld der Überprüfung der soge-
nannten Millenniumsentwicklungsziele im September (Miriam Gruß [FDP]: Soziale Marktwirt-
über die bisherigen Erfolge bzw. Misserfolge beim Er- schaft!)
reichen der selbstgesteckten Ziele. Die Bilanz – das ha-
ben wir schon gehört – ist durchwachsen. Jetzt werden die Interessen der Pharmakonzerne gegen die Interessen
viele Vorschläge gemacht – manche sind konkret, man- von Millionen von Menschen, die bisher keinen Zugang
che weniger konkret –, was man denn verbessern könnte. zu billigen Medikamenten haben. Das ist ein Skandal.
Mir fehlt in der gesamten Diskussion ein kritischer Blick (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
auf die Millenniumsentwicklungsziele selbst. Viele NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.
Menschen, die heute hier zuhören, wissen sicher gar Dr. Bärbel Kofler [SPD] – Miriam Gruß
nicht ganz genau, was die Millenniumsentwicklungs- [FDP]: So ein Unfug!)
ziele überhaupt sind. Das liegt unter anderem am Zu-
standekommen dieser Ziele. Das ist nämlich weitgehend Dies läuft drei Millenniumsentwicklungszielen gleich-
zeitig zuwider, nämlich denen, die sich mit Kindersterb-
(B) ein Prozess ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft. Acht lichkeit, Müttergesundheit und dem Kampf gegen Aids (D)
Ziele wurden von Institutionen wie der OECD, dem
Internationalen Währungsfonds und der Weltbank entwi- und Malaria beschäftigen.
ckelt und sind von den Regierungen der Entwicklungs- Zweitens: Die Bundesregierung hat sich im Rahmen
länder und der Industriestaaten umzusetzen. der EU für ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien
Wir waren aber bei der weltweiten Armutsbekämp- und Peru starkgemacht, das bereits unterzeichnet wurde.
fung schon einmal weiter. In den 90er-Jahren wurden Darin geht es unter anderem um bessere Möglichkeiten
nämlich UN-Beschlüsse mit der Mobilisierung von des Imports von Palmöl aus Kolumbien in die EU. Da-
Menschen verbunden, zum Beispiel im Rahmen des Rio- von profitieren ebenfalls große Konzerne, die in Kolum-
Prozesses für nachhaltige Entwicklung. Die Ideen wur- bien Ölpalmen auf Land anbauen, das Kleinbauern ge-
den in die Kommunen getragen; in vielen Städten und hörte, die vertrieben wurden. Mittlerweile gibt es in
Gemeinden entstanden sogenannte lokale Agenda-21- Kolumbien mehr als 4 Millionen vertriebene Menschen,
Gruppen, die sich mit dem Zusammenhang von weltwei- die in größter Armut in den Slums der großen Städte le-
ter Armut, Klimawandel und unserem Konsummodell ben. Das Brisante ist, dass die kolumbianische Armee an
und dem Ressourcenverbrauch in den reichen Industrie- diesen Vertreibungen beteiligt ist und die illegalen Öl-
staaten beschäftigt haben. Die Millenniumsentwick- palmenplantagen auch noch schützt. Ich frage mich, wie
lungsziele dagegen sprechen diese Strukturen gar nicht sich Angela Merkel gestern dazu geäußert hat, als sie
mehr an. Sie sagen nichts über Ursachen der Armutsbe- sich mit dem kolumbianischen Präsidenten getroffen hat.
kämpfung und Strategien zur Armutsbekämpfung. Des- Ich habe nichts von Kritik an dieser Politik, die konkret
halb fordern wir: Wenn wir von Armutsbekämpfung zu Armut beiträgt, gehört. Auch das ist völlig inakzepta-
sprechen, müssen wir auch von den strukturellen Ursa- bel.
chen der Armut sprechen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Damit kommen wir zu dem heute herrschenden Welt-
wirtschaftssystem. Allein durch die Finanz- und Wirt- Ein ganz entscheidender Punkt, der in der Diskussion
schaftskrise sind laut Aussagen der Weltbank im letzten viel zu kurz kommt, ist, dass wir nicht von Armutsbe-
Jahr mindestens 100 Millionen Menschen mehr in Ar- kämpfung sprechen können, ohne über Krieg zu spre-
mut zurückgefallen. Das ist eine größere Anzahl als chen. Viele arme Menschen leben in Kriegs- und Krisen-
Deutschland Einwohnerinnen und Einwohner hat. Des- regionen und werden so lange nicht aus der Armut
halb ist es auch fatal, dass Sie, Herr Niebel, nun neue herauskommen, solange diese Kriege andauern. Das zeigt
5658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Heike Hänsel
(A) sich unter anderem am Beispiel Afghanistan. Trotz neun Die Überschrift dieses Antrags lautet: „Bemühungen zur (C)
Jahren Aufbauhilfe gehört Afghanistan zu einem der Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015
ärmsten Länder der Welt und hat eine der höchsten Kin- verstärken“. Ich frage Sie: Wie ist das zu verstehen?
dersterblichkeitsraten weltweit. Deshalb gilt für uns: Wir Diese Bemühungen des Verstärkens sind doch für das
müssen dringend ein neues Millenniumsentwicklungsziel Jahr 2010, also für dieses Jahr, schon gescheitert.
formulieren: den Krieg als Mittel der Politik zu überwin-
den. Mittlerweile hat uns aus dem Kabinett die dröhnende
Ansage erreicht: Deutschland verabschiedet sich nicht
(Beifall bei der LINKEN) nur sang- und klanglos vom europäisch vereinbarten Ziel
von 0,51 Prozent im Jahr 2010, sondern auch von einer
Die Rüstungsausgaben von mehr als 1 Billion Dollar weiteren Erhöhung im Jahr 2011. Das bedeutet Null-
übersteigen die weltweiten Entwicklungsausgaben um wachstum im Rahmen der Millenniumsentwicklungs-
das Zehnfache. Das ist im Zusammenhang mit Armuts- ziele. Deutschland landet mit Schwarz-Gelb voraussicht-
bekämpfung völlig inakzeptabel. lich bei nur 0,4 Prozent,
Die Millenniumsentwicklungsziele sind ein Minimal- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Voraus-
konsens, an dem es viel zu kritisieren gibt. Die Ausgaben- sichtlich!)
politik der Bundesregierung wird aber nicht viel dazu bei-
tragen, diesen Minimalkonsens zu erreichen. Dazu und das ist ein Skandal.
gehören auch – das wurde bereits erwähnt – zahllose nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
gehaltene Versprechen, zum Beispiel auf G-8-Gipfeln. bei der SPD und der LINKEN)
Mittlerweile haben wir den Überblick über die zahlrei-
chen Zusagen und nicht eingehaltenen Versprechen ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dieser
loren. So hat Angela Merkel in Kanada 80 Millionen Euro Antrag muss sich an dem messen lassen, was jetzt im
für Mütter- und Kindergesundheit in Aussicht gestellt. Haushalt auf den Weg gebracht wird. Da handelt es sich
Davon ist im neuen Haushalt aber nichts zu sehen. Es offensichtlich um eine Täuschung der Öffentlichkeit.
wird eine Nullrunde geben und höchstens umgeschichtet.
Das ist ein Armutszeugnis für den Entwicklungshilfemi- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir haben
nister. doch erst die Haushaltsberatungen, Frau
Koczy! Im September geht’s los!)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
Gestern posaunte Minister Dirk Niebel auch noch, dass
der SPD)
die Reform der entwicklungspolitischen Institutionen ein
Herr Niebel, es legt den Verdacht nahe, dass Sie im starkes Signal an den UN-Millenniumsgipfel im Septem-
(B) Rahmen Ihrer Institutionenreform deshalb ständig von ber aussende. Da täuscht er sich gewaltig. Sowohl diese (D)
Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit sprechen, Reform wie auch dieser Antrag gehen vor der Dramatik
um sich vor einer substanziellen Erhöhung des Entwick- des gebrochenen Versprechens in die Knie.
lungshaushalts zu drücken. Genau deswegen hat die
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich wissen
Fraktion Die Linke einen Antrag eingebracht. Wir wol-
doch wir alle hier, warum und weswegen wir aus der Ent-
len das 0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungsausgaben bis
wicklungspolitik für die MDGs kämpfen; da sind wir uns
zum Jahr 2015 verbindlich gesetzlich festlegen, damit
fraktionsübergreifend einig. Uns Grünen wurde im Aus-
Ihre Politik der Trickserei und Täuschung bei den Ent-
schuss schon bestätigt, dass unsere Forderungen zu den
wicklungsausgaben ein Ende hat.
Zielen in vielen Bereichen auch für die Koalition akzep-
(Beifall bei der LINKEN – Miriam Gruß tabel seien. Wir Grünen meinen, dass wir einen umfassen-
[FDP]: So ein Blödsinn!) den Ansatz wie den globalen Green New Deal brauchen,
damit die Finanzmärkte effektiv reguliert werden, damit
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sich die Wirtschaft ökologisch und sozial ausrichtet, da-
mit ein sozialer Ausgleich zwischen Industrie- und Ent-
Das Wort hat nun Kollegin Ute Koczy für die Frak- wicklungsländern stattfindet und damit besonders in den
tion Bündnis 90/Die Grünen. Entwicklungsländern gegen die katastrophalen Wirkun-
gen des Klimawandels gekämpft werden kann.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Für all dies brauchen wir Handlungsstrategien und
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
natürlich einen weltweiten MDG-Aktionsplan, der auch
Kollegen! Eines steht fest: Wenn wir die international
finanziell unterstützt und unterfüttert ist.
vereinbarten Ziele zur Halbierung der Armut, zur Sen-
kung der Müttersterblichkeit und für mehr globale Part- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nerschaft erreichen wollen, dann müssen wir mehr tun. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dann reichen die Anstrengungen der letzten zehn Jahre
nicht aus. Da muss ich Ihren Antrag, den Koalitionsantrag, im Vor-
feld der UN-Konferenz als Täuschungsmanöver sehen.
Vor diesem Hintergrund richtet sich meine Frage an Die harten Haushaltsfakten sprechen eine andere Spra-
die Koalition aus CDU/CSU und FDP: Wie ernst neh- che.
men Sie Ihren Antrag eigentlich?
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir haben ja
(Zuruf von der FDP: Mehr als Sie!) den Haushalt noch gar nicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5659
Ute Koczy
(A) Sie führen mit Ihrem Antrag schon die Rückzugsge- Doch jetzt gilt es, den Blick nach vorn zu richten. (C)
fechte und legen die Argumente vor, die schon heute Meine Damen und Herren, wir müssen den Entwick-
rechtfertigen sollen, warum es nicht so wichtig ist, das lungsländern eine Perspektive geben. Staatssekretärin
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Sie führen die Verantwor- Kopp hat die wichtigen Aspekte zu den MDGs genannt.
tung der Steuerzahler an. Ich möchte die wenigen Minuten Redezeit nutzen, um
das Thema „Bildung in Entwicklungsländern“ anzuspre-
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, das chen. Es hat hier vor allem im Bereich der Grundbildung
ist wahr!) in den letzten Jahren durchaus Erfolge gegeben.
Sie führen an, dass die Gelder wirksam und effizient Um ein Land aber auf lange Sicht erfolgreich aus der
ausgegeben werden sollen. Sie glauben an die Effizienz- Armut zu befreien, müssen wir in Zukunft auf eine qua-
gewinne in Milliardenhöhe in der EZ, die untermauern lifizierte und nachhaltige Bildung in den Entwicklungs-
sollen, dass Steigerungsraten für Entwicklung nicht die ländern setzen.
einzigen Herausforderungen sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Genau!) der CDU/CSU)
Das alles tun Sie nur, um sich reinzuwaschen von dem Nur dann, wenn Menschen eine solide Schulbildung be-
großen politischen Versagen, ein international gegebenes kommen, haben sie die Chance, ihr Schicksal selber in
Versprechen gebrochen zu haben. die Hand zu nehmen und sich von Abhängigkeit zu be-
freien.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Doch Grundbildung alleine reicht bei weitem nicht
LINKEN – Harald Leibrecht [FDP]: Welche aus. Für den Aufbau von Justiz, Demokratie, Rechts-
Dramatik!) staatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft bedarf es einer
breiten Bildungsschicht, ja einer Bildungselite, die ihr
Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie mit dem Fin- Land in eine bessere Zukunft führt. Wenn ein Staat bei
ger auf die Vergangenheit zeigen und die damaligen Ver- der Bildung versagt, wie das in Entwicklungsländern so
säumnisse anprangern. Zwar sage auch ich: „Es ist nicht oft der Fall ist, dann ist es doch durchaus sinnvoll, Frau
ganz verkehrt, daran zu erinnern“, doch es nützt Ihnen Kofler, wenn es private Anbieter gibt. Warum eigentlich
hier und heute nichts. Sie tragen für 2010 und für 2011 auch nicht?
die Verantwortung. Sie verantworten, dass es nicht mehr
Mittel für die Entwicklungspolitik gibt. Was fehlt, ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
politischer Wille. der CDU/CSU)
(B) (D)
Mein Fazit: Lug und Trug. Ich kenne viele Beispiele dafür, dass der Staat versagt
und dass es nur dank der Privaten funktioniert. Junge
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen, Männer und Frauen gleichermaßen, müssen
sowie bei Abgeordneten der SPD) die Chance haben, nach der allgemeinen Schulbildung
einen qualifizierten Beruf zu erlernen oder eine höhere
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schulbildung bis hin zur Universität zu erhalten.
Das Wort hat nun Kollege Harald Leibrecht für die Besonders der Lehrerausbildung kommt eine große
FDP-Fraktion. Bedeutung zu, da sie die Basis für ein gut funktionieren-
des Schulsystem ist. Minister Niebel hat vor wenigen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wochen ein Teacher Training College in Afghanistan er-
der CDU/CSU)
öffnet. Dort werden mit deutscher Hilfe jährlich bis zu
2 000 Lehrer ausgebildet. Wir bauen also nicht nur
Harald Leibrecht (FDP): Schulen, sondern wir sorgen auch für qualifizierte Leh-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rer.
MDG-Überprüfungskonferenz im September ist in der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Tat ein wichtiger Meilenstein für die internationale Ent-
der CDU/CSU)
wicklungspolitik. Uns allen ist doch klar, dass noch
große Aufgaben vor uns liegen. Natürlich können wir Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass gut
mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden sein. Viele In- ausgebildete und hochqualifizierte Menschen sich in ih-
dustriestaaten haben ihre Hausaufgaben, die selbstge- rem Land mit ihrem Wissen einbringen und so ihren Bei-
steckten Ziele – sei es bei der ODA-Quote oder bei den trag zur Entwicklung ihres Landes leisten. Der Brain-
MDGs –, bisher nicht erreicht. Gerade das Erreichen der drain, also das Abfließen der Bildungselite aus einem
MDGs ist für die Bundesregierung in der Tat eine Her- Entwicklungsland, lässt viele Bildungsmaßnahmen wir-
kulesaufgabe, der sie sich jedoch mit ganzer Kraft stellt. kungslos verpuffen und muss deshalb vermieden wer-
Es ist wirklich bitter, dass die SPD, aber auch die Grü- den.
nen in den vielen Jahren, in denen sie in diesem Bereich
Verantwortung hatten, leidlich wenig erreicht haben. Schon heute leistet Deutschland mit weltweiten Bil-
dungskooperationen einen bedeutenden Beitrag. Die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist eine wichtige
der CDU/CSU) Säule der deutschen Außenpolitik, und viele junge Men-
5660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Harald Leibrecht
(A) schen in der Welt erhalten durch die Hilfe unseres Lan- Und wir fühlen uns und ich fühle mich den Zielen (C)
des eine bessere Bildung. für 2010 verpflichtet. Da wird abgerechnet.
Aus-, Fort- und Hochschulbildung sind die beste lang- Herr Ruck,
fristige Hilfe zur Selbsthilfe und Voraussetzung für eine
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wir sind
nachhaltige Entwicklungspolitik. Hierum geht es auch in
doch beim Du! Christian heiße ich!)
unserem Antrag für eine bessere Bildung in Entwick-
lungsländern, wofür ich um Ihre Unterstützung werbe. wenn im Jahr 2010 anstatt 0,51 Prozent nur 0,4 Prozent
da sind, dann stellt man nun einmal fest, dass eine Kluft
Ich danke Ihnen. vorhanden ist. Da ist ein Versprechen gebrochen worden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das ist keine Polemik. Da muss man nur rechnen kön-
der CDU/CSU) nen. Herr Ruck, nehmen Sie einen Taschenrechner und
reden Sie sich da nicht heraus.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Das Wort hat nun Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Christian
Ruck [CDU/CSU])
Dr. Sascha Raabe (SPD): Es ist nun so, Herr Kollege Ruck, lieber Christian,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Danke!)
und Kollegen!
dass die Kanzlerin wesentlich weiter ist als du. Sie hat
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sascha, ganz mir dieses Versprechen in vielen persönlichen Gesprä-
ruhig!) chen immer wieder gegeben.
Es ist klar, dass wir zur Erreichung der Millenniumsent- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)
wicklungsziele auch mehr Geld brauchen. Darüber ha-
ben wir schon bei der ersten Lesung diskutiert. Die eine Ich habe sie vor wenigen Wochen im Rahmen der De-
oder der andere unter den Rednerinnen und Rednern batte zum Haushalt 2010 angesprochen. Da hat sie mir
hatte mir danach vorgeworfen: Wenn es um die Errei- gesagt: Ja, ich fühle mich sündig; ich habe da mein Ver-
chung der Millenniumsentwicklungsziele geht, darf man sprechen gebrochen. – Ich als guter Katholik sage: Ich
nicht laut werden, nicht emotional werden. Wir alle sind wäre bereit, einer Sünderin zu verzeihen. Aber das setzt
uns doch eigentlich einig. Das ist ein ernstes Thema. aufrichtige Reue voraus. Angesichts der Tatsache, dass
es im Haushaltsentwurf für 2011 keine Steigerung gibt
(B) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: „Pole- und dass die Versprechen ganz klar aufgegeben werden, (D)
misch“, das war es!) kann ich nur sagen: So können wir die Millenniumsziele
Wissen Sie, wir sind hier nicht auf dem Kirchentag, nicht erreichen. Die Kanzlerin hat die Öffentlichkeit be-
sondern im Bundestag. Für die ärmsten Menschen in der logen und die ärmsten Menschen betrogen.
Welt reicht es nicht, wenn wir in Sonntagsreden immer (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! –
wieder sagen, dass wir Hunger und Armut überwinden Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Quatsch! –
müssen, aber dann, wenn es darum geht, auch die Mittel Anette Hübinger [CDU/CSU]: Als Christ
zur Verfügung zu stellen, das nicht leisten, so wie es bei kommen Sie damit nicht durch!)
dieser Bundesregierung der Fall ist, Herr Kollege Ruck.
Das werden wir als Opposition Ihnen immer wieder sa-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – gen, ob es Ihnen gefällt oder nicht, Herr Kollege.
Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Bist du ei-
gentlich schon länger im Parlament, oder bist Frau Staatssekretärin, ich bin gerne bereit, Effizienz
du das erste Mal hier?) und Wirksamkeit in den Mittelpunkt der Debatte zu stel-
len, wie Sie es gefordert haben. Aber dass Sie, wie ges-
Sie haben mir vorhin, bevor ich hier überhaupt gere- tern in der Pressekonferenz groß angekündigt, die Zu-
det habe, Polemik vorgeworfen. Es ging darum, dass wir sammenführung der technischen Institutionen im
als Opposition kritisieren, dass die Bundesregierung ihre Entwicklungsbereich als die große Lösung und den gro-
Versprechen nicht einhält. Ich möchte Ihnen dazu in Er- ßen Wurf in der Effizienzdebatte bezeichnen, das ist
innerung rufen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel doch wirklich sehr stark übertrieben.
bei der Regierungserklärung 2005 hier vor uns gesagt
Der DAC-Bericht, auf den Sie sich immer beziehen,
hat:
fordert, die Trennung von technischer und finanzieller
Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet … bis Zusammenarbeit zu überwinden.
2010 mindestens 0,51 Prozent und bis 2015 die
ODA-Quote von 0,7 Prozent des Bruttoinlandspro- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dukts für die öffentliche Entwicklungszusammenar- Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuster
beit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sage. zu?
Dann hat sie – Herr Kollege Ruck, hören Sie gut zu! –
am 7. Juni 2007 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ge- Dr. Sascha Raabe (SPD):
sagt: Ja.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5661
(A) Marina Schuster (FDP): len. Damit brechen Sie ein Versprechen, weil Sie an- (C)
Herr Kollege Raabe, Sie haben in Ihren Ausführun- fangs gesagt hatten, diese Zusammenlegung sei der
gen mehrmals auf die Quote Bezug genommen. Zum zweite Schritt. Herr Beerfeltz hat sogar noch eine Be-
Schluss haben Sie die Effizienz angesprochen. Sind Sie standsgarantie für die KfW Entwicklungsbank abgege-
bereit, anzuerkennen, dass es sehr wichtig ist, dafür zu ben.
sorgen, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie benötigt
Liebe Frau Kollegin Schuster, zu diesem Teil Ihrer
wird? Ihre Ministerin hat auch solchen Staaten Budget-
Frage kann ich also ganz klar zusammenfassend sagen:
hilfe zugesagt, von denen wir später wussten, dass diese
Es ist zu kurz gesprungen. Sie müssen eine große Re-
Gelder in den Apparaten der jeweiligen Regime versi-
form durchführen, wie sie von allen Experten gefordert
ckern und eben nicht den Ärmsten der Armen zur Verfü-
wird. Nur dann ergibt sie einen Sinn.
gung gestellt werden.
Zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin Schuster,
(Zuruf von der SPD: Das ist eine faustdicke
zur Budgethilfe. Da haben Sie einen schwerwiegenden
Lüge!)
Vorwurf erhoben. Sie haben gesagt, dass die alte Bun-
Man muss auch einmal darüber diskutieren, wie man er- desregierung in Person der damaligen Entwicklungsmi-
reichen kann, dass das Geld da ankommt, wo es benötigt nisterin im Rahmen von Budgethilfe Geld an Länder ge-
wird. geben hätte, welches dort versickert wäre. Das ist auch
das Kernargument von Minister Niebel. Er sagt immer
Ich möchte Sie ferner fragen: Sind Sie nicht auch der
wieder, Frau Kollegin Schuster, dass er die Budgethilfe
Meinung, dass die Reform der Durchführungsorganisa-
möglichst zurückfahren möchte. Dazu sage ich Ihnen:
tionen notwendig ist? Von vielen, die in den Organisatio-
Das Problem ist, dass wir in manchen Ländern 120 bis
nen arbeiten, haben wir die Aufforderung vernommen:
130 Geberländer oder verschiedene Ansprechpartner ha-
Packt es endlich an! – Wir wollten dies schon viele
ben. Das heißt, die Italiener, die Spanier oder die Franzo-
Jahre. Aber die damaligen Regierungen haben es nicht
sen – wir hatten das Beispiel im Bildungsbereich – wol-
geschafft.
len Schulen bauen oder ein eigenes Lehrprogramm
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auflegen. Eine staatliche bzw. eine internationale Orga-
der CDU/CSU) nisation gibt der nächsten die Klinke in die Hand. Das
überfordert unsere Partnerländer. Das schwächt auch die
Dr. Sascha Raabe (SPD): Eigenverantwortung der Parlamente.
Liebe Kollegin Schuster, ich möchte zunächst auf den (Beifall bei der SPD – Hartwig Fischer [Göt-
zweiten Teil Ihrer Frage antworten. tingen] [CDU/CSU]: Dafür gibt es die Basket-
(B) Finanzierung!) (D)
Was die Reform der Institutionen angeht, ist es so,
dass das Verhältnis von finanzieller zu technischer Hilfe, Deswegen wollen wir Budgethilfe dann geben, Frau
was ihr Haushaltsvolumen angeht, zwei zu eins beträgt. Kollegin, wenn sie mit einer klaren Rechenschaftspflicht
Wir geben also doppelt so viel Geld für die finanzielle verbunden ist, das heißt, es muss ein Rechnungshof vor-
Zusammenarbeit aus wie für die technische Zusammen- handen sein. Ich weise es daher zurück, dass wir jemals
arbeit. Natürlich ist es ein erster wichtiger Schritt, wenn Budgethilfe irgendwo hingegeben hätten, ohne klare
man im technischen Bereich etwas zusammenführt. Kriterien festzulegen, dass die Parlamente dort zum
Aber es wäre wesentlich sinnvoller – da werden Sie mir Zuge kommen und das Vorgehen kontrolliert wird.
sicherlich zustimmen –, dass man den Bereich, der ein
doppelt so großes Volumen aufweist, auch in die Reform Frau Kollegin Schuster, ich zitiere keinen Sozialde-
einbezieht. Tut man dies nicht, gibt es für die Menschen mokraten, sondern einen liberalen Politiker, den ehema-
in den Partnerländern weiterhin zwei Ansprechpartner. ligen EU-Entwicklungskommissar Louis Michel, der Ih-
rer Partei angehört.
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Wollen Sie das etwa im Finanzministerium an- (Harald Leibrecht [FDP]: Nein, nein! Das
siedeln?) wäre mir neu!)
Das ist doch gerade das, was im DAC-Bericht kritisiert Er hat im Jahr 2008 im Ausschuss für wirtschaftliche
wird. Die Ministerin hat in der letzten Legislaturperiode Zusammenarbeit und Entwicklung Folgendes gesagt –
zu Recht gesagt: Erst einmal müssen wir die KfW-Ent- ich zitiere –:
wicklungsbank mit der GTZ fusionieren. Dann reformie- Die Frau Ministerin
ren wir den technischen Bereich. Denn nur auf diese
Weise erhalten wir eine Lösung aus einem Guss. – Das – Heidemarie Wieczorek-Zeul –
steht auch, wie ich gerade schon ausgeführt habe, im und ich selbst kommen gerade zurück von der Kon-
DAC-Bericht der OECD. ferenz in Accra …
Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass – Das war die Aid-Effectiveness-Conference. –
Staatssekretär Beerfeltz gestern im Ausschuss und da-
nach Minister Niebel im Rahmen der Regierungsbefra- Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument
gung gesagt haben, dass sie auch zukünftig die KfW der Budgethilfe am besten geeignet ist, diese Prinzi-
Entwicklungsbank mit der Deutschen Gesellschaft für pien zur Erhöhung der Wirksamkeit in unserer Ent-
Technische Zusammenarbeit nicht zusammenlegen wol- wicklungszusammenarbeit zu verwirklichen.
5662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Anette Hübinger
(A) denn Berufsausbildungsprogramme spielen in diesen Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- (C)
Ländern gerade im non-formalen Bildungssektor eine empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
große Rolle. Für viele Menschen ist eine solche Ausbil- menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 17/2464.
dung die einzige Möglichkeit, eine berufliche Qualifizie- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
rung und damit die Möglichkeit zu einem selbstbestimm- empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
ten Leben zu erhalten. SPD auf Drucksache 17/2018 mit dem Titel „Herausfor-
derung Millenniums-Entwicklungsziele“. Wer stimmt
Im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftskoope- für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
ration leistet Deutschland schon heute einen wichtigen haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
Beitrag zum globalen Wissensaustausch. Ich nenne hier mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
beispielhaft den DAAD, die Stiftungen, Kirchen, die GTZ, tion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und
die KfW und InWEnt, die jungen Menschen mithilfe von Bündnis 90/Die Grünen.
unterschiedlichsten Förderprogrammen und -maßnah-
men den Zugang zu einer Universitätsausbildung ermög- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
lichen. Dabei ist uns besonders wichtig, dass wir die Ka- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
pazitäten im Wissenschafts- und Forschungsbereich vor Die Linke auf Drucksache 17/2024 mit dem Titel „Stei-
Ort, in den Partnerländern, gezielt unterstützen. gerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Prozent ge-
setzlich festlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
Die Herausforderungen sind groß. Wir müssen die schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
frühkindliche Bildung ausbauen, mehrere Millionen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
Kinder in die Grundschule bzw. Schule bringen, die genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von
Lernstandards und die Lernangebote für Jugendliche und Bündnis 90/Die Grünen.
Erwachsene erweitern. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
Good Governance ist der Schlüssel zur Erreichung ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
dieser Ziele. Ungleichheiten, die auf Armut, ethnischer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
Zugehörigkeit, Geschlecht oder anderen Faktoren der 17/2132 mit dem Titel „Mit dem Global Green New
Benachteiligung beruhen, müssen von den Regierungen Deal die Millenniumsentwicklungsziele erreichen“. Wer
in unseren Partnerländern abgebaut werden. Die nationa- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
len Ausgaben der Partnerländer für Bildung müssen men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
erhöht werden. In diesem Zusammenhang ist die politi- angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
(B) sche Bildungsarbeit unserer Stiftungen vor Ort in den und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion (D)
Bereichen Good Governance, Demokratiebildung und Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Stärkung der Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Der Bildungsbereich ist ein Schlüsselsektor für nach- Wawzyniak, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiteren Ab-
haltige Entwicklung, Wachstum und Wohlstand, in unse- geordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-
rem Land genauso wie in unseren Partnerländern. Des- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
halb bitten wir als CDU/CSU-Fraktion um Zustimmung rung des Grundgesetzes (Einführung der
zum Antrag der Koalition. dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grund-
gesetz)
Herzlichen Dank.
– Drucksache 17/1199 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Haushaltsausschuss
Ich schließe die Aussprache.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.
Drucksache 17/2421 mit dem Titel „Bemühungen zur
Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
verstärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen- Rednerin der Kollegin Halina Wawzyniak von der Frak-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit der tion Die Linke das Wort.
Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Opposi- (Beifall bei der LINKEN)
tionsfraktionen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Drucksache 17/2134 an die in der Tagesordnung aufge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein- Kollegen! Direkte Demokratie ist wieder im Gespräch.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Genau das ist die Stärke der direkten Demokratie. Die
sen. Menschen reden nämlich über Sachfragen und nicht über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5667
Halina Wawzyniak
(A) Machtfragen. Sie reden über Dinge, die sie wirklich in- zwei Drittel mit Ja stimmen. So weit die Gesetzesinitia- (C)
teressieren. Auch nach dem erfolgreichen Volksent- tive.
scheid in Bayern, über dessen Ausgang man durchaus
Gute und gefestigte Demokratien zeichnen sich durch
unterschiedlicher Meinung sein kann,
eine Vielfalt von demokratisch geprägten und demokra-
(Zurufe von der LINKEN: Nein!) tieförderlichen Institutionen und Prozessen in allen ge-
sellschaftlichen Bereichen aus. Ihre Grundlage ist die
mehren sich die Stimmen in Bevölkerung, Medien und
möglichst intensive Beteiligung der Bürgerinnen und
Politik, die fordern, dieses Instrument auch auf Bundes-
Bürger an allen öffentlichen Angelegenheiten. Die
ebene einzuführen.
Volksgesetzgebung ist nur ein Element. Um ihr zu ihrer
(Beifall bei der LINKEN) tatsächlichen Wirkung zu verhelfen, ist es wichtig, das
Engagement der Bürgerinnen und Bürger auch struktu-
Sie haben heute die Chance, dies auf den Weg zu rell zu unterstützen. Das bedeutet weitestgehende Trans-
bringen. Die Fraktion Die Linke hat als einzige Fraktion parenz aller Entscheidungsprozesse: im Parlament, in
einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht, über der Regierung und in der Verwaltung.
den wir nunmehr diskutieren. Ich sage insbesondere im
Hinblick auf die Fraktionen, die in der letzten Legisla- (Beifall bei der LINKEN)
turperiode einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht ha- Öffentlichkeit von Sitzungen und parlamentarischen
ben: Liebe FDP, liebe Grüne, geben Sie sich einen Ruck! Gremien gehört genauso dazu wie Akteneinsichtsrechte
(Beifall bei der LINKEN) für Abgeordnete und Bürger.
Lassen Sie mich den Inhalt in seinen wesentlichen Zum Schluss möchte ich auf den Vorschlag von Pro-
Grundzügen kurz skizzieren. Die Volksgesetzgebung fessor Dr. Roland Roth, Politikwissenschaftler an der
gliedert sich nach diesem Gesetzentwurf in ein dreistufi- Fachhochschule Magdeburg und Autor der bemerkens-
ges Verfahren: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksent- werten Expertise Handlungsoptionen zur Vitalisierung
scheid. der Demokratie aufmerksam machen. Er fordert die Ein-
setzung einer Demokratie-Enquete des Bundestages.
Um eine Volksinitiative zu starten, benötigen die Ini- Aufgabe dieser sollte es sein, grundlegende und länger-
tiatoren 100 000 Unterschriften. Danach können sie dem fristige gesellschaftliche und politische Problemlagen
Bundestag eine Gesetzesvorlage zur Änderung eines aufzuarbeiten und politische Lösungswege vorzuschla-
Bundesgesetzes oder des Grundgesetzes vorlegen. Ein- gen. Die Einsetzung dieser Kommission wäre mit den
zige Einschränkung: Die Gesetzesvorlage muss verfas- Stimmen von Rot-Rot-Grün möglich. Ich möchte aber
sungsrechtlich zulässig sein. Sie ist es nicht, wenn zum zunächst vorschlagen, dass wir gemeinsam die Volksge-
(B) Beispiel der Kerngehalt der Grundrechte berührt wird. (D)
setzgebung einführen.
Eine Wiedereinführung der Todesstrafe ist zum Beispiel
unmöglich. Das ist gut so. Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Der Gesetzentwurf greift auch einen anderen wichti-
gen Punkt auf. Unzulässig sind allein Volksinitiativen,
die sich auf das Haushaltsgesetz beziehen. Dies ist aus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
unserer Sicht wichtig, da zu häufig Volksinitiativen mit Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt von der
dem Verweis auf haushaltsrechtliche Auswirkungen als CDU/CSU-Fraktion.
unzulässig abgelehnt wurden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Bundestag muss über die Zulässigkeit und den
Inhalt der Initiative beschließen. Dem Bundesrat muss Helmut Brandt (CDU/CSU):
die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
Wird die Initiative für unzulässig erklärt, steht den Ver- und Kollegen! Ceterum censeo: Jedes Jahr aufs Neue de-
trauensleuten der Rechtsweg offen. Stimmt der Bundes- battieren wir über die Einführung einer direkten Demo-
tag mit Mehrheitsbeschluss dem Inhalt der Initiative zu, kratie.
dann erlangt diese Initiative Gesetzeskraft.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Lehnen die Abgeordneten den Inhalt ab, dann haben GRÜNEN]: Wir werden auch nie aufhören!)
die Initiatoren die Möglichkeit, die zweite Stufe, also die
– So alt werden Sie gar nicht, Herr Ströbele, als dass ich
Volksgesetzgebung, zu beschreiten: Das Volksbegehren
das nicht erleben könnte.
wird eingeleitet. Dafür müssen dann 1 Million Unter-
schriften gesammelt werden, bei einer Grundgesetzände- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
rung 2 Millionen. Wird das Begehren abgelehnt, kommt GRÜNEN]: Das werden Sie noch erleben!)
die dritte Stufe, der Volksentscheid, bei dem nunmehr
Zum wiederholten Male müssen wir uns heute daher
die wahlberechtigte Bevölkerung über den Inhalt ab-
diesem Thema widmen. Ich freue mich, dies heute für
stimmt. Gesetzeskraft erlangt der Inhalt bei einer Ab-
meine Fraktion tun zu können.
stimmung dann, wenn ein Viertel der Wahlberechtigten
an der Abstimmung teilnimmt und davon die Mehrheit Ich werde deutlich machen, dass es sich hierbei um
mit Ja stimmt. Bei einer Grundgesetzänderung müssen einen rein populistischen Antrag und eine rein populisti-
5668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Helmut Brandt
(A) sche Forderung der Linken handelt, mit der man mögli- Mit Volksabstimmungen kann man den immer (C)
cherweise die Gunst der Bevölkerung leicht gewinnen schwierigeren und komplexen Fragestellungen unserer
kann, die aber keine zum Nutzen unserer Demokratie ist. pluralistischen Welt gerade nicht gerecht werden. Ein
Volksentscheid ist ein vereinfachtes Verfahren, bei dem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Frage – und das steht in Ihrem Antrag – mit Ja oder
neten der FDP) Nein entschieden wird. So sind komplexe Probleme
An unserer Argumentation, die in den letzten Jahren bei nicht zu lösen.
den einschlägigen Debatten immer wieder vorgebracht (Beifall bei der CDU/CSU – Halina
wurde, hat sich im Kern nichts verändert. Wawzyniak [DIE LINKE]: Das müssen Sie bei
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben jedem Gesetz hier auch machen: mit Ja oder
nichts gelernt!) Nein stimmen!)
Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei Im Gegensatz dazu ist unser bestehendes Gesetzge-
unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine bungsverfahren ein lernendes Verfahren. Kein Gesetz
quasi minderwertige Form der Demokratie, verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde.
Nach der ersten Lesung schließt sich eine intensive Be-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ratung in den Ausschüssen an. Sachverständigenanhö-
GRÜNEN]: Unvollkommen!) rungen, Expertengespräche und Berichterstattergesprä-
che werden durchgeführt.
ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert wer-
den muss. Das ist eine Geisteshaltung, die ich nicht tei- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Die direkte
len kann. Demokratie hat drei Stufen!)
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das steht Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen. Ich
doch nirgendwo!) erinnere unter anderem auch an die Einrichtung des Nor-
menkontrollrates. Es ist also ein umfassender Vorgang,
Es wird dabei suggeriert, die Einführung von Volksent- bei dem alle Gesichtspunkte erörtert werden konnten, bis
scheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossen- schließlich das Gesetz verabschiedet wird. Solch ein
heit. gründliches Verfahren, bei dem regelmäßig auch Kom-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Auch das promisse zum Wohle der Allgemeinheit, aber eben auch
steht nirgendwo!) zum Wohle der Minderheiten ausgehandelt werden, ist
nach unserer Auffassung das besser geeignete Instru-
– Das steht zwar nirgendwo, aber das steht hinter Ihrem ment.
(B) (D)
Antrag. – Es wird behauptet, nur durch die direkte De-
Das beste Beispiel dafür – das haben Sie nicht erwähnt,
mokratie könnten das bürgerschaftliche Engagement ge-
weil Ihnen das natürlich nicht in den Kram passt – wird
stärkt und die Wähler wieder an die Wahlurnen zurück-
durch die Schweiz geliefert, wo bei einer Abstimmung
geholt werden.
durch in diesem Fall zwei rechtspopulistische Parteien
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) überraschend eine Mehrheit von 57 Prozent herauskam.
Diese Auffassung teilen wir ausdrücklich nicht. Es spre- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Populisti-
chen nämlich gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite sche Entscheidungen kommen im Bundestag
auf Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer par- nie vor! Niemals!)
lamentarisch-repräsentativen Demokratie. Durch diese Abstimmung wurden nicht nur bei den in
Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Miss- der Schweiz lebenden Muslimen, sondern auch im Aus-
brauchs und der politischen Destabilisierung in sich. land und bei uns zu Recht große Proteste ausgelöst.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
NEN]: Was? Die CDU macht sie doch ständig, Herr Kollege Brandt, erlauben Sie eine Zwischen-
gerade hier in Berlin! Eine nach der anderen frage des Kollegen Ströbele?
macht Ihre Partei!)
– Herr Wieland, ich hatte von der Bundesebene und Helmut Brandt (CDU/CSU):
nicht von Berlin gesprochen. – Herr Wieland, Sie wissen Bitte schön.
mit Sicherheit – ich weiß, dass Sie das wissen –, dass
durch diese Form des Plebiszits in der Weimarer Zeit das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Volk aufgewühlt und gespalten und das Vertrauen in das Bitte, Herr Ströbele.
Parlament zusätzlich erschüttert wurde. Ich brauche Sie
auch nicht daran zu erinnern, dass gerade während der
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
Naziherrschaft Volksabstimmungen geradezu miss-
braucht wurden, um diktatorische Entscheidungen zu le- GRÜNEN):
gitimieren. Danke, Herr Präsident. – Herr Kollege, haben Sie eine
Erklärung dafür, warum es auf europäischer Ebene mit
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einem Volksentscheid klappen soll, während es auf Bun-
NEN]: Sie waren ja auch nicht frei!) desebene nicht klappen soll? Wenn ich mich richtig erin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5669
Hans-Christian Ströbele
(A) nere, dann hat Ihre Fraktion – vermutlich haben Sie sel- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
ber das auch getan – für den Lissabon-Vertrag und Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. – Wenn das In-
vorher für die Europäische Verfassung gestimmt, in strument des Volksbegehrens bzw. des Volksentscheides
denen das ja ausdrücklich vorgesehen ist. Wir wissen ja, nur ein Instrument für Unwissende ist, für Demagogen,
dass im Augenblick noch sehr intensiv an den Einzelhei- für Spalter der Bevölkerung, warum wird es denn dann
ten gearbeitet wird. auf Ebene der Bundesländer zum Teil mit großem Erfolg
praktiziert? Warum stellt sich Ihre Partei auf Ebene der
Helmut Brandt (CDU/CSU): Bundesländer gerne hinter solche Volksbegehren, hier in
Berlin zum Beispiel beim Thema Religion oder Offen-
Ich habe deshalb keine Erklärung dafür, weshalb das
haltung des Flughafens Tempelhof? Warum haben Ihre
klappen sollte, weil ich an ein solches Verfahren nicht
Parteifreundinnen und -freunde von der CSU gefordert,
glaube.
dass über den Vertrag von Lissabon eine Volksabstim-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mung stattfinden solle, der ja nun wirklich nicht einfach
NEN]: Aber es ist doch vorgesehen! – Hans- zu lesen und zu verstehen war? Warum kommen solche
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Forderungen aus Ihrer Partei, wenn dieses Instrument,
NEN]: Sie haben doch dafür gestimmt!) wie Sie sagen, nur etwas für plakative Parolen und zur
Volksverdummung ist?
– Unabhängig davon, Herr Wieland, ob das im Lissabon-
Vertrag vorgesehen ist oder nicht, wird man abzuwarten
Helmut Brandt (CDU/CSU):
haben, was im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens im
Europäischen Parlament dazu beschlossen wird. So wie Erstens habe ich das so, wie Sie es jetzt wiedergeben,
Sie das anstreben und wie es in dem vorliegenden Ge- nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass eine solche Ge-
setzentwurf vorgesehen ist, klappt das weder auf Bun- fahr besteht.
desebene noch auf europäischer Ebene. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aha!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zum anderen ist es ein großer Unterschied, ob man in ei-
Ich hatte gerade die Schweiz und die dort mit Volks-
ner Stadt wie Berlin mit 3,6 Millionen Einwohnern ein
abstimmungen verbundenen Probleme erwähnt. Darauf
solches Verfahren durchführt oder in einem Land mit
gehen Sie natürlich nicht ein, weil das Ihnen nicht passt.
80 Millionen Einwohnern.
Für besonders groß halte ich auch die Gefahr, dass (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Was ist der
wichtige Fragen nicht nach sachbezogenen Gesichts- Unterschied?)
(B) punkten entschieden werden, sondern danach, welche (D)
Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht, – Das ist zahlenmäßig ein großer Unterschied. Das wer-
den Sie vielleicht nicht so weit nachvollziehen können,
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das pas- aber ich kann Ihnen das vorrechnen.
siert hier im Bundestag natürlich nie!)
Dann kommt noch eines hinzu, Herr Wieland: Wenn
wie schlagwortartig Parolen – darin sind Sie ja groß – Sie schon Berlin erwähnen, dann werden Sie doch auch
unter das Volk gejubelt werden und wer welche Promi- die Worte des Herrn Regierenden Bürgermeisters
nenten mit entsprechender Werbewirkung für seine Sa- Wowereit kennen, der sagte, es wäre ihm vollkommen
che gewinnt. Die Folge ist doch klar: unsachlicher Ab- egal, wie das Volk in dieser Volksabstimmung entschei-
stimmungskampf, der die Gefahr von Manipulation in det, er wird sich ohnehin nicht daran halten, Tempelhof
sich birgt. würde geschlossen.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
nicht zu fassen! – Wolfgang Wieland [BÜND- GRÜNEN]: Auch Herr Wowereit kann sich ir-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja unglaub- ren! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE
lich!) GRÜNEN]: Er ist offenbar so wenig ein
Freund von Volksabstimmungen wie Sie!)
– Das ist nicht unglaublich, Herr Wieland. Sie wissen
genau, wovon ich spreche. So viel zum Verständnis der Grünen, der Roten und an-
derer in dieser Frage. Ich denke, dass Ihre Frage damit
Meines Erachtens ist es nicht einzusehen, dass sich beantwortet ist.
Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und un-
populäre oder schwierige Entscheidungen dem Volk (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
überlassen.
Ich habe es ja gerade erwähnt – ich verstehe das auch
oft in der Diskussion nicht –: Für mich ist nicht einzuse-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hen, weshalb wir uns als Parlamentarier auf diese Art
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des und Weise zum Teil aus der Verantwortung stehlen soll-
Kollegen Wieland? ten.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Helmut Brandt (CDU/CSU): GRÜNEN]: Das steht im Grundgesetz! Haben
Selbstverständlich, bitte schön. Sie mal das Grundgesetz gelesen?)
5670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Helmut Brandt
(A) Herr Ströbele, ich denke auch, dass das insgesamt eine Auf die Äußerungen des Herrn Wowereit habe ich (C)
Abwertung des Parlaments bedeuten und damit ein Be- eben schon Bezug genommen. Das kann ich mir jetzt
deutungsverlust einhergehen würde, der bereits durch sparen.
die Normenflut der europäischen Institutionen – und wir
wissen ja aus dem Innenbereich, was es damit auf sich (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hat – NEN]: Herr Wowereit scheint Ihr Kronzeuge
zu sein! Ein ganz schlechter Kronzeuge! –
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Art. 20!) GRÜNEN]: Das ist kein Vorbild!)
und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten Liebe Kolleginnen und Kollegen, neue Argumente
mehr in Talkshows zu diskutieren als im Parlament aus- sind für uns nicht ersichtlich. Deshalb hat sich auch un-
zutragen, eingetreten ist. All das würde gefördert. sere Einstellung zu diesem Gesetzentwurf nicht verän-
dert. Ich fasse zusammen: Schon die Ergänzung unserer
Letztlich wäre die föderale Grundstruktur unseres repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente
Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des Grundge- auf Bundesebene würde die Wesenszüge unserer Demo-
setzes garantierte grundsätzliche Beteiligung der Länder kratie verändern. Ich kann nur raten: Unterschätzen wir
an der Gesetzgebung nicht mehr in der vom Grundgesetz nicht die Gefahr des Populismus, der in Plebisziten
garantierten Form gewährleistet wäre. steckt! Geringschätzen wir nicht unsere geschichtlichen
Erfahrungen damit! Überschätzen wir nicht die Bedeu-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Lesen Sie tung von Plebisziten beim Kampf gegen Politikverdros-
doch den Gesetzentwurf! Da steht die Beteili- senheit!
gung der Länder drin!)
Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes Ver-
– Sie müssen meinen nächsten Satz abwarten, dann wis- fahren und unseren starken Föderalismus wertzuschät-
sen Sie, was fehlt. zen. Wir lehnen den Gesetzentwurf ab.
Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat sieht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ihr Gesetzentwurf nämlich nicht vor – auch andere Re- neten der FDP)
gularien nicht. Er wird lediglich beteiligt, aber nicht in
der vom Grundgesetz vorgesehenen Form. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Machen Nächster Redner ist der Kollege Michael Hartmann
(B) Sie einen Vorschlag!) für die SPD-Fraktion. (D)
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind damit die (Beifall bei der SPD)
Gründe für eine Ablehnung im Wesentlichen die glei-
chen, die wir bereits anlässlich der früher vorgelegten Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
ähnlichen oder gleichartigen Gesetzentwürfe genannt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
haben. Herren! Ich habe mir vorhin in Vorbereitung auf unsere
Kommen wir zu den Hauptargumenten derjenigen, Debatte am heutigen Nachmittag die Mühe gemacht,
die den Gesetzentwurf eingebracht haben. Sie behaupten nachzulesen, wie oft wir in den letzten Wahlperioden
immer wieder, durch die Möglichkeit von Plebisziten auf über diese Fragen diskutiert haben. Es waren sage und
Bundesebene könne man der Politikverdrossenheit und schreibe zehn Mal. Es wird noch ein elftes, zwölftes und
dem Vertrauensverlust der Politiker entgegenwirken. dreizehntes Mal geben müssen. Eines Tages wird die
Das stimmt einfach nicht. Kraft der Argumente auch die CDU/CSU-Fraktion errei-
chen.
Ich habe bis heute nicht verstanden, warum der Vor-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
schlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
berische Entscheidungskompetenz zu entziehen und sie
dem Volk zu übertragen, zu einem größeren Vertrauen Denn es macht durchaus Sinn, auch in einer parlamenta-
gerade in das Parlament führen soll. Das ist für mich ein rischen Demokratie mehr Bürgerbeteiligung einzufüh-
Widerspruch in sich. ren.
Was die behauptete höhere Wahlbeteiligung anbe- Angesichts der Debatten könnte man sagen: Täglich
langt, beweisen nicht nur der aktuell in Bayern durchge- grüßt das Murmeltier. Ich bin Optimist und sage: Steter
führte Volksentscheid zum Nichtraucherschutz, sondern Tropfen höhlt den Stein. Denn alles, was gegen mehr di-
auch die in den vergangenen Jahren in Berlin durchge- rekte Demokratie eingewandt wird, trifft nicht. In der Tat
führten Volksentscheide das Gegenteil. Die Wahlbeteili- hatten die Eltern des Grundgesetzes 1949 die schlechten
gung war stets konstant niedrig. Sie lag immer bei und schlimmen Erfahrungen der Weimarer Republik vor
36 oder 37 Prozent, also deutlich unter der Beteiligung Augen. Angesichts der Teilung Deutschlands und des
bei anderen Wahlen. Diese Zahlen sprechen nach meiner beginnenden Kalten Krieges sahen sie auch die Möglich-
Auffassung für sich. Direkte Demokratie führt eben keiten, die nationale Karte manipulativ zu ziehen. Das
nicht zu einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung. alles ist wahr.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5671
Michael Hartmann (Wackernheim)
(A) Aber wir haben gerade im letzten Jahr gemeinsam mit Dies barg im Übrigen die Gefahr für die Parlamentarier, (C)
Stolz das 60-jährige Bestehen des Grundgesetzes gefei- nicht wiedergewählt zu werden. Im Nachhinein haben
ert. Auch unter unserer erheblichen Beteiligung haben sich diese Entscheidungen aber als fundamental wichtig
wir das Grundgesetz, das gut ist, immer besser gemacht, für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik
indem wir es verändert haben. Heute sind wir so weit, Deutschland erwiesen. Das ging hin bis zur Ermögli-
dass wir sagen können: Es ist kein Abbruch parlamenta- chung der Wiedervereinigung. Würden Sie angesichts
rischer Demokratie, wenn wir Volksabstimmungen zu- dieser Tatsachen akzeptieren, dass es manchmal sogar
lassen, sondern ein Zugewinn für parlamentarische Pro- sinnvoll ist, nicht so sehr auf Umfragen zu schauen, son-
zesse. dern intensiver parlamentarisch zu beraten, parlamenta-
rische Verantwortung wahrzunehmen und darüber nach-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem zudenken, wie man die Bevölkerung auf Landes- und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf Kommunalebene besser einbinden kann? Würden
Im Übrigen hatten auch die Väter und Mütter des Sie mir zustimmen, dass manche Entscheidungen hier
Grundgesetzes keineswegs die Tür dafür zugeschlagen. im Parlament bewusst von verantwortungsvollen Politi-
Denn in Art. 20 heißt es sehr wohl, dass das Volk in kern, die gewählt worden sind, wahrgenommen werden
Wahlen und Abstimmungen seiner Meinung Ausdruck müssen?
verleihen kann. Das sollten wir heute ernster nehmen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
denn je, in Zeiten, in denen wahrhaftig nicht die Rede NEN]: Dieses Recht wird uns doch nicht ge-
davon sein kann, dass hier die Untertanen sind, die gar nommen! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]:
nicht wissen, wie ihnen geschieht, und dort die weisen Verantwortungsvoller als der Bürger, oder
Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die das würde- was?)
voll und gescheit an ihrer Stelle für sie entscheiden.
Das wäre ein fatales Missverständnis dessen, was par- Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
lamentarische Demokratie ausmacht. Jeden Tag gibt es Sehr geehrter Herr Kollege, ich bin mir sicher – wäre
eine neue Meinungsumfrage, die täglich aufs Neue die es anders, dann wäre es fatal –, dass Sie einem Missver-
Politik beeinflusst. Wäre es nicht klüger, sinnvoller, ka- ständnis unterliegen. Volksabstimmungen oder Volksent-
nalisierender und in höherem Maße Demagogie verhin- scheide einzuführen, heißt nicht, einer Gefälligkeitsde-
dernd, wenn wir in einem geordneten Verfahren den mokratie das Wort zu reden. Werter Herr Kollege,
Bürgerinnen und Bürgern von Zeit zu Zeit die Möglich- vielleicht würde es uns allen guttun, wenn wir das, was
keit gäben, uns zu sagen, was sie über unsere Politik wir wollen und vielleicht gegen Widerstände der Öffent-
denken? lichkeit durchzusetzen haben – das ist gelegentlich un- (D)
(B)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sere Pflicht –, genauer und besser erklären würden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Helmut Wenn wir uns einem Volksentscheid stellen müssten,
Brandt [CDU/CSU]: Das tun sie alle vier dann müssten wir viel offener und transparenter, als das
Jahre!) heute der Fall ist, über das rechten und das verantworten,
was wir wollen. Deshalb ist das gerade ein gutes Ele-
ment in der parlamentarischen Demokratie.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Hartmann, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
frage des Kollegen Grosse-Brömer? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Zeit hat heute sehr schön zu dem Thema unter der
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Überschrift „Wir beißen nicht“ geschrieben:
Gerne.
Plebiszit ist nicht das Gegenteil von Parlament. Die
Politik sollte weniger Angst vor dem Souverän ha-
Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): ben.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr
Kollege Hartmann, Sie haben gerade die Umfragen an- Das passt genau zu Ihrer Zwischenfrage.
gesprochen. Würden Sie mir recht geben, dass es gerade
in der Vergangenheit häufig politische Entscheidungen Es wird immer das volkspädagogische Argument ins
gegeben hat, die in der Bevölkerung auf große Skepsis Feld geführt, die Leute könnten über all diese komple-
oder große Ablehnung gestoßen sind? Ich nenne exem- xen Fragen, über die wir hier debattieren und über die
plarisch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik wir hier zu entscheiden haben, nicht mit der Tiefe und
oder den NATO-Doppelbeschluss. Diese Entscheidun- der Sachkompetenz entscheiden, wie wir das können.
gen wurden in einem parlamentarischen Verfahren mit Dem halte ich entgegen: Können wir das immer – seien
ausgiebigen Debatten gegen die Mehrheit der Bevölke- wir bitte ehrlich – mit der Tiefe und Detailgenauigkeit
rung getroffen, wobei die Parlamentarier über Informa- bei dem Zeit- und Termindruck, dem wir ausgesetzt
tionen verfügten, über die der einzelne Bürger nicht ver- sind? Sind wir denn frei von manipulativen Angriffen
fügt hat. von Lobbyisten und anderen? Ist bei uns alles so transpa-
rent, wie wir es uns wünschen würden? Je mehr Öffent-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ist der lichkeit bei den richtigen und notwendigen Fragen, umso
Bürger dümmer?) besser für die parlamentarische Demokratie.
5672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lehnten Volksinitiative zum Volksbegehren und dann (C)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Hönlinger zum Volksentscheid sind uns zu kurz. Wir sollten da-
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. durch kein Einfallstor schaffen, das wir im Einzelfall be-
dauern könnten. Deshalb sollten wir mit allen Fraktio-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nen, gern auch mit der FDP, überparteiliche Antworten
finden.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle hier im Hause wissen: Unser Grund- Liebe Kolleginnen und Kollegen – jetzt spreche ich
gesetz ist die beste Verfassung, und unsere Demokratie ganz besonders zu den Damen und Herren von der CDU
ist die beste Regierungsform, die wir je in Deutschland und der CSU –:
hatten.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Ja, gebt euch mal einen Ruck!)
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Helmut Brandt [CDU/CSU]: So soll es auch Wir haben ganz aktuell zwei herausragende Beispiele für
bleiben!) direkte Bürgerbeteiligung. Das erste Beispiel: Im Zu-
sammenhang mit der Bundespräsidentenwahl hat sich
Wir haben freie, gleiche und geheime Wahlen auf allen die Bevölkerung ein eigenes Urteil über die Kandidaten
Ebenen. Dadurch beteiligen sich die Bürgerinnen und gebildet und dieses Urteil auch geäußert. Damit hat sie
Bürger an der Demokratie. Diese Art der repräsentativen sich ein hervorragendes demokratisches Reifezeugnis
Demokratie hat sich bewährt. Auch wir Grünen sind ausgestellt. Das wird weiterwirken, und das muss auch
überzeugt davon: Wir haben hier in Deutschland eine weiterwirken, meine Damen und Herren Kolleginnen
gute und funktionierende Demokratie. und Kollegen.
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ende der Rede!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber Demokratie fällt nicht vom Himmel, und sie ist
auch nicht in Stein gemeißelt. Die ständig sinkende Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wahlbeteiligung ist für mich ein ernstes Anzeichen da- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
für, dass wir schnell und aktiv an der inneren Stärkung
unseres demokratischen Gemeinwesens arbeiten müs- Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sen. Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Bitte schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
Hier ist es genauso wie in Wissenschaft und Forschung: Bitte sehr.
Stehen bleiben bedeutet Rückschritt. Was wir brauchen,
ist demokratischer Fortschritt.
Manuel Höferlin (FDP):
Wie soll dieser demokratische Fortschritt aussehen? Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kolle-
(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Frage!) gin, würden Sie mir darin zustimmen, dass in dem von
Ihnen genannten Beispiel der Bundespräsidentenwahl
Nach unserer Überzeugung können wir ihn mit mehr Umfragen vor der Wahl ein anderes Ergebnis hatten als
Elementen direkter und partizipativer Demokratie errei- Umfragen nach der Wahl? Nach der Wahl hat die über-
chen. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte auch zwi- wiegende Zahl der Menschen in Deutschland auf die
schen den Wahltagen die Möglichkeit haben, Demokra- Frage, ob der neue Bundespräsident, Herr Christian
tie aktiv zu leben. Wulff, ihrer Meinung nach ein guter Bundespräsident
wird, plötzlich eine drastisch veränderte Meinung geäu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ßert.
Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern sehr schnell (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mehr direkte Beteiligung ermöglichen, und zwar auch NEN]: Auch nach der Bundestagswahl, Herr
den Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshinter- Kollege! Auch bei der FDP! – Weitere Zurufe)
grund. Vielleicht ist das auch ein Schlüssel zur Terroris-
musbekämpfung; denn überzeugte Demokraten, meine – Ich stelle jetzt meine Frage, Herr Kollege Wieland.
Damen und Herren, überzeugte Demokraten sind nicht Dann können Sie, wenn Sie wollen, Ihrer Kollegin ja
anfällig für extremistische Positionen. auch noch eine Frage stellen.
Für uns Grüne ist direkte Demokratie, sind Volksini- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tiativen, Volksbegehren und Volksentscheide eine Her- NEN]: Ich mache nur einen Zwischenruf!)
zenssache. Wir haben schon mehrfach Vorschläge zu
dem Thema unterbreitet. Jetzt greift die Linke das Sind Sie auch der Meinung, dass dies bei dem, was
Thema auf. Das ist lobenswert. Aber im Detail sehen wir Sie gerade gesagt haben, zu beachten ist?
doch noch einige Mängel in ihrem Gesetzesentwurf.
Auch aus unserer Sicht sind die Quoren zu niedrig ange- Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
setzt. Das kann schnell zu riskanten Zufallsergebnissen Umfragen hängen natürlich immer ganz stark von der
führen. Die Fristen für den Übergang von einer abge- Fragestellung ab.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5675
Ingrid Hönlinger
(A) (Zurufe von der FDP: Ah! – Manuel Höferlin reif für mehr direkte Demokratie. Diesen Demokratisie- (C)
[FDP]: Das ist der Punkt!) rungsprozess müssen wir auch hier im Parlament unter-
stützen; denn er nutzt überparteilich uns allen. Wir hier
Ich schätze unsere Bevölkerung einfach als fair ein. Die
im Parlament haben die Aufgabe, Regeln zu setzen für
Bevölkerung hat sich vor der Wahl ein Bild gemacht in
die direkte Demokratie. Wir müssen die Verfassung, die
der Frage, welchen Kandidaten oder welche Kandidatin
Grundrechte und auch die Minderheiten schützen.
für das Amt des Bundespräsidenten oder der Bundesprä-
sidentin sie am besten findet, und sie hat nach der Wahl (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Volks-
akzeptiert, dass wir hier eine demokratische Wahl durch- entscheide nur bei Themen, die Ihnen passen!
geführt haben. Das ist doch Ihr Vorschlag!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss will
sowie bei Abgeordneten der SPD) ich sagen: Wir sollten in diesem Haus mit der Unterstüt-
Dann zu sagen, dass Herr Wulff als Bundespräsident in zung von allen Fraktionen direkter Demokratie mehr
Ordnung ist, ist doch wirklich demokratisch. Chancen geben. Lassen Sie uns gemeinsam unsere De-
mokratie stärken! Das macht sie bunter, lebendiger und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zukunftsfester.
sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vielen Dank.
FDP 5 Prozent zuzubilligen, ist genauso rich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tig und demokratisch!) sowie bei Abgeordneten der SPD – Helmut
– Genau. Brandt [CDU/CSU]: Bunter ja, besser nein!)
Michael Frieser
(A) Herr Kollege! Die Bayern waren die Einzigen, (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wie funk- (C)
die nicht zugestimmt haben!) tioniert das in Bayern?)
– Ja, deshalb enthält die bayerische Verfassung diese un- Im Ergebnis hebeln Sie auch das Prinzip der Beteili-
glaubliche Form von Volksbeteiligung. gung der Länder aus. Sie verwandeln nicht nur das Prin-
zip der Beteiligung – darüber könnte man noch reden –,
Wenn Sie mir jetzt geneigt zuhören wollen, dann erkläre sondern Sie verwandeln auch das Grundgerüst unseres
ich Ihnen einmal, warum in einem föderalen System, beste- Staates, indem Sie das föderale Prinzip ein ganzes Stück
hend aus Bundesstaaten wie in der Bundesrepublik weit aufgeben.
Deutschland, in einzelnen Landesteilen Volksentscheide
möglich sind und auf Bundesebene nicht. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Drucksa-
chen lesen!)
Ich will zuvor etwas Grundsätzlicheres sagen. Ich
habe schon ein bisschen den Eindruck, als ob es Ihnen Ich höre, Sie wollen wichtige Themen wie die Todes-
hierbei um die Frage geht, was man damit eigentlich be- strafe nicht zur Abstimmung stellen. Das soll eine Aus-
zwecken kann. Haben wir das richtig verstanden, dass es nahme sein. Schon sind wir beim nächsten Thema. Wie
Volksabstimmungen immer nur dann geben soll, wenn sieht es mit der Sicherungsverwahrung aus?
das Thema in Ihre politischen Vorstellungen passt? Denn (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wenn es nach Ihnen geht, soll es keine Volksentschei- NEN]: Sie haben das Grundgesetz nicht ver-
dungen bei religiösen Grundsatzfragen, bei moralischen standen!)
Grundsatzfragen und Ähnlichem geben. Kann man also
davon ausgehen, dass es eine Volksabstimmung nur bei Zu all solchen Themenkomplexen müssten Sie einen Ka-
unwichtigen Themen geben soll? talog erstellen, der immer nur den Zeitgeist abbilden
kann. Man kann nur das Hier und Heute in einem ent-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sprechenden Gesetzentwurf abbilden.
NEN]: Kann man nicht!)
Meines Erachtens geht es nicht um mehr politische
Aber wenn es um wichtige Fragen geht und man Angst Stabilität, sondern schon auch um das Ziel, das parla-
vor dem Ergebnis hat, dann soll eine Volksabstimmung mentarische System durch das hochgehaltene Warn-
nicht vorgesehen sein. Das funktioniert nicht. Es tut mir schild, man könne zu einem bestimmten Thema eine
leid. Volksabstimmung durchführen, aus der Balance zu brin-
(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang gen. Das kann der Abbildung des Bürgerwillens nicht
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie unbedingt dienlich sein. Was wäre denn bei Abstimmun-
müssen das Grundgesetz kennen!) gen zum Thema Euro oder zum Thema Wiedervereini-
(B) (D)
gung – Kollege Brandt hat schon darauf hingewiesen –
Sie wissen genau, welche Kombination wir gerade passiert? Ist es nicht gerade auch das Ziel des Antragstel-
dank des Grundgesetzes haben, nämlich eine Balance lers, Entscheidungen zu Themen, die wir nach schwieri-
zwischen einer sehr basisdemokratischen und sehr gen Diskussionen bewusst getroffen haben, beispiels-
grundsätzlichen Beteiligung des Volkes einerseits und weise zu Auslandseinsätzen, auf diese Art und Weise
den in der repräsentativen Demokratie unabhängigen wieder aufzuheben? Damit werden allerdings die Inte-
Abgeordneten andererseits. Der Abgeordnete ist somit ressen des Staates wirklich massiv aufs Spiel gesetzt.
kein Befehlsempfänger, und er hat auch kein imperatives
Letztendlich muss auch folgendes Argument zählen:
Mandat. Im Gegenteil: Er ist nur seinem Gewissen ver-
Was ist bei Handlungsdruck? Sie wissen, dass Volksab-
pflichtet, soweit er denn eines hat. Er muss seine Ent-
stimmungen eines langen Vorlaufs bedürfen. Man kann
scheidungen auf seinen Sachverstand und auf seine Er-
dann nicht schnell entscheiden bzw. auf manche Ent-
fahrungen beispielsweise aus Gesprächen, die er in
wicklungen nicht schnell genug reagieren.
seinem Wahlkreis führt, gründen und diese Intentionen
hier einbringen. Auf der einen Seite steht der Volkswille Im Ergebnis: Versuchen wir nicht immer wieder, die-
bzw. der Bürgerwille und auf der anderen Seite steht die ses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Anscheinend
politische Umsetzung dieses Willens. Das haben die Vä- war es schon früher so – selbst als Neuer kann ich das
ter des Grundgesetzes mit dem Begriff „Willensbil- sagen, wenn ich in die Annalen blicke –, dass es in ei-
dungsprozess“ gemeint. Sie wissen auch, dass diese Ba- nem Zeitraum von einem Dreivierteljahr immer wieder
lance kein Minus im Hinblick auf die Legitimation ist. kommt. Umgekehrt sehe ich, dass, wenn es um Themen
geht, bei denen wir uns nicht einer Zustimmung von
Wenn man auch die wichtigen Fragen zum Diskurs mehr als 51 Prozent der Bürger sicher sind, gesagt wird,
stellen möchte, dann muss damit ein intensiver Prozess dass man sich eine Entscheidung auch ohne direkte De-
verbunden sein. Nicht nur im Bundestag bedarf es einer mokratie vorstellen kann. So würde ich mich darüber
intensiven Abstimmung. Wie wollen Sie Sachverständi- freuen, in unserem Land eine Abstimmung durchzufüh-
genanhörungen in Volksabstimmungen einbringen und ren, um endlich zu erfahren, wo die SED-Milliarden ge-
Sachverständigengremien im Falle von Volksabstim- blieben sind.
mungen einbeziehen? Wie wollen Sie dann das Prinzip,
dass Diskussionen, die untereinander geführt werden, (Zuruf von der LINKEN: Im Bundeshaushalt!)
mitunter in Kompromisse bzw. in einen Konsens mün-
Vielen Dank.
den, aufrechterhalten? Dies alles würde bei Volksabstim-
mungen wegfallen. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5677
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rum von 5 Prozent. Das entspricht etwa 3 Millionen Bür- (C)
Die Kollegin Fograscher hat das Wort für die SPD- gerinnen und Bürgern. Die FDP fordert sogar 10 Prozent,
Fraktion. also etwa 6 Millionen Unterstützer. Der Linken reicht ein
Quorum von 1 Million, also etwa 1,7 Prozent. Auch das
(Beifall bei der SPD) halte ich für zu gering.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Dann re-
Gabriele Fograscher (SPD):
den wir darüber!)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Auch die SPD setzt sich seit vielen Jahren dafür – Gerne.
ein, Elemente direkter Demokratie ins Grundgesetz zu
Wir wollen die Themen nicht wie Sie in einem Kata-
schreiben. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009
log auflisten. Sie werden nämlich automatisch durch das
haben wir geschrieben – ich zitiere –:
Grundgesetz begrenzt. Die darin enthaltenen Regelun-
Wir wollen Volksbegehren und Volksentscheide gen sind ausschlaggebend dafür, ob eine Fragestellung
auch auf Bundesebene ermöglichen und dabei die zulässig ist oder nicht.
Erfahrungen der Länder berücksichtigen. Was mir an dem Vorschlag der Linken völlig unver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ständlich ist, sind die Vorschläge zu Art. 82 c Abs. 4 des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Halina Grundgesetzes – ich zitiere –:
Wawzyniak [DIE LINKE]: Na prima! Fangen Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins zum
wir an!) Bundestag hat jede Fraktion des Bundestages das
Unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie Recht, eine Sachfrage zur Abstimmung am Wahlter-
hat sich bewährt. Aber wir sind der Meinung, dass es an min vorzuschlagen.
der Zeit ist, diese durch direkte Beteiligungsrechte der Weiter:
Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen. Es wäre auch ein
Schritt zu mehr europäischer Gemeinsamkeit; denn in Der gewählte Bundestag
vielen unserer Nachbarstaaten und auch in Europa, im – es müsste heißen: der neu gewählte Bundestag –
Lissabon-Vertrag, gibt es diese Instrumente bereits,
ebenso wie in allen Bundesländern der Bundesrepublik ist für seine Wahlperiode an die Entscheidung der
Deutschland, auch in den CDU- bzw. CSU-regierten. Bürgerinnen und Bürger in diesen Fragen gebun-
Warum also nicht auch im Bund? den.
(B) Alle Fraktionen dieses Hauses, bis auf die CDU/CSU, Unserer Ansicht nach hat ein Volksentscheid den (D)
haben in der Vergangenheit Gesetzentwürfe vorgelegt. Zweck, dass sich Bürgerinnen und Bürger zwischen den
Der Gesetzentwurf der FDP aus der 16. Wahlperiode ist Wahlterminen zu Sachfragen direkt äußern können.
immer noch auf deren Homepage zu finden. Leider steht Wenn Sie den Volksentscheid an die Bundestagwahl
zu diesem Thema nichts in Ihrem Koalitionsvertrag. knüpfen, wäre dieser Zweck hinfällig. Warum sollen nur
Herrn Kollegen Schulz möchte ich sagen – er hat sich die im Bundestag vertretenen Fraktionen berechtigt sein,
gerade entschuldigt, er musste gehen –: Es ist etwas an- Sachfragen zur Abstimmung zu stellen? Warum dürfen
deres, das Petitionsrecht zu stärken und zu ändern, als das nicht alle Parteien, die zur Bundestagwahl zugelas-
das, was unsere Intention ist, nämlich direkte Bürgerbe- sen sind? Und warum sollen Parteien Sachfragen vorge-
teiligung zu ermöglichen. ben, wo doch Volksentscheide schon allein vom Namen
her aus der Mitte des Volkes kommen sollen? Was soll
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der das denn bringen, und wem soll das nützen? Den Wähle-
LINKEN) rinnen und Wählern bringt das sicher nichts. Die Par-
In der konkreten Ausgestaltung von Volksinitiativen, teien und ihre Bewerber treten mit einem umfassenden
Volksbegehren und Volksentscheiden gibt es allerdings Programm, soweit sie eines haben, zu unterschiedlichen
sehr unterschiedliche Vorschläge. Themen zur Bundestagwahl an, und der Wähler trifft
dazu seine Entscheidung.
Für die erste Stufe, die Volksinitiative, fordern SPD
und Grüne und auch die FDP ein Quorum von Mit der Bindung des Bundestages an die Entschei-
dung der Bürgerinnen und Bürger während der gesamten
400 000 Stimmberechtigten, die Linke fordert in ihrem
Legislaturperiode würde der Rahmen der politischen Ge-
heute vorgelegten Gesetzentwurf nur ein Quorum von
100 000 Stimmberechtigten. Sie begründen das damit, staltungsmöglichkeiten nicht ergänzt, wie wir es wollen,
sondern eingeschränkt. Diesen Vorschlag halte ich des-
dass in etwa so viele Stimmen zur Erlangung eines Bun-
halb für verfehlt. Wir werden ihm nicht zustimmen.
destagsmandats nötig seien. Ich halte dieses Quorum für
zu gering, um Bagatellinitiativen zu verhindern. Auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
das Argument, dass die Zahl von 100 000 Wählerstim-
men einem Bundestagsmandat entspricht, ist keine ver- Auch wenn alle bislang eingebrachten Gesetzent-
nünftige Begründung; denn ein einzelner Abgeordneter würfe letztlich dasselbe Ziel haben, so unterscheiden sie
kann im Bundestag allein keine Initiative einbringen. sich doch in vielen Punkten. Bei den Quoren wird das
wohl am deutlichsten. Solange sich CDU und CSU aber
Für Volksbegehren forderte Rot-Grün in einem ge- standhaft weigern, mehr Bürgerbeteiligung zuzulassen,
meinsamen Antrag in der 14. Legislaturperiode ein Quo- werden wir auch in dieser Legislaturperiode keine
5678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Gabriele Fograscher
(A) grundgesetzändernden Mehrheiten erreichen. Ich bedau- Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter (C)
ere es, dass sich die FDP von diesem Ziel offensichtlich und der Fraktion der SPD
verabschiedet hat.
Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und
ausbauen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
– Drucksachen 17/2321, 17/2454 –
Frau Kollegin, ich bedauere, dass Ihre Redezeit be-
reits abgelaufen ist. Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Gabriele Fograscher (SPD): c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann,
Einen Satz noch. – Das müssen Sie in der Koalition Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der
vielleicht noch einmal klären. Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
Ich jedenfalls freue mich auf die Diskussion im Aus- nes Gesetzes zur Entfristung der freiwilligen
schuss. Man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Es hat, Weiterversicherung in der Arbeitslosenversi-
wie der Kollege schon sagte, bereits zehn Anläufe gege- cherung
ben. Vielleicht ist der elfte entscheidend und bringt den – Drucksache 17/1141 –
Durchbruch.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Danke schön. ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
(B) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf: – Drucksachen 17/1166, 17/1636 – (D)
Berichterstattung:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Abgeordneter Paul Lehrieder
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
für bessere Beschäftigungschancen am Ar- Zu dem Entwurf eines Beschäftigungschancengeset-
beitsmarkt – Beschäftigungschancengesetz zes der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
– Drucksache 17/1945 –
Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- battieren. – Auch dazu höre und sehe ich keinen Wider-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) spruch. Dann ist das so beschlossen.
– Drucksache 17/2454 – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Brauksiepe für die Bundesregierung. Bitte schön.
Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Abgeordneter Paul Lehrieder
Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
gemäß § 96 der Geschäftsordnung Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Drucksache 17/2455 – Die Bundesregierung hat dem Hohen Haus den Entwurf
eines Beschäftigungschancengesetzes vorgelegt, über
Berichterstattung: den wir heute abschließend beraten wollen. Das gibt die
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Gelegenheit, mal wieder über die tatsächliche Lage in
Bettina Hagedorn Deutschland in diesem Sommer 2010 zu sprechen.
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch Gestern beim Fußball waren andere besser als wir;
Alexander Bonde aber wenn man die Lage auf dem Arbeitsmarkt sieht,
muss man sagen: Seit Monaten ist niemand in Europa
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- besser als wir. Seit Monaten ist Deutschland der einzige
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales EU-Mitgliedstaat, in dem die Arbeitslosigkeit im Jahres-
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- vergleich sinkt. Das ist etwas, meine Damen und Herren,
ten Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, worauf wir stolz sein können in diesem Land.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5679
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bezahlten Jobs entstanden wären, sondern deswegen, (C)
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Champi- weil wir mit unseren Maßnahmen vor allem Beschäfti-
ons League!) gung gehalten haben. Genau das, was es im Zusammen-
hang mit der Kurzarbeit an Skepsis gegeben hat – dass
– Das ist nicht nur Champions League, Herr Kollege
möglicherweise Arbeitslosigkeit nur verlagert wird –, ist
Kolb; denn Champions League ist ja, wie die Kundigen
eben nicht eingetreten. In der jetzigen Situation haben
wissen, etwas, das auf Europa beschränkt ist. Aber un-
wir über 200 000 Beschäftigungsverhältnisse mehr als
sere Erfolge sind schon ein bisschen größer. Deutschland
vor einem Jahr. Die Zahl der Kurzarbeiter, die sich
ist das einzige Industrieland in der OECD, einer welt-
zwischenzeitlich aufgrund der Fördermaßnahmen, die
weiten Organisation mit rund 30 Mitgliedsländern, in
wir ergriffen haben, von rund 100 000 auf anderthalb
dem die Arbeitslosigkeit wieder unter den Stand vor der
Millionen verfünfzehnfacht hatte, ist jetzt wieder auf ein
Wirtschaftskrise gefallen ist. Das sagen nicht wir, die
deutlich niedrigeres Maß zurückgegangen. Das heißt, die
Bundesregierung, sondern die OECD selbst hat das ver-
Menschen sind nicht aus der Kurzarbeit in die Arbeits-
öffentlicht. Wir sind im Industrieländervergleich welt-
losigkeit gegangen, sondern sie sind wieder in Beschäfti-
weit spitze bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
gung gekommen, weil die Betriebe mit ihren Beschäftig-
Auch das ist etwas, worauf wir stolz sein können, meine
ten durch diese Krise gegangen sind. Das wollten wir
Damen und Herren.
erreichen, und das ist gelungen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ruf von der SPD: Wie ist das mit der Langzeit-
arbeitslosigkeit in Deutschland?) Wir wissen, dass dies nicht zum Nulltarif zu haben
war. Viele unserer Partner aus unseren Nachbarländern
Es gilt in der christlich-liberalen Koalition, was früher
fragen uns, was der Kern des deutschen Jobwunders ist –
in der Großen Koalition auch schon galt: Politik ist we-
ein Begriff, den nicht wir erfunden haben, sondern der
der allmächtig noch ohnmächtig. Politik hat das nicht
aus dem Ausland an uns herangetragen wurde. Der Kern
allein geschafft. Aber natürlich hat auch die Arbeits-
ist, dass es gelungen ist, Gewerkschaften und Arbeit-
marktpolitik – neben Gewerkschaften und Arbeitgeber-
geber mit den Beitrags- und Steuerzahlern in einem
verbänden, die wichtige Vereinbarungen miteinander ge-
Bündnis zusammenzubringen, das Arbeitsplätze erhalten
troffen haben – unbestreitbar einen hohen Beitrag geleis-
und neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Dieses Miteinan-
tet. Entgegen allen ursprünglichen Erwartungen ist es
der, diese Sozialpartnerschaft, die dieses Land über
uns in Deutschland gelungen, einen spürbaren Einbruch
60 Jahre stark gemacht hat, hat auch die letzten Jahre
bei der Zahl der Erwerbstätigen und den Anstieg der
mitgeprägt. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Jen-
Zahl der Arbeitslosen in einem selbst von Optimisten
seits allen politischen Streites – auch des Streites über
(B) nicht abzusehenden Ausmaß zu begrenzen. (D)
notwendige Sparmaßnahmen in diesen Tagen – muss
Führen wir uns noch einmal die Situation vor der man einfach einmal ein herzliches Dankeschön an die
Krise vor Augen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Im Sozialpartner in unserem Land sagen, die dieses Land
Herbst 2008 lag die Arbeitslosigkeit zeitweise bei unter mit großgemacht haben und mit durch diese Krise ge-
3 Millionen. Seit 2005 waren rund 1,5 Millionen neue führt haben.
Beschäftigungsverhältnisse geschaffen worden. Es gab
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
über 40 Millionen Erwerbstätige. In der Krise ist die Ar-
beitslosigkeit um rund 300 000 gestiegen, die Erwerbstä- Weil wir mit unserer Politik in dieser Krise bisher gut
tigkeit in einem etwa ähnlichen Maße zurückgegangen. gefahren sind, aber sie noch nicht überwunden haben, ist
Das war deutlich geringer als erwartet. Dies haben wir es richtig, dass wir jetzt mit diesen Maßnahmen fortfah-
neben der Beschäftigungspolitik der Unternehmen vor ren in dem Wissen, dass neben der gelebten Sozialpart-
allem dem massiven Einsatz von Kurzarbeit zu verdan- nerschaft der Erfolg bei der Bewältigung der Krise auch
ken. Über 300 000 Vollzeitstellen wurden durch Kurzar- teuer erkauft wurde. Wir haben die Reserven, die wir in
beit ersetzt. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre ohne der Arbeitslosenversicherung hatten, in der Tat aufge-
Kurzarbeit womöglich doppelt so hoch ausgefallen. braucht. Wir haben deswegen gesagt: Damit die Arbeits-
marktpolitik handlungsfähig bleibt, damit die Bundes-
Deswegen sage ich: Es war richtig, dass die Regie-
agentur für Arbeit handlungsfähig bleibt und damit für
rung, die zu der Zeit, als die Krise ausbrach, die Verant-
die Langzeitarbeitslosen weiterhin etwas getan werden
wortung hatte, also die Große Koalition, diese Maßnah-
kann, unterstützt der Bund die Bundesagentur in diesem
men ergriffen hat. Und es ist richtig und wichtig, dass
Jahr mit einem Zuschuss. Wir werden weiter für die
die christlich-liberale Koalition jetzt daran anknüpft und
Handlungsfähigkeit der arbeitsmarktpolitischen Akteure
das Signal gibt: Es ist viel erreicht worden, aber wir sind
in diesem Land sorgen.
noch nicht durch die Krise durch. Wir werden diesen
Weg, der einmalig erfolgreich ist, auch gemeinsam wei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
tergehen. Das ist die Botschaft dieses Gesetzes. Herren, wenn wir im Jahr 2013, in dem wir aller Voraus-
sicht nach noch weniger Arbeitslose haben als jetzt, so
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
viel für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben, wie wir es
Wir stehen am Anfang einer konjunkturellen Erho- im Jahr 2006 bei weit über 4 Millionen Arbeitslosen ge-
lung, nachdem die Auswirkungen der Krise auf den Ar- tan haben, zeigt das, dass wir auf Dauer deutlich mehr
beitsmarkt vergleichsweise gering geblieben sind – nicht Geld in die Arbeitsmarktpolitik geben, als das früher der
deswegen, weil in großem Maße irgendwelche niedrig Fall war.
5680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(Anette Kramme [SPD]: Nein! Ich habe ledig- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
lich von entlastenden Maßnahmen gespro- Ich bin leider am Ende meiner Redezeit und kann zu
chen!) dem Antrag der Linken, Frau Zimmermann, nichts mehr
(B) Hier ist im Zusammenspiel von Unternehmen und Ge- sagen. Was Sie vorgelegt haben, ist ohnehin das Übliche: (D)
werkschaften sozial sehr verantwortlich gehandelt wor- reduzierte Höchstarbeitszeit, Mindestlohn, Verlängerung
den. Auch dies gilt es hier und heute zu betonen. der Bezugsfrist usw. Das kann man sich ersparen bzw.
werden wir bei nächster Gelegenheit kommentieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie sagen ja
Auf das, was wir erreicht haben, bin ich stolz. Wir ha- auch das Übliche dazu!)
ben es uns nicht leicht gemacht, Frau Kollegin Kramme.
Aber am Ende haben wir uns geeinigt und eine gute Re- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und ver-
gelung getroffen; Herr Kollege Schiewerling sei an dieser weise auf meinen Kollegen Vogel, der alles andere, was
Stelle ausdrücklich erwähnt. Wir haben die Kurzarbeiter- nicht das Kurzarbeitergeld betrifft, später kommentieren
regelung mit Augenmaß verlängert. Auch die OECD hat wird.
darauf hingewiesen: Es hat sich um eine Ausnahmesitua-
tion, eine Krise gehandelt. Irgendwann muss die Kurzar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
beit zurückgeführt werden. – Wir müssen dabei so vorge-
hen, dass wir davon auch diejenigen profitieren lassen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
die die Last – weil nicht alle Branchen gleichzeitig von Sabine Zimmermann ist die nächste Rednerin für die
der Krise betroffen sind, sondern manche früher, andere Fraktion Die Linke.
später – erst am Ende des Krisenzyklus zu tragen haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen soll es – das hat die Anhörung bestätigt – auch
jetzt noch die Möglichkeit geben, neue Kurzarbeitsan-
träge mit längerer Frist zu stellen. Das alles läuft aber aus Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
und wird langsam zurückgenommen. Es erfolgt elastisch, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
damit harte Brüche, die zu Entlassungen führen könnten, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, eines muss
vermieden werden. Das alles ist sehr vernünftig. man Ihnen lassen: Sie sind richtig große Verpackungs-
künstler.
Zeitarbeitnehmern wird es weiter ermöglicht, Kurzar-
beitergeld in Anspruch zu nehmen. Frau Kramme, das (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
alles wird dazu führen, dass wir elastisch aus der Kurzar- Kolb [FDP]: Das war Christo auch! – Gitta
beit aussteigen und mit dem Wiederanziehen der Auslas- Connemann [CDU/CSU]: Das muss man auch
tung in den Unternehmen aufgrund der guten konjunktu- können! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/
rellen Situation wieder zum Normalfall zurückkehren. CSU]: Entscheidend ist, ob der Inhalt stimmt!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5683
Sabine Zimmermann
(A) Ich will es Ihnen erklären. Ihre Gesetze tragen so tolle kung. Auch damit verstoßen Sie gegen das Gleichbe- (C)
Namen wie Wachstumsbeschleunigungsgesetz, Finanz- handlungsgebot.
marktstabilisierungsgesetz und heute Beschäftigungschan-
cengesetz. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sich dieses Drittens. Die Regierung will die Dauer bestehender
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen verlängern. Einiges
Gesetz aber genauer anschauen, müssen sie feststellen,
davon unterstützen wir. Wir sagen aber auch: Arbeits-
dass da nur heiße Luft drin ist.
marktpolitik darf nicht bedeuten, dass die Arbeitgeber
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na! Das ist subventioniert werden.
jetzt nicht fair!)
Abgeschafft gehört zum Beispiel der sogenannte Ver-
– Das muss man schon so sagen. Sie sind wirklich große mittlungsgutschein. 2 000 Euro erhält ein privater Ar-
Verpackungskünstler. beitsvermittler, wenn er einen Erwerbslosen in Beschäf-
tigung gebracht hat. Tatsache ist doch – das hat der
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie hätten das Kollege vom DGB auch noch einmal deutlich gemacht –:
Geschenk einfach auspacken müssen, dann 50 Prozent der über diesen Weg Vermittelten melden sich
hätten Sie es gefunden!) nach sechs Monaten wieder arbeitslos. 25 Prozent der
– Frau Connemann, hören Sie mir bitte zu! Dann kann Kolleginnen und Kollegen werden im Rahmen der Leih-
ich Sie vielleicht aufklären. arbeit tätig. Das hat nichts mit guter Arbeitsmarktpolitik
zu tun.
Im Juni meldete die Bundesagentur für Arbeit 3,2 Mil-
lionen offiziell registrierte Arbeitslose. Aber wir alle in (Beifall bei der LINKEN)
diesem Haus wissen: Die Dunkelziffer ist wesentlich hö- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie-
her. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als rung plant einen Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik.
4,3 Millionen; hier muss ich Sie korrigieren, Herr Kolb. Allein 16 Milliarden Euro will die Regierung durch die
Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man die Teilneh- Umwandlung von sogenannten Pflicht- in Ermessens-
mer an Maßnahmen und diejenigen, die sich in Warte- leistungen kürzen. Was bedeutet das? Millionen Men-
schleifen befinden, sowie die älteren Arbeitslosen hinzu- schen verlieren ihren Rechtsanspruch auf bestimmte
zählt. Diese sind in der Statistik gar nicht enthalten. Das Fördermaßnahmen.
zeigt uns: Es ist notwendig, ja überfällig, dass die Bun-
desregierung Vorschläge vorlegt, die dazu dienen, die Ich nenne einmal ein Beispiel: Eine junge Frau – nen-
Chancen auf Beschäftigung zu erhöhen. Das tun Sie aber nen wir sie Susanne – konnte wegen der Geburt eines
nicht. Kindes noch keine Ausbildung machen. Heute gehört sie
noch zu den Glücklichen, die ein Anrecht auf eine soge-
(Beifall bei der LINKEN) nannte berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme haben. (D)
(B)
Über 38 000 Personen haben dieses Instrument in An-
Dabei müssen Sie uns aber mal erklären: Wie wollen
spruch genommen, und zwar mit Erfolg: In mehr als je-
Sie die Beschäftigungschancen erhöhen, wenn Sie die
dem zweiten Fall führte dies zu einer Beschäftigung.
Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen? Sie
betreiben Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik und be- Dieses Instrument und damit diese Chance für junge
schneiden so die Chancen von Erwerbslosen, wieder in Mütter wie Susanne werden nun wie viele andere auch
Arbeit zu kommen. Das wird die Linke nicht hinnehmen. infrage gestellt. Betroffene sollen kein Anrecht mehr da-
rauf haben, und es droht eine Arbeitsmarktpolitik nach
(Beifall bei der LINKEN) Kassenlage. Sie schaffen keine Chancen, sondern Sie
Um es ganz klar zu sagen: Das Sparpaket ist sozial vernichten sie. Das machen wir nicht mit.
ungerecht und beschäftigungspolitisch falsch. Bevor ich
(Beifall bei der LINKEN)
darauf genauer eingehe, einige Worte zu dem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf: Ich komme zum Schluss. Frau von der Leyen hat Ende
April angekündigt – ich zitiere –: „Wir werden nicht sinn-
Erstens. Die Regierung will die Kurzarbeiterregelung
los kürzen.“ Keine zwei Monate später hat sie im Kabi-
verlängern. Da gehen wir mit, auch wenn wir uns weiter nett die Hand für eine beispiellose Kürzung in der Ar-
gehende Regelungen gewünscht hätten, wie zum Bei- beitsmarktpolitik gehoben.
spiel eine längere Bezugsdauer. Frau Kramme hat auch
schon einige Hinweise dazu gegeben. Frau von der Leyen – Herr Brauksiepe, Sie können es
ihr ja vielleicht ausrichten –, ich muss Ihnen sagen: Sie
Zweitens. Die Regierung will die Regelung zur frei- sind eine Ankündigungsministerin. Das wird vor allen
willigen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige Dingen durch die ganzen Ankündigungen im Bereich
verlängern. Dazu muss man natürlich sagen, dass die der Leiharbeit gezeigt. In der Öffentlichkeit kritisieren
Linken und die Grünen schon im März einen Gesetzent- Sie seit Monaten die Missstände. Was haben Sie bis jetzt
wurf bzw. Antrag dazu eingebracht haben. getan? Nichts! Es ist nichts passiert.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fangen Sie endlich an, etwas zu tun. Halten Sie es
NEN]: Wir hatten einen besseren!) vielleicht ein bisschen mit Goethe: „Es ist nicht genug,
Schön, dass Sie dem nun gefolgt sind, aber leider natür- zu wollen, man muss es auch tun.“
lich mit einer abrupten Beitragserhöhung. So erzielt die Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Regelung jedoch vor allen Dingen bei Selbstständigen
mit einem geringen Einkommen überhaupt keine Wir- (Beifall bei der LINKEN)
5684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bereits ein Jahr nach Gründung 1 000 Euro im Jahr für (C)
Brigitte Pothmer spricht jetzt für Bündnis 90/Die die Arbeitslosenversicherung zahlen können.
Grünen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist nicht
wahr! Das sind 90 Euro im Monat!)
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch Das wird nicht funktionieren. Damit versetzen Sie die-
die letzte Umfrage wurde gezeigt, dass 8,6 Millionen sem Instrument einen Dolchstoß.
Menschen in Deutschland einen Arbeitsplatz suchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
oder aber mehr arbeiten möchten, als es ihnen derzeit
möglich ist. In der Koalitionsvereinbarung steht: „Deutschland
muss wieder zum Gründerland werden.“ Sie glauben
Ich will gar nicht bestreiten, dass die neuesten Ar- doch nicht allen Ernstes, dass Sie mit dieser Politik einen
beitsmarktzahlen auf Entspannung hinweisen. Frau Gründungsboom auslösen werden. Mit dieser Politik
Zimmermann hat aber darauf hingewiesen: Die Unterbe- wird Ihnen das nicht gelingen.
schäftigung ist noch immer sehr hoch; es fehlen über
4 Millionen Vollzeitstellen. Wenn man die stille Reserve Nein, meine Damen und Herren, das, was Sie hier
hinzunimmt, die in keiner Statistik auftaucht, dann kann wirklich großspurig als Beschäftigungschancengesetz
man nicht leugnen, dass wir es mit einem riesengroßen anpreisen, ist bei genauerer Betrachtung nichts anderes
Problem zu tun haben. als eine dem Kürzungsdiktat geschuldete Billigversion
der Beschäftigungspolitik von Olaf Scholz.
Herr Kolb, gleichzeitig haben wir schon jetzt einen
riesengroßen Fachkräftemangel. Durch all das wird ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Diesen Vergleich
zeigt: Wir brauchen tatsächlich neue Impulse in der Be- weisen wir zurück!)
schäftigungspolitik, und wir brauchen tatsächlich Chan-
cen für die Arbeitslosen. Da gibt es keinen einzigen neuen Impuls, keine einzige
neue Idee.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darin stimmen Kein Mensch behauptet, dass es falsch ist, das Kurz-
wir ja überein!) arbeitergeld zu verlängern. Aber warum bleibt eigentlich
– Darin stimmen wir überein. der Qualifizierungsanreiz in dieser Frage auf der Stre-
cke?
(B) Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet, ob mit dem Ge- (D)
setzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, diese Chan- Ich will Ihnen einmal vorlesen, was die Bundesagen-
cen für die Betroffenen tatsächlich eröffnet werden. Ich tur für Arbeit in ihrer schriftlichen Stellungnahme dazu
will Ihnen einmal etwas sagen: In Teilen ist absolut das sagt: Der im Hinblick auf den absehbaren Fachkräfte-
Gegenteil der Fall. Zum Teil erschweren Sie den Weg mangel sinnvolle und äußerst notwendige Qualifizie-
hin zu einem neuen Job; Sie erschweren zum Beispiel rungsimpuls wird deutlich abgeschwächt.
die Gründung von neuen Unternehmen. Und jetzt komme ich auch einmal zur OECD. In jeder
Betrachten wir einmal das Beispiel der Alten- und OECD-Studie zu diesem Thema wird nachgewiesen,
Krankenpflege. Sie beenden die Förderung von Um- dass sich Deutschland, was das lebenslange Lernen und
schulungen in der Alten- und Krankenpflege. In diesem die Weiterbildung angeht, im unteren Mittelfeld bewegt.
Bereich gibt es bereits heute einen exorbitanten Fach- (Zuruf von Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
kräftemangel. Experten rechnen uns vor, dass wir in
zehn Jahren 230 000 Vollzeitarbeitskräfte in diesem Be- Wenn wir so weitermachen, dann stolpern wir genau auf
reich bräuchten. Wenn Umschulung an irgendeiner das Szenario zu, vor dem Frau von der Leyen immer ge-
Stelle sinnvoll und notwendig ist, dann doch wohl in die- warnt hat: nämlich auf einen dramatischen Fachkräfte-
sem Bereich! Wo könnte das Geld besser angelegt sein? mangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hatten wir
vor der Krise in der Tendenz auch schon!)
Nehmen wir das andere Beispiel: Sie wollen die frei-
willige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige ver- – Hören Sie einmal zu, ich zitiere jetzt nämlich Ihren
längern. Gleichzeitig machen Sie sie aber unbezahlbar, Minister Brüderle:
indem Sie die Beiträge vervierfachen.
Jeder Arbeitslose, der einen Job bekommt, macht
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Das sind sein eigenes Konjunkturprogramm. Er hat mehr
geringe Summen!) Einkommen und damit mehr Konsummöglichkei-
ten.
Viele der Solo-Selbstständigen haben schon jetzt erheb-
liche Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt und die Ich finde, da hat Herr Brüderle – und ich stehe nicht im
Krankenversicherungsbeiträge zu finanzieren und für Verdacht, ihm ungerechtfertigt recht zu geben – aus-
das Alter vorzusorgen. Und jetzt sagen Sie mir, dass sie nahmsweise recht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5685
Brigitte Pothmer
(A) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Paul Innerhalb des europäischen Vergleiches hat diese Statis- (C)
Lehrieder [CDU/CSU] – Dr. Heinrich L. Kolb tik damit auch weiterhin Bestand.
[FDP]: Da klatsche ich ausnahmsweise auch
mal!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Bundesregierung geht von einem Wachstum von
Aber solange Sie die Arbeitsförderung weiter kaputt-
1,4 Prozent aus. Viele Forschungsinstitute und internatio-
sparen und kaputtkürzen, wird von diesen Beschäfti-
nale Organisationen gehen von mehr als 2 Prozent aus.
gungschancen bei den Langzeitarbeitslosen jedenfalls
Staatssekretär Dr. Brauksiepe und auch Herr Dr. Kolb ha-
nichts ankommen. Daraus wird nichts!
ben es dargestellt: Wir haben eine äußerst stabile Situa-
Ich danke Ihnen. tion am Arbeitsmarkt. Wir alle wissen: Das Geheimnis
sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, und zwar
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – insbesondere die Kurzarbeit.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war aber eine
sehr pessimistische Rede!) Ich will das alles nicht im Detail wiederholen, son-
dern nur eines deutlich sagen, Frau Kramme: Wir sind
weder zum Jagen getragen worden, noch hat uns jemand
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zwingen müssen. Wir haben die Entscheidung alleine
Herr Schiewerling hat jetzt das Wort für die CDU/ getroffen, und zwar unter Abwägung der Gegebenheiten,
CSU-Fraktion. insbesondere der Entwicklung am Arbeitsmarkt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
CDU/CSU: Guter Mann!)
Insofern haben wir mit Augenmaß eine gute und ver-
nünftige Entscheidung getroffen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für zwingend geboten, diese Dinge ver-
Meine Damen und Herren! So unterschiedlich kann die nünftig und mit Augenmaß weiterzuentwickeln. Dazu
Welt sein. Bei Pippi Langstrumpf gibt es den sogenann- gehört, dass die Unternehmen dieses Instrument nicht
ten Sachensucher. Ein Sachensucher ist jemand, der im- ausgenutzt haben. Obwohl dieses Instrument mit der
mer vor sich auf die Straße guckt und ganz kleine Sa- Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge weiter be-
chen findet, die er sorgsam hütet und pflegt. Ihre Reden, steht, wird es weit weniger in Anspruch genommen, weil
Frau Kramme, Frau Zimmermann, Frau Pothmer, erin- die Konjunktur entsprechend angesprungen ist. Mit dem
nerten mich an dieses Spiel bei Pippi Langstrumpf. Sie Gesetzentwurf wollen wir die gesetzlichen Regelungen
(B) haben lange suchen müssen, bis Sie in diesem Gesetz et- verlängern, damit diejenigen, die die Krise noch nicht (D)
was gefunden haben. überwunden haben, die Sicherheit haben, Unterstützung
vom Staat zu bekommen, damit das Ganze entsprechend
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestaltet werden kann.
und der LINKEN)
So verstehen wir Arbeitsmarktpolitik mit Augenmaß.
Ich sage Ihnen: Es ist Ihnen zwar gelungen, etwas aus- Ein großer Dank, dass das so geklappt hat und dass wir
findig zu machen; nur hat das leider mit unserer Politik so dastehen, wie es jetzt der Fall ist, gilt der Flexibilität
nichts zu tun. der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Ar-
beitgeber, die in dieser schwersten Krise geholfen haben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sodass wir heute gut dastehen und es weiter aufwärts ge-
hen kann.
Beschäftigung sichern, Arbeitsplätze fördern, gestärkt
aus der Krise herauskommen – das ist das Thema dieses (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Beschäftigungsförderungsgesetzes. Ich sage Ihnen: Das
liegt auf einer Linie mit dem, was Bundeskanzlerin Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung,
Angela Merkel in 2008, als die Finanzmarktkrise begon- die christlich-liberale Koalition, ihren erfolgreichen
nen hat, bereits gesagt hat: Wir wollen aus dieser Krise Kurs in der Arbeitsmarktpolitik und im Bereich Arbeit
stärker herausgehen, als wir hineingegangen sind. und Soziales weiter fort. Ich will einmal Revue passieren
lassen, was wir in den letzten Monaten erreicht haben.
Wir befinden uns in genau dieser Phase und dieser Wir haben erreicht, dass ein Mindestlohn in der Pflege in
Entwicklung. Da können Sie reden, wie Sie wollen: Die Kraft treten wird.
Arbeitsmarktdaten sprechen für uns. Es gibt mittlerweile
(Anette Kramme [SPD]: Und in der Leih-
3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind deutlich weniger
arbeit?)
als die 5 Millionen noch in 2005. Wenn Sie die Statistik
bezweifeln wollen, dann können Sie das gerne tun. Sie Wir haben am Beispiel der Firma Schlecker das
können das Ganze hoch- und runterrechnen. Der Chef Thema Zeitarbeit aufgegriffen. Das haben weder die
der Agentur für Arbeit, Weise, pflegt zu sagen, dass die Linken noch die SPD und die Grünen auf den Weg ge-
Deutschen die strengsten Kriterien für die Arbeitslosen- bracht,
statistik haben.
(Anette Kramme [SPD]: Weil Sie es verwei-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ gert haben! Sie haben aber ein kurzes Ge-
DIE GRÜNEN]: Das stimmt ja nicht!) dächtnis!)
5686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Karl Schiewerling
(A) sondern das ist die christlich-liberale Koalition angegan- Diesem Thema werden wir uns in der zweiten Jahres- (C)
gen. Wir waren diejenigen, die den Finger in die Wunde hälfte konkret widmen.
gelegt und benannt haben, was nicht ordentlich läuft,
und wir haben bei den Tarifpartnern der Zeitarbeitsbran- (Anette Kramme [SPD]: Deshalb stellen Sie
che einen intensiven Diskussionsprozess in Gang ge- 500 000 Euro zur Verfügung, und das Eltern-
setzt. Dass dort heute viele Selbstheilungskräfte wirken, geld wird gekürzt!
verdanken wir genau dieser Politik. Es geht auch um die Hinzuverdienstgrenzen. Auch
dieses Problem müssen wir miteinander in der zweiten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Jahreshälfte lösen. Dahinter steckt mehr, als wir im Au-
Anette Kramme [SPD]: In der eigenen Partei
genblick wahrhaben wollen. Das ist ein sehr komplizier-
kriegen Sie es nicht hin!)
tes Thema. Es gilt, unsererseits volkswirtschaftlich sinn-
Ich will noch eines ansprechen, das im Kampfgetüm- volle Anreize zu setzen, um Arbeit aufzunehmen. Das
mel und Getöse nicht von dem nötigen Krach begleitet werden wir miteinander vereinbaren. Wir müssen auch
wurde, um Beachtung zu finden, obwohl es erfolgreich sehen – auch das sage ich deutlich –, dass viele Aktivitä-
zu Ende gegangen ist: ten in der Schattenwirtschaft stattfinden. Das betrifft
nicht nur diejenigen, die dort arbeiten, sondern auch die-
(Anette Kramme [SPD]: Warten wir es ab!) jenigen, die Arbeit anbieten. Dazu gehören auch – das
Wir haben gemeinsam mit der SPD in diesem Hohen betrifft gerade SGB-II-Empfänger – nicht wenige Privat-
Hause in einem hervorragenden und verantwortungsbe- haushalte. Ich halte es für notwendig, darüber nachzu-
wussten Verfahren die Jobcenter-Organisation durchge- denken, ob die rechtlichen Instrumente, die uns zur Ver-
führt. fügung stehen, nicht verschärft werden müssen.
Vielleicht sollten wir härtere Sanktionen beschließen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Anette Kramme
[SPD]: Einmal Hü und einmal Hott!) (Anette Kramme [SPD]: Gegen die mafiösen
Strukturen der Schwarzarbeit sollte man vor-
– Frau Kollegin Kramme, es ist verständlich, dass Sie für gehen!)
sich das Recht in Anspruch nehmen wollen, andere per-
manent zum Jagen getragen zu haben. Das ist aber nicht Wir verlängern mit diesem Gesetz einige arbeits-
der Fall. Wir haben nämlich das Ganze von uns aus auf marktpolitische Instrumente. Diese werden weiterhin
den Weg gebracht. Ich gestehe zu, dass die Bundesländer evaluiert. Wir werden im nächsten Jahr an diese Fragen
kräftig mitgeholfen haben. Aber wir haben es auf den herangehen. Wir werden passgenaue, regionale Lösun-
Weg gebracht, und wir haben es geschafft. gen finden. Wir werden diejenigen, die dort tätig sind
(B) und an Lösungen mitwirken, ermuntern, ihren Beitrag zu (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) leisten, indem sie Verantwortung vor Ort übernehmen.
Wir klären zurzeit, was im Bereich des Arbeitnehmer- Eines treibt uns – da gebe ich Frau Pothmer recht – um:
datenschutzes möglich ist. Ich denke, dass wir auch das Ich meine die gespaltene Situation auf dem Arbeits-
bald gemeinsam schaffen werden. Insofern haben wir im markt. Auf der einen Seite werden Facharbeiter gesucht,
Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den letzten auf der anderen Seite haben weniger Qualifizierte große
Wochen und Monaten in aller Ruhe Schritt für Schritt Mühe, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Dieser
sehr viel erreicht. Das haben uns die wenigsten von der Herausforderung stellen wir uns. Wir alle werden unse-
linken Seite des Hauses zugetraut. ren Beitrag dazu leisten, dass auch die weniger Qualifi-
zierten eine Perspektive haben.
Es gab eine hervorragende Zusammenarbeit, und wir
haben viel miteinander geschafft. Das hat auch etwas mit Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
der guten Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsminis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
terin zu tun, die ihre Politik in sehr kluger und stringen-
ter Weise gestaltet und nach vorne bringt. Dabei hat sie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
unsere Unterstützung.
Jetzt spricht Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Ich will den Blick aber nicht nur zurückwenden, son-
dern auch nach vorne richten. In der zweiten Jahreshälfte Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
geht es um die uns vom Bundesverfassungsgericht mit
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Recht auferlegte Regelung der Kinderbedarfssätze und
Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Schiewerling,
die Frage der Bildung. Das steht im Mittelpunkt. Wir
Pippi Langstrumpf hat manchmal in der Villa Kunter-
wollen Kindern, die in einer sehr schwierigen sozialen
bunt äußerst eklige Sachen gefunden. Der Gesetzentwurf
Lage sind, Bildungschancen eröffnen. Es geht aber nicht
zum Kurzarbeitergeld kommt einfach zu spät. Der Be-
nur um diese Kinder, sondern auch um Kinder von El-
zug des Kurzarbeitergeldes sollte entfristet werden.
tern, deren Verdienst nur wenig über dem Regelsatz nach
Hartz IV liegt. All diesen Kindern wollen wir Perspekti- (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])
ven eröffnen. Das ist unsere Aufgabe.
Ich möchte Ihnen etwas zum Urteil des Bundesver-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles wird gut, fassungsgerichts über den Regelsatz für Kinder von
Frau Kramme!) Hartz-IV-Empfängern auf den Weg geben: Bitte keinen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5687
Silvia Schmidt (Eisleben)
(A) schwarz-gelben Rucksack für Kinder von Hartz-IV- hat entsprechende Zahlen genannt; ich muss sie jetzt (C)
Empfängern, nicht wiederholen. Ich kann Sie nur immer wieder auf-
fordern, dieses Programm wieder aufzulegen. Wir müs-
(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD]) sen die Branche unter Druck setzen, damit die Ausbil-
bitte keine Gutscheine, mit denen diese Menschen ein- dung gesichert wird.
kaufen müssen. (Beifall bei der SPD)
(Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich Dass wir einen massiven Fachkräftemangel haben,
zu einer Zwischenfrage) spiegelt sich natürlich auch in der Qualität der Pflege wi-
– Bleiben Sie sitzen, ich möchte keine Zwischenfrage der. Als Politiker bekommen wir ständig Gutachten um
zulassen. die Ohren gehauen. Als Politiker wissen wir somit auch
genau, was die Menschen wollen. Sie wollen eine gute
Sehr verehrter Herr Brauksiepe, Sie haben eben Sach- und qualitativ hochwertige Pflege. Diese erreichen wir
sen-Anhalt – ich finde, zu Recht – im Zusammenhang aber nicht, indem wir nur Hilfskräfte einsetzen. Das geht
mit der Bürgerarbeit gelobt. Wir als Sozialdemokraten nicht. Wir brauchen eine große Anzahl von ausgebilde-
wollen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäfti- ten Altenpflegekräften, die sich in guter Arbeit um die
gungsverhältnisse. Die Männer und Frauen, die drei Pflege kümmern. Es handelt sich um Assistenzleistung,
Jahre Bürgerarbeit geleistet haben, haben keinen An- wenn ein Buch vorgelesen wird. Dafür braucht man
spruch auf Arbeitslosengeld. Das wissen wir. Es wäre keine Pflegefachkraft; das ist richtig. Man muss aber
doch deutlich besser, wenn man den Kommunen Geld sehen, dass die Qualität der Pflege gesichert ist. Dies ist
zur Verfügung stellen würde, damit sie selbst entschei- im Moment nicht der Fall. Ich bitte Sie, dies zu prüfen
den können, welche Arbeiten sie vergeben, um zum Bei- und im Auge zu behalten.
spiel ihre älteren Bürgerinnen und Bürgern zu unterstüt-
zen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Frau Pothmer hat die Bildung im Alter angesprochen.
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir brauchen lebenslanges
Lernen; denn gerade gering Qualifizierte und ältere Ar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
beitnehmer, die in kleinen und mittelständischen Unter- Jetzt spricht Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
nehmen nicht an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
können, sind die Ersten, die gegebenenfalls entlassen der CDU/CSU)
werden. Wenn sie entlassen werden, haben sie die ge-
(B) ringsten Chancen, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt (D)
Arbeit zu finden. Gerade dieser Personenkreis wurde Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
durch dieses Programm gefördert. Das ist eine sehr gute Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sache. Mit Sicherheit hat es auch die Unternehmen an- Liebe Frau Schmidt, wir freuen uns über konstruktive
gespornt, sich selbst um Weiterbildung sowie um Quali- und sachdienliche Hinweise zur Ausgestaltung der Bil-
fizierungs- und Ausbildungsmaßnahmen zu kümmern. dungsausgaben für Kinder. Ich möchte aber darauf hin-
Man sollte dieses Programm nicht verteufeln, sondern es weisen, dass es gut ist, dass wir in den Hartz-IV-Sätzen
generell entfristen. überhaupt Bildungsausgaben für Kinder vorgesehen haben.
Was mir am meisten am Herzen liegt, ist, dass wir das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
dritte Ausbildungsjahr für Altenpfleger und Kranken- der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
pfleger nicht mehr finanzieren. Ich gebe dem Arbeitge- So ist es! Das hat die Kollegin leider verges-
berverband und auch dem DGB recht, wenn sie sagen, sen! – Gegenruf der Abg. Silvia Schmidt [Eis-
die Branche müsste das selber tun. Das ist richtig. Denn leben] [SPD]: Sie aber auch!)
die Renditen der Heimbetreiber – das wissen wir von der Bisher sind diese nämlich überhaupt nicht vorgesehen.
Bundesinitiative Daheim statt Heim – liegen an den Das ist aber das wahre Problem, wenn wir über Qualifi-
Börsenmärkten zwischen 6 und 10 Prozent. Auch diese kation reden.
Branche hat gegenüber ihren Mitarbeitern und ihrer
Klientel, um die sie sich kümmert, normalerweise die Ich möchte auf die OECD-Studie eingehen; mein
Verpflichtung, Ausbildung und Weiterbildung mitzufi- Kollege Kolb hat das bereits getan. Sie hat in der Tat
nanzieren. zwei interessante Ergebnisse gebracht: Erstens. Deutsch-
land steht sehr gut da, wenn es um die Vermeidung von
Wir können nach neun Monaten nicht einfach sagen: Arbeitslosigkeit in der Krise geht. Deswegen setzen wir
Stopp! Bis zum letzten Ausbildungsjahr sind 14 000 diesen Weg durch eine maßvolle Verlängerung der Kurz-
Menschen aus dem Regelkreis SGB II herausgekommen arbeitsregelung sinnvoll fort. Zweitens. Im internationa-
und haben in diesem Bereich ein neues Beschäftigungs- len Vergleich stehen wir aber nicht so gut da, wenn es
feld gefunden. Deshalb können wir jetzt nicht einfach darum geht, Arbeitslosigkeit schnell wieder zu beenden,
einen Schlussstrich ziehen. Als wir nicht finanziert ha- die Menschen wieder in Arbeit zu bringen und ihnen
ben – das war in den Jahren 2004 und 2006 –, lagen die eine Perspektive zu geben. Das Beschäftigungschancen-
Zahlen zwischen 3 000 und 4 000 Menschen. Das kann gesetz mit seinem Zweiklang greift im Hinblick darauf
so nicht fortgesetzt werden. Frau Pothmer ist ausdrück- aber sehr gut. Deshalb ist das Beschäftigungschancenge-
lich auf den demografischen Wandel eingegangen und setz der Ansatz der Bundesregierung, sich diesem Zwei-
5688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Christine Scheel
(A) venzen. Es wird davon gesprochen, dass es im Laufe des seren Infrastruktur in Bezug auf die Gerichtszuständig- (C)
Jahres eine Zunahme auf etwa 36 000 geben soll. keit kommen können. Wir müssen außerdem für Klarheit
sorgen, was die qualifizierte Auswahl von Insolvenzver-
Das ist natürlich ein Schaden für die gesamte Volks-
waltern betrifft und vieles mehr. Es gibt also in der Struk-
wirtschaft. 2009 hat das Justizministerium von 50 Mil-
tur viel zu verändern, um das von uns allen gewünschte
liarden Euro gesprochen. Ich will jetzt nicht nur
Ergebnis zu erreichen.
Arcandor bzw. KarstadtQuelle und all die anderen Un-
ternehmen nennen, die in der Presse stehen; betroffen Wir wollen den Unternehmen Zukunftsperspektiven
sind auch sehr viele kleine und mittelständische Unter- eröffnen. Die politische Seite kann mehr dafür tun, dass
nehmen, deren Namen in der Presse nicht so oft aufge- weniger Unternehmen in die Insolvenz gehen müssen.
taucht sind. Das muss unser aller Ziel sein.
Es besteht also nach wie vor die Situation, dass Unter- Ich freue mich in dem Zusammenhang auf eine anre-
nehmen unter Kreditzurückhaltung und verschärften Bo- gende Diskussion. Sie werden Ihre Position jetzt darle-
nitätsforderungen der Banken leiden. Vor diesem Hinter- gen. Wir sind jedenfalls stolz darauf, dass wir dieses
grund ist uns als Grüne nicht verständlich, warum die Thema im Parlament vorangetrieben haben.
Bundesregierung nicht früher darauf gekommen ist, eine
Vorlage einzubringen. Danke schön.
Ich habe die Woche über die Wirtschaftsteile der Zei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tungen aufmerksam gelesen. Wir konnten feststellen, und bei der SPD)
dass unser Antrag die Bundesjustizministerin anschei-
nend dazu gebracht hat – darüber freuen wir uns –, ihre Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vorstellungen jetzt in die Öffentlichkeit zu tragen, so- Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
dass wir uns damit endlich auseinandersetzen können. die CDU/CSU-Fraktion.
Das ist ein schöner Fortschritt. Das haben wir, glaube
ich, ganz gut hinbekommen. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
Aufgefallen ist, dass vonseiten des Ministeriums kein gen! Wenn aus der Opposition die Aufforderung kommt,
Wort darüber verloren wurde, wie sich die von Herrn wir sollten den Koalitionsvertrag schnell und zügig um-
Minister Schäuble in der Finanzplanung vorgesehene setzen, dann freuen wir uns natürlich zunächst einmal
(B) Wiedereinführung des Fiskusprivilegs auf die Unterneh- über das Lob, das darin steckt. In der Tat steht im Koali- (D)
men und die Insolvenzentwicklung auswirken wird. Ich tionsvertrag, dass wir uns des wichtigen Themas anneh-
stelle einmal die Behauptung auf, dass die Reformab- men werden, die Chancen für die Sanierung strukturell
sichten der Justizministerin konterkariert würden, wenn gesunder Unternehmen oder Unternehmensteile zu ver-
sich der Bundesfinanzminister mit seinen Plänen durch- bessern.
setzen sollte. Im Zuge der Beratungen über das Jahres-
steuergesetz 2007 hatten wir schon eine Diskussion über Ich bedanke mich für dieses Lob, indem ich meine
diesen Punkt. Wir haben damals aus der Opposition he- Rede mit guten Nachrichten beginne. Wir sind ziemlich
raus dafür gesorgt, dass das Fiskusprivileg nicht wieder weit mit unserer Arbeit vorangekommen. Wir arbeiten in
eingeführt wird. Jetzt wird dieser Punkt offensichtlich der Koalition sehr gut zusammen und werden einen Ge-
wieder als Sparbüchse aus der Schublade geholt und soll setzentwurf in Kürze vorlegen. Man sieht, dass wir in
in der Finanzplanung mit 500 Millionen Euro veran- der Tat auf einem guten Weg sind.
schlagt werden.
Bei unserer Arbeit ist uns der Blick auf die Praxis sehr
Wir waren froh – ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit wichtig. Denn es geht nicht darum, eine komplizierte
an die Adresse der jetzigen Regierung –, dass wir es unter rechtliche Konstruktion einzuführen, sondern wir wollen
Rot-Grün im Jahr 1999 geschafft haben, dieses Fiskuspri- etwas hinbekommen, das in der Praxis auch wirkt. Des-
vileg abzuschaffen. Es gab damals sehr gute Gründe da- halb stehen wir in einem intensiven Dialog mit der Fach-
für. Wenn wir es nicht geschafft hätten, dann hätten wir welt, zuletzt im Rahmen eines Kolloquiums im Bundes-
jetzt eine Situation, in der es nicht möglich wäre, bei- wirtschaftsministerium.
spielsweise die Arbeitsplätze bei Karstadt zu retten. Denn
Es ist klar: Wir müssen die Voraussetzungen dafür
wenn der Vorgriff des Fiskus wieder eingeführt worden
schaffen, dass Sanierungen besser möglich werden, dass
wäre, könnte Karstadt heute auch mit der Perspektive auf
nicht unnötig Werte zerstört werden und Arbeitsplätze
eine Umstrukturierung nicht überleben.
verloren gehen. Wenn man genau hinschaut – die Beach-
Man muss klar erkennen, dass eine Insolvenzrechtsre- tung dieses Punktes ist damals bei der Insolvenzordnung
form überfällig ist und dass wir verschiedene Dinge errei- ein bisschen versäumt worden –, dann geht es gar nicht
chen müssen. Nur 2 Prozent aller Fälle gehen in das In- so sehr um rechtliche Dinge, sondern sehr viel um Psy-
solvenzplanverfahren. Dieser Anteil ist zu gering. Es gibt chologie und Zeitabläufe, um Zuständigkeiten bei Ge-
Beispiele aus anderen Ländern. Ich nenne beispielsweise richt und um Anreize, die durch Honorarregelungen ge-
das Chapter-11-Verfahren aus den USA. Das sind gute setzt werden. Man muss sich sehr genau anschauen, wo
Beispiele dafür, wie wir auch in Deutschland zu einer bes- es Fehlanreize gibt, und man muss verhindern, dass die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5691
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) handelnden Personen sich leichtfertig für Insolvenzpläne folgen. Er darf damit nicht die ganze Sanierung in Ge- (C)
entscheiden. fahr bringen.
Wir werden dazu in Kürze ein gut durchdachtes und Die Bereitschaft der Gläubiger, ihre Forderungen erst
zielführendes Paket vorlegen. Ich erlaube mir, einige einmal stehen zu lassen und Kapital für eine Sanierung
Punkte daraus zu verraten, weil die Neugier anscheinend zur Verfügung zu stellen, ist essenziell. Deshalb müssen
ziemlich groß ist. Schwerpunkte werden sein: die Ergän- wir in der Tat das Fiskusprivileg sehr kritisch prüfen.
zungen im Insolvenzplanverfahren und die Stärkung der Das hat die Regierung in ihrem Sparpaket vorgesehen.
Eigenverwaltung. Etliches ist bereits in der 16. Wahlpe- Wir im Parlament müssen uns die Freiheit nehmen, das
riode diskutiert worden. Obwohl vieles auf dem Tisch kritisch zu hinterfragen;
lag, sind wir nicht weitergekommen. Wir konnten uns in (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
einzelnen Punkten nicht einigen, sonst hätten wir das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schon erledigt.
denn es darf nicht dazu führen, dass das Finanzamt mit
Aus der Analyse ergibt sich Folgendes: Nach zehn seiner gut gesicherten Forderung einer Sanierung das
Jahren stellen wir fest, dass sich die damaligen Erwar- Wasser abgräbt und sich zunächst selbst bedient. Dann
tungen an die Insolvenzordnung nicht in vorgegebenem hätten wir für die Sanierung nichts mehr übrig und könn-
Maße erfüllt haben. Die Annahme, dass ein Insolvenz- ten alle Überlegungen einpacken. Das hat mit dem hoch-
planverfahren immer die bessere Lösung für die Quote, gehaltenen Grundsatz der par conditio creditorum nichts
also sowohl für den ungesicherten Gläubiger als auch für mehr zu tun. Deshalb müssen wir überlegen, was zu tun
die Arbeitnehmer ist, hat sich bestätigt. Trotzdem müs- ist. Vielleicht fällt uns eine Alternative ein, die man als
sen wir an dieser Stelle nachlegen. Die Wirtschaftskrise Gegenvorschlag bringen kann.
hat die Notwendigkeit hierfür verstärkt. Wir erwarten für
dieses Jahr etwa 36 000 Insolvenzen. Für die Gläubiger ergeben sich drei wesentliche Verbes-
serungen: frühere und deutlich effizientere Mitwirkung, der
Warum gelingt eine Sanierung im Planverfahren so Debt-Equity-Swap und der Schutz vor obstruierenden Gläu-
selten? Welche Hindernisse gibt es? Das Insolvenzplan- bigern, die eine wirtschaftliche Gesamtlösung nicht mit-
verfahren ist ziemlich komplex. Es kann nur gelingen, tragen wollen. Das sind die wesentlichen Schritte, über
wenn alle ihren Beitrag dazu leisten: die Schuldner, die die lange diskutiert worden ist. Jetzt schreiten wir endlich
Gläubiger, die Insolvenzverwalter und das Gericht. Die zur Tat.
Gläubiger müssen die Chance sehen, dass sie mit dem Der Schuldner – das ist ein Befund – ignoriert die Kri-
Insolvenzplanverfahren letztendlich eine höhere Quote sensignale oft konsequent und unternimmt untaugliche
(B) erzielen als bei einer Zerschlagung. Oft nehmen sie nicht Rettungsversuche, bevor er irgendwann doch den Insol- (D)
den Spatz in der Hand, weil sie die Taube auf dem Dach venzantrag stellt. Doch dann ist das Kapital weg, das man
für realistisch halten. Von ihnen wird eventuell sogar für eine Sanierung gebraucht hätte. Wir wollen die Eigen-
neues Kapital erwartet, was in der Praxis häufig fehlt. verwaltung stärken und damit die Hemmschwelle für ei-
Die Bereitschaft, neues Kapital einzubringen, werden nen frühzeitigen, rechtzeitigen Insolvenzantrag senken.
Gläubiger nur dann haben, wenn sie deutlich früher Ein- Ich denke, das ist wirklich innovativ; denn eine Insolvenz
fluss auf die Entscheidungen des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung mit einem Sachwalter an der Seite hat
bekommen, wenn sie bereits zu Beginn auf die Auswahl einen ganz anderen Charakter als ein Verfahren, in dem
des Verwalters einwirken können und dessen Entschei- man einen Insolvenzverwalter vor die Nase gesetzt be-
dungen nicht einfach hinnehmen müssen. Deshalb wol- kommt. Bei der Eigenverwaltung bleibt man nach außen
len wir diese Möglichkeit stärken und die Gläubiger derjenige, der handelt und die Geschäfte führt.
deutlich früher in den vorläufigen Gläubigerausschuss
einbeziehen, damit wesentliche Entscheidungen nicht an Bisher ist es aber sehr ungewiss, ob man mit dem An-
ihrem Sachverstand vorbei getroffen werden. trag auf Eigenverwaltung durchkommt. Der Schuldner
kann das nicht steuern. Das wollen wir ändern. Wir wol-
Wir wollen die Rechte der Anteilseigner in den Plan len, dass das Gericht in Zukunft deutlich mehr Anträge
einbeziehen, sodass die Forderungen der Gläubiger auf Eigenverwaltung positiv bescheidet. Dazu soll zum
durch den Debt-Equity-Swap in Eigenkapital umgewan- einen beitragen, dass das Gericht die Ablehnung des An-
delt werden können; denn man kann nicht von den Gläu- trags begründen muss. Zum anderen sollte es ein Rechts-
bigern erwarten, dass sie neues Geld einbringen, wenn mittel gegen die Entscheidung geben, damit es in deut-
die Anteilseigner ungeschoren davonkommen, sich aber lich mehr Fällen – jetzt haben wir eine 1-Prozent-Marge
die Erfolge der Sanierung lediglich bei denjenigen aus- bei der Eigenverwaltung – so gehandhabt wird.
wirken, deren Anteile vorher einen wirtschaftlichen Wert
von null hatten. Außerdem wollen wir eine frühzeitige Antragstellung
belohnen. Derjenige Schuldner, der schon bei drohender
Wir werden außerdem die obstruierenden Gläubiger, Zahlungsunfähigkeit den Antrag auf Eigenverwaltung
die vernünftige Lösungen torpedieren, in ihren Möglich- und Insolvenz stellt, soll vom Gericht Hinweise erhalten,
keiten beschränken. Natürlich darf niemand durch einen wenn es eine Eigenverwaltung nicht zulassen will, sodass
Insolvenzplan schlechtergestellt werden, als er es sonst der Antrag dann sogar zurückgenommen werden kann.
wäre. Aber wer darüber hinaus noch etwas möchte und Das ist wie ein Freischuss, den man ohne Risiko unter-
gegen den gemeinsam erarbeiteten Plan vorgeht, der nehmen kann, ohne die Gefahr, dass das Ganze eine Ei-
muss seine Interessen künftig außerhalb des Plans ver- gendynamik entwickelt. Ich denke, das ist eine ziemlich
5692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) gute Idee. Das ist ein wirkliches Angebot an den Schuld- Es steht also eine ganz lange Liste von Punkten an. (C)
ner und ein Anreiz, die Sanierungsmöglichkeiten frühzei- Diese Liste gehen wir in sehr konkreten Arbeiten und
tig zu nutzen. Besprechungen an und stehen, wie gesagt, an einigen
Punkten kurz vor einem guten Ergebnis. Natürlich bieten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir allen an, konstruktiv mit uns zusammenzuarbeiten;
neten der FDP) denn gute Ideen sind immer gefragt. In diesem Sinne:
Ein weiterer Mosaikstein ist die Einschränkung des Machen wir uns an die Arbeit!
Vorbefassungsverbots. Wir wollen es ausdrücklich er- Vielen Dank.
möglichen, dass der Schuldner mit dem Sanierer, mit dem
er einen guten Plan entworfen hat, in das Insolvenzver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
fahren geht, wenn die Gläubiger zustimmen. Das kann bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
sehr sinnvoll sein, weil man dann keinen Bruch hat und GRÜNEN)
sich nicht auf einen neuen Insolvenzverwalter einstellen
muss. Dieser Sanierer ist an Weisungen übrigens nicht ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bunden. Für die SPD-Fraktion hat Burkhard Lischka das Wort.
All das bietet zusammen die Möglichkeit, dass man (Beifall bei der SPD)
mit einem vorbereiteten Sanierungsplan, den Schuldner,
Gläubiger und ein sachkundiger Sanierer zusammen ent- Burkhard Lischka (SPD):
wickelt haben, in das Insolvenzverfahren geht und seine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Möglichkeiten nutzt. Praktisch geht man mit einem Pre- Frau Kollegin Winkelmeier-Becker! Wir haben hier
packed Plan in das Insolvenzverfahren. Das ist ein echtes – ein Stück weit durchaus mit Genugtuung – zur Kennt-
Angebot, mit dem wir den Bedarf nach einem vorgericht- nis genommen, dass Sie die Arbeit im Insolvenzrecht
lichen, vertraulichen Sanierungsverfahren weitgehend de- aufgenommen haben. Es ist ja auch besonders wichtig,
cken. in der schwersten Wirtschaftskrise der deutschen Nach-
kriegszeit hier etwas auf den Weg zu bringen. Ich hoffe
Das hat vor allem den Vorteil, dass das geregelte In-
nach den Erfahrungen der letzten Tage in Bezug auf die
solvenzverfahren letztlich nicht durch erfolglose Sanie-
Sicherungsverwahrung, dass das diesmal zwischen
rungsbemühungen verzögert und am Ende schwieriger
Union und FDP ein bisschen besser abgestimmt wird.
wird. Es hat außerdem den Vorteil, dass es klar definierte
Dem Thema wäre es sicherlich nicht dienlich, wenn in
Regeln gibt. Man weiß, mit welchen Mitteln man agie-
diesem Fall ein Entwurf aus dem BMJ kommt, der am
ren kann: Anfechtung bzw. Lösung von unbequemen
(B) Verträgen und Insolvenzgeld für die Arbeitnehmer. Es nächsten Tag vonseiten der Union zerrissen wird. Erspa- (D)
ren Sie uns das bitte, koordinieren Sie das ein bisschen
gelten aber auch klare Publizitätsvorschriften. Ich denke,
besser.
das ist der bessere Weg und sinnvoller, als dem Stigma
der Insolvenz mit Vertraulichkeit zu begegnen. Lieber Die einzig konkrete Maßnahme – das hat Frau Kolle-
wollen wir einen offenen Umgang mit der Insolvenz, so- gin Scheel eben zu Recht gesagt –, die die schwarz-gelbe
dass der Markt weiß, woran er ist. Wir wollen die Krise Regierung bisher zum Insolvenzrecht ausgeheckt hat, ist
nicht geheim halten und die anderen ins offene Messer die im Rahmen des Sparpakets geplante Wiedereinfüh-
laufen lassen, sondern sagen: Wir sind in der Insolvenz, rung des Fiskusprivilegs. Für unsere Zuschauer bei
versuchen aber die Sanierung und haben gute Chancen. Phoenix, die nicht wissen, was das ist: Das bedeutet,
Dann weiß jeder, woran er ist. Das ist aus unserer Sicht dass sich das Finanzamt, wenn eine Firma insolvent
der bessere Weg. wird, dann schlicht und einfach vorab, vor allen anderen
Gläubigern, also Geschäftspartnern, Lieferanten und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Handwerkern, aus der Insolvenzmasse bedient. Die an-
Ganz kurz kann und möchte ich auf weitere Punkte deren Gläubiger gucken dann entsprechend in die Röhre
eingehen: Die Professionalisierung der Gerichte steht auf und bleiben auf ihren Rechnungen sitzen. – Ich sage Ih-
der Agenda. Das betrifft zum einen die Zentralisierung nen vorab: Das wird aus unserer Sicht zu mehr Firmen-
der Gerichtsstände, aber auch die funktionale Zuständig- pleiten führen. Es wird Arbeitsplätze in unserem Land
keit von Richtern und Rechtspflegern. Wenn wir im In- vernichten. Deshalb wird das auf den erbitterten Wider-
solvenzplan den Debt-Equity-Swap etablieren, dann ist stand der SPD-Bundestagsfraktion stoßen.
das ein Eingriff in die Eigentumsrechte. Das setzt die Ent- (Beifall bei der SPD)
scheidung des Richters voraus. Deshalb müssen wir dies-
bezüglich zu Änderungen kommen. Man muss sich das einmal vorstellen: Wir haben der-
zeit schon die wirklich unbefriedigende Situation, dass
Die Verwalterauswahl ist sicherlich auch ein wichti- von einer unbezahlten Rechnung über 100 Euro im Falle
ges Thema. Hier ist vieles aber schon ausgeräumt, wenn der Insolvenz am Ende im Schnitt ganze 3,60 Euro für
die Gläubiger einen besseren und weitergehenden Ein- die Gläubiger übrig bleiben. Bei zwei Drittel aller Insol-
fluss bekommen. Wir werden schauen müssen, ob im venzen gehen die Gläubiger sogar komplett leer aus. –
Vergütungssystem der Insolvenzverwalter Fehlanreize Jetzt wollen Sie, dass der Staat die Insolvenzmasse kom-
bestehen. Die Sonderregeln für die Konzerninsolvenz, plett abschöpft. Das ist wirklich unglaublich. Im Klartext
die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen und das Verbrau- heißt das, dass diese Bundesregierung beabsichtigt,
cherinsolvenzverfahren sind ebenfalls zu prüfen. künftige Bundeshaushalte auch auf Kosten von Insol-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5693
Burkhard Lischka
(A) venzmassen zu sanieren und sich bei denjenigen zu be- (Burkhard Lischka [SPD]: Reden Sie einmal (C)
dienen, die ohnehin am Boden liegen. Das ist ökono- über Ihren Koalitionsvertrag!)
misch unsinnig, schäbig und ungerecht. Aber ich sage
Ich will die Zeit nutzen, um Ihnen einmal kurz darzu-
Ihnen: Sie werden damit Schiffbruch erleiden.
stellen, wohin die Reise geht; denn dies ist ein Thema,
(Beifall bei der SPD) mit dem man sich sehr sorgfältig auseinandersetzen
muss. Die Kollegin Winkelmeier-Becker hat es schon
Das Fatale an diesem Vorschlag ist – das wissen Sie angesprochen. Es geht um die Frage: Wie machen wir
doch ganz genau –: Wenn von der Insolvenzmasse nichts für den Mittelstand das Sanieren von Unternehmen at-
mehr übrig bleibt, dann ist an fortführende Insolvenzen traktiv? Wie ermöglichen wir es einem Unternehmer, der
sowie an erfolgreiche Betriebssanierungen gar nicht in der Krise ist, jetzt die Chance der Insolvenzordnung
mehr zu denken. Stattdessen würden Unternehmen nur zu nutzen und sein Unternehmen aus eigener Kraft zu sa-
noch abgewickelt, Existenzen und damit viele Arbeits- nieren? Dafür muss man kein neues Sanierungsrecht
plätze vernichtet. Das geschieht ausgerechnet in einer schaffen. Vielmehr muss man die Institute, die wir in der
Situation, in der wir – seit dem Jahr 2009 – eine regel- Rechtsordnung haben, schärfen.
rechte Insolvenzwelle haben; allein im ersten Quartal
dieses Jahres ist die Zahl der Insolvenzen noch einmal (Zuruf des Abg. Burkhard Lischka [SPD])
um 6,7 Prozent gestiegen. – Hören Sie zu! Dann lernen Sie etwas.
Wir brauchen eigentlich genau das Gegenteil, nämlich (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
mehr und frühzeitige Sanierungen. Wir brauchen ein In-
solvenzrecht, mit dem versucht wird, möglichst viele Ar- Wir haben zwei Institute, die dazu geeignet sind. Das
beitsplätze zu erhalten. Im Übrigen brauchen wir eine sind das Institut der drohenden Zahlungsunfähigkeit und
Politik, die dafür die notwendigen Rahmenbedingungen das Institut der Eigenverwaltung. Ein zentraler Ansatz
auch im Insolvenzrecht schafft. Aber das machen Sie des Gesetzentwurfes, an dem wir zurzeit arbeiten, ist, die
bestenfalls auf dem Papier. In Ihrem Koalitionsvertrag Eigenverwaltung und die drohende Zahlungsunfähigkeit
– das ist interessant – lehnen Sie das Fiskusprivileg übri- zu verbinden, damit der sanierungswillige Insolvenz-
gens noch ausdrücklich ab. Darin formulieren Sie – ich schuldner zu einem sehr frühen Zeitpunkt in das Verfah-
darf einmal zitieren – eigentlich ziemlich eindeutig: ren gehen kann. Wenn wir zudem erreichen, dass er mit
seinen Gläubigern einen Sachwalter, der ihn durch das
Eine wesentliche Errungenschaft der Insolvenzord- Verfahren begleitet, selbst auswählen kann, dann schaf-
nung ist die Gleichbehandlung aller Gläubiger. fen wir Planungssicherheit. Damit verhindern wir die
heutige Situation, dass jemand, der ein Sanierungsinte-
(B) Jetzt planen Sie offensichtlich wider besseres Wissen, resse hat und sich frühzeitig mit seiner Situation ausein- (D)
genau das Gegenteil zu tun. Das zeigt wieder einmal, andersetzt, in Unsicherheit gestürzt wird, wenn er vor
dass bei dieser Bundesregierung Worte und Taten häufig Gericht steht und nicht weiß, welchen Insolvenzverwal-
überhaupt nicht zusammenpassen und Sie ständig genau ter er bekommt und wie das Verfahren für ihn läuft.
das Gegenteil von dem tun, was Sie vorher großspurig Diese Planungssicherheit ist für jemanden, der über Sa-
versprochen haben. Aber, wie gesagt, damit werden Sie nierung nachdenkt, ein wichtiges Thema.
Schiffbruch erleiden. Dafür werden wir sorgen.
Als zweiten Punkt wollen wir das Insolvenzplanrecht
Danke. wesentlich überarbeiten. Wir brauchen keine verstärkte
Nutzung der Eigenverwaltung, auch nicht bei drohender
(Beifall bei der SPD) Zahlungsunfähigkeit. Wir wollen das Insolvenzplanrecht
so lassen, wie es ist; ansonsten würde es zu überfrachtet
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Wir wollen, dass jemand, der die Möglichkeit
Christian Ahrendt spricht jetzt für die FDP-Fraktion. der Eigenverwaltung bekommt, in kürzester Zeit ver-
pflichtet ist, einen Plan vorzulegen, damit Gläubiger und
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weitere an dem Verfahren Beteiligte wissen, wohin die
der CDU/CSU) Reise geht. Es gibt verschiedene Beispiele in der Praxis,
die zeigen, dass es innerhalb von wenigen Monaten er-
Christian Ahrendt (FDP): folgreich gelingen kann, ein Unternehmen wieder vom
Kopf auf die Füße zu stellen. Das liegt unter anderem
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kollegen! Erst ein-
daran, dass das Planrecht sehr viele Gestaltungsmöglich-
mal danke ich den Grünen für diesen Antrag. Das ist ein
keiten bietet.
konstruktives Sichauseinandersetzen mit dem Thema,
auch wenn Sie ein bisschen spät dran sind. Wir haben Eine der Gestaltungsmöglichkeiten, die wir schaffen
uns des Themas recht frühzeitig angenommen. Herr Kol- – das ist ein wesentlicher Wurf –, besteht darin, im Rah-
lege Lischka, ich muss Sie an die letzte Legislaturpe- men des Plans in Eigentumsrechte einzugreifen, insbe-
riode erinnern. Da haben Sie § 28 e SGB IV eingeführt. sondere auf Gesellschafterebene. Das ist die Einführung
Das ist heute – Gott sei Dank – wegen der BGH-Recht- des sogenannten Debt-Equity-Swaps, des Umwandelns
sprechung totes Recht. Aber wenn Sie hier über Vor- von Verbindlichkeiten in Kapitalanteile. Das brauchen
rechte reden, sollten Sie sich daran erinnern, was Sie in wir; dann haben wir ein Planrecht. Zusammen mit den
der letzten Legislaturperiode selber auf den Weg ge- anderen Aspekten, die Frau Winkelmeier-Becker schon
bracht haben, und ganz still sein. vorgestellt hat – ich will sie jetzt nicht wiederholen –,
5694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Christian Ahrendt
(A) wird erreicht, dass das Planrecht einfach handhabbar und Richard Pitterle (DIE LINKE): (C)
beim Sanierungsverfahren konstruktiv ist. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Der entscheidende Punkt bezieht sich – da gebe ich Kollegen! Für das Jahr 2010 werden 40 000 Unterneh-
Ihnen recht – auf den Vorschlag des Finanzministers, das mensinsolvenzen erwartet. Daher ist das heutige Thema
Insolvenzverfahren mit einem Vorrecht zu belasten. sehr aktuell. Die in der Insolvenzordnung vorhandenen
Wenn das in die Richtung geht, wie ich mir das vorstelle Möglichkeiten eines Insolvenzplanverfahrens wurden
– ich habe das 15 Jahre lang in anwaltlicher Praxis ge- kaum genutzt; da stimme ich zu. Auch ist die Aussage
macht –, dann wird es im Wesentlichen nicht mehr um im Antrag der Grünen richtig, dass wir das vorinsolvenz-
die Frage des Vorrechtes gehen. Denn die Kernfrage, liche Sanierungsverfahren im Interesse des Erhalts vieler
über die wir uns am Ende des Tages unterhalten müssen, Unternehmen und damit auch der Arbeitsplätze dringend
ist: Brauchen wir noch ein Vorverfahren? Wenn jemand, benötigen. Im Antrag wird die Regierung aufgefordert,
der drohend zahlungsunfähig ist, einen Eigenverwal- einen Gesetzentwurf vorzulegen. Medienberichten von
tungsantrag stellt und wir unterstellen, dass er redlich ist, vor zwei Tagen entnehme ich, dass ein solcher Entwurf
und es beim Vorverfahren nur um die Frage geht, ob die bereits in der Schublade der Justizministerin liegt. Da
Mittel im Unternehmen ausreichen, um die Gerichtskos- wird es Zeit, die Schublade zu leeren, damit wir im Par-
ten und die Kosten des Verwalters zu bezahlen, dann lament zur Diskussion und Beschlussfassung kommen.
können wir uns das Vorverfahren möglicherweise spa- Ich frage mich: Warum ist die Bundesregierung so lange
ren. Das heißt, mit dem Antrag auf Eigenverwaltung bei untätig geblieben? Ich sage aber auch: Besser spät als
drohender Zahlungsunfähigkeit wird auch sofort, ohne nie.
weiteren Zwischenschritt, das Insolvenzverfahren eröff- Grundsätzlich begrüßen wir Linke die Stoßrichtung
net mit der Folge, dass die Vorrechtsfrage gar nicht ent- des vorliegenden Antrags. Wenn man das Insolvenzrecht
steht. reformieren will, muss man meines Erachtens auch die
(Burkhard Lischka [SPD]: Dann ist das ja eine Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be-
Luftbuchung!) denken; denn nur mit motivierten Beschäftigten ist eine
Sanierung von Unternehmen überhaupt denkbar. Hier
Denn wenn das Unternehmen in diesem Verfahrenssta- besteht bei dem Antrag Ergänzungsbedarf.
dium fortgeführt wird, sind alle Verbindlichkeiten, die in
§ 55 der Insolvenzordnung genannt werden, automatisch (Beifall bei der LINKEN)
Masseverbindlichkeiten. Dann entsteht die Situation,
In meiner Tätigkeit als Fachanwalt für Arbeitsrecht
dass Sie Gläubiger und Schuldner ohnehin gleichmäßig
habe ich wiederholt Fälle erlebt, in denen der Insolvenz-
im Rahmen einer Fortführung des Unternehmens bedie-
(B) nen müssen; das ist Bestandteil einer Sanierung. Inso- verwalter von den Beschäftigten gefordert hatte, ihre be- (D)
reits erhaltene Arbeitsvergütung zurückzuzahlen. Das
fern erledigt sich genau an dieser Stelle die Vorrechts-
muss man sich vorstellen: Da bekommt ein Arbeitneh-
frage.
mer sechs Monate lang die Hälfte des vertraglichen
(Burkhard Lischka [SPD]: Dann ist das eine Lohns, bleibt trotzdem im Betrieb, weil der Chef sagt, es
Luftbuchung! – Christine Scheel [BÜND- sei Land in Sicht; dann folgt die Insolvenz und der Insol-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher kommen dann venzverwalter will von ihm Geld zurück. – Das müssen
die 500 Millionen Euro?) Sie einem solchen Arbeitnehmer erklären; er versteht die
Welt nicht mehr. Doch nach § 130 Insolvenzordnung
– Die 500 Millionen Euro kommen aus der Fortführung sind Lohnansprüche anfechtbare Gläubigerforderungen
des Unternehmens, weil das Unternehmen weiter am im Insolvenzverfahren anstatt geschützte Masseforde-
Markt tätig ist, seine Arbeitnehmer bezahlen kann, seine rungen. Ich finde, das müssen wir ändern.
Steuern bezahlen kann und im Grunde genommen wei-
terhin erfolgreich am Wirtschaftsleben teilnimmt. (Beifall bei der LINKEN)
Das ist die Planung. Ich gehe davon aus, dass wir in Genauso ungerecht ist es, wenn sich Arbeitnehmerinnen
der Sommerpause an diesem Gesetzentwurf arbeiten und Arbeitnehmer im Rahmen von Umstrukturierungs-
werden und ihn dann im Herbst vorliegen haben. Danach maßnahmen bereit erklären, gegen eine Sozialplanabfin-
werden wir gerne mit Ihnen in den Ausschüssen über dung aus dem Betrieb auszuscheiden; geht der Betrieb
diesen Weg diskutieren. Wir haben dann in kürzester dann in die Insolvenz, gehen sie leer aus und müssen ih-
Zeit umgesetzt, was wir von der FDP-Fraktion schon in ren Abfindungsanspruch zur Insolvenztabelle anmelden.
der Opposition mit unserem Antrag vom März letzten
Jahres auf den Weg gebracht haben. Das ist konstrukti- Zusammen mit dem DGB sind wir der Meinung, dass
ves, schnelles Regierungshandeln für den Mittelstand. die Ansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer aus dem Arbeitsverhältnis Vorrang vor anderen
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Gläubigeransprüchen haben müssen. Genau so ist es im
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) französischen Insolvenzrecht geregelt; das wollen wir
auch hier.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der LINKEN)
Richard Pitterle spricht für die Linke.
Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die
(Beifall bei der LINKEN) Auszahlung des Lohns von existenzieller Bedeutung,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5695
Richard Pitterle
(A) (Zuruf von der CDU/CSU: Für manche Unter- sanierungsfähigen Unternehmen tatsächlich gerettet (C)
nehmer auch!) werden. Prominente Beispiele für ein gelungenes Insol-
venzplanverfahren sind die großen Firmen Ihr Platz,
ganz im Gegensatz zum Beispiel zur finanzierenden
Sinn-Leffers und Herlitz.
Bank, die legitimerweise ihre Kreditraten erhalten
möchte, jedoch nicht in gleicher Weise darauf angewie- Das Verfahren bietet aber nicht nur für Schuldner Vor-
sen ist. teile. Ziel des Insolvenzplanverfahrens war auch eine
Genauso wichtig ist es, dem Betriebsrat ein Vetorecht bessere Gläubigerbefriedigung. So sind zum einen die
gegen die Einsetzung eines Insolvenzverwalters einzu- Befriedigungsquoten im Planverfahren durchschnittlich
räumen. Während sich früher in Deutschland circa um ein Vielfaches höher als im normalen Regelverfahren
50 Insolvenzverwalter um die Aufträge durch das Insol- – das haben wir heute schon gehört –, nämlich bei rund
venzgericht bemühten, sind es heute circa 2 000. Jeder, 20 Prozent der Forderung im Vergleich zu 3 bis
der sich in dem Bereich nur ein wenig auskennt, weiß je- 5 Prozent im Regelverfahren. Zum anderen erhalten die
doch: Mehr Quantität geht hier nicht mit mehr Qualität Gläubiger ihr Geld oftmals bereits innerhalb weniger
einher. Daher bin ich mir an dieser Stelle mit den An- Monate und nicht erst nach Jahren.
tragstellern einig, dass Regelungen zur Auswahl der In- Anhand des Kriteriums Arbeitsplatzsicherung lässt
solvenzverwalter dringend nötig sind. sich ein weiterer positiver Effekt des Planverfahrens aus-
(Beifall bei der LINKEN) machen. Seit 2003 waren schätzungsweise rund 30 000
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vom Insolvenz-
Im Interesse der betroffenen Arbeitnehmerinnen und planverfahren betroffen. Gut die Hälfte dieser Stellen
Arbeitnehmer fordern wir insbesondere eine bessere Ab- konnte dadurch bislang erhalten bleiben, mit positiven
sicherung der Arbeitszeitkonten und der Altersteilzeit im Auswirkungen im Hinblick auf Steuereinnahmen und
Blockmodell gegen die Insolvenz, die Streichung der soziale Sicherungssysteme.
verkürzten Kündigungsfristen und der Namenslisten in
der Insolvenzordnung, eine Verbesserung der Insolvenz- Doch wird das Insolvenzplanverfahren viel zu selten
geldregelung sowie die Verankerung von Ansprüchen in Anspruch genommen. Nach Hochrechnungen gab es
des Betriebsrats auf Auskünfte zum Stand des Verfah- im vergangenen Jahr in Deutschland rund 29 800 Fir-
rens gegenüber dem Insolvenzverwalter in der Insolvenz- menpleiten. Vorhin haben wir schon gehört: In diesem
ordnung. Jahr werden es voraussichtlich 36 000 sein; wir hoffen,
dass es in den kommenden Jahren nicht noch mehr wer-
Wie Sie sehen, gibt es viel zu diskutieren. Es ist den. Im letzten Jahr wurde jedoch für nur 640 Unterneh-
höchste Zeit, damit anzufangen. Ich sehe: Meine Zeit ist men ein Insolvenzplan erstellt. Das sind tatsächlich nur
(B) abgelaufen. 2,15 Prozent der Fälle. Das heißt, dass rund 98 Prozent (D)
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der insolventen Betriebe nach wie vor zerschlagen wer-
der SPD, der FDP, der LINKEN und des den, und das bei einer gleichzeitig leider steigenden Zahl
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Insolvenzen vor allem bei kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen.
Daher kommt jetzt das Wichtigste: der Schluss.
Ein Grund für die mangelnde Inanspruchnahme des
(Beifall bei der LINKEN) Insolvenzplanverfahrens ist, dass der Insolvenzantrag
oftmals erst dann gestellt wird, wenn die Masse des Un-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ternehmens schon aufgebraucht ist und kein Handlungs-
Sie haben die Redezeit auf die Minute genau einge- spielraum mehr vorhanden ist. Außerdem bestehen
halten. Das war sozusagen fast protestantischer Redezeit- strukturelle Mängel beim Insolvenzplanverfahren. Viele
ethos. Insolvenzverwalter kritisieren, das Planverfahren sei zu
Die nächste Rednerin ist Sonja Amalie Steffen für die kompliziert, und wenden es daher nicht an. Es bedarf
SPD-Fraktion. also einer verbesserten fachlichen Qualifikation für das
Handeln der Insolvenzverwalter, der Richter und der
(Beifall bei der SPD) Rechtspfleger.
(Beifall bei der SPD)
Sonja Steffen (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Darüber hinaus versagen die Gerichte zu oft die Ei-
Kollegen! Das vor rund zehn Jahren eingeführte Insol- genverwaltung. Die Insolvenzordnung sieht schon
venzplanverfahren ist ein sehr sinnvolles Instrument in gegenwärtig die Möglichkeit vor, dass die bisherige Un-
der Insolvenzordnung. Das wurde heute schon festge- ternehmensleitung den Insolvenzplan selbst umsetzt und
stellt; darin sind sich alle Anwendenden ausnahmsweise die Geschäfte fortführt. In der Praxis hat sich die Eigen-
einig. Der Insolvenzverwalter erstellt im Zuge dieses verwaltung bislang jedoch leider nicht durchgesetzt.
Verfahrens ein vom zuständigen Gericht abzusegnendes Entsprechende Anträge finden bei Gericht viel zu selten
Sanierungskonzept für das Unternehmen und verhandelt Gehör. Vermutlich ist das Misstrauen zu groß, denselben
mit den Gläubigern über Verzichtsmöglichkeiten. Da- Menschen die Sanierung des Unternehmens zu überlas-
rüber hinaus kann das Unternehmen Insolvenzgeld in sen, die es zuvor nicht vor der Insolvenz bewahren konn-
Anspruch nehmen. Das ist eigentlich ein sehr sinnvolles ten. Will man das Insolvenzplanverfahren stärken, so ist
Verfahren, könnte auf diesem Weg doch ein Großteil der ein Vertrauensvorschuss zwingend notwendig. Die Ei-
5696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Sonja Steffen
(A) genverwaltung sollte grundsätzlich gewährt werden, b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C)
wenn ein plausibler Insolvenzplan vorgelegt wird und richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
der Antrag frühzeitig, also nicht erst bei Vorliegen eines
zwingenden Insolvenzgrundes, gestellt wird. – zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ent- Stabilisierung des Finanzsektors – Eigenka-
hält diese Anregungen und wird von uns daher voll un- pitalvorschriften für Banken angemessen
terstützt. Es freut uns natürlich, dass die Bundesjustizmi- überarbeiten
nisterin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nun eben-
falls Gesetzespläne im Hinblick auf Änderungen beim – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
Insolvenzrecht für Firmen angekündigt hat; Einzelheiten rung
wurden uns bereits von der Frau Kollegin Winkelmeier-
Bericht über die Umsetzung der neu gefass-
Becker erläutert. Es bleibt zu hoffen, dass das unselige
ten Bankenrichtlinie und der neu gefassten
Fiskusprivileg zumindest im Zusammenhang mit dem
Kapitaladäquanzrichtlinie
Insolvenzplanverfahren abgeschafft wird.
– Drucksachen 17/1756, 16/13741, 17/2472 –
Abschließend möchte ich an dieser Stelle unsere frü-
here Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zitieren: Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Sanieren statt zerschlagen ist das oberste Gebot der Manfred Zöllmer
Stunde – es geht vor allem um den Erhalt von Ar- Björn Sänger
beitsplätzen. Dr. Axel Troost
Dr. Gerhard Schick
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Lin-
Es ist sehr sinnvoll, dass sich der Deutsche Bundestag ken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
nun dafür einsetzt, das Insolvenzrecht stärker auf die
Rettung von Unternehmen auszurichten. Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe
Vielen Dank. und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem (D)
Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damit schließe ich die Aussprache.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
Drucksache 17/2008 an die Ausschüsse vorgeschlagen, kommen heute das letzte Mal vor der Sommerpause zum
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie Thema Finanzmarkt zusammen. Wir haben uns in den
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. letzten neun Monaten des parlamentarischen Jahrs ziem-
lich oft mit diesem Thema befasst. Das ist auch ganz gut
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und b so, weil es weiterhin gilt, Lehren aus der Bankenkrise zu
auf: ziehen. Wir haben dabei entdeckt, dass wir uns in einem
Spannungsfeld befinden, einem Spannungsfeld aus dem,
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
was national wünschenswert ist, und dem, was interna-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
tional umsetzbar ist. Wir haben erkannt, dass die meisten
zur Umsetzung der geänderten Bankenrichtli-
Regeln nur dann Sinn machen, wenn sie international
nie und der geänderten Kapitaladäquanzricht-
umgesetzt werden. Dabei sind wir an unsere Grenzen ge-
linie
stoßen, ganz frappierend wieder in Toronto. Bestimmte,
– Drucksachen 17/1720, 17/1803 – wichtige Länder haben uns gesagt: Das ist eure Krise;
das ist nicht unsere Krise. – Dazu gehören die Chinesen,
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- die Australier, die Koreaner, die Kanadier und viele an-
schusses (7. Ausschuss) dere. Insofern bin ich froh, dass wir heute über zwei Vor-
haben beraten, die auf internationalen bzw. europäischen
– Drucksache 17/2472 – Vorgaben beruhen.
Berichterstattung: Wir wollen heute in zweiter und dritter Lesung ein
Abgeornete Ralph Brinkhaus Gesetz zur Umsetzung der geänderten Bankenrichtlinie
Manfred Zöllmer und der geänderten Kapitaladäquanzrichtlinie verab-
Björn Sänger schieden. Das heißt, wir wollen europäisches Recht in
Dr. Axel Troost deutsches Recht überführen. Darüber hinaus – das finde
Dr. Gerhard Schick ich bemerkenswert – bringen CDU/CSU, SPD, FDP und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5697
Ralph Brinkhaus
(A) Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag im rende Marktwirtschaft, und es ist ordnungspolitisch völ- (C)
Hinblick auf den sogenannten Basel-III-Prozess ein. Wir lig legitim, dass der Staat regelnd eingreift, wenn diese
alle haben uns mit beiden Vorhaben intensiv befasst. Wir Transparenz vom Markt ignoriert wird.
haben durchaus sehr oft Einigkeit erzielt. Als ein Ergeb-
nis dieser Beratungen werden wir heute über eine ganze (Beifall bei der CDU/CSU)
Reihe von Änderungsanträgen zum ursprünglichen Ge- Insoweit waren wir uns noch alle einig.
setzentwurf zu beraten haben. Wir werden auf Antrag
der Opposition in der heutigen Debatte noch über einen Ein zweiter Punkt, der in diesem Bereich geregelt
dritten Punkt sprechen, nämlich über die Finanztransak- wird, ist, dass derjenige, der eine Verbriefung auflegt,
tionsteuer. Auch da liegen wir inhaltlich gar nicht so zukünftig einen Eigenbehalt leisten muss; er muss einen
weit auseinander, wie es manchmal scheint. Teil des Risikos übernehmen. Die europäischen Regeln
sehen 5 Prozent vor. Damit sind wir hier im Haus nicht
Ich möchte im Folgenden alle drei Blöcke kurz erläu- unbedingt auf Einigkeit gestoßen. Die FDP hat auf
tern. Zuerst zur geänderten Bankenrichtlinie und Kapi- 10 Prozent gedrängt, die Linken auf 15 Prozent, die SPD
taladäquanzrichtlinie. Es handelt sich hier um ein sehr gar auf 20 Prozent. Dahinter steht folgende Philosophie:
umfangreiches Paket von Regulierungsmaßnahmen für Wenn man einen hohen Eigenbehalt leisten muss, wird
Finanzdienstleister, für die Bereiche Eigenkapital, Groß- man keine schlechten Kredite herauslegen und dann wei-
kreditgrenzen, Verbriefungen, europäische Aufsicht, terverbriefen. – Die Idee mag richtig sein; einen empiri-
Pfandbriefrecht und viele andere, kleine Punkte. Für den schen Nachweis dafür gibt es allerdings noch nicht.
Laien hört sich das nicht sehr spannend an, ist es aber
trotzdem; denn durch dieses Gesetz wird sich viel verän- Wir als Union sehen diesen Eigenbehalt eigentlich
dern. Ich will versuchen, diese komplizierte Materie in auch nicht als entscheidend an. Für uns sind die Transpa-
möglichst einfachen Worten verständlich zu machen. Ich renzvorschriften entscheidend. Jeder kann dann ent-
möchte dabei auf zwei große Punkte dieses Gesetzent- scheiden, was er in sein Depot aufnimmt und in seine
wurfs eingehen. Bücher schreibt. Viele europäische Länder sehen das ge-
nauso. Deswegen ist diese 5-Prozent-Regelung eigent-
Erstens, zu den Großkreditgrenzen. Dahinter steckt lich europäischer Standard.
die Überlegung, dass es für eine Bank ein großes Risiko
ist, zu hohe Kredite an einen Kreditnehmer herauszule- Nichtsdestotrotz machen wir einen Kompromissvor-
gen. Man möchte vermeiden, dass durch die Schieflage schlag, um Einigkeit in diesem Haus zu erzielen, weil
eines einzelnen Kunden ein ganzes Institut gefährdet wir denken, dass es gut wäre, dieses Gesetz gemeinsam
wird. Wie hoch ein Kredit sein wird, hängt von der zu verabschieden: Wir legen auf deutscher Ebene zu-
nächst für zwei Jahre 5 Prozent als Eigenbehalt fest und
(B) Größe der Bank ab. Diese Regelung galt bislang aber lei- werden diesen Anteil dann auf 10 Prozent erhöhen. (D)
der nicht für Kredite, die sich Banken untereinander ge-
geben haben. Das musste geändert werden; das ist eine Dadurch haben wir Zeit, zu prüfen, ob 10 Prozent,
Konsequenz aus der Krise. Insofern ist es gut und rich- 15 Prozent oder 20 Prozent richtig sind, und vor allen
tig, dass wir das mit diesem Gesetz tun. Dingen haben wir dadurch Zeit, die europäischen Part-
ner davon zu überzeugen, auch auf die 10-Prozent-Regel
Zweitens, zu den Verbriefungen. Das ist für mich ein- überzugehen; denn wenn wir sie nicht überzeugen, müs-
deutig der Teil des Gesetzentwurfs, der am meisten ver- sen wir damit rechnen, dass der Verbriefungsmarkt in
ändern wird. Man spricht von Verbriefungen, wenn zum andere Länder, zum Beispiel nach Luxemburg, abwan-
Beispiel eine Bank eine Kreditforderung an eine andere dert. Ich denke, diesen Weg kann man durchaus gehen,
Bank weiterverkauft. Das hört sich zunächst sehr harm- und ich würde mich freuen, wenn Sie von der Opposi-
los an, war aber ein wesentlicher Grund für die Finanz- tion diesen Weg mitgingen. Wir können dann immer
krise im Oktober 2008. Was war passiert? Kredite wur- noch 15 Prozent oder 20 Prozent einführen, wenn wir
den nicht eins zu eins verkauft, sondern mit anderen am Ende des Tages bessere Erkenntnisse haben.
Krediten vermischt und dann mehrfach weiterverkauft,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mit dem Ergebnis, dass viele Investoren überhaupt nicht
neten der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]:
mehr erklären konnten, was in ihren Büchern steht. So
Das hilft nicht!)
sind zum Beispiel amerikanische Immobilienkredite im
Depot der deutschen Landesbanken gelandet. Das war Alles in allem packen wir mit diesem Gesetzentwurf
nicht gut. sehr viele Problembereiche in Bezug auf die Finanzkrise
an. Das ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu bes-
Im vorliegenden Gesetzentwurf wird nun verlangt, seren und sicheren Finanzmärkten. Ich kann nur um Zu-
dass derjenige, der eine Verbriefung kauft, der Investor, stimmung werben.
genau darüber Auskunft geben können muss, was diese
Verbriefung enthält. Er muss das Risiko einschätzen und Zum zweiten Block, zum gemeinsamen Antrag von
diese Verbriefung in sein Risikomanagement integrieren. CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
Das ist gut und richtig. Das ist ein Quantensprung in der Basel III. Es gibt ein internationales Expertengremium,
Regulierungsphilosophie; denn gerade die fehlende das derzeit Vorschläge zur Verbesserung der Eigenkapi-
Transparenz, die Tatsache, dass viele Bankmanager nicht talvorschriften erarbeitet. Dieser Basel-III-Prozess ist
wussten, was in ihren Depots lag, war ein Grund dafür, gut und richtig und auch notwendig; denn wir haben in
dass wir 2008 so viele Schwierigkeiten bekommen ha- der Finanzkrise gesehen, dass die Koppelung von Haf-
ben. Transparenz ist der Schlüssel für eine funktionie- tung und Risiko nicht mehr gegeben ist. Durch das Ei-
5698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Ralph Brinkhaus
(A) genkapital wird genau diese Koppelung erreicht. Hier zen, und darauf verzichten, Anträge für die Galerie zu (C)
haben wir Defizite. Um das ernsthaft zu benennen: Das machen. Das hilft nämlich niemandem.
gilt auch für Deutschland. Deutsche Banken haben teil-
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
weise zu wenig Eigenkapital. Hier besteht Nachholbe-
CDU/CSU: Super, das ist es nämlich!)
darf. – Das ist das Gute an diesem Projekt.
Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfas-
Das weniger Gute ist, dass wir erfahren haben, dass sen: Bundesregierung und Koalitionsfraktionen haben in
das Basel-III-Projekt, an dem viele Länder beteiligt sind, den letzten neun Monaten vier Projekte im Bereich Fi-
genutzt wurde, um Standortpolitik zu betreiben. So ha- nanzmarkt abgeschlossen: die Regulierung der Rating-
ben die Amerikaner im Vorgängerprozess – Basel II – agenturen,
sehr, sehr harte Forderungen gestellt, diese im Gegensatz
zur EU aber nicht umgesetzt. Darüber hinaus haben wir (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
in Deutschland ein einzigartiges Bankensystem, beste- NEN]: Das ist nicht abgeschlossen!)
hend aus Sparkassen, Volksbanken und Geschäftsban- die Regulierung der Vergütungssysteme, die Einschrän-
ken, das wir erhalten wollen; das müssen wir berück- kung der Leerverkäufe und heute – in den nächsten zehn
sichtigen. Daneben ist es auch sehr wichtig, dass die Minuten – die Umsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie.
verschärften Eigenkapitalvorschriften nicht dazu füh-
ren, dass wir in eine Kreditklemme geraten, weil sich die (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ein bisschen
Banken in Deutschland damit beschäftigen, Eigenkapital länger wird es schon noch dauern!)
aufzubauen, und nicht damit, Kredite herauszugeben. – Wir werden darüber hinaus nach der Sommerpause
Deswegen brauchen wir Übergangsvorschriften. Das ha- Regelungen zum Anlegerschutz in den parlamentari-
ben wir in diesem gemeinsamen Antrag formuliert. Das schen Prozess einbringen. Bis zum Herbst werden wir
ist gut und richtig, weil sich im Basel-Prozess momentan – insofern ist es schön, dass die Kollegen vom Rechts-
viel bewegt. Es werden dort Positionen von Ländern und ausschuss hier sitzen – das wirkliche Mammutprojekt
Interessenverbänden aufgebaut, und ich glaube, es ist le- Restrukturierung im Bereich der Banken und Finanzin-
gitim, dass der Bundestag an dieser Stelle eine Gegenpo- stitute auf den Weg bringen. Das wird epochal sein; das
sition einnimmt. wird wegweisend sein. Insofern kann man wirklich nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sagen, dass diese Bundesregierung und diese Koalition
bei Abgeordneten der FDP) in diesem Bereich nicht ernsthaft oder langsam arbeiten.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– Jetzt können alle klatschen; das ist ja ein gemeinsamer
neten der FDP)
Antrag. Sie dürfen auch mitklatschen, Herr Troost.
(B) Auf europäischer Ebene verhandeln wir darüber hi- (D)
(Manfred Zöllmer [SPD]: Er ist aber nicht da- naus über weitere Maßnahmen: die Regulierung von
bei! – Joachim Poß [SPD]: Annäherungsver- Hedgefonds, weitere Eigenkapitalregeln, die Regulie-
such!) rung des Derivatehandels, die Neuordnung der Einlagen-
– Wir hätten ihn aber gerne dabeigehabt. sicherung, die Schaffung von europäischen Aufsichts-
strukturen,
Der dritte Punkt beschäftigt sich mit der Finanztrans-
aktionsteuer. Es gibt drei Anträge zur Finanztransaktion- (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist euch doch
steuer. Nur zur Erklärung: Die Bundesregierung hat als alles vorgelegt worden!)
einzige Vertretung einer großen Volkswirtschaft in To- um nur einige Beispiele zu nennen.
ronto für eine Finanztransaktionsteuer gekämpft, wohl
wissend, dass es schwierig wird. Das Ergebnis ist be- Meine Damen und Herren, wir werden die Banken an
kannt: Es ist nicht erfolgreich ausgegangen. Die Bundes- den Kosten der vergangenen und zukünftigen Krisen be-
regierung wird jetzt zusammen mit Frankreich auf euro- teiligen. Wir haben systemrelevante Banken unter den
päischer Ebene versuchen, eine Finanztransaktionsteuer Schutz des Bundes, des SoFFin, gestellt.
durchzusetzen. Auch das wird schwierig werden. Ich er- Schließlich kann ich nur sagen – das ist deutlich ge-
innere nur daran: Steuern müssen einstimmig beschlos- worden –: Bundesregierung und Koalitionsfraktionen
sen werden. Wenn es auch auf EU-Ebene nicht gelingt, haben die Bedeutung des Themas erkannt. Sie arbeiten
dies zu erreichen, dann gilt das Versprechen unseres Fi- hart an den richtigen Maßnahmen, und zwar auf allen
nanzministers, es dann auf der Ebene des Euro-Raums Ebenen: national, europäisch und international. Das Ih-
zu versuchen. Wenn wir es auf Euro-Raum-Ebene auch nen vorliegende Gesetz und der gemeinsame Antrag sind
nicht schaffen, dann werden wir versuchen, eine Lösung ein wichtiger Schritt dazu. Ich werbe daher um Ihre Zu-
hier in Deutschland zu finden. Meine Damen und Her- stimmung.
ren, wir müssen eine solche Lösung auch finden, weil
wir im Rahmen unseres Sparpakets versprochen haben, Danke schön.
die Banken mit mindestens 2 Milliarden Euro an den
Kosten der Krise zu beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Weg, Zeitplan und Absicht sind also definiert. Inso- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
fern besteht eigentlich auch überhaupt kein Anlass, ei- Manfred Zöllmer hat das Wort für die SPD-Fraktion.
nen weiteren Antrag zu diesem Thema zu stellen. Wir
sollten zügig daran arbeiten, diesen Komplex umzuset- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5699
(A) Manfred Zöllmer (SPD): im Gesetz festschreiben, dann gibt es keine Veränderung (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gegenüber der derzeitigen Praxis.
Es gab von der Bundesregierung mehrfach die Ankündi-
Sie haben eben deutlich gemacht, dass Sie die
gung, nun wolle man den Finanzmärkten endlich Dau-
5 Prozent nur für zwei Jahre festschreiben und dann auf
menschrauben anlegen. Der Kollege Brinkhaus hat eben
10 Prozent anheben wollen. Wenn aber 10 Prozent nach
ja versucht, das noch einmal zu unterstreichen.
zwei Jahren nach Ihrer Auffassung die richtige Größe
(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er nicht nur sind, Herr Brinkhaus, frage ich Sie, warum das jetzt
versucht, das hat er gemacht!) nicht der Fall sein soll. Das können Sie nicht plausibel
erklären.
– Er hat es versucht.
(Beifall bei der SPD)
Mit den vorliegenden geänderten Banken- und Kapi-
taladäquanzrichtlinien können Sie in der Tat für sich in Dieser Ansatz hat wohl mehr mit koalitionsinternen Pro-
Anspruch nehmen, die Daumenschrauben mal vorge- blemen als mit ökonomischer Vernunft zu tun.
zeigt zu haben. Ob sie auch angelegt werden, wollen wir
(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans
uns jetzt einmal gemeinsam anschauen.
Michelbach [CDU/CSU]: Schon wieder diese
Zuerst das Lob: Mit diesem Gesetzentwurf wird ein Leier! – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten
überfälliger Schritt gemacht, um Verantwortlichkeit zu Sieling [SPD]: Das ist doch wahr!)
stärken, Transparenz zu verbessern, einheitliche Stan-
– So dünnhäutig sind Sie inzwischen geworden? Das tut
dards zu implementieren und damit Lehren aus der Fi-
mir aber leid.
nanzkrise zu ziehen. Der Kollege Brinkhaus hat das hier
im Detail erläutert. Ich werde es mir schenken, auf Ein- Man konnte nämlich im Vorfeld der Presse entneh-
zelheiten einzugehen, und nur einen Punkt ausführlicher men, dass die CDU 5 Prozent und die FDP 10 Prozent
mit Ihnen diskutieren, und zwar den Punkt Verbriefung. wollte. Dann hat man sich offenkundig auf diesen Kom-
promiss mit der Zeitschiene verständigt. Kompromisse
Der grundlegende Ansatz, den Sie gewählt haben, den
sind wichtig, doch dies ist offensichtlich ein fauler Kom-
Investor in den Mittelpunkt der Regulierung zu stellen,
promiss zulasten der Finanzmarktstabilität. Hier hat sich
ist richtig und nachvollziehbar. Wir begrüßen das. Denn
offenkundig die Finanzmarktlobby wieder einmal durch-
er muss sich jetzt intensiv mit den Produkten auseinan-
setzen können.
dersetzen und ein entsprechendes Risikomanagement
implementieren. Ich hoffe, dass damit die Zeiten vorbei Meine Damen und Herren, Daumenschrauben anle-
sind, in denen es in den USA hieß: Diese Produkte wer- gen sieht anders aus. Wir als Sozialdemokraten beantra-
(B) den an ein paar „stupid Germans“ verkauft – die würden gen 20 Prozent Selbstbehalt, weil wir nicht bereit sind, (D)
alles nehmen. Praktiken zu unterstützen, die dazu geführt haben, dass
ein ganzes Finanzsystem in Richtung Abgrund geführt
Nun gibt es aber einen ganz wichtigen Dissens zwi-
wurde und nur mithilfe von Milliarden an Steuergeldern
schen uns, den Sie auch schon angesprochen haben. Es
gerettet werden konnte. Dies ist nicht hinnehmbar, Herr
geht dabei um den Selbstbehalt bei Verbriefungen. Sie
Kollege Brinkhaus. Deshalb werden wir uns bei der Ab-
haben eben erläutert, was Verbriefungen sind: Banken
stimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
kaufen und verkaufen inzwischen Risiken. Dies hat bei
der Finanzkrise als auslösender Faktor eine ganz wich- (Zuruf von der FDP: Buh!)
tige Rolle gespielt. Verbriefungen und Wiederverbrie-
Nächstes Stichwort: Basel III. Sie haben erläutert,
fungen führten schließlich dazu, dass Bankvorstände
was der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht macht.
nicht einmal die leiseste Ahnung davon hatten, was sie
Ich stimme Ihnen zu: Es geht wirklich um den Kern ei-
im Portfolio hatten. Sie hatten sich nur auf die Bonitäts-
ner angemessenen Regulierung, die die Stabilität der Fi-
noten der Ratingagenturen verlassen. Und da die Rating-
nanzinstitutionen deutlich erhöht. Das ist ein sehr wich-
agenturen klotzig daran verdient haben, haben sie immer
tiger Punkt. Wir haben uns in unserem gemeinsamen
Bestnoten vergeben.
Antrag darauf verständigt, die Bundesregierung aufzu-
Nun hatten wir im Finanzausschuss eine Anhörung zu fordern, dafür zu sorgen, dass gemäß den G-20-Forde-
diesem Thema. Diese Anhörung hat sehr deutlich ge- rungen künftig jedes Produkt, jeder Akteur und jeder Fi-
macht, dass der Vorschlag der Bundesregierung, bei der nanzmarkt reguliert und einer Aufsicht unterstellt wird.
Verbriefung der Kredite einen Selbstbehalt von nur
Bezüglich der Frage, ob es eine sogenannte Leverage
5 Prozent vorzusehen, keine Verbesserung der Regulie-
Ratio, eine Schuldenbremse für Banken, geben soll, gibt
rung bedeuten würde; es wäre nur eine Festschreibung
es unterschiedliche Akzentuierungen. Ich glaube, es war
des Status quo.
richtig, dass wir in dem Antrag fordern, erst einmal die
(Beifall bei der SPD) Ergebnisse abzuwarten und dann zu einem späteren Zeit-
punkt zu entscheiden, ob eine solche Schuldenbremse
Die Sachverständige Frau Dr. Metzger vom Berliner
für Banken als zusätzliches verpflichtendes und begren-
Institut für Finanzmarktforschung brachte es in der An-
zendes Element der richtige Weg ist. Das wird in den
hörung auf den Punkt, als sie formulierte, es gebe nur
einzelnen Ländern sehr unterschiedlich gesehen.
sehr wenige Verbriefungen, bei denen der Selbstbehalt
des Forderungsverkäufers weniger als 5 Prozent betrage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man alle For-
Das bedeutet, wenn Sie einen Selbstbehalt von 5 Prozent derungen des gemeinsamen Antrages eins zu eins umset-
5700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Manfred Zöllmer
(A) zen würde, dann hätten wir den Finanzmarktakteuren in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
der Tat Daumenschrauben angelegt. Björn Sänger spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
Der nächste Punkt ist die Finanztransaktionsteuer. Für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
uns Sozialdemokraten war es immer wichtig, die Verur- der CDU/CSU)
sacher der Krise auch an deren Kosten zu beteiligen.
Verursacher sind die Spekulanten und Zocker, die das Fi- Björn Sänger (FDP):
nanzmarktkasino betrieben haben. Deshalb sollen sie he- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
rangezogen werden. Jedes Gut, das wir in Deutschland Herren! Ich bitte Sie, sich kurz etwas vorzustellen. Stel-
kaufen, ist mit einer Mehrwertsteuer belegt, nur Finanz- len Sie sich bitte einmal vor, Sie seien eine Kfz-Ver-
produkte sind es nicht. Finanzprodukte werden daher in sicherung. Sie bieten ausschließlich Tarife ohne Selbst-
Deutschland durch die Steuerfreiheit letztlich subventio- behalt an. Jetzt überlegen Sie, welchen Fahrertyp Sie als
niert. Riskante Finanzspekulationen haben uns in die Kunden mit einem solchen Angebot gewinnen. Überle-
Krise geführt, die dann nur mit Steuermitteln bekämpft gen Sie weiter, welche Auswirkungen das auf die Stabi-
werden konnte, und eine Subventionierung dieser Pro- lität Ihres Unternehmens hat. Wenn Sie mit diesen Über-
dukte ist zutiefst ungerecht. legungen fertig sind, dann überlegen Sie, welche Risiken
denn wohl in Kreditverbriefungen schlummern, wenn es
(Beifall bei der SPD)
keinen Selbstbehalt gibt. Wir haben gesehen, dass ver-
Wir haben uns deshalb sehr gefreut, dass Finanzmi- briefte Kredite eine der Kernursachen der Banken- und
nister Schäuble in einer Rede im Deutschen Bundestag Finanzkrise gewesen sind. Deshalb möchte ich darauf
deutlich gemacht hat, dass er eine solche Steuer jetzt den Schwerpunkt meiner Rede legen, zumal der Kollege
auch europaweit durchsetzen will. Herr Kollege Brinkhaus, bei dem ich mich für die gute und jederzeit
Brinkhaus, ich habe mit großem Erstaunen zur Kenntnis angenehme Zusammenarbeit an dieser Stelle ausdrück-
genommen, dass Sie für die CDU/CSU-Fraktion erklärt lich bedanken möchte, auf alles Weitere eingegangen ist.
haben, dass dies auch deutschlandweit, also national, Es würde nichts bringen, wenn ich das wiederholen
eingeführt wird. Ich betone das extra für das Protokoll. würde. Deswegen werde ich mich auf die Kreditverbrie-
Sie haben es jedenfalls hier so gesagt. fungen konzentrieren und die Frage stellen, was zu tun
ist.
In der Anhörung ist deutlich geworden, dass es ein
Dazu möchte ich Ihnen drei Punkte nennen:
ganz wichtiges Signal wäre, wenn der Deutsche Bundes-
tag eine solche Forderung parteiübergreifend unterstüt- Erstens. Man muss einen Selbstbehalt einführen. Ein
(B) zen würde. gewisser Teil des Risikos muss beim Originator verblei- (D)
ben. Das ist in der Richtlinie mit der 5-Prozent-Regel ge-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie löst. Zusätzlich muss es Transparenz geben. Der Investor
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE muss sich einen Überblick über das verschaffen, was in
GRÜNEN) den Verbriefungen enthalten ist. Bei der Kfz-Versiche-
Deshalb haben alle Oppositionsfraktionen jeweils einen rung hieße das: Sie müssen das Alter der Fahrer ange-
fast wortgleichen Antrag eingebracht, in dem sie die ben, Sie müssen angeben, ob sie eine Garage haben oder
Aussage des Bundesfinanzministers bekräftigen und un- nicht, und auch die Kilometerleistung pro Jahr spielt
terstützen. Nur die Koalitionsfraktionen haben keinen eine Rolle.
Antrag eingebracht. Zweitens. Der Selbstbehalt – das ist der Kernpunkt –
muss hinreichend hoch sein. Dazu haben wir in der An-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Nicolette hörung einiges gehört. In einem Punkt waren sich ei-
Kressl [SPD]: Komisch!) gentlich alle einig, nämlich darin, dass 5 Prozent sicher-
Was bedeutet das politisch? Der Minister steht im Re- lich nicht der optimale Wert sind, den man allerdings
gen. Es gibt keine Einigkeit zwischen den Regierungs- – auch das wurde gesagt – nicht empirisch bestimmen
fraktionen. Das ist leider die Realität der Politik dieser kann. Das ist im Übrigen auch die Position des Banken-
Bundesregierung: Streit und Konflikt, wohin man verbandes und des Bundesverbandes Öffentlicher Ban-
schaut. Vielleicht wird das Wort „Neustart“ zum Unwort ken Deutschlands, niedergelegt in dem Schreiben, das
des Jahres. wir alle kürzlich erhalten haben. Also kann man davon
ausgehen – wir als Freie Demokratische Partei gehen da-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte überlegen Sie, von aus –, dass 10 Prozent der nachhaltigere Wert im
ob Sie den Anträgen der Opposition zustimmen können. Sinne einer effektiven Regulierung sind.
Es wäre ein wichtiges Signal, ein Signal der Unterstüt- (Beifall bei der FDP)
zung des Finanzministers und ein richtiges Signal in
Richtung Finanzmärkte, dass wir die Daumenschrauben Für die Kfz-Versicherung hieße das: Je höher der Selbst-
nicht nur vorzeigen, sondern sie ihnen auch anlegen wol- behalt, desto niedriger die Prämie. Das ist eine schöne
len. Analogie.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Manfred Zöllmer [SPD]: Wenn das nicht ge-
lingt, haben wir die nächste Krise!)
Herr Kollege, Herr Schick würde gerne eine Frage an
Sie loswerden. Ist das möglich? Ich kann nur wiederholen, was der Kollege Brinkhaus
gesagt hat: Wenn ein anderer Wert als 10 Prozent heraus-
Björn Sänger (FDP): kommt, dann sind wir die Letzten, die einer Änderung
Die kann er gerne loswerden. Ich gehe davon aus, entgegenstehen. (D)
(B)
dass es kein Mist ist. Insgesamt ist es ein logischer Ansatz, der das Gesetz
abrundet und zu einem echten Regulierungsgewinn
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: führt. Dies ist nicht nur eine Benchmark für Europa. Die-
Eben. ser Gesetzentwurf ist zielführend für die gesamte Welt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der CDU/CSU)
Danke. – Sie haben viel zum Selbstbehalt gesagt. Mich
würde in Bezug auf die Anträge der Oppositionsfraktio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nen interessieren, ob die FDP-Fraktion die Initiative des
Der Kollege Axel Troost spricht jetzt für die Fraktion
Bundesfinanzministers auf europäischer Ebene zur Ein-
Die Linke.
führung einer Finanztransaktionsteuer unterstützt.
(Beifall bei der LINKEN)
Björn Sänger (FDP):
Lieber Kollege Schick, wenn Sie meine letzte Rede zur Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Finanztransaktionsteuer aufmerksam verfolgt haben, dann Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
wissen Sie sicherlich, dass ich dort bestimmte Punkte ge- Alles in allem stehen wir hier vor einem recht mutlosen
nannt habe, die als Parameter gelten müssen. Wir stehen Gesetzentwurf. Das liegt in ganz erheblichem Maße da-
einer Finanztransaktionsteuer nicht grundsätzlich ableh- ran, dass eine relativ mutlose EU-Vorgabe national um-
nend gegenüber und unterstützen die internationalen Be- gesetzt werden muss. Nach wie vor stellt sich aber die
mühungen der Bundesregierung, in dieser Hinsicht zu ei- Frage, welche Rolle die Bundesregierung bei der Ent-
ner Lösung zu kommen. Der Finanzminister wird auch wicklung solcher EU-Vorgaben spielt.
von der FDP mitgetragen.
Ich will nicht verschweigen, dass wir uns durchaus
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Stehen Sie hinter freuen, dass zumindest die Einwände der Opposition und
dem Finanzminister oder daneben?) der Sachverständigen dazu geführt haben, dass es jetzt
– Davor, dahinter und daneben. über die 5 Prozent hinaus zu einem größeren Selbstbe-
halt kommt. Dennoch sind wir der Ansicht, dass ein
(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dann können Sie Selbstbehalt von 10 Prozent viel zu niedrig ist. Das EU-
ja zustimmen!) Parlament war sich relativ lange fraktionsübergreifend
5702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
– Dann haben Sie es wenigstens jetzt mitbekommen. Ich will einen zweiten Punkt nennen, den Pfandbrief.
Wir haben an die Gesetzentwürfe zur Umsetzung des
Wir befürchten ein relativ abgekartetes Spiel. Zumin- EU-Rechts noch eine Mini-Pfandbriefrechtsnovelle ge-
dest im Sommer könnte es so sein, dass Herr Brinkhaus hängt. Wenn man weiß, welche Bedeutung der Pfand-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5703
Dr. Gerhard Schick
(A) brief in der Diskussion um die Bankenrettung hatte – das Leo Dautzenberg (CDU/CSU): (C)
war ein zentrales Argument dafür, dass man mit vielen Vielen Dank. – Herr Kollege Schick, würden Sie zu-
Milliarden an Steuerzahlergeld bei der HRE eingestie- gestehen, dass bei der Systemik einer Bank nicht nur die
gen ist –, dann kann man bei dem, was die jetzige Regie- Größe und das Volumen entscheidend sind, sondern
rung in Sachen Pfandbrief tut, auf jeden Fall nicht stehen mehr noch ihre Vernetztheit?
bleiben. Das sind nämlich nur Kleinigkeiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Dautzenberg, das kann ich sehr gerne zugeste-
Wir haben einen Vorschlag gemacht, der weiter geht, hen. Ich habe meine Rede nämlich genau mit diesem
und wir werden weitere Vorschläge vorlegen. Ich halte Problem der Vernetztheit begonnen.
das, was vonseiten der Koalition dazu vorgesehen ist, für
völlig unzureichend. Wir haben gesagt: Die Investoren (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, Sie ha-
brauchen mehr Transparenz, damit eine Unsicherheit: ben auf die Größe abgestellt!)
„Was steckt eigentlich dahinter? Ist das überhaupt noch
sicher?“, erst gar nicht entstehen kann. Sie haben das ab- Deswegen haben wir die Änderung zur Großkreditrege-
gelehnt. Dabei hätte man es in dieser Novelle direkt re- lung beantragt. Dabei geht es genau um die Vernetzung.
geln können. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eine Bank darf nicht zu viel Geld bei einer anderen Bank
Lassen Sie mich noch kurz auf unseren gemeinsamen im Feuer haben. Wir spielen die Fragen „Zu vernetzt?“
Antrag eingehen. Ich bin froh darüber, dass es uns gelun- und „Zu groß?“ aber nicht gegeneinander aus, sondern
gen ist, die Position, die Bundesbank, BaFin und Finanz- wir versuchen, für beide Probleme Lösungen vorzu-
ministerium in den Baseler Verhandlungen bisher hatten, schlagen.
in ein paar Punkten zu korrigieren. Ich will einen Punkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
herausgreifen, weil er mir sehr wichtig ist, und das ist sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul
die Größenbremse für Banken. Wenn man das Wort „too [SPD])
big to fail“ – manche Banken sind so groß, dass es ganze
Volkswirtschaften ruinieren kann, wenn sie kippen – Deswegen Regelungen zu den Großkrediten und deswe-
ernst nimmt, dann muss man fragen: Was tut man eigent- gen steigende Eigenkapitalunterlegung bei großen Ban-
lich dagegen? Mit all den Maßnahmen, Herr Brinkhaus, ken. Die Banken sollen eben nicht so groß werden; denn
die Sie genannt haben, ist dieses Problem von der Regie- wir wissen gerade aus der Diskussion, die wir als Fi-
(B) rungskoalition bisher nicht beantwortet worden. nanzausschuss in der Schweiz geführt haben, dass es für (D)
ein Land gefährlich sein kann, wenn eine sehr große
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber von Ih- Bank kippt.
nen?!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Das gilt auch für das, was Sie noch in der Verhandlung Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wenn sie ver-
haben. netzt ist!)
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen – Beide Probleme sind wichtig, Herr Dautzenberg, nicht
Sie, was Sie machen! – Ralph Brinkhaus nur das eine und nicht nur das andere.
[CDU/CSU]: Was ist Ihre Antwort?)
Der zentrale Punkt ist – da haben Sie mich gerade mit
Deswegen ist der Punkt, den wir in den gemeinsamen der Frage unterbrochen; das will ich noch kurz sagen –:
Antrag eingebracht haben, so wichtig. Wir brauchen eine Wir brauchen eine Schuldenbremse für Banken. Es ist zu
Größenbremse: steigende Eigenkapitalunterlegung bei gefährlich, wenn Banken auf jeden Euro Eigenkapital
wachsendem Bilanzvolumen und größere Liquiditätsan- 49 Euro Schulden auftürmen, wie das einzelne Banken
forderungen, je größer das Institut ist; denn große Institute in Deutschland tun. Das ist zu riskant. Je mehr Schulden
sind gefährlicher als kleine Institute. Deswegen brauchen bezogen auf eine Einheit Eigenkapital gemacht werden,
große Institute schärfere Eigenkapitalregeln als kleine In- desto größer ist potenziell die Rendite, aber desto größer
stitute. – Sie haben das mit unterstützt. Sie können des- ist auch das Risiko für den Steuerzahler. Bei dieser Frage
wegen jetzt mitklatschen. entscheidet sich, ob man für Gewinne der Banken oder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Sicherheit der Gelder der Steuerzahler ist. Des-
wegen fordere ich Sie auf, das Thema „Schuldenbremse
Mein allerletzter Punkt betrifft etwas, was ich für für Banken“ endlich auf die Agenda zu nehmen.
prioritär halte.
Danke schön.
(Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU] meldet
sich zu einer Zwischenfrage) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer
– Ich will die Zwischenfrage gern zulassen. finanziert die Realwirtschaft?)
Niema Movassat
(A) chen. Aber ziehen Sie daraus doch bitte den richtigen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C)
Schluss. Auch das TRIPS-Abkommen, auf das Sie sich
positiv beziehen, gefährdet Menschenleben. Unser Ziel ist es, die Gesundheit der Weltbevölkerung,
insbesondere der benachteiligten Regionen unserer Welt,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) deutlich zu verbessern.
Wir brauchen hier eine grundlegende Revision, die den Allein das Problem der schlechten Gesundheitsver-
Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten gewähr- sorgung von Frauen in der Dritten Welt trifft uns und ruft
leistet. Die Gesundheit und das Überleben der Menschen uns zum Handeln auf. Die hohe Mütter- und Kinder-
in den Entwicklungsländern müssen Vorrang vor den In- sterblichkeit macht uns ganz besonders betroffen. Es ist
teressen von Konzernen haben. aber schon ein unglaublicher Erfolg, dass beim letzten
G-8-Gipfel das Erreichen der Millenniumsziele im Mit-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ telpunkt stand.
DIE GRÜNEN)
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, ohne Kon-
Insofern muss die EU – das wäre ein kleiner Schritt in sequenzen!)
die richtige Richtung – beim Freihandelsabkommen mit
Indien auf die Verlängerung von Patentlaufzeiten ver- – Nun warten Sie doch ab! Ich fange erst an; ich bin erst
zichten. Das würde Hunderttausende Menschenleben beim ersten Absatz.
retten. Insgesamt müssen sich die Bundesregierung und
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
die EU für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung einset-
zen. Denn nur dann können Entwicklungsländer funktio- Maßgeblich ist das übrigens der Bundeskanzlerin
nierende Gesundheitssysteme aufbauen. Angela Merkel zu verdanken. Sie hat dafür gesorgt, dass
die Mütter- und Kindergesundheit in den Entwicklungs-
(Beifall bei der LINKEN)
ländern das zentrale Thema auf diesem Gipfel war.
Nur 0,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens wä-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ren nötig, um die deutsche Zusage zur Erreichung der
Millenniumsziele im Gesundheitsbereich zu erfüllen. Die Weltgesundheitsversammlung hat bei ihrem letz-
Wir sind heute bei gerade einmal 0,03 Prozent. Frau ten Treffen im Mai eine Resolution zur Verfügbarkeit,
Weiss, eine aktuelle Umfrage zeigt, dass die deutsche Sicherheit und Qualität von Blutprodukten verabschie-
Bevölkerung durchaus bereit ist, mehr Geld in die Ent- det. Wenn man bedenkt, dass nur 56 Prozent der Testun-
wicklungshilfe zu stecken. gen von circa 81 Millionen Blutspenden in 178 Ländern
pro Jahr auf Krankheitserreger wie HIV oder Hepatitis-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
(B) viren internationalen Standards entsprechen, dann er- (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
kennt man, dass diese Resolution ein wichtiger Schritt
ten der SPD – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/
im Hinblick auf die Verbesserung dieser schlechten Lage
CSU]: Schön wäre es!)
ist. Die Zahl der Blutspenden, die gar nicht oder nicht
Der politische Wille dazu ist nötig; denn es ist finan- ausreichend getestet werden – weltweit jährlich 28 Mil-
zierbar. Wir, die Linke, haben hier die Einführung einer lionen –, muss drastisch gesenkt werden. Das gilt gerade
Finanztransaktionsteuer und den Stopp von Rüstungs- auch im Hinblick auf die hohe Sterberate von Frauen in
projekten als Finanzierungsmöglichkeit vorgeschlagen. den Entwicklungsländern: Sie ist oft auf einen Mangel
Dafür wäre es jedoch notwendig, dass Sie sich endlich an sicheren Blutkonserven zurückzuführen; durch eine
davon verabschieden, die Interessen der deutschen Wirt- bessere Testung kann sie eingedämmt werden.
schaft, etwa der Pharmaindustrie, der Banken und der Die WHA hat sich im Mai auch auf anderen Feldern
Rüstungsindustrie, über die Interessen der Menschen in mit den Millenniumszielen der Mütter- und Kinderge-
den Ländern des Südens zu stellen. sundheit intensiv beschäftigt. Wie Sie richtig festgestellt
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) haben, konnten wir bis heute trotz aller sonstigen Er-
folge gerade bei diesen wichtigen Zielen keine akzepta-
Leider sind Sie dazu offensichtlich nicht bereit. blen Ergebnisse erreichen: Noch immer erleben 9 Mil-
(Beifall bei der LINKEN) lionen Kinder pro Jahr nicht ihren fünften Geburtstag;
noch immer sterben eine halbe Million Mädchen und
Frauen an Komplikationen während der Schwanger-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schaft oder Entbindung.
Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Dr. Christiane Ratjen-Damerau. Richtig ist aber, dass die Stärkung der Gesundheits-
systeme vorangetrieben werden muss. Dies betrifft ins-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) besondere die Forschung zur Medikamentenversorgung
bei vernachlässigten Krankheiten und ihre Umsetzung.
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Mit einem systemischen Ansatz könnte hier vieles besser
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- erreicht werden.
gen! Sehr verehrte Damen und Herren! Deutschland er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
füllt als drittgrößter Geldgeber selbstverständlich seine
Pflicht im Sinne der weltweiten Solidarität und Gerech- Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, es ist
tigkeit. allerdings interessant, wie schnell Sie Ihre Betrachtungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5709
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
(A) weise geändert haben. Es war doch Ihre Ministerin, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
die Aufteilung bilateral zu multilateral im Verhältnis von Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Doch! Transak-
einem Drittel zu zwei Dritteln für unantastbar erklärt hat. tionsteuer! Wir haben die Instrumente doch
genannt!)
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ Zu Ihren Forderungen nach dem TRIPS-Abkommen
DIE GRÜNEN]: Das ist doch der größte möchte ich nur sagen, dass Sie sich nicht immer einseitig
Quatsch! – Ulrich Kelber [SPD]: Das hat Ih- zum Sprachrohr der NGOs machen lassen sollten.
nen aber jemand falsch aufgeschrieben!)
(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Ja, wahrscheinlich. Soll ich den Satz noch einmal vor- NEN]: Oh! Oh!)
lesen? – Es war doch Ihre Ministerin, die die Aufteilung
Beurteilen Sie die Diskussion einmal verantwortlich und
multilateral zu bilateral im Verhältnis von zwei Dritteln
vor allem gesamtpolitisch.
zu einem Drittel für unantastbar erklärt hat.
(Niema Movassat [DIE LINKE]: Aber man
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute sollte sich auch nicht zum Sprachrohr der
Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Pharmaindustrie machen lassen!)
waren die Haushälter aller Fraktionen, das Par-
lament! Meine Güte!) – Dazu komme ich jetzt; Moment. – Denn, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, eines möchte ich an dieser Stelle
– So, ich habe es noch einmal vorgelesen. deutlich sagen: Allein der Verzicht auf Patente bringt
kein Heil über diese Welt. Ein Unternehmen, das aus sei-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen Aufwendungen für die Forschung keinen Gewinn
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des mehr erzielt, kann auch nichts mehr entwickeln.
Kollegen Raabe?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja! Aber da ist
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): die Pharmaindustrie schon weiter! Die machen
Nein. Produktentwicklungsgesellschaften!)
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unternehmen sind nicht unsere Feinde, sondern sie
DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] helfen auch aus eigenem Antrieb, Innovationen und
[CDU/CSU]: Da brauchen Sie gar nicht zu la- Wohlstand zu schaffen.
chen! Das sind doch Fakten! – Zuruf von der
SPD: Es steht wohl nicht auf dem Zettel, was (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Na ja!)
(B) (D)
dann zu antworten ist!) Es muss ein Ausgleich geschaffen werden. Natürlich
Schön ist aber, dass wir jetzt einer Meinung sind. In sind wir uns völlig einig, dass insbesondere die armen
unserem Koalitionsvertrag steht: Wir wollen eine Vertei- Länder einen möglichst umfassenden Zugang zu Medi-
lung der bilateralen sowie der europäischen und multila- kamenten bekommen müssen. Aber auch hier unter-
teralen Leistungen Deutschlands im Verhältnis von zwei scheiden wir uns in dem Wie. Ich denke, es ist an der
Dritteln zu einem Drittel erreichen, um die Gestaltungs- Zeit, dass die Entwicklungszusammenarbeit ganzheitlich
möglichkeiten der deutschen Entwicklungspolitik zu er- und vor allem rationaler angegangen wird.
weitern und den Wirkungsgrad der eingesetzten Haus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
haltsmittel zu erhöhen. Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aha! Wieso
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das denn? Die Pharmaindustrie arbeitet doch
schon international!)
Die Bundesregierung steht zu diesen multilateralen
Verpflichtungen. Damit nachhaltige Erfolge erzielt werden können, müs-
sen gesundheitspolitische und handelspolitische Ziele in ei-
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Aha! Haben ner Balance zueinander stehen. Ein gutes Modell wäre der
Sie die Mittel deswegen um 4 Millionen Euro Verzicht auf Patentrechte innerhalb des WHO-Netzwer-
gekürzt?) kes, also bei staatlichen Laboratorien. Ich denke, dass wir
Die Arbeit des Global Fund, der Globalen Allianz für uns darauf einigen könnten.
Impfstoffe und Immunisierung und der anderen Organi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sationen wird hoch geschätzt und nicht infrage gestellt.
Nun noch ein abschließendes Wort zu dem Antrag der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bei allem Dank für
das Lob, das Sie der Arbeit der Bundesregierung in die-
Die Erhöhung der Mittel im Haushalt 2010 um 4 Millio-
sem Antrag zollen, hat der AwZ zu Recht mit den Stim-
nen Euro hat das gezeigt.
men der Koalitionsfraktionen die Ablehnung dieses An-
Aber es ist angesichts unserer Haushaltslage doch trages beschlossen.
mehr als unseriös, geradezu unverantwortlich, eine Ver-
(Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP])
dopplung des Global-Fund-Anteils in diesem Einzelplan
zu fordern, ohne dass Sie auch nur ansatzweise sagen, Meine Kollegin Helga Daub hat bei der ersten Lesung
woher das Geld kommen soll. dieses Antrages bereits auf die maßgeblichen Unter-
5710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Jürgen Klimke
(A) nicht aus. Anstrengungen in der medizinischen Versor- beitsleben gehalten werden können. Jugendliche müssen (C)
gung, zum Aufbau einer Gesundheitsstruktur für ein le- in der Breite eine qualifizierte Ausbildung erhalten.
benslanges Einnehmen der Medikamente sowie Präven-
tion sind nur Teilaspekte einer nachhaltigen Strategie Wir müssen versuchen, die Waisen anzusprechen,
gegen diese Krankheit. sonst zerstören Kriminalität und andere Strukturen ihre
Zukunft. Die Budgethilfe ist oftmals nicht zielgerichtet
HIV/Aids ist derzeit schon – das ist besonders wichtig – genug. Wir müssen Korbfinanzierung im Gesundheits-
eine Querschnittsaufgabe im Rahmen der bilateralen EZ. system anbieten. Vor allem müssen wir sicherstellen,
Für diesen Ansatz müssen wir auch verstärkt auf den dass die Sicherheit und Stabilität ganzer Regionen durch
multilateralen Ebenen werben. die hohe Infektionsrate in den afrikanischen Armeen
nicht gefährdet werden. Denn in diesem Bereich gibt es
Ich kann das BMZ nur unterstützen, wenn es mit sei- eindeutig hohe Zuwachsraten. Die Folgekosten von
ner Strategie ganz im Gegensatz zum Global Fund wirt- Kriegen und der direkten Ausbreitung der Krankheit
schaftliche, soziale und sicherheitspolitische Auswir- werden sonst unabsehbar sein.
kungen von HIV/Aids in seine programmatische Arbeit
mit einbezieht. Der tragische Zyklus beim Thema HIV/Aids-Be-
kämpfung scheint sich weiter fortzusetzen. Deswegen ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es wichtig, weltweit über neue Strategien nachzudenken
Deutschland handelt dabei fortschrittlich, und ich bitte und sie in die Tat umzusetzen. Die deutsche Strategie hat
dringend darum, bei der Vergabe der Mittel und bei der den Anspruch, HIV/Aids als Querschnittsaufgabe zu de-
Zweckbindung die sektorenübergreifenden Projekte der finieren. Die sektorübergreifenden Konzepte sind Lö-
GTZ stärker zu unterstützen. Immer neues Geld für den sungsansätze, die weltweit eingesetzt werden sollten.
Global Fund ist möglicherweise nicht im gleichen Maße Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
effektiv.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Ulrich Kelber [SPD]: Oh!)
Fakt ist: Sollte die internationale Gemeinschaft die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
derzeit meist multilaterale HIV/Aids-Politik weiterver- Ich schließe die Aussprache.
folgen, dann sind die bisherigen kleineren Erfolge im
Kampf gegen Aids schnell obsolet. Dies ist nicht im Beim Tagesordnungspunkt 13 a wird interfraktionell
Sinne einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik. Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2135 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
(B) Meine Damen und Herren, im Süden Afrikas ist in- schlagen. – Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. (D)
zwischen mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölke- Dann ist die Überweisung so beschlossen.
rung infiziert. In Simbabwe und Botsuana sind es derzeit
Tagesordnungspunkt 13 b. Abstimmung über die Be-
knapp 40 Prozent – fast jeder Zweite. In einem solchen
schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche
Umfeld ist die gesamte Entwicklungsstrategie ohne di-
Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der
rekten Bezug auf HIV/Aids nicht mehr erfolgreich. Wir
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
benötigen vor allen Dingen übergreifende Antworten,
Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorga-
und ich kann noch einmal sagen: Wir halten diese Ant-
nisation neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
worten im Rahmen der deutschen bilateralen EZ vor.
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2465,
Es ist kein Geheimnis, dass die Epidemie in Afrika den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
besonders drastische Auswirkungen hat. Nur wenige Drucksache 17/1581 abzulehnen. Wer stimmt für diese
wissen jedoch, dass sich in Zukunft Ähnliches auch in Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
anderen Regionen dieser Welt abspielen könnte. Aids ist gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
nicht nur ein afrikanisches Problem; das stellen wir im- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
mer mehr fest. Es ist ein Problem ganzer Gesellschaften – stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
ob in Osteuropa, im Iran oder auch in vielen asiatischen Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Frak-
Staaten. In Asien sind bereits 5 Millionen Menschen in- tion.
fiziert. Länder wie Kambodscha, Myanmar oder Laos
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
haben weltweit die größten Zuwachsraten, vor allem
auch in der heterosexuellen Bevölkerung. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
Meine Damen und Herren, schlimmer noch: Schon und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un-
jetzt gibt es in Ländern wie China oder Indien Infektions- terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
raten wie in Afrika vor 20 Jahren. Und dort sind aktuell für nachhaltige Entwicklung
fast 20 Prozent der Bevölkerung infiziert.
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
Was müssen wir tun? Wir müssen erstens Programme nachhaltige Entwicklung
dazu entwickeln, wie wir den Verlust des Humankapitals (Berichtszeitraum 6. April 2006 bis 25. März
umgehen können. Wir müssen Strategien entwickeln, da- 2009)
mit Schulen und Universitäten auf die Situation reagie-
ren können und insbesondere ältere Menschen im Ar- – Drucksachen 16/12560, 17/790 Nr. 35, 17/1807 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5713
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Berichterstattung: Das alles ist wichtig und richtig. Ich glaube, wir ha- (C)
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart ben in der letzten Legislaturperiode bewiesen, dass wir
Dr. Matthias Miersch das alles gut gemacht haben, um der Nachhaltigkeit ei-
Michael Kauch nen neuen Impuls zu geben. Trotzdem möchte ich zwei
Ralph Lenkert Punkte ansprechen, mit denen wir uns in der aktuellen
Dorothea Steiner Legislaturperiode befassen sollten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Der erste Punkt ist die Federführung bei der Nachhal-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre tigkeitsstrategie. Die Arbeit des Parlamentarischen Bei-
und sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so rats für nachhaltige Entwicklung hat auch gewisse
verfahren. Schwächen der Konstruktion aufgezeigt. Problematisch
bei der Arbeit des Parlamentarischen Beirats waren die
Ich eröffne die Aussprache und darf nun um Auf- fehlende formale Beteiligung am Gesetzgebungsverfah-
merksamkeit für den ersten Redner in dieser Debatte bit- ren und die fehlende Möglichkeit des Beirats, eigenstän-
ten, den Kollegen Marcus Weinberg für die CDU/CSU- dig Initiativen einzubringen. Jeder Parlamentarier ist
Fraktion. aufgerufen, sich aktiv zu beteiligen – das machen wir
auch in den Fachausschüssen –, allerdings konnten wir
(Beifall bei der CDU/CSU) als Beirat keine parlamentarischen Initiativen einbrin-
gen. Ich glaube, dieser Punkt ist zu diskutieren.
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
Gutachterliche Stellungnahmen sind wichtig und rich-
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Der Bericht ist gut – tig, aber wie man weiß, erntet man mit zu vielen Stel-
also können auch diejenigen, die jetzt eigentlich gehen lungnahmen hier und da möglicherweise die Kritik der
wollen, noch bleiben. Denn ich glaube, einem guten Be- Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die Mechanismen
richt folgt auch gute Arbeit. der Empfehlungen auch sehr dosiert genutzt, finde ich.
Trotzdem bleibt die Frage, wie federführend Beteiligung
(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND-
möglich ist.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der CDU/CSU)
Nun weiß ich zwar nicht, ob die fußballgetrübten Au-
gen jetzt erhellt werden, aber Nachhaltigkeit ist ja län- Dass das ureigenste Thema der Nachhaltigkeit, näm-
gerfristig angelegt und nicht kurzfristig. Insofern will ich lich die nationale Nachhaltigkeitsstrategie, nicht feder-
bei dem Bericht Dinge – nicht ganz auf der inhaltlichen führend in unserer Zuständigkeit liegt, ist sicherlich
nicht unproblematisch. Ich muss allerdings in diesem
(B) Ebene – herausstellen, die, glaube ich, wichtig sind. (D)
Denn ich glaube, wir haben vieles gemacht, was wichtig Zusammenhang feststellen, dass die Federführung für
und richtig war – Stichworte dazu: demografischer Wan- nachhaltigkeitsrelevante Themen beim Umweltaus-
del, Indikatoren für Nachhaltigkeit, Stellungnahme zum schuss liegt. Herzlichen Dank an die Kolleginnen und
Fortschrittsbericht, Generationengerechtigkeit. Auch die Kollegen, insbesondere aus dem Umweltausschuss, die
Diskussion über die Nachhaltigkeitsprüfung in der Ge- uns gut unterstützt haben. Für diese Kooperation können
setzesfolgenabschätzung und die Planung einer nachhal- wir uns nur bedanken. Trotzdem bleibt der Wunsch, dass
tigen Infrastruktur betraf wichtige und richtige Themen, auch wir eines Tages die Federführung für diesen Be-
deren inhaltliche Breite jetzt nicht darstellbar ist. reich bekommen werden.
Der Bericht macht noch einmal deutlich, dass wir Das haben wir auch in unserer Stellungnahme zum
beim Thema Nachhaltigkeit die Bretter deutlich schnel- Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeits-
ler und besser gebohrt haben als in den Jahren davor. strategie deutlich gemacht. Darin haben wir den Wunsch
Aber ich glaube, wir müssen jetzt auch mit Blick auf die geäußert, dass, da die Nachhaltigkeit eine übergeordnete
aktuelle Legislaturperiode diskutieren, ob wir beim Boh- Bedeutung hat und eine wichtige Querschnittsaufgabe
ren auch die richtigen Mechanismen benutzt haben oder darstellt, die Zuständigkeit vielleicht am besten dem
ob wir den Bohrer hier und da verändern sollten. Bundeskanzleramt zu übertragen wäre. Wie wir in der
letzten Beiratssitzung gehört haben, gibt es Länder, in
Zurück zum Einsetzungsbeschluss, der deutlich denen die Präsidenten das Thema an sich gezogen ha-
macht, was vom Beirat erwartet wird. Zu seinen Aufga- ben.
ben gehört die Begleitung der nationalen Nachhaltig-
Wie es funktionieren kann, wird man in Zukunft se-
keitsstrategie. Des Weiteren kann sich der Parlamentari-
hen müssen. Ich glaube aber, dass es ein wichtiger Im-
sche Beirat Schwerpunkte setzen und Berichte und
puls wäre, wenn solche Themen, die Querschnittsaufga-
Empfehlungen vorlegen. Auf der Ebene der Bundesre-
ben darstellen und auch in der politischen Betrachtung
gierung geschaffene Institutionen werden parlamenta-
eine neue Dimension bedeuten, an einer entsprechenden
risch begleitet. Es können Empfehlungen zu mittel- und
Stelle angesiedelt sind.
langfristigen Planungen abgegeben werden. Weitere
Aufgaben sind die Kontaktpflege und Beratungen mit Das können wir zwar alles von der Bundesregierung
anderen Parlamenten, die parlamentarische Begleitung fordern, aber die Frage ist, wie wir im parlamentarischen
der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie und die Unter- Bereich die Bedeutung der Nachhaltigkeit verstärken
stützung der gesellschaftlichen Diskussion in diesem Be- können. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit wünschen
reich. wir uns, dass wir nicht hinter der Entwicklung in ande-
5714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Michael Kauch
(A) Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Genera- bisher zu kurz gekommen ist und mehr Bedeutung erlan- (C)
tionengerechtigkeit; das ist unser Anliegen. Die Finanz- gen muss, war wichtig und gut.
krise hat deutlich gemacht, dass wir über unsere Verhält-
nisse gelebt haben. Die Rechnung – sie ist das Ergebnis Infrastrukturentscheidungen benötigen Jahre und wir-
der Rettungspakete, die geschnürt wurden – wird den ken Jahrzehnte. Straßenbauprojekte, Stromnetze, Schul-
kommenden Generationen präsentiert werden. Diese Ge- gebäude, Altersheime usw. können optimal, zu knapp
nerationen werden die angehäuften Schulden abtragen oder zu groß geplant werden. Krasse Negativbeispiele
müssen. Wir haben unsere Sozialsysteme nicht ausrei- für falsche Annahmen finden sich beispielhaft bei der
chend an den demografischen Wandel angepasst. Wir völlig überdimensionierten Kläranlagenplanung in Ost-
schaffen eine Infrastruktur, die an die Perspektive einer deutschland in der Mitte der 90er-Jahre.
schrumpfenden und alternden Bevölkerung oft nicht an- (Beifall bei der LINKEN)
gepasst ist. Aber das haben wir erkannt und versuchen
jetzt als Demokraten, Veränderungen vorzunehmen. Allerdings fand bei diesen eben keine Nachhaltig-
keitsbetrachtung statt, sondern man verließ sich auf alte
(Beifall des Abg. Michael Link [Heilbronn] Statistiken, Erfahrungswerte und Berater wie einen quir-
[FDP]) ligen Professor, der mehr seinen Gewinn im Auge hatte
An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen: Es als eine optimale nachhaltige Projektabrechnung.
gibt abschreckendere Beispiele in der deutschen Ge- (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)
schichte dafür, wie nachhaltige Politik nicht aussehen
sollte. Wir sind im 20. Jahr der deutschen Einheit. Nach Ausbaden müssen diese Fehler jetzt Bürgerinnen und
der Sommerpause werden die Einheitsfeierlichkeiten Bürger sowie Unternehmen in Form von hohen Abwas-
stattfinden. Man muss einmal zurückschauen: Was war sergebühren und Kommunen in Form von dauerhaften
denn in der DDR? Was war denn unter der SED-Dikta- Lasten in ihren Haushalten.
tur? Da gab es nicht nur Menschenrechtsverletzungen.
Damals wurde auch die unnachhaltigste Politik betrie- In Kahla, ein Ort mit 8 000 Einwohnern, liegen die
ben, die ein deutscher Staat je erlebt hat. In die Gebäude Abwasserbeiträge bei über 15 Euro je Kubikmeter –
wurde nicht investiert; sie wurden heruntergewirtschaf- dank der Beratung dieses Professors, der übrigens einen
tet. Vor 20 Jahren war man auch finanziell am Ende. Es Honorarvertrag mit der beauftragten Baufirma hatte. Der
gibt keine andere Region in Deutschland, die 1990 öko- Freistaat Thüringen sprang subventionierend ein. Trotz-
logisch so heruntergewirtschaftet war wie die Gebiete, dem musste die Stadt wegen der Kläranlagenschulden
über die die SED geherrscht hat. jahrelang unter Zwangsverwaltung leben.
(B) Zu Recht bemängelte der Parlamentarische Beirat in (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der letzten Wahlperiode, dass gerade im Infrastrukturbe-
der CDU/CSU)
reich im Bund, in den Ländern und in den Kommunen
Ich freue mich schon auf den Beitrag der Linken. der Nachhaltigkeitsgedanke fehlt. Jeder von uns weiß:
Wahrscheinlich wird man wieder erklären, dass Genera- Politische Mehrheiten ändern sich während der Lebens-
tionengerechtigkeit nicht so wichtig ist wie die Gerech- dauer von Infrastruktureinrichtungen öfter. Deshalb be-
tigkeit zwischen Arm und Reich. Gerechtigkeit zwi- grüßt die Linke, dass der Beirat sich bemüht, seine Be-
schen den Generationen ist eine Grundvoraussetzung für wertungen im Konsens der Fraktionen zu treffen. Sicher
soziale Gerechtigkeit. Wer die Gerechtigkeit zwischen haben wir teilweise unterschiedliche Vorstellungen, aber
den Generationen mit Füßen tritt, der wird keine soziale wenn wir im Beirat im Konsens bewerten, besteht die
Gerechtigkeit erreichen können. Chance, dass entsprechende Entscheidungen auch lange
gelten.
Vielen Dank, meine Damen und Herren!
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Ulrich Kelber [SPD]: Das klingt ja so, als Eine Schienennetzplanung, die von Schwarz-Gelb
wenn Sie sie gegeneinander ausspielen!) 2011 erfolgt, könnte dann 2015 zum Beispiel von Rot-
Grün ergänzt statt rückgängig gemacht werden, und die
Linke könnte 2018 in Regierungsverantwortung auf den
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
vorherigen Konzepten aufbauen.
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol-
lege Ralph Lenkert. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Gelingt es dem Beirat für Nachhaltigkeit, mit seiner Ar-
beit eine solche Politik zu erreichen, dann ist er unglaub-
lich wertvoll. Sollte dann 2030 die Union die Opposition
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
vielleicht mal wieder verlassen können, wird sie es
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! schätzen, dass der Beirat auch unter linker Kontrolle im
Demografische Entwicklung und nachhaltige Infrastruk- Konsens wirkte.
turpolitik waren im Bericht des Parlamentarischen Bei-
rats für nachhaltige Entwicklung in der 16. Wahlperiode Leider können wir Linken heute nur das Bemühen des
ein wichtiges Thema. Die Feststellung, dass die Betrach- Parlamentarischen Beirats zur fraktionsübergreifenden
tung der Nachhaltigkeit bei der Infrastrukturentwicklung Arbeit feststellen. Die Weigerung der Unionsfraktion,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5717
Ralph Lenkert
(A) gemeinsam mit der Linken Anträge zu stellen, selbst Schauen wir mal, ob wir das in dieser Wahlperiode hin- (C)
dann, wenn man gleicher Meinung ist, ist dumm. bekommen! Wenn uns das gelingt, hätten wir ein weite-
res dickes Brett sauber gebohrt.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
SPD: Ungeheuerlich!) Vor einer Woche haben wir hier schon über das
Thema „Peer Review“ diskutiert, also darüber, wie die
Das ist ein Zeichen von Demokratieunfähigkeit und ver-
externen Fachleute aus dem Ausland auf uns schauen.
achtet die freie politische Meinung jeder achten Wähle-
Jetzt schauen wir einmal, was in den letzten vier Jahren
rin und jeden achten Wählers. Liebe Unionisten, werfen
gemacht worden ist. Dazu ist in der letzten Wahlperiode
Sie Ihre Vorurteile über Bord! Wer Demokratiebekennt-
eine umfassende Stellungnahme eingebracht worden.
nisse einfordert, muss Demokratie vorleben; sonst ge-
Wir können Folgendes feststellen: Die Bundesregierung
fährdet er selbst die Demokratie, und zwar nachhaltig.
hat die Anregungen, die vom damaligen Parlamentari-
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der schen Beirat gegeben wurden, durchaus aufgenommen.
CDU/CSU: Erzählen Sie uns nichts über De- Denn – das ist auch für uns Grüne entscheidend – beim
mokratie!) Thema Nachhaltigkeit müssen wir alle an einem Strang
ziehen. Sonst erreichen wir wenig oder gar nichts.
Wenn die Linke 2017 die Bundeskanzlerin oder den
Bundeskanzler stellt, werden wir die Demokratie hoch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
halten, auch für Sie von der CDU/CSU. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP)
(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]:
Dann bin ich nicht mehr da! – Daniela Raab Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir uns inter-
[CDU/CSU], an die LINKE gewandt: Die fraktionell aufstellen. Nur so schaffen wir es, unabhän-
Hitze verträgt nicht jeder! Ihr solltet euren gig von Wahlperioden und wechselnden Mehrheiten Er-
Kollegen bei der Hitze besser kühlen!) folge zu erzielen.
Bis dahin arbeiten wir im Parlamentarischen Beirat für Volker Hauff, der ehemalige Vorsitzende des Rates
nachhaltige Entwicklung konstruktiv mit. für Nachhaltige Entwicklung, hat es plastisch darge-
stellt: Würden wir die Zeit bis zum Erreichen des Ziels
Der Bericht des Beirats für Nachhaltigkeit für die
der nachhaltigen Entwicklung in 24 Stunden einteilen,
letzte Wahlperiode ist inhaltlich akzeptabel. Da aber das
dann wäre gerade einmal eine halbe Stunde vergangen.
Bemühen um nachhaltige Zusammenarbeit mit der
Wir benötigen noch 23,5 Stunden. Das ist eine ganze
Union bisher umsonst war, will die Linke der Union die
Menge Zeit. Wir müssen wirklich intensiv weiterarbei-
Zustimmung zum Bericht erleichtern und enthält sich
ten.
(B) deshalb der Stimme. (D)
(Beifall bei der LINKEN) Eine sehr große Leistung, die der Beirat in der letzten
Wahlperiode vollbracht hat, ist das Etablieren einer
Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschät-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zung. Kollege Miersch hat schon darauf hingewiesen,
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms für welche Probleme es dabei gibt. Wir sind in dieses Thema
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. eingestiegen. Schauen wir einmal, ob sich die Regierung
bewegt und ob sie die entsprechenden Dokumente im-
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mer liefert. Denn jedes Ministerium ist verpflichtet, die
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auswirkungen von Gesetzesvorhaben auf zukünftige
Es ist heute schon eine ganze Menge zum Thema „nach- Generationen zu überprüfen.
haltige Entwicklung“ gesagt worden. Sicherlich trifft das
Schauen wir uns einmal das Beispiel Staatshaushalt
zu, Herr Weinberg, was Sie als derjenige, der auch Er-
an. Wir nehmen Kredite auf ohne Ende, in jeder Wahl-
fahrung aus der letzten Wahlperiode hat – diese Erfah-
periode wieder neu. Unabhängig davon, wer an der Re-
rung habe ich leider nicht unmittelbar –, gesagt haben:
gierung ist, werden neue Kredite aufgenommen. Wir alle
Da sind sauber dicke Bretter gebohrt worden. Ich bin
– nicht nur wir, die wir hier sitzen – müssen die Kosten
aber jetzt in die Erstellung des Tätigkeitsberichts einge-
für Tilgung und Zinsen zahlen. Gerade unsere Kinder
stiegen und mit Ihnen dabei.
und Kindeskinder und noch mehrere darauffolgende Ge-
Was ich zumindest feststellen kann, ist: Gegenüber nerationen müssen dafür aufkommen. Wir müssen also
dem, was mir aus den letzten Wahlperioden berichtet einen Weg aus der Verschuldung finden. Sonst bleibt
wurde, haben wir deutlich an Fahrt aufgenommen. Wir nichts mehr übrig für sinnvolle und wichtige Investitio-
sind schnell in Gang gekommen. Wir haben nach der nen.
Einsetzung nur ein Vierteljahr gebraucht. Insofern
Sparen bedeutet, durch vernünftiges Handeln den fi-
möchte ich das, was Sie zuerst gesagt haben, unterstüt-
nanziellen Gestaltungsspielraum, den wir haben, zu er-
zen. Wir müssen zukünftig deutlich anders aufgestellt
halten. Wir Grüne haben dafür eine lange Liste von Vor-
werden und dürfen nicht nur über einzelne Initiativen in
schlägen erarbeitet, die durchaus zügig umgesetzt
Gang kommen. Wir müssen tatsächlich wie ein Aus-
werden können. Einen entscheidenden Punkt möchte ich
schuss behandelt werden.
in diesem Zusammenhang ansprechen. Es geht um das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thema externe Kosten. Wir müssen uns damit sehr viel
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) intensiver beschäftigen. Denn bisher herrscht die Mei-
5718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Dr. Eva Högl (SPD): Das Vorgehen gegen Menschenhandel und – genauso (C)
Ganz ausdrücklich begrüße ich den Vorschlag der wichtig, wenn nicht sogar wichtiger – die Vermeidung
Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Verhü- von Menschenhandel erfordern einen integrierten An-
tung und Bekämpfung von Menschenhandel und zum satz. Denn die strafrechtliche Ahndung ist immer nur
Opferschutz. Es ist richtig, über Menschenhandel in Eu- das letzte zur Verfügung stehende Mittel. Neben den
ropa intensiv zu diskutieren und wirksame Maßnahmen, strafrechtlichen Regelungen benötigen wir umfassende
die in ganz Europa gelten, zu beschließen. Maßnahmen der Prävention und des Opferschutzes. Es
müssen alle betroffenen Politikfelder verzahnt und zivil-
Menschenhandel ist nichts anderes als die moderne gesellschaftliches Engagement einbezogen werden. So
Form der Sklaverei. Es handelt sich dabei um eine der sind etwa Nichtregierungsorganisationen oft die einzi-
weltweit schwersten Straftaten. Besonders verwerflich gen Ansprechpartner, denen ein vertrauensvoller Zu-
ist, dass dabei unter Verletzung der Menschenrechte der gang zu den Opfern gelingt. Ihre Bedeutung ist sowohl
Betroffenen ein äußerst gewinnbringendes Geschäfts- auf der Ebene der Europäischen Union als auch in den
feld überwiegend im Bereich der organisierten Krimina- Mitgliedstaaten noch stärker zu betonen. Hier greift der
lität betrieben wird. Richtlinienvorschlag zu kurz, hier brauchen wir mehr
und bessere Regelungen!
Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Jugend-
liche zu Hungerlöhnen und unter schlimmen Bedingun- Am Anfang aller Bemühungen muss die Prävention in
gen beschäftigt, Kinder zum Betteln genötigt. Sie alle allen Herkunftsregionen der Opfer, zu denen übrigens
werden mit falschen Versprechungen in fremde Länder auch Deutschland selbst gehört, ansetzen, um Men-
gelockt und systematisch und gezielt ausgebeutet. schenhandel von Anfang an den Boden zu entziehen.
Hier sehe ich noch großen Nachholbedarf. Ferner muss
Die beständig hohen Zahlen der Fälle von Zwangs-
dafür Sorge getragen werden, dass die Opfer nicht nur
prostitution erschrecken uns ebenso wie die steigende
während der Dauer eines Strafverfahrens als Zeuginnen
Zahl von Zwangsarbeit und wirtschaftlicher Ausbeu-
und Zeugen, sondern auch darüber hinaus die Sicherheit
tung. In allen Fällen ist von einer hohen Dunkelziffer
eines Aufenthaltstitels erhalten. Eine erfolgreiche Straf-
auszugehen. Hier ist dringender Handlungsbedarf! Wir
verfolgung ist ohne umfassenden Opferschutz nicht
dürfen nicht länger zusehen!
möglich. Eines der Haupthemmnisse für die Strafverfol-
In drei Viertel der Fälle finden die Straftaten grenz- gung ist die mangelnde Aussagebereitschaft von Opfern,
überschreitend statt, im Bereich der Zwangsprostitution die um ihre Existenz fürchten. So erhalten Betroffene in
etwa stammen zwei Drittel der Opfer aus osteuropäi- Deutschland den Schutz eines Aufenthaltstitels nur für
schen EU-Staaten. Es liegt daher auf der Hand, dass die Dauer des Strafverfahrens. Deshalb müssen in ganz
(B) eine wirksame Bekämpfung des Menschenhandels nur Europa die einschlägigen Regelungen des Aufenthalts- (D)
international abgestimmt erfolgreich sein kann. rechtes verbessert werden. Wer in sein Herkunftsland
zurückkehrt, benötigt auch dort Sicherheit für einen
Deshalb ist es richtig und gut, dass die Europäische Neuanfang. Hier sind bei den örtlichen Behörden Struk-
Kommission eine Richtlinie vorschlägt. turen zu schaffen, die das ermöglichen. Darüber hinaus
ist es dringend notwendig, dass Minderjährige speziell
Zwar existiert in Deutschland bereits ein großer Teil auf sie abgestimmte Schutz- und Betreuungsprogramme
der im Richtlinienentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen erhalten.
und Straftatbestände, doch ist dies kein Grund, sich zu-
rückzulehnen. Deutschland ist Zielland des Menschen- Das Europäische Parlament hat bereits in einer Ent-
handels. Das heißt, dass die Kette der Straftaten nicht schließung vom Februar dieses Jahres mehr Prävention
mit dem Menschenhandel im engeren Sinne hinter den und Opferschutz angemahnt. Diese Forderungen haben
Grenzen im Inland endet, sondern die Straftaten in unse- wir als SPD-Bundestagsfraktion in unserem Antrag auf-
rem Land überhaupt erst ermöglicht. Das erbarmungs- gegriffen. Wir sprechen uns für den auch vom Europäi-
würdige Schicksal in Bordellen, Restaurantküchen oder schen Parlament geforderten integrierten Ansatz aus
auf Baustellen erleiden die Betroffenen nicht irgendwo und schlagen weitere, sehr wirksame und sinnvolle
auf der Welt, sondern auch und gerade in unserer Nach- Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Men-
barschaft. Dies zeigt, dass wir Menschenhandel mit den schenhandel vor. Ich werbe um Ihre Unterstützung dafür,
bisher existierenden Maßnahmen noch nicht in ausrei- damit wir einem der abscheulichsten Verbrechen unse-
chendem Maße begegnen konnten. rer Zeit wirksam den Kampf ansagen und die Menschen-
rechte europaweit durchsetzen.
Der vorgelegte Richtlinienentwurf verpflichtet alle
EU-Mitgliedstaaten dazu, abgestimmte strafrechtliche Die Bundesregierung fordere ich auf, bei den weite-
Mindeststandards zu verabschieden. Ebenfalls enthalten ren Verhandlungen im Rat sowie mit der Europäischen
ist die Notwendigkeit der engeren und besseren Zusam- Kommission und dem Europäischen Parlament darauf
menarbeit aller Behörden sowohl auf nationaler als hinzuwirken, dass die noch zu verbessernden Punkte Be-
auch internationaler Ebene. Dieser Ansatz ist zu begrü- rücksichtigung finden.
ßen.
Schließlich weise ich darauf hin, dass es aus deut-
Wir brauchen aber weitergehende Maßnahmen, um scher Sicht ausgesprochen unglücklich ist, andere Mit-
die der Richtlinienvorschlag ergänzt werden muss. gliedstaaten und Parlamente auf ihre Bringschuld hin-
Diese haben wir in unserem Antrag dargestellt. sichtlich der Umsetzung von Maßnahmen gegen
Ulla Jelpke
(A) Zum einen ist es ein ganz allgemeiner Punkt: Das Eu- Antrag enthält jedoch überwiegend eine Aufzählung (C)
ropäische Parlament fordert, einen auf die Opfer ausge- von – wie ich finde – vielen guten und unterstützungs-
richteten Ansatz zu wählen. In erster Linie soll es also würdigen allgemeinen Forderungen zur Bekämpfung
um den Schutz der Opfer gehen, um Zugang zu Betreu- des Menschenhandels und zum Opferschutz.
ung und rechtlicher Beratung, also weniger um die re-
pressiven Aspekte der Bekämpfung des Menschenhan- Der Sinn und Zweck eines Antrags nach Art. 23 Abs. 3
dels. Denn nur mit einer hohen Strafandrohung, wie sie Grundgesetz ist es indessen, im Rahmen eines konkreten
der Richtlinienvorschlag enthält, ist den Opfern noch Gesetzesvorhabens auf europäischer Ebene Forderun-
nicht geholfen. gen zu formulieren, die die Bundesregierung bei den
Verhandlungen im Rat zu berücksichtigen hat. Dieses
Zum anderen geht es mir um einen ganz konkreten wichtige Instrument, das es dem Bundestag erlaubt, ak-
Punkt, den die SPD-Fraktion in ihrem Antrag einfach tiv an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken,
unter den Tisch fallen lässt: das Aufenthaltsrecht für die sollte zielgerichtet eingesetzt werden und nicht allge-
Opfer von Menschenhandel, die aus Ländern außerhalb meine Forderungen enthalten, die im Rahmen des kon-
der EU kommen. In der Entschließung des EP wird ge- kreten Gesetzgebungsverfahren irrelevant und vor allem
fordert, dass diese Menschen mindestens – ich betone: auch gar nicht umsetzbar sind.
mindestens – einen befristeten Aufenthaltstitel erhalten
sollten, unabhängig von ihrer Bereitschaft, in Strafver- Das Instrument der Stellungnahme nach Art. 23 GG
fahren zu kooperieren. Bei der SPD bleibt von dieser ist das „schärfste Schwert“, das der Bundestag im Rah-
Forderung nur das übrig, was ohnehin im Richtlinien- men des europäischen Gesetzgebungsprozesses besitzt.
vorschlag der EU-Kommission steht, wonach die Mit- Es wird zu einem „stumpfen Schwert“, wenn die Stel-
gliedstaaten vorsehen können, den Opfern von Men- lungnahmen Forderungen im Allgemeinen enthalten, die
schenhandel nach ihrer Aussage in einem Strafverfahren die Bundesregierung im Allgemeinen beachten soll, im
noch einen längeren Aufenthalt zu gewähren. Diese Konkreten aber gar nicht beachten kann.
Gnade müssen sie sich aber erst mit einer Aussage in ei- Nach dieser allgemeinen Vorbemerkung möchte ich
nem Strafverfahren verdienen. Damit bleibt die SPD der nun noch zu einzelnen Punkten des Antrags Stellung
Linie der Kommission, des Bundesinnenministeriums nehmen:
und der Unionsfraktion treu, Opfer von Menschenhan-
del lediglich für Strafprozesse instrumentalisieren zu Unter II.2. wird gefordert, die Gewährung eines Auf-
wollen und sie gleich darauf in ihr Herkunftsland abzu- enthaltstitels für Opfer von Menschenhandel, die in ei-
schieben – eine Politik, die die SPD übrigens in der Gro- nem Strafprozess als Zeugen aussagen, aufgrund einer
ßen Koalition mitgetragen hat, als sie auf weitergehende Ermessensentscheidung im Einzelfall auch über den
(B) Regelungen bei der Änderung des Aufenthaltsgesetzes Strafprozess hinaus zu ermöglichen. Wir unterstützen (D)
im Sommer 2007 verzichtet hat. Auch diese Peinlichkeit diese Forderung, jedoch ist es notwendig, Kriterien für
lässt die SPD-Fraktion nicht aus: Sie fordert in ihrem eine solche Ermessensentscheidung, wie zum Beispiel
Antrag eine korrekte Umsetzung der bereits bestehenden Gefahr für Leib und Leben für die Betroffenen und ihre
Richtlinie der EU zur Erteilung von Aufenthaltstiteln an Familienangehörigen in ihrer Heimat, aufzustellen.
die Opfer von Menschenhandel, ganz so, als ob sie das Den in II.3. beschriebenen allgemeinen Opferschutz-
in der Koalition mit der Union in den vergangenen Jah- ansatz begrüßen wir, allerdings wird nicht deutlich, in-
ren nicht selbst verbockt hätte. wiefern weitergehender Schutz denn konkret noch not-
Die Linke hat schon in den damaligen Debatten ganz wendig ist. Angesichts vielfacher Verbesserungen der
klar gefordert, Opfern von Menschenhandel einen Auf- Regelungen des Opferschutzes in den letzten Jahren
enthaltstitel zu gewähren, ob sie sich nun als Zeugen für können und müssen weitere Reformschritte konkret be-
Strafverfahren zur Verfügung stellen oder nicht. Gerade nannt werden.
Opfern sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution Die Forderung, wonach FRONTEX sowie die einzel-
droht in ihren Herkunftsländern soziale Ausgrenzung staatlichen Grenzschutzbehörden angehalten werden
und damit ökonomisches Elend. Dazu kommt, dass sie in sollen, Opfer des Menschenhandels von illegalen Ein-
ihren Herkunftsländern wieder ins Visier jener kriminel- wanderinnen und Einwanderern zu unterscheiden,
len Netzwerke geraten, deren Opfer sie bereits geworden klingt gut – aber ist sie auch gut? Anhand welcher Kri-
sind. Das gilt auch für andere Opfergruppen von Men- terien sollte denn eine solche Unterscheidung an den
schenhandel, ob sie nun als Haushaltshilfen oder auf Grenzen vorgenommen werden können?
dem Bau arbeiten. Eine Abschiebung ist deshalb unzu-
mutbar und gerade das Gegenteil von Opferschutz. In Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Prävention
diesem Sinne fordern auch wir die Bundesregierung zu sind zu begrüßen. Sie müssen sich jedoch – sollen sie eu-
einer Revision ihrer bisherigen Verhandlungsposition ropäisch geregelt werden – an die Kompetenzgrenzen
auf. des Lissabon-Vertrags halten. So sieht Art. 84 AEUV im
Bereich der Kriminalprävention lediglich Maßnahmen
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zur Förderung und Unterstützung der Mitgliedstaaten
vor.
Gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche Vor-
bemerkung: Ihr Antrag ist ein Antrag gemäß Art. 23 Die unter II.4. gestellte Forderung nach einer neuen
Abs. 3 Grundgesetz. Der Bundestag wirkt mit diesen Koordinationsstelle der EU für die Bekämpfung des
Anträgen an der europäischen Gesetzgebung mit. Ihr Menschenhandels sehen wir ebenfalls skeptisch. Der
Oliver Luksic
(A) zu viel Geld in Agrar- und Strukturfonds und zu wenig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
in Zukunftsinvestitionen. Deswegen ist es jetzt bei der
Lassen Sie mich aber auch sagen, dass es unserer
finanziellen Vorausschau wichtig, dass wir hier neue
Meinung nach für die Zukunft klar sein muss, dass es
Prioritäten setzen, weniger umverteilen und konsumtive
sich bei Hilfspaketen um Ausnahmen handeln muss, die
Ausgaben tätigen, aber mehr in Innovation und Wachs-
nicht zur Regel werden dürfen. Die Entfristung von Ret-
tum investieren.
tungspaketen sowie die Institutionalisierung von Finanz-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hilfen halten wir als Liberale für falsch, egal ob man das
der CDU/CSU) „permanenter Krisenmechanismus“ oder „Europäischer
Währungsfonds“ nennt. Wir wollen keine Transferunion.
Die Kommission betont in ihrem Programm zu Recht Wir wollen keinen Länderfinanzausgleich auf europäi-
die Bedeutung von Forschung und Entwicklung sowie scher Ebene.
des Ausbaus von innovativen Technologien. Sie möchte
auch eine industriepolitische Initiative starten. Das kann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
man begrüßen, auch wenn man hier genau hinschauen
Die Position der Kommission, aber auch die der Zen-
muss, was damit gemeint ist. Im Programm steht unserer
tralbank kann ich in diesem Zusammenhang nicht ganz
Meinung nach zu wenig über bessere Rahmenbedingun-
teilen; denn allzu oft hat sich die Kommission in der
gen für kleinere und mittlere Unternehmen, die auch in
Vergangenheit bei der Durchsetzung des Stabilitätspak-
Europa den größten Anteil an Beschäftigung und Ausbil-
tes dem politischen Druck des Rates gebeugt. Sie befür-
dung haben. Ich glaube, hier muss vonseiten der Euro-
wortet jetzt die Institutionalisierung von Finanzhilfen,
päischen Union und der Kommission mehr kommen.
was die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspaktes schwächt.
Was eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinie- Auch die EZB ist jetzt dafür. Das halte ich – gerade nach
rung angeht, brauchen wir in der Debatte mehr Klarheit. der fragwürdigen Entscheidung über den Ankauf von
Ob Wirtschaftsregierung, Economic Governments oder Anleihen – für bedenklich.
Gouvernement Économique – es gilt, diese Begriffe mit
Ich glaube, die EZB muss, wie in der Vergangenheit
Inhalten zu füllen. Das ist jetzt an der Zeit. Auch wenn
auch, Garant eines stabilen Euros sein; denn der Euro ist
viele anzugehende Maßnahmen nationale Kompetenzen
eine Erfolgsgeschichte. In Deutschland und Europa kön-
betreffen, ist klar, dass viele Probleme nur mit einer ver-
nen wir uns sein Scheitern nicht leisten. Deswegen müs-
stärkten Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in Eu-
sen wir jetzt Wachstumskräfte stärken und dafür sorgen,
ropa lösbar sind. Unserer Meinung nach soll das zentral
dass die Währungsunion in Europa nicht zur Transfer-
vor allem im Wettbewerbsfähigkeitsrat stattfinden; denn
union wird. Für diese Grundüberzeugung muss die Bun-
wir kommen nicht mit weniger Wettbewerbsfähigkeit
desregierung das Ruder wieder in die Hand nehmen und
(B) aus der Krise heraus. (D)
den richtigen Kurs bestimmen, auch wenn nicht alle in
Wer im Inland oder auch im Ausland den Abbau des Europa das so sehen. Dafür lohnt es sich, zu kämpfen.
deutschen Exportüberschusses fordert, der nimmt den Vielen Dank.
Abbau von Arbeitplätzen in Kauf. Diesen Weg werden
wir als Koalition nicht mitgehen. Wir müssen nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schlechter werden, alle in Europa müssen besser werden,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-
der CDU/CSU) Fraktion.
Die Herausforderung besteht darin, in Europa den (Beifall bei der SPD)
Teufelskreis aus zu hoher Staatsverschuldung und man-
gelnder Wettbewerbsfähigkeit zu durchbrechen. Dies hat Michael Roth (Heringen) (SPD):
im Kern zur Griechenlandkrise und damit auch zur Wäh- Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
rungskrise geführt. Wir begrüßen ausdrücklich die Vor- und Kollegen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen
schläge von Kommissar Rehn, die eine Stärkung des Sta- Kommission ist eine Chance für den Bundestag, frühzei-
bilitätspaktes zum Ziel haben, und wollen als Koalition tig Initiativen aus der Mitte Europas zu bewerten und sich
auch weiterhin die Van-Rompuy-Gruppe konstruktiv be- möglichst frühzeitig und umfassend mit ihnen zu be-
gleiten. Denn die Verabschiedung des Rettungspakets schäftigen. Es ist deshalb ein bisschen schade, dass wir
bzw. des Rettungsschirms war eine schwierige, aber un- erst jetzt zu diesem späten Zeitpunkt kurz vor Beginn der
verzichtbare Entscheidung. In der Zukunft gilt es, genau parlamentarischen Sommerpause, nachdem die Kommis-
darüber zu wachen, dass alles umgesetzt wird. sion das Arbeitsprogramm für dieses Jahr am 31. März
2010 beschlossen hat, die Zeit finden, uns damit ausei-
Der aktuelle Bericht der Kommission zur Lage in Grie-
nanderzusetzen. Natürlich ist der späte Zeitpunkt auch
chenland bzw. zur Umsetzung der notwendigen Refor-
der späten Amtseinsetzung der EU-Kommission geschul-
men zeigt, dass dies erfolgreich angepackt wird. Gerade
det. Dennoch sollten wir uns dieses Programm sehr genau
vor dem Hintergrund der Sparbemühungen in Deutsch-
anschauen.
land müssen wir der griechischen Regierung unseren Res-
pekt dafür zollen, dass die richtigen Reformen auf den Es gibt zumindest eine Besserung; das will ich durch-
Weg gebracht wurden und dass sie sich nicht vom Weg ab- aus an den Anfang meiner Ausführungen stellen. Wäh-
bringen lässt. rend die Kommission ihr Legislativ- und Arbeitspro-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5727
Michael Roth (Heringen)
(A) gramm in den vergangenen Jahren immer nur für ein genen Wochen viele geäußert, die nicht im Verdacht ste- (C)
Jahr festgestellt und präsentiert hat, wird jetzt ein Stück- hen, sich auf irgendeine Weise nur kritisch oder destruk-
chen mehr Wert auf Kontinuität gelegt. Es werden auch tiv mit der Bundesregierung auseinandersetzen zu
schon Initiativen, Maßnahmen und Projekte aufgezeigt, wollen, ob es Habermas – um ganz oben anzufangen –
die erst in den nächsten Jahren auf die Tagesordnung der oder Helmut Schmidt ist.
Europäischen Union gesetzt werden. Aber machen wir
Die Bundeskanzlerin führt nicht. Es gibt keine weg-
uns nichts vor: So wichtig es ist, dass die Europäische
weisenden Impulse, die von der Bundesregierung in Sa-
Kommission die Bewältigung der Finanz- und Wirt-
chen Europa ausgehen. Der deutsch-französische Motor
schaftskrise in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten gerückt
stottert. Auch das belastet die Arbeit der Gemeinschafts-
hat, so sehr fällt wieder auf, dass es ein Sammelsurium
institutionen und natürlich zuvorderst der Kommission.
von Projekten und Initiativen ist. Es ist recht schwer, an-
gesichts der Fülle von Projekten einen roten Faden zu er- Es gibt ein Kompetenzgerangel zwischen Bundes-
kennen. kanzleramt und Auswärtigem Amt. Die Spatzen pfeifen
es von den Dächern: Es gibt viele Reibungsverluste und
Dafür gibt es natürlich Gründe; darüber sollten wir re-
nicht wenige Konflikte zwischen Kanzleramt und Aus-
den. Jeder der Kommissarinnen und Kommissare – zwi-
wärtigem Amt.
schenzeitlich haben wir 27 mit mehr oder weniger bedeu-
tenden Zuständigkeiten – will sich natürlich in seinem Es gibt nationale Interessen und weniger gemeinsame
bzw. ihrem Aufgabenbereich profilieren. Profil meint Interessen.
man dadurch gewinnen zu können, indem man in jedem
Bereich einen Vorschlag unterbreitet. Ob das dem politi- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Kommen
schen Gewicht der EU-Kommission als Ganzes zuträg- Sie mal zum Thema! Es geht um die Kommis-
lich ist, daran habe ich meine Zweifel. Denn wir alle spü- sion!)
ren: Die EU ist insgesamt im Wandel und nicht nur zum – Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören; aber ich
Guten. möchte es Ihnen dennoch nicht ersparen. Denn all das
Wir müssen uns fragen, welche EU-Kommission wir hat auch etwas mit der Arbeit der Europäischen Kom-
eigentlich wollen und welche Erwartungshaltung wir an mission zu tun. Wenn wir uns eine schwache Kommis-
die Arbeit der Europäischen Kommission anlegen. Tra- sion wünschen, können wir auch kein starkes, innovati-
ditionell hat sich der Bundestag immer als ein ganz en- ves, pointiertes Arbeitsprogramm der EU-Kommission
ger und verlässlicher Partner der EU-Kommission ver- erwarten. – Die nationalen Interessen stehen nun einmal
standen, weil uns eines klar war: Die Kommission ist in den letzten Wochen leider im Vordergrund. Das haben
Motor der Integration, Hüter der Verträge, und sie wahrt wir auch bei der Bewältigung der globalen Finanz- und
(B)
das europäische Gemeininteresse. Das ist schwieriger Wirtschaftskrise auf europäischer Ebene gespürt: Oft- (D)
geworden. Daran sind wir auch selbst schuld. mals wurde nur bis zum nationalen Tellerrand gedacht
und gearbeitet; das gemeinsame Interesse wurde ver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nachlässigt.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eine schwache Kommission liegt weder im deutschen
Die schleichende Intergouvernementalisierung der noch im europäischen Interesse. Wir sollten uns für eine
Europäischen Union schwächt die Kommission. Das ist starke Kommission einsetzen, die sich auf das Wesentli-
nicht gut. Wer profitiert davon? Angesichts der 27 Kom- che konzentriert und von einem selbstbewussten Europäi-
missarinnen und Kommissare profitiert erst einmal der schen Parlament kontrolliert und begleitet wird. Insofern
Kommissionspräsident davon. Wir haben es im Prinzip habe ich auch an Sie, die Vertreter der Bundesregierung,
mit einem Präsidialsystem zu tun. Er hat die Fäden in der entsprechende Erwartungen. Bislang sind Sie – das darf
Hand. Je schwächer die einzelnen Kommissarinnen und ich für meine Fraktion sagen – hinter diesen Erwartungen
Kommissare, desto stärker der Kommissionspräsident. zurückgeblieben. Sie sollten da einfach noch einen Zahn
Der Kommissionspräsident wird wiederum am Gängel- zulegen.
band der nationalen Regierungen, insbesondere der gro-
ßen, geführt. Die nationalen Regierungen als Ganzes Ich erwarte von der Europäischen Kommission als
profitieren natürlich auch von einer möglichst schwa- Ganzes, dass sie sich ernster nimmt und sich in noch
chen Europäischen Kommission. Der neu ins Amt ge- stärkerem Maße von den nationalen Regierungen eman-
kommene Vorsitzende des Europäischen Rates, der nun zipiert. Vor allem ist das in unserem Interesse: Eine
für zweieinhalb Jahre bzw. fünf Jahre im Amt ist, profi- starke Kommission ist gut für Deutschland, nicht nur gut
tiert auch. Ich sehe das mit Sorge, meine Fraktion sieht für die Europäische Union.
das mit Sorge. Vielen Dank.
Mitverantwortlich für diesen Weg ist auch die Bun- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manuel
desregierung. Ich kann Ihnen das bei aller Wertschät- Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
zung, Herr Staatsminister Hoyer, heute Abend nicht er-
sparen. Das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft im Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Jahr 2007 war: „Europa gelingt gemeinsam.“ Wo ist die-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Kudla für
ser Gemeinsinn eigentlich hingekommen? Es ist nicht
die CDU/CSU-Fraktion.
mehr viel davon übrig geblieben. Das ist schade und
politisch hochgefährlich. Dazu haben sich in den vergan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
5728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Bettina Kudla (CDU/CSU): Zum zweiten strategischen Ziel. Der Kommissionsbe- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen richt über die Bewertung der Stabilitäts- und Konver-
und Herren! Wir behandeln heute das Arbeitsprogramm genzprogramme von 14 EU-Mitgliedstaaten hat verdeut-
der Europäischen Kommission für das Jahr 2010. Nach- licht, dass fast alle Euro-Länder – teils erheblich – gegen
dem der Beginn dieses Jahres von der Beratung und Be- die Kriterien des Stabilitätspaktes verstoßen. Aus diesem
schlussfassung der Strategie „Europa 2020“ geprägt war, Bericht sind Schlussfolgerungen für die Haushaltskonso-
wird der Schwerpunkt der kommenden Monate und Jahre lidierung für jeden Nationalstaat zu entnehmen. Für die
darauf liegen, die Folgen der aktuellen Wirtschafts- und Bewertung der Haushaltsdaten von Deutschland stellt
Finanzkrise zu überwinden. Die Kommission hat dazu die Kommission fest – ich zitiere –:
strategische Maßnahmen mit den drei folgenden Zielen
veranlasst: erstens die verstärkte wirtschaftspolitische Wachsender Schuldenstand, Ad-hoc-Änderungen
Überwachung und Abstimmung im Euro-Raum, zwei- an der Rentenanpassungsformel und Finanzbedarf
tens einen Beitrag zur nachhaltigen Stabilisierung der öf- des Sozialversicherungssystems unterstreichen, wie
fentlichen Finanzen zu leisten, indem eine Bewertung wichtig die Sicherung der langfristigen Tragfähig-
der nationalen Stabilitäts- und Konvergenzprogramme keit ist. … Deutschland wird folglich aufgefordert,
vorgenommen wird, und drittens die Gewährleistung sta- die Haushaltsstrategie mit konkreten Maßnahmen
biler, verantwortungsvoller Finanzmärkte im Dienste der für die Korrektur des übermäßigen Defizits und die
Gemeinschaft. Senkung des Schuldenstands zu unterlegen und die
neue Schuldenregel einzuhalten.
Lassen Sie mich auf alle drei genannten strategischen
Schwerpunkte kurz eingehen: Wohlgemerkt, der Bericht ist vom März dieses Jahres;
Zum ersten Ziel. Die Kommission kündigt an, Vorschläge das war noch vor der Vorlage des Konsolidierungspake-
vorzulegen, wie die Kontrolle der öffentlichen Finanzen tes der Bundesregierung. Nun gilt es, das Konsolidie-
verbessert und makroökonomische Ungleichgewichte, rungspaket umzusetzen.
darunter Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit, be- Die richtige Schlussfolgerung aus der Wirtschafts-
hoben werden sollen. Es ist positiv zu bewerten, dass die und Finanzkrise ist: Nur wenn wir den Bundeshaushalt
Kontrolle der öffentlichen Finanzen entsprechend verbes- konsolidieren, werden wir die Folgen der Wirtschafts-
sert sowie verstärkt auf die Einhaltung der Kriterien des krise überwinden. Das ist eine klare Haltung der Kom-
Stabilitäts- und Wachstumspaktes geachtet werden soll. mission, und sie gilt für alle EU-Staaten, sowohl für die
Eine Ursache der Euro-Krise ist, dass man im We- Euro-Länder als auch für die Nicht-Euro-Länder.
sentlichen einen Verstoß gegen die Maastricht-Kriterien
Übrigens, der ebenfalls aktuelle Konvergenzbericht
hingenommen hat, ohne entsprechende Konsequenzen
(B) zu ziehen. Die Folgen dieses Vorgehens belasten die ge- für die Nicht-Euro-Staaten vom Mai dieses Jahres hat im (D)
samte EU und die Nationalstaaten gleichermaßen. Die Grunde ein erschreckendes Bild gezeigt, was die Eig-
geplante wirtschaftspolitische Überwachung sollte je- nungskriterien bezüglich der Einführung des Euros be-
doch nur dazu dienen, Fehlentwicklungen wie beispiels- trifft.
weise Spekulationsblasen auf dem Immobilienmarkt Nun zur dritten strategischen Maßnahme gegen die
frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Zweifellos Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, nämlich zur
sollte der Binnenmarkt gestärkt werden. Keinesfalls darf Stabilität der Finanzmärkte. Die Kommission hat allein
dies dazu führen, dass marktwirtschaftliche Grundprin- dazu acht Einzelinitiativen aufgelistet. Im Hinblick auf
zipien außer Acht gelassen werden. die Regulierung der Finanzmärkte gilt es, die Ergebnisse
Die Kommission nimmt auch auf den Monti-Bericht des G-8- und des G-20-Gipfels des vergangenen Monats
Bezug. Dieser beinhaltet im Bereich der Steuerpolitik als umzusetzen. Die beiden Gipfel haben gezeigt, dass das
Teil der Wirtschaftspolitik einige gute Vorschläge, zum ursprüngliche Ziel der Bundesregierung, eine Finanz-
Beispiel zur Bekämpfung steuerlichen Missbrauchs. markttransaktionsteuer international, also weltweit, ein-
Gleiches findet sich auch in dem aktuell vorgelegten zuführen, nicht durchsetzbar ist. Gleichwohl halten wir
Programm der belgischen Präsidentschaft des Rates der die Finanzmarkttransaktionsteuer für eines der wichtigs-
Europäischen Union. ten Instrumente zur Eindämmung von Fehlentwicklun-
gen auf den Finanzmärkten.
Abzulehnen sind jedoch die im Monti-Bericht enthal-
tenen Forderungen nach einer steuerlichen Angleichung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zwischen den Nationalstaaten, um den steuerlichen neten der FDP)
Wettbewerb zu regulieren. Wettbewerb zwischen den
Regionen hat immer zu positiven Wirtschaftsimpulsen Folglich gilt es, die Finanzmarkttransaktionsteuer auf
und damit zu Wohlstandsmehrungen geführt. In europäischer Ebene einzuführen.
Deutschland gehört es zu den Grundfesten unseres Wirt-
schaftssystems, dass zum Beispiel die Kommunen zu- (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND-
mindest in einem Teil ihres Einnahmebereichs durch das NIS 90/DIE GRÜNEN])
Hebesatzrecht ihr Steueraufkommen beeinflussen und Die Kommission sollte dieses Thema mit Nachdruck an-
Standortpolitik betreiben können. Eine verbesserte steu- gehen.
erliche Koordinierung innerhalb der EU ist zu begrüßen,
eine steuerliche Angleichung ist abzulehnen. Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5729
(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sung der Krise – genauso wie die Bundesregierung – im (C)
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord für die Sparen. Bis 2013 soll das Staatsdefizit der entwickelten
Fraktion Die Linke. Industrienationen halbiert werden. Ab 2016 soll es mit
dem Abbau der Schulden losgehen. Dann steht der
(Beifall bei der LINKEN) Schuldenstand für Deutschland etwa bei 2 Billionen
Euro. Selbst wenn die Bundesregierung jedes Jahr
Thomas Nord (DIE LINKE): 10 Milliarden Euro zurückzahlen würde – das sind gut
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen 3 Prozent des Haushaltsplans 2011 –, dauerte das ohne
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit ei- Berücksichtigung von Zins und Zinseszins etwa
nem Dreivierteljahr bin ich jetzt Bundestagsabgeordne- 2000 Jahre. Das sehen wir alle doch wohl eher als unrea-
ter. Wenn ich mir die Berichte über die letzten Tagungen listisch an.
des Europäischen Rates in Erinnerung rufe, war es stets
(Beifall bei der LINKEN)
so, dass die Teilnehmer ins Flugzeug stiegen und beim
Aussteigen die Tagesordnung der Beratung in der Regel Wir brauchen endlich eine grundsätzliche Verände-
eine andere war als kurz zuvor. Ich kann also aus vollem rung der Einnahmesituation. Die Krisenprofiteure müs-
Herzen dem Satz in der Einleitung des Arbeitspro- sen zur Sanierung der Staatskassen beitragen, auch wenn
gramms der Kommission zustimmen: „Weitermachen das der FDP nicht passt.
wie bisher ist ausgeschlossen.“ Ein kluger Satz. Wenn
ich aber das Programm lese, dann stelle ich fest, dass die (Beifall bei der LINKEN)
politischen Folgen dieses Satzes darin weitgehend aus- Auch davon steht nichts im Arbeitsprogramm, weder da-
geblendet sind. Der größere Teil des Arbeitsprogramms von, wie Geldinstitute und Spekulanten an der Finanzie-
ist der Konkretisierung der Strategie „Europa 2020“ ge- rung der Bewältigung der Krisenfolgen beteiligt werden,
widmet. Diese ist eine Fortsetzung der Lissabon-Strate- noch von einer Finanzmarkttransaktionsteuer. Die Kom-
gie. Hier im Plenum waren sich alle Fraktionen einig: mission legt das Arbeitsprogramm auf, als gäbe es eine
Diese ist gescheitert. Uneinigkeit bestand doch nur da- Perspektive der Normalität. Die Realität sieht jedoch an-
rüber, warum sie gescheitert ist. ders aus: Generalstreik in Griechenland, Generalstreik in
Die Koalition und Teile der Opposition sind der Mei- Rumänien, Generalstreik in Spanien, Generalstreik in
nung: Die Strategie war überfrachtet und unverbindlich. Ungarn, Generalstreik in Italien. Europaweit ist der Wi-
Die Linke ist der Auffassung: Lissabon war ein grundle- derstand gegen die Sparpolitik zu hören. Dieser Wider-
gend falscher Weg. stand ist nicht nur hinsichtlich der persönlichen Betrof-
fenheit nachvollziehbar. Er ist auch ökonomisch sinnvoll
(B) (Beifall bei der LINKEN) und absolut notwendig. (D)
Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung sind (Beifall bei der LINKEN)
die falschen Mittel für ein dauerhaft friedlich geeintes
Europa. Ohne die Deregulierung der Finanzmärkte der Das Sparen führt zu einem Schrumpfen der Nachfrage
letzten Jahre wäre die Krise, so wie wir sie jetzt haben, und damit zu einer Verschärfung der Krise, nicht zu ihrer
gar nicht möglich gewesen. Mit ihr wurden die Banken Überwindung.
und die Spekulanten doch geradezu zu ihrem Handeln Ich komme zum Schluss.
animiert. In der Folge – mit den Folgen hatten wir in den
letzten Wochen viel zu tun – hatten wir eine Banken- (Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Gott sei
und Finanzkrise. Die Staaten mussten dann massiv fi- Dank!)
nanzpolitisch intervenieren; auch damit haben wir uns
hier ausführlich befasst. Die Folge ist, dass wir heute Das Arbeitsprogramm der Kommission 2010 beschreibt
eine Krise vieler europäischer Staaten haben. Die Lissa- eine Normalität, die so nicht in Sicht ist. Die Kommis-
bon-Strategie ist nicht nur ökonomisch, sondern auch sion stellt die Frage nach den Ursachen für die jetzige
politisch gescheitert. Situation nicht. Daher gibt sie darauf auch keine Ant-
worten, entwickelt keine tragfähigen Lösungen. Die teils
(Beifall bei der LINKEN) sinnvollen Einzelinitiativen schweben im Raum. Ihnen
fehlt ein Fundament.
Das gilt ebenso für viele Vertragsgrundlagen der Euro-
päischen Union. Danke schön.
Die Wettbewerbsfixierung des Binnenmarktes, der (Beifall bei der LINKEN)
Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die strikte Bin-
dung der EZB an Preisstabilität statt an Wachstum und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Beschäftigung haben die Krise verschärft und nicht ge-
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
holfen, sie zu lösen. Im Arbeitsprogramm der Kommis-
der Kollege Manuel Sarrazin.
sion findet sich gerade hierzu kein kritisches Wort. Die
Diskussion über eine europäische Wirtschaftsregierung,
über solidarische Ausgleichsmechanismen in einer Wäh- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rungsunion und über Mindeststandards zur Beschrän- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
kung des Lohn- und Steuerdumpings findet in diesem neue Zeit – so hat die EU-Kommission das Arbeitspro-
Arbeitsplan nicht statt. Die Kommission sieht die Lö- gramm sozusagen genannt. Am Anfang des Arbeitspro-
5730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Manuel Sarrazin
(A) gramms hat sie nämlich noch einmal die Feststellung ge- steht die EU-Kommission, wie sie dafür sorgen kann, (C)
troffen: Wir leben in einer neuen Zeit. dass sie diesen Ansprüchen gerecht wird, nämlich einer-
seits durch entschiedeneres Handeln und mehr Konzen-
Der Kollege Roth hat schon darauf hingewiesen, dass tration, andererseits aber auch dadurch, dass für die EU-
sich gerade etwas Gewichtiges verschiebt. Das beobach- Kommission immer außer Frage stehen sollte, dass man
ten wir alle. Wir erleben, dass Entscheidungen mehr und die Rechte der Parlamente achtet – das gilt für die natio-
mehr vom Europäischen Rat und so schnell getroffen nalen Parlamente, zum Beispiel bei Übersetzungen, das
werden, dass wir als Deutscher Bundestag oftmals „hin- gilt aber auch für das Europäische Parlament, beispiels-
terherhecheln“ und sich die Frage stellt, wie gewährleis- weise bei der Konstruktion des 60-Milliarden-Euro-
tet werden kann, dass die verschiedenen Kompetenzen, Schirms –, sodass man die nationalen Parlamente und
die in der Bundesregierung vorhanden sind, auch weiter- das Europäische Parlament ebenfalls als Motor betrach-
hin in diese Entscheidungen einfließen können. Ich tet.
denke, wir als Deutscher Bundestag müssen uns dieser
Verschiebung stellen. Meine Damen und Herren, Wolfgang Proissl hat kürz-
lich eine Denkschrift mit dem Titel „Why Germany fell
Ich möchte mich der Kritik des Kollegen Roth an der out of love with Europe“ herausgegeben. Ich denke, dass
Bundesregierung ausdrücklich anschließen, aber auch wir auch hier im Hause die Debatte darüber führen müs-
dazu sagen: Ich glaube, dass das Auswärtige Amt Kom- sen, warum die Europabegeisterung nicht nur in der Be-
petenzen hinsichtlich Europa hat, die wir in der Europa- völkerung, sondern auch unter uns nicht mehr so selbst-
politik und auch im Europäischen Rat weiterhin brau- verständlich ist, wie wir alle das vielleicht noch bis zum
chen, auch wenn die Außenminister selber dort nicht 1. Dezember 2009 glaubten. Ich denke, hier müssen wir
regelhaft dabeisitzen. zusammenstehen.
(Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- Dafür brauchen wir an erster Stelle aber eine starke,
NIS 90/DIE GRÜNEN]) entschiedene und vernünftige Europäische Kommis-
Ich denke aber auch, dass wir als Deutscher Bundestag sion, die von einer deutschen Bundesregierung unter-
Debatten gerade auch mit dem Kanzleramt gezielt früher stützt wird, die eben Triebfeder, Motor und zum Teil
führen müssen, um unsere Meinung einzubringen. Wir auch Tandem für die europäische Integration und nicht
haben deswegen einen Antrag vorgelegt, mit dem wir nur Bedenkenträger sein will.
uns diesem Thema widmen und der auch eine Anregung Danke sehr.
für die anderen Fraktionen sein soll, darüber zu diskutie-
ren, wie wir diesem neuen Anspruch besser gerecht wer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD)
(B) den können, weil es richtig ist, was Herr Roth gesagt hat: (D)
Wir brauchen die Europäische Kommission aus ver-
schiedenen Gründen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Natürlich haben wir als Deutscher Bundestag zu- Matthias Lietz für die CDU/CSU-Fraktion.
nächst die Aufgabe, die Bundesregierung zu kontrollie-
ren, zu noch besseren Ideen zu bringen und falsche Ideen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zu skandalisieren und zu verhindern. Wir haben aber
natürlich auch die Aufgabe, im Sinne der parlamentari- Matthias Lietz (CDU/CSU):
schen Solidarität zu gucken, wie das Europäische Par- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen
lament weiterhin eine wichtige Funktion in der Euro- und Herren! Die letzte Debatte zum Arbeitsprogramm
päischen Union ausüben, seinen Kontrollrechten der EU-Kommission liegt inzwischen mehr als andert-
nachkommen und seiner demokratischen Legitimation halb Jahre zurück. Inzwischen haben wir – das ist hier
entsprechen kann. bereits erwähnt worden – eine neue EU-Kommission
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und ein neu gewähltes Europäisches Parlament. Der Ver-
und bei der SPD) trag von Lissabon ist in Kraft getreten. Das Bundesver-
fassungsgericht hat sein Urteil zum Lissabon-Vertrag ge-
Dafür ist es wichtig, dass man bei den Themen, die sprochen; und die Griechenland-Krise sowie der
jetzt zur Diskussion anstehen, immer betont: Nur wer Rettungsschirm für den Euro haben uns seitdem beschäf-
der EU-Kommission eine gewisse Rolle zubilligt, wird tigt.
auch das Europäische Parlament am Ende mit im Boot
haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir über die Strate- Aber die Krise hat uns auch eines deutlich gemacht,
gie „EU 2020“ und darüber reden, wie die wirtschafts- nämlich dass Europa es schaffen kann, wenn es gemein-
politische Koordinierung mit Schlüsselrollen für das EP sam handelt. Nationale Alleingänge bei Themen, die alle
und die EU-Kommission erfolgen kann – dann natürlich betreffen, waren und sind nicht erfolgversprechend. Mit
auch in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat. Blick auf langfristige Herausforderungen, die vor uns
stehen – ich denke an die Globalisierung, den Klima-
Eines ist auch wichtig – das möchte ich hier ebenfalls schutz oder den demografischen Wandel –, ist ein ge-
betonen –: Leider ist diese EU-Kommission nicht immer meinsames Handeln der Union aktueller denn je. Wir ha-
die, für die man als Grüner sozusagen mit besonders viel ben schon von den Vorrednern gehört, dass es vielleicht
Überzeugung und Verve in die Bresche springt. Weder auch kritikwürdig ist, dass diese Debatte zu diesem spä-
ist Herr Barroso sozusagen unser liebstes Kind noch ver- ten Zeitpunkt in diesem Hause stattfindet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5731
Matthias Lietz
(A) Meine Damen und Herren, das vorgelegte Arbeitspro- Jahren die Weichenstellungen für eine grundlegende Re- (C)
gramm der EU-Kommission konzentriert sich auf vier form der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Aktionsbereiche: zum Ersten die Bewältigung der Krise
und die Bewahrung der sozialen Marktwirtschaft in Zur Zukunft dieser Agrarpolitik wird die Kommission
Europa, zum Zweiten eine Agenda für mehr Bürgernähe, im vierten Quartal eine Mitteilung vorlegen, der im Jahr
die den Menschen in den Mittelpunkt der EU-Maßnah- 2011 konkrete Gesetzgebungsvorschläge folgen sollen.
men stellt, zum Dritten die Entwicklung einer ehrgeizi- Die Gespräche werden auch unter der Prämisse geführt,
gen und kohärenten außenpolitischen Agenda globaler welchen Beitrag sie zur Strategie „Europa 2020“ leisten
Reichweite und zum Vierten die Modernisierung der kann und wie eine nachhaltige, produktive und wettbe-
Instrumente und der Arbeitsweise der Europäischen werbsfähige Landwirtschaft sichergestellt werden kann.
Union. Einen wesentlichen Schwerpunkt für die kommende
Den größten Raum nehmen sinnvollerweise die Be- Finanzierungsperiode in der Agrarpolitik muss deren
wältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Vereinfachung sein. Der bereits beschrittene Weg ist hier
weitere Ausarbeitung der Wachstums- und Beschäfti- konsequent fortzusetzen. Rund 80 Prozent der Bürokra-
gungsstrategie Europa 2020 ein. Diese Schwerpunktset- tiekosten für die Wirtschaft in den Bereichen Landwirt-
zung im Arbeitsprogramm ist grundsätzlich zu begrü- schaft, Ernährung und Lebensmittelsicherheit gehen auf
ßen. Allerdings muss bei den geplanten Europa-2020- das europäische Recht zurück. Die Überprüfung der In-
Leitinitiativen ganz klar der europäische Mehrwert zu strumente hinsichtlich ihres vermeidbaren bürokrati-
erkennen sein. Ebenso müssen die Leitinitiativen einer schen Aufwandes sollte daher auf jeden Fall weiterge-
genauen Subsidiaritätsprüfung unterzogen werden. hen.
Mit Blick auf die Agenda für mehr Bürgernähe ist die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Schwerpunktlegung auf die Umsetzung des Stockholmer neten der FDP)
Programms ebenfalls zu begrüßen. Im Zentrum der Um- Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht sein
setzung muss hier auf jeden Fall der stärkere Schutz der Urteil zum Vertrag von Lissabon gesprochen. Das Ge-
Bürgerrechte liegen. richt hat dem Deutschen Bundestag mehr Verantwortung
Was die Modernisierung der Instrumente und die Ar- im Prozess der europäischen Integration auferlegt. Es hat
beitsweise der EU betrifft, ist das verstärkte Bestreben eine stärkere Rolle des Parlaments in der Europapolitik
der Kommission, Bürokratie abzubauen und neue gefordert. Wir als Abgeordnete dieses Hohen Hauses
Rechtsakte einer besseren Folgenabschätzung zu unter- sind dazu aufgefordert, uns dieser Verantwortung zu
ziehen, ein Punkt, zu dem nicht nur die europäischen, stellen.
(B) sondern alle staatlichen Ebenen aufgerufen sind. Effi- (D)
Vielen Dank.
ziente Verwaltung und Regulierung müssen Ziel der ge-
samten staatlichen Verwaltungen sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Hinsichtlich der Arbeitsweise der Europäischen Ich schließe die Aussprache.
Union warten wir übrigens noch immer auf die dringend
überfällige Übersetzungsstrategie. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
In diesem Punkt weist das Arbeitsprogramm der Kom- ordneter und der Fraktion DIE LINKE
mission eine wesentliche Lücke auf. Gerade wegen der
stärkeren Einbindung auch des Deutschen Bundestages Ausgrenzung beenden – Einbürgerungen um-
durch die Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissa- fassend erleichtern
bon erhält dieser Punkt eine besondere Dringlichkeit.
Künftig muss sichergestellt sein, dass Schriftstücke der – Drucksache 17/2351 –
Europäischen Union frist- und formgerecht mit der Ori- Überweisungsvorschlag:
ginalfassung in deutscher Sprache vorliegen. Hier be- Innenausschuss (f)
steht dringender Handlungsbedarf! Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch in Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
wenigen Punkten auf die im Zusammenhang mit der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Schwerpunktsetzung angelaufenen Gespräche zur Ge- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
staltung der künftigen Gemeinsamen Agrarpolitik nach damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so ver-
2013 eingehen. fahren.
Die Kommission und die belgische Präsidentschaft Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
planen für das Jahr 2010, einen umfangreichen und am- nerin der Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die
bitionierten Maßnahmenkatalog im Bereich der Land- Linke das Wort.
wirtschaft abzuarbeiten. Im Zentrum dieses Maßnah-
menkatalogs stehen in diesem und in den kommenden (Beifall bei der LINKEN)
5732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): chen Gleichstellung liegt. Diese Gleichberechtigung (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer sich wiederum schaffen wir mit einem radikal vereinfachten
auf Dauer in einem Staat niederlässt, zumal wenn sich und erleichterten Einbürgungsverfahren. Wir wollen da-
dieser als Demokratie versteht, hat Anspruch auf politi- mit den Menschen, die in Deutschland leben, ein Signal
sche und soziale Rechte. Dieser Anspruch kann im Prin- geben, nämlich das Signal, dass die Menschen mit Mi-
zip auf zwei Arten erfüllt werden: über einen unkompli- grationshintergrund, die in Deutschland leben, als fester
zierten Zugang zur Staatsangehörigkeit oder über das und gleichberechtigter Teil in unserer Gesellschaft ange-
Wahlrecht auch für die im Land lebenden Menschen sehen werden.
ohne deutschen Pass. (Beifall bei der LINKEN)
Das, was wir von der Bundesregierung erleben, ist Wer in diesem Land seit fünf Jahren seinen Lebens-
aber genau das Gegenteil. Sie schafft weder die Mög- mittelpunkt hat, soll unabhängig vom jeweiligen Aufent-
lichkeit eines entsprechenden Wahlrechts – noch nicht haltstitel einbürgungsberechtigt sein. Wir wollen, dass
einmal auf kommunaler Ebene –, noch versucht sie, Ein- Einbürgerung und politische Gleichberechtigung nicht
bürgerungen tatsächlich zu ermöglichen und zu vereinfa- vom sozialen Status und Einkommen abhängig sind.
chen. Stattdessen erschwert und verhindert sie Einbürge- Deshalb wollen wir die Einbürgerungsgebühren auf ei-
rungen. Das konnten wir letzte Woche aus den aktuellen nen symbolischen Betrag senken. Gleiche Rechte sollten
Einbürgerungszahlen des Statistischen Bundesamtes er- nicht vom Bildungsstand abhängig gemacht werden.
fahren, denen zufolge immer weniger Menschen deut- Deshalb sollten einfache Sprachkenntnisse ausreichen.
sche Staatsangehörige werden, weil die geltende Rechts- Wir wollen keine Einbürgerungstests, um Menschen auf
lage und die schlimme Einbürgerungspraxis zu hohe eine vermeintliche Einbürgerungsfähigkeit zu testen.
Hürden darstellen. Wir wollen die Staatsangehörigkeit per Geburt und die
Abschaffung des absurden Prinzips der Optionspflicht.
Vor 20 Jahren, 1990, legte das Bundesverfassungsge- Wir wollen Mehrfachstaatsangehörigkeiten, die in einem
richt dem Gesetzgeber in einem Grundsatzurteil nahe, Großteil der EU-Mitgliedstaaten erlaubt sind, grundsätz-
eine demokratische Lücke zu schließen. Denn Millionen lich zulassen. Wir wollen Ihnen mit unserem Antrag die
Menschen, die dauerhaft in der Bundesrepublik lebten, Möglichkeit geben, den hier in Deutschland dauerhaft
waren von allen Ebenen der politischen Mitbestimmung lebenden Menschen Rechte zu geben und ihre andau-
ausgeschlossen. Gemeint waren damals 5,5 Millionen ernde Ausgrenzung zu beenden. Das können Sie, wenn
Menschen in Deutschland, die keinen deutschen Pass Sie unserem Antrag zustimmen und nicht nur in Ihren
hatten, aber im Durchschnitt bereits mehr als zwölf Jahre Sonntagsreden über Willkommenskultur in Deutschland
hier lebten. Das war ein richtiger und wichtiger Hinweis sprechen.
(B) des Verfassungsgerichts, was die Linke unterstützt. (Beifall bei der LINKEN) (D)
(Beifall bei der LINKEN)
Die bisherigen Regierungen haben sich aber leider Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nicht an die Empfehlungen des höchsten Gerichts gehal- Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Helmut
ten. Nein, das vom Bundesverfassungsgericht kritisierte Brandt das Wort.
Demokratiedefizit hat sich in den letzten 20 Jahren dra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
matisch verschärft. Heute leben über 7 Millionen Men-
schen ohne deutschen Pass in Deutschland, und ihre Helmut Brandt (CDU/CSU):
durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt sogar fast
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
19 Jahre. Die Einbürgerungszahlen befinden sich auf ei-
Herren! Frau Dağdelen, die Aussage, dass die Linke uns
nem Tiefstand. Unter dem alten Reichs- und Staatsange-
die Demokratie bringen wird, ist das, was ich in Ihrer
hörigkeitsrecht aus dem Jahr 1913 wurden 1999 noch Rede am wenigsten vermutet habe, aber auch das, was
über 143 000 Menschen eingebürgert. Damals galt noch Ihnen in diesem Hause keiner abkauft.
das Abstammungsrecht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Zehn Jahre danach, 2009, lagen wir mit knapp über des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/
96 000 Einbürgerungen deutlich darunter. Seit der Re- DIE GRÜNEN] – Sevim Dağdelen [DIE
form des Staatsangehörigkeitsgesetzes unter Rot-Grün LINKE]: Das müssen Sie mit Ihrer Vergangen-
im Jahr 2000 und den Verschärfungen unter der Großen heit gerade sagen!)
Koalition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 haben
wir bei den Einbürgerungen einen kontinuierlichen – Über meine Vergangenheit können wir gerne reden;
Rückgang zu verzeichnen. Für dieses Jahr ist schon wie- über Ihre zu reden, fangen wir besser nicht an. – In ih-
der mit einem Sinken der Zahlen zu rechnen, worauf die rem Antrag „Ausgrenzung beenden – Einbürgerungen
aktuell zurückgehenden Zahlen der Einbürgerungstests umfassend erleichtern“ kritisiert die Fraktion Die Linke
hindeuten. unter Hinweis auf vermeintlich kontinuierlich zurückge-
hende Zahlen der Einbürgerungen zum einen, dass die
Die Linke will das ändern. Mit unserem Antrag wol- Bundesregierung ungeachtet dessen Einbürgerungs-
len wir das vom Bundesverfassungsgericht angespro- erleichterungen ablehne. Zum anderen fordert sie die
chene Demokratiedefizit in Deutschland beseitigen. Wir Bundesregierung auf, das Staatsangehörigkeitsgesetz mit
wollen deutlich machen, dass der Schlüssel zur politi- dem Ziel umfassender Einbürgerungserleichterungen zu
schen Integration und Chancengleichheit in der rechtli- ändern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5733
Helmut Brandt
(A) Gestatten Sie mir gleich zu Beginn, Folgendes dazu Einbürgerungsberechtigte nicht auf ihre innere Anschau- (C)
zu sagen: Schon der Titel Ihres Antrags hat mich irritiert. ung und ihre Gesinnung überprüft werden sollen.
Es ist doch tatsächlich so, dass wir uns in den letzten
Jahren mehr als alle Regierungen zuvor um die Integra- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
tion hier lebender Migranten bemüht haben. Ich will an GRÜNEN]: Warum macht man dann den Test,
dieser Stelle einige Stichworte nennen: Integrationsgip- wenn ihn sowieso jeder besteht?)
fel, Integrationsplan, erfolgreiche Integrationskurse. – Weil sich nicht alle dem Test unterziehen, die diese
Lassen Sie mich noch eines erwähnen. Ich weiß nicht, ob Gesinnung vielleicht nicht haben. In diesem Fall macht
Sie sich für Fußball interessieren. Die Zusammenset- es Sinn; denn nicht jeder, der hier lebt, will die deutsche
zung der deutschen Nationalmannschaft ist der beste Be- Staatsbürgerschaft haben oder sich dieser Frage unter-
weis dafür, dass wir in Deutschland keine Ausgrenzung werfen.
betreiben, sondern Migranten optimal integrieren.
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Quatsch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Integration kann nur gelingen, wenn Ausländer, die
Wie kann man in einer solchen Situation von Ausgren- hier leben möchten, bereit sind, unsere Verfassung und
zung sprechen? Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall. unsere Grundwerte zu akzeptieren. Wer in Deutschland
lebt, muss diese zentralen Werte und Normen kennen
Die Frage, weshalb die Einbürgerungszahlen tatsäch- und sie akzeptieren und annehmen. Das ist für mich eine
lich zurückgegangen sind, ist sicherlich zu stellen. Nun unabdingbare Voraussetzung, um die Staatsbürgerschaft
muss man dazu sagen, dass die Einbürgerung eine indi- zu erlangen. Nur so macht das auch Sinn.
viduelle und freiwillige Entscheidung eines jeden Aus-
länders ist, der die Voraussetzungen dafür erfüllt. Auf Schließlich muss ich Ihnen noch eines sagen: Die bis-
diese persönliche Entscheidung kann und sollte die Poli- her vorliegenden Erkenntnisse darüber, warum viele die
tik nur begrenzt Einfluss nehmen. Einbürgerung nicht für sich beantragt haben, fußen da-
rauf, dass sie es nicht als notwendig empfinden. Bringen
Zudem sollten die Ergebnisse des inzwischen von der wir es doch einmal auf den Punkt: Abgesehen von all
Bundesregierung eingeleiteten längerfristigen For- den Rechten, die ihnen das Ausländerrecht sowieso gibt,
schungsprojektes über die Motive von Ausländern, sich ist das Recht zur Beteiligung an der Wahl das Einzige,
einbürgern zu lassen oder auch darauf zu verzichten, zu- was die Einbürgerung hier langfristig lebenden Auslän-
nächst einmal abgewartet werden. Das ist ein Grund, dern zusätzlich bringt. Auf der anderen Seite steht die
weshalb wir Ihren Antrag ablehnen. mit einer Einbürgerung verbundene Pflicht, die sie mög-
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sehr verwun- licherweise scheuen. Ich bin deshalb gar nicht sicher, ob
(B) derlich!) die Zahl derer, die die Einbürgerung beantragen, die (D)
Zahl jener, die eingebürgert werden, tatsächlich über-
Der zweite Grund ist, dass die von Ihnen geforderten steigt.
Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes den bis-
herigen bewussten und auch richtigen Festlegungen des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutschen Bundestages überwiegend zuwiderlaufen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Beginnen wir mit Ihrer Forderung, auf die Teilnahme
an Staatsbürgerschaftskursen als Einbürgerungsvoraus- Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Daniela
setzung zu verzichten. Stattdessen sollen die Kurse frei- Kolbe.
willig und kostenfrei sein. Ich persönlich betrachte es als (Beifall bei der SPD)
selbstverständlich und eine absolut unabdingbare Vo-
raussetzung, dass sich ein Mensch, der beabsichtigt, dau- Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
erhaft in einem Land zu leben, Kenntnisse über dieses
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
Land, seine politischen und gesellschaftlichen Struktu-
und Herren auf den Tribünen, Sie haben sich heute eine
ren sowie seine Geschichte und seine Werte verschafft.
spannende Debatte zum Thema Staatsangehörigkeits-
Dies ist in meinen Augen ein unverzichtbarer Teil eines
recht ausgesucht. Die Linke bemerkt zu Recht, dass wir
notwendigen Integrationsprozesses, ohne den Integra-
in den letzten Jahren sinkende Einbürgerungszahlen zu
tion gar nicht möglich ist.
beobachten haben. Ich persönlich finde das beunruhi-
Wir reden hier doch von Menschen, die aus völlig an- gend. Erhielten auf dem Allzeithoch im Jahre 2000 nach
deren Kulturkreisen stammen. Wir alle haben in der Ver- der rot-grünen Reform der Staatsangehörigkeit noch
gangenheit die Erfahrung gemacht, dass sich viele der etwa 190 000 Menschen einen deutschen Pass, so sind es
Migrantinnen und Migranten diese Kenntnisse eben heute, zehn Jahre später, nur noch etwa 90 000 Men-
nicht freiwillig aneignen. Ich finde Ihre Forderung des- schen.
halb wirklich absurd. Sie haben eben auch von den Ein- Damit liegen wir leider wieder fast auf dem Niveau von
bürgerungstests gesprochen. Diese wirken Ihrer Auffas- vor der Reform. Dabei war es doch das Ziel von Rot-
sung nach abschreckend. Das kann von der Sache her Grün, dass mehr Menschen die deutsche Staatsangehö-
nicht stimmen. 98,5 Prozent der Einbürgerungstests wer- rigkeit anstreben und auch erhalten.
den bestanden, und zwar in allen Bundesländern. Wie
soll ein solcher Test dann abschreckend wirken? Ich (Patrick Döring [FDP]: Denken Sie mal da-
kann auch Ihre Forderung nicht nachvollziehen, dass rüber nach!)
5734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Die Fristen für eine Einbürgerung sollen verkürzt Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
(B) werden. Hierfür sehe ich eine reelle Möglichkeit. Nicht Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- (D)
nur die SPD und die Linke befürworten eine Verkürzung ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich die
der erforderlichen Aufenthaltsdauer auf sechs bzw. fünf Gelegenheit nutzen – ich glaube, heute darf man das
Jahre, sondern auch die FDP ist für eine Einbürgerung noch –, Ihnen, sehr verehrte Frau Präsidentin, sehr herz-
nach fünf Jahren. Das finde ich richtig. Ich gratuliere der lich zu Ihrem gestrigen Geburtstag zu gratulieren und Ih-
FDP zu dieser Forderung. Turboeinbürgerung nennt man nen für die Zukunft alles Gute zu wünschen.
das; das finde ich gut.
(Beifall)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP – Frank Der Antrag der Linkspartei, den wir heute debattie-
Hofmann [Volkach] [SPD]: Dazu hat er nichts ren, ist sowohl integrationspolitisches als auch gesell-
gesagt! – Patrick Döring [FDP]: Unser Pro- schaftspolitisches Harakiri.
gramm ist halt gut!) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist jetzt aber Japanisch!)
Wir sind dafür, den Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatigkeit aufzugeben. Auch hierin stimmen wir Die Forderungen, die Sie stellen, sind völlig realitätsfern
mit der SPD, der Linken und der FDP überein. Zahlrei- und weltfremd. Zu Ihrem Antrag fällt mir nur eines ein:
che Untersuchungen haben bestätigt, dass, wenn auslän- alter Wein in neuen Schläuchen. Vor vier Jahren haben
dische Staatsangehörige ihre bisherige Staatsangehörig- Sie exakt die gleichen Forderungen in einem ähnlichen
keit behalten dürfen, die Bereitschaft zur Einbürgerung Antrag gestellt; Sie haben lediglich die Begründung aus-
um ein Vielfaches steigt. Eine nachvollziehbare Begrün- gewechselt. Am Forderungskatalog haben Sie nichts ge-
dung, an dem Verbot der Mehrstaatigkeit festzuhalten, ändert. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mir kommt der An-
gibt es nicht. trag der Fraktion Die Linke vor wie das Ungeheuer von
Loch Ness – in unregelmäßigen Abständen taucht er im-
(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das sieht das mer wieder auf. Aber ich bin zuversichtlich, dass Ihr An-
Bundesverfassungsgericht aber anders!) trag das gleiche Schicksal wie das Ungeheuer von Loch
Ness erfahren wird: Es ist nie Realität geworden.
Wie meine Kollegin von der SPD bereits gesagt hat, hat
auch der Ministerpräsident von Niedersachsen neben Weil Sie immer behaupten, die Einbürgerungszahlen
der deutschen eine ausländische Staatsangehörigkeit. seien im Vergleich zu den 90er-Jahren dramatisch zu-
Keiner sieht deswegen unsere freiheitlich-demokrati- rückgegangen, muss ich sagen: Sie verwechseln hier Äp-
sche Grundordnung in Gefahr. fel mit Birnen. In den 90er-Jahren hat das Statistische
5738 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Klaus Riegert
(A) EU-Kommission mit den 27 EU-Mitgliedstaaten und be- sichtlich finanzieller Förderprogramme, sondern für (C)
deutenden Sportorganisationen inhaltliche Vorschläge alle Maßnahmen der Sportagenda als Grundsatz gelten.
zur Ausgestaltung des neuen Sportartikels zu finden. Dabei ist der Sport mit dessen sozialer Wirklichkeit und
Gleichwohl vielfältiger Aspekte weist die EU-Kommis- Besonderheit in Abgrenzung zur Wirtschaft in angemes-
sion in ihrem Non-Paper auf eine Priorisierung der an- sener Weise zu berücksichtigen. Basale Prinzipien wie
gestrebten Ziele nach Größe des Mehrwertes und Hand- zum Beispiel das Subsidiaritätsprinzip und die Autono-
lungsbedarfs hin. Zudem wird auf ihre lediglich mie des Sports sichern daran anknüpfend ein nachhalti-
unterstützende Kompetenz für eine Zusammenarbeit der ges Sportmodell in Europa mit zukünftig sinnvollen,
Mitgliedstaaten und auf die begrenzten finanziellen Mit- konzentrierten und vor allem realisierbaren Maßnah-
tel hingewiesen. Es soll nicht um die Auflistung eines men.
möglichst breiten Ziel- und Forderungskataloges gehen,
Die Potenziale des Sports in Europa erhalten ihre Ge-
sondern um den Fokus auf gut begründbare und gewich-
staltungskraft und Signalwirkung erst durch eng defi-
tete Ziele mit einem Wertzuwachs auf europäischer
nierte und rational-nachvollziehbare Ziele. Dabei be-
Ebene. Eine Missachtung dieses grundlegenden Hinwei-
schränken sich diese Zielvorstellungen längst nicht
ses der EU-Kommission durch Aufführen von mehr als
mehr auf rein wirtschaftliche oder rechtliche Verbin-
25 Punkten weckt Unverständnis – nicht nur im Blick auf
dungslinien und Implikationen des Sports in der EU,
die zukünftige Konsensfindung und inhaltlichen Über-
sondern reichen ebenfalls hin zu sozialen Funktionen,
schneidungsbereiche der 27 EU-Mitgliedstaaten. Aber
zum Beispiel im Sinne von Integrationsleistungen für ein
genau dies findet man in den Anträgen der Fraktion
„Europa der Bürger“. In Anschluss an das erwähnte
Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion, wobei
EU-Weißbuch des Sports und den „Aktionsplan Pierre
die Grünen geschickterweise ihre 25 Punkte in fünf Un-
de Coubertin“ sollen auf europäischer Ebene verbin-
terpunkte gepackt haben. Das Initiativrecht für Maßnah-
dende Werte und Ziele, wie Fairness, gegenseitige Ach-
men im Sport verbleibt jedoch schließlich bei der Euro-
tung und Respekt im und durch den Sport gefördert wer-
päischen Kommission. Es genügt zusammenfassend
den. In Analogie zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion
demnach nicht der undifferenzierte Wahlspruch „Den
werden unter Berücksichtigung der genannten Prinzi-
Sport in Europa voranbringen“, sondern es bedarf der
pien daher zielgerichtete Vorschläge aus vier Themen-
Beachtung der strukturellen, institutionellen und rechtli-
feldern benannt, die zudem auch bei wichtigen Partnern
chen Rahmenbedingungen sowie einer Abwägung der
Deutschlands in der EU auf breite Zustimmung treffen:
sportpolitischen Inhalte. Auch die wohl gemeinte Idee,
Die Förderung des Antidopingkampfes, die Verbesse-
„den Lissabon-Vertrag mit Leben zu füllen“, darf mit ei-
rung der dualen Karrieremöglichkeiten und der Mobili-
nem breiten Forderungskatalog nicht einer inhaltlich,
tät von im Sport Beschäftigten, die Bedeutung von kör-
thematischen Zerstreuung oder Überforderung gleich-
(B) kommen. Eine nachhaltige EU-Sportagenda bedarf perlicher Aktivität und des Sports für Gesundheit und (D)
Prävention sowie das bürgerschaftliche Engagement.
eines angemessenen Entwicklungsprozesses und nicht
einer überstürzten Anhäufung oder vorschnellen Über- Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich in
frachtung. der EU für eine maßvolle Fortentwicklung der EU-
Sportpolitik einzusetzen:
Trotz diverser durchaus interessanter Vorschläge zur
EU-Sportagenda können sportpolitische und vor allem Erstens. Durch die Einrichtung eines Netzwerkes der
EU-rechtliche Rahmenbedingungen nicht ignoriert wer- europäischen Antidopingorganisationen, NADOs, sowie
den. So kann von einer Harmonisierung der nationalen einer „Monitoring-Task-Force“ kann der Kampf gegen
Rechtsvorschriften in weiten Teilen nicht ausgegangen Doping im Sport maßgeblich unterstützt und weiterent-
werden. Weiterhin sollen die Chancen für den Sport und wickelt werden.
für Europa in gemeinsamer Verantwortung wechselsei- Zweitens. Die Möglichkeiten einer dualen Karriere
tig genutzt werden, ohne dabei gleichzeitig einer büro- sollen durch die Anerkennung von Trainerlizenzen und
kratischen Überregulierung mit Überwachungs-, Prü- äquivalenten Ausbildungsinhalten auf EU-Ebene sowie
fungs- und Koordinationsmechanismen zur Umsetzung durch die Unterstützung der Mobilität von im Sport be-
der EU-Leitlinien zu verfallen. Letztlich steht der Wert- schäftigten Personen deutlich verbessert werden. Die
zuwachs für den europäischen Sport mit dessen Agenda erfolgreiche, berufliche Eingliederung von Athleten
im Vordergrund und nicht unnötiges Behördenhandeln. steht im Mittelpunkt dieses Anliegens.
Zu beachten ist ebenfalls, dass trotz des Lissabon-Ver-
trages im Sport auf Europaebene auch zukünftig keine Drittens. Im Blick auf die Bedeutung des Sports und
Rechtsakte erlassen, sondern nur Empfehlungen ausge- der Bewegung für Gesundheit und Prävention sollen
sprochen und daraufhin finanzielle Zuwendungen ge- Programme in Verbindung zu den EU-Leitlinien für kör-
steuert werden. Legitimieren lassen sich diese Zuwen- perliche Aktivität ohne bürokratische Überregulierun-
dungen und Maßnahmen im Sport weiterhin nur durch gen fortgeführt werden. Hierbei sind vielfältige Aktivitä-
einen eindeutig transnationalen Bezug und Mehrwert ten in Anlehnung an den Nationalen Aktionsplan „IN
auf EU-Ebene. Denn nur vor dem Verständnis einer re- FORM“ unter Berücksichtigung der regionalen, natio-
flektierten und zielgerichteten Unterstützung durch die nalen Gegebenheiten sowie des europäischen Kontextes
EU kommt man einem aufgeklärten Verständnis des zu erschließen bzw. durchzuführen. Ziel ist es, durch eine
Sports in Europa nach – jedoch nicht mit einer allein verbesserte Aufklärung und Sensibilisierung der Men-
wohlgemeinten Alimentation und letztlichen Bevormun- schen das Ernährungs- und Bewegungsverhalten in
dung. Dieses Verständnis sollte jedoch nicht nur hin- Deutschland und in der EU nachhaltig zu verbessern.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Die CDU/CSU und die FDP fordern in ihrem Antrag,
Fairness, Achtung und Respekt – das sind Tugenden, den Fokus auf gut begründbare und gewichtete Ziele zu
die weltweit Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene legen. Zudem muss der Mehrwert auf europäischer
im Sport mit am besten verinnerlichen können. Deshalb Ebene ersichtlich sein. Der Antrag von CDU/CSU und
begrüße ich es einerseits, dass die Europäische Union FDP respektiert und schützt die Autonomie des Sports.
mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und mit Wir warnen vor einer Bevormundung durch die EU.
Art. 165 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi- Wenn die Akteure auf EU-Ebene allerdings die Autono-
mie des Sportes anerkennen und reflektiert sowie zielge- (D)
(B) schen Union den Sport unterstützen will. Andererseits
möchte ich ausdrücklich bedenken: Ich sehe durchaus die richtet unterstützen, können wir mit einem aufgeklärten
Gefahr, dass Sportler und Beschäftigte im Sport plötz- Verständnis von Sport in Europa gewinnen.
lich unnütz hohe bürokratische Hürden auf EU-Ebene Vor allem beim Kampf gegen Doping ist der Mehr-
mit komplizierten Überwachungs-, Prüfungs- und Koor- wert ersichtlich. Der Markt für Dopingmittel, der sich
dinationsmechanismen erklimmen müssen. leider nicht nur an Profisportler, sondern zunehmend
Das Prinzip der Subsidiarität muss deshalb unbe- auch an Breitensportler richtet, kümmert sich nicht um
dingt gewahrt bleiben. Es muss Aufgabe der Bundesre- Ländergrenzen. Deshalb ist es unsere Pflicht und auch
gierung sein, die Autonomie des Sport, die grundlegend unser Wunsch, die Dopingbekämpfung auf EU-Ebene
für ein Engagement der Bürger ist, zu wahren. Nur wenn besser zu koordinieren. Die Gründung eines EU-Netz-
wir das schaffen, fördern wir das sportliche Engagement werkes der nationalen Antidopingorganisationen ist hier
der Bürger weiterhin effektiv und nachhaltig. Deshalb eine große Chance.
fordern die CDU/CSU und die FDP eine klare, ver- Ich bin mir sicher: Mit dem Antrag der CDU/CSU
ständliche und zielgerichtete Regelung. und der FDP schaffen wir eine Basis sowohl für den
Darum kann ich es auch nicht verstehen, dass die Breiten- als auch für den Spitzensport. Die Bürgerinnen
Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom Bünd- und Bürger bekommen mit uns bessere duale Karriere-
nis 90/Die Grünen schwammig formulierte Anträge stel- möglichkeiten. Darüber hinaus schaffen wir für Be-
len. Damit leisten Sie einem undurchsichtigen Regel- schäftigte im Sport mehr Mobilität. Das Wichtigste
werk doch geradezu Vorschub. bleibt aber, dass wir bessere Bedingungen schaffen, mit
Sport die Gesundheit und Prävention sowie das bürger-
Die EU-Kommission forderte mit ihrem Non-Paper schaftliche Engagement zu stärken.
auf, zu priorisieren und zu konzentrieren. Mit ihrem An-
trag erfüllt die SPD-Fraktion diese Aufgabe nur be-
Martin Gerster (SPD):
dingt. Sie listen zwar 19 Aspekte auf, setzen aber keine
Schwerpunkte. Die verehrten Kolleginnen und Kollegen Wir diskutieren heute drei Anträge zum Thema „Sport
vom Bündnis 90/Die Grünen setzen ebenfalls keine Prio- und Europa“. Der Vertrag von Lissabon bringt neue
ritäten. Kompetenzen Europas für die Förderung des Sports mit
sich, der Art. 165 legt fest, dass die Union zur Förde-
Hinzu kommt, dass beide Parteien die Autonomie des rung der europäischen Dimension des Sports beiträgt.
Sports, die im Spannungsfeld zum EU-Recht steht, nur Die Chancen, die sich daraus ergeben, muss die Politik
unzureichend schützen. Die SPD fordert eine stärkere nutzen. Die europäische Sportpolitik wird zukünftig ein
Martin Gerster
(A) wichtiger Bereich der Gemeinschaftspolitik sein, den die dient! Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilt (C)
Koalition, wie allerdings so viele andere Dinge auch, viele unserer Ideen und macht sinnvolle Vorschläge; da-
beinahe verschlafen hätte. Erst unser Antrag, den wir im her werden wir deren Antrag auch zustimmen. Der Ko-
Vorfeld des ersten formellen Sportministertreffens am alitionsantrag hingegen ist nichtssagend; mehr als Flos-
10. Mai 2010 eingebracht haben, um unsere Vorstellung keln sind nicht erkennbar. Glauben Sie in der Tat, dass
von Schwerpunkten europäischer Sportpolitik deutlich der Kampf gegen Doping nur gewonnen werden kann
zu machen, war für die Koalition der Weckruf. Aller- durch Netzwerke zwischen den europäischen Antidoping-
dings hat es bis zum 16. Juni 2010 gedauert, bis die Ko- organisationen? Was ist denn aus dem Versprechen der
alition ihren – aus unserer Sicht inhaltlich dürftig gehal- Bundeskanzlerin am Rande der Leichtathletik-WM 2007
tenen – Antrag formuliert hatte. Ich will der Koalition in Osaka geworden, sich auf internationaler Ebene für
keine Unlust unterstellen. Wahrscheinlich lag es viel- eine konsequente Bekämpfung des Dopings einzusetzen?
mehr daran, dass für die Koalition nach den Vorschlä- Ich hoffe, dass die anderen europäischen Regierungen
gen aus unserem fast zwei Monate vorher eingebrachten tiefergehende Vorschläge machen werden als die von Ih-
Antrag keine weiteren guten Ideen mehr übrig waren. nen angeregte Anerkennung von Trainerlizenzen auf eu-
Diese Annahme wird noch deutlicher, wenn man den In- ropäischer Ebene. Das ist sicher wichtig, aber es gibt
halt des Koalitionsantrages „Europa in Bewegung – Mit größere sportpolitische Projekte in Europa.
Kompetenz und Verantwortung für einen europäischen
Mehrwert im Sport“ genauer betrachtet. Dieser enthält
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
nur wenig konkrete Vorstellungen für eine moderne eu-
ropäische Sportpolitik. Statt Chancen und Herausforde- Der Vertrag von Lissabon ist ein Meilenstein für den
rungen zu suchen, bremst sich die Koalition im Antrags- europäischen Einigungsprozess – und für die Sportpoli-
text selbst aus: Was bitte verstehen Sie, liebe tik in Europa. Denn mit dem Vertrag erlangt die Euro-
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, denn un- päische Union erstmals Kompetenzen für die Förderung
ter einer nicht wünschenswerten „wohlgemeinten Ali- der europäischen Dimension des Sports. Einher mit die-
mentation“ bei gleichzeitig „hoch zu achtender Autono- ser neuen Kompetenz geht eine Verantwortung für die
mie des Sports“, der „der Politik selbstverständlich wie inhaltliche Gestaltung der sportpolitischen Zukunft.
bisher einen begrenzenden Rahmen vorgeben“ wird? Diese Verantwortung liegt nicht alleine bei der Europäi-
schen Kommission, sie liegt vor allem bei den Regierun-
Der Bund ist der wichtigste Förderer des Spitzen- gen der Mitgliedstaaten und somit auch bei unserer
sportes, und er alimentiert nur dann nicht, wenn er auch Bundesregierung. Dieser Verantwortung scheint die
zukünftig willens und ermächtigt ist, gewisse Entschei- schwarz-gelbe Koalition aber nicht gerecht werden zu
dungen des autonomen Sports zu hinterfragen oder im können oder zu wollen. Ihr Antrag jedenfalls ist kaum
(B) begründeten Einzelfall auch kritisch zu widersprechen. zielgerichtet, wenig progressiv und weist gar keinen (D)
Ansonsten gölte das Prinzip: „zahlen und schweigen“. Mehrwert auf. Wer so Sport betreibt, wird nicht weit
Das mag der fromme Wunsch des Gesundheitsministers kommen, und dasselbe gilt auch für die Sportpolitik von
an die Bürgerinnen und Bürger sein – nicht nur in der Schwarz-Gelb.
Sportpolitik sieht meine Fraktion dies jedoch ein wenig
anders. Fünf Punkte umfasst der Forderungsteil Ihres Antra-
ges, und den wenigen Gestaltungsideen, die er enthält,
Die Koalition lehnt unseren Antrag ab, da er Priori-
fehlt es leider an jeder Ambition. Mit dem „Kampf gegen
sierung und Konzentration vermissen lasse – eine we-
Doping“, der Förderung „Dualer Karrieren“ und bür-
nig überzeugende Begründung! Wir haben in unserem
gerschaftlichen Engagements sowie einer diffusen Idee
Antrag sehr deutlich gemacht, dass sportpolitische
zur Gesundheitsförderung durch Sport in Europa blei-
Konsequenzen aus dem Lissabon-Vertrag breit und viel-
ben Ihre Forderungen hinter dem Potenzial des Lissa-
schichtig sein müssen. Die Bekämpfung von Doping,
bon-Vertrages für den Sport zurück. Liebe Kolleginnen
Manipulation und Rassismus im Sport muss auch auf eu-
und Kollegen von Union und FDP, machen Sie sich bis
ropäischer Ebene Thema sein. Die Relevanz des Sports
zum nächsten Sportministertreffen ein paar zusätzliche
als Instrument der Begegnung und damit europäischer
Gedanken, damit Deutschland bei den Beratungen im
Integration und die Wichtigkeit von Ehrenamt im und für
Rat nicht verfrüht wegen Einfallslosigkeit und mangeln-
den Sport und der Wunsch nach Förderung des bürger-
der Motivation ausscheidet. Welche Arbeitsaufträge
schaftlichen Engagements in Europa sollten unstrittig
wollen Sie der von Ihnen getragenen Regierung für die
sein. Die europäische Dimension des Sports geht aber
darüber hinaus, es gibt wichtige Überschneidungen europäische Sportpolitik mitgeben? Sie haben, das wis-
auch in andere Politikfelder. Darum finden Sie in unse- sen Sie hoffentlich, seit dem Inkrafttreten des Vertrags
rem Antrag auch Forderungen in Richtung Entwick- von Lissabon und der entsprechenden Begleitgesetze die
lungs-, Medien-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Möglichkeit, ja die Verantwortung, an der deutschen
Dazu müssen Finanzmittel zur Verfügung stehen – daher Politik in Europa mitzuwirken. Das Knüpfen neuer Anti-
unsere Forderung nach einer sinnvollen und ausreichen- dopingnetzwerke und die Einrichtung einer Monitoring-
den Ausgestaltung des geplanten EU-Sportförderpro- Task-Force können doch nicht im Ernst Ihre finalen
gramms. Ideen einer europäischen Strategie in der Dopingbe-
kämpfung sein. Wir, die SPD-Fraktion, haben Ihnen mit
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, auch unserem Antrag eine gute Vorlage für eine breite inhalt-
wenn Sie es bestreiten, unser Antrag hat sehr wohl eine liche Diskussion mit den Sportministerinnen und Sport-
klare Ausrichtung – daher hätte er Ihre Zustimmung ver- ministern gegeben. Wir sind Ihnen sicher nicht böse,
Jens Petermann
(A) Europa hinter dieses eine Team gestellt hätte – wie ganz stellt, das der Koalitionsantrag schlicht negiert: Rassis- (C)
Afrika hinter Ghana stand. mus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Sport ist identitätsstiftend, und unsere europäische Das ist nicht nur fahrlässig, das ist gefährlich und
Identität steckt noch in den Kinderschuhen – nicht nur ignorant.
im Sport, aber hier ganz besonders.
Mithilfe der neuen Kompetenzen auf der europäi-
Was ist dann also europäischer Sport, wie lassen sich schen Ebene muss jetzt die Chance genutzt werden, um
hier Gemeinsamkeiten herausbilden – ohne dass sie den Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
einfach von oben zu solchen erklärt werden? In den An- Rechtsextremismus voranzutreiben – das gilt für den
trägen aller Fraktionen werden verschiedene Problem- Spitzensport, aber insbesondere für den Breitensport.
stellungen durchaus treffend aufgezeigt. Aber die Weg-
beschreibungen zu möglichen Lösungen fehlen. Und die Inzwischen lässt sich zwar im Fußball, bei den Fans
allzu kurze „Debatte“ im Sportausschuss hat gezeigt, der einzelnen Nationalmannschaften in Europa, ein
dass es dazu aus der Regierung auch wenig Ideen gibt. Rückgang der sichtbaren rechtsextremen Äußerungsfor-
men feststellen. Bei Auswärtsspielen aber haben mas-
Die Linke hat dazu Ideen, die sich vor allem auf den
sive rassistische und/oder rechtsextreme Verhaltenswei-
Breitensport konzentrieren. Wir haben es auch bereits
sen Konjunktur. Ich will hier nur an die Spiele der
mehrfach gesagt: Um Schul-, Freizeit- und Vereinssport
Deutschen Nationalmannschaft in Celje im März 2005
sinnvoll zu fördern, brauchen wir ein Sportfördergesetz
und Bratislava im September 2006 erinnern.
des Bundes. Was bringt es, wenn die Länder und Kom-
munen alleine vor sich hin fördern, die Maßnahmen Allerdings sind das keine neuen Erscheinungen, son-
aber nicht sinnvoll miteinander verzahnt werden? dern konstatieren eine sogenannte „Wellenbewegung“
An einem Beispiel lässt sich die Notwendigkeit, die von gewalttätigen Ausschreitungen, vor allem bei Spie-
verschiedenen Ebenen der Sportförderung zu verbinden, len in Osteuropa. Der bereits angedeutete Rückgang von
gut darstellen: Am Sportgymnasium in Oberhof – in mei- problematischen Verhaltensweisen, bedeutet nicht unbe-
nem Thüringer Wahlkreis – gibt es ein Nachwuchspro- dingt einen Rückgang von problematischen Einstel-
blem bei den Rodeltrainern: Zum einen sind da die lungsmustern. Interviews von Fans und Experten weisen
Anforderungen einer pädagogischen Ausbildung und darauf hin, dass problematische Einstellungsmuster
der leistungssportlichen Erfahrung. Das allein ist schon – insbesondere im Rechtsextremismus – unsichtbarer
sehr anspruchsvoll. Auf der anderen Seite gibt es die Ar- geworden sind. Genau hier muss die Idee von einem ge-
beitsverträge für Lehrer, die stets für ein Jahr auf ge- meinsamen Europa ansetzen, um diesen europafeindli-
chen Strömungen entgegenzuwirken.
(B) ringstmöglichem Tarifniveau befristet sind. Sowohl (D)
sportlich als auch persönlich ist auf dieser Basis eine Auffallend auf nationaler Ebene ist, dass es eine Ver-
wenigstens mittelfristige Planung unmöglich. Irgendwie lagerung von rassistischen und rechtsextremen Verhal-
kann man da schon verstehen, dass es eigentlich keine tensweisen von der Bundesliga in die unteren Ligen gibt.
Anwärter für den Job gibt. Aber der Bund am Olympia- Die Hauptursache hierfür, liegt im Fehlen von Fanpro-
stützpunkt Oberhof und das Land, das den Lehrer bezah- jekten und der mangelnden finanziellen Ausstattung un-
len muss, haben halt unterschiedliche Vorstellungen. terklassiger Vereine. Dieser Fehlentwicklung könnte
Wer so agiert, stellt die Zukunft des Sportnachwuchses man mit einem bundesweiten Sportfördergesetz entge-
in Frage. genwirken, um sozialpräventive Fanarbeit der Vereine
Sowohl das „Weißbuch Sport“ als auch die Ent- mit finanziellen Mitteln zu unterstützen. Dabei sollte An-
schließung des Europäischen Parlaments haben dem tirassismus als Querschnittsaufgabe und nicht als
Breitensport eine herausgehobene Rolle zugeschrieben. Pflichtprogramm in einer europaweiten und internatio-
Aber der Bund ziert sich weiterhin, hier eine Verschie- nalen Debatte verstanden werden. Ausgangspunkt muss
bung der Schwerpunkte vorzunehmen. Die schwarz-gel- dabei eine kontinuierliche Arbeit mit unterschiedlichen
ben Koalitionäre haben dem vor wenigen Monaten gar Ansätzen und einer konstruktiv-vernetzenden Zusam-
noch die Krone aufgesetzt. Das Sportstättenprogramm menarbeit der verschiedenen Akteure sein.
„Goldener Plan Ost“ wurde gestrichen, statt es auf ma-
rode Sportanlagen auch in den alten Ländern auszudeh- Und noch etwas möchte ich hier anmerken: Rassis-
nen – wie von der Linken gefordert. Die Bundesregie- mus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus wer-
rung überlässt die Plätze und Hallen allein den leeren den im Fußballstadion durchaus wahrgenommen und
Kassen der Kommunen. Das ist gesellschaftspolitischer zum Teil kritisch diskutiert. Schwulenfeindlichkeit und
Unsinn. Sexismus hingegen werden immer noch nahezu totge-
schwiegen. Es hat sich so etwas wie eine Hierarchie von
Dem Antrag der Koalition können wir aus mehreren Diskriminierungen entwickelt. Homophobe Fangesänge
Gründen nicht zustimmen. Allerdings möchte ich einen gehören zum Standardrepertoire in vielen Fußballsta-
ganz besonders hervorheben. Schwarz-Gelb ist stolz, dien, die nicht weiter infrage gestellt werden. Gleichzei-
dass sich ihr Vorhaben „Sport in Europa“ auf fünf tig gehört Fußball zu einer der letzten gesellschaftlichen
Punkte konzentriert und nicht so eine Ansammlung von Bastionen, in denen Homosexualität weitgehend ein
Aufgaben aufzählt wie die Anträge von SPD und Grü- Tabu ist. Sexistische Merchandising-Artikel sind weit
nen. Aber in diesen Ansammlungen wird ein Problem verbreitet und gelten als „normaler“ Bestandteil der
wenigstens benannt, das ein wirkliches Problem dar- Fankultur.
Thomas Bareiß
(A) haben wir seit dem Programmstart 2006 bis Ende 2009 uns aber nicht ausruhen dürfen. Weitere Maßnahmen (C)
insgesamt rund 6 Milliarden Euro Fördermittel für die werden daher schon in Kürze folgen.
Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt. In demselben
Zeitraum hat die KfW rund 550 000 Kredite und Zu- Dabei spielt das für Ende des Jahres geplante Ener-
schüsse mit einem Volumen von fast 30 Milliarden Euro giekonzept der Bundesregierung eine wichtige Rolle. Ich
bewilligt. Mit den Fördermitteln wurden in diesem Zeit- will an dieser Stelle nochmals davor warnen, dass sich
raum knapp 1,42 Millionen Wohnungen saniert oder be- die Diskussion um das Energiekonzept auf den Punkt
sonders energieeffizient errichtet, zudem rund 630 kom- Kernenergie beschränkt. Dies ist sicherlich ein wichti-
munale Einrichtungen. ges Thema. Allerdings halte ich das Thema Energieeffi-
zienz ebenfalls für essenziell. Bei dem Energiekonzept
Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zum Klima- werden wir deshalb darauf achten, klar herauszuheben,
schutz. Der jährliche CO2-Ausstoß verringerte sich infolge mit welchen Mitteln wir unsere ambitionierten Ziele er-
der geförderten Baumaßnahmen um fast 4 Millionen Ton- reichen können.
nen. Zudem wurden jährlich bis zu 290 000 Arbeitsplätze
gesichert oder geschaffen. Fünftens Fazit. Die Steigerung der Energieeffizienz
ist der Königsweg – nicht nur, um unsere ehrgeizigen
Anfang des Jahres haben wir die Mittel zur Förde- Klimaziele zu erreichen, sondern ebenso aus Gründen
rung von Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanie- der Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit.
rung im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungspro- Mit dem Gesetz zur Umsetzung der EU-Energiedienst-
gramms nochmals um 400 Millionen Euro erhöht. Ich leistungsrichtlinie ist ein wichtiger Schritt getan. Das im
werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass diesem Herbst anstehende Energiekonzept wird unsere weiter-
meines Erachtens sehr wichtigen Programm in den an- gehenden ambitionierten Ziele im Bereich der Energie-
stehenden Haushaltsberatungen angemessene Priorität effizienz untermauern.
eingeräumt wird.
Drittens Stellenwert der Energieeffizienz. Ich denke, Rolf Hempelmann (SPD):
wir sind auf einem sehr guten Weg, ruhen uns aber auf Ich denke, es herrscht Einigkeit in diesem Hohen
dem Erreichten nicht aus. Bei der Energieeffizienz lie- Hause darüber, dass die Energieeffizienz einer der
gen noch erhebliche Potenziale; das gilt nicht nur für wichtigsten Grundpfeiler der Energiepolitik ist. Ein effi-
die Seite der Energiebereitstellung, sondern vor allem zienter und sparsamer Einsatz von Energie bietet Privat-
auch auf der Nachfrageseite. Dem Verbraucher kommt haushalten und Unternehmen die Möglichkeit signi-
hierbei eine Schlüsselrolle zu. Es gilt, die Verbraucher fikanter Kostensenkungen. Darüber hinaus ist
zu überzeugen, selbst aktiv Energie einzusparen. Das Energieeffizienzpolitik ein wichtiger Teil der notwendi-
(B) schont nicht nur den eigenen Geldbeutel, sondern vor gen Klimapolitik. Wenn wir die ökonomischen und öko- (D)
allem die Umwelt. Wir als Politik müssen verstärkt die logischen Potenziale der Steigerung der Energie-
Rahmenbedingungen im Interesse der Verbraucher und effizienz heben wollen, müssen wir – und darauf habe
im Dialog mit allen Akteuren gestalten. ich schon in der ersten Lesung dieses Gesetzes hinge-
Was wir dabei allerdings nicht aus dem Blick verlie- wiesen – weitgreifende Umwälzungen in allen Energie-
ren dürfen, ist die Frage, inwieweit der Staat in die sektoren anstoßen.
Eigentumsrechte der Bürger eingreifen darf. Bei aller
Notwendigkeit der CO2-Gebäudesanierung dürfen wir Umso mehr bedauere ich, dass wir hier und heute ei-
diesen wichtigen Aspekt nicht vergessen. Gerade für die nen Gesetzentwurf abschließend beraten, der den Anfor-
Häuslebauer in meiner schwäbischen Heimat ist das derungen an eine wirksame und nachhaltige Energie-
Wohnungseigentum heilig. effizienzpolitik in keiner Weise genügt. Es fehlt an
konkreten Zielen und Maßnahmen. Stattdessen ist der
Die Parole lautet daher: Anreizsetzung und nicht vorliegende Entwurf eine Ansammlung von Verord-
Zwangsmaßnahmen. Auch hier vertraue ich ganz auf nungsermächtigungen, anhand derer die Bundesregie-
das Funktionieren des Marktes. Wenn die Verbraucher rung irgendwann in der Zukunft mögliche Effizienzziele,
sehen, dass sich Investitionen lohnen, werden sie auch die Art und Weise der Energieberatung sowie die Sorge-
entsprechend Geld in die Hand nehmen. pflicht der Energieanbieter definieren soll. Darüber hi-
naus setzt der Gesetzentwurf einseitig auf nachfragesei-
Voraussetzung dafür ist natürlich auch Transparenz,
tige Maßnahmen. Eine Steigerung der Energieeffizienz
für die der Staat als Rahmensetzer zu sorgen hat. Mit der
und eine damit verbundene Erhöhung der Energiepro-
Verbesserung der Energiedienstleistungen leisten wir
duktivität setzt aber auch Effizienzsteigerungen auf der
mit der Umsetzung der EU-Richtlinie dafür einen wich-
Erzeugerseite voraus. Vor gerade einmal zwei Jahren
tigen Beitrag.
hat sich die damalige Große Koalition unter der Füh-
Viertens weitere Maßnahmen: Energiekonzept. Die rung von Kanzlerin Angela Merkel im Integrierten Ener-
Umsetzung der EU-Richtlinie ist nur ein Schritt, um gie- und Klimaprogramm mit breiter Unterstützung im
beim Thema Energieeffizienz weiter voranzukommen. Deutschen Bundestag das Ziel gesetzt, die Energiepro-
Klar ist auch, dass diese Richtlinie kein Meilenstein ist, duktivität bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 zu verdop-
und zwar aus dem Grund, dass wir mit unseren Effi- peln und den Stromverbrauch um 11 Prozent zu senken.
zienzmaßnahmen zum größten Teil bereits viel weiter Nach einem knappen Jahr schwarz-gelber Regierungs-
sind, als es die Richtlinie fordert. Wir haben in den letz- verantwortung ist von diesen als allgemein richtig und
ten Jahren bereits große Erfolge erzielt, auf denen wir wichtig anerkannten Zielen keine Rede mehr. Und genau
Klaus Breil
(A) Deutschland liegt schon heute im internationalen Steuerung des Energieverbrauchs setzt. Wir haben auch (C)
Vergleich gemeinsam mit Japan in der Gruppe derjeni- die Heizkostenverordnung novelliert und damit den ver-
gen Staaten mit der geringsten Energieintensität oder brauchseigenen Anteil an der Heizkostenabrechnung bei
der höchsten Energieproduktivität. Seit 1990 wurde der Mietwohnungen erhöht. Wenn diese Maßnahmen mal
Primärenergieverbrauch bei wachsendem Inlandspro- nicht den Spargedanken auf der Nutzerseite wecken!
dukt in Deutschland absolut sogar gesenkt. Diese Ent-
koppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschafts- Zu guter Letzt wurde gestern vom Haushaltsaus-
wachstum ist die wichtigste globale Herausforderung, schuss des Deutschen Bundestages das Marktanreizpro-
um nachhaltige Fortschritte im Klimaschutz zu erzielen. gramm in voller Höhe freigegeben. Die FDP hat lange
für diese Lösung gekämpft; das zahlt sich nun aus. Mit
Sie ist aber auch eine Herausforderung für die deut- den freigegeben Mitteln in Höhe von 115 Millionen Euro
sche Industrie. Trotz aller Fortschritte kann bei Energie- können nun wieder Solarkollektoren, Biomasseheizun-
effizienz immer noch von einem „schlafenden Riesen“ gen und Wärmepumpen gefördert werden. Im Übrigen:
gesprochen werden. Es ist einerseits richtig, dass effi- Die Verantwortung für den kurzfristigen Förderstopp
zienzsteigernde oder intensitätsmildernde Maßnahmen trägt der frühere SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel.
einen immer größeren, insbesondere auch finanziellen Es war seine Entscheidung, die Ausgaben des Marktan-
Aufwand erfordern. Andererseits kann sich die deutsche reizprogramms an die Versteigerungserlöse des Emis-
Wirtschaft durch Investitionen in Energieeffizienzmaß- sionszertifikatehandels zu koppeln, die aufgrund der
nahmen besser international im Wettbewerb platzieren. Wirtschaftskrise im letzten Jahr rückläufig waren.
Das ist – neben höheren Qualitätsstandards – auch ein
Beispiel für die Chance, um sich gleichzeitig gegen den Aber zurück zu Sache: Das Thema Energieeffizienz
vorhersehbaren Anstieg des Energiepreisniveaus auf ist lange noch nicht beendet und noch lange sind nicht
den Weltmärkten zu wappnen. alle Potenziale ausgeschöpft. Wir, Union und FDP, wer-
den daher gemeinsam im Herbst bei der Überprüfung
Stichwort „deutsche Industrie“: Unsere Unterneh-
des Integrierten Energie- und Klimaprogramms weiter
men stehen bei „grünen“ Industrieprodukten in der ers-
untersuchen, welche zusätzlichen Maßnahmen im Be-
ten Startreihe. Sie haben sich auf den Weltmärkten einen
reich der Energieeffizienz sinnvoll sind. Auch mit dem
beachtlichen Anteil von über 16 Prozent erarbeitet.
Deutschland zeigt damit besonders den Emerging Mar- für September vorgesehenen Energiekonzept wird die
kets, dass Energieeffizienz und Wirtschaftswachstum Bundesregierung weitere Leitplanken für mehr Energie-
auch bei sinkenden Elastizitäten kein Widerspruch, son- effizienz setzen.
dern – ganz im Gegenteil – nachhaltige Zukunftsinvesti-
(B) tionen in die Wettbewerbsfähigkeit sind. Daher begrüße Dorothée Menzner (DIE LINKE): (D)
ich den jetzt gefundenen Kompromiss bei der Umsetzung Wenn man zu viel Weichspüler nimmt, dann hinter-
der EDL-Richtlinie sehr. Dieses Gesetz folgt auf eine lässt das weiße Flecken. Genau das ist mit dem Gesetz-
ganze Reihe erfolgreich in Kraft gesetzter Maßnahmen entwurf zum Energieeffizienzgesetz passiert. Die Bun-
zur Steigerung der Energieeffizienz in Deutschland. Es
desregierung hat so vehement alle Dinge ausgelassen,
ist ein wichtiger Baustein für mehr Energieeffizienz, mit
die im Hinblick auf Energieeinsparung richtig sinnvoll
dem Deutschland die europäischen Anforderungen rich-
und zielführend gewesen wären, dass der Gesetzentwurf
linienkonform umsetzt.
auch nach der Beratung im Wirtschaftsausschuss nichts
Die Richtlinie – das verkennen die Anträge der Oppo- weiter ist als ein weichgespültes Stück Papier mit wei-
sition – verlangt jedoch nicht, dass in diesem Gesetz alle ßen Flecken und Auslassungen.
Maßnahmen für mehr Effizienz enthalten sein müssten.
Sie lässt vielmehr den Mitgliedstaaten weitgehende Die ganze Energiepolitik der Bundesregierung ist ein
Freiheit, wie der Markt für Effizienzmaßnahmen voran- Desaster, ausgerichtet auf für ihre Begriffe Altbewährtes
gebracht wird. Eine Vielzahl von Maßnahmen, die für und jede Innovation blockierend. Das Problem an die-
das von der Richtlinie geforderte Einsparziel von Bedeu- sem Altbewährten ist nur, dass es fatale Folgen für
tung sind, wurde bereits mit dem Integrierten Energie- Klima, Natur und Menschen hervorgebracht hat. Um
und Klimaprogramm ausgelöst. Ich erwähne hier nur aus dieser Klemme herauszukommen, sind Mut und der
beispielhaft die Öffnung des Messwesens für Strom und Wille sich weiterzuentwickeln gefragt. Wenn sich wirk-
Gas einschließlich der Pflicht für die Installation neuer lich etwas verändern soll, muss die Politik die Vorgaben
intelligenter Zähler oder die Heizkostenverordnung. dafür machen und darf nicht auf die freiwillige Selbst-
verpflichtung der Industrie warten.
Konkret bedeutet das: Messstellenbetreiber müssen
beim Einbau von Messeinrichtungen in neuen bzw. in um- Meine Damen und Herren in der Koalition, Sie glau-
fangreich renovierten Gebäuden solche Messeinrichtun- ben doch nicht wirklich, Sie könnten durch hohle Andeu-
gen einbauen, welche den tatsächlichen Energieverbrauch tungen und Überbürokratisierungen, wie Sie sie hier im
sowie die tatsächliche Nutzungszeit widerspiegeln. Für Gesetzentwurf so eindrucksvoll niedergebracht haben,
Letztverbraucher von Strom müssen Energieversor- zu einer nachhaltigen Energieeffizienzstrategie gelan-
gungsunternehmen bis Ende dieses Jahres – soweit tech- gen? Das wertvollste an dem Gesetz ist das Papier, auf
nisch machbar und wirtschaftlich zumutbar – einen Tarif dem es steht, und es wird zu kaum mehr Energieeinspa-
anbieten, der über lastvariable oder tageszeitabhängige rungen führen, als die Produktion des Papiers erfordert
Parameter Anreize zur Energieeinsparung oder zur hat.
Ingrid Nestle
(A) men, nimmt das Thema Energieeffizienz nicht ernst. Die Wir kommen zur (C)
Bundesregierung würgt die bisherigen Effizienzbemü-
hungen ab und unterschätzt die Tragweite von Energieef- dritten Beratung
fizienzmaßnahmen, und dies nicht nur im Strombereich, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
sondern zum Beispiel bei der PKW-Energieverbrauchs- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
kennzeichnungsverordnung: Hier bevorzugt die Bundes- Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist
regierung schwere Spritfresser, und setzt so falsche An- nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
reize für die deutsche Automobilindustrie. Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung ange-
Oder aber bei den KfW-Mitteln für die Gebäudesa- nommen.
nierung, die massiv gekürzt werden. Aber schlimmer ist Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
noch, dass Deutschland es abgelehnt hat, freigewordene der SPD auf Drucksache 17/2470. Wer stimmt für diesen
115 Millionen Euro aus dem EU-Wachstumspaket für die Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Gebäudesanierung umzumünzen oder dass die Bundes- tungen? – Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
regierung zur Verfügung stehende 680 Millionen Euro Dafür gestimmt haben die Oppositionsfraktionen, dage-
aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gen die Koalitionsfraktionen.
ablehnt und somit verfallen lässt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
Schwarz-Gelb setzt lieber auf Lowtech wie Atom- und tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2471. Wer
Kohlekraftwerke als auf Hightecheffizienzanwendun- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage-
gen. Ohne eine klare Energieeffizienzstrategie wird die gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist da-
deutsche Wirtschaft zum Spielball von steigenden und mit abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/
hoch volatilen Energiepreisen. Hier entscheidet sich die Die Grünen; die Koalitionsfraktionen haben dagegen.
künftige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Die Fraktionen der SPD und der Linken haben sich ent-
Doch die Bundesregierung verharrt weiterhin in ihrer halten.
alten Denke, Energiesparen belaste die Wirtschaft. Da-
bei ist Energieeffizienz ein Anreiz zur Modernisierung, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
der Energieverschwendung stoppt und auf Dauer Geld Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
spart. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Wir haben in unserem Antrag gezeigt, wie ein Ener- zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/
gieeffizienzgesetz aussehen kann. Für den Endkunden- 214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über
bereich fordern wir, konkret Verantwortliche zu benen- die Anwendung des Grundsatzes der gegensei-
(B) nen, die Energieeffizienzmaßnahmen durchführen tigen Anerkennung von Geldstrafen und Geld- (D)
müssen. Für die Industrie fordern wir geregelte Energie- bußen
audits und Energieberatung mit konkreten Energiespar- – Drucksache 17/1288 –
vorschlägen sowie eine verlässliche Evaluation. Wir for-
dern dynamische Effizienzstandards. Wir fordern einen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
Energieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliar- schusses (6. Ausschuss)
den Euro, und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, – Drucksache 17/2458 –
der weniger Schulden aufweist als der Ihre.
Berichterstattung:
Die fehlende Entschlossenheit der Bundesregierung Abgeordnete Ansgar Heveling
wird durch den Entwurf mehr als deutlich. Das Thema Dr. Peter Danckert
Energieeffizienz rückt weiter ins Abseits. Die Bundesre- Jörg van Essen
gierung traut sich nicht, seit langem diskutierte Ideen Jens Petermann
für wirkungsvolle Instrumente aufzugreifen. Stattdessen Jerzy Montag
schlägt sie ein fast wirkungsloses Gesetz vor, weil sie
Angst vor ein paar Großunternehmen der Industrie hat. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, wurden die
Dabei würde die Gesamtwirtschaft von Energieeffizienz Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von folgenden
profitieren. Kolleginnen und Kollegen: Ansgar Heveling, Dr. Peter
Danckert, Jörg van Essen, Jens Petermann und Jerzy
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Montag.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in sei- Ansgar Heveling (CDU/CSU):
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2466, den Europa ist in den letzten Jahren zusammengewach-
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa- sen. Der gemeinsame Binnenmarkt und eine gemein-
chen 17/1719 und 17/2280 in der Ausschussfassung an- same Währung sind für uns seit vielen Jahren eine
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Selbstverständlichkeit. Europa ist aber auch eine Werte-
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das gemeinschaft, und alle Staaten berufen sich natürlich
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und dennoch
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den bestehen gerade in der Justizpolitik deutlich erkennbare
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.
der Oppositionsfraktionen angenommen. Die Harmonisierung von Vorschriften im Bereich der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5753
Ansgar Heveling
(A) Justizpolitik ist daher eine große Herausforderung. Die kunftspflicht hinsichtlich des Fahrers besteht, wobei ein (C)
EU-Mitgliedstaaten haben sich 1999 im finnischen Tam- Verstoß mit Sanktionen belegt ist. Hierzu vertritt der
pere entschieden, diese Herausforderung anzunehmen. Rechtsausschuss ausdrücklich die Auffassung, dass ein
Dort wurde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Verhalten, das Ausdruck der Selbstbelastungsfreiheit
zum Eckstein der zukünftigen justiziellen Zusammen- oder eines Zeugnisverweigerungsrechtes ist, nicht unter
arbeit erklärt. Auf der Grundlage dieses Prinzips wur- Verhaltensweisen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 des Rah-
den mittlerweile durch die Europäische Union vier Rah- menbeschlusses fällt, die gegen die den Straßenverkehr
menbeschlüsse erlassen: zum europäischen Haftbefehl, regelnde Vorschriften verstoßen. Dieses Verhalten ist mit
zur Sicherstellung von Beweismitteln, zur Anerkennung anderen Worten nach unserer Ansicht nicht vom Katalog
von Einziehungsentscheidungen und zur gegenseitigen der durch die gegenseitige Anerkennung nicht mehr zu
Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen. Dieser prüfenden Verhaltensweisen gedeckt.
letztgenannte Rahmenbeschluss wird nun mit dem zur
heutigen Entscheidung anstehenden Gesetzentwurf in Ferner ist auch die Frage der Beistandspflicht disku-
nationales Recht umgesetzt. tiert worden. Der Rechtsausschuss hat dabei zur Kennt-
nis genommen, dass mit § 87 e IRG-E die Beistandsrege-
Das Gesetz regelt die gegenseitige Anerkennung von lung in § 53 IRG für entsprechend anwendbar erklärt
Geldstrafen und Geldbußen grundlegend und damit für wird, ohne dass eine weitere Spezifizierung der Fälle er-
viele Deliktsgruppen. Insgesamt geht es um 39 Tatkom- folgt, in denen ein rechtlicher Beistand in Verfahren zur
plexe, also Straftaten und Verwaltungsübertretungen Vollstreckung einer ausländischen Geldstrafe nach dem
bzw. Ordnungswidrigkeiten. In diesen Fällen ist die bei- 9. Teil des IRG bestellt werden soll. Der Rechtsaus-
derseitige Sanktionierbarkeit zukünftig nicht mehr zu schuss hat der Regelung in dem Verständnis zugestimmt,
prüfen. dass nach § 87 e in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Nr. 1 IRG
die Bestellung eines Rechtsbeistands wegen der Schwie-
Auch wenn das Gesetz die gegenseitige Anerkennung rigkeit der Sach- und Rechtslage geboten sein wird,
für 39 unterschiedliche Fallgruppen regelt, so wird ins- wenn Zweifel an der Einordnung als Katalogtat gemäß
besondere ein Bereich von großer praktischer Relevanz § 87 b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 RB
sein: Verstöße im Straßenverkehr. Auch sie gehören zum Geldstrafen bestehen. Weiterhin geht der Rechtsaus-
Katalog der gegenseitig anzuerkennenden Straftaten schuss davon aus, dass die Bestellung eines Beistands
bzw. Ordnungswidrigkeiten. Mit anderen Worten: Zu- regelmäßig auch dann geboten sein wird, wenn gegen
künftig werden Geldbußen aufgrund von Verkehrsver- den Betroffenen eine Abwesenheitsentscheidung im
stößen im europäischen Ausland auch in Deutschland Sinne von § 87 b Abs. 3 Nr. 4 IRG-E über einen nicht nur
einfacher vollstreckt werden können als bisher. unerheblichen Geldbetrag vollstreckt werden soll.
(B) Wir stimmen dem Gesetz heute in zweiter und dritter (D)
Wir bringen heute das Gesetzgebungsverfahren zum
Lesung zu. Dem vorliegenden Entwurf ist es gelungen,
Abschluss. Europa wächst damit wieder ein Stück weiter
der Herausforderung, die die Umsetzung des Prinzips
zusammen. Wir stimmen dem Gesetz zu.
der gegenseitigen Anerkennung mit sich bringt, gerecht
zu werden. Einerseits wird die gewünschte Harmonisie-
rung erreicht, andererseits aber ist sie in grundrechts- Dr. Peter Danckert (SPD):
schonender Weise und unter Berücksichtigung der na- Ein Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in
tionalen Rechtsidentität geregelt worden. Strafsachen ist der Grundsatz der gegenseitigen Aner-
In einzelnen Punkten ist der Gesetzentwurf im Zuge kennung von Entscheidungen, der auf die Sondertagung
der Beratungen intensiv diskutiert worden. Dies hat des Europäischen Rates 1999 im finnischen Tampere zu-
auch zu Änderungen im Detail geführt. rückgeht. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen
Haftbefehl war die erste konkrete Maßnahme im Bereich
Zum einen wurde die Frage der Halterhaftung debat- des Strafrechts, mit dem der Grundsatz der gegenseiti-
tiert. Anders als andere Rechtsordnungen, wie etwa Ös- gen Anerkennung zur Anwendung kam. Ein weiteres
terreich oder die Niederlande, kennen wir in Deutsch- Rechtsinstrument, das auf dem genannten Grundsatz be-
land die Halterhaftung nicht. Der Regierungsentwurf ruht, ist der 2005 verabschiedete Rahmenbeschluss über
sah als Ermessensentscheidung vor, dass die Bewilli- die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und
gung eines Vollstreckungsersuchens durch die deutschen Geldbußen. Dieser wurde in der Öffentlichkeit als soge-
Behörden abgelehnt werden könne, wenn die betroffene nannter Knöllchen-Beschluss bekannt, da der Rahmen-
Person in dem ausländischen Verfahren keine Gelegen- beschluss unter anderem die Vollstreckung von Geld-
heit hatte einzuwenden, für die der Entscheidung zu- sanktionen wegen Verstößen gegen Verkehrsvorschriften
grunde liegende Handlung nicht verantwortlich zu sein. über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg vorsieht
Auf Antrag der Koalitionsfraktionen soll dies nunmehr
nicht als Ermessensentscheidung, sondern als Zulässig- Für Deutschland ist die grenzüberschreitende Verfol-
keitsvoraussetzung geregelt werden. Liegen die Voraus- gung von Verkehrsverstößen insofern von Bedeutung,
setzungen vor, ist künftig die Vollstreckung zwingend als dass es mit seiner zentralen Lage und einer Grenze
nicht zulässig. mit neun Staaten von intensivem Transitverkehr betrof-
fen ist. Ausländische Kraftfahrzeuge haben deshalb ei-
In diesem Zusammenhang hat ein weiterer Punkt in nen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Verkehrs-
der Diskussion eine Rolle gespielt. Es gibt EU-Staaten, sicherheit in Deutschland insgesamt. Daraus erklärt
in denen für den Halter eines Fahrzeuges eine Aus- sich das evidente Interesse an Instrumentarien, die es
Jens Petermann
(A) beim sogenannten Europäischen Haftbefehl. Da Sie au- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
genscheinlich Ihre eigenen Argumente vergessen haben, Der Deutsche Bundestag beschließt heute Regelun-
möchte ich Ihnen diese noch einmal in Erinnerung ru- gen, mit denen er in nationaler Umsetzung eines weite-
fen. ren Rechtsakts der EU den Grundsatz der gegenseitigen
Anerkennung im Rahmen der strafrechtlichen Zusam-
Sie sagten, dass durch eine Umsetzung sehr unter- menarbeit anwendet. Diesmal betrifft es die gegensei-
schiedliche Rechtsstandards und Rechtsgrundsätze in tige Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen
Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaaten als und Geldbußen.
gleichwertig angesehen werden, obwohl unterschiedli-
che Anforderungen unter anderem beim Verfahren beste- Um es gleich vorweg zu sagen: Wir werden dem Ge-
hen. Sie kritisierten weiter die Unbestimmtheit der For- setzentwurf nicht zustimmen, sondern uns enthalten, fin-
mulierung der Deliktsgruppen. Damals waren es 32, den aber vieles an dem Entwurf, wie er jetzt in der geän-
heute sind es 39, wobei diese innerhalb von vier Jahren derten Form vorliegt, gut und richtig. Wir haben uns in
nicht bestimmter geworden sind. Aber auch Ihr damali- einem Berichterstattergespräch mit Sachverständigen
ger Hauptkritikpunkt, die fehlende beiderseitige Straf- vertieft mit der Materie befasst. Von allen Fraktionen
barkeit, gilt heute unverändert fort. Dabei ist im Einzel- wurde dieses Gespräch als sehr produktiv empfunden.
fall ein im Ausland strafbares Verhalten in Deutschland Das freut mich umso mehr, als die Opposition den Koali-
nicht strafbar, oder es bestehen hohe Abweichungen in tionsfraktionen zunächst doch erst etwas auf die
der Höhe der angedrohten Strafe. Sprünge helfen musste, sich Zeit für diese intensive Be-
fassung zu nehmen. Aber am Ende gab es durchaus Ge-
Stellen Sie sich einmal vor, sie fahren mit Ihrem Pkw sprächsbereitschaft, was ich ausdrücklich anerkennen
innerhalb einer geschlossenen Ortschaft 10 km/h will. So sind Probleme mit der sogenannten Halterhaf-
schneller als erlaubt. In Deutschland kostet Sie das Ver- tung im Straßenverkehr, über die bis zum Schluss disku-
gehen 15 Euro, in Frankreich aber 900 Euro. Dieser Un- tiert wurde, zufriedenstellend gelöst worden. In diesem
terschied in der Höhe der Strafe ist vielen Reisenden Bereich gibt es jetzt ein Vollstreckungshindernis, das in
nicht bewusst. Im Moment kann Frankreich die jedem Fall zu achten ist.
900 Euro noch nicht fordern, aber nach Inkrafttreten
Umso mehr bedaure ich, dass es nicht möglich war,
dieses Umsetzungsgesetzes können die französischen
ganz auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Bevor
Behörden Deutschland um die Vollstreckung der
ich auf die Gründe hierfür eingehe, will ich mich zu dem
900 Euro Geldbuße bitten.
grundsätzlicheren Beratungsbedarf, den die SPD-Frak-
Als Lösung dieses Konflikts mit unserer Verfassung, tion durch den von mir sehr geschätzten Kollegen
(B) in den wir durch die von der Bundesregierung vorge- Danckert angemeldet hat, eingehen. Der Kollege (D)
schlagene Umsetzung zwangsläufig kommen, sehe ich Danckert bezog sich auf die sehr kategoriale Kritik ei-
die Weigerung Deutschlands zur Umsetzung des Rah- nes der Sachverständigen, mit der wir uns seit Jahren
menbeschlusses an, zumal ein Vertragsverletzungsver- ebenfalls beschäftigen. Die anderen drei Sachverständi-
fahren der EU gegenüber der Bundesrepublik Deutsch- gen erteilten dem Gesetzentwurf jedoch im Grundsatz
land sanktionsfrei nicht durchsetzbar wäre. Diesen Weg sehr gute Noten und machten nur einige Vorschläge zur
haben Sie in der Entscheidung des Bundesverfassungs- besseren Ausgestaltung im Einzelnen.
gerichts zum Europäischen Haftbefehl deutlich aufge- Zu der kategorialen Kritik: Der Grundsatz der gegen-
zeigt bekommen. Darüber hinaus ist eine mögliche Voll- seitigen Anerkennung spinnt sich seit dem Programm
streckung von Straftaten im Ausland bereits nach des Europäischen Rates von Tampere 1999 wie ein roter
geltendem Recht, nämlich durch das Gesetz über die in- Faden durch die europäische Rechtssetzung zur justi-
ternationale Rechtshilfe in Strafsachen, möglich. Dieses ziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Er ist als
Gesetz beinhaltet hohe rechtsstaatliche Standards und Grundansatz politisch nicht rückholbar. Wir Grüne wol-
Hürden zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor len die europäische Integration gestalten und nicht in ei-
unangemessener Strafverfolgung. Diese hohe Schutz- ner Abwehrhaltung nur begleiten. Wir müssen aber auch
anforderung wollen Sie nun durch die Umsetzung des ernst nehmen, dass dieser Grundsatz eine wichtige Vo-
Rahmenbeschlusses aufweichen. raussetzung hat: Das ist das Vertrauen – und zwar das
Vertrauen nicht nur der Staaten, sondern auch und be-
Eine Überprüfung jedes Einzelfalls durch ein deut- sonders der Bürgerinnen und Bürger – in die Rechts-
sches Gericht unter dem Gesichtspunkt der beiderseiti- staatlichkeit der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.
gen Strafbarkeit und Höhe der angedrohten Strafe, Dieses Vertrauen darf man nicht als gegeben vorausset-
würde auch zu einer verfassungsrechtlich unbedenkli- zen. Es muss erarbeitet werden. Dafür setzen wir uns
chen Lösung beitragen, wäre aber sehr aufwendig und seit langem ein.
teuer für die deutsche Justiz.
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist
An Damen und Herren der CDU/CSU- und FDP- mit dem Verzicht auf beidseitige Strafbarkeit im Bereich
Fraktion gewandt: Seien Sie sich Ihrer Verantwortung einer Liste von Deliktsgruppen verschränkt verbunden.
wenigstens diesmal bewusst: Sie haben im Moment die Mit dem umzusetzenden Rahmenbeschluss wird diese
Wahl! Hören Sie auf Ihr Gewissen! Entscheiden Sie sich Liste nochmals erheblich ausgeweitet. Teilen dieser
für unsere Alternativen und gegen ein weiteres verfas- Liste mangelt es an der erforderlichen Präzision. Des-
sungswidriges Gesetz aus Ihrer Feder! wegen fordern wir Grüne und der Bundestag insgesamt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: In den Jugendämtern gibt es zum Teil erhebliche fi-
nanzielle und personelle Engpässe, die eine ausrei-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sonja chende, den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Be-
Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, treuung durch den Vormund nicht ermöglichen. Ein
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Amtsvormund ist zuweilen – so auch im Fall des kleinen
5758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Ute Granold
(A) Kevin – für über 200 Mündel zuständig und verantwort- viele der gefährdeten Kinder leben, stehen finanziell mit (C)
lich. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingungen dem dem Rücken zur Wand und haben kaum Spielräume. Da-
Vormund so gut wie unmöglich ist, sich dem einzelnen bei ist es leider auch so, dass gerade die Kinder, die be-
Mündel in ausreichendem Umfang persönlich zuzuwen- sonders schutzwürdig sind, eine – wenn überhaupt – nur
den. Nur bei zeitnaher und unmittelbarer Kenntnis der schwache Lobby genießen. Daher stehen gerade wir in
Lebenssituation des Mündels könnte der Vormund aber besonderer Verantwortung, hier im Interesse der betrof-
Fehlentwicklungen entgegenwirken und die erforderli- fenen Kinder und Familien die richtigen Prioritäten zu
chen Maßnahmen im Interesse des Mündels veranlas- setzen. Ich lade Sie daher alle ein, gemeinsam mit uns
sen. nach Lösungen zu suchen.
Das Bundesjustizministerium hat vor diesem Hinter- Der Referentenentwurf der Bundesregierung bildet
grund Anfang dieses Jahres einen Referentenentwurf für die weiteren Beratungen eine gute Grundlage. Es
vorgelegt. Anknüpfend an die Empfehlungen der Exper- würde daher keinen Sinn machen, schon heute über den
tengruppe sieht der Entwurf verbindliche Regelungen Antrag der SPD-Fraktion abschließend zu entscheiden.
zum persönlichen Kontakt zwischen Vormund und Mün- Dafür ist das Thema viel zu komplex. Wir werden in
del sowie Vorgaben zur persönlichen Überwachung von Kürze hier und dann in den zuständigen Fachausschüs-
Pflege und Erziehung des Mündels vor. Zudem sollen Be- sen über die Einzelheiten des Regierungsentwurfs bera-
richtspflichten des Vormunds gegenüber dem Familien- ten und dabei ausreichend Zeit und Gelegenheit haben,
gericht festgelegt werden und Letztere ihrerseits ver- auch über die von der SPD aufgeworfenen Fragen aus-
pflichtet werden, den persönlichen Kontakt zwischen führlich zu diskutieren. Soweit es hier auch um ganz
Vormund und Mündel zu überwachen. Die zentrale und praktische Fragen – etwa die Obergrenze für Amtsvor-
wichtigste Neuregelung sieht schließlich vor, die Zahl mundschaften – geht, sollten wir auch in Erwägung zie-
der Amtsvormundschaften auf höchstens 50 pro Vor- hen, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung externes
mund zu begrenzen, wobei jeweils von einer Vollzeit- Fachwissen in unsere Meinungsbildung einzubeziehen.
stelle ausgegangen wird.
Wir halten also den vom Bundesjustizministerium
Zusätzlich zum aktuellen Gesetzgebungsvorhaben eingeschlagenen Weg für richtig, jetzt zunächst die
planen wir in einem zweiten Schritt eine Gesamtreform drängenden Probleme mit einem vorgezogenen Gesetz-
des Vormundschaftsrechts. Bekanntlich stammt die entwurf anzugehen. Angesichts des akuten Handlungs-
Grundkonzeption des Vormundschaftsrechts noch aus bedarfs wäre es falsch und schwerlich zu verantworten,
dem 19. Jahrhundert und bedarf daher in vielen Berei- erst die Gesamtreform abzuwarten und dadurch unnötig
chen struktureller Anpassungen an die aktuellen Rechts- Zeit zu verlieren. Wir wissen alle, dass solche umfassen-
(B) und Lebensverhältnisse. Bundesregierung und Koalition den Gesetzesvorhaben einer gründlichen Vorbereitung (D)
planen, einen entsprechenden Gesetzesentwurf noch im bedürfen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang bei-
Laufe der Legislaturperiode zu erarbeiten und auf den spielsweise an die FGG-Reform in der letzten Legisla-
Weg zu bringen. turperiode. Damals hatten wir uns ebenfalls bewusst da-
für entschieden, die Erleichterung familiengerichtlicher
Ich denke, wir sind uns einig, dass dieser Weg – also Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls abzutren-
kurzfristig sicherstellen, dass die gesetzlichen Qualitäts- nen und als eigenes Gesetz vorzuziehen.
vorgaben für die Vormundschaft gewährleistet sind, und
dann in einem zweiten Schritt die Strukturen anpassen – Ich bin der Auffassung, wir sollten die kurzfristig zu
der richtige ist. lösenden Probleme und die weitergehende Gesamtre-
form nicht vermengen. Im Interesse der betroffenen Kin-
Nun muss es darum gehen, den schon ausgearbeite- der sollten wir uns daher zunächst auf die Themen im
ten Entwurf der Bundesregierung zügig auf den Weg zu Regierungsentwurf konzentrieren. Unabhängig davon
bringen. Nach derzeitigem Stand wird das Bundeskabi- halte ich eine Reihe der angesprochenen Fragen durch-
nett noch im Sommer den entsprechenden Gesetzentwurf aus für berechtigt.
beschließen, sodass wir dann nach der Sommerpause an
dieser Stelle intensiv und in aller Gründlichkeit darüber Die Gesamtreform ist dann ein weiterer Aufgabenbe-
beraten können. reich, den wir noch in dieser Legislaturperiode angehen
werden. Ich sehe jedoch keinen Grund, uns schon heute
Was die Einzelheiten angeht, so sehen auch wir noch mit diesen Fragen abschließend zu befassen. Dies gilt
eine Reihe von Punkten, über die zu diskutieren sein umso mehr angesichts der Tatsache, das der Antrag der
wird. Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Antrag bereits SPD-Fraktion auch einige äußerst sensible Bereiche
eine Reihe richtiger und wichtiger Fragen angespro- thematisiert – Stichwort „Pflegefamilie und Adoption“.
chen. Ich nenne in diesem Zusammenhang beispiels-
weise die Obergrenze für Vormundschaften und die da- Im Interesse der Sache wäre es deshalb wünschens-
mit verbundene Frage, ob wir die neue Vorschrift als wert, wenn der heutige Antrag zur weiteren Beratung in
Soll- oder Mussvorschrift ausgestalten. die Ausschüsse verwiesen wird.
Natürlich dürfen wir uns hier keinen Illusionen hin-
geben. Die allgemeine Haushaltslage in Deutschland ist Sonja Steffen (SPD):
äußerst angespannt und dürfte sich in den nächsten Jah- In der letzten Legislaturperiode wurde zum Schutze
ren eher noch weiter verschärfen. Vor allem Städte mit des Kindeswohls viel erreicht – dies war auch nötig,
sozialen Brennpunkten, in denen überdurchschnittlich denn immer häufiger war in den Zeitungen von Fällen zu
Stephan Thomae
(A) rem sicherstellen, dass der persönliche Kontakt zwi- der letzten Legislaturperiode bekannt und dort – zumin- (C)
schen dem Vormund und seinen Mündeln gewährleistet dest von den Sachverständigen – ausführlich erörtert
ist. Das soll insbesondere, aber nicht nur durch die zah- worden. Zu nennen sind hier insbesondere die dringend
lenmäßige Begrenzung der Mündel garantiert werden, notwendige Obergrenze für die Fallzahlen bei den Amts-
die ein einzelner Vormund höchstens betreuen darf. vormundschaften. Die derzeitige Praxis ist unzumutbar
für die Vormunde und hat mit einer Arbeit im Sinne des
Die gesetzliche Neuregelung wird das Erfordernis Kindeswohls nichts mehr gemein. In den vergangenen
des ausreichenden persönlichen Kontakts des Vormunds Jahren hat der Personalmangel in den Jugendämtern
mit dem Mündel ausdrücklich im Gesetz verankern, die aber auch im Bereich der Amtsvormundschaften und der
Pflicht des Vormunds zur Aufsicht über die Pflege und Begleitung von Familiensachen zu erheblichen qualita-
Erziehung des Mündels im Gesetz stärker hervorheben, tiven Einschränkungen geführt, die in einem Gegensatz
den persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mün- zu den steigenden Fallzahlen stehen.
del ausdrücklich in die jährliche Berichtspflicht des Vor-
munds einbeziehen, den persönlichen Kontakt des Vor- Wir unterstützen diese Forderung ebenso wie die
munds mit dem Mündel in die Aufsichtspflicht des nach mehr Beteiligung für Mündel sowie die nach ge-
Familiengerichts über die Amtsführung des Vormunds setzlichen Konkretisierungen der Pflichten des Vormun-
ausdrücklich einbeziehen und die Fallzahlen in der des gegenüber den Kindern und Jugendlichen, deren
Amtsvormundschaft auf 50 Vormundschaften je Mitar- Wohl und Willen im Mittelpunkt stehen müssen.
beiter begrenzen.
In vielen anderen Fragen besteht für uns aber noch
Es sei ganz offen und ehrlich darauf hingewiesen: intensiver Redebedarf – sowohl aus fachpolitischer
Diese Verbesserungen werden nicht zum Nulltarif zu ha- Sicht als auch in Bezug auf die Folgenabschätzung der
ben sein. Einerseits darf auch in wirtschaftlich schwieri- vorgeschlagenen rechtlichen Veränderungen. Genannt
gen Zeiten das Kindeswohl nicht unter die Disposition sei an dieser Stelle nur die Frage, inwieweit Pflegeeltern
der Kassenlage gestellt werden. Andererseits müssen eine Vormundschaft übernehmen können oder in wel-
wir als Gesetzgeber die Finanzlage der Kommunen na- chem Umfang die Möglichkeit von Adoptionen durch
türlich im Blick behalten. Der Bund sollte keine Verspre- Pflegeeltern ausgeweitet werden soll. Pflegeeltern ha-
chungen machen, von denen wir nicht wissen, wie die ben die ohnehin schwere Aufgabe, Kinder in ihrer Ent-
Kommunen sie einhalten sollen. Wenn wir das Vormund- wicklung zu fördern, die nicht selten schreckliche Dinge
schaftsrecht ändern, müssen wir auch die finanzielle erlebt haben. Hier besteht nicht nur die Gefahr der
Seite mitbedenken, sonst verhalten wir uns wie Betrüger, Überforderung von Pflegeeltern, die vom Antragsteller
die ungedeckte Schecks ausstellen. selbst im Feststellungsteil umschrieben wird. Eine sol-
(B) Trotzdem werden wir versuchen, die drängendsten che Prüfung muss also unter äußerst sensibel ausge- (D)
Fragen schnellstmöglich zu lösen, damit ein Fall Kevin wählten Gesichtspunkten geschehen.
sich so nicht mehr wiederholen kann. Auch der Prüfauftrag zur Frage der Ermöglichung
einer Adoption wird von uns eher kritisch gesehen. Er ist
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): derart unbestimmt formuliert, dass das Ergebnis dieses
Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Bundestag Auftrages dazu führen kann, dass der eigentliche Zweck
über den Schutz von Kindern debattieren. Oft gaben des Pflegeverhältnisses, nämlich die Rückführung des
schreckliche Fälle Anlass zur Debatte. Und auch der Kindes in die Herkunftsfamilie, konterkariert wird. Hier
Antrag der SPD-Fraktion, der heute zur Beratung steht, hätte viel genauer formuliert werden müssen, unter wel-
hat den tragischen Tod des im Jahre 2006 in Bremen zu chen engen Voraussetzungen geprüft werden soll, ob
Tode gekommenen Kevin zum Anlass. und, wenn ja, wie eine Adoption möglich sein soll.
Sicher ist es wichtig, dass solche schrecklichen Fälle Fragen des Vormundschafts- und des Familienrechtes
immer wieder diskutiert werden. Es ist auch wichtig, im- sind in vielerlei Hinsicht sehr sensibel. Wir sollten die-
mer wieder nach neuen Lösungswegen zu suchen. Es ist sen Fragen die notwendige Aufmerksamkeit widmen und
aber auch wichtig, dabei die Ursachen für das Handeln sie in den zuständigen Fachgremien diskutieren. Darum
von Eltern – wie im Falle Kevin – zu suchen, Ursachen, wendet sie die Fraktion Die Linke gegen eine sofortige
die nur zum Teil bei den Eltern zu finden sind; viel öfter Abstimmung.
liegen sie in gesellschaftlich zu verantwortenden Defizi-
ten. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Genügend Gesprächs- und Klärungsbedarf gibt es Wir befassen uns heute mit dem Antrag der SPD zu
auch von unserer Seite, zum Beispiel bei der Rolle der Änderungen im Vormundschaftsrecht. Die SPD bezieht
Jugendämter, deren Ausstattung auch im Antrag der sich zum einen auf den Referentenentwurf der Bundesre-
SPD eine Rolle spielt – leider ohne klar zu fordern, dass gierung, den sie ergänzt haben möchte. Zum anderen
bei der Finanzierung auch der Bund sehr viel mehr in fordert sie, dass weiterführende Regelungen in die ange-
die Pflicht genommen werden muss. Wenn schon die kündigte Gesamtreform des Vormundschaftsrechts, die
Bundesregierung darin keine Notwendigkeit sieht, sollte von der Bundesregierung angekündigt ist, aufgenommen
wenigstens eine Oppositionsfraktion daran erinnern. werden.
Viele der Forderungen des Antrags teilen wir als Den Anstoß für dieses Thema hat der traurige Fall des
Linke. Sie sind aus den Anhörungen zum Kindesschutz in Kindes Kevin aus Bremen gegeben, das im Jahr 2006 zu
Gero Storjohann
(A) Die 3. EU-Führerscheinrichtlinie schafft hier Ab- Fahrlizenz der Klasse A2 vorliegt. Es ist ein Trugschluss, (C)
hilfe. Sie ist am 19. Januar 2007 in Kraft getreten. Vom davon auszugehen, dass der 25-Jährige, der die Klasse A
Gesetzgeber fordert die Richtlinie Veränderungen im direkt erwirbt, zwangsläufig verantwortungsvoller und
nationalen Führerscheinwesen. Die christlich-liberale sicherer ein Zweirad führen kann als ein 20-Jähriger. Si-
Koalition nutzt die gebotenen Spielräume, um die so- cheres Fahren und Verkehrssicherheit sind keine Fragen
eben beschriebenen Missstände in der Zweirad-Führer- des Alters. Sicher fährt derjenige, der eine sorgfältige
scheinausbildung zu beheben. Obwohl den Mitglied- Ausbildung genossen hat, schrittweise und bewusst an
staaten auch ein breiter zeitlicher Spielraum eingeräumt die Verantwortung herangeführt wurde, ein Kraftrad zu
wurde, diese Richtlinie bis spätestens zum 19. Januar führen.
2013 in nationale Regelungen umzusetzen, verfolgen wir
eine frühzeitige Umsetzung. Drittens. Eine weitere Neuregelung sieht vor, dass In-
haber der alten Führerscheinklasse 3, die diese vor dem
Im Bereich der Zweirad-Führerscheinklassen beschlie- 1. April 1980 erworben haben, die Klasse A2 unter den
ßen wir im Einzelnen folgende Punkte: erleichterten Bedingungen der Inhaber von Klasse A1
Erstens. Inhaber der Fahrerlaubnis der Klasse A1 erhalten. Zusätzlich ist lediglich eine spezifische theore-
werden zukünftig unter erleichterten Bedingungen die tische Prüfung notwendig, die ausschließlich die Kennt-
Klasse A2 erwerben können. Die Klasse A1 umfasst nisse zum Führen von Zweirädern dieser Klasse abfragt.
Leichtkrafträder bis maximal 125 ccm und bis zu einer Die Klasse 3 berechtigt zum Führen von Leichtkrafträ-
Fahrleistung von 15 PS. Bei der Klasse A2 steigert sich dern bis maximal 125 ccm und 15 PS Motorleistung.
die Fahrleistung dann auf maximal 34 PS. Nach zwei- Dennoch wurden die Inhaber der Klasse 3 bislang Zwei-
jähriger Inhaberschaft der Klasse A1 bedarf es fortan radneulingen gleichgestellt. Die Vergleichbarkeit der
nur einer Einweisung sowie einer praktischen Prüfung, Klassen A1 und 3 macht eine Gleichbehandlung beider
um die Führerscheinklasse A2 zu erlangen. Die Theorie- Klassen jedoch sachgerecht.
prüfung entfällt zukünftig. Nach zwei Jahren Fahrpraxis Viertens. Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse B
können ausreichende theoretische Kenntnisse zum Ver- – das ist der reguläre Pkw-Führerschein – können die
kehrsverhalten und zum Führen von Zweirädern voraus- Klasse A1 leichter erwerben, sofern sie seit mindestens
gesetzt werden. Der Wegfall des theoretischen Prüfungs- 15 Jahren im Besitz der Klasse B sind. In diesem Fall
teils ist somit sachgerecht. Bei den Zweiradfahrern stößt sind eine spezifische theoretische Prüfung, eine prakti-
diese Maßnahme auf große Zustimmung. sche Einweisung und eine praktische Prüfung gefordert.
Zweitens. Gleichermaßen regeln wir den Übergang Schließlich fünftens. Wir senken das Mindestalter zum
von der Klasse A2 zur Klasse A neu. Nach zweijährigem Führen eines Zweirads der Klasse AM von bislang 16 auf
(B) Besitz der Führerscheinklasse A2 ist für den Erwerb der 15 Jahre. Die Klasse AM löst nach dem Willen der 3. EU- (D)
Klasse A eine Einweisung und eine praktische Prüfung Führerscheinrichtlinie die bisherigen deutschen Klassen
nötig. Auch hier wird auf eine theoretische Prüfung ver- M und S ab. M war bislang der klassische Mopedführer-
zichtet. Bisher folgte der Erwerb der Führerscheinklasse A schein. Dieser konnte mit 16 Jahren erworben werden
automatisch nach zweijähriger Inhaberschaft der Klasse und umfasste Zweiräder bis maximal 50 ccm Hubraum
A2. Die mitunter großen Leistungsunterschiede der ent- und maximal 45 km/h Höchstgeschwindigkeit. Die
sprechenden Krafträder, die unter die Klassen A2 und A Klasse S berechtigte zum Fahren dreirädriger Klein-
fallen, rechtfertigen jedoch die zusätzliche Einführung krafträder bzw. vierrädriger Leichtkraftfahrzeuge, soge-
einer praktischen Prüfung. Denn die Führerscheinklas- nannter Quads. Die neue Klasse AM vereinigt die Klas-
se A umfasst Motorräder jeglicher Art. Diesen Übergang sen M und S in sich. Wird in Deutschland zukünftig vom
von A2 zu A gestalten wir unter Gesichtspunkten der Ver- Mopedführerschein gesprochen, ist die Klasse AM ge-
kehrssicherheit neu. meint. Die 3. EU-Führerscheinrichtlinie lässt den Mit-
Auf diese Weise schaffen wir ein System des stufen- gliedstaaten dabei den Spielraum, das Mindestalter zum
weisen Erwerbs der drei Zweirad-Führerscheinklassen Erwerb der Klasse AM zwischen 14 und 18 Jahren eigen-
A1, A2 und A. Wer sich mit 16 Jahren dafür entscheidet, ständig festzusetzen.
die Klasse A1 zu erwerben, kann nach zweijähriger Pra-
Wir haben uns für eine Absenkung des Mindestalters
xiserfahrung erleichtert die Klasse A2 erlangen. Er
für den Moped-Führerschein auf 15 Jahre entschieden.
wäre dann 18. Nach weiteren zwei Jahren ist es dann
Dieser Punkt unseres Antrags hat in den vergangenen
möglich, die Klasse A2 durch die Klasse A zu ersetzen.
Wochen die meiste Beachtung gefunden. Wir als CDU/
Und das in einem Alter von 20 Jahren. Die Fahrer von
CSU-Fraktion stellen fest: Die Absenkung des Min-
Motorrädern, die bewiesenermaßen ein erhöhtes Unfall-
destalters ist ein Beitrag zu mehr Verkehrssicherheit.
risiko aufweisen, würden auf diese Weise langfristiger
Denn die derzeitige Situation ist folgende: Wir haben
und schrittweise das Führen leistungsstarker Motorrä-
überdurchschnittlich viele Unfälle im Bereich der Fahr-
der erlernen. Wer die Klasse A über dieses Stufensystem
räder und Motorräder. Das Motorrad ist das mit Abstand
erwirbt, hat bereits mindestens vier Jahre Zweirad-
gefährlichste Verkehrsmittel. Obwohl die motorisierten
Fahrpraxis. Hierin sehen wir einen großen Gewinn für
Zweiräder nur 2 Prozent aller Verkehrsteilnehmer aus-
die Verkehrssicherheit auf unseren Straßen.
machen, kommen aus diesem Bereich circa 14 Prozent
Direkt kann die Klasse A weiterhin erst ab dem aller Verkehrstoten. Darüber hinaus beobachten wir,
25. Lebensjahr erworben werden. Ein Erwerb vor dem dass insbesondere bei jungen Zweiradfahrern viele Ma-
Erreichen dieses Alters ist nur möglich, wenn zuvor eine schinen frisiert werden und deutlich schneller unterwegs
Oliver Luksic
(A) besteht somit auf beiden Seiten – sowohl bei den Jugend- Den Punkt vier aber lehnen wir ab. Es handelt sich (C)
lichen als auch den anderen Verkehrsteilnehmern – das um die Altersabsenkung für Führerscheine für Motorrol-
Bedürfnis nach der von uns vorgeschlagenen Neurege- ler mit kleinen Kennzeichen. Bereits 15-Jährigen soll es
lung des AM-Führerscheins. erlaubt sein, mit kleinen Maschinen am motorisierten
Straßenverkehr teilzunehmen, auf Landstraßen genauso
Gleichzeitig erhöhen wir mit den vorgeschlagenen wie auf unübersichtlichen Kreuzungen.
Änderungen sogar noch die Verkehrssicherheit sowohl
für die jungen Menschen als auch für die anderen Ver- Die Linke steht für eine soziale Politik für die Men-
kehrsteilnehmer. Wir verringern mit dem Führerschein schen, und das schließt auch Verkehrssicherheit mit ein.
AM 15 insbesondere das Anfängerrisiko. Nun werden Wir meinen, Gesetzesänderungen im Straßenverkehr
endlich solide ausgebildete Fahrer auf die Straße gelas- müssen gut überlegt sein; denn hier geht es um Men-
sen. schenleben, um die Leben jungendlicher 15-Jähriger,
aber auch um die Leben anderer Verkehrsteilnehmer.
Insbesondere die praktische Ausbildung wird ge-
In den letzten Jahren ist die Zahl der Verkehrstoten
stärkt. Im Gegensatz zum Mofaführerschein, der nichts
auf unseren Straßen glücklicherweise kontinuierlich zu-
anderes als ein besserer Fahrradführerschein ist, kön-
rückgegangen. Dieser positive Trend, der seit 2000 deut-
nen 15-Jährige in Zukunft mit einer soliden Ausbildung
lich in den Statistiken zu lesen ist, sollte unbedingt fort-
und Prüfung flüssiger am Straßenverkehr teilnehmen,
geführt werden.
wenn die Eltern dies wollen. Deren Entscheidung da-
rüber, ob ihr Kind reif genug ist, um am Straßenverkehr Heranwachsende aber sind bis zum Alter von 19 Jah-
teilzunehmen, soll ihnen vom Staat nicht abgenommen ren leider besonders stark betroffen. Insbesondere moto-
werden. Der Staat hat jedoch die Aufgabe, die entspre- risierte Zweiradfahrer sind aufgrund der fehlenden
chenden Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa durch Knautschzonen und der speziellen Fahrdynamik gefähr-
die Regelung einer entsprechenden qualitativen Fahr- deter als andere Verkehrsteilnehmer.
ausbildung, was wir auch tun.
Natürlich sind viele Geschichten über die Gefahren
Ein gut ausgebildeter 15-Jähriger auf einem Zweirad des Motorradfahrers nur Geschichten. So wird die Mo-
der Klasse AM stellt etwa im Vergleich zu einem 15-Jäh- torradsaison im Mai jährlich mit Schlagzeilen über er-
rigen auf einem Mofa einen Gewinn für die Verkehrs- schütternde Unfälle in den Regionalblättern eingeläutet.
sicherheit dar. Denn damit können wir gezielt die Ursa- Aber machen wir uns doch nichts vor: Es gibt Probleme!
chen bekämpfen, die gerade bei Fahranfängern auf dem Tatsächlich verunglückten 2008 insgesamt 30 640 Mo-
Zweirad in der Vergangenheit immer wieder zu Unfällen torradfahrer; es gab 110 Tote, und 22 209 verunglückte
(B) geführt haben, wie etwa unangemessene Geschwindig- Motorrollerfahrer kamen noch dazu. 2008 starb alle (D)
keit oder Fehler bei der Vorfahrt und beim Wenden und zehn Stunden ein motorisierter Jugendlicher auf deut-
Abbiegen. schen Straßen. Das ist schon jetzt zu viel!
Von den 15- bis 17-jährigen unter den Verkehrstoten
Dieser positive Effekt auf die allgemeine Verkehrs- starben 24 Prozent, als sie mit dem Motorrad unterwegs
sicherheit wird sich meiner Überzeugung nach auch mit- waren, und 9 Prozent, als sie Roller fuhren. Das darf
tel- und langfristig auswirken. Wer bereits mit 15 Jahren doch nicht so bleiben!
gut ausgebildet beginnt, am Straßenverkehr teilzuneh-
men, der wird aufgrund seiner Erfahrung auch in seinem Nun hat die FDP-CDU/CSU-Koalition auch noch die
späteren Leben beim Erwerb der Fahrerlaubnisse ande- Idee, das Führerscheinalter noch weiter herabzusetzen.
rer Klassen von dieser Erfahrung und Ausbildung profi-
Wir brauchen gründliche Schulungen für den Eintritt
tieren und somit maßgeblich zur Verkehrssicherheit bei-
in den motorisierten Straßenverkehr.
tragen.
Ich erinnere daran, dass in Österreich 1997 die
Ich bitte Sie daher im Interesse der jungen Menschen Altersgrenze auf 15 Jahre herabgesetzt wurde, ge-
und des Ziels einer Erhöhung der Verkehrssicherheit um nauso wie die Koalition das nun vorhat. Die Folge wa-
Ihre Zustimmung. ren 14-mal so viele tote 15-Jährige und noch mehr Ver-
letzte!
Herbert Behrens (DIE LINKE): Unsere Jugendlichen werden nicht besser oder
Die dritte EU-Führerscheinrichtlinie, die 2007 in schlechter fahren als die österreichischen Jugendlichen.
Kraft getreten ist, muss bis zum 19. Januar 2013 in na- Wir können also schon voraussehen, was passieren
tionales Recht umgesetzt werden. wird: Auch hier werden sich etliche Jugendliche totfah-
ren.
Auf diese Umsetzung zielt der Antrag der CDU/CSU-
FDP-Koalition. Er enthält vier Forderungen. Die ersten Lernen wir doch von unseren Nachbarn! Denken Sie
drei beziehen sich auf die Vereinfachung des Erwerbs noch einmal nach: Wollen Sie wirklich all diese Toten
des großen Motorradführerscheins und Regelungen zur auf dem Gewissen haben?
Übertragung alter Führerscheine in die neue Zulas-
sungspraxis. Diese ersten drei Punkte, die den Bürokra- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tieabbau fördern und zudem die Verfahren für die Bür- Gerne würden wir dem Antrag der Koalition zustim-
ger vereinfachen, begrüßen wir. men, da er bis auf ein wichtiges Detail die 3. EU-Füh-
Sie sind uns die Erklärung noch schuldig, warum Sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
bei den motorisierten Zweirädern noch jüngere Men- Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
schen unbegleitet mit höheren Geschwindigkeiten los- für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in sei-
fahren lassen wollen, während wir im Pkw-Bereich beim ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2456, den
Begleiteten Fahren erfolgreich einer ganz anderen Phi- Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
losophie folgen. Und dies gerade, um der Problematik Drucksache 17/1574 anzunehmen. Wer stimmt für diese
besser gerecht zu werden, dass sich die jungendlichen Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- (D)
(B)
Fahranfänger und Fahranfängerinnen häufig selbst gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
überschätzen und dazu neigen, in komplexen Situationen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
unangemessen zu reagieren, weil Ihnen die nötige Er- stimmen der Oppositionsfraktionen.
fahrung fehlt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Sie sagen, sie wollen die Mobilität der jungen Leute
befördern, damit sie beispielsweise ihren Ausbildungs- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
platz im ländlichen Raum besser erreichen können. Da- Klaus Barthel, Garrelt Duin, Hubertus Heil
für gibt es spezielle Angebote, wie den von den Bundes- (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
ländern bestellten und finanzierten Schulbusverkehr, der SPD
den öffentlichen Nahverkehr, ein überregionales Radwe-
genetz und das Mofa. Wenn Sie diese Angebote für unat- Arbeitsbedingungen im Briefmarkt – Sozial-
traktiv und nicht ausreichend halten, dann lassen Sie klausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3
uns hier ansetzen und gemeinsam bessere Konzepte da- Postgesetz und Verordnung über zwingende
für finden. Arbeitsbedingungen für die Branche Brief-
dienstleistungen auf Grund des Arbeitnehmer-
Und woher kommt eigentlich Ihr plötzlicher Gesin- Entsendegesetzes
nungswechsel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition? Noch im März dieses Jahres auf dem 4. Sach- – Drucksache 17/1615 –
verständigentag des TÜV zum Thema Verkehrssicherheit Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
ging jedenfalls keiner der geladenen Experten aus der wiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
Verkehrssicherheitsarbeit, der Politik und der Wissen- und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas
schaft von einer derartigen Regelung für Deutschland Lämmel, Dr. Georg Nüßlein, Klaus Barthel, Dr. Heinrich
aus. Kolb, Sahra Wagenknecht und Beate Müller-Gemmeke.
Es ist schon pikant, dass Sie die Forderung für den
Moped-Führerschein ab 15 erst aufgestellt haben, nach- Andreas Lämmel (CDU/CSU):
dem die Zweiradindustrie im Frühjahr diesen Jahres Zur Debatte steht eine Große Anfrage der SPD-Frak-
massiven Druck ausgeübt hat. Die sinkenden Verkaufs- tion zu den Arbeitsbedingungen im Briefmarkt. Es ver-
zahlen können doch kein Argument für einen quasi wundert mich doch, dass wir diese Debatte führen, be-
bundesweiten Feldversuch an jungen Leuten sein, wie vor die Antworten der Bundesregierung vorliegen. Nun
gestern von Vertretern der Regierungskoalition im Ver- richten Sie Ihre Fragen ja an die Bundesregierung und
5768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Andreas Lämmel
(A) nicht an mich oder die Unionsfraktion. Daher ist es ein einzelnes großes Unternehmen – vertreten sein. Ein (C)
nicht meine Aufgabe, Ihre Fragen zu beantworten; das Tarifvertrag für die gesamte Branche erlaubt dann auch
wird die Bundesregierung schon ordnungsgemäß erledi- die angemessene Feststellung der Sittenwidrigkeit von
gen. Löhnen – angemessen deshalb, da sich der zugrundelie-
gende Durchschnittslohn nicht aus alten Monopolstruk-
Die Thematik der Arbeitsbedingungen im Postmarkt turen ableitet. Dann wird es auch einfacher, schwarze
muss im Zusammenhang mit der Verfassung der gesam- Schafe, die Lohndumping betreiben, zu identifizieren
ten Branche und dem ordnungspolitischen Rahmen, den und zu sanktionieren. Dann ist ein fairer Wettbewerb
wir hier als Gesetzgeber vorgeben, diskutiert werden. möglich, in dem die Leistung entscheidet und nicht der
Das Ziel der schrittweisen Liberalisierung des Postwe- geringste Stundensatz.
sens in Deutschland war die Gewährleistung eines Wett-
bewerbes auf dem Briefmarkt. Wettbewerb zwingt alle Schließlich noch ein paar Worte zur Aufgabe der
Anbieter zur Kundenorientierung, zu besseren Produk- Bundesnetzagentur. Die Bundesnetzagentur ist eine
ten und Dienstleistungen, zu effizienteren Strukturen und Wettbewerbsbehörde zur Regulierung der entsprechen-
vielen Innovationen. Schließlich ist Wettbewerb der den Märkte. Im Zusammenhang mit dem Postgesetz,
beste Verbraucherschutz. Verbraucher sind dann in der welches ein Wettbewerbs- und kein Sozialgesetz ist,
stärksten Position, wenn sie zwischen verschiedenen An- überprüft die Bundesnetzagentur bei der Lizenzerteilung
bietern wählen können. primär die Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und
Wir wollen diesen Wettbewerb auf dem Briefmarkt Fachkunde der Anbieter. Es ist der Arbeitsfähigkeit der
auch weiterhin. Aber dieser Wettbewerb muss fair Agentur sicher nicht dienlich, ihr auch noch die Aufga-
ablaufen. Hier ist die Deutsche Post als ehemaliger Mo- ben der flächendeckenden und ständigen Lohnprüfung
nopolist natürlich im Vorteil. Die Post hat bereits ein zu übertragen. Dafür gibt es bereits Behörden wie den
Vertriebsnetz, entsprechende Infrastrukturen und Ge- Zoll oder die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesnetz-
schäftsbeziehungen. Dementsprechend hat sie auch agentur ist weder Tarifpartner noch Lohnfindungsstelle.
nach zehn Jahren Liberalisierung noch einen Marktan- Ich fasse zusammen: Wettbewerb ja, Lohndumping
teil von 90 Prozent. Hier sind neue Wettbewerber klar im nein, Lohnfindung innerhalb der Branche als Lösungs-
Nachteil. Die Wettbewerbsbedingungen sind also ver- weg.
zerrt und eben nicht gleich.
Neue Wettbewerber müssen sich gegen ein marktbe- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
herrschendes Unternehmen durchsetzen. Der Wettbe-
werb am Markt darf dabei natürlich nicht ausschließlich In der großen Anfrage der SPD-Fraktion zu den Ar-
(B) über die Löhne der Arbeitnehmer geführt werden. Für beitsbedingungen im Briefmarkt beklagt sich die SPD (D)
Erfolg am Markt sollten das Vertriebskonzept, effiziente über die bisherige Entwicklung des Wettbewerbs und der
Kostenstrukturen der Unternehmen und die angebote- sozialen Standards im Briefsektor. Ich zitiere: „Ein Teil-
nen Leistungen sowie die Zuverlässigkeit des Anbieters arbeitsmarkt, der bislang durch existenzsichernde Ein-
entscheidend sein. kommensbedingungen gekennzeichnet war, droht insge-
samt zu einem Niedriglohnsektor zu werden, bei dem
Aber die Frage der Entlohnung in der Branche darf prekäre Beschäftigungsbedingungen dominieren …“.
natürlich nicht ausgelassen werden. Es war absolut Ich halte es hier mit Walther Rathenau und möchte ant-
wettbewerbsfeindlich, als die Deutsche Post AG ver- worten: „Die Klage über die Schärfe des Wettbewerbs
suchte, allein den Maßstab für die Entlohnung der gan- ist in Wirklichkeit meist nur eine Klage über den Mangel
zen Branche zu setzen. Denn dies kommt einem fakti- an Einfällen.“ Die Klagen haben in letzter Zeit aller-
schen Ausschluss aller anderen Wettbewerber gleich. Es dings merklich abgenommen. Es scheint die Konkurren-
ist daher zu begrüßen, dass die Postmindestlohnverord- ten der Deutschen Post AG hätten einen Weg gefunden,
nung vom Bundesverwaltungsgericht aufgehoben im Wettbewerb mit der Deutschen Post AG zu bestehen.
wurde. Denn das gewählte Verfahren war nicht sauber. Zu klären ist, ob dies auf Kosten der bei ihnen beschäf-
Der Haustarifvertrag des marktbeherrschenden Unter- tigten Menschen geht.
nehmens wird für die gesamte Branche als allgemein-
gültig erklärt. Dies war ein wettbewerbspolitischer Uns ging es bei der Liberalisierung des Postmarkts
Skandal, der nun glücklicherweise korrigiert wurde. um den Wettbewerb, um mehr Qualität, um Leistungs-
Dass der eigene Haustarifvertrag möglicherweise auch steigerung, um günstigere Preise und um die Nähe zum
für die Deutsche Post AG eine zu hohe Bezahlung be- Kunden. Mir liegt als Abgeordneter eines ländlich ge-
inhaltet, zeigt sich doch daran, dass die Deutsche Post prägten Wahlkreises ganz besonders die flächende-
nun selbst mit First Mail eine Tochterfirma gründet, die ckende Versorgung mit Briefdienstleistungen am Herzen.
geringere Löhne zahlt. Wir wollen einen Wettbewerb, der den Kunden – also un-
seren Mitbürgerinnen und Mitbürgern – etwas bringt.
Eine Angelegenheit betone ich unbedingt: Ich habe
nichts gegen Tarifverträge. Im Gegenteil: Ich begrüße es Die Maxime bei der Verabschiedung des Postgesetzes
außerordentlich, wenn wir einen Tarifvertrag für die ge- war: Wettbewerb im Bereich der Briefbeförderung darf
samte Branche bekommen; dieser kann auch gern Lohn- nicht zulasten der Beschäftigten oder des ländlichen
untergrenzen definieren. Hier sind aber die Tarifpartner Raumes erfolgen. Keinesfalls wollen wir einen Wettbe-
gefordert, eine Lösung zu finden. Insbesondere auf Ar- werb um die schlechtesten Arbeitsbedingungen provo-
beitgeberseite muss dann die gesamte Branche – nicht zieren. Wettbewerb und die Berücksichtigung sozialer
Klaus Barthel
(A) che branchenspezifische Mindestlohn für diese Negativ- wenig Geld leben muss, weiß, was eine Lohnkürzung um (C)
entwicklung verantwortlich ist. Daraus hatte die FDP rund 15 Prozent bedeutet.
schon in der letzten Legislaturperiode die Forderung
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass der Mindestlohn
abgeleitet, sämtliche sozialen Standards und die Garan-
zwar vorübergehend eine leichte Besserung der Einkom-
tie der branchenüblichen Arbeitsbedingungen aus dem
menssituation bei den alternativen Briefzustelldiensten
Postgesetz zu streichen. Wir sind gespannt, ob sich diese
gebracht hatte. Die Öffentlichkeit soll aber nichts über
Forderungen bei der im Bundeswirtschaftsministerium
die sich jetzt noch stärker ausbreitenden skandalösen
noch für dieses Jahr angekündigten Änderung des Post-
Zustände erfahren. Die Bundesregierung braucht vier
gesetzes in der Koalition durchsetzen lassen.
Monate, um unsere Große Anfrage zu beantworten. Und
Die Fakten sprechen eine klare Sprache: Die Löhne das, obwohl ihr längst die Ergebnisse einer zweiten
bei den Wettbewerbern der Deutschen Post AG liegen Vollerhebung der Bundesnetzagentur über die Arbeits-
nach der bisher einzigen veröffentlichten Vollerhebung bedingungen vorliegen. Über die Gründe dieses Verhal-
der Arbeitsbedingungen durch die Bundesnetzagentur tens, auch des ansonsten sehr publicityträchtigen Vorge-
aus dem Jahre 2007 um mehr als ein Drittel unter denen hens der Bundesnetzagentur, kann man nur spekulieren.
des Exmonopolisten. Wettbewerber, CDU/CSU und FDP
Aus vielen Beschwerden Betroffener wissen wir, was
wurden nicht müde, dies als notwendige Markteintritts-
gespielt wird: Da werden mit Stücklohnmodellen Stun-
chance zu verteidigen, da es keine anderen Möglichkei-
denlöhne von unter 2 Euro – im Westen – nur dürftig
ten gebe, in einen wirksamen Wettbewerb zur DPAG
kaschiert. Da werden mit massenhaftem Einsatz von
überhaupt einzutreten.
Subunternehmern jegliche überprüfbaren Regeln ausge-
Die SPD hat in der Großen Koalition durchgesetzt, hebelt. Da werden Minijobs ausgeweitet. Da werden
durch einen branchenspezifischen Mindestlohn von massenhaft Aufstocker mit solcherart Beschäftigungs-
8,40 Euro in den alten und 8 Euro in den neuen Bundes- verhältnissen anschließend mit Steuergeldern subven-
ländern sowie von 9,80 Euro bzw. 9 Euro für Briefzustel- tioniert.
ler dieses Lohndumping deutlich einzuschränken, nach-
Auch die Deutsche Post AG arbeitet immer mehr mit
dem die Bundesnetzagentur fast 10 Jahre lang darin
Subunternehmen, baut eine eigene Billigtochter („First
versagt hatte, die verbindlichen Lizenzauflagen des
Mail“) auf und droht der Gewerkschaft Verdi mit flä-
Postgesetzes, die branchenüblichen Arbeitsbedingungen
chendeckendem Outsourcing.
nicht wesentlich zu unterschreiten, auch wirksam durch-
zusetzen. Pseudogewerkschaften wie die GNBZ, der rechts-
wirksam der Charakter als Gewerkschaft abgesprochen
Mit wenigen Ausnahmen wurde der Mindestlohn al-
wurde, und Arbeitgeberverbände, die offenbar für nie-
(B) lerdings nie befolgt, weil er von Anfang an vor den Ver- (D)
manden sprechen, bringen jeden Versuch, zu einem Flä-
waltungsgerichten angefochten wurde und deshalb
chentarifvertrag zu kommen, zum Scheitern.
Sanktionen nicht ergriffen wurden.
Deshalb würde uns interessieren, ob die Bundesregie-
Mit unterschiedlichen, aber sehr kreativen Begrün-
rung bereit ist, ihre durchaus gegebenen Möglichkeiten
dungen hoben die Verwaltungsgerichte in drei Instanzen
zu nutzen, den Mindestlohn neu zu verordnen. Mindes-
den Mindestlohn im Postsektor auf, in letzter Instanz das
tens aber sollte sie für eine rechtskonforme Anwendung
Bundesverwaltungsgericht wegen angeblicher Formfeh-
der Sozialklausel aus dem Postgesetz durch die Bundes-
ler bei der seinerzeitigen Verordnung durch das Bundes-
netzagentur sorgen, die ungeachtet der Mindestlohnde-
arbeitsministerium, weil das Beteiligungsverfahren nicht
batte rechtswirksam ist.
eingehalten worden sei. Geklagt hatten Arbeitgeber des
Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste Der Problemdruck nimmt zu: Immer mehr Unterneh-
e. V., AGV-NBZ, und des Bundesverbandes der Kurier- men und öffentliche Auftraggeber versuchen, beim Post-
Express-Post-Dienste, BdKEP, die jeweils mit der Ge- versand Kosten zu sparen.
werkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste, GNBZ,
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist derzeit um-
einen Tarifvertrag über einen wesentlich niedrigeren
stritten, ob dank des Fehlens einer praktisch angewand-
Mindestlohn vereinbart hatten. Während das Urteil des
ten Lohnnorm – sei es nach Postgesetz; diese besteht
Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Januar 2010 gegen
nach Recht und Gesetz, wird aber nicht durchgesetzt,
den Post-Mindestlohn allergrößte Aufmerksamkeit fand,
oder nach AEntG, die die Bundesregierung noch durch-
blieb eine Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom
setzen – es zulässig oder gar erforderlich ist, bei der öf-
15. April 2010 bezeichnenderweise weitgehend unbeach-
fentlichen Vergabe von postalischen Dienstleistungen
tet, die rechtskräftig feststellt, „dass die GNBZ keine ta-
die Einhaltung von Lohnstandards zu verlangen oder
riffähige Gewerkschaft ist“ und bei Abschluss ihrer so-
andere soziale Belange zu berücksichtigen. In der Pra-
genannten Tarifverträge mit dem AGV-NBZ und dem
xis führt das dazu, dass Kommunen oder die Bundes-
BdKEP im Dezember 2007 „auch keine tariffähige Ge-
agentur für Arbeit Aufträge für Postdienstleistungen an
werkschaft war.“
solche „wirtschaftlich arbeitenden“ – sprich: billigen –
In der Folge des Urteils des Bundesverwaltungsge- Postdienstleister vergeben, die Lohndumping am konse-
richts aber senkte zum Beispiel die Berliner PIN AG als quentesten durchsetzen; anschließend kommen dann die
eines der wenigen Unternehmen, die den Mindestlohn Beschäftigten dieser Billiganbieter zum Jobcenter und
zwischenzeitlich angewandt hatten, ihre Stundenlöhne beantragen die Aufstockung ihres Dumpinglohnes, weil
von 9,80 Euro um rund 1,50 Euro wieder ab. Wer von so sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Diese Fälle zei-
Bernhard Kaster
(A) schüssen von dem Ziel geprägt waren, zu einvernehmli- eines europäischen Rechtssetzungsaktes gegenüber Rat, (C)
chen Ergebnissen zu kommen. Europäischem Parlament und Kommission darlegen,
weshalb dieser Entwurf nicht mit dem Subsidiaritäts-
Bei aller Kritik, die die Politik oft sehr pauschal bei
prinzip vereinbar ist. Es handelt sich um ein sehr not-
allen denkbar strittigen Themen trifft, muss an dieser
wendiges „Frühwarnsystem“, das es uns ermöglicht, zu
Stelle auch einmal betont werden, dass die Gemeinsam-
Beginn des Gesetzgebungsverfahrens auf Bedenken hin-
keit aller Demokraten bei der Festlegung auch der par-
zuweisen.
lamentarischen Spielregeln hier aufs Beste funktioniert
hat. Die Durchführung einer Subsidiaritätsklage des
Deutschen Bundestages vor dem Europäischen Ge-
Die große Palette der notwendigen Änderungen – ob
richtshof haben wir auf den Ausschuss für Europäische
bei den plenarersetzenden Möglichkeiten des Europa-
Angelegenheiten übertragen. Dafür sprachen beson-
ausschusses, ob bei der Subsidiaritätsrüge oder Subsi-
ders dessen Erfahrung im Hinblick auf das Thema Sub-
diaritätsklage, ob bei Fragen zur Handhabung der Pro-
sidiarität und die Tatsache, dass nur dieser Ausschuss
zessführung beim Europäischen Gerichtshof –, all dies
plenarersetzende Kompetenzen hat. Zudem wird so auch
erforderte viel unterstützende Zuarbeit durch das Sekre-
ein einheitliches Verfahren vor dem EuGH sicherge-
tariat des Geschäftsordnungsausschusses. Das, was die-
stellt.
ses Sekretariat angesichts des Umfangs der Geschäfts-
ordnungsänderungen geleistet hat, übersteigt das sonst Beachtenswert: Für die Subsidiaritätsklage wird
Übliche bei weitem. Deshalb sei an dieser Stelle ein gro- durch die Möglichkeit für ein Viertel der Mitglieder des
ßer Dank an Herrn Dr. Paschmanns und seine Mitarbei- Bundestages, eine solche Klage auch gegen den Willen
terinnen und Mitarbeiter übermittelt. Sie haben uns Par- der großen Mehrheit durchzusetzen, ein neues Minder-
lamentariern sehr geholfen. heitenrecht in der Geschäftsordnung verankert.
Die Europäische Union, mehr noch die europäische Letztlich wird die Praxis zeigen, ob die notwendige
Politik, steht immer wieder auch in der Kritik der Bürge- Verzahnung europäischer und nationaler Politik auch
rinnen und Bürger. Trotzdem ist festzuhalten: Die Euro- im Alltag auf der Grundlage dieser Geschäftsordnung
päische Union und ihre Entwicklung in den letzten Jah- gelingt.
ren ist im Empfinden der Menschen, beispielsweise auch
in der Lebensweise und Lebenswirklichkeit der jungen Der Lissabonner Vertrag und diese Geschäftsord-
Leute, zu einer nicht mehr wegzudenkenden Selbstver- nung ermöglichen es, dass europäische Themen viel
ständlichkeit geworden – ein wirklicher Glücksfall unse- stärker als bisher über den Deutschen Bundestag der
rer gemeinsamen europäischen Geschichte. deutschen Öffentlichkeit zugeführt werden. Wir müssen
(B) die Möglichkeiten nutzen, europäische Themen insbe- (D)
Die europäische Politik muss vor allem freilich im- sondere auch unter dem Blickwinkel der Subsidiarität in
mer auch die Menschen mitnehmen. Der Lissabonner unserem Parlament zu behandeln. Mit den vielfältigen
Vertrag und die darin verankerte Subsidiarität mit der Änderungen der Geschäftsordnung haben wir uns damit
gestärkten Mitwirkung der nationalen Parlamente leis- die Arbeitsgrundlage geschaffen.
tet dazu einen wesentlichen Beitrag.
Diese Möglichkeiten des Lissabonner Vertrags müs- Dr. Eva Högl (SPD):
sen wir nun in der parlamentarischen Praxis nutzen. Der Vertrag von Lissabon wird sehr zu Recht als ein
Das geht aber nur, wenn wir auch arbeitstechnisch, ver- „Vertrag der Parlamente“ bezeichnet. Die neu formu-
fahrensmäßig, entsprechend gut gerüstet sind. In der lierten Rechte für die nationalen Parlamente sind eine
Neufassung unserer Geschäftsordnung standen daher große Chance und eine wichtige Verantwortung des
diese Fragen im Mittelpunkt. Wir sind dabei geblieben: Deutschen Bundestages. Wir ergreifen diese Chance und
Einerseits bleiben die jeweiligen Fachausschüsse bei nutzen unsere Rechte im Rahmen des europäischen Ge-
den verschiedenen Themen federführend, jedoch erhält setzgebungsprozesses.
der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
Durch den Vertrag von Lissabon und die Anforderun-
schen Union entsprechend der Verfassung und den Be-
gen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
gleitgesetzen auch plenarersetzende Befugnisse.
zum Vertrag von Lissabon formuliert hat, sind eine
Zwar können die Entscheidungen im Bereich der ge- Reihe von wichtigen Änderungen unserer Verfahren im
meinsamen Sicherheits- und Außenpolitik und beim so- Deutschen Bundestag notwendig geworden.
genannten Notbremsemechanismus an den EU-Aus-
Teilweise ergeben sich diese Änderungen aus dem In-
schuss delegiert werden. Wir haben jedoch in den
tegrationsverantwortungsgesetz und dem Gesetz über
Beratungen letztlich von dieser Möglichkeit ganz be-
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deut-
wusst nicht Gebrauch gemacht. Es steht doch gerade
schem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen
hier das gesamte Parlament in einer besonderen Verant-
Union, mit denen die Vorgaben des Bundesverfassungs-
wortung, wie sie etwa auch im Parlamentsbeteiligungs-
gerichts umgesetzt werden. Mit der Änderung der Ge-
gesetz zum Ausdruck kommt.
schäftsordnung des Deutschen Bundestages passen wir
Neu in die Geschäftsordnung aufgenommen wurden unsere parlamentarischen Verfahren und Abläufe bei
Bestimmungen zur Subsidiaritätsklage und Subsidiari- der Behandlung europäischer Dossiers an diese neuen
tätsrüge. Mit der Subsidiaritätsrüge kann der Bundestag Grundlagen an. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich
binnen acht Wochen nach Übermittlung eines Entwurfs an dieser Debatte von Beginn an engagiert beteiligt und
Jerzy Montag
(A) genheiten der Europäischen Union eine Beschlussemp- Subsidiaritätsrüge fristgerecht inhaltlich auseinander- (C)
fehlung und einen Bericht verabschiedet, der die durch setzen.
den Lissaboner Vertrag notwendigen Änderungen der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vor- Wir mussten nämlich die leidvolle Erfahrung machen,
nimmt. dass ein solcher Antrag der Fraktion auf Erhebung der
Subsidiaritätsrüge in der letzten Sitzung des Rechtsaus-
Die nun gefundenen Lösungen werden den Bundestag schusses vor Ablauf der Subsidiaritätsfrist von der
ein gutes Stück europafähiger machen. Auf der anderen Mehrheit von der Tagesordnung genommen wurde, und
Seite hätten wir uns noch eine weitere Stärkung und Klar- das ohne Begründung. Es kam daher nicht einmal zu ei-
heit der Verfahrensregelungen insbesondere hinsichtlich ner inhaltlichen Debatte über den Antrag und den zu-
der Erhebung der Subsidiaritätsrüge gewünscht. grunde liegenden Richtlinienentwurf, von einer Ent-
scheidung ganz zu schweigen.
Die Regelung in § 93 a Abs. 1 Satz 2 GO-BT zur Er-
hebung der Subsidiaritätsrüge reicht unseres Erachtens Eine solche Nichtbehandlung ist inakzeptabel und
nicht aus. Dort wird Folgendes geregelt: Wird beabsich- wird auch dem Geiste des Lissabon-Vertrags nicht ge-
tigt, insoweit eine Verletzung zu rügen, ist unverzüglich recht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Ur-
der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- teil zum Lissaboner Vertrag mahnend darauf hingewie-
schen Union zu informieren, um diesem zunächst Gele- sen, dass der Bundestag die ihm zustehenden Rechte
genheit zur Stellungnahme zu geben. nutzen muss. Voraussetzung dafür ist aber auch die in-
haltliche Debatte und Entscheidung zu europäischen
Es bleibt aber unklar, was mit „wird beabsichtigt“ Themen.
genau gemeint ist. Ist hierfür bereits die Absicht eines
einzelnen Abgeordneten ausreichend, oder muss eine Mit der Zustimmung zu unseren Anträgen würden Sie
Fraktion beabsichtigten oder der federführende Aus- der Wirksamkeit des Lissabon-Vertrags und der Bedeu-
schuss? Es bleibt auch im Unklaren, inwieweit sich tung der Rechte des Deutschen Bundestags im europäi-
diese Absicht bereits manifestiert haben muss. Wird erst schen Rechtsetzungsprozess zweifellos dienen. Darüber
beabsichtigt, wenn bereits ein Antragstext schwarz auf hinaus stimmen wir Grüne den Änderungen der Ge-
weiß vorliegt, oder reicht es bereits, kundzutun, eine sol- schäftsordnung zu.
che Rüge erheben zu wollen? Leider wurde hier die
Möglichkeit verpasst, deutlich zu machen, zu welchem Damit kommen wir zur Abstimmung über die Be-
Zeitpunkt konkret der Ausschuss für die Angelegenhei- schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
ten der Europäischen Union zu befassen ist und welchen Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/2394.
Konkretisierungsgrad die Rüge zu diesem Zeitpunkt ha- Zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (D)
(B) ben muss.
nis 90/Die Grünen, über den wir zuerst abstimmen. Wer
Die Grünen haben daher folgenden Änderungsantrag stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/2461? –
eingebracht: Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
Wird ein Antrag auf Erhebung der Subsidiaritäts- abgelehnt.
rüge eingereicht, so ist dieser dem Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union un- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Druck-
verzüglich zuzuleiten, um ihm Gelegenheit zur Stel- sache 17/2394? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? –
lungnahme zu geben. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Hierdurch würde die vorstehend dargestellte Unsi-
cherheit behoben, und es würde dem Bundestag erleich- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
tert, die knapp bemessene Frist von acht Wochen zur Er- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
hebung der Subsidiaritätsrüge einzuhalten. Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
Einen zweiten, nicht weniger wichtigen Punkt betrifft weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
unser zweiter Änderungsantrag: LINKE
Anträge auf Erhebung der Subsidiaritätsrüge sind Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden
auf Antrag einer Fraktion unverzüglich auf die Ta- aus der Frequenzversteigerung der digitalen
gesordnung der damit befassten Ausschüsse zu set- Dividende bewahren
zen und zu behandeln. – Drucksache 17/2416 –
Hiermit wollen wir sicherstellen, dass Anträge auf Überweisungsvorschlag:
Erhebung der Subsidiaritätsrüge innerhalb der achtwö- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Kultur und Medien
chigen Frist auch tatsächlich behandelt werden. Es geht Haushaltsausschuss
dabei keinesfalls um die Schaffung eines weiteren Min-
derheitenrechts oder gar die Möglichkeit, die Erhebung Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
der Subsidiaritätsrüge zu erzwingen, sondern lediglich wiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
darum, dass sich die nach § 93 a Abs. 1 Satz 1 der Ge- und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:
schäftsordnung des Deutschen Bundestages zuständigen Johannes Selle, Martin Dörmann, Claudia Bögel, Katrin
Ausschüsse auch mit einem Antrag auf Erhebung der Kunert und Tabea Rößner.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5779
Martin Dörmann
(A) Die Nutzung der Frequenzen für die flächendeckende maximal 2015 und solle durch das Bundesamt für Wirt- (C)
Versorgung ganz Deutschlands mit schnellen mobilen schaft und Ausfuhrkontrolle entsprechend einer in Vor-
Internetzugängen ist ein wesentlicher Bestandteil der bereitung befindlichen Verwaltungsanweisung erfolgen.
Breitbandstrategie der Bundesregierung, die Anfang Da die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung
letzten Jahres noch von der Großen Koalition verab- und den Rundfunksendernetzbetreibern noch andauer-
schiedet wurde – und zwar insbesondere auf Anregung ten, sei eine Aussage zur Höhe der Erstattung der Kos-
und Drängen des damaligen Vizekanzlers Frank-Walter ten nicht möglich.
Steinmeier. Ohne Nutzung der digitalen Dividende kön-
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, es muss
nen die dort genannten Ziele nicht verwirklicht werden.
nun zügig Klarheit und Planungssicherheit für alle Be-
Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass durch die teiligten geschaffen werden. Insofern teilen wir im Kern
neue Frequenznutzung auch Probleme entstehen, die es die Zielsetzung, die in dem Antrag der Fraktion Die
zu lösen gilt. Betroffen sind hiervon insbesondere die Linke zum Ausdruck kommt, den wir heute in erster Le-
bisherigen Nutzer, die nun in andere Frequenzbereiche sung beraten. Allerdings ist der Text an einigen Stellen
„umziehen“ müssen. Zum einen entstehen den Rund- zu undifferenziert. Unser weiteres Vorgehen werden wir
funksendernetzbetreibern, die bislang einen Teil der davon abhängig machen, wie die nächsten Wochen von
ersteigerten Frequenzen genutzt haben, Kosten aus der Bundesregierung dazu genutzt werden, die notwen-
technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder dige Klarheit herbeizuführen.
Umrüstungen. Vor allem aber sind auch Kultur- und Bil-
Sicher ist die Ermittlung der notwendigen Kosten
dungseinrichtungen betroffen, die den betroffenen
nicht unproblematisch. Das Verfahren zur Kostenerstat-
Frequenzbereich bislang für Datendienste und Funk-
tung muss gerecht und einfach zu handhaben sein. Dabei
mikrofone nutzen. Dabei geht es beispielsweise um Büh-
brauchen alle Beteiligten aber nun möglichst schnell
nenproduktionen, Fernsehaufzeichnungen und sonstige
Planungssicherheit. Die Länder haben einen vom Bund
öffentliche Veranstaltungen in Opernhäusern, Theatern
zu speisenden Fonds ins Spiel gebracht, was mir prinzi-
aber auch in Kirchen.
piell sinnvoll erscheint. Streitig ist in erster Linie, wel-
Die SPD hat stets darauf gedrängt, dass für alle Be- chen Betrag der Bund zum Ausgleich der Umstellungs-
troffenen angemessene Lösungen gefunden werden müs- kosten bereitstellen sollte. Sicherlich sind die bisher
sen. Wie ist insofern der Sachstand? vom Bund genannten Zahlen, die sich im zweistelligen
Millionenbereich bewegen, deutlich zu gering. Ein hö-
Als es im vergangenen Jahr im Bundesrat darum herer dreistelliger Millionenbetrag wird es in jedem
ging, die Frequenzbereichzuweisungsplanverordnung zu Falle werden müssen.
ändern, um die Voraussetzungen für die Auktion zu
(B) schaffen, wurden zwischen dem Bund und den Ländern Es muss auch zügig geklärt werden, was im Einzelfall (D)
Vereinbarungen getroffen. Der Bund sagte zu, die Kos- unter welchen Kriterien ein angemessener Entschädi-
ten aus notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende gungsbetrag ist. Es muss transparent und nachvollzieh-
2015 bei denjenigen ergeben, die die Frequenzen bar ein Anspruch definiert werden, der durchaus in Ab-
790 bis 862 Megahertz nutzen, in angemessener Form hängigkeit von den Ausbauplänen der Unternehmen und
zu tragen. Es darf nicht sein, dass betroffene Kommu- damit den Umstellungsfolgen bestimmt werden kann.
nen, Länder oder kulturelle Einrichtungen finanziell Dabei kann aber nicht abgewartet werden, bis konkrete
überfordert werden. Deshalb haben auch die SPD-ge- Störungen eingetreten sind.
führten Länder auf entsprechende Zusagen des Bundes
Es sei darauf hingewiesen, dass – jedenfalls indirekt –
gedrängt. Zurzeit besteht aber noch große Unsicherheit
ein Teil der Erlöse aus der Frequenzversteigerung für
darüber, wie diese vom Bund umgesetzt werden.
die entstehenden Kosten genutzt werden kann. Zwar
Ich habe deshalb bereits am 18. Juni 2010 zwei können die Erlöse aus der Frequenzversteigerung aus
schriftliche Fragen an die Bundesregierung gerichtet, haushaltsrechtlichen Gründen nicht von vornherein
um zu erfahren, wann und mit welchem Verfahren die zweckgebunden werden. Dies ist jedoch nur ein formaler
Bundesregierung die gegenüber den Bundesländern ein- Gesichtspunkt. Der Bund hat nun einmal bedeutende
gegangene Zusage umsetzen will und mit welchen Um- Mehreinnahmen erzielt, durch die er finanziellen Hand-
stellungskosten die Bundesregierung rechnet. Leider lungsspielraum gewonnen hat. Es ist naheliegend und
waren die Antworten der Bundesregierung hierauf zum durchaus sachangemessen, wenn dies hier Berücksichti-
Teil unbefriedigend, insbesondere im Hinblick auf das gung findet. Denn es geht ja gerade um die Folgen der
Verfahren und die Problematik der drahtlosen Mikro- Versteigerung. Und der Bereich aus der digitalen Divi-
fone. dende, der betroffen ist, hat den Großteil der Erlöse aus-
gemacht, nämlich rund 3,5 Milliarden Euro.
Bezüglich der Rundfunksendernetzbetreiber ist da-
nach eine pauschale Erstattung der Kosten aus techni- Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf das
schen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Umrüstun- Thema Breitbandausbau zurückkommen. Der zügige
gen angeboten worden. Die Erstattung sei unmittelbar Ausbau mobiler Breitbandanwendungen ist richtig und
nach der vollzogenen Frequenzumstellung vorgesehen. notwendig. Es darf dabei jedoch nicht übersehen wer-
Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendiger den, dass auch der weitere Ausbau des Festnetzes – ins-
Umstellungskosten drahtloser Mikrofone erfolge – so besondere der Glasfaserausbau – weiter vorangetrieben
die Bundesregierung – in Abhängigkeit vom tatsächli- werden muss, da dieser höhere Bandbreiten ermöglicht
chen Ausbau der neuen Mobilfunkanwendungen bis und auch dort die Nachfrage stetig wächst. Die Bundes-
Katrin Kunert
(A) Dividende. Der Erlös, der durch die Versteigerung er- quenzversteigerung auch von demjenigen getragen wer- (C)
zielt werden konnte, beträgt insgesamt 4,38 Milliarden den, der sie verursacht hat, und das ist der Bund.
Euro.
Die Bundesregierung hat den Ländern zwar zugesi-
Dieser Sachverhalt erweckt den Anschein, dass alle chert, unter bestimmten Bedingungen einen Teil der Um-
Beteiligten gleichermaßen davon profitieren. Die Nutze- rüstungskosten zu übernehmen. Die vom Bund angesetz-
rinnen und Nutzer von Smartphones und anderen mobi- ten Kriterien führten aber nur in Einzelfällen zu einer
len Endgeräten werden in Zukunft über eine noch besse- minimalen Erstattung. Auf eine kleine Anfrage der Frak-
ren Netzversorgung mit zum Teil deutlich erhöhter tion Die Linke hat die Bundesregierung zudem erklärt,
Bandbreite verfügen, und der Bundeshaushalt kann an- dass jegliche Kostenerstattung in diesem Zusammen-
sprechende Einnahmen verbuchen. Allerdings tragen hang unter Finanzierungsvorbehalt steht.
die freigewordenen Frequenzen nicht dazu bei, die lei- Die Linke ist der Auffassung, dass der Bund die Kos-
der immer noch bestehenden weißen Flecken bei der ten in vollem Umfang tragen muss. Ich bitte daher um
Breitbandversorgung zu schließen. Zustimmung für unseren Antrag.
Bei näherem Hinsehen muss zudem festgestellt wer-
den, dass die mit der Versteigerung verbundene Neuzu- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ordnung von Frequenzen auch Folgekosten produziert. Frequenzen sind die unsichtbare Infrastruktur vieler
Ein Teil der versteigerten Frequenzen wurde bisher in Medien: So wie die Bahn Schienen braucht, um ihre
der Kultur- und Medienlandschaft für drahtlose Mikro- Züge darauf fahren zu lassen, brauchen Fernsehen und
fonanlagen benutzt. Diese Einrichtungen sind nun in- Radio Frequenzen, um ihre Programme senden zu kön-
folge der Umwidmung dieses Frequenzbereichs gezwun- nen. Die Frequenzen der jüngsten Auktion sollen für
gen, ihre Anlagen umzurüsten und in manchen Fällen schnelle Internetanbindungen genutzt werden. Das ist
komplett zu ersetzen. Konkret betroffen sind insbeson- eine Chance, das Internet in ländliche Regionen zu tra-
dere Theater, Konzertsäle, Kirchen, Konferenzzentren, gen. Denn es ist teuer, Breitbandkabel bis an jede Haus-
viele Kleinunternehmen der Veranstaltungsbranche so- tür zu verlegen. Bis heute sind immer noch Tausende von
wie Produzenten und Dienstleister aus der Film- und Haushalten vom schnellen Internet – wenn sie über-
Fernsehbranche. haupt einen Zugang haben – ausgeschlossen. Gerade in
ländlichen Regionen ist das ein gravierender Standort-
Gerade bei Theatern ist häufig ein Komplettumbau nachteil für die Bevölkerung und vor allem auch für die
erforderlich. So rechnet beispielsweise allein das Thea- regionale Wirtschaft.
ter Erfurt infolge der Versteigerung der Mobilfunk-
(B) frequenzen mit Zusatzkosten in Höhe von etwa Wir haben im Zuge der Frequenzversteigerung aber (D)
100 000 Euro, und auch das Nationaltheater in Weimar jetzt tatsächlich ein Problem. Die Bundesregierung hat
geht von einer ähnlichen Größenordnung aus. Vor dem in ihrer Euphorie über die Breitbandstrategie offenbar
Hintergrund dieser Kostenentwicklung hatte der Deut- vergessen oder einfach ignoriert, dass die neue Zutei-
sche Bühnenverein bereits einen Stopp der Versteige- lung der Frequenzen Folgen hat. Bei dem Frequenzbe-
rung der Frequenzen gefordert. Nach ersten Schät- reich, der jetzt an die Mobilfunkhersteller versteigert
zungen werden die Folgekosten für den Ersatz von wurde, handelt es sich um die Kulturfrequenzen, die alle
Drahtloseinheiten im Kulturbereich zwischen 2,5 Mil- drahtlosen Mikrofone nutzen.
liarden und 3 Milliarden Euro betragen. Verantwortlich Die versteigerten Frequenzen sind nicht zusätzlich
für die Übernahme der Kosten sind zunächst die Träger da, sondern sie sind freigemacht worden, weil die ana-
der Einrichtungen. Bei den Theatern sind das in den al- loge Rundfunkübertragung abgeschaltet wurde. Inner-
lermeisten Fällen Kommunen und Länder, die sich, wie halb dieses Frequenzbereichs funken aber noch immer
wir alle wissen, selbst in einer äußerst angespannten die drahtlosen Mikrofone und der digital-terrestrische
Haushaltslage befinden. Insbesondere bei den hoch ver- Rundfunk. Die neue Nutzung wird für sie und DVB-T
schuldeten Kommunen könnten die Umrüstungskosten, Störungen erzeugen, weil die neuen Nutzer sehr „nah“
die zu den regulären Betriebskosten hinzukommen, an genutzten Frequenzen dran sind. Wo es eng wird im
schlimmstenfalls dazu führen, dass Theater geschlossen Äther, überschneiden sich Frequenzen und stören sich
werden müssen. Wir haben es also auch mit einem typi- gegenseitig. Dann piept und quietscht es. Deshalb be-
schen Beispiel dafür zu tun, wie durch Entscheidungen, kommen die Funkmikrofone eine neue Frequenz zuge-
die auf Bundesebene getroffen werden, Kosten für die wiesen; der Umstieg dahin kostet aber. Denn ein Mikro-
Kommunen entstehen. fon kann nicht einfach die Frequenz wechseln, sondern
muss dafür ausgetauscht werden.
Einigkeit werden wir in diesem Haus sicherlich da-
rüber erzielen können, wie wichtig gerade Theater als Die geräumten Frequenzen wurden für viel Geld an
kulturelle Einrichtungen in unseren Kommunen sind, die Mobilfunkunternehmen versteigert. An die bisheri-
und dass Kosten, auf deren Entstehung weder die Thea- gen Nutzer wurde aber nicht gedacht. Das sind alle Nut-
ter noch die Kommunen Einfluss haben, nicht dazu füh- zerinnen und Nutzer moderner drahtloser Mikrofone.
ren dürfen, dass Theater ihren Betrieb nur noch ein- Das mag zunächst nach einem Randproblem klingen;
geschränkt aufrechterhalten können oder sogar ge- das ist es aber nicht. Man muss sich nur mal klar ma-
schlossen werden müssen. Aus diesem Grunde müssen chen, wer alles diese Technik nutzt: Theater, Musikver-
wir dafür Sorge tragen, dass die Folgekosten der Fre- anstalter, Bands, Kirchen und Fernsehsender. Drahtlose
Wir Grünen setzen uns für einen schnellen Ausbau Wir fordern von der Bundesregierung deshalb, dass
von Breitband im ländlichen Raum ein. Deshalb haben sie eine Rechtsgrundlage schafft, die all denen einen An-
wir es begrüßt, dieses Ziel mit der Vergabe von Frequen- spruch auf Entschädigung gibt, die die Leidtragenden
zen an den Mobilfunk zu verknüpfen. Es war sinnvoll der Neuzuteilung der Frequenzen sind.
und erfolgversprechend, den Erwerb der Frequenzen
durch die Auktion an einen Ausbau zu koppeln. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Allerdings haben wir Grünen ein Problem damit, dass Drucksache 17/2416 an die in der Tagesordnung aufge-
sich der Bund die Einnahmen aus der Versteigerung in führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
die Tasche steckt und die Leidtragenden der Frequenz- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
umstellung allein im Regen stehen lässt. Durch die so beschlossen.
Rechtsnorm mit dem sperrigen Namen „Frequenz-
bereichszuweisungsplanverordnung“ wurde zwar auf Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Nachdruck des Bundesrates festgelegt, dass der Bund Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sich an der Entschädigung beteiligen muss, nicht aber in richts des Ausschusses für Kultur und Medien
welcher Form und welcher Höhe. Folgekosten sind nicht (22. Ausschuss)
ausreichend gedeckt.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Ein Theater wie das Hamburger Schauspielhaus Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin
muss mit Kosten in Höhe von mindesten 150 000 Euro Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
für eine neue technische Ausrüstung rechnen. Der Bund Fraktion DIE LINKE
muss für diese Kosten aufkommen und darf sie nicht ein-
(B) fach auf die Kommunen abschieben. Denn die müssten „Soforthilfeprogramm Kultur“ zum Erhalt (D)
sonst für die Ausstattung der städtischen Theater und der kulturellen Infrastruktur einrichten
Bühnen sorgen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Undine Kurth (Quedlinburg), Ekin
Auf die finanzielle Situation der Kommunen muss ich Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
hier nicht eingehen. Aber sie sind derart ausgeblutet, tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass an allen Ecken und Enden gespart werden muss.
Aus einem ausgewrungenen Lappen bekommt man Kulturelle Infrastruktur sichern – Sub-
nichts mehr raus. In der Folge können die Kulturein- stanzerhaltungsprogramm Kultur auflegen
richtungen die nötigen Gelder für die neue Technik nur
– Drucksachen 17/552, 17/789, 17/2320 –
von den Besucherinnen und Besuchern bekommen. Dies
hätte eine Erhöhung der Eintrittspreise zur Folge. Wir Berichterstattung:
aber wollen nicht, dass sich nur Eliten die Eintritte in Abgeordnete Marco Wanderwitz
Theater und Konzerte leisten können, und dies nur, weil Siegmund Ehrmann
der Bund seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Es ist absurd, dass all die, die ihren Platz im Äther Agnes Krumwiede
räumen werden, am Ende die Leidtragenden sind. Der
Bund hat knapp 4,4 Milliarden Euro durch die Verstei- Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, wer-
gerung der Frequenzen eingenommen. Da ist es nicht zu den auch hier die Reden zu Protokoll gegeben, und
viel verlangt, dass er dafür sorgt, dass durch die Umstel- zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen: Marco
lung am Ende niemand auf den Kosten sitzenbleibt. Der Wanderwitz, Siegmund Ehrmann, Reiner Deutschmann,
Bund muss als Nutznießer der Versteigerung den Thea- Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes Krumwiede.
tern, aber auch dem Rundfunk und allen anderen, die
Störungen ihrer Technik erfahren, bei der Umrüstung Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
helfen. Das bedeutet aber auch – das ist wichtig –, dass Die beiden heute zur Debatte stehenden Anträge der
der Bund die Folgekosten trägt. Es nützt uns nichts, Opposition zeichnen ein Bild der Kulturlandschaft in
wenn der Bund zwar die Kosten für neue Sendemasten Deutschland, das so nicht real ist, jedenfalls nicht in der
an die Rundfunksender zahlt, die elf Millionen Verbrau- vorgetragenen Homogenität. Die Lage der kulturellen
cherinnen und Verbraucher, die DVB-T nutzen, mit ihren Infrastruktur der Kommunen ist differenziert und hat oft
Geräten aber keinen ungestörten Empfang mehr haben. auch mit gewollter Prioritätensetzung vor Ort zu tun.
5784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
Marco Wanderwitz
(A) Die finanzielle Not einiger Kommunen ist auch kein kul- Die Forderung der Grünen nach einem KfW-Sonder- (C)
turspezifisches Problem. programm, welches Überbrückungskredite für kulturelle
Einrichtungen gewährt, findet ebenfalls nicht unsere Zu-
Richtig ist, dass viele Kommunen als Folge der welt- stimmung. Ein bisschen lebensfremd mutet Ihr Antrag
weiten Wirtschafts- und Finanzkrise mit besonderen schon an, wenn man weiß, wie derzeit die Zinssituation
Haushaltsproblemen zu kämpfen haben. Das geht Bund von Kommunalkrediten ist. In Ihrer Fraktion sollte es
und Ländern und den meisten Staaten der Welt genauso. doch zumindest ein paar Stadt- oder Gemeinderäte ge-
Aber längst nicht alle Kommunen kürzen deshalb radi- ben, meine Damen und Herren. Das Problem liegt nicht
kal auf dem kulturellen Sektor. bei den Zinsen – die gibt es faktisch nicht –, sondern da-
rin, dass manche Kommunen haushaltsrechtlich schlicht
Die Forderungen der PDS nach Bundesmilliarden für keine weiteren Kredite von den Kommunalaufsichtsbe-
den kommunalen Kulturbereich zeugt von Unkenntnis hörden genehmigt bekommen, weil der Schuldenstand
unserer Verfassung. Nach der Anhörung kann man aber dies nicht hergibt.
nicht mehr von gutem Glauben sprechen. Der Antrag ist
verfassungswidrig; das sagen alle Experten. Der Bund
hat hier keine Zuständigkeit. Unsere föderale Struktur, Siegmund Ehrmann (SPD):
die die Hoheit für die Kultur in die Länder und Kommu- Wir haben in den vergangenen Monaten viel über die
nen legt, lässt keinen Spielraum für einen Nothilfefonds Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise und vor
des Bundes. allem der kurzsichtigen Steuerpolitik von Union und
FDP für unsere Kulturlandschaft gesprochen. Jetzt lie-
Ich verweise an dieser Stelle auf das Subsidiaritäts- gen belastbare Daten auf dem Tisch. Leider haben sich
prinzip als politische und gesellschaftliche Maxime. Die unsere Befürchtungen bestätigt:
Länder müssen alle Anstrengungen unternehmen, um
Städte und Gemeinden beim Erhalt des kulturellen Ange- Eine aktuelle Umfrage der Unternehmensberatung
botes zu unterstützen. Die historisch gewachsene Kul- Ernst & Young bei 300 Kommunen in Deutschland vom
turhoheit der Länder hat sich bewährt. Länder und Juni dieses Jahres hat ergeben, dass fast jede zweite
Kommunen investieren jährlich circa 7 Milliarden Euro Kommune in Deutschland die Zuschüsse zu Kulturein-
in die Kulturförderung – ein europäischer Spitzenwert! richtungen reduziert hat. Zwischen 8 und 15 Prozent der
Kommunen wollen sogar Kultureinrichtungen schlie-
Den Freistaat Sachsen, meine Heimat, möchte ich an ßen. 44 Prozent der Kommunen wollen die Eintritts-
dieser Stelle als Positivbeispiel besonders hervorheben: preise für Kultureinrichtungen deutlich erhöhen. Wäh-
Gesetzlich geregelt im deutschlandweit einmaligen Kul- rend die Qualität der Angebote sinkt, steigen die Kosten.
turraumgesetz, leisten die sächsischen Kommunen und Bibliotheken etwa können keine neuen Bücher mehr an- (D)
(B)
der Freistaat die höchsten Ausgaben für Kultur pro Ein- schaffen, verlangen aber deutlich höhere Gebühren für
wohner in ganz Deutschland, und das als Pflichtauf- das Ausleihen von alten Werken. Das ist das Ergebnis
gabe! von „mehr Netto vom Brutto“. Das Gegenteil ist der
Fall: Die Bürger müssen für kommunale Leistungen tie-
Der Bund ist seiner Mitverantwortung zur Sicherung fer in die Tasche greifen. Besonders trifft es aber die so-
der deutschen Kulturlandschaft mehr als gerecht gewor- zial Schwachen in unserem Land. Höhere Eintrittspreise
den. Fünfmal in Folge wurde der Kulturhaushalt des für Bibliotheken, Theater oder Museen können sich viele
Bundes in den letzten Jahren um insgesamt über 10 Pro- Bürgerinnen und Bürger nicht leisten. Sie sind es, die in
zent erhöht. Hinzu kommen zahlreiche Maßnahmen, von Zukunft an kulturellen Angeboten nicht teilhaben kön-
denen in besonderem Maße auch die Kultur profitiert: nen. Schwarz-Gelb bleibt sich hier treu: Die schwachen
das Konjunkturprogramm II in Höhe von 10 Milliarden und nicht die starken Schultern tragen die negativen
Euro, das Denkmalschutzsonderprogramm von Staats- Folgen der Krise und vor allem der schwarz-gelben
minister Bernd Neumann in Höhe von 40 Millionen Steuerpolitik.
Euro, das Investitionsprogramm für städtebauliche In-
frastruktur in Höhe von 100 Millionen Euro und Sonder- Daher stellt sich die Frage: Was tun angesichts der
maßnahmen für die Kultur über das Weltkulturerbe-Pa- alarmierenden Befunde? Die Regierungskoalition hat
ket in Höhe von 150 Millionen Euro. Der gerade bisher keine Antwort auf diese Fragen. Es wird auf eine
vorgelegte Haushaltsentwurf 2011 hält im Angesicht der eingesetzte Gemeindekommission verwiesen, die sich
richtigen Sparanstrengungen der Bundesregierung den mit diesen Problemen befassen soll. Bisher höre ich von
Kulturhaushalt konstant. Das alles kann sich mehr als dort nichts Gutes. Auch die Abschaffung der Gewerbe-
sehen lassen, und ich erwarte, dass die Opposition das steuer soll dort diskutiert worden sein. Eine echte Hilfe
endlich zur Kenntnis nimmt, statt die Leute aufzuhetzen. sieht anders aus. Eine Idee hätte ja auch sein können,
die Gewerbesteuerquellen zu verbreitern und zu verste-
Mit der Einsetzung der Gemeindefinanzkommission tigen. Im Koalitionsvertrag wird dagegen die private
arbeitet die christlich-liberale Koalition bereits an einem Kulturförderung beschworen. Aber meine Damen und
Konzept zur langfristigen Konsolidierung der kommuna- Herren von der Koalition: Wer auf die unsichtbare Hand
len Finanzen, so wie es in unserem Koalitionsvertrag des Marktes baut, steht am Ende mit leeren Händen da,
vorgesehen ist. Das kommt auch den Kulturhaushalten und von Hotels allein kann die Stadt nicht leben.
der Kommunen zugute. Es ist wichtig, die kommunale
Selbstverwaltung zu stärken und Städte und Gemeinden Von anderer Seite wurde der Ruf nach einem Nothilfe-
auf ein sichereres finanzielles Fundament zu stellen. fonds des Bundes für die Kultur laut. Das Argument
Reiner Deutschmann
(A) sächsische Kulturraumgesetz, das die Finanzierung der nur in absoluten Ausnahmesituationen oder in Sachver- (C)
Kultur regelt, kommt der Kultur dort ein besonders ho- halten, die den Aufbau Ost betreffen, Abhilfe schaffen.
hes Gewicht zu. Nicht umsonst gibt der Freistaat Sach- Auch hier hilft ein Blick in das Grundgesetz. Wie ich be-
sen, verglichen mit den anderen Bundesländern, pro reits in meiner Rede vom 25. Februar 2010 gesagt habe,
Kopf am meisten für die Kultur aus. fordert deswegen auch der Kulturrat NRW folgerichtig,
die Kommunen durch höhere Landeszuweisungen, zum
Zum anderen hat sich in der Wirtschaftskrise die Ab- Beispiel in Form von zweckgebundenen Zuweisungen
hängigkeit von Gewerbesteuereinnahmen als besonders für die Kulturhaushalte der Kommunen, im Bereich der
problematisch herausgestellt. Das zyklische Auf und Ab Kulturförderung zu entlasten.
der Einnahmen macht eine konstante Haushaltsplanung
in den Städten und Gemeinden nicht einfach oder teil- Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sieht den
weise unmöglich. Laufende Verbindlichkeiten müssen Kern des Problems, nämlich die grundlegende Schief-
bedient werden. Da scheint es oft einfach, den Rotstift lage der kommunalen Finanzierung. Aber die KfW Ban-
zuerst bei der Kultur anzusetzen. Dabei ist noch kein kengruppe mit der Betreuung von Kultursonderpro-
kommunaler Haushalt durch Einsparungen in der Kul- grammen zu betrauen, entspricht nicht den Aufgaben
turförderung saniert worden. dieser unter anderem mit der Förderung des Mittelstan-
des betrauten Bank. Wir können auch nicht dazu überge-
Die christlich-liberale Koalition hat dieses Problem
hen, alle Probleme bei der KfW abzuladen. Eine Auswei-
erkannt und handelt. Bundesfinanzminister Wolfgang
tung der Aufgaben wäre zudem nur ein Notpflaster auf
Schäuble hat bereits im Februar eine Kommission ein-
die klaffende Wunde. Richtiger ist es, wenn man die Fi-
gesetzt, die die Reform der kommunalen Finanzen auf
nanzen und damit auch die Kulturfinanzen der Kommu-
den Prüfstand stellt. Dieser Ansatz ist auch richtig, statt
nen wieder auf solide Beide stellt. Diesen Weg geht die
Millionen ohne Konzept über den Städten und Gemein-
Koalition. Außerdem würde dies dazu führen, dass die
den ausschütten zu wollen, wie dies die Anträge von
kommunale Selbstverwaltung auch tatsächlich wieder
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken vorsehen. Mit
ihrem Namen gerecht werden könnte. Die Stadt- und Ge-
dem Geld der Steuerzahler bzw. der Belastung künftiger
meinderäte müssen die Möglichkeit haben, selbst über
Generationen sollten wir wirklich verantwortungsbe-
die Prioritätensetzung in ihren Orten zu entscheiden.
wusster umgehen.
Wie schwierig die Neuordnung der kommunalen Fi- Die Koalitionsfraktionen werden deshalb aus den
nanzen wird, zeigt die gemeinsame Stellungnahme des oben genannten Gründen die Anträge von Bündnis 90/
Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und Die Grünen und der Linken ablehnen.
Gemeindebundes, die an der Gewerbesteuer festhalten
(B) möchten. Wir nehmen diese Stellungnahmen ernst. Man Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (D)
wird sicherlich verschiedene Modelle diskutieren müs- Wollte man bestimmen, was Europa von anderen
sen, so zum Beispiel auch ein Kombimodell, das unter- Weltregionen unterscheidet, so ist es sein Ur-
schiedliche Einnahmequellen beinhaltet. Dazu sollten sprung: die Stadt. Die europäische Kultur ist eine
wir der Gemeindefinanzkommission aber auch die nö- Kultur der Städte, des urbanen Lebens und immer
tige Zeit lassen, um ein tragfähiges Konzept zu entwi- wieder des demokratischen Gemeinwesens.
ckeln.
So beginnt eine Resolution der 19 nordrhein-westfäli-
In der Diskussion um Finanzhilfen zur Kulturförde- schen Theaterintendanten zwischen Aachen und Wup-
rung in den Städten und Gemeinden durch den Bund pertal, Bielefeld und Paderborn, die auf die derzeitige
dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass dies schlicht Situation der so unterschiedlichen großen und kleinen
und ergreifend verfassungsrechtlich nicht zulässig ist. Bühnen aufmerksam machen soll. Die derzeitige Situa-
Dies hat das öffentliche Expertengespräch zum Thema tion, das weiß man inzwischen überall in NRW und auch
„Lage der Kulturfinanzierung in der Finanz- und Wirt- außerhalb, heißt: akute Bedrohung der Theaterland-
schaftskrise“, das am 24. Februar 2010 im Kultur- und schaft und schrittweise Zerstörung der Städte in ihrer
Medienausschuss des Deutschen Bundestages stattfand, Substanz und damit eine nicht zu unterschätzende Be-
klar zum Ausdruck gebracht. Keiner der anwesenden drohung der Demokratie.
Experten hat eine Rechtsgrundlage für die Aufsetzung
eines Kulturnothilfefonds ausmachen können. Damit Was ist neu an dieser Situation? Nach Ansicht aller
hält der Antrag der Linken nicht einmal dem Grundge- NRW-Theater-Intendanten:
setz stand. Unhaltbar ist die Forderung nach pauschaler
Bereitstellung von 1 Milliarde Euro. Welche Berech- Neu an der aktuellen Situation ist, dass die Kon-
fliktlinien nicht mehr zwischen Theaterleitungen
nungsgrundlage dieser Zahl zugrunde liegt, lässt die
und städtischen Verwaltungen laufen. Auch das
Linke offen. So kann man keine Haushaltspolitik ma-
wechselseitige Aufrechnen der Förderung von
chen, zumal es um das Geld der Steuerzahlerinnen und
Stadttheatern, Festivalstrukturen und freier Thea-
Steuerzahler geht. Diese haben ein Anrecht zu erfahren,
terszene wird damit obsolet. Vor dem Hintergrund
warum eine bestimmte Summe benötigt wird.
der desaströsen Finanzsituation der meisten Städte
Zuständig sind nun einmal die Länder. Diese wären bleibt der Kommunalpolitik kein Handlungsspiel-
folgerichtig auch der richtige Adressat für Forderungen raum. Vom Gesetzgeber eingestuft als „freiwillige
nach Aufstockung der Kulturförderung in den Städten Leistung“, bleiben die Ausgaben für kulturelle Ein-
und Gemeinde, auch für Notprogramme. Der Bund kann richtungen oft der einzige Haushaltsbereich, in dem
Agnes Krumwiede
(A) Zweitens würde das Programm der KfW die Einbezie- Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen der SPD und (C)
hung von Kultureinrichtungen in eine besonders zins- der Linken.
günstige Kommunalfinanzierung bedeuten, und zwar für
ausgewählte Verwendungszwecke. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28:
Drittens könnte unser Vorschlag nach Angaben der KfW Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
auch ein Stadtentwicklungsprogramm zur Eigenkapital- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
finanzierung von Stadtentwicklungsprogrammen mit ei- serung des Verbraucherschutzes bei Vertrags-
nem Schwerpunkt „Berücksichtigung von Kultureinrich- abschlüssen im Internet
tungen in benachteiligten Städten und Stadtteilen“ – Drucksache 17/2409 –
beinhalten. Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Leider hat die Koalition unseren Prüfauftrag abge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
lehnt und somit die Chance vertan, den Kommunen einen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
attraktiven Vorschlag zur Kulturfinanzierung als Über- Verbraucherschutz
brückungsmaßnahme anzubieten. Wie unser „Kultur- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Kapitän“ und seine Mannschaft grundsätzlich zu Hilfe- Ausschuss für Kultur und Medien
stellungen des Bundes bei der Kulturfinanzierung ste- Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
hen, beweist auch die Antwort der Regierung auf unsere wiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
Frage, welche konkreten Maßnahmen die Regierung be- und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Marco
absichtigt, um in ihrer Existenz bedrohte kommunale Wanderwitz, Lucia Puttrich, Kerstin Tack, Stephan
Kultureinrichtungen von Bundesseite auch kurzfristig zu Thomae, Caren Lay und Nicole Maisch.
unterstützen. Die Regierung antwortete: „Mit einer …
„Ausfallförderung“ durch den Bund würden Länder und
Marco Wanderwitz (CDU/CSU):
Kommunen aus ihrer grundsätzlichen Verantwortung für
den Kulturbereich entlassen. Dies wäre ein falsches Si- Manchmal geht es ganz schnell: Ein verlockendes
gnal.“ Internetangebot, ein kurzer Klick. Was man tatsächlich
angeklickt hat, merkt man erst Monate später, wenn eine
Diese Aussage ist vergleichbar mit einem Schiffskapi- Rechnung ins Haus flattert. Was folgt, kann eine mona-
tän, der seinen Passagieren weder Rettungsringe noch telange Plage sein, Inkasso-Stalking mit offenem Ende,
Rettungsboote anbietet, weil er befürchtet, seine Mann- Kosten von Hunderten Euro oder sogar mehr stehen im
schaft könne dadurch das Schwimmen verlernen. Aber Raum.
die Wellen des Sparzwangs schlagen zu hoch, als dass
(B) eine Vielzahl der Kulturinstitutionen ohne Rettungsmaß- Sogenannte Internetkostenfallen sind ein finanzstar- (D)
nahmen darin überleben könnte. Lieber Herr Neumann, kes Übel. Circa 750 000 Opfer allein im Jahre 2007 in
bitte überdenken Sie unseren Prüfauftrag, gehen Sie auf Deutschland. Sämtliche dieser Seiten sind mittlerweile
die KfW zu oder leiten Sie andere Maßnahmen ein, um so professionell gestaltet, dass ohne Weiteres nicht er-
Ländern und Kommunen bei der Kulturfinanzierung un- kennbar ist, dass es sich um kostenpflichtige Angebote
ter die Arme zu greifen. Aber bitte: Handeln Sie, bevor handelt. Häufig wird mit den Worten „gratis“ oder
es zu spät ist und irreversibler Schaden für unsere Kul- „kostenlos“ hervorgehoben geworben. Gerade die Er-
turlandschaft entsteht! wartungshaltung der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, das Angebot sei entgeltfrei, wird ausgenutzt. In
Teilnahmebedingungen oder in unscheinbar gestalteten
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Fußnoten findet sich dann aber irgendwo der gut ver-
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Be- steckte Hinweis, dass man mit der Anmeldung zu dem
schlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Me- Angebot einen langfristigen Vertrag abschließt und der
dien auf Drucksache 17/2320. Betrag bereits im Voraus fällig sein soll. Der klassische
Fall der Abofalle.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Die Antragsteller haben unsere politischen Aktivitä-
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/552. Wer stimmt ten rund um den Verbraucherschutz in den letzten
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Jahren selbst aufgezählt: Das Gesetz zur Bekämpfung
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit an- unerlaubter Telefonwerbung, die Unterstützung der
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Verbraucherzentralen, die entwickelten Softwarepro-
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal- gramme als Schutz vor Abzocke. Bürgerinnen und Bür-
tung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die ger werden hier nicht allein gelassen.
Grünen.
In unserer Koalitionsvereinbarung haben wir uns als
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- christlich-liberale Koalition auf die Fahnen geschrie-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der ben, speziell im Bereich des Internets die erfolgreiche
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/789. Verbraucherschutzpolitik der letzten Jahre fortzuentwi-
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist ckeln. Unser Ziel ist es, dass die Verbraucherinnen und
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Verbraucher mit vertretbarem Aufwand erkennen kön-
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions- nen, welcher Nutzen und welche Folgen mit einer Kauf-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ entscheidung verbunden sind. Information und Transpa-
Lucia Puttrich
(A) Wir haben einige Schwerpunkte formuliert, die wir in zweitbeste Lösung, nämlich eine nationale Regelung, (C)
diesem Bereich umsetzen wollen: Allen voran steht die vorantreiben.
Vermeidung der stark steigenden Zahl der Internetabzo-
cke! Aber auch die Verbesserung des Datenschutzes im
Kerstin Tack (SPD):
Sinne des Verbraucherschutzes muss realisiert werden.
Denn Verbraucher sind sowohl Kunden als auch vielfäl- Worum geht es? Viele Verbraucherinnen und Ver-
tige Nutzer, zum Beispiel für die Pflege sozialer Kon- braucher werden immer häufiger Opfer von sogenann-
takte und zur Veröffentlichung von Kommentaren oder ten Kostenfallen im Internet. Das Prinzip ist einfach:
Bildern. Dies in der Gesamtheit zu sehen, ist wichtig; Über Anzeigen auf Suchmaschinen locken unseriöse Un-
denn Vorsicht, Transparenz und Schutz sind bei jeder ternehmen Internetnutzerinnen und -nutzer auf ihre Sei-
Aktivität im Internet geboten. Dazu gehört, dass Ver- ten. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher rechnen
braucher bewusst agieren und die Vorzüge des Internets dort nicht damit, für Dienste oder Software zahlen zu
– Schnelligkeit, grenzüberschreitender Austausch und müssen, die es im Internet im Normalfall kostenlos gibt,
Informationsfluss – sie nicht zur Leichtsinnigkeit verfüh- wie zum Beispiel Kochrezepte. In gutem Glauben geben
ren. Hier sind alle, gerade bei Jugendlichen, gefragt: sie ihren Namen und ihre Adresse für eine vermeintliche
Eltern, Schule und Gesellschaft! Kundenregistrierung an – und haben ein teures Abo
oder einen kostenpflichtigen Zugang abgeschlossen.
Für uns ist klar: Im Zentrum steht der selbstbe- Dabei werden die Verbraucherinnen und Verbraucher
stimmte Verbraucher. Verbraucher müssen vor Abzocke mittels unklarer, irreführender Gestaltungsweisen über
geschützt werden. Auch die Weiterleitung und Kommer- die Kostenpflichtigkeit getäuscht. Der Hinweis auf die
zialisierung privater Daten darf nur mit Zustimmung der Kosten ist in den AGBs bzw. im Kleingedruckten ver-
betroffenen Personen erfolgen.
steckt oder wird erst sichtbar, wenn der Bildschirm he-
Bei aller gebotenen Vorsicht möchte ich auch darauf runtergerollt wird.
hinweisen, dass sich im Internet nicht allein nur
schwarze Schafe tummeln. Es gibt zahlreiche seriöse Im Nachgang erhalten Betroffene dann einschüch-
Anbieter, denen man vertrauen kann. Wir wollen dem ternde Drohbriefe der Betreiber, und nicht wenige zah-
Verbraucher helfen, diese leichter zu finden. Deshalb ist len aus Angst die haltlosen Forderungen. Laut Verbrau-
es wichtig, Unternehmen, die eine seriöse und kunden- cherschützern liegt der Schaden in Deutschland jährlich
freundliche Strategie im Internet verfolgen, die Mög- im mehrstelligen Millionenbereich. Seit Jahren gewinnt
lichkeit zu geben, sich im Wettbewerb positiv hervor- der Verbraucherzentrale Bundesverband ein Gerichts-
zuheben. Wir brauchen eine Art „Online-Engel“ als verfahren nach dem anderen gegen unseriöse Onlinean-
Positivwerbung für verbraucherfreundliche Unterneh- bieter. Allerdings geht danach die Abzocke weiter, denn
(B)
men im Netz. Die Kriterien für einen solchen „Online- mit geringer Anpassung starten die Betreiber einfach ein (D)
Engel“ müssen sein: Der Einsatz von einfachen, daten- neues Angebot.
sparsamen Voreinstellungen, Preistransparenz, faire
Allgemeine Geschäftsbedingungen auf einer DIN-A4- Bei den Verbraucherzentralen nehmen die Beschwer-
Seite und kundenfreundliche Bezahlsysteme. den der Menschen zu, und dies ist sicher auch der Bun-
desregierung bekannt, aber gehandelt wird nicht! Frau
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass der Schutz vor Aigner prangert die unseriösen Machenschaften zwar
Kostenfallen und Abzocke im Internet durch das soge- an, hat sich bisher aber darauf zurückgezogen, eine Lö-
nannte Button-Verfahren erheblich verbessert werden sung im Rahmen der zurzeit diskutierten europäischen
kann. Der Verbraucher sollte den endgültigen Vertrags- Verbraucherrechterichtlinie herbeizuführen. Diese Richt-
abschluss im Onlinehandel nochmals bestätigen müs- linie wird es in naher Zukunft aber noch nicht geben.
sen, vorher darf kein Vertrag oder Abonnement zustande Jetzt sagt Frau Aigner: „Sollte bis zum Herbst nicht er-
kommen. Dafür setzen sich die Bundesministerinnen kennbar sein, dass sich die Button-Lösung auf EU-
Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger schon lange Ebene durchsetzen wird, werden wir uns um eine natio-
ein. nale Regelung bemühen …“, das heißt, die Verbrauche-
Darüber hinaus stärkt eine breite Informationskam- rinnen und Verbraucher werden noch länger allein ge-
pagne des Ministeriums, begleitet von den Informa- lassen.
tionen der Verbraucherverbände, das Bewusstsein der Dabei ist eine Lösung schnell und einfach möglich,
Verbraucherinnen und Verbraucher, im Bereich des In- und wir legen sie jetzt vor: Mit einer Änderung im Bür-
ternets und des Onlinehandels mit Sorgfalt zu entschei- gerlichen Gesetzbuch § 312 e, Abs. 1, und durch Einfü-
den. gen eines Abs. 1 a mit dem Inhalt: „Der auf eine entgelt-
Wir wollen einen umfassenden Schutz der Menschen liche Gegenleistung gerichtete Vertrag im elektronischen
und eine europäische Lösung. Wir lehnen Ihren Gesetz- Geschäftsverkehr wird nur wirksam, wenn der Verbrau-
entwurf ab, da die Verhandlungen auf EU-Ebene derzeit cher vor Abgabe seiner Bestellung vom Unternehmer
nicht abgeschlossen sind. Die EU-weite Lösung muss einen Hinweis auf die Entgeltlichkeit und die mit dem
angesichts grenzüberschreitenden Onlinehandels wei- Vertrag verbundenen Gesamtkosten in deutlicher, gestal-
terhin so energisch verfolgt werden, wie es Bundes- tungstechnisch hervorgehobener Form erhalten und die
ministerin Aigner und Bundesministerin Leutheusser- Kenntnisnahme dieses Hinweises in einer von der Bestel-
Schnarrenberger tun. Sollte es allerdings bis zum Herbst lung gesonderten Erklärung bestätigt hat“ wird den Ver-
nicht dazu kommen, werden wir selbstverständlich die braucherinnen und Verbrauchern sofort geholfen.
Stephan Thomae
(A) Wir Liberale fordern zur Lösung des hier zu erörtern- Das Internet ist ein internationaler Raum. Wir wissen (C)
den Problems, dass sich auf den Internetseiten der Un- alle, dass deshalb manche Probleme mit nationaler Ge-
ternehmen ein separates Fenster öffnen muss, bevor es setzgebung schwer in den Griff zu bekommen sind. Inte-
zu einem eventuellen Vertragsschluss im Internet kom- ressanterweise tritt die Masche mit den angeblichen kos-
men kann. Nur so kann der dadurch verfolgte Zweck, tenlosen Downloads und Kochrezepten aber vor allem in
den Verbraucher vor überraschenden Vertragsabschlüs- Deutschland auf. Das deutet doch stark auf eine natio-
sen zu schützen, gewährleistet werden. Dieses Ziel geht nal begrenzte rechtliche Grauzone hin. Es macht also
aus der von der SPD vorgeschlagenen Formulierung gar keinen Sinn, dass die Bundesregierung auf die EU-
nicht eindeutig genug hervor. Der Antrag spricht von ei- Richtlinie über die Rechte der Verbraucher wartet und
nem deutlichen, in gestaltungstechnisch hervorgehobe- bis dahin nichts unternimmt. Denn es ist ja schon abseh-
ner Form erteilten Hinweis auf die Entgeltlichkeit und bar, dass die Richtlinie nationale Spielräume offen las-
die Gesamtkosten eines möglichen Vertrages. Dieser sen wird. Die Bundesregierung kann und muss deshalb
Wortlaut würde Unternehmern die Umgehung der von umgehend auf nationaler Ebene Regelungen zum Schutz
uns geforderten Form des Hinweises ermöglichen. der Internetnutzerinnen und -nutzer vor unseriösen An-
geboten treffen.
Der Vorschlag der SPD, wenn auch inhaltlich diskus-
sionswürdig, ist deshalb einesteils voreilig, anderenteils Seit Jahren gewinnt der Verbraucherzentrale Bundes-
inhaltlich noch nicht in allen Punkten bis zu Ende ge- verband ein Verfahren nach dem anderen gegen unseri-
dacht. öse Onlineanbieter. Trotzdem nimmt die Abzocke im In-
ternet weiter zu. Mit kleinen Veränderungen starten die
Caren Lay (DIE LINKE):
Betreiber solcher Seiten einfach ein neues Angebot –
Gerichtsurteil hin oder her. Strafen fallen ja nicht an
Abofallen im Internet sind kein neues Phänomen. Seit und Schadenersatz für die geschädigten Verbraucherin-
Jahren verdienen skrupellose Abzocker Geld mit Kos- nen und Verbraucher müsste individuell zivilrechtlich
tenfallen im Internet, siehe: http://www.computer eingeklagt werden. Die Erfahrung zeigt, dass das so gut
betrug.de/abzocke-im-internet/ wie niemand macht. Und so summieren sich die Ge-
Versteckte Kosten und arglistige Täuschung sind winne der Internetbetrüger, der beteiligten Inkasso-
nach geltendem Recht eigentlich verboten. Doch die Ge- unternehmen und Rechtsanwälte immer weiter.
schäftemacher sind findig und die Masche funktioniert: Die Linke fordert deshalb:
Die Täter stellen Internetseiten online, auf denen sie at-
traktive und scheinbar kostenlose Dienste wie Hausauf- Erstens. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen
gabenhilfen, Kochrezepte oder Software anbieten. Um über ein gut sichtbares Feld auf der Internetseite über
(B) die Dienste nutzen zu können, müsse man sich lediglich den Preis eines Angebots informiert werden. Der Button (D)
anmelden und die AGBs akzeptieren. Die böse Überra- dazu muss immer separat bestätigen werden. Das ist in
schung für Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich Frankreich so üblich. Kostenfallen sind dort daher kein
arglos auf solchen Seiten anmelden, folgt auf dem Fuß; Thema.
denn wenig später erhalten sie eine Mail mit einer Rech-
nung. Durch das Eintragen seiner Daten habe man an- Zweitens. Internetnutzer sollen den Vertrag kündigen
geblich einen kostenpflichtigen Vertrag geschlossen, und Schadenersatz verlangen können, wenn ihnen un-
heißt es darin. Wer nicht sofort bezahlt, wird von den wissentlich ein Abonnement untergeschoben wurde.
Abzockern und ihren Helfershelfern massiv unter Druck Drittens. Die Linke fordert darüber hinaus wirksame
gesetzt. Mahnungen, Drohbriefe und sogar Anrufe sol- Strafen gegen Aboabzocke im Internet. Außerdem soll-
len dazu führen, dass zumindest ein gewisser Prozent- ten unrechtmäßige Gewinne der Firmen eingezogen
satz der Abgezockten die ungerechtfertigten Forderun- werden.
gen bezahlt. Übler wird es, wenn die beauftragten
Inkassounternehmen scheinbar amtliche Zahlungsauf- Das Internet bietet viele Möglichkeiten – politisch,
forderungen schicken. Nicht wenige zahlen aus Angst sozial und auch ökonomisch. Hier können sich viele
die haltlosen Forderungen der windigen Unternehmen. Menschen einbringen, im Guten wie im Schlechten. Es
ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, die
Die Bundesregierung sieht diesem üblen Treiben un- Freiheit im Netz zu bewahren. Gleichzeitig liegt es in un-
tätig zu. CDU/CSU und FDP haben dazu bisher gar serer Verantwortung, Verbraucherinnen und Verbrau-
nichts anzubieten. Aber auch die schwarz-rote Vorgän- cher vor Abzocke und Betrug zu schützen. Es ist deshalb
gerregierung hat Verbraucherinnen und Verbraucher dringend an der Zeit, auch im Internet Abofallen und un-
bei der Abzocke im Internet im Regen stehen lassen. In tergeschobenen Verträgen einen Riegel vorzuschieben.
der Debatte um unerwünschte Telefonanrufe in der letz-
ten Legislaturperiode haben die Linke und Verbraucher-
verbände immer wieder darauf hingewiesen, dass Abo- Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
fallen ein drängendes Problem sind. Es gab konkrete Heute beraten wir einen Gesetzesentwurf zur Verbes-
Lösungsvorschläge. Aber das SPD-geführte Justizminis- serung des Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüs-
terium hat das alles in den Wind geschlagen und auf sen im Internet. Wenn die Bundesregierung den Verbrau-
kleine Verbesserungen im Widerrufsrecht gesetzt. Heute cherschutz ernst nehmen würde, hätte der Entwurf
zeigt sich, dass diese Regelung weit an der Realität und eigentlich aus ihrer Feder stammen müssen und nicht
an den skrupellosen Methoden der Betrüger vorbeigeht. aus den Reihen der Opposition.
(A) Jan Korte (DIE LINKE): Die Onlinedurchsuchung fügt sich also gut ein in die (C)
Die Onlinedurchsuchung, einst als wichtiges und un- unendlich lange Liste von Maßnahmen, die – in einen
erlässliches Instrument im Kampf gegen den internatio- Deckmantel der Kriminalitätsbekämpfung gewandet –
nalen Terrorismus gepriesen, ist schlicht überflüssig. Zu immer öfter und vor allem schamloser daherkommen.
diesem Ergebnis muss jeder kommen, der sich ernsthaft Erst wurde die Vorratsdatenspeicherung eingeführt,
mit der Entstehung und Entwicklung dieser Maßnahme dann Pässe und Personalausweise mit biometrischen
beschäftigt hat. Spätestens die Antwort der Bundesregie- Merkmalen versehen, dann kamen ELENA und andere
rung auf die Kleine Anfrage unserer Fraktion zur „Bi- Gesetze hinzu. Als neueste Errungenschaft in dieser
lanz der Online-Durchsuchung“ vom 21. Mai dieses Reihe des datenschutzpolitischen Horrors wurde heute
Jahres verdeutlicht überaus anschaulich den kompletten im Europäischen Parlament das SWIFT-Abkommen ver-
Unsinn dieses Instruments. Die von der Bundesregie- abschiedet. So unterschiedlich diese Gesetzesinitiativen
rung vorgelegten Zahlen sprechen für sich, und ich wie- auch sind, gemein ist ihnen vor allem eines: In Sachen
derhole sie hier an dieser Stelle deshalb ganz besonders Datensammelei werden in diesem Land kaum noch
gerne, vor allem für all diejenigen, die sich weiter und Grenzen gesetzt.
scheinbar unerschütterlich als Apologeten der Online- Die ohnehin prekäre Balance zwischen Freiheit und
durchsuchung outen. Vielleicht können Argumente etwas Sicherheit ist aus dem Lot geraten und wurde langsam,
bewirken. Als Linker gibt man ja die Hoffnung nie auf. aber stetig einseitig in Richtung Sicherheit ausgepen-
Was also hat die Bundesregierung auf die Kleine delt. „Wir müssen uns wehren gegen die schleichende
Anfrage geantwortet? Folgendes: Zwar wurden in den Erosion unserer Grundrechte und gegen unsere Entmün-
vergangenen anderthalb Jahren rund 700 000 Euro in- digung“, hat der ehemalige Bundesinnenminister
vestiert, um Onlinedurchsuchungen überhaupt durch- Gerhart Baum in einem Artikel für die „Stuttgarter Zei-
führen zu können. Aber das entpuppte sich als glatte tung“ am letzten Montag in Sachen Datenschutz formu-
Fehlinvestition; denn bis Mitte Mai hatte das Bundeskri- liert. Er hat recht damit.
minalamt keine einzige Onlinedurchsuchung angeord- Denn Datenschutz ist und bleibt ein elementares
net. Ich wiederhole: keine einzige! Einstmals als Grundrecht. Es muss jedoch, wie andere Grundrechte
Wunderwaffe entwickelt und in einem Klima der Verun- auch, immer wieder aufs Neue verteidigt werden! Wer
sicherung vorschnell an den Start gebracht, konnte die sich dieser Meinung anschließen kann, dem wird also
Onlinedurchsuchung ihre angebliche sicherheitspräven- nichts anderes übrig bleiben, als unserem Antrag „Be-
tive Wirkung bis heute nie entwickeln. Stattdessen hat sie fugnis des Bundeskriminalamtes zur Onlinedurchsu-
eine komplette Bruchlandung hingelegt. Von angebli- chung aufheben“ zuzustimmen. Von der CDU/CSU er-
chen Sicherheitslücken, die durch diese Maßnahme ge- warte ich zugegebenermaßen nicht mehr sonderlich viel (D)
(B)
schlossen werden sollten, ist schon längst keine Rede in Sachen Datenschutz oder zumindest nichts Gutes; von
mehr. Dennoch wird stumpf an der Onlinedurchsuchung der FDP leider immer weniger. Dennoch böte die Zu-
festgehalten. stimmung zu unserem Antrag eine gute Brücke, um end-
lich wieder auf den Pfad des Datenschutzes und der
Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen zei-
Sicherung von Bürger- und Grundrechten zurückzukom-
gen überdeutlich die Sinnlosigkeit der Onlinedurchsu-
men. Der Weg lohnt sich. Auch deshalb appelliere ich
chung. Das Argumentieren dafür ist unseriös. Auch des-
hier nachdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen von
halb sollte sie ebenso schnell wieder aus dem BKA-
SPD und FDP, uns bei unserem Anliegen, die Online-
Gesetz verschwinden, wie sie darin gelandet ist. Die fa-
durchsuchung aufzuheben, die Zustimmung nicht zu ver-
denscheinige Ausrede, es handele sich bei der Online- weigern. Das kann Ihnen bei den hier dargelegten Zah-
durchsuchung um eine sogenannte Ultima-Ratio-Maß- len und Fakten sowie Argumenten doch eigentlich gar
nahme, verschleiert nur den wahren Kern und nicht so schwerfallen.
eigentlichen Sinn der Onlinedurchsuchung: Menschen
werden auf Datensätze reduziert, über die sie selbst Zu Jahresbeginn hatte Bundesjustizministerin
keine Kontrolle mehr haben. Das ist nicht nur ein weite- Leutheusser-Schnarrenberger eine Überprüfung der Si-
rer Baustein in dem dichter werdenden Mosaik Deutsch- cherheitsgesetze auf ihre Notwendigkeit angekündigt.
lands auf dem Weg zu einer Totalüberwachung, sondern Daraus ist bislang nichts geworden. Genauso fehlt nach
zudem verfassungsrechtlich höchst bedenklich. wie vor jegliche Überprüfung der Sicherheitsgesetze auf
ihre Verhältnismäßigkeit und auf Bürgerrechtskonformi-
Es gibt mittlerweile nichts mehr, was nicht gespei- tät. Die Linke erneuert daher ihre alte Forderung nach
chert werden kann! Längst werden auch hochsensible, einem sofortigen Moratorium für Sicherheitsgesetze und
personenbezogene Daten von Bürgerinnen und Bürgern eine umfassende unabhängige Überprüfung der vorhan-
dieses Landes erfasst, die sich nichts zuschulden kom- denen Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Bürger- und
men ließen. Sie sind nicht einmal bei Rot über die Ampel Freiheitsrechten.
gegangen. Speicherlimits gibt es ebenfalls nicht mehr.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird Wir wollen aber nicht wieder bis zum Sankt-Nimmer-
sowohl durch die Onlinedurchsuchung als auch durch leinstag warten müssen. Zur fehlenden Notwendigkeit
andere datenpolitische Maßnahmen der letzten Jahre und der Unverhältnismäßigkeit der Onlinedurchsu-
Schritt für Schritt ausgehebelt. In der Konsequenz be- chung ist eigentlich alles gesagt. Unser Antrag ist die lo-
deutet das nichts anderes als das Verschwinden der Pri- gische Konsequenz. Die massiven Eingriffsbefugnisse
vatheit – ein schlimmes Szenario! von staatlichen Institutionen in die Freiheitsrechte der
Dorothee Bär
(A) höhen und haben dazu schon wichtige Schritte unter- einen Betreuungsplatz für Kinder ab Vollendung des ers- (C)
nommen. Deutschland verfügt heute bereits über ein ten Lebensjahres ab 2013 festhalten, unabhängig davon,
gutes Angebot an Kinderbetreuung für die drei- bis ob vor Ort eine bestimmte Betreuungsquote erreicht
sechsjährigen Kinder. Der Rechtsanspruch auf Betreu- wird.
ung für diese Kinder ist realisiert.
Über die Frage, wie groß der Bedarf sein wird, den
Durch die Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar Eltern in den nächsten Jahren geltend machen werden,
2007 und den Wunsch vieler junger Eltern, nach einer sind derzeit nur Spekulationen möglich. Das Deutsche
einjährigen Familienpause tatsächlich wieder in die Er- Jugendinstitut hat zahlreiche Faktoren identifiziert, die
werbsarbeit zurückzukehren, wurde der Mangel an Be- Elternwünsche beeinflussen. Vor allem aber werden Be-
treuungsplätzen für die unter dreijährigen Kinder offen- treuungsangebote in verschiedenen Altersstufen sehr
kundig. Schnell war klar, dass die Ausbauvorgaben im unterschiedlich in Anspruch genommen. Vordringlich ist
Tagesbetreuungsausbaugesetz den Bedarf an Plätzen es daher jetzt erst einmal, die bislang vereinbarte Ziel-
nicht würden decken können. vorgabe einer Versorgungsquote von bundesweit durch-
schnittlich 35 Prozent zu erreichen. Entwicklungen nach
Zwar fallen die Finanzierung und die Bedarfsplanung 2013 müssen dann bewertet werden. Der Bund begleitet
der Kinderbetreuung im föderalen System der Bundesre- diese Bedarfsplanung der Länder mit der regelmäßigen
publik in die Zuständigkeit von Ländern und Kommunen. Evaluation des KiföG.
Doch wegen der großen gesamtgesellschaftlichen Be-
deutung hat sich der Bund bereiterklärt, Länder und Für CSU und CDU zielen die Forderungen im Antrag
Kommunen beim massiven Ausbau der Betreuungsplätze von Bündnis 90/Die Grünen daher in die falsche Rich-
zu unterstützen, um so möglichst viele Kinder schon früh tung und sind abzulehnen. Da wir uns aber fraktions-
zu fördern und eine bessere Vereinbarkeit von Familie übergreifend jedenfalls darüber einig sind, dass die Aus-
und Erwerbsleben zu ermöglichen. gaben für die frühkindliche Bildung die wichtigste
Zukunftsinvestition sind, müssen Länder und Kommunen
Beim sogenannten Krippengipfel haben Bund, Län-
ihre Prioritäten anders setzen und ihre Aufgaben hier
der und Gemeinden dann im Jahr 2007 gemeinsam ei-
nen Bedarf von 750 000 Betreuungsplätzen für das Jahr ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung des Bundes
2013 errechnet. Bis zum Jahr 2013 wird es bundesweit erfüllen.
im Durchschnitt für jedes dritte Kind unter drei Jahren Für mich kann überhaupt kein Zweifel daran beste-
einen Betreuungsplatz geben, ein Drittel der neuen hen, dass der Ausbau der Krippenplätze auch vor der
Plätze soll in der Kindertagespflege geschaffen werden. Beitragsfreiheit Vorrang haben muss: Für geringverdie-
(B) Im gleichen Jahr wird jedes Kind mit Vollendung des nende Eltern ist es sinnvoll und angemessen, im Inte- (D)
ersten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf Förde- resse der frühen Förderung ihrer Kinder bezahlbare
rung in einer Kinderbetreuungseinrichtung oder in der oder auch beitragsfreie Betreuungsplätze zu gewährleis-
Kindertagespflege haben. ten; alle anderen Eltern sind aber sehr wohl bereit, eine
An den errechneten Mehrkosten von 12 Milliarden qualitativ hochwertige Kinderbetreuung auch mit einem
Euro bis 2013 wird sich der Bund mit 4 Milliarden Euro finanziellen Beitrag zu unterstützen. Hier können Län-
zu einem Drittel beteiligen, ab 2014 dauerhaft mit der und Kommunen in Zeiten knapper Kassen ihre Aus-
770 Millionen Euro jährlich an den Betriebskosten. Er gabenlast begrenzen und nach dem erfolgten Ausbau
unterstützt dadurch die Kommunen weiterhin. Auch der prüfen, ob eine schrittweise Reduzierung oder gar eine
Zwang, zu sparen, hat an dieser Bundesbeteiligung Streichung der Elternbeiträge angezeigt ist.
nichts geändert.
Dass es auch ohne den gebetsmühlenhaft wiederhol-
Es ist Aufgabe der Länder, dafür Sorge zu tragen, ten Ruf nach weiterer finanzieller Unterstützung durch
dass die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel den den Bund möglich ist, ausreichend Betreuungsplätze zur
Kommunen und Trägern auch tatsächlich und zusätzlich Verfügung zu stellen, zeigt der Freistaat Bayern: Sozial-
zur Verfügung gestellt werden. Ebenso ist es Aufgabe ministerin Christine Haderthauer hat wegen der schwie-
der Länder, ihrerseits finanzielle Voraussetzungen dafür rigen Finanzlage der Kommunen zugesichert, dass sie
zu schaffen, dass die vereinbarten Ziele erreicht werden. den weiteren Ausbau auch dann mit Landesmitteln si-
chern wird, wenn die Mittel des Bundes aufgebraucht
Mit dem Beschluss der Bund-Länder-Arbeitsgruppe sind. Auch bei den Betriebskosten hat sie den Kommu-
zum Betreuungsausbau, der dann auch gesetzlich umge- nen Unterstützung zugesagt.
setzt wurde, wurde ein Meilenstein für eine bessere Ver-
einbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit gesetzt, für Daher appelliere ich an die Oppositionsfraktionen
mehr Bildung für alle Kinder und für bessere Zukunfts- – besonders an unseren ehemaligen Koalitionspartner,
perspektiven in Deutschland. Inzwischen haben viele der den Bedarf an Betreuungsplätzen und deren Finan-
Kommunen den Stellenwert frühkindlicher Bildung er- zierung zusammen mit den Bundesländern und gemein-
kannt und den Aufbau entsprechender Kinderbetreu- sam mit der Union ermittelt hat –, nicht immer nur den
ungsstrukturen vorangetrieben. Die Kommunen, die bis- Bund zum Adressaten beständiger Forderungen nach
lang den Ausbau noch eher stiefmütterlich behandelt zusätzlichem Geld zu machen, sondern bei den Ländern
haben, müssen umdenken. Der Bund jedenfalls steht zu die Umsetzung der gemeinsamen Beschlüsse anzumah-
diesen Vereinbarungen und wird am Rechtsanspruch auf nen.
(A) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): veau und zeigt eine gute Positionierung innerhalb der (C)
Es ist unbestritten: Kinderbetreuung ist eine Investi- Europäischen Gemeinschaft. Der Dritte Nationale Bil-
tion in die Zukunft. Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kol- dungsbericht, der Mitte Juni veröffentlicht wurde, bestä-
legen der Opposition, sollten endlich zugeben: Die Fa- tigt ebenso, dass sich positive Entwicklungen für den
milienpolitik der christlich-liberalen Koalition ist an qualitativen und quantitativen Ausbau festmachen las-
dieser Zukunft orientiert. Das haben wir bisher auch sen. So standen 2009 rund 47 000 Tageseinrichtungen
deutlich gezeigt. So vielen Kindern wie möglich ein Be- für Kinder zur Verfügung, und das Personal in den Kin-
treuungsangebot zur Verfügung zu stellen, haben wir zur dertagesstätten wurde um 42 000 Personen erhöht. Bei
zentralen Aufgabe und zu einem unserer vordringlichs- den unter Dreijährigen stieg die Quote der Bildungsbe-
ten Projekte der Zukunft gemacht. teiligung im Westen auf 15 Prozent in 2009, im Jahr
2006 waren es noch 8 Prozent. Folglich wurden hier
„Unser Ziel sind faire Startchancen für alle Kinder.
Aufstieg durch Bildung erreichen wir durch höhere Bil- innerhalb von 3 Jahren 100 000 Plätze geschaffen. Da-
dungsinvestitionen und das enge Zusammenwirken von mit haben wir nicht nur politische Signale gesendet, son-
Bund und Ländern. Bildung darf keine Frage der Her- dern bereits erreicht, dass mehr Frauen in Erwerbstätig-
kunft oder des Einkommens sein.“ So haben wir es im keit sind. Sogar die Vätermonate stoßen auf immer mehr
Koalitionsvertrag vereinbart und so werden wir es auch positive Resonanz.
umsetzen. Ohne Zweifel besteht weiterhin noch Bedarf an zu-
Wir wollen gute Bildung und Betreuung mit gerechten sätzlichen Betreuungsangeboten. Dessen sind wir uns
Chancen von Anfang an ermöglichen. Der Ausbau der bewusst. Aus dem Grund werden wir bei den Anstren-
Kinderbetreuung gehört deshalb zu den wesentlichen gungen nicht nachlassen, auch wenn man laut Progno-
Maßnahmen, um mittel- und langfristig Innovationsfä- sen mit demografiebedingten Rückentwicklungen rech-
higkeit in Wirtschaft und Gesellschaft sowie Chancenge- nen muss.
rechtigkeit im Bildungssystem zu erzielen. Die Entschei-
dung von Bund, Ländern und Kommunen, bis 2013 In dem vorliegenden Antrag fordern die Kollegen der
Betreuungsplätze für 35 Prozent der unter Dreijährigen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nunmehr die unver-
zu schaffen, war und bleibt wichtig und richtig. zügliche aktualisierte Ermittlung des Bedarfs an Kin-
derbetreuungsplätzen zur Realisierung des Rechts-
Bereits in der Großen Koalition haben wir das Gesetz anspruchs ab dem Jahr 2013. Hierzu kann ich nur
zum Ausbau der Kinderbetreuung verabschiedet und Folgendes erwidern: Liebe Kolleginnen und Kollegen
ebenfalls einen Rechtsanspruch ab dem ersten Lebens- der Grünen, Sie haben anscheinend das Prinzip der Sub-
jahr festgesetzt. Der Bund stellt für die Erweiterung der sidiarität in diesem Zusammenhang übersehen. Die
(B) Angebote, für Neubau-, Ausbau-, Umbau-, Sanierungs-, Länder und Kommunen sind für die Bedarfsplanung im (D)
Renovierungs-, Modernisierungs- und Ausstattungs- Bereich der Kinderbetreuung zuständig, nicht der Bund.
maßnahmen in Einrichtungen und für die Kindertages- Ihre Intention dabei wird mir hier nicht deutlich: Wes-
pflege, 2,15 Milliarden Euro zur Verfügung. Unser Ziel halb soll der Bund diese Erhebung durchführen? Vor al-
ist es, damit eine möglichst flächendeckende Kinderbe- lem ist eine pauschale Schätzung weder möglich noch
treuung zu erreichen. Diese schafft die infrastrukturellen angebracht. Vielmehr erscheint es angemessen, Länder
Voraussetzungen für die Eltern, um Familie und Beruf und Kommunen in der laufenden Evaluation der Umset-
miteinander zu vereinbaren. Die Einführung des Eltern- zung des Kinderförderungsgesetzes dabei zu unterstüt-
geldes und steuerlicher Begünstigungen sind weitere zen, in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedarfs-
wichtige Schritte auf dem Weg, jungen Familien mehr gerechte Konzepte zu entwickeln.
Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Diese Maßnahmen sind
Erfolgsprojekte. Allen Unkenrufen zum Trotz werden sie Auch in der Frage der Finanzen bleibt der Bund in
in Anspruch genommen. Wir verstehen die Förderung den ihm gesetzten Grenzen. Sie fordern eine Überprü-
und Unterstützung beider Elternteile in ihrem berufli- fung der Verteilung über Umsatzbeteiligungen an die
chen und gesellschaftlichen Fortkommen als gesamt- Kommunen. Mich verwundert diese Forderung, zu der
staatliche Aufgabe und werden diese gemeinsam schul- sich nur Folgendes sagen lässt: Die Kompetenz für den
tern, mit der Unterstützung aller Akteure auf allen Ausbau der Kindertagesbetreuung liegt bei Ländern und
Ebenen. Kommunen, die somit auch die Finanzierungsverant-
Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist der Ausbau der Kinder- wortung tragen. Der Bund unterstützt Kommunen und
betreuung bereits gut vorangekommen. Die Kernmarke Länder im Wege der Entlastung und muss diesen Weg
für den Ausbau hatten wir uns gemäß den Vorgaben des wählen, weil die Finanzierungslast eben in den Aufga-
Barcelona-Gipfels von 2002 gesetzt. Danach sollen in benbereich der Kommunen gestellt ist. Eine direkte Fi-
drei Jahren EU-weit für mindestens 33 Prozent der Kin- nanzbeteiligung zwischen Bund und Kommunen ist des-
der unter 3 Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung ste- halb ausgeschlossen. Mich interessiert, wie Sie in dieser
hen. Diese Vorgabe will die Bundesrepublik sogar um Frage anders verfahren wollen.
2 Prozentpunkte übertreffen.
Sie sehen: Ihr Antrag wirft leider mehr Fragen auf,
Wie weit die Länder mit ihren Anstrengungen voran- als er Antworten findet, geschweige denn haltbare For-
geschritten sind, untersuchte die Europäische Kommis- derungen aufstellt. Eine inhaltliche Nachbesserung
sion vor 2 Jahren. Nach dem Bericht der Kommission wäre sicherlich angebracht. Ich bin mir sicher, dass wir
befindet sich Deutschland dabei auf einem mittleren Ni- uns in der Sache und im Ziel einig sind. Wir beschreiten
Miriam Gruß
(A) Qualifizierung des Personals, Maßnahmen für eine Er- zierung der Kindertagesbetreuung beteiligt. Er darf (C)
höhung der Anzahl von männlichen Erziehern und eine Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht länger
intensivere Sprachförderung sind dabei wesentliche alleinlassen.
Ziele, die wir aktiv verfolgen werden.
Es ist nicht nur selbstverständlich, dass der Bund sich
Wir stehen zu dem im KiföG beschlossenen Ziel beim mit 4 Milliarden Euro an dem Sondervermögen, dass für
Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige, und ge- den Ausbau der Kinderbetreuung eingerichtet wurde,
meinsam mit den Ländern und Kommunen werden wir beteiligt. Gleiches wird von den Ländern und Kommu-
dieses Ziel bis 2013 auch erreichen. nen ja auch verlangt. Der Umfang des Sondervermögens
reichte von Beginn an vorn und hinten nicht aus, um die
Mammutaufgabe zu bewältigen, vor der viele Kommu-
Diana Golze (DIE LINKE):
nen stehen. Von dort kommen seit längerem deutliche
„Bundeskabinett beschließt Bundeshaushalt. Bundes- Signale, die zu überhören ein sträflicher Fehler wäre.
familienministerium investiert mehr als 400 Millionen Wenn es vom Vorsitzenden des Deutschen Städtetages,
Euro zusätzlich in die frühkindliche Bildung“ titelte das Stephan Articus, heißt: „Uns geht es nicht darum, den
Familienministerium in seiner gestrigen Pressemittei- Rechtsanspruch ab 2013 infrage zu stellen, aber es feh-
lung. In der gleichen Pressemitteilung heißt es dann len noch Milliardenbeträge, um ihn zu verwirklichen“,
auch, „dass in den nächsten vier Jahren zusätzlich ins- sollte man diesen Hilferuf ernst nehmen. Denn die Bun-
gesamt rund 400 Millionen Euro in die Qualität der desregierung hat mit einem zu begrüßenden Rechtsan-
frühkindlichen Bildung investiert werden“. Das klingt spruch Fakten geschaffen. Die Kommunen sollen offen-
schön – aber nur so lange, wie man die Realitäten in bar am Ende die Rechnung begleichen; denn dort
puncto Ausbau von Kindertagesbetreuung in den Grö- werden die Eltern 2013 ihre berechtigte Forderung nach
ßenordnungen ausblendet, wie es die Bundesregierung einem Kita-Platz aufmachen.
nun schon seit einigen Jahren und auch weiterhin tut.
Die Mittel, die hier vollmundig als „zusätzlich einge- Mit der Frage, wie Umsatzsteueranteile gerechter
stellt“ angekündigt werden, sind sicher gut, aber leider verteilt werden, um Kommunen endlich die nötigen fi-
alles andere als zusätzlich. Den Kinderbetreuungsaus- nanziellen Mittel zur Bewältigung ihrer Aufgaben zu ge-
bau bezahlen nach Rechenart der Bundesregierung ben, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung ge-
nämlich die, die eigentlich ohnehin schon nichts haben: macht. Dass dies auch mit einer spürbaren Erhöhung
Familien, die von ALG II leben müssen, denen sie nun dieses Steueranteils für die Kommunen einhergehen und
das Elterngeld auf diese Leistung anrechnen. Diese An- dass man auch noch nach weiteren Finanzierungsmo-
rechnung aber bedeutet für die Betroffenen eine fakti- dellen suchen muss, werden wir hoffentlich in der nun
folgenden Debatte diskutieren und ausloten. In den (D)
(B) sche Streichung dieser familienpolitischen Leistung.
Hier ist nicht nur etwas faul im Staate. Das ist eine Kommunen wir dies schon lange getan.
schreiende Ungerechtigkeit.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
In der Bundesrepublik wird die Kindertagesbetreu-
Kinder sind die Zukunft unseres Landes. Ein Satz: oft
ung für unter Dreijährige ausgerechnet von denen be-
zitiert, viel zu selten gelebt. Das Kinderförderungsgesetz
zahlt, die die volle Wucht des Sozialabbaus der letzten
ist der späte Versuch, der Lebenswirklichkeit junger Fa-
Jahre am meisten zu spüren bekommen haben, deren
milien gerecht zu werden und Chancengerechtigkeit zu
Kinder außerdem derzeit bis zum dritten Lebensjahr
schaffen. Dafür ist der Rechtsanspruch auf Betreuung
häufig noch nicht einmal einen Rechtsanspruch auf ei-
für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein
nen Ganztagsplatz in der Kita haben und möglicher-
erster kleiner Schritt.
weise auch 2013 die größten Verlierer sein werden.
Denn die Plätze werden voraussichtlich nicht für alle Doch dieser Schritt kann nur gelingen, wenn der Aus-
reichen. Eine solche Politik macht einmal mehr deutlich, bau solide finanziert ist. Hier hätte die Bundesregierung
dass Kindertagesbetreuung und deren bitter notwendi- beweisen können, dass sie es ernst meint mit einer auf-
ger Ausbau nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gabengerechten Kostenausstattung der Kommunen. Die
betrachtet wird und die öffentliche Hand in persona der Basis für eine solide Finanzierung ist allerdings eine
Bundesregierung sich immer mehr aus ihren Aufgaben Kalkulation, die sich am tatsächlichen Bedarf an Kin-
stiehlt. derbetreuungsplätzen orientiert und der finanziellen
Realität der Kommunen gerecht wird – eine solide Fi-
Ich bin den Grünen sehr dankbar dafür, dass sie mit nanzierung, die den Ausbau der Kinderbetreuung för-
ihrem Antrag der Debatte um die Finanzierung des Aus- dert und Zukunft garantiert. Aber das Gegenteil ist pas-
baus der Kinderbetreuung mehr Gewicht geben und sich siert.
der Bundestag nun wiederholt mit dieser Frage befassen
muss. Vor allem bin ich dankbar, dass neben der Linken Doch gerade weil es so wichtig ist, dass der Rechts-
eine weitere Bundestagsfraktion Wege aus der unsozia- anspruch realisiert wird, müssen wir uns jetzt darum
len Politik der vergangenen Jahre sucht, indem sie for- kümmern, dass Städte und Gemeinden, vor allem die
dert, dass der Staat für einen ausgewogenen Finanzaus- notleidenden, auch in die Lage versetzt werden, den not-
gleich sorgt und nicht die Bürgerinnen und Bürger wendigen Kitaausbau zu finanzieren. Deshalb muss der
immer wieder zur Kasse gebeten werden. Auch die Linke erste Blick dem tatsächlichen Bedarf an Kinderbetreu-
fordert seit langem, dass der Bund sich endlich dauer- ungsplätzen gelten. Denn was viele Bürgermeisterinnen
haft und in größerem Umfang als bisher an der Finan- und Bürgermeister längst ahnten, hat sich nun in
Kai Gehring
(A) ser Stelle rächt sich der dritte gescheiterte Bildungsgip- Mit der Etablierung des Nationalen Stipendienpro- (C)
fel in Folge; die Bildungsrepublik droht endgültig zur gramms würde eine der größten Gerechtigkeitslücken
Farce zu werden. geschlossen, behauptet zum Beispiel FDP-Bildungs-
sprecher Patrick Meinhardt. Das sehe ich komplett an-
Wir alle – da bin ich mir sicher – teilen die Haltung, ders. Was ist das für ein Gerechtigkeitsverständnis? Das
dass auch die Bundesländer gegenüber ihren Studieren- Stipendiengesetz ist ein schwarz-gelbes Exklusivpro-
den in der Pflicht und in der Finanzierungsverantwor- gramm für ohnehin chancenreiche Akademikerkinder.
tung stehen – und sie deshalb den Weg für die BAföG- Anstatt gezielt in die Bildungspotenziale von Nichtaka-
Novelle frei machen sollten. demikerkindern zu investieren, verhindert das Pro-
Die nur kleine, aber dennoch wichtige BAföG-Erhö- gramm eine soziale Öffnung der Hochschulen und ver-
hung mit Sparargumenten zu stoppen, würde ein fatales schärft die soziale Schieflage beim Campuszugang.
Signal an die Studierenden senden, wäre eine Düpierung Bei nur zwei Semestern Förderverpflichtung können
von Merkel und Schavan sowie eine Blamage für die Studierende keine verlässliche Studienfinanzierung er-
Landesminister. warten. Zudem ist nach einem Studienortwechsel das
Stipendium futsch – mobilitätsfeindlicher geht es kaum.
Wir sagen: Eine bessere Studienfinanzierung durch
Auch wird die Wahl des Studienortes die entscheidende
ein stärkeres BAföG ist eine dringend notwendige Zu-
Größe bei der Chance auf ein Stipendium sein. Diese
kunftsinvestition – in kluge Köpfe, gegen Akademiker-
Fehlentwicklungen lassen sich bereits in Nordrhein-
mangel und Wirtschaftsflaute. Daher ist es notwendig,
Westfalen beobachten. Die Hochschulen haben die kom-
die BAföG-Novelle spätestens im Vermittlungsausschuss
plette Organisation des Programms selbst zu schultern
zu beschließen.
und zu finanzieren. Es ist kein grünes Verständnis von
Wir Grüne fordern den Bundesrat zugleich dazu auf, Hochschulautonomie, dass die Bundesregierung hehre
das ungerechte, überdimensionierte und unausgegorene Ziele setzt, die vor Ort praktisch unerreichbar sind.
Nationale Stipendienprogramm zu kippen und nicht wei-
Wenn Herr Meinhardt vom „fairen Zugang zur Be-
ter zu verfolgen. Das mit großem Tamtam angekündigte
gabtenförderung“ spricht, dann sollte er sich einmal
Programm ist ein reines Prestigeprojekt von FDP und
Studien zur Stipendienvergabe vor Augen halten: Da-
Ministerin Schavan, das kein Problem der Lebensunter-
raus geht hervor, dass Habitus und Herkunft mit darüber
haltsfinanzierung Studierender löst. Nicht nur die Stu-
entscheiden, ob man in den Genuss eines Stipendiums
dierenden und die Mehrheit der Länder lehnen dieses
gelangt. Es ist eine der großen schwarz-gelben Lebens-
Programm ab und kritisieren es, sondern auch Stipen-
lügen, dass sich die Stipendienvergabe nur an Leistung
diaten der Begabtenförderungswerke, die Hochschulen
(B) sowie Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände. und Begabung orientiere. (D)
Wichtig ist: Wir sagen nicht Nein zu Stipendien, son-
Wir sagen: Elitestipendien für wenige sind der fal-
dern Nein zu diesem schwarz-gelben nationalen Stipen-
sche Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit; stattdessen be-
dienmurks. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert,
darf es eines BAföG-Ausbaus für viele. Statt Stipendien-
ein Konzept für ein zielgenaues Stipendiensonderpro-
lotterie braucht es klare Rechtsansprüche.
gramm vorzulegen, das die Belange von Studierenden
Ein mögliches Scheitern des Stipendienmurkses im aus bisher hochschulfernen und unterrepräsentierten
Bundesrat ist übrigens seit Monaten absehbar. Aber die Gruppen besonders berücksichtigt: aus Nichtakademi-
schwarz-gelbe Koalition wollte trotzdem daran festhal- kerhaushalten, Bildungsaufsteiger mit Migrationsge-
ten und mit dem Kopf durch die Wand. Damit sind die schichte, ohne schulische Hochschulzugangsberechti-
Bundesbildungsministerin und die schwarz-gelbe Koali- gung sowie ferner chronisch Kranke, studierende Eltern
tion von Anfang an das hohe Risiko eingegangen, dass und pflegende Studierende. Ein solches Stipendienson-
ihre eher halbherzige BAföG-Novelle zum Spielball ei- derprogramm würde dazu beitragen, die Bildungsbetei-
nes Bund-Länder-Kuhhandels im Vermittlungsausschuss ligung insgesamt zu erhöhen.
wird. Im Vordergrund muss aber stehen, zu einem tatsäch-
Die Koalition darf die Studierenden und das BAföG lich ambitionierten Ausbau des BAföG zu kommen –
nicht länger als Faustpfand für ein sinnloses Stipendien- auch, weil sich schon durch die letzte Novelle der Kreis
gesetz instrumentalisieren. Sie müssen endlich die einzig der Geförderten kaum erweitert hat. Daher brauchen
richtige Schlussfolgerung ziehen und das Nationale Sti- wir unter anderem eine Erhöhung der Freibeträge und
pendienprogramm noch heute zurückziehen. Fördersätze um mindestens 5 Prozent und ein Absenken
der BAföG-Verschuldungsobergrenze. Diese und weitere
Die von Bund und Ländern für das Stipendienpro- Änderungsanträge haben wir hier im Bundestag einge-
gramm vorgesehenen 160 Millionen Euro Steuermittel bracht und zudem mit unserem Zwei-Säulen-Modell eine
dürfen aber nicht in Haushaltslöchern verschwinden, mittelfristige Reformperspektive aufgezeigt. Das Zwei-
sondern sollten in einen echten und deutlicheren Ausbau Säulen-Modell brächte eine gerechtere, bessere, ver-
des BAföG investiert werden. Dann kann das Zurückzie- lässlichere und leistungsfähigere Studienfinanzierung
hen des Stipendienprogramms zum großen Wurf für die als heute und endlich die überfällige soziale Öffnung der
Studierenden werden. Ein solches konstruktives Angebot Hochschulen, die wir uns wünschen. Für den morgigen
des Bundes wäre ein genereller Fortschritt im festgefah- Bundesrat wünschen wir uns, dass er grünes Licht für
renen Bund-Länder-Streit um die Bildungsfinanzierung. eine BAföG-Erhöhung gibt und die Länder dem Stipen-
(A) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Hervorzuheben sind besonders folgende Verbesserun- (C)
Das Europäische Parlament hat heute mit großer gen:
Mehrheit ein SWIFT-Abkommen angenommen, welches
Jedes US-Ersuchen muss auch in Bezug auf die Da-
das Ergebnis eines langen und sorgfältigen Verhand-
tenarten spezifiziert und eingeschränkt werden. Die
lungsprozesses ist. Dieses neue Abkommen war nötig
Menge der zu übermittelnden Daten ist möglichst gering
geworden, nachdem das europäische Parlament im Fe-
zu halten. Eine noch im Interimsabkommen enthaltene
bruar 2010 das SWIFT-Interimsabkommen abgelehnt
Ausnahmeregelung, die es bei technischen Schwierig-
hatte, über das wir zuvor auch im Deutschen Bundestag
keiten erlaubte, unspezifische Daten, die dem Ersuchen
leidenschaftlich debattiert hatten.
nicht entsprechen, im Paket zu übermitteln, ist nunmehr
Bereits bei der damaligen Debatte wurden zwei entfallen. Europol wird als zuständig erklärt, die US-Er-
Dinge klargestellt: suchen auf Übereinstimmung mit dem Abkommen zu
überprüfen. Europol besitzt dabei die Fachkunde, nöti-
Erstens ist Kontodatenabfrage ein taugliches Mittel genfalls mit den USA auf Augenhöhe die dem Ersuchen
zur Terrorbekämpfung. Die Datenströme zur Finanzie- zugrunde liegende Gefährdungsbewertung und den da-
rung von Terrorismus zu erkennen, ist ein nützliches raus abgeleiteten Übermittlungsumfang zu diskutieren.
Mittel, um gegen Terroristen vorzugehen. Ein Beispiel Weiterhin wird eine Drittstaatenübermittlung nun
für die erfolgreiche Nutzung von Finanztransaktionsda- grundsätzlich nur bei Zustimmung des jeweiligen Ur-
ten in Deutschland ist das Verbot des Hamas-Spenden- sprungsstaats zulässig. Ausnahmen bestehen nur bei
sammelverein al-Aqsa, das tragend auf solchen Infor- Gefahr im Verzug und bei dringenden schweren Gefah-
mationen beruhte. In Großbritannien konnten geplante ren. Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsrechte
Terroranschläge auf Transatlantikflüge verhindert wer- können künftig – betroffenenfreundlich – jeweils über
den und auf dieser Grundlage drei Personen zu hohen die Datenschutzbehörde des jeweiligen Mitgliedstaats
Haftstrafen verurteilt werden. geltend gemacht werden, die die Anfrage an das US-Fi-
Zweitens steht aber auch fest, dass Kontodaten hoch- nanzministerium weiterleitet.
sensible persönliche Daten sind, die ein hohes Daten- Das Abkommen sieht in Art. 2 Abs. 1 vor, dass die
schutzbedürfnis mit sich bringen. Zwar war eindeutig, Kommission binnen eines Jahres einen Entwurf hin-
dass ein SWIFT-Abkommen beiden Seiten ein höheres sichtlich der Einrichtung eines EU-Systems zur Extra-
Maß an Rechtssicherheit geben würde als die Datenwei- hierung spezifischer Daten vorlegen soll. Durch die
tergabe in der Folgezeit des 11. September 2001 und Schaffung technischer und rechtlicher Möglichkeiten für
auch besser wäre als die brieflichen Abmachungen zur die Extrahierung spezifischer Daten durch die EU selbst
Datenweitergabe des SPD-Ministers Steinbrück aus dem könnte der Übermittlungsumfang auf Verdachtsfälle re- (D)
(B)
Jahr 2007, welches die ursprüngliche Grundlage des duziert werden. Die Kommission wird dazu aufgefordert,
SWIFT-Abkommens darstellte. Trotzdem muss ein drei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens einen Be-
höchstmögliches Maß an Daten- und Rechtsschutzmög- richt über den Fortgang der Einrichtung des EU-TFTP
lichkeiten für den Bürger im Mittelpunkt stehen. abzuliefern. Falls das vergleichbare EU-System fünf
Deswegen habe ich bereits damals betont, dass es an Jahre nach dem Inkrafttreten des Abkommens noch nicht
den Parlamentariern des Europäischen Parlaments und aufgebaut worden ist, prüft die Union, ob das Abkom-
des Bundestages wäre, in diesem Spannungsverhältnis men in Übereinstimmung mit Art. 21 Abs. 2 zu kündigen
zwischen Sicherheit und Datenschutz auf einen gangba- ist.
ren Kompromiss bei einem dauerhaften SWIFT-Abkom- Trotz dieser und weiterer Verbesserungen konnten lei-
men hinzuwirken. der nicht alle Verhandlungsleitlinien umgesetzt werden.
Neben den Abgeordneten des Bundestages und der Die Höchstspeicherdauer beträgt weiterhin fünf Jahre.
deutschen Regierung haben sich die Abgeordneten des Allerdings ist ein ausgefeilter Evaluierungsmechanis-
Europäischen Parlaments in dieser Frage als strenger mus vorgesehen, der die Speicherdauer laufend kritisch
Prüfstein erwiesen. Wegen Bedenken beim Daten- und hinterfragt und gegebenenfalls revidiert. Beim gerichtli-
Rechtsschutz haben sie das Interimsabkommen zu chen Rechtsschutz ist es nach wie vor lediglich bei einer
SWIFT am 11. Februar abgelehnt. Jedoch wurden we- Verweisung auf US-Recht geblieben. Angesichts des
gen der unbestreitbaren Wichtigkeit des Abkommens als- sehr dichten Netzes administrativen Rechtsschutzes und
bald Neuverhandlungen mit den USA aufgenommen, in der auch verfahrensmäßig starken Position der EU bei
denen die Vorbehalte thematisiert wurden. der Kontrolle der Vertragsdurchführung wird dies aber
praktisch kompensiert.
Das vorgelegte neue SWIFT-Abkommen stellt ein re-
spektables Ergebnis dieser Verhandlungen dar, was Zur weiteren Verbesserung der berechtigten Daten-
nicht zuletzt auch durch die breite Unterstützung von schutzbedürfnisse des Einzelnen begrüßen wir aus-
Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten bei drücklich die Bemühungen der Europäischen Union um
der heutigen Annahme im Europäischen Parlament do- ein allgemeines Datenschutzabkommen zwischen der
kumentiert wurde. EU und den USA für polizeiliche und justizielle Zusam-
menarbeit in Strafsachen. Das allgemeine Datenschutz-
Das Abkommen enthält insbesondere im Hinblick auf abkommen kann dazu beitragen, dass diesseits und jen-
den Rechtsschutz und auf den Datenschutz deutliche seits des Atlantiks ein hohes Datenschutzniveau bei der
Verbesserungen gegenüber dem Interimsabkommen. behördlichen Zusammenarbeit geschaffen wird und die
Gerold Reichenbach
(A) engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Vor- Gisela Piltz (FDP): (C)
ratsdatenspeicherung, welches bereits eine sechsmona- Im Frühsommer 2006 wurde bekannt, dass mit Wis-
tige Speicherfrist für den Fall der Telekommunikations- sen des damaligen SPD-Bundesfinanzministers US-Be-
datenspeicherung als unzulässig erachtete. Nach dem hörden Zugriff auf SWIFT-Daten von europäischen Bür-
Urteil wurde der Gesetzgeber dazu verpflichtet, „an- gerinnen und Bürgern erhalten hatten. Von einem
spruchsvolle und normenklare Regelungen“ unter dem Abkommen, von rechtlichen Absicherungen, von Daten-
Gebot von Datenschutz, Datensicherheit, Transparenz schutz und Rechtsschutz für die Menschen in Deutsch-
und Rechtsschutz zu schaffen. Wir hegen große Zweifel, land und Europa war da nicht die Rede.
ob das SWIFT-Abkommen in seiner derzeitigen Form
mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Es ist übrigens bezeichnend, dass heute am lautesten
Grundsätzen vereinbar ist. die schreien, die beim internationalen Datenaustausch
nicht immer an den Datenschutz gedacht haben. Ich
Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich nicht möchte hier einmal die Grünen daran erinnern, dass zu
grundsätzlich gegen ein Abkommen aus. Wir halten die ihrer Regierungszeit ihr Außenminister dem PNR-Ab-
Zusammenarbeit zur Terrorismusbekämpfung für wich- kommen zugestimmt hat. Nur, um Ihrem Gedächtnis ein
tig und unabdingbar. Aber wir können einem entspre- wenig auf die Sprünge zu helfen: Darin sind 15 Jahre
chenden Abkommen nur zustimmen, wenn Freiheits- und Speicherfrist vorgesehen. Die Daten in 34 Datenkatego-
Bürgerrechte ausreichend berücksichtigt und entspre- rien über Essensgewohnheiten, Kreditkartendaten bis
chende Schutzmechanismen für die Betroffenen geschaf- hin zu Gepäckinformationen oder Mietwagenreservie-
fen worden sind. rungen können ohne weitere Kontrolle, geschweige denn
Genehmigung an alle US-amerikanischen Behörden wie
Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte Peter auch Drittstaaten weitergegeben werden. Es gibt keine
Hustinx sowie der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Regelung, die besonders sensible Daten schützt; son-
Schaar bezweifeln in ihren Stellungnahmen zu dem Ab- dern Daten zum Beispiel mit Bezug zu Religion und
kommen die Rechtmäßigkeit der vorgesehenen Übertra- Glauben können genutzt werden. Beim Zugang zu admi-
gung von großen Datenmengen sowie der fünfjährigen nistrativem oder gerichtlichem Rechtsschutz sind Nicht-
Speicherfrist. Wir befinden uns mit unserer Kritik also in US-Bürger gerade nicht mit US-Bürgern gleichgestellt.
guter Gesellschaft und überziehen keineswegs oder be- Da, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, würde ich
treiben ein Wunschkonzert. mich an Ihrer Stelle jetzt mal nicht so aus dem Fenster
lehnen. Gewiss könnte in einer perfekten Welt auch beim
Man muss der Bundesregierung am Ende vorwerfen, SWIFT-Abkommen alles noch besser sein, aber in der
Freiheits- und Bürgerrechte nicht in Einklang mit dem realen Welt haben Kommission, Rat und Europaparla-
(B) Bedürfnis nach Terrorismusabwehr und Sicherheit ge- ment im Rahmen des Möglichen aufgrund des geltenden (D)
bracht zu haben. Wir halten daran fest, dass das nunmehr amerikanischen Rechts ziemlich viel herausgeholt.
ausgehandelte Abkommen im Ergebnis unter daten-
schutzrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gesichts- Erst wegen des Umzugs der SWIFT-Server nach Bel-
punkten nicht ausreichend ist. gien wurden Verhandlungen über ein SWIFT-Abkommen
aufgenommen und so überhaupt erstmalig Datenschutz-
Wir honorieren sehr wohl die Arbeit der Parlamenta- und Rechtsschutzvorgaben mit den USA angesprochen.
rier im Europaparlament, insbesondere die der SPE- Mit dem Interimsabkommen, das zunächst verhandelt
Fraktion, denn ohne sie wäre es nie zur Verhinderung worden war, konnten aber keine zufriedenstellenden Er-
des ursprünglichen Abkommens und zu Neuverhandlun- gebnisse erzielt werden. Es ist daher richtig und gut ge-
gen gekommen. Die hier nun vorliegenden Verbesserun- wesen, dass das Europäische Parlament das Interimsab-
gen sind nicht das Ergebnis der guten Verhandlungen kommen abgelehnt hatte.
der Bundesregierung, sondern allein dem rigorosen Ein-
Die darauffolgenden neuen Verhandlungen brachten
schalten des Europaparlaments geschuldet. Dies müs-
ein Ergebnis hervor, das schon besser war. Aber „bes-
sen wir noch einmal hervorheben.
ser“ ist nicht „gut“. Das Europäische Parlament hat
Noch eine Anmerkung an die Kolleginnen und Kolle- hier erneut dafür gesorgt, dass aus „besser“ nun
gen der FDP: Sie können sich in Ihrer Verantwortung schließlich „annehmbar“ geworden ist.
nicht damit herausreden, was Rot-Grün oder Sozialde- Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Antrag,
mokraten vorher angeblich alles gemacht oder nicht ge- den wir heute hier debattieren, ihre Erwägungen darge-
macht haben. Das reicht nicht als Begründung dafür legt. Wir sind nicht blind gegenüber den Punkten, die
aus, dass Sie jetzt einem Abkommen sang und klanglos vielleicht noch nicht perfekt sind. Aber wir sind auch
zustimmen, das wesentliche Forderungen, die Sie in Ih- nicht blind gegenüber den vielen Punkten, bei denen
rer Oppositionsarbeit und die Ihre Justizministerin auf- jetzt die Vorgaben für Datenschutz und Rechtsschutz um-
gestellt haben, nicht erfüllt. Hier hätten wir gerade auch gesetzt wurden. Die Bundesregierung hat dies im Rat ge-
von einer „Möchtegern-Bürgerrechts- und -Freiheits- nauso dargelegt: Datenschutzniveau und Rechtsschutz-
rechte-Partei“ mehr erwartet. niveau im neuen Abkommen sind so erheblich verbessert
worden, dass dieses Abkommen die Bürgerinnen und
Zwar können wir heute über das Abkommen selbst
Bürger in ihren Rechten besser schützt.
nicht mehr abstimmen, aber unser Votum zu den vorlie-
genden Anträgen macht deutlich: Wir stimmen dem aus- Besonders hervorzuheben ist, dass nunmehr grundle-
gehandelten Abkommen nicht zu. gende Ansprüche, die aus dem Recht auf informationelle
Jan Korte
(A) Lösung des Übermittlungsproblems mehr als unzufrie- hen werden können, wenn sie humanitären Organisatio- (C)
den ist. nen in Afghanistan, Jemen oder Irak Geld zum Jahres-
ende spenden? Oder liegt es daran, dass die Bundesre-
Nur stellt sich dann doch die Frage, warum Innen- gierung in einer öffentlichen Debatte hätte zugeben
minister de Maizière im zuständen EU-Rat dem Abkom- müssen, dass die Weiterleitung von Bankdaten in außer-
men dann seinen Segen gegeben hat. Vielleicht hat er europäisches Ausland bereits seit 2001 und teilweise
auch nur auf eine inhaltliche Hilfestellung seitens des ohne Rechtsgrundlage und somit illegal stattfand? Oder
Bundestages gewartet. Diesem Wunsch wären zumindest liegt es doch eher daran, dass die Bundesregierung mit
Linke und SPD sehr gerne nachgekommen. Gerne hätten ihrer Zustimmung zum neuen SWIFT-Abkommen wo-
wir Ihnen unsere Vorgaben zur Verhandlungsführung möglich gegen das Grundgesetz verstößt? Oder –
und den Verhandlungszielen mit auf den Weg gegeben. schließlich und endlich – liegt es daran, dass man be-
Leider aber hat die Bundesregierung alles getan, um die wusst eine Beurteilung des Abkommens zur Kontrolle
Verhandlungen selbst, aber auch die internen Verhand- des Bankdatentransfers durch Europol durch den juristi-
lungslinien im Verborgenen zu halten und Ergebnisse im schen Dienst des EP nicht abwarten wollte, weil Ihnen
Innenministerium zu privatisieren. Gleichzeitig mühten klar war, was im Ergebnis dieser Prüfung festgestanden
sich die europäischen Innenminister, ein neues Abkom- hätte?
men nach dem Scheitern des ersten im Europäischen
Parlament so schnell wie möglich unterschriftsreif zu Bitte vergessen Sie nicht, dass die Legislative das
bekommen. Vor diesem Hintergrund konnten Anträge Handeln der Exekutive bestimmt und kontrolliert – und
der Opposition in Bezug auf die Aufnahme neuer Ver- nicht umgekehrt. Kehren Sie auf Ihrem Weg der Watte-
handlungen mit den USA erst am gestrigen Tage im bauschkontrolle der Regierung um. Nehmen Sie die Ent-
Innenausschuss debattiert werden – und dies, obwohl scheidungen des Bundesverfassungsgerichts ernst, ach-
die Linke als auch die SPD-Fraktion ihre Stellungnah- ten Sie endlich konsequent das Grundgesetz und die
men vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde einge- darin verbrieften Grund- und Freiheitsrechte. Hören Sie
reicht hatten. auf, unliebsame Sicherheitsprojekte über die europäi-
sche Bande in Deutschland durch die Hintertür einzu-
Aber mit Stellungnahmen des Deutschen Bundestages
führen. Achten Sie endlich die im Vertrag von Lissabon
zu wesentlichen Unionsdokumenten scheint es die Koali-
festgelegten Mitbestimmungsrechte der nationalen Par-
tion sowieso nicht besonders zu haben. So wurde eben-
lamente im europäischen Gesetzgebungsprozess. Und
falls am gestrigen Mittwoch im Innenausschuss ein
folgen Sie den Anträgen der Linksfraktion im Bundestag
entsprechender Entwurf für eine Stellungnahme des
und fordern Sie damit die Bundesregierung auf, dem
Bundestages zum neuen SWIFT-Abkommen der Fraktion
neuen SWIFT-Abkommen in der Schlussabstimmung im
Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ab-
(B) EU-Ministerrat die Zustimmung zu verweigern. (D)
gelehnt. Stattdessen liegt dem Plenum des Bundestages
heute ein Antrag der Koalition vor, in dem die Ergeb- Zentrale Kritikpunkte des EP am ersten Vertragsent-
nisse der Verhandlungen zwischen der EU und den USA wurf sind eben nicht in den Folgeverhandlungen oder
in den siebten Himmel gelobt werden. dem heute vorliegenden Abkommen berücksichtigt wor-
Das alles ist wahrlich eine Farce. Peinlich ist in die- den. Dieser Fakt wird auch dadurch nicht verändert,
sem Zusammenhang das Agieren der FDP-Fraktion zu weil nun die Mehrheit der Mitglieder des EPs – vor al-
nennen. Tönte deren Justizministerin noch Anfang des lem in den Reihen der Liberalen und Sozialdemokaten –
Jahres, ein solches Abkommen würde es mit ihr nicht unter dem Druck der USA und der europäischen Innen-
geben, ist Frau Leutheusser-Schnarrenberger nun voll- minister von ihrer ursprünglichen Haltung abgewichen
ends verstummt. Der FDP blieb letztlich nur, einige kri- ist. Sowohl der Sinneswandel vieler Abgeordneter auf
tische Anmerkungen im benannten Koalitionsantrag auf europäischer Ebene und im Bundestag als auch die Art
den hinteren Seiten in weichgespülter Pose unterzubrin- und Weise der Debatte im Bundestag haben beiden Par-
gen. lamenten wie auch der Demokratie und den Grundrech-
ten insgesamt keinen Dienst erwiesen.
Um eines ganz deutlich zu sagen: Ohne die Linksfrak-
tion im Bundestag würden wir heute gar nicht über die- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ses Abkommen debattieren. Die Linke hatte gefordert, NEN):
endlich das Thema auch hier im Plenum zu behandeln,
Die heute im Europäischen Parlament von Konserva-
um es aus nichtöffentlichen Innenausschusssitzungen
tiven, Sozialdemokraten und Liberalen beschlossene
herauszuholen und eben nicht nur auf der Grundlage
von als vertraulich eingestuften Dokumenten zu debat- Zustimmung zum SWIFT-Abkommen markiert einen
Tiefpunkt europäischer Grundrechts- und Datenschutz-
tieren.
politik. Wir Grüne sind besorgt, wie leichtfertig eine
Wenn aber das neue Abkommen so ein großer Fort- Mehrheit des Europäischen Parlaments sein gerade in
schritt ist, warum wollte die Koalition oder der Innen- der Haltung zum ersten SWIFT-Abkommen erreichtes
minister dieses den Bankkunden nicht auch mitteilen? – zugegebenermaßen noch zartes – bürgerrechtliches
Liegt es vielleicht daran, dass Bankkunden, die ins Vi- Profil wieder verspielt. Noch besorgter macht uns, wie
sier von US-Terrorfahndern geraten sind, auch zukünf- in diesem Zusammenhang die schwarz-gelbe Bundesre-
tig kaum über Informations- und Widerspruchsrechte gierung die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidung be-
verfügen? Oder liegt es daran, dass durch dieses tont, dem nun ausgehandelten Abkommen zuzustimmen.
Abkommen Bankkunden bereits als verdächtig angese- Alternativlosigkeit wird in diesen Tagen immer öfter zum
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5819
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
Friedhoff, Paul K. FDP 08.07.2010
der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig)
Herrmann, Jürgen CDU/CSU 08.07.2010 (SPD) zur Wahl von Mitgliedern des Stiftungs-
rates der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh-
Dr. von der Leyen, CDU/CSU 08.07.2010 nung“ (Tagesordnungspunkt 5)
Ursula
Heute beweist sich, dass die von der Mehrheit des
Liebich, Stefan DIE LINKE 08.07.2010* Bundestages beschlossene Form der Wahl von Stiftungs-
ratsmitgliedern das falsche Konstrukt ist. Bereits bei der
Özoğuz, Aydan SPD 08.07.2010 Änderung des Gesetzes zur „Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ hat die SPD-Fraktion zum Ausdruck
Pronold, Florian SPD 08.07.2010 gebracht, dass die Abstimmung über die Besetzung des
Schipanski, Tankred CDU/CSU 08.07.2010* Stiftungsrates im Gesamtpaket unakzeptabel ist.
Denn keinesfalls ist damit der Berufungsprozess ob-
Schmidt (Aachen), SPD 08.07.2010 jektiviert. Im Gegenteil: Nun werden auch Mitglieder
Ulla des Stiftungsrates mit einer demokratischen Legitima-
Schreiner, Ottmar SPD 08.07.2010 tion ausgestattet, an deren Engagement für den Stif-
tungszweck erhebliche Zweifel bestehen.
Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 08.07.2010*
Sicherlich steht die Mehrheit der vorgeschlagenen
Wolff (Wolmirstedt), SPD 08.07.2010 Personen eindeutig hinter den Stiftungszielen. Zur Erin-
Waltraud nerung: Im Gesetz heißt es:
(B) (D)
Zweck der unselbständigen Stiftung ist es, im
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 08.07.2010
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Ge-
Zapf, Uta SPD 08.07.2010 denken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhun-
dert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrie-
Zylajew, Willi CDU/CSU 08.07.2010 ges und der nationalsozialistischen Expansions-
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzu-
sammlung der OSZE halten.
Heute steht der Bundestag allerdings vor dem Di-
Anlage 2 lemma, dass zumindest bei zwei Vertretern des Bundes
der Vertriebenen aufgrund von Äußerungen in der Presse
Erklärung bezweifelt werden muss, ob diese künftigen Stiftungs-
ratsmitglieder die Arbeit der Stiftung auch im Sinne der
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
Versöhnung unterstützen werden.
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung: Hartmut Saenger spricht beispielsweise in der Preußi-
Übersicht 3 schen Allgemeinen Zeitung über den Beginn des Zweiten
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Weltkrieges wie folgt:
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Besonders kriegerisch führte sich Polen auf. Der
(Tagesordnungspunkt 39 i)
1918 wieder erstandene Staat schaffte es in der kur-
Hiermit erkläre ich im Namen der Fraktion Bündnis 90/ zen Zeit bis 1921 gleich mit vier Nachbarn … im
Die Grünen, dass unser Votum „Ja“ lautet. dauerhaften Streit zu liegen. … Erst England
machte den Krieg um Danzig zu einem weltweit
ausgetragenen Krieg, der dann durch den Kriegs-
Anlage 3 eintritt der USA wegen seiner Interessen am Pazifik
zum globalen Krieg ausuferte.
Erklärung nach § 31 GO
Arnold Tölg sagt im Interview mit der Jungen Frei-
des Abgeordneten Fritz Rudolf Körper (SPD)
heit zum Thema Zwangsarbeiter:
zur Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der
„Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Wenn man über Zwangsarbeiterentschädigung
(Tagesordnungspunkt 5) spricht, müßte man auch deutlich machen, daß ge-
5820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) rade die Länder, die am massivsten Forderungen Arnold Tölg sagt im Interview mit der Jungen Frei- (C)
gegen uns richten, genügend Dreck am Stecken ha- heit zum Thema Zwangsarbeiter:
ben, weil Sie Hunderttausende deutscher Zwangs- Wenn man über Zwangsarbeiterentschädigung
arbeiter in zahllosen Lagern hatten. spricht, müßte man auch deutlich machen, daß ge-
oder: rade die Länder, die am massivsten Forderungen
gegen uns richten, genügend Dreck am Stecken ha-
Während in Nürnberg von den Siegern die deut- ben, weil Sie Hunderttausende deutscher Zwangsar-
schen Kriegsverbrecher zurecht verurteilt wurden, beiter in zahllosen Lager hatten.
haben die gleichen Länder bezüglich Zwangsarbei-
tern ähnliche Verbrechen begangen wie Hitler- oder:
Deutschland. Während in Nürnberg von den Siegern die deut-
Deshalb lehne ich die Gesamtliste ab. schen Kriegsverbrecher zurecht verurteilt wurden,
haben die gleichen Länder bezüglich Zwangsarbei-
tern ähnliche Verbrechen begangen wie Hitler-
Anlage 5 Deutschland.
Erklärung nach § 31 GO Mir ist sehr daran gelegen, dass die Stiftung endlich
ihre Arbeit aufnehmen kann. Dennoch kann ich dieser
der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer (SPD) Liste nicht zustimmen, da ich sonst die Wahl der beiden
zur Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der oben genannten Personen mittragen würde. Aus diesem
„Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Ta- Grund stimme ich mit Nein.
gesordnungspunkt 5)
Heute beweist sich, dass die von der Mehrheit des
Bundestages beschlossene Form der Wahl von Stiftungs- Anlage 6
ratsmitgliedern das falsche Konstrukt ist. Bereits bei der Erklärung nach § 31 GO
Änderung des Gesetzes zur „Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ hat die SPD-Fraktion zum Ausdruck der Abgeordneten Renate Künast, Jürgen
gebracht, dass die Abstimmung über die Besetzung des Trittin, Volker Beck (Köln), Katrin Göring-
Stiftungsrates im Gesamtpaket unakzeptabel ist. Eckardt und Claudia Roth (Augsburg) (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Wahl von
Denn keinesfalls ist damit der Berufungsprozess ob- Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung
jektiviert. Im Gegenteil: nun werden auch Mitglieder des Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Tagesord-
Stiftungsrates mit einer demokratischen Legitimation nungspunkt 5)
(B) ausgestattet, an deren Engagement für den Stiftungs- (D)
zweck erhebliche Zweifel bestehen. Mit der Ablehnung der Mitglieder des Stiftungsrates
der unselbstständigen „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver-
Sicherlich steht die Mehrheit der vorgeschlagenen söhnung“ möchten wir unsere Verärgerung über das un-
Personen eindeutig hinter den Stiftungszielen. Zur Erin- souveräne Verhalten der Bundesregierung und deren
nerung: im Gesetz heißt es: Einknicken gegenüber der täglich unbedeutender wer-
Zweck der unselbständigen Stiftung ist es, im denden Lobby des BdV zum Ausdruck bringen und aus-
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Ge- drücklich nicht unsere Ablehnung gegenüber den zum
denken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhun- Teil durchaus kompetenten neuen Mitgliedern des Stif-
dert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrie- tungsrates.
ges und der nationalsozialistischen Expansions- Mit der heutigen Abstimmung über die Wahl von Mit-
und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzu- gliedern des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht, Vertrei-
halten. bung, Versöhnung“ geht ein langer Tanz der Bundes-
Heute steht der Bundestag allerdings vor dem Di- regierung am Nasenring des Bundes der Vertriebenen,
lemma, dass zumindest bei zwei Vertretern des Bundes BdV, und seiner Vorsitzendenen, Erika Steinbach, zu
der Vertriebenen aufgrund von Äußerungen in der Presse Ende. Auf inakzeptable Weise führte der BdV den Bun-
bezweifelt werden muss, ob diese künftigen Stiftungs- desaußenminister vor, der ein Veto gegen die Berufung
ratsmitglieder die Arbeit der Stiftung auch im Sinne der Steinbachs in den Stiftungsrat der „Stiftung Flucht, Ver-
Versöhnung unterstützen werden. treibung, Versöhnung“ eingelegt hatte.
Steinbachs Bestellung in den Stiftungsrat hätte die
Hartmut Sänger spricht beispielsweise in der Preußi-
auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutsch-
schen Allgemeinen Zeitung über den Beginn des Zweiten
land nachhaltig belastet und wäre dem Stiftungszweck
Weltkrieges wie folgt:
der Versöhnung insbesondere mit unseren östlichen
Besonders kriegerisch führte sich Polen auf. Der europäischen Nachbarn alles andere als förderlich gewe-
1918 wieder erstandene Staat schaffte es in der kur- sen. Das Veto bedurfte keiner Kompensationen. Die For-
zen Zeit bis 1921 gleich mit vier Nachbarn […] im derung des BdV nach einer Erweiterung des Stiftungs-
dauerhaften Streit zu liegen. […] Erst England rates, um nach dem Veto gegen Steinbach doppelt so
machte den Krieg um Danzig zu einem weltweiten viele Sitze im Stiftungsrat zu erhalten, war total überzo-
ausgetragenen Krieg, der dann durch den Kriegs- gen. Doch die Bundesregierung ist darauf eingegangen
eintritt der USA wegen seiner Interessen am Pazifik und hat zudem ihr Vetorecht aufgegeben. Der Stiftungs-
zum globalen Krieg ausuferte. rat ist nun von 13 auf 21 Mitglieder angewachsen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5821
(A) Das von der Koalition durchgesetzte Benennungsver- bezweifelt werden muss, ob diese künftigen Stiftungs- (C)
fahren degradiert den Bundestag zu einem Abnickgre- ratsmitglieder die Arbeit der Stiftung auch im Sinne der
mium, indem er über die ihm vorgelegte Stiftungsratsliste Versöhnung unterstützen werden.
nur noch als Ganze abstimmen kann. Die Folgen dieses
undemokratischen Verfahrens sind unmittelbar sichtbar. Hartmut Saenger spricht beispielsweise in der Preußi-
Zumindest zwei der vom BdV benannten Personen, schen Allgemeinen Zeitung über den Beginn des Zweiten
Arnold Tölg und Hartmut Saenger, sind mit Einlassungen Weltkrieges wie folgt:
aufgefallen, die dem Stiftungszweck der Versöhnung mit Besonders kriegerisch führte sich Polen auf. Der
unseren Nachbarn diametral entgegenlaufen. 1918 wieder erstandene Staat schaffte es in der kur-
Insbesondere die CSU ist hier allein ihrer eigenen zen Zeit bis 1921 gleich mit vier Nachbarn … im
Klientel gefolgt. Weder der Wegfall des Bestellungs- dauerhaften Streit zu liegen … Erst England machte
rechtes der Bundesregierung – vulgo: Vetorecht – noch den Krieg um Danzig zu einem weltweit ausgetra-
die Erhöhung der Zahl der Sitze des BdV im Stiftungsrat genen Krieg, der dann durch den Kriegseintritt der
sind akzeptabel. Der Bund der Vertriebenen hatte schon USA wegen seiner Interessen am Pazifik zum glo-
vorher einen Sitz mehr als der Deutsche Bundestag im balen Krieg ausuferte.
Stiftungsrat. Wenn man an der Zusammensetzung des Arnold Tölg sagt im Interview mit der Jungen Frei-
Stiftungsrates etwas hätte ändern sollen, dann wäre die heit zum Thema Zwangsarbeiter:
Beteiligung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages
an dieser Stiftung und nicht die Erhöhung der Zahl der Wenn man über Zwangsarbeiterentschädigung spricht,
Sitze für den Bund der Vertriebenen der Grund gewesen. müßte man auch deutlich machen, daß gerade die
Länder, die am massivsten Forderungen gegen uns
richten, genügend Dreck am Stecken haben, weil sie
Anlage 7 Hunderttausende deutscher Zwangsarbeiter in zahl-
losen Lagern hatten.
Erklärung nach § 31 GO
Oder
der Abgeordneten Heinz-Joachim Barchmann,
Klaus Brandner, Elvira Drobinski-Weiß, Ulrike Während in Nürnberg von den Siegern die deutschen
Gottschalck, Michael Groß, Hans-Joachim Hacker, Kriegsverbrecher zurecht verurteilt wurden, haben
Petra Hinz (Essen), Dr. Eva Högl, Christel die gleichen Länder bezüglich Zwangsarbeitern ähn-
Humme, Dr. Bärbel Kofler, Steffen-Claudio liche Verbrechen begangen wie Hitler-Deutschland.
Lemme, Sönke Rix, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Die vorgeschlagene Gesamtliste abzulehnen ist für
(B) Karin Roth (Esslingen), Dr. Martin Schwanholz die SPD-Fraktion keine Option, da das positive Engage- (D)
und Dr. h. c. Wolfgang Thierse (alle SPD) zur ment der anderen Stiftungsratsmitglieder nicht infrage
Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der gestellt werden kann.
„Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Ta-
gesordnungspunkt 5) Der SPD-Fraktion ist daran gelegen, dass die Stiftung
endlich die Arbeit aufnehmen kann. Wir stimmen daher
Heute beweist sich, dass die von der Mehrheit des der Wahl zu.
Bundestages beschlossene Form der Wahl von Stiftungs-
ratsmitgliedern das falsche Konstrukt ist. Bereits bei der
Änderung des Gesetzes zur Stiftung „Flucht, Vertrei- Anlage 8
bung, Versöhnung“ hat die SPD-Fraktion zum Ausdruck
gebracht, dass die Abstimmung über die Besetzung des Erklärung nach § 31 GO
Stiftungsrates im Gesamtpaket inakzeptabel ist. Denn
keinesfalls ist damit der Berufungsprozess objektiviert. der Abgeordneten Kersten Steinke, Jens
Im Gegenteil: Nun werden auch Mitglieder des Stif- Petermann, Frank Tempel, Ralph Lenkert,
tungsrates mit einer demokratischen Legitimation ausge- Raju Sharma, Katrin Kunert, Dr. Rosemarie
stattet, an deren Engagement für den Stiftungszweck er- Hein, Jan Korte, Harald Koch, Sabine
hebliche Zweifel bestehen. Zimmermann, Michael Leutert, Dr. Axel
Troost, Katja Kipping, Dr. Ilja Seifert, Yvonne
Sicherlich steht die Mehrheit der vorgeschlagenen Ploetz, Alexander Ulrich, Katrin Werner, Kathrin
Personen eindeutig hinter den Stiftungszielen. Zur Erin- Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Matthias W.
nerung. Im Gesetz heißt es: Birkwald, Ulla Lötzer, Ingrid Remmers, Niema
Movassat, Sahra Wagenknecht, Andrej
Zweck der unselbständigen Stiftung ist es, im Geiste
Konstantin Hunko, Inge Höger, Ulla Jelpke,
der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken
Dr. Herbert Schui, Heidrun Dittrich, Herbert
an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im his-
Behrens, Paul Schäfer (Köln), Dr. Diether
torischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der
Dehm, Jutta Krellmann, Dr. Petra Sitte, Klaus
nationalsozialistischen Expansions- und Vernich-
Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Gesine Lötzsch,
tungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten.
Werner Dreibus, Ulrich Maurer, Petra Pau, Jan
Heute steht der Bundestag allerdings vor dem Di- van Aken, Cornelia Möhring, Dr. Dagmar
lemma, dass zumindest bei zwei Vertretern des Bundes Enkelmann, Thomas Nord, Agnes Alpers,
der Vertriebenen aufgrund von Äußerungen in der Presse Wolfgang Gehrcke, Dr. Martina Bunge, Steffen
5822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Bockhahn, Dr. Gregor Gysi, Wolfgang Nešković, themen von Anfang an nicht mit im Fokus stehen und et- (C)
Sabine Stüber, Dr. Kirsten Tackmann, Stefan was vergessen wird.
Liebich, Alexander Süßmair, Nicole Gohlke,
Harald Weinberg, Eva Bulling-Schröter, Der Weg zur wirklichen Inklusion wird lang und si-
Michael Schlecht, Richard Pitterle, Annette cherlich auch mit Hindernissen gepflastert sein. Umden-
Groth, Karin Binder, Heike Hänsel und ken kann nicht verordnet werden. Es braucht Informa-
Dr. Barbara Höll (alle Die Linke) zur Wahl von tion, Vorbild und Überzeugung, und zwar nicht nur von
Mitgliedern des Stiftungsrates der „Stiftung ein paar Befürwortern einer guten Behindertenpolitik,
Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (Tagesord- sondern von allen in unserem Land.
nungspunkt 5) Eine zentrale Erkenntnis muss sich durchsetzten: Die
Wir stimmen der mündlich vorgetragenen Erklärung vorhandene, aber vor allem die gefühlte Behinderung
nach § 31 der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen wird von den Betroffenen umso stärker als persönliche
vollinhaltlich zu. Benachteiligung empfunden, je weniger von den Barrie-
ren wir in unserer Gesellschaft abbauen.
Unser Koalitionsvertrag ist eine sehr gute Grundlage
Anlage 9 für die praktische politische Tagesarbeit.
Zu Protokoll gegebene Reden Nach der schon beschriebenen Erarbeitungsphase be-
zur Beratung: schließt die Bundesregierung voraussichtlich im März
2011 den nationalen Aktionsplan. Er selbst ist kein Ge-
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem setz, sondern veranlasst hoffentlich viele politische Akti-
Antrag: vitäten und Umsetzungsstrategien vor Ort. Je besser
– Bericht der Bundesregierung über die bzw. intensiver wir gemeinsam diese Erarbeitungsphase
Lage behinderter Menschen und die Ent- ausfüllen, desto leichter wird uns die Umsetzung mit al-
wicklung ihrer Teilhabe umfassender len Verantwortungsträgern Schritt für Schritt gelingen.
und detaillierter vorlegen Und ich möchte auch darauf verweisen, dass der natio-
nale Aktionsplan nicht als einmal gefundenes und nun
– Beschlussempfehlung und Bericht zu den ewiges Vertragswerk gilt. Vielmehr wird danach die
Anträgen: ständige Vervollkommnung im Fokus bleiben müssen.
– Aktionsplan zur Umsetzung der UN- Nach den wichtigen Bereichen Bildung, Arbeit und Bar-
Konvention über die Rechte von Men- rierefreiheit sind Bereiche wie politische Partizipation,
(B) schen mit Behinderungen vorlegen Kultur, Familie und Gesundheit nicht minder wichtig. (D)
– Handlungsaufträge aus dem UN-Über- Auch Arbeitgeber, Sozialverbände und natürlich die
einkommen über die Rechte von Men- Länder sind aufgefordert, eigene Aktionspläne zu erstel-
schen mit Behinderungen len. Daraus entsteht ein Netzwerk von gemeinsamen Ak-
tivitäten.
– Antrag:
Mir ist vollkommen unverständlich, warum immer
– Erstellung des Berichts der Bundesregie- wieder von der Opposition behauptet wird, der Aktions-
rung auf Grundlage der UN-Konvention – plan müsse längst fertig sein und die Umsetzung der
Aktionsplan zur Umsetzung auf den Weg Konvention dauere viel zu lange. Gerade die Abstim-
bringen mungsprozesse mit den eigentlichen Experten auf die-
(Tagesordnungspunkt 17 a bis c) sem Feld, den Menschen mit Behinderung, sind enorm
wichtig und dürfen keinesfalls aus Zeitgründen entfal-
len. Das wäre nicht im Sinne der Konvention und natür-
Maria Michalk (CDU/CSU): Heute stehen sechs An- lich auch nicht im Sinne aller Beteiligten. Hier gilt ein-
träge der Opposition zur abschließenden Debatte und mal mehr: Der Weg ist das Ziel!
Abstimmung. Darin geht es um den Bericht der Bundes-
regierung zur Lage von Menschen mit Behinderung und Und ich will noch auf Folgendes hinweisen: die Ver-
um die Erarbeitung des nationalen Aktionsplans zur Um- treterinnen und Vertreter der Organisationen von Men-
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention. schen mit Behinderung werden nicht nur, wie von der
Konvention vorgeschrieben, im Rahmen eines Beirats
Wie wir alle wissen, bereitet die Bundesregierung die Umsetzung begleiten. Es gibt darüber hinaus einen
derzeit den Aktionsplan sorgfältig vor. Die Zivilgesell- Ausschuss, in dem Menschen mit Behinderung ebenfalls
schaft, insbesondere Menschen mit Behinderung und repräsentiert sind und mit dem sie aktiv in wichtige Ent-
ihre Interessenvertretungen, sind an der Erarbeitung des scheidungen eingebunden werden. Beide Gremien sollen
Fahrplans zur Umsetzung der UN-Konvention beteiligt. im Herbst ihre Arbeit aufnehmen. Wir tun also auch hier
Dieses umfassende Verfahren ist nicht selbstverständ- mehr, als uns die Konvention vorgibt.
lich. Es zeigt deutlich, wie ernst es der Bundesregierung
mit dem Leitgedanken der Inklusion ist. Schon in der Die UN-Konvention sieht für 2011 einen ersten Staa-
Planungsphase findet ein umfassender Dialog statt. In tenbericht vor, in dem der Stand der Umsetzung darge-
keiner Situation weiß jemand alles. Durch den Dialog ist legt werden soll. Die Bundesregierung hat angekündigt,
jedenfalls ausgeschlossen, dass wichtige Querschnitts- diesen Bericht im März 2011 vorzulegen. Daneben wird
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5823
(A) es auch in Zukunft einen Bericht über die „Lage behin- sehen, die den anderen Betrieben zeigen: „Seht her, es (C)
derter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ geht, und wir haben Erfolg damit!“ Gute Vorbilder sind
geben, und zwar in der Form, wie er bereits für 2009 er- wichtig, und ich will mich bei diesen für ihren Einsatz
stellt wurde. und für ihre Einstellung bedanken. Alle Beteiligten ha-
ben den Nutzen.
Die Kritik am Zeitpunkt der Veröffentlichung des Be-
richts für 2009 bringt den aktuellen behindertenpoliti- Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist ein
schen Diskurs aus meiner Sicht kein Stück weiter, zumal hervorragendes Instrument, um berufliche Teilhabe zu
in 2004 die rot-grüne Regierung beschlossen hatte, dass erhalten. Und Integrationsvereinbarungen können die
ein solcher Bericht nur einmalig verpflichtend vorzule- Beschäftigungssituation spürbar verbessern. Bisher gibt
gen sei. Daraus ergäben sich keine weiteren Berichts- es jedoch nur acht Integrationsvereinbarungen, und auch
pflichten. Deshalb ist die Kritik der Opposition, die aus mit dem BEM tun sich besonders mittlere Betriebe
dem Beratungsgegenstand abzulesen ist, völlig fehl am schwer, da es ihnen noch an Erfahrungen mangelt. Ja,
Platze. Ich stelle noch einmal fest: Auch in Zukunft wird wir haben gute Instrumente an der Hand – sie sollten
der Berichtspflicht nachgekommen. noch von mehr Unternehmen in der Praxis angewendet
werden.
Im aktuellen Bericht über die Lage von Menschen mit
Behinderung wurden die seit 2005 erzielten Fortschritte Wir wissen um die Differenziertheit der Behinderun-
und die zukünftigen Herausforderungen der Politik für gen. Deshalb brauchen wir auch differenzierte Lösun-
Menschen mit Behinderung transparent dargelegt. Die gen. Oftmals kann zum Beispiel mit der Eingliederungs-
Berichterstattung wird in dieser Form fortgesetzt. Die hilfe psychisch Kranken nicht ausreichend geholfen
Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag noch werden. Wir haben derzeit noch keine bedarfsgerechten
in dieser Legislaturperiode rechtzeitig zur Beschlussfas- Rehaangebote. Die Zusammenarbeit der unterschiedli-
sung einen Bericht vorlegen. chen Leistungsträger muss besser, transparenter werden.
Ein anderes Beispiel ist die Schnittstelle des Übergangs
Aber wir wissen auch: Papier ist geduldig. Deshalb ist aus einer Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt. Hier sind
es notwendiger, die dringlichsten Handlungsfelder in der enge Abstimmungen nötig. Und ein mehrfacher Wechsel
Politik für Menschen mit Behinderung zu identifizieren der Betreuungsperson ist sicherlich nicht hilfreich.
und aktiv umzusetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion sieht in der Bildungs- und Arbeitsplatz- bzw. Be- Ansprechen möchte ich auch die Situation Studieren-
schäftigungsgestaltung den wichtigsten Beitrag, weil das der. Studierenden mit Behinderung wird bis zum Ab-
zukunftsweisend für die Betroffenen selbst und für un- schluss einer angemessenen Ausbildung Unterstützung
sere Gesellschaft insgesamt ist. gewährt. In der Regel ist das nach der neuen Studien-
(B) form der Bachelor. Deshalb müssen wir bei der Reform (D)
Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinde-
der Eingliederungshilfe zum Beispiel auch das neue Stu-
rung mahnt zu zügigem Handeln. Der Wirtschaft geht es
diensystem beachten.
besser, aber Menschen mit Behinderung profitieren der-
zeit leider noch nicht vom spürbaren Aufschwung. Des- Neben vielem Positiven zeigen diese drei Beispiele,
halb möchte ich besonders betonen: Veränderungen ent- dass unverkennbar Kraftanstrengungen nötig sind, um
stehen nur durch Allianzen. Wir müssen Arbeitgeber auf das Ergebnis einer „inklusiven Gesellschaft“, in der
dem Weg zu einer inklusiven Arbeitswelt weiter unter- Menschen mit und ohne Behinderung Haustür an Haus-
stützen. Aber wir müssen ihnen auch mehr zutrauen, tür leben, Schreibtisch an Schreibtisch arbeiten, gemein-
nicht noch mehr vorschreiben. Und das setzt voraus, sie sam lernen, in politischen Gremien diskutieren und
in die Ausarbeitung konkreter Maßnahmen unmittelbar entscheiden oder sich ehrenamtlich engagieren, zu errei-
einzubeziehen. Ich finde, hier haben auch die Kammern chen. Ich finde, das ist eine anspruchsvolle, aber sehr
und Berufsverbände eine eigene Verantwortung, nicht schöne Aufgabe für uns alle.
zuletzt aus dem drohenden Fachkräftemangel heraus.
Wir haben bereits seit Jahren eine Ausgleichsabgabe Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Obwohl es in der
und eine Beschäftigungsquote. Die 480 Millionen Euro 16. Legislaturperiode gute Ansätze dieses Parlaments
aus der Ausgleichsabgabe werden sinnvoll eingesetzt und der damaligen Bundesregierung gab, das Leben von
und sind unverzichtbar für die Teilhabe von Menschen Menschen mit Behinderung zu verbessern – ich möchte
mit Behinderung am Arbeitsleben. Aber ich bin mir si- hier vor allem die Unterstützte Beschäftigung und das
cher: Eine weitere neue Vorschrift zur höheren Aus- Programm „Altersgerecht Umbauen“ des Bundesministe-
gleichsabgabe oder Beschäftigungsquote ist für das Ziel riums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nennen –,
einer inklusiven Arbeitswelt kontraproduktiv. Die Wirt- stellt der Bericht zum Ende der vergangenen Legislatur,
schaft braucht qualifizierte Mitarbeiter – und diese müs- um den es in den vorliegenden Anträgen geht, in vielen
sen, unabhängig von einem möglichen Assistenzbedarf, Punkten nicht das dar, was der Lebensrealität der Men-
auch eingestellt werden! schen mit Behinderung entspricht. Das haben nahezu
alle Sozialverbände, Vereine der Behindertenselbsthilfe,
An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es Arbeitsgemeinschaften der Fachverbände und auch der
bereits viele große und mittlere Unternehmen gibt, die Paritätische Wohlfahrtsverband deutlich gemacht.
seit Jahren Menschen mit Behinderung beschäftigen und
aufgeschlossen für deren Bedürfnisse und Fähigkeiten Es ist gut, dass es diesen Bericht in jeder Legislatur-
sind. Genau sie möchte ich als Leuchttürme verstanden periode gibt. Er muss aber deutlich besser werden, und
5824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) unser Antrag sowie die Anträge der Linken und der Grü- Bericht muss zum Ende der 17. Wahlperiode rechtzeitig (C)
nen haben diese Situation aufgegriffen. Wir haben als erneut erstellt werden – unsere Frist ist der 31. Oktober
SPD in unserem Antrag gefordert, die Verbesserung der 2012, um darüber im Parlament ausreichend debattieren
Datenlage als Ausgangspunkt für eine zukünftig hinrei- zu können. Der Bericht sollte dann auch bereits den
chende Berichterstattung in den Blick zu nehmen. Wir Umsetzungsstand der UN-Konvention als Folge des Ak-
sind uns sicher einig, dass der Bericht auf einer Daten- tionsplanes aufnehmen.
lage basieren muss, die der UN-Behindertenrechtskon-
Ein zentraler Punkt, der für die Nutzung des Berichts
vention entspricht und die sich auf die tatsächlichen Le-
durch das Parlament entscheidend ist: Der Bericht muss
benslagen richtet, anstatt zusammenhanglos Statistiken
auf zukünftige Aufgabenstellungen hinweisen und Lö-
zu präsentieren. Das wäre für die Menschen ein Hohn,
sungsperspektiven aufzeigen. Wäre das im Falle der
die tatsächlich um ihre gesellschaftliche Teilhabe kämp-
Ausschreibungspflicht für IFD-Leistungen gemacht
fen müssen – weil sie bevormundet werden, weil es
worden, hätten wir rechtzeitig politisch umsteuern kön-
keine oder unzureichende Barrierefreiheit gibt und weil
nen und würden nicht in die Situation kommen, dass
Menschen mit Behinderung noch immer keine Normali-
eine gesetzlich gewollte Struktur der Vermittlung und
tät in unserer Gesellschaft sind.
Betreuung von schwerbehinderten Menschen aufgebro-
Es ist nun so, dass die Bundesregierung in vielen Be- chen wird.
reichen der Teilhabe nicht über ausreichende Informatio- Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig,
nen zur realen Lebenslage von Menschen mit Behinde- dass die UN-Konvention das entscheidende Dokument
rung verfügt. So ist offenbar nicht bekannt, dass für die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behin-
Menschen mit Behinderung zu Tausenden in Heimen derung ist. Über die Konsequenzen für die Änderung un-
und Anstalten völlig von der Teilhabe am gesellschaftli- serer gesellschaftlichen Verhältnisse anhand dieses völ-
chen Leben ausgeschlossen sind, dass diese Menschen kerrechtlich und gesetzlich verbindlichen Vertrages gibt
keine Alternativen angeboten bekommen, weil die insti- es vor allem innerhalb der Koalition unterschiedliche
tutionelle Kraft der Träger sie nicht loslässt, sie nie be- Ansichten. Während die Union das uneingeschränkte
werten können, dass ein selbstbestimmtes Leben mit al- Recht auf gemeinsame Beschulung einräumt, hält die
ler notwendigen Unterstützung in einem barrierefreien FDP offenbar immer noch an Förderschulen fest. Das ist
Sozialraum eine Chance auf Gleichberechtigung ist. Es sehr bedauerlich, sie steht mit dieser Position aber allein
wird vielen Angst vor der Selbstständigkeit gemacht, da, denn die Mehrzahl der Eltern möchte hervorragende
und es werden Lösungen angeboten, die einfach nur er- Förderung in der Regelschule anstatt in der Förder-
niedrigend sind. Es kann zum Beispiel sein, dass selbst- schule.
bestimmtes Wohnen nur in solchen Wohnungen möglich
(B) ist, die in sozialen Brennpunkten oder in anderen Gebie- Weil die UN-Konvention so wichtig ist für die Frage, (D)
ten mit geringem Wohnwert liegen. Hier wird die Men- wie wir in 10 oder 20 Jahren in Deutschland leben, müs-
schenwürde mit Füßen getreten. sen die Betroffenen in die Erstellung des deutschen Be-
richts gemäß Art. 35 der UN-Konvention an den Aus-
Wären diese Tatsachen bekannt, wäre es in dem Be- schuss für die Rechte der Menschen mit Behinderung
richt sicher erwähnt worden. Es gilt daher, ausreichende gemäß Art. 33 einbezogen werden. Weiterhin ist wich-
Daten zum Beispiel zur Situation von psychisch kranken tig: Das Parlament muss bei der Berichtserstellung ge-
Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten in mäß Art. 35 der Konvention einbezogen werden. Das ist
unserer Gesellschaft zu erheben, um ihre realen Chancen auch durch die zuständige deutsche Monitoringstelle,
auf gesellschaftliche Teilhabe bewerten zu können. Da das Deutsche Institut für Menschenrechte, bei ihrem Be-
helfen keine reinen Statistiken der Agentur für Arbeit such im Ausschuss deutlich gemacht worden. Auch da-
oder anderer Einrichtungen. von hängt die Glaubwürdigkeit der Umsetzung der UN-
Es braucht auch Informationen über Biografien und Konvention ab!
über die realen Hürden, denen sich Menschen mit Behin- Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in aller
derung tagtäglich gegenüber sehen. Nur so begreifen Munde. Landauf, landab wird über sie diskutiert und ge-
wir, was die Forderung der UN-Behindertenrechtskon- stritten, sie wird aber auch ignoriert und missbraucht.
vention nach Inklusion wirklich für uns bedeutet und wo Auf diese Gefahr möchte ich ganz deutlich hinweisen.
wir bei Veränderungen ansetzen müssen. Es ist nicht im Sinne der Konvention, wenn man – ganz
nach Ansicht der FDP – mit dem Wunsch- und Wahl-
Die Erstellung des Berichts und die Erhebung der not- recht der Eltern die Inklusive Bildung blockiert. Natür-
wendigen Daten nach Maßgabe der Forderung der Kon- lich: Die Kinder sind keine Versuchskaninchen, sie sol-
vention ist also schon ein Stück Umsetzung und Be- len eine hervorragende Förderung in der Regelschule
wusstseinsbildung. Der Bericht muss auf die Grundlage erhalten. Bei der förderpädagogischen Leistung darf es
der Forderungen zur Erhebung und Darstellung von sta- keine Abstriche geben, und auch die Regelschule muss
tistischen Daten in Art. 31 der UN-Konvention gestellt sich verändern: in der Art des Unterrichts, im Schüler-
werden und die Daten darin diesem Standard angepasst Lehrer-Verhältnis und auch hin zu mehr Barrierefreiheit –
werden. Das Wichtigste dabei ist: Die Betroffenen müs- baulich und sprachlich.
sen in die Erstellung des Berichts der Bundesregierung
über die Lage der Menschen mit Behinderung einbezo- Besonders aber die Barriere im Kopf muss weg, dass
gen werden, denn nur so können die Forderungen der es schlechter wird, wenn Kinder von Anfang an gemein-
UN-Konvention glaubwürdig umgesetzt werden. Der sam lernen. Nationale und internationale Studien sowie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5825
(A) viele Praxisbeispiele aus unserem Land zeigen uns doch, Die UN-Behindertenrechtskonvention hat mit ihrem (C)
dass es uns allen guttut und dass eine konsequent umge- neuen Konzept der Inklusion einen Perspektivwechsel
setzte Inklusion im Bildungsbereich die gesellschaftliche eingeleitet. Die Konvention bietet die große Chance,
Trennung von behindert und nicht behindert überwinden sich von alten Denkmustern und ausgetretenen Pfaden
wird. Alle gewinnen hinzu. Es wird aber vonseiten der zu lösen und neue Wege einzuschlagen.
Institutionen und derjenigen, die eine Inklusive Gesell-
schaft nicht wagen wollen, mit der Angst der Eltern ge- Der Prozess des Neu- und Umdenkens ist in vollem
spielt, die UN-Konvention wird umgedreht. Gange. Dies ist mein Eindruck nach vielen Gesprächen,
die ich in letzter Zeit geführt habe. Die UN-Konvention
Ähnliches passiert im Bereich der Pflege von Men- mit ihrem Schlüsselbegriff Inklusion und ihre Umset-
schen mit Behinderung. Es gibt nun schon seit Jahren die zung in konkrete Politik ist auch ein wichtiges politi-
Forderung der Sozialhilfeträger und auch von Leistungs- sches Anliegen der christlich-liberalen Koalition.
erbringern, den Pauschalbetrag des § 43 a SGB XI
anzupassen. Wir haben das immer abgelehnt, weil kein Ein wenig habe ich den Eindruck, dass dies bei Ihnen,
einziger Euro einer Anpassung bei den Betroffenen an- liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion
kommen würde. Es ging hier einzig um eine Entlastung und der Fraktion der Linken, noch nicht ganz angekom-
der Eingliederungshilfe und um die Verfestigung der be- men ist. Sie beschäftigen sich in Ihren Anträgen mit dem
stehenden Strukturen. Berichtswesen und fordern einen nationalen Aktions-
plan. Unter anderem fordern Sie auch, dass ein inklusi-
Wir haben dann nämlich gesehen, wie weit es mit ves Bildungssystem geschaffen wird, und Sie fordern
dem Interesse der Heimbetreiber an den Menschenrech- eine gleichberechtigte berufliche Teilhabe. Keine Frage,
ten der Betroffenen aussah: Es wurden Hunderte Fach- dies sind alles Punkte, die auch uns am Herzen liegen.
pflegeheime für Menschen mit Behinderung gebaut, die Aus liberaler Sicht sind Bildung und Teilhabe am Ar-
dann endlich das nötige Geld der Pflegeversicherung in beitsmarkt die vorrangigen Themen.
vollem Umfang einstreichen konnten. Es ging hier nie
um die Betroffenen! Ich sage Ihnen aber auch ganz offen, dass ich besorgt
darüber bin, wie das Thema in der Opposition behandelt
Jetzt wird mithilfe der UN-Konvention argumentiert, wird. Forderungen zu stellen, wie Sie das tun, ist ein-
das Wohnheim des Menschen mit Behinderung wäre fach. Viel schwieriger ist es, die Dinge anzupacken.
seine selbstgewählte Häuslichkeit, und deshalb dürfe es Aber wir in der Regierung scheuen uns nicht davor, die
keine Benachteiligung der Pflegesätze im ambulanten Dinge anzupacken. Ein Aktionsplan ist, wie Sie wissen,
und im stationären Bereich mehr geben. Das ist eine völ- in Arbeit. Sowohl die Länder als auch das Bundesminis-
lig verfehlte Entwicklung, der wir uns in der SPD auch terium für Arbeit und Soziales haben angekündigt, Ak-
(B) weiterhin widersetzen werden. Das Geld, das die Ein- tionspläne im März 2011 vorzulegen. Das dürfte auch (D)
gliederungshilfe hier für Wohnheime ausgibt, sollte für Ihnen in der Opposition bekannt sein.
die Förderung ambulanter Wohnformen mitten in der
Gemeinde investiert werden. Dort kann man dann viel Wir in der Regierung machen unsere Hausaufgaben.
eher von selbstgewählter Häuslichkeit sprechen, und Dies scheint jedoch nicht überall so zu sein. Ich möchte
eine Förderung des Pflegebedarfs durch die Pflegesätze Ihnen ein Beispiel aus Berlin nennen: Sie, liebe Kolle-
des SGB XI ist auch möglich. ginnen und Kollegen von der SPD und der Fraktion der
Linken, beanstanden das Berichtswesen und fordern,
Es gibt noch viele weitere Beispiele, die zeigen, wie dass gehandelt wird. Es passiert Ihnen zu wenig. Wie er-
wichtig es ist, den Geist der Konvention wirklich umzu- klären Sie sich dann, dass Ihre Kollegen im Berliner Se-
setzen, vor allem in der Bildung und im Bereich der Ein- nat Eltern mit ihren Sorgen und Nöten allein lassen,
gliederungshilfe, denn das sind die Wegweiser für die wenn es um die Frage der Schulassistenz geht, und das
kommenden Jahre. schon seit längerer Zeit?
Es bleibt die Forderung, mit diesen Reformen das Die Ferien haben schon begonnen. Die Eltern von
SGB IX gesetzlich und in der Praxis zu starken, die her- Kindern mit Behinderung wissen immer noch nicht, ob
vorragenden Instrumente endlich wirksam einzusetzen ihr Kind im nächsten Schuljahr einen Schulhelfer zur
und die Zergliederung des Systems zu überwinden. Seite gestellt bekommt oder nicht. Sie beklagen unklare
Dafür braucht es viel Kraft und Willen, und ich wün- Zuständigkeiten, beschwerliche Behördengänge und In-
sche mir, dass diese Bundesregierung es schafft, einen formationsmangel. Anträge für das neue Schuljahr wur-
Aktionsplan vorzulegen, der diesen Zielen gerecht wird den bereits abgelehnt, Schulhelferstunden gekürzt – aus
und die Eingliederungshilfe einbezieht, denn es reicht haushaltspolitischen Gründen. Sie mahnen im Bundes-
nicht, auf alles einfach das Label „UN-Konvention“ zu tag an, was Sie – wenn Sie Verantwortung tragen – nicht
kleben und so weiter zu machen wie bisher. bewerkstelligen.
Mich bekümmert das, denn es zeigt deutlich, dass wir
Gabriele Molitor (FDP): „Probleme kann man nie- hinsichtlich der Umsetzung der UN-Konvention noch
mals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie ent- einen weiten Weg gehen müssen: gegen viele Wider-
standen sind.“ – Diese Worte von Albert Einstein sollten stände. Wie sollen mehr behinderte Kinder eine Regel-
auch wir uns zu Herzen nehmen, wenn wir über Verän- schule besuchen können, wenn ihnen die dafür notwen-
derungen und Entwicklungen in der Behindertenpolitik dige Assistenz verwehrt wird? Das passt für mich nicht
sprechen. zusammen. Ich sage Ihnen heute: Ich werde mich immer
5826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) wieder dafür einsetzen, dass sich etwas ändert, weil mich Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist die im (C)
die Sorge um die Zukunft unserer Kinder antreibt. Juni soeben verabschiedete neue Baunorm DIN 18040,
die zwei bereits bestehende Normen zusammengefasst
Die Kernfrage, die wir uns stellen müssen ist, wie wir und weiterentwickelt hat. Ich begrüße dies sehr. Neu ist,
Menschen mit Behinderungen ein eigenständiges Leben dass auch den sensorischen Anforderungen Rechnung
ermöglichen können. Wir müssen hier ganz früh anset- getragen wird: Die Gestaltung von visuellen, akusti-
zen. Die Erfahrungen mit integrativen Kindertagesstät- schen oder taktilen Bauelementen ist vorgegeben. Damit
ten haben gezeigt, wie sehr alle Kinder davon profitie- ist auch gewährleistet, dass die Bedürfnisse von Men-
ren, gemeinsam aufzuwachsen und Beeinträchtigungen schen mit den unterschiedlichsten Behinderungen be-
des anderen nicht als Schwäche zu begreifen. Es ist un- rücksichtigt werden: Seh- oder Hörbehinderung, motori-
sere Aufgabe, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, so sche Einschränkung, Menschen, die Mobilitätshilfen
vielen jungen Menschen mit Behinderung wie möglich oder Rollstühle nutzen oder die kognitive Einschränkun-
über den Besuch von Regelschulen die Teilhabe am Ar- gen haben. Dies sind kleine Erfolge wie viele kleine
beitsmarkt zu ermöglichen. Soweit im Rahmen ihrer Fä- Puzzleteile, die zusammengesetzt am Ende ein großes
higkeiten möglich, sollen sie selbst entscheiden können, Ganzes ergeben.
wo sie arbeiten möchten und wie sie sich ihren Lebens-
unterhalt verdienen. Unabhängig und eigenständig zu Wir haben uns ein Ziel gesetzt: Nicht der Mensch mit
sein, macht Menschen zufrieden. Behinderung hat sich der Gesellschaft anzupassen, son-
dern die Gesellschaft hat sich auf die Bedürfnisse der
Auch die Frage, wie der Übergang in den Ruhestand Menschen mit Behinderung einzustellen. Inklusion ist
geregelt werden kann, bedarf der Klärung. Der Eintritt in ein Prozess; der Aktionsplan der christlich-liberalen Ko-
diese neue Lebensphase ist für einen Menschen, der bis- alition ist ein Konzept, wie wir Fortschritte erreichen.
her zum Beispiel an einen strukturierten Tagesablauf in
einer Werkstatt gewöhnt war, eine Umstellung. Wie wir Lassen Sie uns die Chance nutzen, alte Denkstruktu-
Menschen mit Behinderung im Alter ein selbstbestimm- ren aufzubrechen und Barrieren aus dem Weg und aus
tes Leben ermöglichen können, ist eine neue Herausfor- den Köpfen zu räumen. Das wollen wir gemeinsam an-
derung. An den Übergangsphasen, sei es aus der Schule packen, um die Lebenssituation von Menschen mit Be-
in den Job oder aus einer Tätigkeit in den Ruhestand, ist hinderungen nachhaltig zu verbessern.
jeweils Hilfestellung und Beratung nötig, damit keiner
alleingelassen wird.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Wir führen heute eine
Der medizinische Fortschritt führt dazu, dass Men- Debatte über die Umsetzung der UN-Konvention über
schen immer älter werden. Hinzu kommt, dass ein die Rechte von Menschen mit Behinderungen und über
(B) Mensch im Alter häufig mit mehreren gesundheitlichen den Behindertenbericht der Bundesregierung – zwei (D)
Problemen gleichzeitig zu kämpfen hat. Häufig entsteht Paar Schuhe, die im gleichen Regal stehen und doch ver-
eine Behinderung erst im Alter, wenn die Bewegungs- schiedene Farben tragen.
oder die Sehfähigkeit plötzlich schlechter wird. Deshalb
Die Linke verlangt die Vorlage eines ersten Aktions-
muss es darum gehen, die medizinische Versorgung an
diese altersspezifischen Bedürfnisse anzupassen. planes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention noch in diesem Jahr. Es zeichnet sich nämlich
Für Leistungsträger und Leistungserbringer bedeutet ab, dass anderthalb Jahre nachdem die Konvention in
die stark anwachsende Gruppe älterer Menschen mit Be- Deutschland in Kraft trat, noch lange keiner vorliegen
hinderung, dass sie sich auf veränderte Aufgaben, zum wird. Dieser Schuh drückt Sie offensichtlich erst, wenn
Beispiel in der Pflege einstellen müssen. der Staatenbericht an die UNO vorliegen muss: im Früh-
jahr 2011. Die Koalition lehnt unseren Antrag mit der
An dieser Stelle möchte ich nochmal auf einen Begründung ab, dass ein unnötiger Zeitdruck kontrapro-
Aspekt hinweisen, der mir sehr wichtig ist: Behinderten- duktiv und nicht im Interesse der Betroffenen sei. Sie
politik betrifft viele andere Politikbereiche. Behinderten- setzen hingegen auf Gründlichkeit. Ich habe nichts ge-
politik ist ein Querschnittsthema: Bildung, Verkehr, gen Gründlichkeit, im Gegenteil. Offenbar haben wir
Wirtschaft, Bauen und Wohnen, Tourismus, Familie und aber verschiedene Vorstellungen von Gründlichkeit.
Senioren sind unter anderem für Behindertenpolitik rele-
vant. Ich möchte in all diesen Politikfeldern ein Wie gründlich die Bundesregierung arbeitet, lässt sich
Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behin- am Bericht über die Lage von Menschen mit Behinde-
derung schaffen und zu spürbaren Verbesserungen ge- rungen, Drucksache 16/13829, ablesen. Der sozusagen
langen, und ich möchte den Blick dafür schärfen, dass aktuelle Bericht wurde dem Parlament erst zwei Monate
Verbesserungen und Veränderungen der gesamten Ge- vor der Bundestagswahl zugeleitet. Eine Befassung war
sellschaft zugute kommen. also nicht mehr möglich. In der gesamten 16. Wahlpe-
riode schaffte es die Regierung nicht, die Situation von
Nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren zum Menschen mit Behinderungen datenbasiert darzustellen
Beispiel von einer barrierefreien Infrastruktur. Auch die und diskutieren zu lassen. Das nennen Sie gründlich?
Mutter mit Kinderwagen ist froh, wenn es eine Rampe
statt einer Treppe gibt. Das Gleiche gilt für Senioren, die An dieser Stelle drängt sich mir die Vermutung auf,
nicht mehr gut zu Fuß sind und mit Gehhilfen oder Rol- dass mit dem ersten Aktionsplan und dem Staatenbericht
lator unterwegs und auf stufenlose Wege angewiesen an die UNO, der Pflicht ist, ähnlich verfahren werden
sind. soll: Beides wird so spät vorgelegt, dass weder die be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5827
(A) troffene Öffentlichkeit noch das Parlament auch nur den gen. Nichts! Stattdessen basteln Sie Kürzungspakete, (C)
Hauch einer Chance haben, sich kritisch einzubringen. von denen Sie – aber auch nur Sie – glauben, dass Men-
Damit nicht wieder am Parlament vorbei regiert wird, schen mit Behinderungen nicht betroffen seien. Nehmen
verlangt die Linke, dass der nächste Behindertenbericht Sie zur Kenntnis, dass Menschen mit Behinderungen
bis spätestens Ende Oktober 2012 vorliegt. überproportional von der Krise betroffen sind, nicht zu-
letzt durch eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosen-
Um das Regieren aneinander vorbei zu stören, setzte quote.
die Linke den alten – aktuellen – Bericht der vergange-
nen Wahlperiode erneut auf die Agenda. So wurde zu- Im Übrigen erstaunt mich eines immer wieder, wenn
mindest in einer öffentlichen Anhörung des Arbeits- und ich die Verantwortlichen höre, sei es Staatssekretär
Sozialausschusses am 3. Mai 2010 breit über ihn disku- Andreas Storm oder auch Bundesministerin Ursula von
tiert. Das ist gründlich, oder? Nahezu übereinstimmend der Leyen: Sie reden immer wieder über inklusive Bil-
stellten die Sachverständigen fest, dass der Bericht lü- dung. Uns, der Opposition, erzählen Sie jedoch, Sie
ckenhaft ist, weil die notwendigen Daten nicht erhoben seien dafür nicht zuständig. Ja was denn nun? Reden Sie
werden, dass der Bericht lückenhaft ist, weil nur einige doch mal über das, für das Sie sich zuständig fühlen.
Lebensbereiche und insbesondere erwerbsarbeitsbezo- Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr, und zwar gründ-
gene dargestellt werden, dass der Bericht einseitig ist, lich. Sorgen Sie für eine aussagekräftigere Statistik. Le-
weil er die Situation beschönigt, und dass der Bericht gen Sie rechtzeitig einen ehrlichen Bericht über die Lage
unbrauchbar ist, weil er keinerlei Handlungsempfehlun- von Menschen mit Behinderungen vor. Verstecken Sie
gen zur Schaffung von Teilhabegerechtigkeit hervor- sich nicht hinter Planung, um Taten zu verhindern.
bringt. Ist das gründlich!? Schließlich: Verwechseln Sie den Staatenbericht nicht
Obwohl es schon länger angemahnt und immer wie- mit dem Aktionsplan, verwechseln Sie den Behinderten-
der offensichtlich ist – wir Parlamentarier erhalten auf bericht nicht mit dem Staatenbericht. Seien Sie gründ-
unsere schriftlichen und mündlichen Anfragen die Ant- lich.
wort: „Spezifische Daten zu Menschen mit Behinde-
rungen liegen nicht vor“ –, sind seitens der Bundes- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
regierung keinerlei Maßnahmen zu erkennen, Abhilfe zu Bundesregierung entwickelt derzeit einen nationalen
schaffen. Im Gegenteil: mit Verweis auf Bürokratieab- Aktionsplan, der den Handlungsbedarf, der durch die
bau wird eine differenziertere Datenerhebung verhindert. UN-Behindertenrechtskonvention entsteht, offenlegen
Dies steht im Widerspruch zu Art. 31 der UN- Behinder- sowie einen Fahrplan zur Umsetzung präsentieren soll.
tenrechtskonvention. Um das zu erkennen, braucht nie- Dies begrüßen wir ausdrücklich, ist es zur Umsetzung
mand einen mit allen Ressorts und allen Ländern abge- der UN-Konvention doch zwingend notwendig. Gleich- (D)
(B)
stimmten Aktionsplan. Das kann sofort getan werden, zeitig lässt die Bundesregierung nicht die Auffassung
gern auch gründlich. erkennen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention
Zurück zur Umsetzung der UN-Konvention: Die einen gesetzgeberischen Änderungsbedarf mit sich
Linke fordert einen guten Aktionsplan, der realistische brächte. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, In-
Ziele formuliert und praxisorientierte Umsetzungsvorha- halt, Umfang, Prozess und zeitliche Perspektive eines
ben benennt. Aber ich möchte noch einmal klarstellen: solchen Aktionsplans zu kontrollieren.
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Hierzu haben wir von Bündnis 90/Die Grünen einen
Behinderungen ist eine Konkretisierung der universellen Antrag eingebracht, der eben solche Ansprüche formu-
Menschenrechte. Gleichberechtigte Teilhabe von Men- liert. Leider konnten weder die Koalitionsfraktionen
schen mit Behinderungen ist Menschenrecht. Sie ist noch die Fraktionen der SPD und der Linken im Aus-
keine im Nebel schwebende Vision, wie es das zustän- schuss unserem Antrag zustimmen. Dies ist umso bedau-
dige Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit ei- erlicher, als dass sich die Bundesregierung derzeit bei
ner Veranstaltung am 23. Juni 2010 suggerierte. der Erstellung des Aktionsplanes zwar bemüht, jedoch
Würden Sie die Konvention gründlich lesen und ernst den Anschein erweckt, als beginne man bei der inhaltli-
nehmen, könnten Sie daraus zügig Maßnahmen ableiten. chen Erarbeitung bei Null. Dies ist mitnichten der Fall.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Streichen Sie den Zum Beispiel sind im Rahmen der Kampagne „Alles In-
Kostenvorbehalt in § 9 Abs. 2 SGB XII, damit Men- klusive: Die neue UN-Konvention“ der vorherigen Bun-
schen mit Behinderungen frei wählen können, wie, wo desregierung gute Grundlagen erarbeitet worden, mit de-
und mit wem sie wohnen wollen. Schaffen Sie ein inklu- nen man weiter arbeiten kann.
sives Bildungssystem; beginnen Sie mit wirklichem El-
Ein wichtiges Element zur effektiven Umsetzung der
ternwahlrecht. Starten Sie wirkungsvolle Kampagnen
UN-Behindertenrechtskonvention wäre die Einrichtung
zur Bewusstseinsbildung. Schaffen Sie bei der Einglie-
von weiteren Focal Points in relevanten Ministerien und
derungshilfe die Anrechnung von Einkommen und Ver-
Abteilungen. Focal Points sind Stellen, die den gesamten
mögen ab. Vergeben Sie öffentliche Aufträge nur noch,
Zuständigkeitsbereich eines Ministeriums oder einer Ab-
wenn umfassende Barrierefreiheit geschaffen wird.
teilung sowie deren Handeln auf die Übereinstimmung
Seien Sie also gründlich.
mit der UN-Behindertenrechtskonvention prüfen. Eine
Sie haben in dieser Wahlperiode nichts, aber auch vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Natio-
noch gar nichts unternommen, um für ein Mehr an nen für Menschenrechte herausgegebene Studie zeigt,
Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen zu sor- dass zusätzliche Focal Points helfen können, ein entspre-
5828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) chendes Bewusstsein zu bilden. Sie können an der Erar- wortung stellen. Tut sie dies nicht, wird sie schon kurz (C)
beitung eines Aktionsplanes teilnehmen sowie die Um- nach Vorlage des ersten Staatenberichtes im nächsten
setzung der Konvention begleiten und kontrollieren. Es Jahr ein böses Erwachen erleben. Es bestehen durchaus
ist schade, dass eine formelle Benennung von weiteren Handlungsmöglichkeiten auch auf Bundesebene. Die
Focal Points durch die Bundesregierung bislang nicht er- Bundesregierung könnte und müsste gemäß Art. 8 der
folgt ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Aussage der Bun- UN-Konvention sofortige bewusstseinsbildende Maß-
desregierung auf meine mündliche Frage, wonach eine nahmen ergreifen, um die Menschen von der inklusiven
solche Benennung „nicht ausdrücklich ausgeschlossen“ Schule zu überzeugen. Außerdem gilt es, das Rechts-
sei, auch praktisches Regierungshandeln nach sich zieht. institut der „angemessenen Vorkehrungen“, wie es in der
UN-Konvention vorgesehen ist, auszugestalten und ent-
Ein Beispiel, wie doch auch einzelne Bundesministe-
sprechend für hiesige Regelungen anwendbar zu ma-
rien voranschreiten könnten, um herauszufinden, inwie-
weit denn die UN-Behindertenrechtskonvention Auswir- chen.
kungen auf ihr jeweiliges Politikfeld hat, zeigte schon in Lassen Sie mich nun noch einmal etwas zu den aktu-
der vergangenen Legislaturperiode das Bundesministe- ellen Sparvorschlägen der Bundesregierung sagen. Die
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Koalition plant Einsparungen von 16 Milliarden Euro bis
lung. Dieses gab eine Studie zum Thema „Umsetzung 2014 beim Bund und bei der Bundesagentur für Arbeit
der VN-Konvention über die Rechte von Menschen mit durch die Umwandlung bisheriger Pflichtleistungen
Behinderungen im Rahmen der deutschen Entwick- nach SGB II und SGB III in Ermessensleistungen. Dies
lungszusammenarbeit“ in Auftrag. Zwar wurden die seit könnte unmittelbare Auswirkungen auf den Bereich der
dem Oktober 2008 vorliegenden Empfehlungen weder beruflichen Rehabilitation behinderter Menschen haben.
von der damaligen noch von der jetzigen Bundesregie- Wir müssen gemeinsam dafür eintreten, dass die Sparbe-
rung konkretisiert oder gar umgesetzt – bislang zumin- mühungen nicht die Bemühungen zu einem Mehr an
dest. Mit den Empfehlungen liegen aber Handlungsauf- selbstbestimmter Teilhabe von Menschen mit Behinde-
träge vor, die auch im Aktionsplan der Bundesregierung rungen konterkarieren.
dementsprechende Berücksichtigung finden müssen.
Nicht nur die Bundesregierung ist aufgefordert, die Dass uns solche Sparvorhaben auch von anderen
Umsetzung der UN-Konvention voranzubringen, son- staatlichen Ebenen bevorstehen, zeigt das gemeinsame
dern auch der Deutsche Bundestag. Hierauf verwies zu- Schreiben des Bayerischen Städtetags, des Bayerischen
letzt Professor Dr. Beate Rudolf vom Deutschen Institut Gemeindetages und des Bayerischen Landkreistages.
für Menschenrechte bei ihrem Besuch Anfang Juni im Auf dieses Schreiben wies ich schon in meiner Rede
Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Professor vom 20. Mai hin. Glücklicherweise haben nun auch die
(B)
Rudolf schlug den Abgeordneten des Ausschusses drei Behindertenbeauftragten der Bayrischen Staatsregierung (D)
Möglichkeiten vor, wie sie sich im Rahmen des Staaten- und der Kommunen diese Vorstöße zurückgewiesen.
berichtes zur UN-Konvention beteiligen können. So
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf den Bericht
sollten die Abgeordneten schon vor dem Kabinettsbe-
der Bundesregierung über die Lage behinderter Men-
schluss zum Staatenbericht im nächsten Jahr das Thema
schen und die Entwicklung ihrer Teilhabe eingehen.
erneut auf die Tagesordnung des Ausschusses setzen,
Nach § 66 SGB IX ist die Bundesregierung aufgefordert,
sich sodann mit den Fragen, die der Vertragsausschuss
der Vereinten Nationen stellen wird, auseinandersetzen einen Bericht über die Lage behinderter Menschen und
und schließlich die Empfehlungen diskutieren und in die die Entwicklung ihrer Teilhabe an den Bundestag vorzu-
Politikgestaltung aufnehmen. Ich fordere meine Kolle- legen. Die Anhörung vom 3. Mai 2010 im Arbeits- und
ginnen und Kollegen auf, diesen Hinweisen entspre- Sozialausschuss hat gezeigt, dass erstens der vorgelegte
chend die kommende Ausschussarbeit zu strukturieren. Bericht den Ansprüchen des § 66 SGB IX nicht gerecht
wird, da der Bericht nicht umfassend und detailliert ist,
Darüber hinaus möchte ich nochmals auf die viel zi- und zweitens, dass es an gesetzlichen Regelungen zur
tierte Umsetzungspflicht der Bundesregierung als Ver- Regelmäßigkeit sowie zum Zeitpunkt der Veröffentli-
tragspartnerin gegenüber den Vereinten Nationen zu chung fehlt. Die Erhebung und Aufbereitung ge-
sprechen kommen. Hier scheint die Bundesregierung zu schlechtsspezifischer Daten ist unzureichend.
glauben, dass die Bereiche, die in die alleinige gesetzge-
berische Zuständigkeit der Bundesländer fallen, sie Mit unserem Antrag wollten wir die Mängel der Bun-
nichts angingen. Dies mussten wir Grünen schon auf un- desregierung aufzeigen, die unter rot-grüner Regierungs-
sere Anfragen zu den Themen Kindertagesstätten, beteiligung eingeführte Berichterstattung stärken und ei-
Schule und Hochschule erfahren. Jüngst wollten wir von nen konkreten Vorschlag zur Umsetzung der Art. 31,
der Bundesregierung wissen, welche Maßnahmen sie Statistik und Datensammlung, und 6, Frauen mit Behin-
trifft bzw. treffen wird, um die UN-Konvention in den derungen, der UN-Behindertenrechtskonvention vorle-
Bereichen Bauordnungsrecht und barrierefreies Bauen gen. Leider wurde von den Koalitionsfraktionen nicht
umzusetzen. Auch hier antwortete die Bundesregierung, ein einziger Punkt unserer Vorschläge aufgenommen.
dass, sofern es überhaupt einen Änderungsbedarf gäbe, Die doch recht fadenscheinigen Begründungen können
diese Frage nur für die Bundesländer von Belang wäre. Interessierte gerne in der Beschlussempfehlung des Aus-
Allerdings: Gegenüber den Vereinten Nationen bleibt die schusses nachlesen. Ein solches Ausweichen und Nicht-
Bundesregierung letztlich für das Gesamtergebnis ver- handeln der Regierungsfraktionen ist unverständlich und
antwortlich und muss sich daher endlich dieser Verant- bleibt enttäuschend. Besserung täte not.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5829
(A) Anlage 10 ab, sie lehnen nicht mehr ab, dass CO2 unterirdisch ge- (C)
speichert wird. Das begrüße ich. Während durch Sie
Zu Protokoll gegebene Reden noch vor kurzer Zeit die Technologie generell und mit
zur Beratung des Antrags: EU-Fördermittel beschwörender Mimik und Gestik abgelehnt wurde, räu-
aus dem Emissionshandel für erneuerbare men Sie mit diesem Antrag sachlich und deutlich ein,
Energien und zur Verringerung prozessbeding- dass wir die Technologie brauchen. Sie räumen ein, dass
ter Emissionen (Zusatztagesordnungspunkt 5) wir die Technologie dringend für saubere Industriepro-
zesse benötigen, um unsere hochgesteckten Klimaziele
Jens Koeppen (CDU/CSU): Lassen Sie mich bitte zu erreichen.
mit ein paar kurzen Ausführungen zur Bedeutung von Sie wollen CCS für die Industrie, aber nicht für Koh-
CCS beginnen, um den Antrag im Kontext der gegen- lekraftwerke. Sie stehen der Speicherung von Kohlendi-
wärtigen Energie- und Klimadebatte diskutieren zu kön- oxid nur noch skeptisch gegenüber, wenn es aus Kohle-
nen. kraftwerken stammt. Wenn das Kohlendioxid in
Die Marktintegration von CCS-Prozessen bei der Ge- industriellen Prozessen entsteht, haben Sie hinsichtlich
winnung von Energie aus fossilen Energieträgern, aber der Speicherung keine Befürchtungen. Diese Unter-
auch bei vielen emissionsintensiven Energieprozessen, scheidung von „gutem“ und „schlechtem“ Kohlendioxid
ist eine wichtige Voraussetzung, die ehrgeizigen Klima- ist wissenschaftlich durch gar nichts zu belegen. Die
ziele auf nationaler und europäischer Ebene zu errei- Speicherung von Kohlendioxid – egal aus welchen Pro-
chen. Die CCS-Technologien sind aber auch für andere zessen gewonnen – hat keine unterschiedlichen Reaktio-
Regionen in der Welt eine Chance, ihre meist steigende nen oder Eigenschaften. Daher meine dringende Bitte:
Energienachfrage klimafreundlich zu decken. Die stark Gehen Sie einen Schritt weiter, und hören Sie auf,
wachsenden Ökonomien in China und Indien werden Ängste bei den Menschen hinsichtlich der CCS-Prozesse
weder auf die Nutzung der heimischen Kohle verzichten, bei der Kohlenutzung zu schüren. Ihre Unterscheidung,
noch mittelfristig ihr wirtschaftliches Wachstum vom ab dem Jahr 2010 Kohlendioxid in „gutes“ und „schlech-
zusätzlichen Energiebedarf entkoppeln können. tes“ CO2 einzuteilen, ist bildungsfern und wird der Ak-
zeptanz von Klimaschutzmaßnahmen bei Industriepro-
Als Brückentechnologie sind CCS-Prozesse für uns in zessen schaden. Mein dringender Hinweis: Rufen Sie
Deutschland erforderlich, um die bezahlbare Energiever- sich bitte Goethes Zauberlehrling in Erinnerung! „Herr,
sorgung unserer Bevölkerung mithilfe heimischer Ener- die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun
gieträger sicherzustellen und die Importabhängigkeit zu nicht los.“
begrenzen.
Herr, die Not ist groß!
(B) (D)
Nach Einschätzung der Europäischen Kommission
könnten die im Jahr 2030 durch die Nutzung der ver- Wenn Sie gegen Kohleverstromung sind – was jeder
schiedenen CCS-Prozesse vermiedenen Emissionen hier weiß –, kritisieren sie die Kohlenutzung, aber scha-
einen Anteil von 15 Prozent der vereinbarten Emissions- den Sie nicht auch der Klimaschutztechnologie CCS.
reduzierungen ausmachen. Nach Berechnungen der In- Wenn Sie CCS-Nutzung für die Energieversorgung kriti-
ternationalen Energieagentur, IEA, würden die Kosten sieren, möchte ich darauf verweisen, dass wir die Tech-
der Klimaschutzmaßnahmen um 70 Prozent steigen, nologie auch für unsere Gaskraftwerke benötigen, also
wenn die Marktintegration der neuen Technologien nicht auch für die Energie, die Sie – meine sehr geehrten Da-
möglich wäre. men und Herren von Bündnis 90/Die Grünen – aus-
drücklich unterstützen. Es wird immer davon ausgegan-
Neben dem Beitrag zur Erreichung der Klimaschutz- gen, CCS sei eine Option, um nur Kohle sauberer zu
ziele und zur Sicherung unserer Energieversorgung nutzen. Unsere ehrgeizigen Klimaziele stellen aber auch
stellen die CCS-Technologien auch industriepolitisch erhöhte Emissionsanforderungen an die Gaskraftwerke.
eine interessante Option – mit riesigen Exportchancen In diesem Zusammenhang möchte ich die CCS-Richtli-
und Entwicklungsansätzen für neue Produkte und Pro- nie in Erinnerung rufen. Dort ist in Art. 33 festgeschrie-
duktionsverfahren – dar. ben, dass es um Feuerungsanlagen von über 300 MW
geht. Die EU-Richtlinie gilt also auch für Gas.
Den Chancen der Technologien bei erfolgreicher De-
monstration und Marktintegration stehen in potenziellen Ich möchte jetzt aber auf die einzelnen Forderungen
Speicherregionen aber erhebliche Ängste der Bevölke- eingehen. Sie fordern – ich zitiere – „im Rahmen der ers-
rung gegenüber. Politisches Handeln muss die Chancen ten und zweiten Bewerbungsphase bei der Europäischen
der Technologie sichern, aber auch durch große Transpa- Kommission nur Projekte aus dem Bereich erneuerbare
renz der Entscheidungsprozesse und einen verlässlichen Energie und zur Vermeidung prozessbedingter Emissio-
gesetzlichen Rahmen mit hohen Sicherheitsanforderun- nen bei Industrieprozessen zur Förderung durch Mittel
gen die Akzeptanz der Menschen für die neuen Techno- aus dem Emissionshandel einzureichen.“
logien in den Speicherregionen verbessern.
Was Sie fordern, ist ein Verzicht auf Technologieent-
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Bünd- wicklung in Deutschland. Europa fördert nicht weniger
nis 90/Die Grünen, ich sehe in Ihrem Antrag einen ge- CCS, wenn Deutschland kein Projekt in Brüssel anmel-
wissen Fortschritt, einen Fortschritt hin zu CCS und ei- det. Das Einzige, was geschieht, ist, dass mit den Mitteln
ner gewissen Offenheit gegenüber dieser Technologie- CCS-Projekte in anderen EU-Ländern unterstützt wer-
option. Sie lehnen die neue CCS-Technologie nicht mehr den. Sie suggerieren mit Ihrer Forderung, dass so mehr
5830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) Geld für die Entwicklung erneuerbarer Technologien zur Ich komme zu Ihrer letzen Forderung – ich zitiere –, (C)
Verfügung steht. Das ist falsch. Die Mittel fließen zu an- „bei der EU-Kommission darauf hinzuwirken, dass die
deren CCS-Projekten – nicht mehr und nicht weniger. Forschung an alternativen Technologien zur Verringe-
Anders als bei uns ist das Akzeptanzproblem in anderen rung prozessbedingter Emissionen aus Mitteln aus dem
Ländern kaum erkennbar. Es gibt dort mehr Projekte, als EU-Emissionshandel gefördert werden kann.“ Hier er-
durch die europäische Ebene unterstützt werden. In an- laube ich mir den Hinweis, dass die EU-Kommission
deren EU-Ländern wird Ihr Vorschlag daher sicherlich nicht der richtige Adressat für die Forderung ist. Richtli-
bejubelt. Unserer Industrie und unseren Energieversor- nien werden vom Rat oder, wie im Fall der Emissions-
gern nehmen Sie aber die Chance auf klimafreundliche handelsrichtlinie, vom Rat und Europäischen Parlament
Prozesse. Fordern und fördern geht bei Ihnen nicht zu- verabschiedet.
sammen. Sie wollen hohe Klimaschutzziele, geben dann
Zusammenfassend möchte ich hervorheben: Ich be-
aber der Wirtschaft nicht die Möglichkeit, die ehrgeizi-
grüße das Bekenntnis zu CCS der antragstellenden Frak-
gen Ziele zu erfüllen. tion. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass die For-
Ihre zweite Forderung – ich zitiere –, aufgrund des derungen, wie sie formuliert sind, weder die Technologie
kurzen Zeitfensters die Industrie aufzufordern und zu noch den Klimaschutz voranbringen. Sie sind weder
unterstützen, umgehend erfolgsversprechende Projekte zielführend noch machbar. Sie verbinden das Thema der
bis zum 31.10.2010 vorzuschlagen.“ Technologieentwicklung noch mit zu viel Ideologie, und
Ihre Feindbilder – wie es die kohleverstromenden Unter-
Das Demonstrationsprojekt, welches im Land Bran- nehmen für Sie sind – lassen Sie eine Position einneh-
denburg geplant wird, wird seit Jahren vorbereitet. Wie men, mit der Klimaschutz, Versorgungssicherheit und
soll die Industrie, wie sollen einzelne Unternehmen mit die Wettbewerbsfähigkeit nicht vorangebracht werden
einer Frist von drei Monaten „erfolgversprechende kann. Wir werden in einigen Wochen hier die Debatte
Projekte“ vorlegen? Bei CCS-Prozessen geht es um In- über das neue CCS-Gesetz haben. Sehr geehrte Kolle-
vestitionen, die im Kraftwerksbereich deutlich die Mil- ginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, blei-
liardengrenze überschreiten. Auch für die Industrieun- ben Sie auch bei der Diskussion bei Ihrer neuen Pro-
ternehmen bedeuten CCS-Prozesse Investitionen im CCS-Position, und überdenken Sie Ihre Gegnerschaft
mindestens – abhängig von der Größe – zweistelligen gegenüber CCS bei der Energiegewinnung!
Millionenbereich. Solche Investitionsentscheidungen,
die im Übrigen mit unzähligen Arbeitsplätzen – Gewinn Frank Schwabe (SPD): Welche Projekte wollen wir
und Verlust dieser – verbunden sind, werden nicht über mit den Einnahmen aus dem Emissionshandel fördern?
(B) Nacht getroffen. Es sind immense Ingenieursleistungen Diese Frage steht im Mittelpunkt des Antrags der Grü- (D)
gefragt, Projekte brauchen eine Finanzierung, die Pro- nen, über den wir heute diskutieren.
jekte brauchen einen wissenschaftlichen Hintergrund
etc. In dem Zeithorizont, den Sie hier benennen, kann Genauer gesagt, geht es um die Förderung von CCS-
nichts Seriöses vorgelegt werden. Projekten mit Mitteln aus dem CO2-Emissionshandel aus
der sogenannten New Entrance Reserve. Nach dem Be-
Ein anderer Aspekt, der in diesem Zusammenhang schluss der Europäischen Kommission sollen aus dem
noch wichtig erscheint: Wir wollen bei den CCS-Tech- Europäischen Emissionshandel 300 Millionen Zertifi-
nologien die Demonstrationsphase starten. Die Techno- kate für die Förderung von 34 Demonstrationsprojekten
logie ist noch nicht im Markt integriert, sondern wird für aus dem Bereich erneuerbare Energien und acht CCS-
die Marktintegration, für die wirtschaftliche Verfügbar- Demonstrationsprojekten bereitgestellt werden. Bei ei-
keit, durch die Demonstration vorbereitet. Wollen wir nem Preis von 20 bis 30 Euro pro Tonne CO2 bedeutet
die Technologie bei Industrieprozessen nutzen, brauchen dies ein Gesamtvolumen von 6 bis 9 Milliarden Euro an
wir die europaweite Demonstration durch die Energiean- Fördergeldern. Neben der Förderung mit den Gegenwer-
bieter. Die Energieanbieter machen die Technologie ten der Zertifikate aus der New Entrance Reserve wer-
wirtschaftlich für die Industrieprozesse. Kleine oder mit- den CCS-Projekte noch aus Mitteln des europäischen
telständische, aber auch größere energieintensive Unter- Energie-Konjunkturpakets gefördert. Der Europäische
nehmen haben gar kein Know-how, um die Exploratio- Rat hat im März 2009 beschlossen, fast 4 Milliarden
nen für die CO2-Speicher erfolgreich durchzuführen. Euro für konjunkturwirksame Energieprojekte bereitzu-
stellen. 1,5 Milliarden Euro daraus sollen für 15 Projekte
Würden die Unternehmen einzeln, jedes für sich, eine
in den Bereichen CCS und Offshore-Windenergie ge-
Demonstration und die dafür notwendige Einrichtung ei-
nutzt werden. Aus diesen Mitteln erhalten Vattenfall und
nes Speichers vorbereiten, wäre CCS sicherlich nicht in
das Land Brandenburg bis zu 180 Millionen Euro für das
den kommenden 10, 15 oder 20 Jahren wirtschaftlich
Projekt Jänschwalde.
verfügbar. Es müssten Zertifikatepreise erzielt werden,
die wir in der kommenden und sicherlich auch der da- Die Frage, wer welche Gelder erhalten soll, kann man
rauffolgenden Handelsperiode nicht erreichen werden. nur beantworten, wenn klar ist, welches Ziel man damit
Die Nutzung von CCS und Demonstration durch Ener- erreichen möchte. Das Ziel ist in diesem Fall, dass
gieunternehmen ist nicht nur für eine sichere und saubere Deutschland seine Klimaziele erreichen kann. Um das
Energieversorgung notwendig, sondern auch erforder- 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen die Industrieländer
lich, damit wir uns mit sauberen Industrieprozessen dem und damit auch Deutschland die Emissionen an Treib-
internationalen Wettbewerb stellen können. hausgasen bis zum Jahr 2050 um bis zu 95 Prozent sen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5831
(A) ken. Will Deutschland dieses Ziel erreichen, so ist es der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause, und (C)
notwendig, dass wir das gesamte Energiesystem bis zum was hat die Bundesregierung bis jetzt geliefert? Nichts!
Jahr 2050 vollständig dekarbonisieren. Damit verbindet Dabei liegt mit dem Entwurf eines CCS-Gesetzes aus
die Sozialdemokratie die ebenfalls notwendigen Ziele ei- der letzten Legislaturperiode ein fertiger Gesetzentwurf
ner auch zukünftig für alle Bürgerinnen und Bürger be- vor. Bis heute hört man von Schwarz-Gelb aber nur, dass
zahlbaren und sicheren Energieversorgung. Zudem wol- sie diskutieren, diskutieren und weiter diskutieren. Man
len wir auf diesem Weg die technologische Vorreiterrolle hört, dass über die Größe der Lagerstätten diskutiert
und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird, über Möglichkeiten für Bundesländer, die kein
und Europas sichern und ausbauen. CCS auf ihrem Gebiet haben wollen. Über Sicherheits-
und Umweltstandards wird anscheinend auch noch dis-
Zahlreiche Studien zeigen jedoch auf, dass wir unsere kutiert.
Klimaschutzziele nicht erreichen, falls wir nur die Ener-
gieerzeugung dekarbonisieren. Es bedarf eines grundle- Gerade der letzte Punkt ist interessant. Als Teil der
genden Umbaus unserer Art zu wirtschaften. Jeder Sek- Verhandlergruppe der SPD-Fraktion beim CCS-Gesetz
tor, sei es der Verkehr, die Industrie, die Landwirtschaft erinnere ich mich an die Zeit vor einem Jahr, als die
und der Gebäudebereich, müssen ihren Beitrag leisten. Union alles unternahm, um hohe Sicherheits- und Um-
Das ist auch an diejenigen gerichtet, die noch nicht von weltstandards zu verhindern. Dabei ist offensichtlich,
einer vollständigen Dekarbonisierung der Energieversor- dass diese Technik ohne die Akzeptanz der Bevölkerung
gung überzeugt sind. Jede Tonne CO2, die die Strompro- nicht durchzusetzen ist. Akzeptanz erreicht man jedoch
duktion in Zukunft ausstoßen wird, steht der Industrie nur, wenn die Verfahren transparent sind, die Bevölke-
nicht mehr zur Verfügung. Wer Klimaziele erreichen rung vor Ort umfassend beteiligt wird und berechtigte
möchte, die Stromversorgung aber nicht hin zur Vollver- Interessen berücksichtigt werden. Wer in Gutsherrenart
sorgung durch erneuerbare Energien umbauen möchte, vorgeht, wird erreichen, dass diese Technik schon vor
wird deshalb zum zukünftigen Arbeitsplatzexporteur. dem ersten Ausprobieren nicht durchsetzbar wird. Und
wir befinden uns bei der CCS-Technologie noch ein ei-
Im Bereich der Industrie gibt es jedoch Branchen, bei nem sehr frühem Stadium, die CCS-Technologien befin-
denen prozessbedingt CO2 entsteht. Im Hinblick auf eine den sich noch im Entwicklungsstadium. Daher können
CO2-freie Wirtschaft in der Mitte des Jahrhunderts gibt sie auch zum jetzigen Zeitpunkt kein tragender Bestand-
es für diese Emissionen bisher keine Vermeidungsper- teil einer CO2-Minderungsstrategie und eines seriösen
spektive. Wir wollen diese Branchen, wie Stahlproduk- Energiekonzepts sein, dass das Erreichen der Klima-
tion, Zement oder Klinker, in Deutschland halten, weil schutzziele gewährleisten muss. Wir wollen schrittweise
es fundamental ist, dass wir auch im Jahr 2050 noch ein vorgehen, indem wir zunächst die Erprobung der Tech-
(B) prosperierendes Industrieland sind. Um diese Branchen nologien in Demonstrationsanlagen in Deutschland und (D)
zu halten und trotzdem unsere Klimaziele zu erreichen, Europa unterstützen. Erst nach der Auswertung dieser
ist es notwendig, dass die Emissionen aus Industriepro- Ergebnisse werden wir darüber entscheiden können,
zessen zukünftig mittels CCS-Technologie abgeschieden welche Rolle CCS im Rahmen eines Energiekonzepts
und gespeichert werden. Den Grünen ist deshalb zuzu- spielen kann und soll.
stimmen, wenn sie in Prozessemissionen die Hauptauf-
gabe für CCS sehen. Es ist bedenklich, dass es in Hier setzt auch meine Kritik am Antrag der Grünen
Deutschland bisher nur Versuchsprojekte der Stromwirt- an. Folgt man dem Antrag der Grünen, so wäre ein CCS-
schaft zur CO2-Abtrennung und -Speicherung gibt, je- Demonstrationsprojekt in der Stromproduktion ausge-
doch keine Projekte der Industrie. Und jetzt wird die Zeit schlossen. Zwar bin ich skeptisch, ob CCS, sollte die
sehr knapp, um solche Projekte noch fristwahrend einzu- Technik funktionieren, jemals wirtschaftlich darstellbar
reichen. ist. Auch ist es richtig, dass der Schwerpunkt von CCS
bei den Prozessemissionen liegen sollte. CCS für die
Neben dem Bereich der Industrie ist der Einsatz der Stromproduktion aber nicht einmal in einer Versuchsan-
CO2-Abscheidung im Bereich der Biomassenutzung eine lage auszuprobieren, würde uns der Möglichkeit berau-
interessante Option. So kann es notwendig werden, Bio- ben, Erfahrungen mit dieser Technik zu sammeln. Denn
masse in Verbindung mit CCS zu nutzen, um so CO2 der wie wollen wir vorgehen, wenn der Ausbau der erneuer-
Atmosphäre zu entziehen. Viele Szenarien zur Vermei- baren Energien nicht so vorangeht, wie wir das für Not-
dung eines gefährlichen Klimawandels gehen davon aus, wendig halten? Ohne CCS hätten wir dann keine zweite
dass dies in den nächsten Jahrzehnten notwendig wird. Technik in der Hinterhand. Auch bei einem Umbau der
Biomassekraftwerke mit CCS wirken als Nettosenken, Stromversorgung hin zu erneuerbaren Energien sollten
das heißt CO2 wird aus der Atmosphäre entfernt. wir CCS in einer Versuchsanlage ausprobieren, um nöti-
genfalls eine Alternative in der Hinterhand zu haben.
Daher unterstützen wir die Erprobung von CCS in
heimischen Demonstrationsprojekten und fordern die Um den Bedrohungen durch den Klimawandel zu be-
zügige Vorlage eines CCS-Gesetzes. Die Verabschie- gegnen, ist es wichtig – nach dem Grundsatz der Risiko-
dung eines nationalen CCS-Gesetzes ist die Grundlage begrenzung – auch Alternativpfade voranzutreiben.
für die Inanspruchnahme von teilweise bereits zugesag- Technisch wäre es möglich, die globalen Klimaziele al-
ten EU-Fördermitteln. Falls die Bundesregierung die leine mit Energieeffizienz und erneuerbaren Energien zu
Förderung von heimischen Demonstrationsanlagen er- erreichen. Politische Ansätze in diese Richtung müssen
reichen möchte, muss sie bis Ende dieses Jahres ein höchste Priorität haben. Selbst unter diesem Szenario
CCS-Gesetz verabschieden. Wir befinden uns heute in muss CCS aber als Versicherung gegen Verzögerungen
5832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) ins Lösungsportfolio einbezogen werden. Diese Alterna- tief in der Erde. Immer mehr stellt sich jedoch heraus, (C)
tivpfade würde der Antrag der Grünen verbauen. Des- dass die Abscheidung und unterirdische Speicherung
halb können wir ihm nicht zustimmen, auch wenn er von Kohlendioxid ein Irrweg ist.
richtige Punkte enthält.
Zuletzt musste die Höhe der verfügbaren Speicher
deutlich nach unten korrigiert werden. Bis vor kurzem
Michael Kauch (FDP): Die Grünen fordern in ihrem wurde auf Basis von Abschätzungen des Bundesamts für
Antrag, der hier zur Debatte steht, dass Deutschland Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, davon ausge-
keine Anträge für die Förderung von CCS-Technologie gangen, dass die verfügbaren Speicherformationen in
für die Kohleverstromung im Rahmen der NER-300- Deutschland potenziell eine CO2-Menge von 12 bis
Förderung an die Europäische Union weiterleitet. 28 Gigatonnen aufnehmen könnten. Dann wäre Platz für
Wir als FDP halten das Ansinnen der Grünen für ungefähr 30 bis 60 Jahre Verpressung, geht man von den
falsch, CCS-Projekte für Kraftwerke von der Förderung heutigen Kraftwerksemissionen von rund 390 Millionen
von vornherein auszuschließen. Mit ihrer rückwärtsge- Tonnen CO2 und der niedrigeren Effizienz der CCS-
wandten Technologiefeindlichkeit schaden die Grünen Kraftwerke aus. Im Mittelwert entspräche diese Zeit un-
dem globalen Klimaschutz und verhindern Exportchan- gefähr dem Ausstoß einer Kraftwerksgeneration.
cen für deutsche Kraftwerkstechnik. Das Wuppertal-Institut hat in seinem Zwischenbericht
Wir brauchen CO2-Abscheidung und -Einlagerung zur Studie RECCS plus diese Abschätzung infrage ge-
bei der Kohleverstromung zur Bekämpfung des Klima- stellt. Es rechnet nur mit 6 bis 12 Gigatonnen. Auf eine
wandels. Dabei spielt bei der globalen Betrachtung ähnliche Größenordnung kommt neuerdings auch das
Deutschland gar keine so große Rolle. Viel wichtiger BGR selbst in einer aktualisierten Berechnung. Damit
sind die Kohlevorkommen der großen CO2-Emittenten. reduziert sich die Zeit, in welcher der gesamte heutige
China beispielsweise wird seine Kohle verstromen, ob Kraftwerkspark seine CO2-Emissionen mittels CCS un-
wir das wollen oder nicht. Und da sagen wir als FDP- ter die Erde bringen könnte, ungefähr auf die Hälfte,
Fraktion: Dann doch besser klimafreundlich und am bes- nämlich auf 15 bis 30 Jahre. Das wäre dann nur noch
ten mit deutscher Technologie, denn deutsche Kraft- eine halbe Kraftwerksgeneration.
werkstechnik ist weltweit führend! Diese Chance sollten
Berücksichtigt man nun noch, dass aus Wirtschaft-
wir uns nicht entgehen lassen, und um diese Chance zu
lichkeitsgründen für Kraftwerke eigentlich nur Speicher
nutzen, brauchen wir Demonstrationsprojekte hier in
infrage kommen, die eine größere Kapazität haben als
Deutschland.
50 Millionen Tonnen, so sind wir nur noch am unteren
Aber auch in Deutschland kann CCS einen Beitrag Rand, nämlich bei gerade einmal 6 Gigatonnen.
(B) leisten, um Energieversorgung im Übergang zum erneu- (D)
erbaren Zeitalter klimafreundlich und zugleich versor- Und auch dies ist eine sehr theoretische Zahl, denn
gungssicher zu machen. Ob die Technologie letztlich die Erkundungen stehen erst am Anfang. Wie viele
wirtschaftlich sein wird, wird die Zukunft zeigen. Falsch Räume wegen geologischen Störungen oder Konflikten
wäre allerdings, den Weg für CCS von vornherein zu mit anderen unterirdischen Nutzungen, wie etwa Geo-
verbauen. Dies gilt für den Stromsektor genauso wie für thermie, ausgeschlossen werden müssen, ist noch weit-
CCS bei prozessbedingten CO2-Emissionen. Auch hier gehend unbekannt. Ferner werden beim Verpressen die
sind Demonstrationsprojekte von herausragender Bedeu- bestehenden Formationswässer verdrängt, was natürlich
tung. Druck erzeugt und das Fassungsvermögen der Speicher
zusätzlich vermindern wird.
Eine allgemeine Anmerkung möchte ich noch zu dem
Förderinstrument machen: Es gibt gute Gründe, neuen Zudem sind in obiger Rechnung die prozessbedingten
Technologien eine Anschubfinanzierung zu gewähren, Emissionen der Industrie – 85 Millionen Tonnen – oder
stets mit dem Ziel, dass diese einmal wirtschaftlich sein die viel diskutierte Speicherung von Biomasseemissio-
werden. Wenn man dies macht, dann sollte man aller- nen als Option für den Nettoentzug von Treibhausgasen
dings auch so ehrlich sein und die Fördermittel aus dem aus der Atmosphäre noch gar nicht berücksichtigt. Sie
Haushalt bereitstellen und nicht, wie in dem vorliegen- würden die Speicherzeit noch weiter verkürzen. All dies
den Fall, Emissionszertifikate an Anlagen verteilen, die zeigt: Mit enormem Aufwand wird nun eine Technik
gar kein CO2 emittieren. Das ist systemwidrig und ver- entwickelt, die noch nicht einmal eine halbe Kraftwerks-
mittelt den falschen Eindruck, dass diese Förderung generation genutzt werden kann, weil dann die Speicher
quasi gratis ist. Deshalb hat die FDP dieses Förderinstru- voll wären.
ment, das der Europäische Rat beschlossen hat, schon in Die Menge des CO2, die jedes Jahr tatsächlich ver-
der Vergangenheit kritisch gesehen. Wenn das Instru- presst werden kann, ist zudem technisch begrenzt. Dies
ment aber schon zur Verfügung steht, dann darf ein ideo- wird merkwürdigerweise in der Debatte bislang kaum
logischer Ausschluss bestimmter förderfähiger Anlagen berücksichtigt. Doch wegen dem höchstmöglichen Ver-
allerdings nicht erfolgen. In diesem Sinne sprechen wir pressungsdruck, der maximalen unterirdischen Ausbrei-
uns gegen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen aus. tungsgeschwindigkeit etc. könnten jährlich maximal nur
etwa 50 bis 75 Millionen Tonnen gespeichert werden.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Der Hype um Den Flaschenhals in dieser Größenordnung beschrieb
Carbon Capture and Storage, CCS, ist mittlerweile uner- Dr. J. Peter Gerling vom BGR bei der IZ-Klima-Tagung
träglich. Als liege die Lösung unserer Klimaprobleme im Januar 2010 in Berlin. Stimmt dies, so würden die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010 5833
(A) Speicher zwar länger reichen. Allerdings würde das den. Bei CCS eingesetzt, sind es von vorherein gestran- (C)
CCS-System dann gerade einmal leistungsfähig genug dete Investitionen.
sein, um in jedem Jahr die CO2-Emissionen der Industrie
unter die Erde zu bringen. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Wer es also ernst meint mit der Argumentation, nach Europäische Union wird aus den Erlösen des EU-Emis-
der CCS auf jeden Fall für die Industrieemissionen ge- sionshandels 300 Millionen Zertifikate im Wert von 6
nutzt werden müsse, da diese sich prozessbedingt kaum bis 9 Milliarden Euro für die Förderung von 34 Demon-
vermeiden ließen, müsste in Bezug auf Kohlekraftwerke strationsprojekten aus dem Bereich der erneuerbaren
konsequent sein: Für die parallele Verpressung von Energien und 8 CCS-Demonstrationsprojekte auf
Emissionen aus Kohlekraftwerken bietet das CCS-Re- Grundlage des Beschlusses NER 300 zur Verfügung zu
gime schlicht keinen Platz! Und genau deshalb dürfen stellen. Antragsteller haben bis zum 30. September 2010
auch keine Fördermittel für Demonstrationsvorhaben die Möglichkeit, bei ihrer nationalen Regierung Projekt-
fließen, die sich mit der CO2-Abscheidung aus Kohle- anträge einzureichen. Die Regierungen schlagen der EU-
kraftwerken beschäftigen. Da gehen wir mit der Forde- Kommission bis Jahresende 2010 Projekte zur Förde-
rung der Grünen mit. rung vor. Das Thema drängt also, wenn Deutschland mit
guten Projektvorschlägen am Start sein will.
Der Antrag der Grünen weist auch auf die Möglich-
keit hin, Biomasse-CO2 ab Mitte des Jahrhunderts abzu- Wir begrüßen ausdrücklich die Möglichkeit der För-
scheiden und zu verpressen, um der Atmosphäre netto derung von erneuerbaren Energien aus Mitteln des Emis-
CO2 zu entziehen. Wir sind da skeptisch. Denn die ange- sionshandels. Dagegen sehen wir die Förderung von
dachte Verpressung von Emissionen aus Biomasse- CCS-Projekten an Kohlekraftwerken kritisch. Warum
Kraftwerken würde wahrscheinlich energetisch Unfug sollen wir CCS im Zusammenhang mit Kohlekraftwer-
sein: CCS ist wegen der teuren Abscheidungstechnik ken fördern, wenn inzwischen selbst die Befürworter
und der punktförmigen Verpressung ein im Wesen zen- dieses Ansatzes nicht mehr glauben, dass das in
tralistisch ausgerichtetes System. Biomasseanlagen Deutschland jemals großtechnisch zum Einsatz kommen
dagegen – wenn sie energetisch Sinn machen sollen – kann? Wenn CCS überhaupt jemals eine Klimaschutz-
sind dezentral ausgerichtet. Nur so lässt sich aus über- option nach 2020 oder 2030 werden sollte, dann sicher
schaubaren Räumen regional Biomasse beziehen, nur so nicht für Kohlekraftwerke in Deutschland. Bis dahin
finden sich Abnehmer für die anfallende Wärme. Setzt sind die erneuerbaren Energien unsere wichtigste Ener-
man hier CCS ein, so würde aus Tausenden Kilometern giequelle und in jedem Fall günstiger als Kohlekraft mit
Ferne Biomasse angekarrt werden müssen. Zudem CCS. Denn CCS an Kohlekraftwerken heißt – neben all
den ungeklärten offenen Fragen zu Transport und Spei-
(B) müsste die Wärme in den meisten Fällen in die Luft (D)
geblasen werden. Beides sind unserer Ansicht nach cherung und dem immensen technischen Aufwand bei
keine Optionen für eine zukunftsfähige Energiewirt- der Abscheidung – auch ein Drittel Wirkungsgradverlust
schaft. und entsprechend höherer Kohleverbrauch.
Insgesamt sieht die Linke in CCS keinen Beitrag zur Die Bundesregierung muss deshalb vor allem und
Lösung der Klimaprobleme. Das Technologieverspre- sehr schnell darauf hinwirken, dass möglichst viele Pro-
chen kommt erst nach 2020 zum Einsatz, also zu spät – jekte aus dem Bereich der erneuerbaren Energien in
wenn es denn überhaupt Realität wird. Die Erneuerbaren Deutschland zur Förderung eingereicht werden. Denn
sind dagegen heute schon verfügbar. Die Kosten von das sind die wahren Zukunftstechnologien und hier liegt
CCS sind absurd hoch, und die Effizienz der Kraftwerke das Innovationspotential.
verringert sich.
Doch auf eine Anfrage antwortet die Bundesregie-
Außerdem sind die Risiken der Verpressung weitge- rung, dass sie sich bisher noch gar keine Gedanken ge-
hend unbekannt. Über den zähen Widerstand der Bevöl- macht hat, welche Projekte aus dem Bereich der erneuer-
kerung vor Ort werden sich die Befürworter noch wun- baren Energien aus Deutschland sie der EU-Kommission
dern. Gorleben lässt grüßen! zur Förderung vorschlagen könnte. Sie macht keine Wer-
bung bei Unternehmen, Projektvorschläge einzureichen.
Vor allem aber sind CCS-Kraftwerke nicht mit einem Es gibt bei dem Thema eine absurde Fixierung auf CCS
Energiesystem vereinbar, in dem mehr als ein Drittel er- bei Kohlekraftwerken im Allgemeinen und auf Vatten-
neuerbare Energien eingespeist werden. Dies hat der fall und Jänschwalde im Speziellen. Das schadet nicht
Sachverständigenrat für Umweltfragen mehrmals betont. nur dem Klimaschutz, sondern auch dem Wirtschafts-
Gerade die fluktuierende Windkraft erfordert in der standort Deutschland.
Übergangsphase zur Vollversorgung flexible fossile
Kraftwerke, wie Gasturbinen, um Berge und Täler bei Die mit der CO2-Speicherung in Zusammenhang ste-
der Erzeugung auszugleichen. CCS-Kraftwerke sind da- henden Risiken und Probleme sind noch längst nicht hin-
für viel zu träge und würden darüber hinaus unrentabel, reichend erforscht. Wie kann die Sicherheit der Speicher
wenn sie ständig runtergefahren werden müssten. Dies gewährleistet werden? Wie sollen relevante Haftungsfra-
eint sie übrigens mit der Atomkraft. gen geklärt werden? Wie wirkt sich die Speicherung von
CO2 auf die Trinkwasserversorgung aus?
Mittel für die Forschung und für Demonstrationsvor-
haben sollten darum vor allem für regenerative Energien So hat sich zum Beispiel gerade im Juni die Wasser-
und neue innovative Speicherlösungen ausgegeben wer- wirtschaft in Norddeutschland gegen eine unterirdi-
5834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010
(A) sche Speicherung von CO2 ausgesprochen, da ver- Aber es gibt neben CCS auch andere Optionen zur (C)
drängtes Salzwasser aus salinen Aquiferen das Verringerung von prozessbedingten Emissionen: durch
Grundwasser zu versalzen droht und damit die Trink- alternative Werkstoffe und neuartige Produktionsverfah-
wasserversorgung in dieser Region gefährdet wäre. ren. CCS-Forschung in diesem Bereich ist deshalb vor
Solange solche Fragen nicht geklärt sind, stellt eine allem als Rückfalloption zur Erreichung der Klima-
großtechnische Demonstrationsanlage wie das von der schutzziele sinnvoll. Aber gleichzeitig müssen andere
Firma Vattenfall betriebene CCS-Projekt in Jänschwalde Vermeidungsstrategien für prozessbedingte Emissionen
in Brandenburg ein unkalkulierbares Risiko für Mensch viel stärker als bisher gefördert werden.
und Natur dar und darf nicht einfach so in Betrieb gehen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass im
Man muss sich dabei auch vor Augen führen, über Rahmen von NER 300 nur Projekte aus dem Bereich
was für Mengen an CO2 wir hier reden, die in einem der erneuerbaren Energien und für die Verringerung pro-
Kohlekraftwerk anfallen. Das sind allein in Jänschwalde zessbedingter Emissionen bei der Europäischen Investi-
mal eben 23,7 Millionen Tonnen im Jahr. Wenn man das tionsbank mit Antrag zur Förderung einreicht werden.
auf eine Betriebslaufzeit von 40 Jahren hochrechnet, Eine „CCS-Lex-Vattenfall“ für Jänschwalde anstelle er-
dann kommt man auf nahezu 1 Milliarde Tonnen CO2, neuerbarer Energien im Hinblick auf NER 300 wäre ein
und dies in nur einem einzigen Kraftwerk. großer Fehler für Deutschland.
Erneuerbare-Energien-Technologien haben im Jahr
Bei der rheinischen Braunkohle müssten jedes Jahr 2009 in Deutschland bereits 93,3 Milliarden Kilowatt-
sogar 100 Millionen Tonnen über riesige Pipelinesys- stunden Strom produziert und deckten damit 16,1 Prozent
teme nach Norddeutschland gebracht und dort in Hun- des Strombedarfs in Deutschland ab. In den vergangenen
derten von Injektionsstellen verpresst werden. Es ist Jahren sind in dieser erfolgreichen Wachstumsbranche
schlichtweg Irrsinn, zu glauben, mit CCS könnte man 300 000 Arbeitsplätze entstanden. Deutschland verfügt
mit vertretbarem Aufwand relevante Emissionsreduktio- bei den erneuerbaren Energien in vielen Bereichen über
nen bei Kohlekraftwerken erreichen. CCS an Kohle- die Technologieführerschaft. In nahezu allen Industrie-
kraftwerken ist der untaugliche Versuch, sich vor dem nationen, aber zunehmend auch in Schwellen- und Ent-
sowieso notwendigen und überfälligen Umbau der Ener- wicklungsländern schreitet der Ausbau der erneuerbaren
gieversorgung zu drücken. Energien immer schneller voran.
Ein Beitrag der CCS-Technologie kann vielleicht in Für Deutschland bieten sich dabei enorme wirtschaft-
der Verringerung prozessbedingter Emissionen liegen, liche Chancen, seine Spitzentechnologien zu exportieren
die zum Beispiel in der Stahl- oder Zementindustrie an- und damit gleichzeitig einen Beitrag zum Klimaschutz
(B) fallen. Deutschland hat hiervon einen jährlichen Ausstoß zu leisten. Erneuerbare Energien schaffen weltweit Mil- (D)
von 80 Millionen Tonnen. Wer das 2-Grad-Ziel ernst lionen von Arbeitsplätzen, sind unendlich verfügbar und
nimmt, der muss auch für die Emissionen Vermeidungs- verursachen kein CO2. Dies sind die Technologien, für
strategien entwickeln. Für diese Emissionen gibt es bis- die prioritär Geld zur Verfügung gestellt werden sollte,
her nämlich keine großtechnisch anwendbaren und ab- nicht für die Sackgasse einer CCS-Technologie in Koh-
sehbar marktreifen Vermeidungsstrategien. lekraftwerken.
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ISSN 0722-7980