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Plenarprotokoll 17/78

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

78. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Inhalt:

Erinnerung an die ersten gesamtdeutschen Chancen für die Teilhabe am Arbeitsle-


Wahlen am 2. Dezember 1990 . . . . . . . . . . . . 8499 A ben nutzen – Arbeitsbedingungen ver-
bessern – Rentenzugang flexibilisieren
Wahl der Abgeordneten Sonja Steffen zur (Drucksache 17/3995) . . . . . . . . . . . . . . . 8501 C
Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8499 D
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- in Verbindung mit
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8499 D
Absetzung der Tagesordnungspunkte 8 s
und 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8500 D Zusatztagesordnungspunkt 3:
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 8501 A Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Tagesordnungspunkt 5: NIS 90/DIE GRÜNEN: Voraussetzungen für
die Rente mit 67 schaffen
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: (Drucksache 17/4046) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8501 D
Bericht der Bundesregierung gemäß
§ 154 Absatz 4 des Sechsten Buches So- Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
zialgesetzbuch zur Anhebung der Re- BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8501 D
gelaltersgrenze auf 67 Jahre Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8503 B
(Drucksache 17/3814) . . . . . . . . . . . . . . . . 8501 B
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 0000
8504 A
C
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:
Bericht der Bundesregierung über die Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 0000 D
8506 A
gesetzliche Rentenversicherung, insbeson- Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8506 D
dere über die Entwicklung der Einnah-
men und Ausgaben, der Nachhaltigkeits- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8507 A
rücklage sowie des jeweils erforderlichen Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 8508 A
Beitragssatzes in den künftigen 15 Ka-
lenderjahren gemäß § 154 Absatz 1 und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
3 SGB VI (Rentenversicherungsbericht NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 8509 D
2010) Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8511 D
und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 8512 A
Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-
tenversicherungsbericht 2010 Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8512 D
(Drucksache 17/3900) . . . . . . . . . . . . . . . . 8501 B
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 8513 D
c) Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf,
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8515 B
Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 8516 A
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8517 A Gründung der Europäischen Atomge-


meinschaft beigefügt ist
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8517 D (Drucksache 17/3357) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 B
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8519 A
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 8519 C rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Berufs-
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) . . . . . . 8520 C kraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes
(Drucksache 17/3800) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 B
c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Tagesordnungspunkt 6: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
a) Antrag der Abgeordneten Bernd Scheelen, zes zur Änderung des ZIS-Ausfüh-
Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer rungsgesetzes und anderer Gesetze
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: (Drucksache 17/3960) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 C
Klare Perspektiven für Kommunen –
d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Gewerbesteuer stärken
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
(Drucksache 17/3996) . . . . . . . . . . . . . . . . 8522 A
zes zu dem Abkommen vom 29. März
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- 2010 zwischen der Bundesrepublik
nanzausschusses zu dem Antrag der Frak- Deutschland und St. Vincent und die
tion der SPD: Rettungsschirm für Kom- Grenadinen über die Unterstützung in
munen – Strategie für handlungsfähige Steuer- und Steuerstrafsachen durch
Städte, Gemeinden und Landkreise Informationsaustausch
(Drucksachen 17/1152, 17/4060) . . . . . . . 8522 A (Drucksache 17/3959) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 C
Dr. Carsten Kühl, Staatsminister e) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Rheinland-Pfalz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8522 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 7. Juni
Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8524 A 2010 zwischen der Bundesrepublik
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) 8524 D Deutschland und St. Lucia über den In-
formationsaustausch in Steuersachen
Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8526 B (Drucksache 17/3961) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 C
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 8527 A f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8528 D zes zu dem Protokoll vom 17. Juni 2010
zur Änderung des Abkommens vom
Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8529 D 8. März 2001 zwischen der Bundesrepu-
Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8531 D blik Deutschland und Malta zur Ver-
meidung der Doppelbesteuerung auf
Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8534 A dem Gebiet der Steuern vom Einkom-
Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8536 A men und vom Vermögen
(Drucksache 17/3962) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 D
Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8536 B
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 8536 C Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert,
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8538 C Martin Dörmann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD eingebrachten
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8539 C Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8540 D des Gesetzes über die Wahrnehmung
von Urheberrechten und verwandten
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 8541 C Schutzrechten (Urheberrechtswahrneh-
mungsgesetz – UrhWahrnG)
(Drucksache 17/3991) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 D
Tagesordnungspunkt 36: h) Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
(Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr.
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- und der Fraktion der SPD: Bei Ausset-
zes zu dem Protokoll vom 23. Juni 2010 zung der Wehrpflicht Hochschulpakt
zur Änderung des Protokolls über die aufstocken
Übergangsbestimmungen, das dem Ver- (Drucksache 17/4018) . . . . . . . . . . . . . . . 8543 D
trag über die Europäische Union, dem
Vertrag über die Arbeitsweise der Eu- i) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
ropäischen Union und dem Vertrag zur Birgitt Bender, Cornelia Behm, weiterer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 III

Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 8558 A
NIS 90/DIE GRÜNEN: Umsetzung der
Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8559 C
EU-Health-Claims-Verordnung voran-
bringen
(Drucksache 17/4015) . . . . . . . . . . . . . . . . 8544
Tagesordnungspunkt 7:
a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
Zusatztagesordnungspunkt 4: FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Menschenrechtslage im Iran verbessern
Oliver Krischer, Bettina Herlitzius, weiterer (Drucksache 17/4011) . . . . . . . . . . . . . . . 8560 C
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Die
NIS 90/DIE GRÜNEN: Ungebundene EU- Hinrichtung der Iranerin Sakineh
Mittel aus dem Konjunkturpaket (EEPR) Mohammadi Ashtiani verhindern und
unverzüglich für mehr Energieeffizienz weltweit die Todesstrafe abschaffen
und erneuerbare Energien nutzen (Drucksache 17/3993) . . . . . . . . . . . . . . . 8560 C
(Drucksache 17/4017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8544 A
in Verbindung mit
Tagesordnungspunkt 37:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Zusatztagesordnungspunkt 6:
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Abgeordneten Viola von Cramon- Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker DIE GRÜNEN: Mehr Flüchtlinge aus dem
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Iran aufnehmen
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksache 17/3997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8560 D
NEN: OSZE-Vorsitz für Reformen in Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8560 D
Kasachstan nutzen
(Drucksachen 17/1432, 17/2476) . . . . . . . 8544 B Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . 8562 A
b) – k) Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8563 B
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschus- Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8565 A
ses: Sammelübersichten 171, 172, 173, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
174, 175, 176, 177, 178, 179 und 180 zu DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8566 B
Petitionen
(Drucksachen 17/3918, 17/3919, 17/3920, Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8567 C
17/3921, 17/3922, 17/3923, 17/3924, Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8568 A
17/3925, 17/3926, 17/3927) 8544 C
Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8568 D
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8569 A
Zusatztagesordnungspunkt 5:
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8569 C
der SPD: Fehlende Aktivitäten der Bundes-
regierung hinsichtlich der Zukunftsängste Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8570 A
des wissenschaftlichen Nachwuchses . . . . . 8545 C
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 8545 C
Tagesordnungspunkt 8:
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge,
8547 A
Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8549 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE: Gerechte Alterseinkünfte
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 8550 A
für Beschäftigte im Gesundheits- und
Krista Sager (BÜNDNIS 90/ Sozialwesen der DDR
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8551 A (Drucksache 17/3871) . . . . . . . . . . . . . . . 8571 C
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8552 A b) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 8553 D
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8555 A Fraktion DIE LINKE: Gerechte Lösung
für rentenrechtliche Situation von in
Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8556 A
der DDR Geschiedenen
Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 8557 A (Drucksache 17/3872) . . . . . . . . . . . . . . . 8571 C
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

c) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina „sui generis“ für die Beseitigung des
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Versorgungsunrechts bei den Zusatz-
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der und Sonderversorgungen der DDR
Fraktion DIE LINKE: Gerechte Versor- (Drucksache 17/3880) . . . . . . . . . . . . . . . 8572 B
gungslösung für Ballettmitglieder in der
k) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
DDR
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
(Drucksache 17/3873) . . . . . . . . . . . . . . . . 8571 C
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
d) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Fraktion DIE LINKE: Vertrauensschutz
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar für Versorgungsberechtigte der DDR
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der mit einem Ruhestandsbeginn bis zum
Fraktion DIE LINKE: Regelung der An- 30. Juni 1995 schaffen
sprüche der Bergleute der Braunkohle- (Drucksache 17/3881) . . . . . . . . . . . . . . . 8572 C
veredlung
l) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
(Drucksache 17/3874) . . . . . . . . . . . . . . . . 8571 D
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
e) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, Fraktion DIE LINKE: Regelung der An-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE sprüche und Anwartschaften auf Al-
LINKE: Beseitigung von Rentennachtei- terssicherung für Angehörige der Deut-
len für Zeiten der Pflege von Angehöri- schen Reichsbahn der DDR
gen in der DDR (Drucksache 17/3882) . . . . . . . . . . . . . . . 8572 C
(Drucksache 17/3875) . . . . . . . . . . . . . . . . 8571 D
m) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
f) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Regelung der An-
Fraktion DIE LINKE: Rentenrechtliche sprüche und Anwartschaften auf Al-
Lösung für Land- und Forstwirte, terssicherung für Angehörige der Deut-
Handwerkerinnen und Handwerker, schen Post der DDR
andere Selbständige sowie deren mithel- (Drucksache 17/3883) . . . . . . . . . . . . . . . 8572 D
fende Familienangehörige aus der DDR
n) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
(Drucksache 17/3876) . . . . . . . . . . . . . . . . 8572 A
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
g) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Fraktion DIE LINKE: Angemessene Al-
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der tersversorgung für Professorinnen und
Fraktion DIE LINKE: Rentenrechtliche Professoren neuen Rechts, Ärztinnen
Anerkennung von zweiten und verein- und Ärzte im öffentlichen Dienst und
bart verlängerten Bildungswegen sowie weitere Beschäftigte universitärer und
Forschungsstudien und Aspiranturen in anderer wissenschaftlicher Einrichtun-
der DDR gen in Ostdeutschland
(Drucksache 17/3877) . . . . . . . . . . . . . . . . 8572 A (Drucksache 17/3884) . . . . . . . . . . . . . . . 8572 D
h) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina o) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Rentenrechtliche Fraktion DIE LINKE: Angemessene Al-
Anerkennung von DDR-Regelungen für tersversorgung für Beschäftigte des öf-
ins Ausland mitgereiste Ehepartnerin- fentlichen Dienstes der DDR, die nach
nen und Ehepartner sowie von im Aus- 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
land erworbenen Ansprüchen (Drucksache 17/3885) . . . . . . . . . . . . . . . 8573 A
(Drucksache 17/3878) . . . . . . . . . . . . . . . . 8572 A
p) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
i) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Angemessene Al-
Fraktion DIE LINKE: Rentenrechtliche tersversorgung für Angehörige von Bun-
Anerkennung aller freiwilligen Beiträge deswehr, Zoll und Polizei, die mit DDR-
aus DDR-Zeiten Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre
(Drucksache 17/3879) . . . . . . . . . . . . . . . . 8572 B Tätigkeit fortgesetzt haben
(Drucksache 17/3886) . . . . . . . . . . . . . . . 8573 A
j) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar q) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Fraktion DIE LINKE: Befristetes System Bartsch, weiterer Abgeordneter und der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 V

Fraktion DIE LINKE: Einheitliche Rege- Zusatztagesordnungspunkt 7:


lung der Altersversorgung für Angehö-
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
rige der technischen Intelligenz der
NEN: Irland unterstützen und Steuerhar-
DDR
monisierung vorantreiben
(Drucksache 17/3887) . . . . . . . . . . . . . . . . 8573 A
hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-
r) Antrag der Abgeordneten Dr. Martina destages gemäß Artikel 23 Absatz 3
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Gesetzes über die Zusammenarbeit
Fraktion DIE LINKE: Wertneutralität von Bundesregierung und Deut-
im Rentenrecht auch für Personen mit schem Bundestag in Angelegenhei-
bestimmten Funktionen in der DDR ten der Europäischen Union
(Drucksache 17/3888) . . . . . . . . . . . . . . . . 8573 B (Drucksache 17/4065) . . . . . . . . . . . . . 8595 C
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8573 C
in Verbindung mit
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8574 C
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 8575 A Zusatztagesordnungspunkt 8:
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8576 B Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP: Irland unterstützen – Euro stabilisie-
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8577 C ren
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8578 A hier Stellungnahme des Deutschen Bun-
destages gemäß Artikel 23 des
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8578 B Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Geset-
zes über die Zusammenarbeit von
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-
Bundesregierung und Deutschem
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 8579 B
Bundestag in Angelegenheiten der
Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8580 C Europäischen Union
(Drucksache 17/4082) . . . . . . . . . . . . . 8595 D
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8582 A
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 8583 B in Verbindung mit
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8584 A
Zusatztagesordnungspunkt 9:
Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Fraktion der SPD: Irland unter-
Zweite und dritte Beratung des von den Frak- stützen und gerechten, wirksamen Mecha-
tionen der CDU/CSU und der FDP eingebrach- nismus zur Bewältigung von Staatsfinan-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung zierungskrisen schaffen
des Rechts der Sicherungsverwahrung und hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-
zu begleitenden Regelungen destages nach Artikel 23 Absatz 3
(Drucksachen 17/3403, 17/4062) . . . . . . . . . . 8585 A des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär von Bundesregierung und Deut-
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8585 C schem Bundestag in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8586 A
(Drucksache 17/4014) . . . . . . . . . . . . . 8595 D
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 8588 A
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8589 C in Verbindung mit
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8590 C Zusatztagesordnungspunkt 10:
Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8591 C Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich,
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Michael Schlecht, Jan van Aken, weiterer Ab-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8592 A geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
zum Antrag der Republik Irland auf finan-
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ zielle Unterstützung im Rahmen des Euro-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8593 A päischen Finanzstabilisierungsmechanis-
mus (EuB-BReg 126/2010)
Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8593 C
hier: Stellungnahme des Deutschen Bun-
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8593 D destages nach Artikel 23 Absatz 2
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Ab- Tagesordnungspunkt 11:


satz 1 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
und Deutschem Bundestag in Ange- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
legenheiten der Europäischen Union Bundesregierung: Fortsetzung der Betei-
ligung bewaffneter deutscher Streit-
Profiteure der Krise zur Kasse bit- kräfte an der EU-geführten Operation
ten – Keine weitere Verstaatlichung Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
fauler Bankkredite bei Finanzhilfen vor der Küste Somalias auf Grundlage
für Irland des Seerechtsübereinkommens der Ver-
(Drucksache 17/4029) . . . . . . . . . . . . . 8595 D einten Nationen von 1982 und der Reso-
lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008,
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8596 A (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8597 A vom 2. Dezember 2008, 1897 (2009) vom
30. November 2009 und nachfolgender
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . 8598 C Resolutionen des Sicherheitsrates der
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8600 A Vereinten Nationen in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8601 C GASP des Rates der Europäischen
Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8602 C Union vom 10. November 2008, dem Be-
schluss 2009/907/GASP des Rates der
Europäischen Union vom 8. Dezember
Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . .8603
. . . . D, 8604 A 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
des Rates der Europäischen Union vom
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8606
. . . . C, 8608 B 30. Juli 2010 und dem erwarteten Be-
schluss des Rates der Europäischen
Union vom 13. Dezember 2010
Tagesordnungspunkt 12: (Drucksachen 17/3691, 17/4048) . . . . . . . 8616 C
a) Antrag der Fraktion der SPD: Vor Can- – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
cún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem § 96 der Geschäftsordnung
globalen Klimaschutzabkommen (Drucksache 17/4055) . . . . . . . . . . . . . . . 8617 A
(Drucksache 17/3998) . . . . . . . . . . . . . . . . 8604 A Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . 8617 A
b) Antrag der Abgeordneten Andreas Jung Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8618 B
(Konstanz), Marie-Luise Dött, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 8619 D
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8620 D
ordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer,
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeord- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
neter und und der Fraktion der FDP: Die DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8621 C
UN-Klimakonferenz in Cancún – Fort-
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8623 A
schritte für den Klimaschutz erreichen
(Drucksache 17/4010) . . . . . . . . . . . . . . . . 8604 B Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8623 B
c) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, weiterer Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8623 D
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Internationaler Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Klimaschutz vor Cancún – Mit unter- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8624 C
schiedlichen Geschwindigkeiten zum
Ziel Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 8625 C
(Drucksache 17/4016) . . . . . . . . . . . . . . . . 8604 D
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8604 C Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8629 D
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 8611 A
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 8612 C Tagesordnungspunkt 13:
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8613 C – Beschlussempfehlung und Bericht des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
der Bundesregierung: Fortsetzung der Be-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8614 D
teiligung bewaffneter deutscher Streit-
Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8615 D kräfte an der EU-geführten Operation
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 VII

„ALTHEA“ zur weiteren Stabilisie- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/


rung des Friedensprozesses in Bosnien DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8643 B
und Herzegowina im Rahmen der Im-
plementierung der Annexe 1-A und 2 Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8643 C
der Dayton-Friedensvereinbarung so- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
wie an dem NATO-Hauptquartier Sara- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8644 B
jevo und seinen Aufgaben, auf Grund-
lage der Resolution des Sicherheitsrates Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8645 A
der Vereinten Nationen 1575 (2004) und Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8645 C
Folgeresolutionen
(Drucksachen 17/3692, 17/4049) . . . . . . . 8625 C
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 8646 A
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
(Drucksache 17/4056) . . . . . . . . . . . . . . . . 8625 D Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8648 D

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8626 A


Tagesordnungspunkt 14:
Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8627 A
Zweite und dritte Beratung des von der Frak-
Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8628 B tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 8632 A Gesetzes zur Verbesserung des Verbrau-
cherschutzes bei Vertragsabschlüssen im
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ Internet
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8633 A (Drucksachen 17/2409, 17/3588) . . . . . . . . . . 8646 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8633 D
Tagesordnungspunkt 16:
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 8635 A Antrag der Fraktion DIE LINKE: Den Frie-
den befördern – Politische Gefangene in Is-
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8636 D rael freilassen
(Drucksache 17/3545) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8646 B
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 8646 C
Tagesordnungspunkt 15:
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8647 A
– Beschlussempfehlung und Bericht des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8651 A
der Bundesregierung: Fortsetzung des Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 8652 B
Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-
kräfte bei der Unterstützung der ge- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/
meinsamen Reaktion auf terroristische DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8653 C
Angriffe gegen die USA auf Grundlage
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8654 D
des Artikels 51 der Satzung der Verein-
ten Nationen und des Artikels 5 des
Nordatlantikvertrags sowie der Resolu-
tionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Tagesordnungspunkt 17:
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
(Drucksachen 17/3690, 17/4050) . . . . . . . 8635 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Übertragung ehebezogener Re-
– Bericht des Haushaltsausschusses gemäß
gelungen im öffentlichen Dienstrecht
§ 96 der Geschäftsordnung
auf Lebenspartnerschaften
(Drucksache 17/4057) . . . . . . . . . . . . . . . . 8635 B
(Drucksache 17/3972) . . . . . . . . . . . . . . . 8656 B
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8635 C b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 8639 A Volker Beck (Köln), Dr. Konstantin von
Notz, Birgitt Bender, weiteren Abgeordne-
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8640 B ten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8641 C Gesetzes zur Gleichstellung der eingetra-
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ genen Lebenspartnerschaften mit der Ehe
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8642 B im Bundesbeamtengesetz und in weite-
ren Gesetzen
Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8643 B (Drucksache 17/906) . . . . . . . . . . . . . . . . 8656 B
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Tagesordnungspunkt 18: Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8666 B


a) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8667 B
(Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8668 B
von Patientinnen und Patienten bei der
genetischen Forschung in einem Bio-
banken-Gesetz sicherstellen Tagesordnungspunkt 22:
(Drucksache 17/3790) . . . . . . . . . . . . . . . . 8656 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
b) Antrag der Abgeordneten René Röspel, desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- setzes zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und Richtlinie
der Fraktion der SPD: Biobanken als In- (Drucksachen 17/3023, 17/4047) . . . . . . . . . . 8668 D
strument von Wissenschaft und For- Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8668 D
schung ausbauen, Biobanken-Gesetz
prüfen und Missbrauch genetischer Da- Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8669 D
ten und Proben wirksam verhindern Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8671 A
(Drucksache 17/3868) . . . . . . . . . . . . . . . . 8656 D
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8671 B
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 19: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8672 A
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung von Ver- Tagesordnungspunkt 23:
brauchsteuergesetzen Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf
(Drucksachen 17/3025, 17/4052) . . . . . . . . . . 8656 D Hempelmann, Garrelt Duin, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef
Tagesordnungspunkt 20: Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und
Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-
Modernisierung des Benachrichtigungswe- Wärme-Kopplung festhalten
sens in Nachlasssachen durch Schaffung des (Drucksache 17/3999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8672 D
Zentralen Testamentsregisters bei der Bun- Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8673 A
desnotarkammer
(Drucksachen 17/2583, 17/4063) . . . . . . . . . . 8657 B Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8674 C
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8657 B Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8675 C
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8659 A Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 8676 B
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8660 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8676 D
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8661 B
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8662 A Tagesordnungspunkt 24:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
Tagesordnungspunkt 21:
wurfs eines Gesetzes zu dem Änderungs-
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- protokoll vom 25. Mai 2010 zum Abkom-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der men vom 17. Oktober 1962 zwischen der
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesrepublik Deutschland und Irland
NEN: Evaluierung der deutschen Betei- zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
ligung an ISAF und des deutschen und und zur Verhinderung der Steuerverkür-
internationalen Engagements für den Wie- zung bei den Steuern vom Einkommen und
deraufbau Afghanistans seit 2001 vom Vermögen sowie der Gewerbesteuer
(Drucksachen 17/1964, 17/4051) . . . . . . . . . . 8663 A (Drucksachen 17/3358, 17/4061) . . . . . . . . . . 8677 A
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8663 A Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8678 A
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 8663 D Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . 8678 C
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8664 D Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 8680 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 IX

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8681 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ Behrens, weiterer Abgeordneter und der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8682 A Fraktion DIE LINKE: Lebensmittel-Smi-
ley nach dänischem Vorbild bundes-
weit einführen
Tagesordnungspunkt 25:
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm,
schusses für Arbeit und Soziales weiterer Abgeordneter und der Fraktion
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Smiley-
Martina Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Kennzeichnungssystem bundesweit ver-
Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter bindlich einführen
und der Fraktion DIE LINKE: Auch Ver- (Drucksachen 17/3434, 17/3220, 17/3994) . . . . 8692 A
letztenrenten von NVA-Angehörigen
der DDR anrechnungsfrei auf die Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 8692 B
Grundsicherung für Arbeitsuchende
stellen Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8693 B

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8694 B
Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 8695 B
Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE: Auch Ver- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
letztenrenten von NVA-Angehörigen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8696 A
der DDR anrechnungsfrei auf die Al-
tersrente stellen
(Drucksachen 17/2326, 17/3217, 17/3734) . . . . 8682 D Tagesordnungspunkt 28:
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 8683 A Antrag der Abgeordneten Niema Movassat,
Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8683 C Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . . 8684 C Keine großflächige Landnahme und Spe-
kulationen mit Land oder Agrarproduk-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8685 A tion in den Ländern des Südens
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . (Drucksache 17/3541) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8697 A
8685 D
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8697 B
NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 8686 B Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8698 A
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . 8699 B
Tagesordnungspunkt 26: Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8700 D
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8701 D
setzes zur Umsetzung der Dienstleistungs-
richtlinie in der Justiz und zur Änderung
weiterer Vorschriften
(Drucksachen 17/3356, 17/4064) . . . . . . . . . . 8687 B Tagesordnungspunkt 29:
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . 8687 C Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Ab-
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 8688 D geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8689 D DIE GRÜNEN: Blockade beim Boden-
schutz aufgeben – EU-Bodenschutzrah-
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8690 C menrichtlinien voranbringen
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/3855) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8702 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8691 B Ulrich Petzold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8702 D
Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8704 A
Tagesordnungspunkt 27: Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8704 C
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8705 B
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 8705 D
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ vor der Küste Somalias auf Grundlage des
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8706 D Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
tionen von 1982 und der Resolutionen 1814
(2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8707 D
2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober
2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008,
1897 (2009) vom 30. November 2009 und
Anlage 1
nachfolgender Resolutionen des Sicherheits-
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 8709 A rates der Vereinten Nationen in Verbindung
mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP
des Rates der Europäischen Union vom 10. No-
Anlage 2 vember 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP
des Rates der Europäischen Union vom 8. De-
Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) über die Be- des Rates der Europäischen Union vom
schlussempfehlung zur Sammelübersicht 177 30. Juli 2010 und dem erwarteten Beschluss
zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 37 h) . . . 8709 D des Rates der Europäischen Union vom
13. Dezember 2010 (Tagesordnungspunkt 11) 8712 C
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Anlage 7
Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Agnes
Malczak und Omid Nouripour (alle BÜND- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung der Abgeordneten Agnes Malczak, Katja Dörner,
über den Antrag: Menschenrechtslage im Iran Uwe Kekeritz, Beate Müller-Gemmeke,
verbessern (Tagesordnungspunkt 7 a) . . . . . . 8710 B Dorothea Steiner und Dr. Harald Terpe (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung: Fortset-
Anlage 4 zung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor
Niema Movassat, Karin Binder, Sevim der Küste Somalias auf Grundlage des See-
Dağdelen, Heidrun Dittrich, Heike Hänsel, rechtsübereinkommens der Vereinten Natio-
Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla Jelpke und nen von 1982 und der Resolutionen 1814
Harald Koch (alle DIE LINKE) zur Abstim- (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom
mung über den Antrag: Menschenrechtslage 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober
im Iran verbessern (Tagesordnungspunkt 7 a) 8710 D 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008,
1897 (2009) vom 30. November 2009 und
nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates
Anlage 5 der Vereinten Nationen in Verbindung mit der
Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Ra-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
tes der Europäischen Union vom 10. November
Alexander Funk und Klaus-Peter Willsch
2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des
(beide CDU/CSU) zum Antrag: Irland unter-
Rates der Europäischen Union vom 8. De-
stützen – Euro stabilisieren
zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
des Rates der Europäischen Union vom
tages gemäß Artikel 23 des Grundge-
30. Juli 2010 und dem erwarteten Beschluss
setzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
des Rates der Europäischen Union vom
die Zusammenarbeit von Bundesregie-
13. Dezember 2010 (Tagesordnungspunkt 11) 8714 B
rung und Deutschem Bundestag in An-
gelegenheiten der Europäischen Union
(Zusatztagesordnungspunkt 8) . . . . . . 8711 C
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des
Anlage 6 Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüssen
Hans-Christian Ströbele, Winfried Hermann, im Internet (Tagesordnungspunkt 14)
Monika Lazar und Dr. Wolfgang Strengmann- Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8715 D
Kuhn (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 8716 D
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . 8717 C
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8718 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 XI

Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8718 D – Schutz von Patientinnen und Patienten bei
der genetischen Forschung in einem Bio-
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8719 C
banken-Gesetz sicherstellen
Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 8720 B
– Biobanken als Instrument von Wissen-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ schaft und Forschung ausbauen, Bioban-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8720 D ken-Gesetz prüfen und Missbrauch geneti-
scher Daten und Proben wirksam
verhindern
Anlage 9
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8726 C
ehebezogener Regelungen im öffentli- René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8728 A
chen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaf-
ten Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 8729 B
– Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8730 A
der eingetragenen Lebenspartnerschaften
mit der Ehe im Bundesbeamtengesetz und Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
in weiteren Gesetzen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8731 A
(Tagesordnungspunkt 17 a und b) Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 8721 C BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8731 D
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 0000
8722 A
B
Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 0000
8723 A
C Anlage 11
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8724 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 8724 C des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Än-
derung von Verbrauchsteuergesetzen (Tages-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ ordnungspunkt 19)
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8725 A
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8732 D
BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8725 D Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8734 A
Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 8735 A
Anlage 10
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 8735 D
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Anträge: Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . 8736 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8499

(A) (C)

Redetext

78. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ereignis von besonderer Bedeutung darstellen. Als his-
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Gu- torisches Datum auf dem Weg zur deutschen Einheit ge-
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! hört dieser Tag in seiner verfassungsrechtlichen und
politischen Bedeutung in eine Reihe mit dem 9. Novem-
Heute vor 20 Jahren, am 2. Dezember 1990, fanden in ber 1989, dem 18. März 1990 und dem 3. Oktober 1990.
Deutschland die Wahlen zum 12. Bundestag statt. Es
waren ganz normale und zugleich ganz besondere Wah- Die Teilung Deutschlands liegt hinter uns, Gott sei
len. Denn ein gutes Jahr nach dem Fall der Mauer, zwei Dank. Wie sehr sie unser Leben und unsere Wahrneh-
Monate nach dem Tag der vollzogenen Einheit, konnten mung über Jahrzehnte auch in scheinbar unpolitischen
alle Deutschen erstmals wieder in allgemeiner, unmittel- Gesellschaftsbereichen bis zum Fall der Mauer geprägt
barer, freier, gleicher und geheimer Wahl ihr gemeinsa- hat, davon vermittelt zurzeit eine Ausstellung im Paul-
mes Parlament wählen. 58 Jahre haben die Deutschen Löbe-Haus einen jedenfalls interessanten Eindruck, die
darauf warten müssen; denn die letzte freie Wahl in ganz Ausstellung „Ästhetik und Politik. Deutsche Sportfoto-
(B) Deutschland fand davor 1932 statt. grafie im Kalten Krieg“, die ich denjenigen, die nicht (D)
gestern schon bei der Eröffnung dabei waren, zur gele-
Nachdem die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 gentlichen Information unbedingt ans Herz legen
hergestellt war, wurde am 2. Dezember doch noch in
möchte.
zwei getrennten Wahlgebieten gewählt, im Wahlgebiet
West mit rund 48 Millionen Wahlberechtigten und im Im Übrigen möchte ich den Kolleginnen und Kolle-
Wahlgebiet Ost mit rund 12 Millionen Wahlberechtigten, gen, die heute vor 20 Jahren in den Deutschen Bundes-
wobei für jedes Wahlgebiet eine eigene Fünfprozent- tag gewählt worden sind und damit heute gewisserma-
hürde galt. Neu war übrigens auch, dass die Westberliner ßen ihr 20-jähriges Dienstjubiläum begehen, ganz
ihre Abgeordneten zum ersten Mal direkt in den Bundes- herzlich dazu gratulieren.
tag wählen konnten. Bis dahin wurden diese vom Berli-
ner Abgeordnetenhaus in den Bundestag gesandt, der (Sigmar Gabriel [SPD]: Da gibt es einen Tag
seinen Sitz damals noch in Bonn hatte. Die Konstituie- frei! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD
rung des gesamtdeutschen Bundestages fand hier in Ber- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
lin statt. Am 20. Dezember 1990 eröffnete der damalige
Alterspräsident Willy Brandt die Sitzung hier in diesem – Nein. Einen Tag frei gibt es nicht, jedenfalls nicht,
Raum. wenn es sich um einen Sitzungstag handelt.
Auf den Tag sechs Monate später, am 20. Juni 1991, Die Fraktion der SPD hat mir mitgeteilt, dass der Kol-
fasste das erste gesamtdeutsche Parlament dann den Be- lege Dr. Edgar Franke sein Amt als Schriftführer aufgibt.
schluss, seinen Sitz ganz nach Berlin zu verlegen, übri- Als Nachfolgerin wird die Kollegin Sonja Steffen vor-
gens mit ähnlich knapper Mehrheit wie bei der Entschei- geschlagen. Können Sie sich damit anfreunden? – Das
dung im November 1949 für Bonn statt Frankfurt als sieht so aus. Dann ist die Kollegin Steffen damit zur
Sitz der Verfassungsorgane. Seither begleitet und flan- Schriftführerin gewählt.
kiert der Deutsche Bundestag von Berlin aus den Prozess
der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,
Deutschlands. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf
jenen 2. Dezember 1990 zurückblicken, so im Bewusst- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
sein, dass die ersten gesamtdeutschen Wahlen in der par- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
lamentarischen Geschichte Deutschlands zweifellos ein geführten Punkte zu erweitern:
8500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Irland unterstützen und Steuerharmonisie- (C)
Lötzer, Sabine Leidig, Eva Bulling-Schröter, wei- rung vorantreiben
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
Einsetzung einer Enquete-Kommission ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und ge- Zusammenarbeit von Bundesregierung
sellschaftlichem Fortschritt“ und Deutschem Bundestag in Angelegen-
heiten der Europäischen Union
– Drucksache 17/3990 –
– Drucksache 17/4065 –
(siehe 77. Sitzung)
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
CSU und der FDP
der CDU/CSU und der FDP
Irland unterstützen und den Euro stabilisieren
Schlichterspruch zum Bahnprojekt Stuttgart 21
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
(siehe 77. Sitzung)
ges gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, menarbeit von Bundesregierung und
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten der Europäischen Union
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen – Drucksache 17/4082 –
– Drucksache 17/4046 – ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Überweisungsvorschlag: Irland unterstützen und gerechten, wirksamen
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mechanismus zur Bewältigung von Staats-
finanzierungskrisen schaffen
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
Ergänzung zu TOP 36 gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela Zusammenarbeit von Bundesregierung
(B) Wagner, Oliver Krischer, Bettina Herlitzius, wei- und Deutschem Bundestag in Angelegen- (D)
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- heiten der Europäischen Union
NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/4014 –
Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunk- ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
turpaket (EEPR) unverzüglich für mehr Ener- Alexander Ulrich, Michael Schlecht, Jan van
gieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
– Drucksache 17/4017 – DIE LINKE
Überweisungsvorschlag: zum Antrag der Republik Irland auf finan-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) zielle Unterstützung im Rahmen des Euro-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit päischen Finanzstabilisierungsmechanismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (EuB-BReg 126/2010)
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
SPD ges nach Artikel 23 Absatz 2 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 1 des Gesetzes
Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung über die Zusammenarbeit von Bundesre-
hinsichtlich der Zukunftsängste des wissen- gierung und Deutschem Bundestag in
schaftlichen Nachwuchses Angelegenheiten der Europäischen
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und Union
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Profiteure der Krise zur Kasse bitten – Keine
Mehr Flüchtlinge aus dem Iran aufnehmen weitere Verstaatlichung fauler Bankkredite
bei Finanzhilfen für Irland
– Drucksache 17/3997 –
Überweisungsvorschlag: – Drucksache 17/4029 –
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Von der Frist der Beratungen soll, soweit erforderlich,
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe abgewichen werden.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Tagesordnungspunkte 8 s und 10 werden abge-
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- setzt. An den Platz des abgesetzten Tagesordnungspunk-
NIS 90/DIE GRÜNEN tes 10 sollen nunmehr mehrere Anträge, die sich mit der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8501
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) finanziellen Unterstützung Irlands befassen, aufgerufen satz 1 und 3 SGB VI (Rentenversicherungsbe- (C)
werden. Danach folgen der Tagesordnungspunkt 12 so- richt 2010)
wie unmittelbar nacheinander die drei Punkte zur Ver-
längerung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das und
sind die Tagesordnungspunkte 11, 13 und 15. Der dann Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-
übersprungene Tagesordnungspunkt 14 folgt im An- cherungsbericht 2010
schluss an diese drei Entscheidungen über die Auslands-
einsätze, sodass Sie sich bitte auch auf die entsprechende – Drucksache 17/3900 –
Abfolge von Abstimmungen einstellen mögen. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ich mache außerdem auf eine nachträgliche Aus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- Haushaltsausschuss
merksam:
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Die am 25. November 2010 überwiesene nachfol- Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
gende Unterrichtung soll zusätzlich dem Ausschuss für Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
zur Mitberatung überwiesen werden: Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben
nutzen – Arbeitsbedingungen verbessern –
Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Rentenzugang flexibilisieren
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes – Drucksache 17/3995 –
2010 zur Haushalts- und Wirtschaftsprüfung Überweisungsvorschlag:
des Bundes (einschließlich der Feststellungen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
zur Jahresrechnung 2009) Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/3650 – Ausschuss für Gesundheit
Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und
Haushaltsausschuss (f) Technikfolgenabschätzung
Innenausschuss Haushaltsausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschuss für Arbeit und Soziales Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Verteidigungsausschuss Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
(B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D)
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen
Ich darf Sie fragen, ob Sie damit einverstanden sind. –
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos- – Drucksache 17/4046 –
sen. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
den Zusatzpunkt 3 auf: Hier geht es um die Beratung mehrerer Vorlagen zur
5 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Rentenpolitik.
gierung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Bericht der Bundesregierung gemäß § 154 Ab-
Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so
satz 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
beschlossen.
zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf
67 Jahre Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin Frau Dr. von der Leyen.
– Drucksache 17/3814 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Arbeit und Soziales:
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
gierung Herren! Das Bundeskabinett hat vor zwei Wochen den
Bericht der Bundesregierung zur Anhebung der Regel-
Bericht der Bundesregierung über die gesetz- altersgrenze auf 67 Jahre beschlossen. Das gesetzliche
liche Rentenversicherung, insbesondere über Renteneintrittsalter erhöht sich ab 2012 Schritt für
die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- Schritt behutsam um zwei Jahre bis zum Jahre 2029. Das
ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je- heißt, dass alle Beteiligten genügend Zeit haben, sich da-
weils erforderlichen Beitragssatzes in den rauf einzustellen. Das ist auch sinnvoll; denn es gibt
künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 Ab- noch viel zu tun.
8502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) Die Erhöhung der Altersgrenze auf 67 im Jahr 2029 Schritt, um im Arbeitsmarkt genügend Fachkräfte zu (C)
ist notwendig, und sie ist vertretbar. Ich will das an eini- haben.
gen wenigen Zahlen deutlich machen. Allein in den letz-
ten 50 Jahren ist die Lebenserwartung von Männern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Frauen um 11 Jahre gestiegen. Das ist gut für den Es zeigt sich inzwischen auch schon, dass ein Umden-
Einzelnen. Das sind gewonnene Jahre, die wir zum Teil ken stattfindet. Dazu trägt natürlich bei, dass die Früh-
auch für die Schaffenskraft in diesem Land, für den Ar- verrentungsregelungen abgeschafft worden sind und
beitsmarkt nutzen können. Dadurch wird aber natürlich dass sich der Blick auf ältere Menschen verändert. Das
auch die Frage nach der gerechten Lastenverteilung zwi- zeigt sich auch in den Zahlen. Seit 2005 ist die Zahl der
schen den Generationen aufgeworfen. Erwerbstätigen, die älter als 55 Jahre sind, um gut
1 Million gestiegen. Die Älteren waren im letzten Jahr-
Der zweite Tatbestand ist der durchschnittliche Ren- zehnt die Gewinner am Arbeitsmarkt. Das sollten wir an
tenbezug. In den letzten 50 Jahren hat sich die Dauer des dieser Stelle auch einmal betonen.
Rentenbezugs fast verdoppelt. Vor 50 Jahren bezog ein
Rentner im Durchschnitt zehn Jahre lang eine Rente, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
heute sind es im Schnitt 18 Jahre. Vor zehn Jahren erar- Anton Schaaf [SPD]: Das stimmt ja genau
beiteten noch sechs Erwerbstätige eine Rente, heute sind nicht!)
es drei Erwerbstätige.
Es handelt sich dabei eben nicht um prekäre Jobs, wie
Deshalb, meine Damen und Herren, hatte Franz immer, oft auch mit Absicht, behauptet wird. Das Ge-
Müntefering recht, als er bei der Einführung der Rente genteil ist richtig. Drei von vier Beschäftigten im Alter
mit 67 sagte: „Die Rente mit 67 ist demografisch und fi- von 55 bis 64 Jahren haben sozialversicherungspflich-
nanziell unabdingbar.“ tige Vollzeitjobs. Es gibt also mehr und bessere Jobs für
Ältere, und die Zahl nimmt zu.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn man den Blick auf die Gruppe der 60- bis 64-
Diese Aussage war damals richtig, aber sie ist auch Jährigen richtet, also auf die Gruppe, die zum Teil noch
heute noch richtig, auch wenn das heute noch lange nicht in hohem Maße von den Frühverrentungsregelungen
populär ist. Das weiß ich. Aber manchmal, meine Da- profitiert hat, dann sieht man, dass sich deren Erwerbstä-
men und Herren, braucht man in der Politik den Mut zur tigenquote in den letzten zehn Jahren von 20 Prozent,
Verlässlichkeit. In diesem Fall ist es der Mut zur Nach- also einem niedrigen Niveau, auf fast 40 Prozent im Jahr
haltigkeit, den wir gemeinsam haben sollten. 2009 nahezu verdoppelt hat.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Elke Ferner [SPD]: Mit Minijobs!) (D)
Gemäß den Daten des Europäischen Statistikamtes ist
Eine Absage oder eine Verschiebung der Rente mit 67,
die Quote im zweiten Halbjahr 2010 inzwischen auf
die von Teilen der SPD und den Gewerkschaften – ich
41,1 Prozent gestiegen.
sage bewusst: von Teilen – diskutiert wird, wäre meines
Erachtens verantwortungslos. Denn wer das fordert, der (Elke Ferner [SPD]: Sie rechnen sich alles
muss auch sagen, was die Konsequenzen für unser Land schön! – Anton Schaaf [SPD]: Wie viele so-
sind: zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind
das?)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ganz genau!
Und so steht es im Gesetz!) Wann, wenn nicht jetzt, wagen wir den Aufbruch in eine
altersgerechte Arbeitswelt? Das ist doch die Frage, die
entweder die Beiträge für die Jüngeren zu erhöhen oder wir uns stellen sollten.
die Rente für die Älteren zu senken. Aber eine Ausset-
zung der Rente mit 67 zu fordern, ohne die Folgen zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
benennen, das ist meines Erachtens nicht in Ordnung, In den kommenden 15 Jahren werden uns 5 Millionen
meine Damen und Herren. Arbeitskräfte fehlen. Das entspricht zum Beispiel knapp
der Hälfte der Einwohnerzahl von Baden-Württemberg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Reden wir doch einmal darüber, welche Lebenserfah-
Ich weiß, bis zur Rente mit 67 im Jahr 2029 ist es rung, welches Betriebswissen und welche sozialen Kom-
noch ein weiter Weg. Aber es ist auch der Weg zur Stär- petenzen Ältere besitzen und den Jüngeren voraushaben.
kung des Generationenvertrages. Diejenigen, die sich mit aller Kraft gegen eine Rente mit
67 und damit auch gegen die Beantwortung der Frage
Die Rente mit 67 ist vertretbar. Wir haben im Augen- stemmen, wie das Arbeiten bis 67 funktionieren kann,
blick weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Unter den blenden automatisch jedwede Überlegung über ein neues
OECD-Staaten haben wir in unserem Land das höchste Bild des Alters aus.
Wachstum. Noch nie waren so viele Menschen sozial-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
versicherungspflichtig tätig. Uns geht nicht die Arbeit
aus – wir haben so viel Arbeit und so viele Aufträge wie
nie zuvor –, aber uns gehen die Arbeitskräfte aus. Des- Präsident Dr. Norbert Lammert:
halb ist die Rente mit 67 bis 2029 auch ein wichtiger Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8503

(A) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Fraktion Die Linke ist die einzige, die bestreitet, dass wir (C)
Arbeit und Soziales: ein demografisches Problem in der Rentenkasse haben;
Ich führe den Gedanken zu Ende. – Wir müssen doch wir bestreiten das nicht. Dass zur Bewältigung dieses
anders diskutieren. Wir müssen über den richtigen Mix Problems die Anhebung des Renteneintrittsalters eine
aus betrieblicher Gesundheitsförderung und der Verein- der notwendigen Antworten ist, Frau von der Leyen,
barkeit von Beruf und Pflege, über eine altersgerechte wird von uns auch nicht bestritten.
Arbeitsplatzgestaltung, Weiterqualifizierung und Weiter-
Die Frage ist aber, ob wir das Gesetz erfüllen. Denn
bildung reden. Das sind die Themen, bei denen wir et-
das Gesetz will vorher geklärt wissen, ob die Anhebung
was bewegen sollten.
des Renteneintrittsalters auf 67 die betroffenen Arbeiter
Ich weiß, dass Kritiker einwenden: Was ist mit den und Angestellten, die rentenversichert sind – um diese
körperlich schweren Tätigkeiten? Soll der Dachdecker Menschen, Frau von der Leyen, und nicht um eine allge-
bis 67 auf dem Dach arbeiten? – Nein, das soll er nicht. meine Erwerbstätigenquote geht es –, vor eine unlösbare
Das macht er heute im Alter von 65 Jahren übrigens Aufgabe stellt oder ob sie eine reale Chance haben, län-
auch nicht mehr. Er muss künftig frühzeitig auf den ger zu arbeiten. Das will das Gesetz wissen.
Wechsel vorbereitet werden. Das ist die Denke, die wir
(Beifall bei der SPD)
entwickeln müssen.
Um das zu klären, Frau Ministerin, muss man nicht
So jemand hat Lebenserfahrung, Kompetenzen und
mit Taschenspielertricks die Zahl der älteren Erwerbstä-
Betriebswissen. Mit diesem Know-how kann er sich
tigen, sondern die der älteren rentenversicherten Arbei-
zum Beispiel auf den Vertrieb, die Ausbildung oder den
ter und Angestellten in Deutschland heranziehen. Denn
Arbeitsschutz spezialisieren. Vorausschauende Unter-
es geht bei der Rentenkasse nicht um Beamte, um
nehmen und übrigens auch vorausschauende Sozialpart-
Selbstständige, um Minijobber oder um 1-Euro-Jobber.
ner denken längst anders.
Diese rechnen Sie allerdings dazu, wenn Sie sagen: Es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist doch alles wunderbar und auf gutem Wege.
neten der FDP)
Bei der Betrachtung der Wirklichkeit, Frau von der
Ich weiß, sie sind noch in der Minderheit, aber sie sind Leyen, helfen auch keine Rechentricks. Denn das Gesetz
die Trendsetter einer altersgerechten Arbeitswelt. fordert zur Prüfung auf, ob ältere Arbeitnehmer eigent-
lich die Chance haben, bis 67 zu arbeiten. Dazu muss
Wir sind inzwischen eine Gesellschaft des langen Le- man sich die Beschäftigten zwischen 60 und 64 an-
bens, ob es uns passt oder nicht. Eine solche Gesellschaft schauen. Wer hingegen auf die Altersgruppe der 55-Jäh-
muss dementsprechend auch langfristig denken. Kluge rigen zurückgreift, will nur die Statistik schönen, aber (D)
(B) Politik ist nachhaltig und demografiefest, und nur durch
nicht die Realität zur Kenntnis nehmen.
eine zukunftsfähige, nachhaltige und demografiefeste
Politik werden wir unser Land auch gut weiterbringen. (Beifall bei der SPD)
Vielen Dank. Wie ist die Lage, Frau Ministerin, dieser rentenversi-
cherten Arbeiter und Angestellten heute? 23,4 Prozent,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Frau Ministerin, der 60- bis 64-Jährigen waren 2009 so-
zialversicherungspflichtig beschäftigt. Bei den 64-Jähri-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gen, meine Damen und Herren, sind es ganze 10 Pro-
Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die zent.
SPD-Fraktion.
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Rest ist in
(Beifall bei der SPD) Altersteilzeit!)
– Der Kollege meint, von den rentenversicherten Arbei-
Sigmar Gabriel (SPD): tern und Angestellten dieser Altersgruppe seien
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau 90 Prozent in Altersteilzeit.
Ministerin von der Leyen, Sie sollten feststellen, ob jetzt
– so fordert es das Gesetz – und nicht irgendwann in der (Elke Ferner [SPD]: Absurd!)
Zukunft die arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen Wenn ich jetzt einmal unterstelle, dass das stimmen
und die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen würde, dann wirft das bei mir die Frage auf: Warum
– auch das steht im Gesetz – für den Einstieg in die streichen Sie eigentlich die geförderte Altersteilzeit, ob-
Rente mit 67 vorliegen oder ob das nicht der Fall ist. Es wohl diese so gut sein soll? Das ist meine Frage an Sie.
geht also nach dem Auftrag des Gesetzes heute gar nicht
darum, ob die Rente mit 67 eingeführt wird, sondern da- (Beifall bei der SPD)
rum, wann die Voraussetzungen für die Rente mit 67
vorliegen. Meine Damen und Herren, heute reden wir darüber,
dass uns das Gesetz auffordert, zu prüfen, ob die Ar-
Denn dass wir nicht tatenlos zusehen können, dass beitsmarktbedingungen gegeben sind. Dabei stellen wir
aufgrund kleiner werdender Geburtenjahrgänge immer fest, dass 80 Prozent der rentenversicherten Arbeiter und
weniger aktive Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Angestellten zwischen 60 und 64 nicht mehr arbeiten.
eine immer größer werdende Zahl von Rentnern finan- Insofern stellen Sie, Frau von der Leyen, knapp
zieren müssen, ist völlig unbestritten. Ich glaube, die 80 Prozent auf dem Arbeitsmarkt vor eine unlösbare
8504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Sigmar Gabriel
(A) Aufgabe. Denn sie finden entweder keine Arbeit im Al- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
ter, oder sie sind körperlich so kaputt, dass sie nicht Bitte schön.
mehr arbeiten können.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Genau das will das Gesetz nicht. Es will Arbeiter und
Angestellte nicht vor eine unlösbare Aufgabe stellen. Herr Kollege Gabriel, ist Ihnen bekannt, dass sich die
Vielmehr fordert es mehr Arbeitsmöglichkeiten für Entwicklung der Gesamtbeschäftigungsquote in Deutsch-
Ältere, land von 33,6 Prozent im Jahr 2000 auf 33,2 Prozent im
Jahr 2009 fortgeschrieben hat, dass jedoch bei den
(Elke Ferner [SPD]: So ist es!) 60- bis 65-Jährigen 10,9 Prozent im Jahr 2000 und
23,4 Prozent im Jahr 2009 in einem sozialversicherungs-
bevor die Rente mit 67 beginnt. pflichtigen Beschäftigungsverhältnis waren und damit
ein Zuwachs zu verzeichnen ist?
(Beifall bei der SPD)
(Elke Ferner [SPD]: Das hat er doch gesagt! –
Sie, Frau von der Leyen, wollen die Hände in den Weitere Zurufe von der SPD)
Schoß legen, und tun so, als ob allein der demografische
Wandel dazu führen würde, dass mehr Ältere beschäftigt
werden. Ich zitiere einmal, was der Sozialbeirat der Bun- Sigmar Gabriel (SPD):
desregierung – ich weiß ja nicht, ob Sie dessen Publika- Herr Kollege, das Arbeitsministerium hat verzweifelt
tionen lesen – dazu geschrieben hat: versucht, bei Ihnen einen Redner zu finden, der mich das
fragt;
Die Gutachter warnen deshalb: „Es gibt somit keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Automatik, dass sich infolge des demografischen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wandels die Arbeitsmarktchancen der Älteren we-
sentlich verbessern.“ ich hätte Ihnen empfohlen, meiner Rede zuzuhören.
Denn genau das, was Sie eben vorgetragen haben, habe
Das schreiben Ihre eigenen Gutachter. ich auch schon gesagt.
Sie müssen also etwas tun, damit Ältere Beschäfti- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gung finden. Tatsache ist aber, dass gerade die Arbeitslo- der LINKEN)
sigkeit von Älteren zunimmt.
Insofern vielen Dank für den Beweis, dass bei Ihnen
(Elke Ferner [SPD]: So ist es!) Kommunikationsprobleme existieren.
(B) Ältere rentenversicherte Arbeiter und Angestellte finden Im Ernst, ich sage das nicht ohne Grund. Lassen Sie (D)
oft keinen Arbeitsplatz; anders sind die 80 Prozent auch es uns doch ehrlich zugeben: Wer von uns in diesem
nicht zu erklären. Für diese bedeutet die Erhöhung des Haus kann sich vorstellen, im Alter mit einer Rente von
Renteneintrittsalters nichts anderes als eine Rentenkür- 500 bis 1 200 Euro auszukommen? Der Zorn vieler
zung. Menschen, Frau von der Leyen – das richtet sich an uns
alle –, rührt doch daher, dass die faktische Rentenkür-
Frau von der Leyen, ich frage Sie: Wissen Sie eigent- zung – dies bedeutet das, was Sie durchsetzen wollen,
lich, was Rentner an Renteneinkommen haben? Von für viele – von Menschen gefordert und beschlossen
den 20 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in wird, die niemals auch nur annähernd in die Lage kom-
Deutschland beziehen über 16 Millionen eine Rente aus men, im Alter mit einem so geringen Renteneinkommen
der gesetzlichen Rentenversicherung und leben aus- auskommen zu müssen. Das ärgert die Menschen.
schließlich von dieser. Sehr viele dieser 16 Millionen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Rentnerinnen und Rentner beziehen eine Rente von
500 bis 1 000 Euro im Monat. In Ostdeutschland sind es Deshalb, Frau von der Leyen, müssen wir uns die De-
mehr als 50 Prozent der Männer, die nicht mehr als batte um die Rente mit 67, die ich nicht bestreite und von
500 bis 1 000 Euro Rente ausschließlich aus der gesetz- der wir sagen, dass die Entscheidung richtig war,
lichen Rentenversicherung bekommen. Diesen Prozent-
(Zuruf von der LINKEN: Nein, das ist eine fal-
satz sollte man sich merken, finde ich. In Westdeutsch-
sche Entscheidung!)
land sind es 65 Prozent der Männer und 97 Prozent der
Frauen, deren gesetzlicher Rentenanspruch unter schwerer machen, als Sie es derzeit tun. Es wird nämlich
1 200 Euro im Monat liegt. in Zukunft mehr Menschen mit geringen Renten geben.
Denn Armutslöhne schaffen auch Armutsrenten. Des-
(Elke Ferner [SPD]: So ist das!) halb brauchen wir endlich einen gesetzlichen Mindest-
lohn für alle. Das ist entscheidend.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Kollege Gabriel, lassen Sie eine Zwischenfrage der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
des Kollegen Lehrieder zu? GRÜNEN)
Sie verweigern den gesetzlichen Mindestlohn. In unse-
Sigmar Gabriel (SPD): rem Land arbeiten mehr als 6 Millionen Menschen für we-
Ja, natürlich. niger als 8 Euro brutto pro Stunde. Minilöhne produzieren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8505
Sigmar Gabriel
(A) Minirenten. Armutslöhne produzieren Armutsrenten. Wis- besonders groß zu sein. Das müssen wir angehen, aber (C)
sen Sie, Frau von der Leyen, welcher Rentenanspruch sich nicht die leichte Flucht in die Zuwanderung.
aus 45 Arbeitsjahren bei einem Bruttostundenlohn von
8 Euro ergibt? Das sind 558 Euro. Wenn Sie dagegen (Beifall bei der SPD)
nichts unternehmen, dann müssen die Menschen zornig Meine Damen und Herren, das Gesetz fordert nicht
auf die Barrikaden gehen, wenn sie hören, dass ihnen nur, den Arbeitsmarkt zu betrachten, sondern es will
diese Rente auch noch gekürzt werden soll. auch wissen, ob das sozialpolitisch vertretbar ist. Frau
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von der Leyen, Sie haben in Ihrem Bericht kein Wort
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) über Menschen verloren, die beruflich schwere und
schwerbelastende Arbeit leisten und das Renteneintritts-
Sie müssen Mindestlöhne einführen, damit die Men- alter von 65 oder 67 gar nicht erreichen können. Dies gilt
schen damit auskommen können. beispielsweise für Schichtarbeiter, Krankenschwestern,
Das gilt übrigens auch für das Prinzip „Gleicher Lohn Altenpfleger, Kraftfahrer, Handwerksgesellen und Fach-
für gleiche Arbeit“ in der Leiharbeit, und zwar ohne jede arbeiter.
Ausnahme und ohne jedes Schlupfloch, Frau von der Frau von der Leyen, das sind keine Einzelfälle. Nur
Leyen, nicht so, wie Sie es gerade mit der Scheingesetz- 3,9 Prozent aller Frauen und nur knapp 10 Prozent aller
gebung versuchen. Wenn sich Leistung im Arbeitsleben Männer gehen aus sozialversicherungspflichtiger Be-
wie in der Rente lohnen soll, dann müssen wir in schäftigung abschlagsfrei in die Altersrente. Mehr schaf-
Deutschland erst einmal Recht und Ordnung auf dem fen das gar nicht. Das ist nicht die Ausnahme, sondern
Arbeitsmarkt schaffen. Das wäre Ihre Aufgabe, Frau von das ist die Regel, Frau von der Leyen.
der Leyen, statt statistische Tricks vorzuhalten.
Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie solche Le-
(Beifall bei der SPD) bensverhältnisse von Altenpflegern, Krankenschwes-
Viele von denen, die trotz eines sehr langen Arbeitsle- tern, Facharbeitern und Schichtarbeitern nicht kennen.
bens von 45 Jahren nur einen Rentenanspruch von Ein bisschen mehr Empathie für diejenigen, denen Sie
500 bis 1 200 Euro haben, müssen bereits heute Renten- nur die Rente kürzen wollen und denen Sie keinerlei
kürzungen hinnehmen; denn sie schaffen es gar nicht, Chance geben, das erhöhte Renteneintrittsalter über-
bis 65 zu arbeiten. haupt zu erreichen, müssen Sie aber schon entwickeln.
(Zuruf von der LINKEN: 117 Euro im (Beifall bei der SPD)
Schnitt!)
(B) Wenn Sie denen jetzt noch einmal die Rente kürzen wol- Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
len, ohne ihnen Angebote zu machen, wie sie, weil sie Herr Kollege Gabriel, darf Herr Kollege Hinsken Ih-
nicht mehr arbeiten können, ohne zusätzliche Rentenab- nen eine Frage stellen?
schläge in Rente gehen können, dann ist das genau der
Zynismus in der Politik, den die Menschen in Deutsch- Sigmar Gabriel (SPD):
land inzwischen abscheulich finden. Nein.
Das Gesetz fordert uns auf, die Wirklichkeit zu be- Meine Damen und Herren, damit Sie besser verstehen
trachten. Deshalb ist es ein gutes Gesetz. Das Gesetz können, warum wir uns als Sozialdemokraten schwer-
sagt uns: Tut genug dafür, dass Menschen wirklich län- tun, mit der Rente mit 67 einfach loszulegen, will ich Ih-
ger arbeiten können. Deshalb enthält es die Forderung, nen ein Beispiel erzählen.
den Arbeitsmarkt zu betrachten, bevor man handelt. Sie
machen das genaue Gegenteil: Sie kürzen im Bundes- (Max Straubinger [CDU/CSU]:
haushalt die Mittel für die Qualifizierung von Arbeitslo- Davonstehlen!)
sen – auch von älteren Arbeitslosen – um 1,3 Milliarden – Ich weiß nicht, ob Sie anders als Ihr Kollege zugehört
Euro. Statt sie zu qualifizieren, kürzen Sie bei der Quali- haben. Wir versuchen, einen Blick auf die Wirklichkeit
fizierung. zu werfen, wie es das Gesetz fordert. Herr Kollege, Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ignorieren das Gesetz.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Frau von der Leyen, Sie gehören zu denjenigen, die in
Frau von der Leyen, ich erzähle Ihnen einmal ein
der Diskussion über den Fachkräftebedarf der Zuwan-
praktisches Beispiel, damit Sie unsere Empathie verste-
derung aus dem Ausland das Wort reden. Ich sage Ihnen:
hen können. Gerda Küchler ist 55 Jahre alt und Pflege-
Sie kassieren den Druck, von dem Sie sagen, dass die
kraft in München. Mit 16 Jahren hat sie ihre Ausbildung
Arbeitgeber ihn spüren müssen, damit sie Ältere einstel-
begonnen und ist in den Beruf gegangen. Sie hat
len, wieder ein. Das kann doch nicht wahr sein.
30 Jahre lang in der Pflege gearbeitet. Als das Kind da
Solange wir 70 000 Schüler ohne einen vernünftigen war, hat sie überwiegend Nachtschichten gemacht. Das
Abschluss entlassen, solange der Anteil der Arbeitslosen ist ein harter Job. Gelenke und Wirbelsäule sind geschä-
und der Älteren steigt, solange Frauen keine vernünfti- digt aufgrund der Belastungen durch viele Erkrankun-
gen Erwerbschancen haben, wenn sie Kinder haben, so gen, ganz zu schweigen von den Belastungen durch die
lange scheint der Fachkräftebedarf in Deutschland nicht Patienten.
8506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Sigmar Gabriel
(A) Gerda Küchler hatte Glück. Im Alter von 55 Jahren (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (C)
muss sie nicht mehr in der Pflege arbeiten. Sie ist jetzt bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
im Seniorenzentrum tätig. Sie sagt, für sie sei das der GRÜNEN)
Himmel auf Erden. Sie sagt aber auch, solche Stellen
seien ganz selten und man müsse Glück haben und Fach- Erstens. Wir wollen die Erwerbsminderungsrente aus-
kraft sein. bauen. Wir wollen flexible Übergänge und Regelungen
für all diejenigen schaffen, die heute noch nicht einmal
Für die meisten ist das unerreichbar. Wer nicht Fach- bis 64 oder 65 arbeiten können. Zweitens wollen wir da-
kraft ist, sondern Pflegehilfskraft – Sie wissen das, Frau für sorgen, dass Armutslöhne verschwinden, Frau von
von der Leyen –, der hat keine Chance. Im Übrigen der Leyen, und sich Arbeit wieder lohnt. Sozial ist nicht,
schafft die Bundesregierung gerade ihre Chancen auf was Arbeit schafft. Sozial ist vielmehr, was Arbeit
Qualifizierung ab. schafft, von der man leben kann, und zwar auch im Al-
ter.
Gerda Küchler sagt weiter: Die wenigsten Pflege-
kräfte schaffen es, bis 60 zu arbeiten. Wer älter ist, muss (Beifall bei der SPD)
das Gleiche leisten wie die Jüngeren. Der Normalfall ist
Drittens wollen wir mehr für die Beschäftigung älterer
die Erwerbsminderungsrente.
Arbeitnehmer tun. Sie machen das Gegenteil. Das sind
Gerda Küchler wird mit 65 einen Rentenanspruch von die drei Voraussetzungen, die wir für die Rente mit 67
1 100 Euro haben. Das ist nicht sehr viel nach einem lan- schaffen müssen. Das fordert das Gesetz.
gen Arbeitsleben. Wenn sie mit 63 in Rente gehen muss,
Übrigens gibt es andere, die uns dabei helfen, zum
hat sie Abschläge von 80 Euro hinzunehmen. Wird das
Beispiel die Tarifpartner. Die IG BCE hat einen ersten
gemacht, was Sie sagen, ohne ihr ein Angebot zu ma-
Demografietarifvertrag geschlossen. Gesetzliche Rente,
chen, dann verdoppelt sich der Abschlag.
private Vorsorge, betriebliche Renten und Tarifverträge
Mathematisch gesehen und mit Blick auf die Renten- müssen zusammen dafür sorgen, dass die Probleme ge-
versicherung sind die Abschläge sicher sinnvoll. Für die löst werden können. Solange wir das nicht getan haben,
meisten von uns, die hier sitzen, und auch für diejenigen, solange kann die Rente mit 67 nicht in Kraft treten. So
die darüber schreiben, wäre ein Abschlag von 80 Euro will es das Gesetz, Frau von der Leyen, und so wollen es
oder 160 Euro noch nicht einmal die Welt. Frau von der auch wir Sozialdemokraten.
Leyen, für diejenigen aber, die sich ihr Leben lang im (Anhaltender Beifall bei der SPD)
wahrsten Sinne des Wortes krumm gemacht haben und
sowieso schon wenig verdienen, sind 80 Euro oder
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(B) 160 Euro pro Monat ein sehr großer Unterschied. Um (D)
diese Menschen geht es, meine Damen und Herren. Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Hinsken
das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Offensichtlich plagt Sie Ihr schlechtes Gewissen; Ernst Hinsken (CDU/CSU):
denn anders könnte man sich einige Ihrer Anzeigen nicht Herr Kollege Gabriel, da Sie meine Zwischenfrage
erklären. Sie schreiben beispielsweise in einer Anzeige, nicht zugelassen haben, habe ich mich zu einer Kurzin-
die im Weser Kurier erschienen ist: „Wer heute 47 Jahre tervention gemeldet. Ich frage Sie: Haben Sie die Rede,
oder älter ist, muss gar nicht oder nur wenige Monate die Sie gerade gehalten haben, mit Ihrem Vorgänger im
länger arbeiten.“ Amt des Parteivorsitzenden, dem ehemaligen Arbeitsmi-
nister Müntefering, abgestimmt und, wenn nicht, warum
Damit wollen Sie den Leuten sagen: Beruhigt euch.
nicht? Des Weiteren ist mir sehr wohl aufgefallen, dass
Wer 47 Jahre oder älter ist, den trifft das alles gar nicht.
sich Herr Müntefering des Beifalls nach Ihrer Rede ent-
(Elke Ferner [SPD]: Falsch!) halten hat. Er denkt wahrscheinlich ein bisschen anders
und teilt nicht die Meinung, die Sie hier dargelegt haben.
Ich weiß nicht, ob Sie klammheimlich das Gesetz ge- Es wäre angebracht, wenn Sie sich in diesem Fall im
ändert haben. Aber die Wahrheit ist, dass diejenigen, die Rahmen eines Privatissimums von Herrn Müntefering
heute 47 Jahre alt sind, bereits bis 66 Jahre und 10 Mo- unterweisen ließen.
nate arbeiten müssen, also fast bis 67.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ge-
nau so ist es! 20 Monate länger!)
Sigmar Gabriel (SPD):
Nun kann man sicherlich Rechenfehler machen; das ist Herr Kollege, der Kollege Müntefering sitzt hinten,
bei Ihrer Regierung nicht verwunderlich. glaube ich. Sie können gerne ein Privatissimum mit ihm
abhalten. Wir haben darüber in der SPD-Fraktion disku-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
tiert. Vielleicht haben Sie trotz des ganzen Zorns, der an-
Aber die Menschen in einem so zentralen Punkt mit An- scheinend bei Ihnen über meine Rede existiert, bemerkt
zeigen, die aus Steuergeldern finanziert sind, in die Irre (Lachen bei der CDU/CSU)
führen zu wollen, ist schon mehr als ein Tippfehler. Das
ist Ausdruck Ihres Wunsches, den Menschen etwas vor- – jedenfalls waren Ihre Ohren irgendwie ein bisschen
zumachen. verstopft; das liegt vielleicht am Schnee –, dass ich wört-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8507
Sigmar Gabriel
(A) lich gesagt habe: Das Gesetz ist ein gutes Gesetz. – Ich zungen haben, einen vernünftigen Rentenanspruch zu er- (C)
habe nicht das Gesetz kritisiert. Vielmehr werfe ich Ih- werben.
nen vor, dass Sie das Gesetz nicht einhalten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU)
Ich möchte noch auf andere Aspekte verweisen, die
Präsident Dr. Norbert Lammert: auch heute hier zur Debatte stehen und die erwähnt wer-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb den müssen; denn ich finde, dass die Entwicklung der
für die FDP-Fraktion. gesetzlichen Rentenversicherung in der jüngsten Ver-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gangenheit eine wirkliche Erfolgsgeschichte, geradezu
eine sensationelle Erfolgsgeschichte ist.
der CDU/CSU)
(Anton Schaaf [SPD]: Wegen der Kurzarbeit!)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Die gesetzliche Rentenversicherung hat die weltweite
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirtschafts- und Finanzkrise weitgehend unbeschadet
Herr Kollege Gabriel, wir halten das Gesetz ein und tun überstanden. Die Nachhaltigkeitsrücklage wächst von
genau das, was in § 154 SGB VI vorgeschrieben ist. Wir 10,8 Milliarden Euro auf fast 27 Milliarden Euro am
legen den jährlichen Rentenversicherungsbericht und Ende des Jahres 2014. Die Beiträge können ab dem
den Fortschrittsbericht zur Einführung der Rente mit 67 Jahre 2014 gesenkt werden. Trotzdem wird es in den
vor. Beides tun wir, und zwar auf eine sehr sachliche nächsten Jahren – selbst wenn die Dämpfungen bei der
Weise. Was Sie hier tun, Herr Kollege Gabriel, ist ein Rente nachgeholt werden – Jahr für Jahr Rentenerhöhun-
Stück weit beschämend für den angeblichen Opposi- gen für die Rentner in diesem Land geben. Das heißt, die
tionsführer in diesem Haus. Herr Gabriel, Sie können Bundesregierung ist in diesem magischen Dreieck gut
sich doch nicht ernsthaft hier hinstellen, nachdem die unterwegs. Ich sage Ihnen auch, wieso: weil wir es ge-
SPD bis vor einem Jahr über elf Jahre den Arbeitsminis- schafft haben, mit einer vernünftigen Politik für ein star-
ter in Deutschland gestellt hat, und sagen, es müssten erst kes Wachstum – es ist das stärkste in der EU – und für
einmal Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herge- eine geradezu sensationelle Entwicklung bei der Be-
stellt werden. Haben Sie oder Ihre Minister elf Jahre lang schäftigung in diesem Land zu sorgen. Die Zahlen sind
geschlafen? gerade erst vor zwei Tagen gekommen. Es gibt einen Re-
kord bei der sozialversicherungspflichten Beschäfti-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gung. Das bedeutet sprudelnde Beitragseinnahmen.
Es ist wirklich nicht so, dass wir in den zwölf Mona- Während die Prognose für das Jahr 2010 – Rechenergeb-
(B) (D)
ten Unordnung hätten schaffen können oder wollen. Wir nis der gesetzlichen Rentenversicherung – zu Beginn des
hatten vielmehr alle Hände voll mit den Baustellen zu Jahres noch gewesen ist, dass man mit einem Minus von
tun, die Sie uns hinterlassen haben. Ich nenne als Bei- 2 Milliarden Euro abschneidet, so können wir jetzt fest-
spiel die Jobcenter oder die Regelsätze für Hartz IV. stellen: Wir werden ein Plus von 1,3 Milliarden Euro ha-
ben. Das zeigt: Die Versicherten, also die Aktiven, die
(Widerspruch bei der SPD) Beiträge entrichten, und die Rentner: In diesem Lande
sitzen alle in einem Boot. Eine gute Rentenpolitik muss
Es ist doch unglaublich, welche Vorstellung Sie hier ab- vor allen Dingen die Entwicklung auf dem Arbeits-
geliefert haben. Das ist eines Oppositionsführers unwür- markt in unserem Land im Auge behalten, und genau
dig. das tun wir.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Das sieht man auch an dem konkreten Vorschlag, ei- der CDU/CSU)
nen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, womit alle
Auf diesem Weg wollen wir weiter voranschreiten.
Probleme gelöst seien und es keine Altersarmut in Ich glaube, dass die Entscheidungen, die wir treffen, mit
Deutschland mehr gebe. Wenige Sätze später rechnen Augenmaß getroffen werden. Ich möchte noch etwas zur
Sie in Ihrer Rede vor, dass selbst bei einem Mindestlohn Anhebung der Regelaltersgrenze sagen. Das Rentenein-
von 8 Euro und bei 45 Erwerbsjahren der Rentenan- trittsalter von 65 Jahren ist in der Kaiserzeit festgesetzt
spruch gerade einmal – ich habe es mir aufgeschrieben – worden, 1911 und 1916. Damals betrug die Lebenser-
558 Euro betragen würde. wartung 48 Jahre für Frauen und 45 Jahre für Männer.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen Die Lebenserwartung ist heute mindestens 30 Jahre hö-
sind wir auch für 10 Euro Mindestlohn!) her – und das bei ungleich besseren Arbeitsbedingungen.
Es gibt immer noch Schwierigkeiten in einzelnen Beru-
– Wenn Sie jetzt von 10 Euro sprechen – der Zwischen- fen – das bestreite ich nicht –, aber dagegen muss man
ruf kam gerade –, dann weise ich darauf hin, wie der ge- etwas tun. Das führt natürlich zu deutlich längeren Ren-
setzliche Mindestlohn wirkt. Der gesetzliche Mindest- tenbezugszeiten. Ich bin kein großer Anhänger der An-
lohn würde in ganz Deutschland einheitlich gelten, im hebung des fixen Renteneintrittsalters, aber es ist auch
Erzgebirge wie im Rhein-Main-Gebiet. Es fragt sich, nicht unvertretbar, in dieser Situation, vor allen Dingen
wie sich das auf den Arbeitsmarkt im Erzgebirge aus- angesichts der auf dem Arbeitsmarkt erzielten Fort-
wirkt, wie viele Jobs in Deutschland wegfallen und wie schritte, gerade was die Beschäftigung Älterer anbe-
viele Menschen dann ungleich schlechtere Vorausset- langt, über eine maßvolle Anhebung nachzudenken.
8508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Zum Schluss möchte ich Sie, Herr Gabriel, noch et- (Beifall bei der LINKEN) (C)
was fragen. Was hat sich die SPD eigentlich vorgestellt,
als sie damals dieses Gesetz mit dieser Überprüfungs- Betrachtet man nämlich die 60- bis 64-Jährigen, dann
klausel gemacht hat? Sowohl die Zahl der sozialversi- sind es nicht mehr 55,9 Prozent, die in Beschäftigung
cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse der 60- sind, sondern nur noch 38,4 Prozent. Frau von der
bis unter 65-Jährigen als auch die Zahl der Erwerbstäti- Leyen, selbst aus Ihrem eigenen Bericht geht aus
gen haben sich innerhalb weniger Jahre prozentual ver- Seite 35 hervor, dass dann, wenn man die eigentlich
doppelt. Es ist ein Riesenfortschritt, den wir erreicht ha- richtige Gruppe betrachtet, nämlich die der 64-Jährigen,
ben. Sie können sich doch heute nicht hier hinstellen und bei den Erwerbstätigen nur noch eine Quote von
sagen, Sie hätten sich alles viel besser vorgestellt. Nie- 22,3 Prozent besteht. Das heißt, fast 80 Prozent derjeni-
mand konnte erwarten, dass wir am Ende des Jahres gen haben keine Beschäftigung, die länger arbeiten sol-
2010 eine derart günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt len. Das ist der Skandal in unserem Land, liebe Kolle-
haben. Jetzt müssen Sie springen und zu dem stehen, ginnen und Kollegen.
was die SPD auf den Weg gebracht hat, als sie in Verant- (Beifall bei der LINKEN)
wortung war.
Ich sage Ihnen: Richtig wäre, nicht die Erwerbstäti-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig! Ja-
genquote zu betrachten, sondern die Quote derjenigen,
wohl!)
die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ha-
Wir sind bereit, uns dieser Verantwortung zu stellen. Es ben. Sie haben diese Gruppe in Ihrem Bericht dankens-
wäre schön, wenn auch Sie diesen Mut hätten. werterweise aufgeführt, und zwar auf der Seite 36. Dort
können wir feststellen, dass bei den sozialversicherungs-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. pflichtig Beschäftigten in der Altersgruppe, die gar nicht
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) relevant ist, nämlich in der Gruppe der 55- bis 64-Jähri-
gen, inzwischen eine Quote von 37 Prozent beschäftigt
ist. Bezieht man dies auf die Gruppe der 60- bis 64-Jäh-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
rigen, die auch eine falsche Gruppe darstellen, dann sind
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion es nur noch 16,6 Prozent. Es sind also weit über 80 Pro-
Die Linke. zent, die keine sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
(Beifall bei der LINKEN) gung haben.
Wenn man jetzt die einzig relevante Gruppe nimmt
Klaus Ernst (DIE LINKE): – ich sage auch gleich, warum das die einzig wirklich re-
(B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und levante Gruppe ist –, nämlich die Gruppe der 64-Jähri- (D)
Herren! Wir erleben hier eine Debatte, die insofern selt- gen, dann stellen wir fest, dass wir nur noch eine Be-
sam ist, als mit Quoten und mit Zahlen jongliert wird. schäftigtenquote von 9,9 Prozent haben. 90 Prozent der
Ich habe den Eindruck, hier wird einiges durcheinander sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der Alters-
gebracht. Ich will mit dem anfangen, was Frau von der gruppe der 64-Jährigen haben keinen Job mehr. Frau von
Leyen und leider auch Teile der Sozialdemokratie – die der Leyen, wenn Sie sagen: „Die sollen länger arbeiten“,
Grünen sowieso – als Argument dafür verwenden, dass muss ich entgegnen: Das geht nicht, weil in diesem Land
wir länger arbeiten könnten, und das ist die Erwerbstä- mit 65 keiner mehr eingestellt wird. Zeigen Sie mir zehn
tigenquote. Leute aus dieser Altersgruppe, die noch einen Job ge-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auch Beamte kriegt haben! Die gibt es nicht.
und Selbstständige!) (Beifall bei der LINKEN – Matthias W.
Man muss sich die Erwerbstätigenquote ansehen und Birkwald [DIE LINKE]: Auch diese Quote
fragen, was das eigentlich ist. Darin enthalten sind alle steht im Bericht!)
Erwerbstätigen, auch diejenigen, die überhaupt nichts Deshalb sagen wir: Das, was Sie vorlegen, ist voll-
mit der gesetzlichen Rentenversicherung zu tun haben. kommen neben der Spur. Was ist letztlich die Konse-
Darin enthalten sind Beamte und Selbstständige, und es quenz dessen, was Sie treiben? Die Konsequenz ist, dass
sind diejenigen enthalten, die nur eine Stunde in der Wo- Sie die Menschen mit höheren Abschlägen in die Rente
che beschäftigt sind. Es sind die Minijobber enthalten. schicken. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen.
Wenn man diese Quote heranzieht, dann stimmt es tat-
sächlich: In der Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen ist Ich habe eben ausgeführt, dass nur 9,9 Prozent eine
inzwischen eine Beschäftigtenquote von 55,9 Prozent er- sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben.
reicht; sie ist um 10,5 Prozent gestiegen. Diese Erwerbs- Wenn man es genau nimmt, dann ist selbst das noch die
tätigenquote ist aber nicht der richtige Maßstab bei die- falsche Gruppe. Man müsste nämlich eigentlich schauen,
ser Frage, und das verkennen Sie. wie viele von denen eine sozialversicherungspflichtige
(Beifall bei der LINKEN) Vollzeitbeschäftigung haben, wie viele tatsächlich noch
aus einer vollen Erwerbstätigkeit heraus in die Rente ge-
Ich möchte jetzt versuchen, Ihnen das noch einmal zu hen können. Die Quote derer, die im Alter von 64 Jahren
erläutern. Selbst wenn man bei dieser Erwerbstätigen- noch eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäf-
quote bleibt, ist die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen tigung haben, liegt bei 6,4 Prozent. Das sind weit unter
vollkommen falsch. 90 Prozent.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8509
Klaus Ernst
(A) Ich greife jetzt einzelne Berufsgruppen heraus, zuerst den Willen der Führung Ihrer Partei –, in dem es heißt (C)
die Maler und Lackierer. Hier liegt die Quote bei – ich darf zitieren –:
2,9 Prozent. Bei den Mechanikern liegt sie bei
2,8 Prozent. Bei den Bau- und Raumausstattern beträgt Und die Anhebung der Regelaltersgrenze in der ge-
sie nur 2,7 Prozent. Bei den Bäckern liegt sie bei nur setzlichen Rentenversicherung darf nicht zu einer
2,0 Prozent. Bei den berühmten Dachdeckern, Zimme- versteckten Rentenkürzung werden.
rern usw. liegt sie bei 1,6 Prozent. Für einen großen Teil, Das wurde sogar auf Ihrem Parteitag beschlossen. Sie
nämlich für die überwältigende Mehrheit der Menschen, aber machen genau das Gegenteil. Sie verordnen den
ist die Anhebung des Renteneintrittsalters nichts anderes Menschen nichts anderes als eine Rentenkürzung.
als eine gigantische Rentenkürzung um 7,2 Prozent.
Eines ist offensichtlich auch bei der SPD immer noch
(Beifall bei der LINKEN) nicht angekommen, und darüber ärgere ich mich auch:
Sigmar Gabriel, selbstverständlich wissen wir, dass de-
Besonders prekär ist übrigens die Lage der Frauen
mografische Veränderungen stattfinden.
– Frau von der Leyen, auch darauf möchte ich noch ein-
mal zu sprechen kommen –: Die Quote der sozialversi- (Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber schon mal
cherungspflichtig in Vollzeit beschäftigten Frauen liegt ein kleiner Erfolg!)
bei den 60- bis 64-Jährigen bei 10 Prozent und bei den
64-Jährigen bei 4 Prozent. Somit werden insbesondere Folgendes ist aber Fakt: Wir haben in diesem Land eine
Frauen von der Anhebung des Renteneintrittsalters be- durchschnittliche Wachstumsrate – ich will es noch ein-
troffen sein. mal sagen – von 1,4 Prozent jährlich. Das heißt, der Ku-
chen, der zu verteilen ist, wird größer, auch wenn es der
Frau von der Leyen, ich kann es nicht anders sagen: eine oder andere nicht wahrhaben will. Ich habe vorhin
Sie verschleiern mit Ihren Zahlen die Wahrheit. Warum? die Zahlen noch einmal beim Statistischen Bundesamt
Weil Sie auf die Gruppe der 64-jährigen sozialversiche- nachgelesen. Wir haben von 2008 bis 2030 – das ist die
rungspflichtig Beschäftigten in Ihrem Bericht überhaupt „gute“ Variante – 4,6 Millionen Menschen weniger in un-
nicht eingehen. Die Zahlen, die ich jetzt genannt habe, serem Land bzw. – das ist die „schlechtere“ Variante –
stammen aus einer Anfrage, die die Linken an Sie ge- 3 Millionen Menschen weniger, also weniger Menschen,
richtet haben; es sind somit Zahlen aus Ihrem Ministe- die sich von diesem Kuchen ernähren müssen. Wenn der
rium. Warum schreiben Sie in Ihrem Bericht nicht die Kuchen größer wird, Sigmar Gabriel, und weniger Men-
Wahrheit, sondern verschleiern sie? schen sich diesen Kuchen teilen müssen, dann werden
– das ist Volksschule Sauerland; da habe ich den Dreisatz
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Anton gelernt; wo ist denn Herr Müntefering? – die einzelnen
(B) Schaaf [SPD] und Dr. Wolfgang Strengmann- Kuchenstücke größer und nicht kleiner. Trotz demografi- (D)
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias scher Veränderungen können wir uns eine vernünftige
W. Birkwald [DIE LINKE]: Schön, schöner, Rente leisten.
geschönt! Das ist der Bericht!)
(Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Vertei-
Fakt ist, dass diese Abschläge – Herr Gabriel hat da- lungsfrage!)
rauf hingewiesen – bei dem Rentenniveau, das wir ha-
ben, für einen großen Teil der Menschen zu direkter Al- Frau von der Leyen, Sie haben vorhin die Gewerk-
tersarmut führen wird. Ich möchte darauf hinweisen, schaften angesprochen. Es ist allemal besser, die Renten-
dass zurzeit für mehr als 90 Prozent der Menschen das beiträge – das ist der Vorschlag, den der DGB-Vorsit-
Ergebnis Ihrer Anhebung des Renteneintrittsalters nichts zende gemacht hat – um 0,5 Prozentpunkte zu erhöhen.
anderes sein wird als eine Rentenkürzung. Bereits 1998 Das macht bei 0,25 Prozent, paritätisch finanziert, weni-
hatten 1,4 Prozent der Neurentner Abschläge zu ver- ger aus, als eine Maß Bier im Monat kostet. Ich habe noch
zeichnen. Selbst ohne Ihre Anhebung des Rentenein- niemanden gefunden, der wegen einer Maß Bier weniger
trittsalters hatten 2009 45 Prozent der Neurentner Ren- im Monat zwei Jahre länger arbeiten will.
tenabschläge hinzunehmen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Ich garantiere Ihnen: Diese Rentenabschläge werden (Beifall bei der LINKEN – Matthias W.
natürlich größer werden, wenn die Menschen vor dem Birkwald [DIE LINKE]: Und das alles erst ab
Erreichen des Renteneintrittsalters aus dem Erwerbsle- 2029 und nicht heute!)
ben aussteigen. Sie werden in einer Größenordnung auf-
treten, die viele Menschen direkt in die Altersarmut
führt. Mit Ihrer Rentenpolitik treiben Sie die Menschen Präsident Dr. Norbert Lammert:
in die Altersarmut. Das ist das, was diese Bundesregie- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Strengmann-
rung macht. Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
Birkwald [DIE LINKE]: Buh! – Anton Schaaf
DIE GRÜNEN):
[SPD]: Das stimmt!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Um auch noch einen Diskussionsbeitrag aus Ihren Debatte über Stuttgart 21 zeigt, dass wir in der Politik
Reihen zu bringen: Auf dem Bundesparteitag der CDU anders an Großprojekte herangehen müssen. Auch der
wurde ein Antrag verabschiedet – offensichtlich gegen Umbau der Rentenversicherung ist ein Großprojekt, bei
8510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) dem wir die Bevölkerung überzeugen und mitnehmen für aufgezeigt. Wir brauchen aber Lösungen – gerade für (C)
müssen, sonst wird die Politikverdrossenheit weiter an- diese Probleme.
steigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat gezeigt, was dazu sowie bei Abgeordneten der SPD)
als Erstes passieren muss: Die Zahlen und Fakten müs-
Die Mehrheit der Bevölkerung ist nämlich nach wie vor
sen offen und ehrlich auf den Tisch. Diesbezüglich hat
gegen die Rente mit 67. Die Menschen sind dagegen,
die Bundesregierung in ihrem Bericht „Aufbruch in die
weil sie echte Sorgen und Ängste haben. Für diese Sor-
altersgerechte Arbeitswelt“ eine große Chance verpasst.
gen und Ängste brauchen wir Antworten und keine Ju-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) belarien. Die Menschen haben Angst davor, dass sie
nicht so lange arbeiten können. Sie haben Angst davor,
Was nötig gewesen wäre, wären Prognosen über die zu-
dass ihre Rente gekürzt wird. Die Menschen haben
künftige Entwicklung am Arbeitsmarkt – Fehlanzeige.
Angst vor Altersarmut. Sie haben Angst davor, dass sie
Was aber vor allen Dingen auch nötig gewesen wäre
bis 67 arbeiten müssen, komme, was da wolle.
– Sigmar Gabriel hat gesagt, das steht so im Gesetz –,
wäre eine ehrliche Darstellung der sozialen und wirt- Wir nehmen diese Sorgen der Menschen sehr ernst und
schaftlichen Situation der Älteren heute. Das passt aber machen Vorschläge, was man da tun kann. Wir sagen: Die
nicht zu der Welt von Ursula von der Leyen. Wir haben Rente mit 67 wird nur dann akzeptiert werden, wenn ge-
gerade eben wieder erlebt, wie die rosarote Welt von währleistet ist, dass Menschen, die lange versichert sind,
„Ursula Poppins“, wie sie in der Frankfurter Rundschau nicht zum Sozialamt müssen, vorher ihr ganzes Alters-
vor kurzem bezeichnet wurde, aussieht: vermögen aufbrauchen und sich einer stigmatisierenden
Bedürftigkeitsprüfung unterziehen müssen. Wir schlagen
„Erfolg, Erfolg, wir sind erfolgreich,
deswegen eine Garantierente vor, die so ausgestaltet ist,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sind wir ja dass jemand nach 30 Versicherungsjahren eine Rente
auch!) über dem Grundsicherungsniveau erhält – vom Staat ga-
rantiert.
ich bin erfolgreich, ich bin die Gröößte“, tirilierte
sie noch ein letztes Mal und flog wie Mary Poppins (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
durch die Lüfte.
Wir sagen: Wer nicht mehr kann und erwerbsgemin-
So stand es in diesem Kommentar. Aber es ist nicht alles dert ist oder wer schwerbehindert ist, muss wie bisher
gut, Frau Ministerin. mit 63 ohne Abschläge in Rente gehen dürfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Wir sagen – wie übrigens auch der Sachverständigenrat –:
Kollegen Schlecht? Die Erwerbsminderungsrente muss insgesamt verbessert
werden. Wir sagen: Wer bereit ist, Abschläge in Kauf zu
nehmen, soll bereits ab 60 in Rente gehen dürfen und
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
nicht gezwungen sein, weiter arbeiten zu müssen. Wir sa-
DIE GRÜNEN):
gen: Es müssen fließende und selbstbestimmte Über-
Im Moment noch nicht, später vielleicht. Ich bin ja gänge in den Ruhestand geschaffen werden. Es soll mög-
jetzt auch bei der Ministerin und nicht bei den Linken. lich sein, ab 60 die Arbeitszeit zu reduzieren und eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Teilrente zu beziehen.
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Verzetteln Sie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hört sich
sich nicht! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE schon vernünftig an!)
LINKE]: Hätte ja auch gut gepasst, weil Sie zu
Stuttgart 21 was gesagt haben! – Zuruf von der Von all dem finden wir in dem Bericht der Bundesre-
CDU/CSU: Kommen Sie mal zur Sache!) gierung nichts. Und ich sage Ihnen, Frau Ministerin: So
werden Sie die Menschen nicht für sich und nicht für die
– Und auch keine Frage zu Stuttgart 21, nein. Rente mit 67 gewinnen können.
Aber es ist nicht alles gut, Frau Ministerin. Zwar stei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen die Erwerbsquoten und auch der Anteil der sozialver-
sicherungspflichtig Beschäftigten an den 60- bis 64-Jäh- Wie sagte Heiner Geißler? Die Zeit der Basta-Politik ist
rigen an, Herr Lehrieder, selbst in der Krise sogar relativ vorbei.
stark auf 23 Prozent. Aber der Anteil der sozialversiche-
Die Menschen machen sich aber auch Sorgen, ob ihre
rungspflichtig Beschäftigten an den 64-Jährigen – Herr
Rente in Zukunft noch bezahlbar ist, sie machen sich
Ernst hat das schon gesagt –, also in dem Jahr vor dem
Sorgen über die hohen Beiträge, die sie bezahlen müs-
Renteneintritt, ist im letzten Jahr sogar gesunken. Der
sen, und sie machen sich Sorgen, dass die Beiträge in der
Anteil der atypischen Beschäftigungen steigt. Der Anteil
Zukunft noch ansteigen.
der Arbeitslosengeld-II-Bezieher bei den Älteren steigt.
Das alles sind Zahlen, die in Ihrem Bericht vorkommen, Was wir deshalb auch brauchen, ist eine nachhaltige
die Sie aber überhaupt nicht problematisieren, weil es Finanzierung der Rente. Wir wollen dazu die Rente zu
nicht in Ihre rosarote Welt und die der Regierung passt. einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, für die
Schon gar nicht werden in diesem Bericht Lösungen da- alle auf alle Einkommen einzahlen, auch wir Politikerin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8511
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) nen und Politiker – eine für alle, auch bei der Rente. Das Die meisten Menschen würden gerne länger arbeiten, (C)
stabilisiert die Finanzierung der Rentenversicherung und wenn sie denn könnten. Wenn die Bedingungen aber
erhöht gleichzeitig die Solidarität. nicht so sind, dann müssen wir sie ändern: So gehen wir
Grüne an Probleme heran.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr stabil!)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Wir halten aber darüber hinaus die Rente mit 67 für DIE GRÜNEN)
notwendig, weil dadurch die Beiträge noch geringer sein
können und das Rentenniveau höher. Höher, Herr Ernst! Die Arbeitsbedingungen müssen nicht nur für die Äl-
teren geändert werden: Wenn die Rente mit 67 ab 2031
Ich will Ihnen das an Ihrem Kuchenbeispiel verdeutli- – darum geht es – für möglichst viele Menschen erreich-
chen, das ich im Übrigen gar nicht so schlecht finde. bar sein soll, müssen wir auch die Arbeitsbedingungen
Wenn die Regelaltersgrenze bei 67 und nicht bei 65 liegt, der Jüngeren ändern. Wir brauchen eine Kampagne für
gibt es weniger Rentnerinnen und Rentner. Einverstan- eine umfassende Humanisierung der Arbeitswelt; damit
den? – Gut. Auf der anderen Seite gibt es mehr Beitrags- müssen wir sofort anfangen. Dabei sind wir alle gefor-
zahlerinnen und Beitragszahler. Das heißt, der gesamte dert: Unternehmen, Gewerkschaften, Arbeitnehmerin-
Rentenkuchen wird zumindest nicht kleiner, sondern eher nen und Arbeitnehmer, natürlich auch die Politik. Die
größer. Herr Ernst, was ist denn mit den einzelnen Stü- Maßnahmen, die im Bericht der Bundesregierung ge-
cken, wenn dieser Kuchen auf weniger Rentnerinnen und nannt werden, reichen hier bei weitem nicht aus.
Rentner verteilt wird:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir Grüne nehmen diese Herausforderungen ernst und
NEN]: Sie werden größer!) werden uns darum kümmern, die Voraussetzungen für die
Werden die Stücke dann kleiner oder größer? – Sie wer- Anhebung der Regelaltersgrenze zu schaffen, für mehr
den größer. Das heißt, mit der Rente mit 67 werden die Beschäftigung von Älteren, um Rentenkürzungen zu ver-
Rentenkuchenstücke für die einzelnen Rentnerinnen und meiden, für bessere Arbeitsbedingungen, für eine Flexi-
Rentner größer; das Rentenniveau steigt. Wir sind des- bilisierung des Renteneintrittsalters und für eine Garan-
wegen gegen die Abschaffung der Rente mit 67. tierente, um Altersarmut zu verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
SES 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dingen] [CDU/CSU]: Genauso ist es! – Weite-
(B) rer Zuruf von der CDU/CSU: Da hat er recht!) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Auch die Aussetzung der Rente mit 67, wie sie die Der Kollege Schlecht erhält die Möglichkeit zu einer
SPD vorschlägt, finden wir nicht überzeugend. Ich gebe Kurzintervention.
zu, dass wir darüber diskutiert haben; denn auch wir sind
der Meinung, dass die Voraussetzungen für die Rente Michael Schlecht (DIE LINKE):
mit 67 heute noch nicht gegeben sind. Herr Strengmann-Kuhn, ich muss zunächst einmal
mit Bedauern feststellen, dass Sie und die Grünen bei
(Anton Schaaf [SPD]: Aber in zwei Jahren?) der Frage der Rente mit 67 weiterhin programmatisch so
Es geht aber nicht um die Rente mit 67 heute, sondern nah bei der CDU/CSU und der Regierungskoalition ste-
im Jahr 2031. Das entscheidende Argument gegen eine hen, dass dazwischen im Grunde genommen kein Blatt
Aussetzung war für uns, dass eine Aussetzung von vie- Papier passt. Hier ist selbst die SPD mit der von ihr vor-
len – Herr Gabriel und Herr Schaaf, nicht von Ihnen – geschlagenen homöopathischen Modifikation weiter. Es
als Einstieg in den Ausstieg aus der Anhebung der Re- gäbe aber sehr wohl eine Alternative zur Rente mit 67;
gelaltersgrenze verstanden würde. Das halten wir für fa- das ist in den letzten Wochen selbst von der Arbeitsmi-
tal, weil es zu einer Selffulfilling Prophecy werden kann: nisterin konzediert worden. Die Alternative heißt: um
Der Druck, die Voraussetzungen für die Rente mit 67 zu 0,5 Prozentpunkte höhere Beitragssätze in der Renten-
schaffen, wird verringert. versicherung bis zum Jahr 2029. Man müsste also die
Beiträge in einer zaghaften Stufung bis zum Jahre 2029
Eine wichtige Voraussetzung für die Anhebung der hochfahren.
Altersgrenze ist ein veränderter Arbeitsmarkt. Wir hal-
ten es für ein wichtiges Signal insbesondere an die Un- Ich habe mich vorhin gemeldet, um eine Zwischen-
ternehmen, dass die Rente mit 67 kommen wird, damit frage zu stellen, als Sie Ihre Ausführungen mit dem Satz
sich die Unternehmen endlich darum kümmern, mehr begonnen haben:
Arbeitsplätze für Ältere zu schaffen. Vor allen Dingen Die Debatte über Stuttgart 21 zeigt, dass wir in der
müssen sich die Unternehmen darum kümmern, die Ar- Politik anders an Großprojekte herangehen müssen.
beitsplätze so zu gestalten, dass die Menschen wirklich
länger und gesünder arbeiten können. Es ist interessant, dass die Grünen das anscheinend erst
bei Stuttgart 21 gelernt haben. Der veränderte Umgang
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann sich doch nicht nur in der Kommunikation zeigen;
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und entscheidend ist es, die Menschen zu beteiligen. Bei vie-
des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) len anderen Dingen sind Sie, die Grünen, dafür, dass man
8512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Michael Schlecht
(A) Volksabstimmungen oder Volksbefragungen durchführt. – Natürlich gilt das nur für diejenigen, die so lange ar- (C)
Die Frage ist eigentlich: Wären die Grünen nicht dazu be- beiten.
reit, sich dafür starkzumachen, eine Volksbefragung oder
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Volksabstimmung – das müsste man juristisch prüfen –
Richtig!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das müssen wir in der Tat ermöglichen; da müssen
NEN]: Oh! Das geht schief!) wir ran. Wir müssen ermöglichen, dass die Leute länger
zu der Frage durchzuführen, ob die Menschen ab 2029 arbeiten können, und wir müssen dafür sorgen, dass die-
zwei Jahre länger arbeiten wollen oder sie bereit sind, ab jenigen, die nicht länger arbeiten können, eine vernünf-
2029 einen um 0,5 Prozentpunkte höheren Rentenversi- tige Rente bekommen.
cherungsbeitrag zu zahlen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das bringt uns
des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
alles nicht weiter, was Sie da fabulieren!)
Natürlich ist richtig, dass es auch auf die Verteilung
Das ist doch eine sehr einfache Frage, die man auf einem der Renten ankommt. Da müssen wir ran, und da unter-
Stimmzettel unterbringen kann. scheiden wir uns massiv von der CDU und der CSU.
Wären Sie bereit, sich für ein solches Projekt starkzu- Was Volksabstimmungen angeht, sind wir natürlich
machen? Ich würde das begrüßen. sofort dafür. Dann führen wir aber auch eine breite De-
batte darüber, wie hoch die Beitragssätze und wie hoch
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
die Renten im Jahr 2031 tatsächlich sein werden. Wir ha-
FDP: Generationengerecht ist der Vorschlag
ben davor überhaupt keine Angst.
nicht!)
(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Reden Sie
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ hier doch nicht rum! Ja oder nein?)
DIE GRÜNEN): Sie verweisen immer wieder auf Umfragen. Wenn die
Herr Kollege Schlecht, ich weise mit Abscheu und Umfrage nur auf Ja oder Nein abzielt, dann bekommt
Empörung zurück, dass in dieser Frage zwischen CDU/ man klare Ergebnisse. Sobald man differenzierter fragt,
CSU und uns kein Blatt Papier passt. zum Beispiel: „Wären Sie auch unter bestimmten Bedin-
gungen für die Rente mit 67?“, sehen die Umfrageergeb-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nisse schon ganz anders aus.
(B) SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton (D)
Schaaf [SPD]) (Zuruf von der LINKEN: Aber wir fragen die
Menschen!)
Wenn Sie bei meiner Rede vernünftig zugehört haben
und in unseren Antrag schauen, wissen Sie, was wir Wir haben keine Angst vor Volksabstimmungen, im Ge-
noch alles tun müssen und wollen, um die Anhebung der genteil.
Regelaltersgrenze zu ermöglichen. In dieser Hinsicht tut (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Bundesregierung fast nichts; da gibt es also große
Unterschiede zwischen uns. Es gibt aber sehr große Präsident Dr. Norbert Lammert:
Übereinstimmungen beispielsweise mit dem Inhalt des Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
Antrags der SPD. für die CDU/CSU-Fraktion.
Noch einmal zu der Frage, was die Konsequenzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind, wenn die Rente mit 67 kommt. Zum einen sinken
die Beitragssätze. Sie würden nicht sinken, wenn man Karl Schiewerling (CDU/CSU):
das Rentenalter nicht auf 67 Jahre anheben würde. Zum
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
anderen steigt die Rente. Wenn Sie in den Rentenversi-
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strengmann-
cherungsbericht schauen, sehen Sie hinten das Gutach-
Kuhn, ich wäre sehr gespannt, wie ein moderiertes Ren-
ten des Sozialbeirats; es ist aber auch so relativ einfach
tenzukunftsprojekt analog Stuttgart 21 aussähe.
zu berechnen. Wenn die Menschen zwei Jahre länger ar-
beiten, zahlen sie auch zwei Jahre länger in die Renten- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
kasse ein. Die Rente steigt dadurch um über 50 Euro. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können ja Heiner
Geißler fragen!)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
nur für die, die Arbeit haben!) Das hätte aber zur Konsequenz, dass Sie dann auch den
Schlichterspruch annehmen müssten.
Das heißt, es ist nicht nur so, dass die Beiträge sinken,
sondern die Rente erhöht sich. Ich habe das an einem (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Beispiel deutlich gemacht. der FDP)
Das gilt für alle anderen auch.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das
gilt nur für diejenigen, die so lange arbeiten! Meine Damen und Herren, die Zahlen, die uns mit
Aber was ist mit denen, die nicht arbeiten?) dem Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8513
Karl Schiewerling
(A) und dem Bericht zur Rente mit 67 vorgelegt worden men. Wir nehmen das erst ernst, seitdem weniger Kinder (C)
sind, sprechen eine nüchterne Sprache. Bis 2029 werden im Kindergarten sind, weil wir zu wenig Kinder haben.
wir in Deutschland 6 Millionen Menschen weniger im Wir nehmen es sehr ernst, seitdem wir merken, dass in
erwerbsfähigen Alter haben. Wir werden 5,5 Millionen den Grundschulen weniger Kinder sind. Erst jetzt wer-
Menschen mehr haben, die älter als 65 Jahre sind. Die den wir wach. Gott behüte, dass uns dasselbe im
Rentenbezugsdauer wird um zwei bis drei Jahre gestie- Jahr 2029 passiert, weil wir die Weichen nicht rechtzei-
gen sein. Der drohende Fachkräftemangel ist damit si- tig gestellt haben, weil wir nicht sehen wollten, wohin
gnifikant. Das ist uns allen längst geläufig. Wir in der sich das Ganze entwickelt. Wir können machen, was wir
Politik haben die Aufgabe, dies zur Kenntnis zu nehmen wollen: Die demografische Entwicklung ist nicht um-
und uns die Welt nicht so bunt zu malen, wie wir sie kehrbar.
gerne hätten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert:
Lieber Kollege Schiewerling, darf der Kollege
Wir haben zusätzlich die Entwicklung, dass die Quote
Birkwald Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
der 60- bis 65-Jährigen, die im Erwerb sind, in den letz-
ten Jahren von 20 auf 41 Prozent gestiegen ist. Außer-
dem sind in den letzten fünf Jahren 1 Million mehr Men- Karl Schiewerling (CDU/CSU):
schen zwischen 55 und 65 Jahre in Beschäftigung. Ja.
Herr Kollege Gabriel, ich darf zitieren, was die SPD
zu § 154 SGB VI, zur sogenannten Überprüfungsklau- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sel, beantragt hat. In Ihrem Antrag steht – ich zitiere –: Bitte.
Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Kör-
perschaften vom Jahr 2010 an alle 4 Jahre über die Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitneh- Herr Kollege Schiewerling, erst einmal danke ich Ih-
mer zu berichten und eine Einschätzung darüber ab- nen, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Frau Ministe-
zugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze rin von der Leyen hat das vorhin leider nicht getan.
unter Berücksichtigung der Entwicklung der Ar-
beitsmarktlage Karl Schiewerling (CDU/CSU):
– die ist wahrhaftig nicht schlecht – Hätte ich vielleicht besser auch nicht getan!
sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint
und die getroffenen gesetzlichen Regelungen beste-
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
hen bleiben können.
Das spricht für sich.
Nach einer ganz wichtigen Klausel, die in dem Antrag
steht, muss dargelegt werden, dass zur Beibehaltung ei- Sie haben eben behauptet, Sie hätten einen präzisen
nes Sicherungsniveauziels – vor Steuern – von 46 Pro- Bericht vorgelegt. Deswegen möchte ich Sie bitten, mir
zent über das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung die Frage zu beantworten, warum ausgerechnet die
entsprechende Maßnahmen unter Wahrung der Beitrags- Beschäftigungsquoten der 64-Jährigen in dem Bericht
stabilität vorzuschlagen sind. nicht zu finden sind. Diese Zahlen gibt es. Wir haben sie
im Ministerium von Frau von der Leyen abgefragt. Da-
Die Bundesregierung hat nichts anderes getan, als bei ist herausgekommen, dass im März 2010 – das sind
dem zu entsprechen. Wir haben eine wirtschaftliche Pro- die neuesten Daten, die vorliegen – insgesamt nur
sperität, die die berechtigte Erwartung zulässt, dass wir 5,8 Prozent aller 64-Jährigen eine sozialversicherungs-
die Menschen länger in Beschäftigung halten können. pflichtige Vollzeitbeschäftigung haben. Bei den Frauen
Wir haben einen signifikanten Anstieg der Zahl der Älte- sind das nur mickrige 3,4 Prozent; bei den Männern sind
ren, die in Beschäftigung sind. Das reicht natürlich noch es 8,3 Prozent. Diese Werte sind im Vergleich zum
nicht aus; aber wir haben auch noch nicht das Jahr 2029. Jahr 2009 noch einmal gesunken. Sie sind nicht gestie-
Mit dem Jahr 2012 begeben wir uns ja erst auf den Weg. gen, sondern gesunken. Sie haben eben das Gegenteil
Ich halte das, was Sie damals beantragt haben, für behauptet.
völlig richtig. Deswegen haben wir das mitgetragen, und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war der Run
deswegen legen wir gemäß Ihrem Antrag einen sehr prä- auf die Altersteilzeit!)
zisen Bericht vor. Die Frau Ministerin hat ihn vorge-
stellt. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob es aus Ihrer
Sicht vertretbar ist, dass die große Mehrheit der heute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
64-Jährigen und derjenigen, die ihre Rente erst ab 67 be-
Mir liegt daran, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass ziehen sollen – das sind nicht die 47-Jährigen, sondern
wir aus der Geschichte lernen müssen. Vor 40 Jahren gab alle ab dem Jahrgang 1947 –, massive Rentenkürzungen
es Forscher, die deutlich gemacht haben, dass die demo- wird hinnehmen müssen. Die Rentenkürzung beträgt
grafische Entwicklung so verlaufen wird, wie sie nun schon heute im Durchschnitt 117 Euro pro Monat. Eine
verläuft. Damals haben wir das alle nicht ernst genom- ähnliche Summe ist für die Zukunft zu erwarten.
8514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Matthias W. Birkwald
(A) Ich möchte Sie ferner bitten, den Satz von Frau von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
der Leyen zu bewerten, den sie auf ihrer Pressekonfe- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das be-
renz gesagt hat: Entweder kürzt man die Renten, oder zweifle ich!)
man erhöht den Beitragssatz drastisch, oder aber wir ar-
beiten alle etwas länger. – Sind 7 Euro im Jahr 2029 Wir werden unser Ziel
„drastisch“, und sind zwei Jahre arbeiten „etwas län- (Abg. Michael Schlecht [DIE LINKE] meldet
ger“? Wenn Sie die Menschen fragen, kommt etwas an- sich zu einer Zwischenfrage)
deres dabei heraus. Was sagen Sie dazu?
– ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu; das reicht – na-
türlich nur durch gemeinsame Anstrengungen erreichen.
Karl Schiewerling (CDU/CSU): Auch das steht im Rentenbericht und wurde sehr präzise
Es hat eine Umfrage gegeben, in der die Menschen dargelegt. Dazu gehört, dass wir in der deutschen Ren-
gefragt wurden, ob sie für die Rente mit 67 sind. Ganz tenversicherung im erfolgreichen und hervorragenden
viele haben gesagt: Nein. Dann wurden sie gefragt, ob Bereich Reha nicht kürzen dürfen, sondern ihn weiter-
sie bereit sind, mehr Geld in die Rentenversicherung ein- entwickeln müssen. Das bedeutet, dass wir die Präven-
zuzahlen, um das Rentenniveau zu erhalten? Dazu waren tion, um länger und besser leben zu können, stärken
auch wenige bereit. Dann wurden sie drittens gefragt, ob müssen. Aber da sind nicht nur die Regierungen gefor-
sie eine Alternativlösung hätten. Die allergrößte Mehr- dert, sondern auch die Tarifpartner, die Betriebe. Auch
heit der Menschen hatte keine Alternativlösung parat. – jeder einzelne Arbeitnehmer muss sich mit seinem Ver-
Genau so ist die Diskussion, die wir im Augenblick erle- halten darauf einstellen. Auch das gehört zur Wahrheit,
ben. ob uns das passt oder nicht. Ich glaube, dass die Zahlen,
die jetzt vorliegen, hoffen lassen, dass sich die Dinge
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber vernünftig entwickeln.
da ist vielleicht die Politik gefordert! Es gibt
Alternativen!) Wir diskutieren nicht nur die Rente mit 67, sondern
auch den Rentenversicherungsbericht. Ich möchte darauf
Die Zahlen im Rentenbericht sind überprüfbar, ent- hinweisen, dass die Rente in einer außerordentlich guten
sprechen den statistischen Angaben und weisen alle da- Verfassung ist. 2005 hatten wir gerade noch eine Rück-
rauf hin, dass wir in einer positiven Entwicklung sind lage für drei Tage, mit der wir Renten hätten zahlen kön-
und dass wir es bis 2029 mit vereinten Kräften schaffen nen.
können, dass ganz viele Menschen das 67. Lebensjahr in
Arbeit erreichen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da war die SPD
dran!)
(B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die (D)
Zahlen sinken!) Wir haben jetzt eine Rentenrücklage von mehr als einer
Monatsausgabe. Wenn sich das Ganze weiter gut entwi-
– Herr Kollege Birkwald, wir können uns die Zahlen na- ckelt, werden wir die Rentenversicherungsbeiträge im
türlich zurechtlegen, wie sie uns politisch gerade passen. Jahr 2014 wieder senken können,
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Zahlen sind (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es spricht alles
doch nicht von uns!) dafür!)
Ich halte mich an die Zahlen, die vorgelegt worden sind. sodass sowohl Arbeitnehmer als auch Versicherte etwas
davon haben.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ich auch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie sind überprüfbar und statistisch so dargelegt.
Ich halte diese Gesamtentwicklung für hoffnungsvoll.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage Ihnen auch mit Blick auf die Rentnerinnen und
Rentner in Deutschland: Norbert Blüm hat gesagt, die
Was Ihre Frage angeht, Herr Kollege Birkwald, ist es Rente sei sicher. Ich sage Ihnen: Ja, die Rente ist sicher. –
in der Tat so – ich bin noch nicht fertig; Sie hatten mich Es mag Leute geben, die darüber lachen. Wir können das
das gefragt –: jetzige Rentenniveau aber nur halten, weil wir entspre-
chende Schutzmaßnahmen eingeführt haben, und zwar
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn man so
nicht erst jetzt, sondern seit 1992 durch verschiedene
viele Fragen stellt, muss man lange stehen
Bundesregierungen parteiübergreifend.
bleiben!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
Wir haben bei der Rente insgesamt nur drei Stellschrau-
ben. Entweder wir arbeiten länger, oder wir erhöhen die Der große Vorteil der Rente war, dass man diese Dinge
Rentenversicherungsbeiträge, oder wir senken das Ren- gemeinsam gestaltet hat.
tenniveau ab. Hinsichtlich der Frage, was das Humanere (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Früher war das
ist, eine niedrigere Rente oder ein höherer Rentenversi- noch so üblich! Heute macht sich die SPD aus
cherungsbeitrag, werden die allermeisten Menschen sa- dem Staub!)
gen, dass, wenn die Rahmenbedingungen im Betrieb
stimmen, sie bereit sein werden, länger zu arbeiten – und Ich lade alle herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen;
das tun sie schon. denn die Rentnerinnen und Rentner brauchen Sicherheit.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8515
Karl Schiewerling
(A) Wir werden aber die Botschaft ins Land geben müs- Die Ministerin sprach von Mut zur Nachhaltigkeit. (C)
sen: Die Rente wird nur so lange sicher sein, wie wir Ich kann Ihnen in Bezug auf das Verfahren, wie ich es
auch über die nächsten Generationen genügend Men- hier erlebe, sagen: Es geht Ihnen nicht um Nachhaltig-
schen haben, die in die Rentenkasse einzahlen und dafür keit. Vielmehr ist es ein Verfahren nach dem Motto: Plan
sorgen, dass die dann ältere Generation davon leben ist Plan. Wir haben es einmal beschlossen, wir denken
kann. Auch wird die Rente nur dann sicher sein, wenn nicht mehr darüber nach; wir ziehen es jetzt durch. –
wir uns gemeinsam auf diesen Prozess verständigen und Viele argumentieren jetzt mit der Finanzierung. Es geht
uns gemeinsam auf diesen Weg begeben. in der Tat um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte beim Beitrags-
satz. Es geht hier aber nicht um die Finanzierung, son-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dern um die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Diese
Zu dem Rentenbericht der Bundesregierung und den müssen wir herstellen und erhalten.
Initiativen der Bundesarbeitsministerin nenne ich nur
Wir brauchen eine verbesserte Erwerbsminderungs-
Stichworte: bessere Lebens- und Gesundheitssituation in
rente. Sie, meine Damen und Herren von der Union, ha-
den Betrieben, Stärkung von gesunder Arbeit in den Be-
ben in den Verhandlungen über die Rente mit 67 dafür
trieben. Diese Entwicklungen müssen fortgeführt wer-
gesorgt, dass die Regelungen der Erwerbsminderungs-
den; das ist keine Frage. Mit dem gesellschaftlichen
rente noch schlechter werden, dass man nicht mehr nach
Konsens und mit gemeinsamen Anstrengungen in dieser
35 Jahren, sondern erst nach 40 Jahren abschlagsfrei in
Richtung können wir einer guten Zukunft entgegense-
Erwerbsminderungsrente gehen kann.
hen. Das sagen wir der jetzigen Rentnergeneration, und
das sagen wir den zukünftigen Rentnergenerationen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr habt da
Dass das ein Zuckerschlecken wird, hat diese Bundesre- zugestimmt!)
gierung und haben übrigens auch frühere Bundesregie-
rungen nie behauptet. Es ist eine Kraftanstrengung, die Sie haben kein Interesse daran, dass die Menschen ihr
sich lohnt; denn es geht um die Generationengerechtig- gesetzliches Renteneintrittsalter in würdiger Arbeit er-
keit in unserem Land. reichen; Ihnen ist es egal. Herr Fuchtel, beantworten Sie
mir einmal folgende Frage: Was machen wir mit Lang-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zeitarbeitslosen, die jetzt gezwungen sind, mit 63 Jah-
ren Rente zu beantragen? Sie haben überhaupt keine
Präsident Dr. Norbert Lammert: Chance; sie sind dazu gezwungen. Ab dem Jahre 2012
Der Kollege Schaaf hat nun das Wort für die SPD- müssen sie die Abschläge nicht nur bis 65 hinnehmen,
Fraktion. sondern, Herr Strengmann-Kuhn, aufgrund der schritt-
weisen Erhöhung der Regelaltersgrenze auch darüber hi-
(B) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: naus. (D)
Schnell! Drei Minuten sind nicht lang!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Zwang hat
Anton Schaaf (SPD): die SPD eingeführt!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Die Menschen werden bestraft, obwohl sie nichts dafür
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier heute können, dass sie arbeitslos werden. Das müssen wir ver-
über § 154 SGB VI, weil die SPD-Bundestagsfraktion hindern.
im damaligen Gesetzgebungsverfahren darauf bestanden
hat, dass § 154, die Überprüfungsklausel, Bestandteil In der Analyse liegen Sie richtig. Aber da, wo es kon-
des Gesetzes wird. Wir berufen uns auf diesen Bestand- kret wird, wo es um Erwerbsminderungsrente, gleitende
teil des Gesetzes, und wir nehmen ihn ernst. Übergänge, würdige Arbeit und Vollzeiterwerbstätigkeit
bis zum Rentenalter geht, sagen Sie nicht konsequent,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Max dass man das in zwei Jahren nicht erreichen kann und
Straubinger [CDU/CSU]: Wir auch!) wir die Einführung der Rente mit 67 deswegen zumin-
Diese Überprüfungsklausel wurde trotz des massiven dest verschieben müssen. Darum geht es. Die Ministerin
Widerstands der Union ins Gesetz aufgenommen. Die sprach von Mut zur Nachhaltigkeit. Ich sage Ihnen: Sie
Union wollte diesen Teil in die Präambel oder die Be- haben nur nachhaltig Mut, wenn es darum geht, Arbeit-
gründung aufnehmen, aber nicht verpflichtend ins Ge- nehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und
setz. Rentner sowie Arbeitslose zu belasten. Das ist der Mut,
den Sie haben.
Ich habe nun gesehen, in welcher Art und Weise Sie
und insbesondere die Ministerin jetzt mit dem Bericht (Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/
umgegangen sind. Bevor der Bericht vorlag, sagte die CSU]: Ach je!)
Ministerin: Die Rente mit 67 kommt auf jeden Fall. Bevor
der Bericht vorlag, hat Staatssekretär Brauksiepe gesagt: Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Rente mit 67 kommt auf jeden Fall. Bevor das Parla- Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
ment, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die- die FDP-Fraktion.
sen Bericht in den Händen hatten, ist er veröffentlicht
worden. Da sieht man, wie ernst man die Berichtspflicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
gegenüber den Körperschaften des Deutschen Bundesta- der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
ges, die im Gesetz steht, nimmt. Jung und aufstrebend!)
8516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): – Ja. Aber es geht hier um die Entwicklung, Herr Schaaf. (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Danke für den Hinweis, dass ich noch etwas jünger bin,
Linken, handelt es sich dabei auch um gute Jobs. Die
lieber Kollege Kolb. Das ist auch ein interessanter
Quote der geringfügigen Beschäftigung, der Minijobs,
Punkt. Ich habe mir einmal die Geburtsjahre meiner ge-
ist stabil geblieben; diese Zahl ist nicht gestiegen.
schätzten Vorredner angeschaut und festgestellt, dass ich
von den Rednern in dieser Debatte der Erste bin, den die (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die ist
Rente mit 67 betreffen wird, der Erste, der bis 67 arbei- viel zu hoch!)
ten wird.
Ich glaube, wenn man ehrlich ist, kann man konstatie-
(Widerspruch bei der SPD sowie des Abg. ren – hören Sie bitte gut zu, gerade Sie, Herr Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Schaaf –: Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeits-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) markt verbessert sich, auch bei den Älteren. Es ist eine
– Herr Strengmann-Kuhn, ich entschuldige mich in aller Bewegung da, die in die richtige Richtung geht. Die
Form, dass ich Sie vergessen habe. Es betrifft also uns Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zukunftsfest zu
zwei; aber es betrifft nicht die bisherigen Redner von der machen und den Generationenvertrag fortzuführen. Des-
SPD. halb starten wir 2012 mit der schrittweisen Umsetzung
der Rente ab 67. – Das waren nicht meine Worte. Das
(Sigmar Gabriel [SPD]: Sagen Sie mal: In wel- waren Ihre Worte, liebe Kolleginnen und Kollegen von
che Rentenkasse zahlen Sie denn ein?) der SPD. Das haben Sie, Herr Schaaf, Herr Müntefering
und Frau Mast, im Plenum des Deutschen Bundestages
– Lieber Herr Gabriel, ich zahle freiwillig in die gesetzli-
gesagt, als die Rente mit 67 beschlossen wurde.
che Rentenversicherung ein.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört! An
(Unruhe)
ihren Worten sollt ihr sie erkennen! Und natür-
lich an ihren Taten!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen Augenblick! Das Thema ist hochspannend und Der Punkt ist doch: Damals war von einer 50-Prozent-
verdient jede Menge kräftiger Kommentare. Aber wenn Quote, die Ihnen heute so wichtig ist, keine Rede. Hand
sie alle gleichzeitig vorgetragen werden, erreicht nichts aufs Herz: Wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie genau, dass
davon die erstaunte deutsche Öffentlichkeit. Deswegen die Entwicklung seitdem besser ist, als Sie sich je erhof-
wäre es schön, wenn der Kollege Vogel jetzt ein paar fen konnten.
Sätze hintereinander ungestört vortragen dürfte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) (D)
der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Das ist wahr! Da beißt die Maus keinen Faden
Vielen Dank, Herr Präsident. ab! Da kann der Herr Gabriel hier noch so
lange am Rednerpult hin und her tänzeln! Das
Damit sind wir beim Punkt. Es geht nicht darum, wie ändert auch nichts!)
die Situation auf dem Arbeitsmarkt heute ist – die Rente
mit 67 wird ja nicht morgen eingeführt –, sondern es geht Damals haben Sie nicht davon geredet, dass 2012 eine
darum, ob die schrittweise Steigerung des Renteneintritts- 50-Prozent-Quote erfüllt sein muss. In Wahrheit ist das
alters angesichts der aktuellen Entwicklung möglich ist. Verzögerungstaktik. Im Fußball heißt das: ängstlich auf
Da kann ich nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen Halten spielen. Das hat mit dem Offensivgeist, den Sie
von der SPD: Wie Sie es drehen und wenden, die Ent- gerade bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme
wicklung bei der sozialversicherungspflichtigen Be- einmal hatten, nichts mehr zu tun.
schäftigung ist besser, als Sie sich je erhoffen konnten.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Offensiv in die
Bei den 55- bis 60-Jährigen nahm die Zahl der sozialver-
falsche Richtung! Das ist Ihre Politik!)
sicherungspflichtig Beschäftigten in den letzten fünf Jah-
ren um 35 Prozent zu – Ich kann nur feststellen: Die Unternehmer in Deutsch-
land sind auf dem richtigen Weg – ältere Arbeitnehmer
(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich
werden im Erwerbsleben besser anerkannt –, die Arbeit-
zu einer Zwischenfrage)
nehmerinnen und Arbeitnehmer sind auf dem richtigen
– nein, Herr Kollege Ernst, keine Zwischenfrage; Weg, und die Regierungskoalition ist auf dem richtigen
Weg zu einem vernünftigen, generationengerechten Ren-
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wie schade!)
tensystem.
es wurde gerade schon genug dazwischengebrüllt –, bei
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Rentenkürzung!)
den 60- bis 64-Jährigen sogar um 40 Prozent.
Auch Sie waren einmal auf diesem Weg. Sie sind aber
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aha! Auf wie viel
davon abgekommen. Sie haben sich verirrt. Davon wird
denn?)
sich die Regierungskoalition allerdings nicht beirren las-
– Sie können sich gerne zu einer Kurzintervention mel- sen. Wir setzen unsere generationengerechte Rentenpoli-
den. Ich antworte Ihnen dann gerne. tik fort.
(Anton Schaaf [SPD]: Ja! Auf 23,4 Prozent!) Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8517
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten SPD und Grüne sind im folgenden Bundestagswahl- (C)
der CDU/CSU) kampf dagegen vorgegangen
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wieder einmal
Präsident Dr. Norbert Lammert: war also der Kommunismus schuld!)
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für und haben verbreitet, es sei gar nicht notwendig, eine
die CDU/CSU-Fraktion. Antwort auf die demografische Entwicklung zu geben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben postuliert, den demografischen Faktor auszu-
neten der FDP) setzen. Das haben sie dann auch getan, allerdings mit der
Folge, dass die Rentenfinanzen, vor allen Dingen die
Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung, abge-
Max Straubinger (CDU/CSU): schmolzen sind; im Jahr 2005 sind sie bis auf null abge-
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! schmolzen.
Wir diskutieren heute über den Rentenversicherungsbe-
richt 2010 der Bundesregierung. Dieser Rentenversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! Auf
rungsbericht ist letztendlich ein Beweis für die gute Poli- Kante genäht war das!)
tik der Bundesregierung. Das war die Konsequenz der Politik, die Rot und Grün
(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD] – betrieben haben. SPD und Grüne haben damals eine ren-
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sozial- tenpolitische Geisterfahrt unternommen, zum Schaden
raub auf allen Ebenen!) der Bürgerinnen und Bürger und der Rentnerinnen und
Rentner.
Mit der wirtschaftlichen Entwicklung, die unter Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
kanzlerin Angela Merkel und den von ihr geführten Bun- Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
desregierungen eingetreten ist – das gilt für die Große Rentenpolitische Blindgänger sind das!)
Koalition, genauso aber auch für die christlich-liberale
Koalition –, ist die Gesundung der Rentenversicherung Es war daher sehr entscheidend – ich danke hier aus-
vorangeschritten. Es sind positive Ergebnisse zu ver- drücklich dem damaligen Bundesarbeitsminister Franz
zeichnen. Müntefering –, dass in der SPD wieder rentenpolitischer
Sachverstand zur Durchsetzung gebracht worden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Der Kollege Kolb und der Kollege Schiewerling ha-
Jetzt geht es um die Beibehaltung dieses rentenpoliti-
(B) ben bereits darauf hingewiesen, dass die Rücklagen der (D)
Rentenversicherung steigen und bis 2014 möglicher- schen Sachverstandes. Wir haben zu beurteilen, ob es so-
weise die Marke von 1,5 Monatsrenten erreichen, sodass zialpolitisch und wirtschaftlich sowie unter Arbeitsplatz-
eine Senkung des Rentenversicherungsbeitragssatzes in gesichtspunkten möglich ist, die Rente mit 67 bis zum
Aussicht gestellt werden kann. Dies ist letztendlich auf Jahr 2029 einzuführen. Die wirtschaftlichen Daten ge-
die gute wirtschaftliche Entwicklung und die Zunahme ben es her, die vermehrte Beschäftigung von älteren Ar-
der Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungs- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt es her. Auch
verhältnisse in unserem Land zurückzuführen. Eine fort- die Bewegungen am Arbeitsmarkt und die Überlegungen
schrittliche Sozialpolitik ist nur zu finanzieren, wenn wir in den Betrieben, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaf-
eine gute Wirtschaftspolitik betreiben. Darum haben wir fen, sind ein Beleg dafür, dass es verantwortbar ist, die-
uns in der Vergangenheit in der Großen Koalition be- sen Weg zu beschreiten. Die SPD möchte sich letztlich
müht, und darum bemühen wir uns auch jetzt in der nur klammheimlich von ihrem Beschluss davonstehlen
christlich-liberalen Koalition. und steht nicht mehr für eine verantwortungsvolle Ren-
tenpolitik für die Zukunft der Menschen in unserem
Ich glaube, heute ist es an der Zeit für einen kleinen Land.
Rückblick, wie die Situation in früheren Jahren war. Von
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
einem meiner Vorredner ist schon dargestellt worden,
dass in früheren Jahren zumindest die Rentenpolitik
fraktionsübergreifend betrieben worden ist. Diese frak- Präsident Dr. Norbert Lammert:
tionsübergreifende Zusammenarbeit wurde 1997/1998 Lieber Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi-
vom damaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine aufgege- schenfrage des Kollegen Ernst?
ben.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Die damalige christlich-liberale Regierung hat die de- Ja.
mografische Entwicklung bereits als große Herausforde-
rung verstanden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Bitte.
Unter Norbert Blüm wurde der demografische Faktor
in die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt. Klaus Ernst (DIE LINKE):
Herr Kollege, herzlichen Dank, dass Sie die Zwi-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!) schenfrage zulassen. – Ist Ihnen erstens bekannt, dass die
8518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Klaus Ernst
(A) Zahl der Arbeitslosen, die älter als 60 sind, von 42 000 Die Jungen sollen nur kräftig zahlen. Das ist die Politik (C)
in 2007 auf 91 000 im Jahr 2009 gestiegen ist? der Linken in unserem Land: nicht zukunftsgerichtet,
sondern nur daseinsbezogen für ihre ältere Kundschaft.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir hatten auch
eine Wirtschaftskrise!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:
Ist Ihnen zweitens bekannt, dass 36 Prozent der Betriebe Verdoppelung der Zahl der älteren Arbeitslo-
niemanden beschäftigen, der über 50 Jahre alt ist? Ist Ih- sen!)
nen drittens bekannt, dass in 44 Prozent der Betriebe
keine Weiterbildung stattfindet? – Es geht natürlich darum, dass wir zukünftig auch Ar-
beitsplätze für Ältere haben. Darin gebe ich Ihnen völlig
Haben Sie deshalb dafür Verständnis, dass viele Ar- recht. Ich bin aber überzeugt, dass wir hier auf einem gu-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sagen, das Gesetz ten Weg sind.
sei folgendermaßen zu vergleichen: „Man verabschiedet
Alle Tarifpartner, die Arbeitgeber, die Gewerkschaf-
ein Gesetz, dass die Menschen vom Dreimeterbrett ins
ten, strengen sich an, altersgerechte Arbeitsplätze in den
Wasser springen müssen, hat aber vergessen, das Gesetz
Betrieben zu schaffen. Das war in der Vergangenheit
so zu gestalten, dass im Becken Wasser sein muss“? Mo-
nicht notwendig, weil man immer sehr leicht Frühver-
mentan ist die Situation doch so, dass viele Menschen
rentungsmaßnahmen beschließen konnte, die für viele,
aufgrund der Situation, die sie vorfinden – im Jahr 2012
wenn das Geld gestimmt hat, natürlich eine Attraktion
soll die Rente mit 67 beginnen –, dafür überhaupt keine
waren. Früher in Rente zu gehen, ist natürlich immer an-
Möglichkeit sehen. Was sagen Sie dazu?
genehmer, als etwas länger arbeiten zu müssen.

Max Straubinger (CDU/CSU): Ich möchte aber durchaus noch feststellen: Es ist für
die Zukunft schon eine Herausforderung, die Rente für
Herr Kollege Ernst, erstens sind die Argumente, die erwerbsgeminderte Menschen zu gestalten. Das ist si-
Sie vortragen, falsch. cherlich eine Aufgabe, der auch wir als Koalition uns
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das widmen werden, weil ich der Überzeugung bin, dass die
sind Fakten!) Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen oder auf-
grund einer körperlichen Belastung nicht mehr arbeiten
Zweitens ist die Arbeitslosigkeit bei älteren Arbeitneh- können, eine Erwerbsminderungsrente erhalten müssen,
merinnen und Arbeitnehmern gestiegen, weil wir die durch die sie ihren Lebensunterhalt sichern können.
Möglichkeit des vorzeitigen Renteneintritts richtiger-
Ich möchte aber auch herausstellen, dass wir, die Große
(B) weise abgeschafft haben. Wir stehen auch für den Kündi- Koalition, bei dem Beschluss über die Rente mit 67 auch (D)
gungsschutz, der zum Segen der älteren Arbeitnehmerin-
eingeführt haben, dass jemand, der 45 Beitragsjahre oder
nen und Arbeitnehmer in den Betrieben besteht; das ist
gleichgestellte Zeiten in der Rentenversicherung nach-
eine zusätzliche Herausforderung für die Betriebe, vor al-
weisen kann, mit Vollendung des 65. Lebensjahres ab-
len Dingen wieder ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
schlagsfrei in Rente gehen kann.
nehmer einzustellen. Wir wenden uns zu Recht dagegen,
dies aufzuweichen, indem wir vermehrt zulassen sollen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dass ausländische Facharbeitskräfte in Deutschland ar- neten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE
beiten können. Das wäre eine falsche Antwort. LINKE]: Arbeitslosigkeit zählt da aber nicht
mit!)
Wir schaffen für die älteren Bürgerinnen und Bürger
Chancen, weiterhin in Arbeit zu sein, und wir wollen Auch das ist eine soziale Regelung für die ältere Genera-
dies nicht mit Belastungen für die Jüngeren verbinden, tion und insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger,
wie es letztlich die Linken mit ihrem Vorschlag der Bei- die sehr frühzeitig in das Arbeitsleben eintreten, also mit
tragserhöhung zur Rentenversicherung immer wieder in dem 16. Lebensjahr eine Lehre beginnen, und die ganze
die Diskussion bringen. Zeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
nachgehen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
7 Euro mehr in 2029!) Werte Damen und Herren, eines möchte ich noch fest-
stellen: Auch heute wurde wieder der Ruf nach einer
Ich kann verstehen, dass die Linken dies fordern. Bürgerversicherung laut. Das würde letztendlich aber
keine Entlastung für die Rentenversicherung hinsichtlich
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist nicht mehr der finanziellen und demografischen Herausforderungen
meine Frage!) bedeuten, weil jede Beitragszahlung in die Rentenversi-
Wenn ihre Parteimitglieder ein Durchschnittsalter von cherung unabhängig davon, ob sie ein Beamter, Ange-
70 aufweisen, dann ist völlig klar, dass denen ein ordent- stellter oder Arbeiter leistet, natürlich eine entspre-
licher Beitragsanstieg lieber ist. Sie selbst müssten ihn ja chende Rentenleistung nach sich ziehen muss. Deshalb
nicht mehr schultern; aber sie hätten dafür die schöne kann die Rentenversicherung mit einer sogenannten Bür-
Rente. gerversicherung nicht in die Zukunft geführt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8519

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: arbeiten können. Dass das möglich ist, lieber Herr Ernst, (C)
Das Wort erhält der Kollege Pascal Kober für die zeigen auch Sie. Denn wenn Sie sich hier in unnachahm-
FDP-Fraktion. licher Eleganz in die Seitenlage legen, um mit der Frau
Ministerin zu sprechen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der FDP)
dann zeigt dies doch, dass man auch mit 56 Jahren eine
Pascal Kober (FDP): ganz gesunde Wirbelsäule haben kann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
vergangenen Jahr 2009 sind 651 000 Kinder geboren (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
worden. Im Jahr 2029, in dem die Rente mit 67 erstmals CDU/CSU)
vollumfänglich zur Geltung kommt, werden diese Das, was Ihnen gegönnt ist, sollten wir auch den anderen
651 000 Kinder 20 Jahre alt sein und damit gerade ihre Menschen ermöglichen.
Berufsausbildung abgeschlossen haben bzw. vielleicht
mit dem Studium beginnen. In diesem gleichen Jahr Wir als christlich-liberale Koalition, lieber Herr Ernst,
2029 werden 1,35 Millionen Menschen in den Ruhe- lieber Herr Gabriel, wollen den Menschen nicht Angst
stand treten. Diese beiden Zahlen, 651 000 zu 1,35 Mil- machen. Vielmehr wollen wir den Herausforderungen
lionen, mit Mut und Zuversicht begegnen. Das ist das Kennzei-
chen dieser christlich-liberalen Koalition im Angesicht
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beeindruckend!) des demografischen Wandels: mit Ernst, aber auch mit
sind nicht nur beeindruckend, wie Herr Kolb gerade an- Zuversicht und Mut die Herausforderungen anpacken. –
gemerkt hat, Vielen Dank.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zu Recht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

sondern durch sie zeigt sich auch, wie ernst das Problem Präsident Dr. Norbert Lammert:
ist und wie ernst wir dieses Problem nehmen sollten. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Pro- Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
blem haben wir doch schon 40 Jahre!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist aber kein Grund, den Menschen Angst zu ma-
chen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
(B) (Elke Ferner [SPD]: Sie machen den Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (D)
Menschen Angst!) Zum Abschluss dieser Debatte fragen sich wahrschein-
lich viele derjenigen, die die Debatte verfolgt haben:
Es zeigt sich schon, dass die Entwicklungen in die rich- Was ist denn nun wirklich los mit der Rente? Deswegen
tige Richtung gehen. Dass sich die Zahl der sozialversi- komme ich zunächst einmal zu dem, was die über
cherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis 20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in unserem
64 Jahren in den letzten Jahren verdoppelt hat, ist hier in Land interessiert, und das steht im Rentenversicherungs-
der Debatte schon mehrfach gesagt worden. bericht. Selten konnte eine Regierung einen Rentenver-
sicherungsbericht mit so positiven Perspektiven vorle-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann man
gen, wie das jetzt Ursula von der Leyen tun konnte.
nicht oft genug wiederholen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dass sich der Trend vom falschen Jugendwahn der Ver-
gangenheit abkehrt und jetzt in die richtige Richtung Diese Feststellung treffe ich jetzt nicht einfach als Abge-
geht, ist bemerkbar. Dass der Fachkräftemangel, dem ordneter der Regierungskoalition, sondern aufgrund der
wir entgegensehen, hier zusätzlich für Entlastung sorgen Beurteilung der vielen Behauptungen und Fakten, die
wird, ist auch deutlich. von unterschiedlichen Rednerinnen und Rednern aufge-
stellt bzw. vorgetragen worden sind.
Der Trend geht in die richtige Richtung, aber die He-
rausforderungen sind trotzdem groß. Trotz dieser positiven (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben nur
Entwicklungen werden wir natürlich eine innovativere Fakten vorgetragen! – Matthias W. Birkwald
Politik für die Zukunft machen müssen, beispielsweise [DIE LINKE]: Wir haben auch nur Fakten vor-
eine innovativere Berufsbildungspolitik; denn eines ist getragen!)
auch klar – darauf weisen hier alle zu Recht hin –: Es
Es gibt in Deutschland ein Gremium, nämlich den
gibt Berufe, in denen man nicht 30, 40 oder 50 Jahre
Sozialbeirat, zusammengesetzt aus Wissenschaftlern,
lang am Stück bei guter Gesundheit arbeiten kann. Auch
Vertretern der Gewerkschaften und Vertretern der Ar-
in diesem Bereich gibt es aber gute Anzeichen. So gibt
beitgeberverbänden, das zu beiden Berichten, die wir
es zum Beispiel das von der Bundesregierung geförderte
heute diskutieren, Stellung nimmt. Das einstimmige Vo-
„Demographie Netzwerk“. 220 Unternehmen haben sich
tum dieser Gewerkschafter, Arbeitgeber und Wissen-
bereits zusammengeschlossen. Sie bieten einen Wissens-
schaftler ist,
transfer untereinander und tauschen miteinander Erfah-
rungen darüber aus, wie Arbeitnehmerinnen und Arbeit- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht
nehmer auch über längere Zeit bei guter Gesundheit einstimmig!)
8520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) dass sich die Rentenversicherung in der Krise, die wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
erlebt haben, als Fels in der Brandung erwiesen hat und neten der FDP)
dass damit die Rentenversicherung weit vor allen ande-
ren Systemen der Alterssicherung als das stabilste Al- Präsident Dr. Norbert Lammert:
terssicherungssystem in der Welt angesehen wird. Ich Herr Kollege Weiß, lassen Sie noch eine – wenn, dann
glaube, das ist ein großartiges Lob, das der Sozialbeirat allerdings ganz knappe – Zwischenfrage des Kollegen
abgegeben hat. Fuchtel zu?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich will nur wenige Fakten nennen. Zu Beginn der Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Krise haben wir befürchtet, dass die Mindestreserve bei Ja. Bitte schön.
der Rentenversicherung eines Tages eventuell nicht aus-
reichen könnte. Heute erfahren wir, dass die Reserve in Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
der Rentenversicherung in der Krise sogar angewachsen Herr Kollege Weiß, können Sie bestätigen, dass die
ist und weiter anwachsen wird von der SPD jetzt wieder vorgeschlagenen Änderungen
in der Rentenberechnung zur Berücksichtigung der de-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und zwar ohne
mografischen Entwicklung schon einmal schiefgegan-
Tricksereien, sondern aufgrund des wirtschaft-
gen sind, nachdem 1997 Blüm einen Demografiefaktor
lichen Wachstums!)
ins Gesetzblatt gebracht hat, die SPD dann 1998 einen
– und zwar ohne Tricksereien – und dass wir auf der si- Rentenwahlkampf geführt und in der Regierungserklä-
cheren Seite sind. rung im selben Jahr die Aussetzung mit den schon ge-
nannten Ergebnissen angekündigt hat, und dass Bundes-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- kanzler Schröder im Jahr 2003 kleinlaut im Parlament
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotz der Politik der erklärt hat: „Das war ein Fehler“?
Bundesregierung!)
(Anton Schaaf [SPD]: Darf man dazu
Zweitens. Noch vor einem Jahr ist prognostiziert wor-
Zusatzfragen stellen?)
den, dass sich die Rentnerinnen und Rentner in Deutsch-
land wahrscheinlich über mehrere Jahre mit Nullrunden
bei der Rente zufriedengeben müssen. Jetzt sagt uns der Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Rentenversicherungsbericht, dass wahrscheinlich in je- Herr Kollege Fuchtel, in der Tat befürchte ich auch,
dem der kommenden Jahre eine zwar bescheidene, aber dass die Sozialdemokraten das Abrücken von den ge-
immerhin eine Rentenerhöhung möglich sein wird. meinsam in der Großen Koalition gefassten Beschlüssen
(B) schlichtweg deswegen praktizieren, weil sie angesichts (D)
(Zuruf von der LINKEN: Nominal! Real ihrer schlechten Umfragewerte glauben, für die kom-
nicht!) menden Wahlen des Jahres 2011 Wahlkampfmaterial zu
In vielen Jahren haben die Rentnerinnen und Rentner ihren Gunsten sammeln zu können. Das war auch bei der
in unserem Land den Eindruck gehabt, dass ihnen zwar Bundestagswahl 1998 so.
zusätzliche Lasten aufgebürdet werden, sie aber keine Die damalige rot-grüne Bundesregierung – auch die
Entlastung erhalten. Die gute Nachricht des Rentenversi- Grünen tragen also Verantwortung dafür – hat die von
cherungsberichts lautet nun: Ja, die Rentnerinnen und Norbert Blüm beschlossene Reform der Rente mit dem
Rentner werden am Aufschwung in Deutschland teilha- Demografiefaktor zurückgenommen. Wenige Jahre
ben können. Ich finde, diese gute Nachricht sollte man in später musste der damalige Bundeskanzler Gerhard
einer Rentendebatte zuallererst herausstellen. Schröder vor dem Parlament erklären, dass es nicht nur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein Fehler, sondern einer seiner größten Fehler gewesen
sei, diese Reform zurückzunehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Vorha-
ben „Erhöhung der Altersgrenze bis zum Jahre 2029 auf Meine Aufgabe ist es nicht, mir als Christdemokrat
67 Jahre“ haben wir in der Großen Koalition beschlos- besondere Sorge um die Sozialdemokraten zu machen,
sen, weil wir wollen, dass nicht nur heute, sondern auch (Joachim Poß [SPD]: Das brauchen Sie auch
im Jahr 2030 und in den nachfolgenden Jahren die Ren- nicht! – Thomas Oppermann [SPD]: Sehen Sie
tenversicherung in Deutschland zu den stabilsten Alters- sich mal die Hamburger Umfragen an!)
sicherungssystemen in Deutschland gehört. Darum geht
es. aber ein gewisses christliches Mitgefühl hat man doch.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
verstehe nicht, dass Sie das Erbe von Franz Müntefering, Präsident Dr. Norbert Lammert:
der diese Reform vorangetrieben und durchgesetzt hat, Lieber Kollege Fuchtel, die Frage ist erkennbar beant-
heute so leichtfertig aufs Spiel setzen wollen. wortet. Sie dürfen sich wieder setzen. Die Zeit läuft wei-
ter.
(Zuruf von der SPD: Das habt ihr gemacht!)
Denn in Wahrheit setzen Sie die Sicherheit der gesetzli- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
chen Rentenversicherung als eines der weltweit stabils- Ich fürchte, dass es die Sozialdemokraten noch ein-
ten Sicherungssysteme aufs Spiel. mal erleben werden, dass sie sich vor dem Parlament da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8521
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) für entschuldigen müssen, dass sie die Reform ihres ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
genen Arbeits- und Sozialministers kaputtschießen Klaus Ernst [DIE LINKE]: Morgen kommt der
wollen. Weihnachtsmann!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bestellte Frage, bestellte Antwort! – Klaus Lieber Kollege Weiß, Sie müssen zum Schluss kom-
Ernst [DIE LINKE]: Beide schwach!) men. Die Redezeit ist vorbei.
Ich will nicht all das wiederholen, was zum Thema
Anhebung der Regelaltersgrenze für die Rente auf Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
67 Jahre bis zum Jahr 2029 gesagt worden ist, sondern Herr Präsident, ich will gern zum Schluss kommen
nur einen Punkt herausstellen, der von vielen Rednern und Folgendes sagen: Selbstverständlich ist die Erwerbs-
vorgetragen worden ist, nämlich dass das eigentlich eine beteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
verkappte Rentenkürzung sei. Der Sozialbeirat hat – ich mer in Deutschland heute schlecht. Das ist gar keine
wiederhole, es ist eine gemeinsame Stellungnahme von Frage. Die Frage, die im Rentenversicherungsbericht zu
Gewerkschaften, Arbeitgebern und Wissenschaftlern – untersuchen war, lautete aber: Verschlechtert oder ver-
gesagt: Ein Blick auf die Zusammenstellung der einzel- bessert sie sich über die Jahre hinweg? Gott sei Dank hat
nen Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern zeigt, dass sie sich in den letzten Jahren verbessert. Außerdem ste-
sich in vielen Fällen die Behauptung, dass die Anhebung
hen die Chancen gut, dass sie noch besser wird, und
der Regelaltersgrenze zu einer Rentenkürzung führt,
zwar insbesondere dann, wenn das Programm „50 plus“,
nicht bewahrheiten wird. Der Sozialbeirat sagt also klipp
das von Franz Müntefering und Olaf Scholz initiiert
und klar: Die Behauptung, das sei eine generelle Renten-
wurde, in Deutschland seine Wirkung entfaltet.
kürzung, ist schlichtweg falsch.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb wollen wir alles tun, damit ältere Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland eine Chance
Ich betone: unterschrieben von Gewerkschaftern, Ar- auf dem Arbeitsmarkt haben und damit die positiven
beitgeberverbänden und Wissenschaftlern. Wirkungen der Anhebung des Rentenalters dazu führen,
dass sich diese Menschen eine ordentliche und gute al-
Nein, es entsteht der gegenteilige Effekt: Erstens wird terssicherende Rente erwirtschaften.
die Anhebung der Regelaltersgrenze dazu führen, dass
selbstverständlich diejenigen, die länger arbeiten, dann Vielen Dank.
(B) auch zusätzliche Rentenansprüche erwerben. Zweitens (D)
führt der Nachhaltigkeitsfaktor – das ist ein Faktor, der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
in der Rentenformel vorhanden ist – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die je-
des Jahr weniger wird, weil Sie sie kürzen!)
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Von Rot-Grün eingeführt!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
– von Rot-Grün übrigens eingeführt; das will ich gerne
Ich schließe die Aussprache.
mit erwähnen – dazu, dass sich dann, wenn länger gear-
beitet wird, die Renten derjenigen, die in Rente sind, er- Noch ein Hinweis zum Debattenverlauf. Ich habe eine
höhen werden. Sprich: Keine Rentenkürzung für die Reihe von Zwischenfragen und Kurzinterventionen zu-
Rentnerinnen und Rentner, sondern kontinuierliche Ren- gelassen und eine ganze Reihe weiterer Wünsche nicht.
tenerhöhungen sind die Folge des Nachhaltigkeitsfak- Das löst bei denjenigen, die nicht zum Zuge gekommen
tors. sind, keine große Freude aus. Ich möchte nur darauf auf-
Deswegen kann man eine Feststellung treffen: Die merksam machen, dass wir zu Beginn dieser Debatte
Rentenkürzer sitzen da, wo diejenigen sind, die die einvernehmlich beschlossen haben, diese Debatte soll
Rente mit 67 ab dem Jahr 2029 kippen und außer Kraft 1 Stunde und 15 Minuten dauern. Tatsächlich hat sie je-
setzen wollen; denn diejenigen kürzen die Rente. doch 1 Stunde und 45 Minuten gedauert. Ich bitte ein-
fach zu berücksichtigen, dass für das Präsidium die vom
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Plenum selbst festgesetzte Debattenzeit ein jedenfalls
Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hanebü- nicht weniger relevantes Kriterium in der Moderierung
chen!) der Sitzung ist als die sich spontan ergebenden Rede-
wünsche. Das Dilemma ist nicht rundum überzeugend
Das ist die logische Mathematik der Rentenformel.
auflösbar. Aber ich wollte das noch einmal dem Plenum
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und die Erde ist zur Kenntnis geben.
eine Scheibe!)
Nun stimmen wir ab über die Überweisung der Vorla-
Vielleicht sollten die Kolleginnen und Kollegen, die hier gen auf den Drucksachen 17/3814, 17/3900, 17/3995
meines Erachtens unverantwortliche Reden halten, zu- und 17/4046 an die in der Tagesordnung aufgeführten
erst einmal die Rentenformel lesen, bevor sie das Gegen- Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint
teil von dem behaupten, was tatsächlich die Wirkung der der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlos-
Rente mit 67 sein wird. sen.
8522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: Aber auch der Bund ist gefordert. Es gibt zwei Ent- (C)
wicklungen in den letzten Jahren, die für die prekäre Si-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd tuation der kommunalen Haushalte sehr stark mit verant-
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weite- wortlich sind und die vom Bund zu verantworten sind.
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der Bund muss sich engagieren, dass das in Zukunft an-
Klare Perspektiven für Kommunen – Gewer- ders und besser wird.
besteuer stärken (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
– Drucksache 17/3996 – der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f) Zum einen geht es um die Steuereinnahmen der
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Kommunen. Sie sind – genauso wie die von Ländern
Ausschuss für Arbeit und Soziales und Bund – in den letzten Jahren eingebrochen, bei den
Haushaltsausschuss Kommunen aber ganz besonders stark. Wir haben heute
eine Steuerquote, die unter 21 Prozent liegt. Das sind
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zwei Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren. Wenn
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Sie das auf das Bruttoinlandsprodukt beziehen, dann er-
dem Antrag der Fraktion der SPD kennen Sie eine Lücke in Höhe von 50 Milliarden Euro.
Rettungsschirm für Kommunen – Strategie für Das hat etwas damit zu tun, dass wir nicht befristet, son-
handlungsfähige Städte, Gemeinden und Land- dern strukturell angelegt und damit dauerhaft Steuersen-
kreise kungen in der Größenordnung von 36 Milliarden Euro
seit 2008 auf den Weg gebracht haben. Das belastet die
– Drucksachen 17/1152, 17/4060 – kommunalen Haushalte mit etwa 5 Milliarden bis 7 Mil-
Berichterstattung: liarden Euro. Da kommen sie nicht alleine heraus.
Abgeordnete Antje Tillmann Zum anderen geht es – das ist ein weiterer kritischer
Bernd Scheelen Punkt – um die Soziallasten. Die Soziallasten, an denen
die Kommunen finanziell partizipieren, die sie mit finan-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
zieren müssen, sind in den letzten Jahren im Vergleich
diese Aussprache 1 Stunde und 15 Minuten dauern, was
zur Entwicklung der kommunalen Einnahmen weit über-
der eine oder andere vielleicht zur Erinnerung auf einem
proportional gestiegen. Wir haben beispielsweise bei der
Zettel festhält. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
Grundsicherung und der Eingliederungshilfe Steige-
(B) ist das so vereinbart. rungsraten von über 40 Prozent und bei der Jugendhilfe (D)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst in den letzten zehn Jahren zum Teil Steigerungsraten von
Herr Staatsminister Dr. Carsten Kühl für das Land 130 Prozent zu verzeichnen gehabt. Gleichzeitig sind die
Rheinland-Pfalz. – Bitte schön. Steuereinnahmen der Kommunen nur um 21 Prozent ge-
stiegen. Diese Schere, die sich da auftut, können die
(Beifall bei der SPD) Kommunen alleine, ohne Hilfe Dritter, nicht schließen.
Darin müssen wir sie unterstützen.
Dr. Carsten Kühl, Staatsminister (Rheinland-Pfalz):
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Herren! Ich bedanke mich zunächst sehr herzlich für die GRÜNEN)
Gelegenheit, als Mitglied des Bundesrats und als Mit-
glied der Gemeindefinanzkommission zu diesem Thema Die Situation ist dramatisch. Wenn eine Situation dra-
sprechen zu können. matisch ist, dann sollte man eigentlich sofort etwas tun.
Deswegen haben sich das Land Rheinland-Pfalz, andere
Es ist ein Thema, das alle angeht: die Kommunen, die Länder und viele Kommunen gefreut, als die SPD-Frak-
Länder und den Bund. Es geht die Kommunen an, weil tion im März dieses Jahres eine Initiative auf den Weg ge-
sie natürlich an allererster Stelle diesen harten Konsoli- bracht hat mit dem Ziel, unabhängig von längerfristigen
dierungskurs konsequent beschreiten müssen, um aus und grundsätzlichen Maßnahmen ein Sofortprogramm
ihrer prekären Finanzsituation herauszukommen. Es aufzulegen. Leider hat das offensichtlich hier in diesem
geht die Länder an, weil sie die vornehmste Aufgabe ha- Haus keine Mehrheit gefunden. Eine Mehrheit in diesem
ben, die Kommunen dabei zu unterstützen, beispiels- Haus gefunden hat etwas anderes, das die Haushalte der
weise dadurch, dass sie ein konsequentes Konnexitäts- Kommunen zusätzlich belastet hat. Sie haben mit Ihrem
prinzip pflegen, beispielsweise dadurch, dass sie einen Haushaltsbegleitgesetz Abgabenerhöhungen in Höhe
Entschuldungsfonds auflegen, um die hohen Liquiditäts- von 7 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, und zwar
kredite der Kommunen zurückzuführen und sie wieder solche, die ausschließlich dem Bundeshaushalt zustehen
handlungsfähig zu machen, und beispielsweise dadurch, und gleichzeitig die Bemessungsgrundlage der den Kom-
dass sie – so etwas können die Länder – versuchen, die munen zustehenden Einnahmen schmälern, beispiels-
Einnahmen, die sie den Kommunen über den Finanzaus- weise der Gewerbesteuer. Damit haben Sie die Situation
gleich geben, über einen Solidarfonds im Zeitablauf zu der Kommunen einmal mehr verschlimmert.
verstetigen und ihnen dadurch mehr Kalkulationsgrund-
lagen zu geben. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8523
Staatsminister Dr. Carsten Kühl (Rheinland-Pfalz)
(A) Sie haben die Rentenversicherungsbeiträge beim ALG II zu besteuern ist. Schließlich: Wir ärgern uns seit Jahren (C)
abgeschafft. Sie haben die Heizkostenpauschale abge- über Steueroasen im Ausland. Ich vermag nicht einzuse-
schafft. Ich garantiere Ihnen: Das wird sich irgendwann hen, warum wir Anreize für die Schaffung von Steuer-
bei der Grundsicherung im Alter und den Kosten der Un- oasen in Deutschland setzen sollten.
terkunft auf der Rechnung der Kommunen wiederfinden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN)
Die Bundesregierung hatte im Februar eine Gemeinde- Meine Damen und Herren, wie sieht die Bilanz aus?
finanzkommission etabliert, die sich den Fragen anneh- Ich hätte mir zunächst einmal gewünscht, dass wir den
men sollte. Diese Kommission hat sehr intensiv und ana- Vorschlag von Herrn Schäuble in der Gemeindefinanz-
lytisch gearbeitet. Sie war im besten Sinne fleißig und hat kommission diskutieren. Aber was ist stattdessen pas-
Ergebnisse produziert. Ich war daher etwas überrascht, siert? Es ist das passiert, was immer passiert, wenn diese
dass der Bundesfinanzminister vor ein paar Wochen nach Koalition versucht, steuer- und finanzpolitische Pro-
einem Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden bleme zu lösen: Es wird gestritten, es wird ein bisschen
ein Fazit für sich gezogen und Ergebnisse verkündet hat. chaotisch, und es entsteht Stillstand. In der Zwischenzeit
Ich war nicht überrascht, dass der Bundesfinanzminister soll eine Koalitionsrunde zu diesem Thema stattgefunden
zu dem Ergebnis kam, man müsse die Gewerbesteuer haben. Die FDP scheint mittlerweile alles infrage zu stel-
unangetastet lassen. Denn alle Analysen der Kommission len. Der Finanzminister und die Bundeskanzlerin relati-
zeigen, dass das Alternativmodell aus verschiedensten vieren ihre Gewerbesteuergarantie, die sie gegenüber den
Gründen – weil es quantitativ schwierige Ergebnisse pro- Kommunen abgegeben haben, und von der Übernahme
duziert und kaum administrierbar ist – nicht umsetzbar von Soziallasten wird überhaupt nicht mehr geredet.
ist. Zudem ist die Gewerbesteuer trotz aller Unkenrufe
eine gute Steuer für die Gemeinde, weil sie das größte (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch
Aufkommensentwicklungspotenzial hat. Quatsch!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mittlerweile gibt es Koalitionsarbeitsgruppen. Aber
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE was heißt das denn für die Gemeindefinanzkommission?
GRÜNEN) Die Gemeindefinanzkommission wartet jetzt auf einen
Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe. Den soll sie sich
Wenn Finanznot herrscht, dürfen wir nicht die Steuer ab-
dann zu eigen machen, um ihn anschließend der Bundes-
schaffen, die langfristig die höchsten Erträge bringt.
regierung zu empfehlen.
(B) (D)
Ich habe mich gefreut, dass der Bundesfinanzminister
den Vorschlag gemacht hat, zumindest über die Grund- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
sicherung im Alter einen Einstieg in die Entlastung der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Kommunen von Soziallasten zu finden. GRÜNEN)

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alles nur Ver- Die Aufgabe der Kommission ist eine Empfehlung an
sprechungen!) die Bundesregierung. Noch einmal: Die Gemeindefi-
nanzkommission bekommt von der Bundesregierung er-
Der Bundesfinanzminister hat weiter vorgeschlagen, zählt, was sie der Bundesregierung empfehlen soll. Das
dass man additiv zur Gewerbesteuer bei der Einkom- ist ein Witz, über den weder die Kommunen noch die
mensteuer ein Zuschlagsrecht etablieren sollte. Wir und Länder lachen können;
die meisten kommunalen Verbände waren skeptisch, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wir befürchten (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
– diese Befürchtung ist ernst zu nehmen –, dass dadurch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
der Konflikt zwischen armen und reichen Gemeinden in GRÜNEN)
Deutschland verschärft wird, dass Druck entsteht und
gerade die hochverschuldeten und in der Tendenz Kom- denn die Finanzsituation ist zu ernst, um koalitionsin-
munen mit einkommensschwachen Bürgern in die Situa- terne Befindlichkeiten auszuleben. Wiederbeleben soll-
tion versetzt werden, die Hebesätze anzuheben, und wir ten wir entweder die Gemeindefinanzkommission, oder
dann in die etwas skurrile Situation kommen, dass zu- der Bundesfinanzminister sollte einen Vorschlag auf den
künftig in manchen Orten Einkommensschwächere hö- Tisch legen, der für alle, nicht nur für die Koalitionäre,
here Steuern bezahlen müssen als Einkommensstärkere konsensfähig ist. Meine Bitte wäre, dass wir uns nicht
in anderen Orten, die es sich leisten können, die Hebe- mehr allzu viel Zeit damit lassen. Die Liquiditätskre-
sätze zu senken. dite der Kommunen steigen von Tag zu Tag. Die Kom-
munen stehen nicht mehr nur mit dem Rücken an der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wand, sondern der Rücken drückt sich immer mehr in
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE die Wand hinein.
GRÜNEN)
Vielen Dank.
Das widerspricht dem Prinzip, das über 60 Jahre bei der
Einkommensteuer in Deutschland Konsens ist, nämlich (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
dem Leistungsfähigkeitsprinzip, wonach Gleiches gleich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
8524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: erwerbsteuer. Das hat also auch etwas mit Landespolitik (C)
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz für die zu tun.
CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Viele Gemeindefinanzen werden von den Zinsen und
neten der FDP) von den Kosten für Soziales im wahrsten Sinne des Wor-
tes aufgefressen; das ist wahr. Herr Minister, wenn wir
Peter Götz (CDU/CSU): helfen wollen, dann müssen wir die Ursachen anschauen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und sie analysieren. Die Ursachen reichen weit zurück in
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht nur der die Zeit der kommunalfeindlichen rot-grünen Regie-
Bund, sondern auch die Städte, Gemeinden und Kreise rungspolitik. Mit der Übernahme der Kanzlerschaft
befinden sich in einer schwierigen finanziellen Lage. durch Angela Merkel hat sich das übrigens schlagartig
Das ist unbestritten. Es ist auch unbestritten, dass sich – von heute auf morgen – geändert.
eine große Zahl von Kommunen nur noch mit hohen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Michael
Kassenkrediten über Wasser halten kann. Trotz der im- Meister [CDU/CSU]: So ist es!)
mer noch schwelenden Krise an den internationalen
Finanzmärkten sind wir in Deutschland dank einer gu- Die Jahre kurz vor der Krise waren für die Kommu-
ten, vorausschauenden Politik der CDU-geführten Bun- nen die besten Jahre seit Bestehen der Bundesrepublik.
desregierung auf einem guten Weg; das sollten wir auch (Joachim Poß [SPD]: In Ihren Jahren wurde
sagen. ständig die Abschaffung der Gewerbesteuer
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gefordert! Er redet einen Stuss, wie ich ihn seit
Wochen nicht gehört habe!)
Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie noch nie
Der kommunale Saldo lag in dieser Zeit bei mehr als
in den letzten 20 Jahren. Mit 41 Millionen ist die Zahl
8 Milliarden Euro, und viele Kommunen konnten inves-
der Erwerbstätigen so hoch wie noch nie.
tieren, auch wenn es Ihnen nicht passt, Herr Poß. Sie ha-
(Bernd Scheelen [SPD]: Die Debatte darüber ben Rücklagen gebildet und ihre Schulden abgebaut.
hatten wir gerade!) Herr Poß, in Zeiten rot-grüner Regierungsverantwor-
Herr Kollege Scheelen, die internationale Wettbewerbs- tung war daran nicht zu denken. Damals lag der kommu-
fähigkeit deutscher Unternehmen hat inzwischen ein nale Saldo im Minus. Der Investitionsstau wurde immer
Niveau erreicht, um das uns andere Länder in Europa be- größer.
(B) neiden, und das wirkt sich auch auf die Kommunalfinan- (D)
zen aus. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kollege Götz, darf ich Sie kurz unterbrechen? Der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kollege Hartmann würde Ihnen gern eine Zwischenfrage
Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer – eine wich- stellen.
tige kommunale Steuer; das ist unbestritten – sind übri-
gens für viele überraschend stark gestiegen. Peter Götz (CDU/CSU):
Ich sage den einen Satz noch, dann bin ich sehr damit
(Bernd Scheelen [SPD]: Deshalb wollen Sie
einverstanden. – Nur zur Erinnerung: 2003 betrug der
die auch weg haben!)
Negativsaldo der kommunalen Haushalte 8,4 Milliarden
Für 2011 rechnen die Steuerschätzer mit einem weiteren Euro – im Minus. – Bitte schön.
kräftigen Anstieg auf 31,6 Milliarden Euro. Zu dieser
positiven Entwicklung hat übrigens nicht nur, aber auch Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz maßgeblich bei- Herr Kollege Götz, Sie haben erfreulicherweise da-
getragen. rauf hingewiesen, dass die Einnahmen der Kommunen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- durch die Gewerbesteuer gestiegen sind. Diese erfreuli-
rufe von der SPD und der LINKEN: Oh! – che Feststellung veranlasst mich zu der Frage: Bedeutet
Bernd Scheelen [SPD]: Das hat richtig Geld dies ein klares und uneingeschränktes Bekenntnis von
gekostet!) Ihnen und Ihrer Fraktion zum Erhalt der Gewerbesteuer?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Richtig ist, dass die Schere zwischen finanzstarken
und finanzschwachen Kommunen nach wie vor immer
weiter auseinandergeht. Herr Minister Kühl, das hat üb- Peter Götz (CDU/CSU):
rigens auch etwas mit Landespolitik zu tun; Das ist ein klares Bekenntnis dazu, dass die Besteue-
rung aus wirtschaftlicher Betätigung in Zukunft auch für
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) die kommunale Seite gelten muss – eindeutig.
denn zum Beispiel streicht in Rheinland-Pfalz das Land (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
die Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer ein. In dem Joachim Poß [SPD]: Das ist schon wieder eine
Land, aus dem ich komme, in Baden-Württemberg, be- Eierei! – Bernd Scheelen [SPD]: Was heißt das
kommen die Kommunen die Einnahmen aus der Grund- denn konkret?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8525
Peter Götz
(A) Lassen Sie mich auf den Gedanken zurückkommen, che Bürokratiekosten von mehreren Hundert Millionen (C)
den ich vorhin fortsetzen wollte. Die Verschuldung in Euro bedeuten würde, ohne dass in Deutschland der Bo-
den Städten, Gemeinden und Kreisen ist in der Zeit Ihrer denschutz auch nur etwas verbessert würde.
Regierungsverantwortung gestiegen. Das ist die Ursa-
che. Herr Scheelen, davon haben sich gerade im Ruhrge- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
biet viele Städte und Gemeinden noch lange nicht erholt. NEN]: Regieren muss man schon noch!)
Das geht nicht von heute auf morgen. Rot-Grün hat den Ich könnte aus dem Katalog Ihrer kommunalfeindlichen
Kommunen ständig Geld weggenommen und ihnen Auf- Entscheidungen beliebig weiter vortragen, aber dafür
gaben übertragen, ohne die notwendige Finanzierung reicht die Redezeit nicht.
mitzuliefern. Das war Ihre damalige Politik, und dafür
tragen Sie von Rot-Grün die Verantwortung. Uns geht es darum, den Kommunen zu helfen und die
Gemeindefinanzen trotz schwierigster Haushaltslage, in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der sich der Bund, wie wir alle wissen, nach wie vor be-
Sich jetzt in der Opposition als Retter aufzuspielen, ist findet, wieder auf eine solide Grundlage zu stellen.
nicht nur scheinheilig, sondern auch unanständig. (Manfred Zöllmer [SPD]: Werden Sie doch
(Joachim Poß [SPD]: Wir haben 2003 den Ver- mal konkret!)
mittlungsausschuss gerettet – gegen Sie!) Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwortung
– Herr Poß, noch kurz vor Toresschluss hat die Schröder- geben und dadurch die kommunale Selbstverwaltung
Regierung beschlossen, den Bundesanteil von 3 Milliar- stärken. Deshalb begrüßen wir die positive Haltung des
den Euro an den Kosten der Unterkunft im Bereich der Städte- und Gemeindebundes sowie des Deutschen
Hartz-IV-Empfänger rückwirkend auf null zu reduzie- Landkreistages zum vorgeschlagenen kommunalen He-
ren. Ich wiederhole: auf null. Das war in Ihrer Zeit. besatzkorridor auf den Einkommensteueranteil der
Kommunen. Herr Minister Kühl, das hat mit Steuer-
(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist völliger Un- oasen in Deutschland wirklich überhaupt nichts zu tun.
sinn! Das wissen Sie auch! Das war im Bun-
desrat, den Sie damals beherrscht haben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Die gibt
Es war eine der ersten Entscheidungen der Regierung es ja Gott sei Dank noch nicht!)
Merkel, diesen kommunalfeindlichen Akt sofort zu be-
seitigen und die Bundesbeteiligung zugunsten der Kom- Notwendige Korrekturen bei der Gewerbesteuer dür-
munen wieder anzuheben. fen weder zulasten der Kommunen noch zulasten der
Bürger gehen. Wir wollen, dass vor Ort wieder mehr ent-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schieden werden kann. Wir wollen eine Entlastung vor (D)
allem in dem Bereich der sozialen Aufgaben und der so-
Jetzt als Opposition eine Erhöhung der Bundesbeteili-
zialen Ausgaben.
gung zu fordern, ist mehr als durchsichtig und spricht ei-
gentlich für sich. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Machen Sie doch mal einen Vor-
(Beifall des Abg. Dr. Max Lehmer [CDU/
schlag!)
CSU])
Von der eingesetzten Gemeindefinanzkommission, an
Rot-Grün hat übrigens auch die Grundsicherung im
der Bund, Länder und die kommunalen Spitzenverbände
Alter, die vorhin angesprochen worden ist, den Kommu-
beteiligt sind – auch die Länder und die kommunalen
nen aufs Auge gedrückt, aber vergessen, eine anständige
Spitzenverbände sind dabei – und die auf Konsens ange-
Finanzierung mitzuliefern.
legt ist – das ist auch gut so –,
(Bernd Scheelen [SPD]: Das stimmt auch nicht!
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie sind still-
Das sind 100 Millionen! Ist das nichts?)
gelegt!)
Wir haben in unserer Regierungszeit die Mittel aufge-
erwarten wir im Januar, also in einem Monat, die Ergeb-
stockt und dynamisiert. Das hatten Sie vergessen.
nisse.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen, dass die Kommunen durch stabile Ge-
Rot-Grün hat übrigens die von Ihnen so gelobte meindefinanzen wieder Luft zum Atmen bekommen
Gewerbesteuerumlage erhöht und damit den Kommu- und die vielen ehrenamtlichen Räte in den Gemeinden,
nen Teile der Gewerbesteuereinnahmen genommen. Städten und Kreisen ihre Heimat wieder eigenverant-
Auch das ist erst auf unseren Druck hin korrigiert wor- wortlich gestalten können;
den. Heute singen Sie das Hohelied der Gewerbesteuer.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch
Das hat mit glaubwürdiger Politik eigentlich gar nichts
Sand in die Augen! – Iris Gleicke [SPD]:
zu tun.
Nichts als warme Worte! – Joachim Poß
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [SPD]: Das ist der Meister der warmen
neten der FDP) Worte!)
In diesen Tagen fordern die Grünen eine Boden- denn sie vor Ort wissen am besten, was für ihre Bürge-
schutzrichtlinie, die allein für die Kommunen zusätzli- rinnen und Bürger gut und richtig ist.
8526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Peter Götz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kürzungen haben Sie, meine Damen und Herren, eine (C)
neten der FDP) Mitverantwortung.
Unsere Kommunen haben sich in der schwersten (Beifall bei der LINKEN – Antje Tillmann
Krise unseres Landes hervorragend verhalten. Sie haben, [CDU/CSU]: Gar nicht! Wir bezahlen all das
unterstützt durch unser Konjunkturpaket II, demnächst!)
(Joachim Poß [SPD]: Das haben wir in der Bevor mein Kollege Axel Troost nachher zu Zahlen
Großen Koalition gemacht!) und Steuern kommt, geht es mir in allererster Linie um
ein Instrument, das unabdingbar notwendig ist, um kom-
mit klugen Entscheidungen maßgeblich dazu beigetra- munale Realitäten und Aufgaben mit der Bundespolitik
gen, dass Deutschland schneller und besser aus der Wirt- in Einklang zu bringen. Die Regierungskoalition wird es
schaftskrise herausgekommen ist, als wir alle gedacht vielleicht überraschen: Ich meine den Unterausschuss
hatten. Dafür sagen wir heute in einer Kommunaldebatte Kommunales. Bisher haben Sie sich der Bedeutung und
ein herzliches Dankeschön. Wichtigkeit dieses Ausschusses weitestgehend verwei-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gert. Ich erinnere nur daran, wie lange Sie gebraucht ha-
neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Da müs- ben, um wenigstens Mitglieder für diesen Unteraus-
sen Sie die SPD-Minister nennen aus der Gro- schuss zu benennen. Zu Beginn der Wahlperiode hatte
ßen Koalition!) man sich im Ältestenrat des Bundestages auf diesen Un-
terausschuss geeinigt. Ein ordentlicher Ausschuss Kom-
Jetzt geht es darum, unser Land und die Kommunen munalpolitik, wie ihn die Linke gefordert hat, wäre
zukunftsfest zu machen. Das ist nicht einfach. Das geht angemessener gewesen; aber es war immerhin ein Kom-
nicht mit Jammern, sondern das geht mit Anpacken. Pa- promiss gefunden.
cken wir es also an! Mit Mut und Zuversicht können wir
gemeinsam viel erreichen. Ich lade auch Sie als Opposi- (Beifall bei der LINKEN)
tion sehr herzlich dazu ein. Heute muss man feststellen, dass alle anderen Unter-
Vielen Dank. ausschüsse ihre Arbeit aufgenommen haben; aber der
Unterausschuss Kommunales hat sich lediglich konstitu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) iert,
(Peter Götz [CDU/CSU]: Aber wer hat denn
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Tagesordnung zurückgezogen? Das wart
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel von der doch ihr!)
(B) Fraktion Die Linke. (D)
und das nach einem Viertel der Legislatur – Klasseleis-
(Beifall bei der LINKEN) tung. Nach dem Willen der Regierungskoalition soll der
Unterausschuss zu einem Erfüllungsgehilfen des Innen-
Frank Tempel (DIE LINKE): ausschusses werden. Aber das Aufgabenfeld ist sehr viel
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen weiter, und ein Selbstbefassungsrecht, also das Recht,
und Herren! Ich freue mich, an dieser Stelle mit direk- selbst Themen auf die Tagesordnung zu nehmen, ist eine
tem Bezug zur Kommunalpolitik, genauer gesagt: zu den Grundbedingung für die Wirksamkeit dieses Ausschus-
Kommunalfinanzen, sprechen zu dürfen; denn diese ses.
Möglichkeit zu haben, war einer der Gründe dafür, dass (Beifall bei der LINKEN)
ich als Kommunalpolitiker genau hierher wollte.
Ein eigenes Aufgabenfeld fehlt. Die kommunalrelevan-
Die Probleme durch fehlende finanzielle Mittel in den ten Angelegenheiten als Querschnittsbereich der Politik
Kommunen kommen auf direktem Wege bei den Bür- anzuerkennen, ist eine klare, logische und konsequente
gern an, werden dort spürbar, und dann stehen oftmals Forderung der Linken.
die kommunalen Mandatsträger in der Kritik – wegen
90 Prozent der im Bundestag beschlossenen Gesetze
fehlender notwendiger Aktivitäten, die aber nur eine
müssen letztendlich von den Kommunen ausgeführt
Folge fehlender finanzieller Möglichkeiten sind. Oft
werden. Die schwarz-gelbe Koalition feiert sich nun, ei-
müssen Streichungen in den Bereichen Kultur, Bildung
nen Unterausschuss Kommunales vorweisen zu können.
und Soziales vorgenommen werden; denn trotz aller
Tatsächlich ist die Koalition dagegen, dass sich der Un-
Sparmaßnahmen in anderen Bereichen ist in den Kom-
munen das Geld dafür nicht mehr da. terausschuss mit den unmittelbaren Problemen der Kom-
munalpolitik befasst. Zentrale Themen wie die Kommu-
Das wiederum liegt sehr häufig an Bundesgesetzen. nalfinanzen wollen Sie von diesem Unterausschuss nach
In meinem Kreistag im Altenburger Land führte das Möglichkeit fernhalten.
dazu, dass wir bereits seit einem halben Jahr eine Haus-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das! –
haltssperre haben. Damit sind wir kein Einzelfall. Aus
Gegenruf der Abg. Antje Tillmann [CDU/
allen Fraktionen im Kreistag werde ich immer wieder
CSU]: Das liegt beim Finanzausschuss!)
aufgefordert, das hier an dieser Stelle noch stärker zu be-
tonen. Erst gestern Abend standen auf der Tagesordnung Ich möchte deswegen einmal darauf verweisen, wie
Einschnitte wie Kürzungen in der Jugendhilfe und Strei- der Deutsche Bundestag bereits 1952 die Aufgaben eines
chung des Zuschusses für das Schulessen. An solchen solchen Ausschusses definiert hat: „… die indirekten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8527
Frank Tempel
(A) Auswirkungen der Bundesgesetzgebung auf die kommu- Sie haben das damals abgelehnt. Sie waren dagegen. Die (C)
nalen Angelegenheiten zu beobachten und sich gegebe- Grünen waren dagegen. Auf kommunaler Ebene spre-
nenfalls in die Bearbeitung von Vorlagen einzuschalten.“ chen Sie gern vom Konnexitätsprinzip. Aber dass es an
Das heißt Selbstbefassungsrecht 1952. Schreiben Sie es Ihnen gescheitert ist, verschweigen Sie den Menschen in
einfach ab! Aber einen entsprechenden Antrag von Lin- Deutschland.
ken, SPD und Grünen zu einem wohlformulierten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Grundsatzbeschluss haben Sie bereits am 27. Oktober
der CDU/CSU)
dieses Jahres im Innenausschuss ohne Debatte abge-
lehnt. Wir reden heute wieder über ein Problem – die christ-
lich-liberale Koalition löst es –, das sich unter Ihrer Re-
Sie wollen kein Medikament für die kranken Kom-
gierungsverantwortung massiv verschärft hat. Sie sagen
munalfinanzen, Sie wollen lieber ein Placebo, um den
in Ihrem Antrag nur unter einem einzigen Spiegelstrich
Patienten ruhigzuhalten. Ich möchte Ihnen aber an dieser
etwas zu den Ausgaben der Kommunen; das ist bezeich-
Stelle versprechen: Die Linke wird das weitere Ausblu-
nenderweise auch noch der letzte Spiegelstrich. Sie for-
ten der Kommunen nicht hinnehmen.
dern im Grunde genommen nichts anderes, als dass die
(Beifall bei der LINKEN) christlich-liberale Koalition die Kommunen aus einer
Misere befreit, in die sie von Sozialdemokraten und Grü-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen geführt wurden. Na, bravo!
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing von der Sie schlagen keine wirkliche Lösung vor. Wenn man
FDP-Fraktion. Sie fragt, wie das Problem bewältigt werden soll, kommt
(Beifall bei der FDP) immer die gleiche Antwort: durch eine Verstetigung der
Gewerbesteuereinnahmen.
Dr. Volker Wissing (FDP): (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin- – Frau Kressl sagt es wieder: Es geht um eine Versteti-
nen und Kollegen! Herr Minister Kühl, wir haben von gung der Gewerbesteuereinnahmen; das sagt auch der
Ihnen gehört, dass die Kommunen sich sehr über die An- sozialdemokratische Landesfinanzminister Kühl. Das
träge der SPD gefreut haben. Ich will Ihnen einmal sa- soll die große Lösung sein.
gen: Die Schönwetteranträge der Sozialdemokraten in
der Opposition helfen den Kommunen überhaupt nichts. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Wissen-
schaft sagt das!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(B) Bernd Scheelen [SPD]: Das können wir nur Damit die Menschen verstehen, was Ihr Vorschlag be- (D)
bestätigen! Sie müssen nur zustimmen!) deutet: Ihr Vorschlag bedeutet nichts anderes, als dass
ein Unternehmen, das zu wenig Einnahmen hat, um aus-
An den Gesetzen, die Rot-Grün in Regierungsverant- reichend Steuern zu zahlen, künftig auch Steuern auf die
wortung verabschiedet hat, haben die Kommunen bis Ausgaben zahlen soll.
heute eine schwere Last zu tragen. Das ist die Realität.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Auf die Wert-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bernd schöpfung, nicht auf die Ausgaben! – Joachim
Scheelen [SPD]: Die leiden unter euch!) Poß [SPD]: Ja, das hätten wir gerne noch ein-
Sie reden in Ihrem Antrag, meine Kolleginnen und Kol- mal gehört!)
legen von der Sozialdemokratie, nur über Einnahmen Das ist der Vorschlag der Sozialdemokraten. Sie ver-
der Kommunen. Von den Ausgaben wollen Sie gar nicht schweigen, dass das am Ende zulasten der Arbeitnehme-
so viel sprechen, weil die Ausgaben nämlich ein Pro- rinnen und Arbeitnehmer geht, weil Sie damit die Wett-
blem sind, das Sie verursacht haben. bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft massiv
(Beifall bei der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: schwächen, was am Ende Arbeitsplätze kosten wird. Das
Das ist doch nicht wahr! – Zuruf von der SPD: ist keine sozial verantwortliche Politik. Deswegen ma-
Blödsinn!) chen wir da nicht mit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es sind 40 Milliarden Euro Sozialausgaben unter
Rot-Grün entstanden. Das ist die Folge Ihrer Sozialpoli- Ihr Vorschlag ist nicht einmal logisch und schon gar
tik. keine Lösung.
(Joachim Poß [SPD]: So viel Unsinn kann man (Joachim Poß [SPD]: Er hat sich verirrt! Aber
nicht mal in einem Redebeitrag von einer er verirrt sich ja öfter! – Manfred Zöllmer
Stunde korrigieren!) [SPD]: Erklären Sie das doch noch mal!)
Sie wollten damals nicht auf uns hören. Wir hatten Ihnen Was im Einkommensteuerrecht nicht einmal ansatzweise
damals in der Föderalismuskommission I gesagt, dass von Ihnen angedacht wird, soll bei der Gewerbesteuer
wir ein Konnexitätsprinzip brauchen, dass es mit den umgesetzt werden. Kein Mensch außer Ihnen käme auf
Kommunen so nicht weitergehen kann. Wenn der Bund die Idee, die Mieten der Bürgerinnen und Bürger zu be-
Ausgaben beschließt, so wie Sie es zur Genüge getan ha- steuern oder ihnen höhere Steuern abzuverlangen, weil
ben, dann muss er auch die Finanzierung sicherstellen. sie höhere Ausgaben haben.
8528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Volker Wissing


(A) (Bernd Scheelen [SPD]: Das sind ja auch (Beifall bei der FDP – Sven-Christian Kindler (C)
keine umgewandelten Gewinne!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Arbeit
aufhalten – das machen Sie doch selber!)
Was im Einkommensteuerrecht schlicht Unsinn ist, das
wird bei der Gewerbesteuer nicht zu einer Form der hö- Die Gemeindefinanzreform wird kommen. Sie wird
heren Weisheit. Es ist gut, dass FDP und Union Ihrem zu einer Verbesserung der finanziellen Lage der Kom-
finanzpolitischen Unsinn ein Ende bereiten. Wir haben munen führen. Davon haben die Kommunen jedenfalls
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz dafür ge- mehr als von Ihrem Antrag, der nichts anderes ist als ein
sorgt, dass Unternehmen nicht – aufgrund Ihrer Gesetze – Hohelied der Gewerbesteuer.
in Insolvenz geraten. Wir werden diese Politik fortset-
zen. (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich würde Ihnen empfehlen, endlich einmal mit Ihrer un-
sinnigen Diskussion über die Verstetigung der Gewerbe-
Wir Liberale werden an unserer Forderung festhalten, steuereinnahmen aufzuhören. Wenn Sie mit der Gewer-
die Gewerbesteuer zu ersetzen, um ein wettbewerbsfähi- besteuer so konform gehen, dann machen Sie doch
geres und besseres Unternehmensteuerrecht in Deutsch- einmal einen Vorschlag, wie Sie die Kommunen mit der
land zu erreichen, ganz im Interesse der Arbeitnehmerin- Gewerbesteuer finanzieren wollen, ohne Arbeitsplätze
nen und Arbeitnehmer, die wir fest im Blick haben; das zu gefährden.
bestätigen auch die günstigen, rückläufigen Arbeitslo-
senzahlen. Diese Politik ist gut für dieses Land und für (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das funktio-
die Kommunen. Der Koalitionsvertrag sieht im Hinblick niert seit 70 Jahren!)
auf die Ersetzung der Gewerbesteuer einen Prüfauftrag Das können Sie nicht.
vor. Wenn der Bundesfinanzminister in einzelnen Ge-
sprächen andere Vorstellungen hat, nehmen wir das zur Deswegen: Hören Sie mit Ihren Anträgen auf und dis-
Kenntnis. Das Ziel der FDP bleibt jedenfalls, die Gewer- kutieren Sie konstruktiv mit uns! Wir brauchen eine bes-
besteuer zu ersetzen, die Kommunen solide zu finanzie- sere kommunale Finanzierung und keine Fortführung
ren, Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und ein der Probleme, die Sie geschaffen haben.
besseres Unternehmensteuerrecht in Deutschland zu im- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
plementieren. Das ist das Ziel, und an diesem Ziel halten Nicolette Kressl [SPD]: Das kann ja keiner
wir eisern fest. ernst nehmen!)
(Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE
LINKE]: Welche Aufgabe hat dann noch die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) (D)
Kommission?) Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann vom
Es geht aber nicht nur um die Gewerbesteuer. Auf- Bündnis 90/Die Grünen.
grund der Beschlüsse der christlich-liberalen Koalition
ist eine Gemeindefinanzkommission eingesetzt wor- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den. Die Gewerbesteuer gehört hier aber untrennbar Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
dazu. Kollegen! Verehrte Anwesende auf den Besuchertribü-
Rot-Grün hat mit den Hartz-IV-Reformen den Grund- nen! Herr Wissing, Ihre Rede macht deutlich, wie blank
stein für die Finanznöte der Kommunen gelegt. Sie beim Thema Kommunen eigentlich sind.
Schwarz-Gelb geht nun daran, die Gemeindefinanzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
auf eine solide Basis zu stellen. Wenn wir Ihre Fehler bei der SPD und der LINKEN)
korrigieren – –
Herr Götz, Ihre Fraktion im Übrigen auch. Denn was Sie
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE konsequent machen, ist, sich mit der Regierungszeit von
GRÜNEN]: Unglaublich!) Rot-Grün und den Beschlusslagen aus den Jahren 2002
– Die Grünen wollen mit all dem nichts mehr zu tun ha- und 2004 zu beschäftigen.
ben; die Sozialdemokraten wollen mit Hartz IV nichts (Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist leider not-
mehr zu tun haben. wendig!)
(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Nun kann man der FDP zugestehen, dass sie gerade erst
Doch!)
seit einem Jahr regiert. Aber auch nach einem Jahr Re-
Die Kommunen zahlen aber bis heute; denn Sie haben gierung könnte man fragen: Wo ist denn der substan-
die Kommunen mit ihren ungelösten Problemen allein- zielle Vorschlag in der Sache, der die Lage der Kommu-
gelassen. Wir stellen uns all diesen Aufgaben. nen verbessert? Der ist bisher nicht da, weil Sie dazu
nichts zu sagen haben.
Wir werden Ihre Fehler auch in diesem Bereich korri-
gieren. Es wäre nur besser, wenn Sie uns dabei konstruk- Das Einzige, was gerade wirklich gut war, war, dass
tiv unterstützen würden, anstatt uns mit Ihren Anträgen Sie sowohl den Kommunen als auch der CDU noch ein-
ohne jeden substanziellen Inhalt bei der Arbeit aufzuhal- mal eindeutig gesagt haben, wo bei Ihnen die Fahrt hin-
ten. Rot-Grün hat die Kommunen in die Schieflage ge- geht. Ich habe mir den Satz gemerkt: Wir halten eisern
bracht; Schwarz-Gelb wird die Kommunen sanieren. an der Abschaffung der Gewerbesteuer fest. Ich hoffe,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8529
Britta Haßelmann
(A) das haben die Städte und Gemeinden gehört, und ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
hoffe, das haben auch die CDUler gehört. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir könnten über viele weitere Fragen reden.
LINKEN) Ich möchte Sie gern einmal an etwas erinnern. Sie sa-
Herr Götz, Sie bei der CDU können sich das in der gen hier: Wir wollen, wir würden gern, wir möchten in
Sache nicht so einfach machen. Merken Sie eigentlich der nächsten Zeit. Was haben Sie denn letzte Woche hier
nicht, dass sich die Menschen bei der Auseinanderset- im Bundestag entschieden? Sie haben den Einspruch des
zung mit den Jahren 2002 und 2004 inzwischen fragen: Bundesrates, der mit Stimmen der CDU-Länder formu-
Was sind eigentlich die konzeptionellen Vorschläge der liert worden ist, nämlich bei den Kosten der Unter-
CDU, die seit 2005 regiert und die Kanzlerin stellt? kunft zu einem höheren Bundesanteil zu kommen, ein-
fach ganz schnöde zurückgewiesen. Sie haben ohne jede
(Peter Götz [CDU/CSU]: Seitdem ist es besser Debatte die höhere Bundesbeteiligung einfach abge-
geworden für die Kommunen!) lehnt.
Seit 2005, das sind immerhin fünf Jahre! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Wir können gerne über die Frage der Verantwortung
für die Auswirkungen der Kapitalertragsteuer auf die Dann kommen Sie mir doch nicht mit der Debatte über
Kommunen unter Rot-Grün reden. Diese habe ich schon 2004. Sie haben letzten Freitag die Chance gehabt, zu
zu rot-grünen Zeiten kritisiert. Ich kann Ihnen aber auch entscheiden, dass die Kommunen einen höheren Bun-
sagen, wie im Bundesrat Ihre CDU bei solchen Vor- desanteil bekommen.
schlägen gehandelt, agiert und das Ganze befeuert hat.
Ferner möchte ich gerade die CDUler aus NRW – die
Darüber können wir gerne reden.
müssten sich jetzt eigentlich alle wegducken –
(Bernd Scheelen [SPD]: Genau, da kamen die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
her!)
daran erinnern, dass Ihre NRW-CDU noch am 26. Okto-
Das ändert aber für die Zukunft nichts. Das legt nur of- ber 2010 gemeinsam mit Rot und Grün in NRW einen
fen, wie blank und nichtssagend Ihre Vorschläge bislang Landtagsantrag auf den Weg gebracht hat, mit dem der
sind. Sie haben in der Frage, wie wir denn die Probleme Bund aufgefordert wird, einen Anteil von 50 Prozent der
der Städte und Gemeinden lösen, nichts zu bieten. Kosten der Unterkunft zu übernehmen, um zu einer Ent-
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lastung der sozialen Kosten zu kommen. Wo waren denn (D)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die über 40 Abgeordneten aus NRW letzten Freitag? Ich
LINKEN) sage Ihnen: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen las-
sen, dass Herr Röttgen als neuer Vorsitzender der NRW-
Wenn wir uns die Politik von heute ansehen – wir sind CDU hier im Bundestag gegen die Beschlusslage seiner
ja im Hier und Jetzt, im Jahr 2010 –, dann kann man ei- eigenen Leute in NRW stimmt und sich in NRW für sol-
nige in Ihrer Verantwortung getroffene Beschlüsse fest- che Sachen feiern lässt.
stellen – ich will sie Ihnen gern in Erinnerung rufen; denn
das tun Sie anscheinend ungern –: 6,5 Milliarden Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Minus durch Steuersenkungsbeschlüsse seit dem Jahr bei der SPD und der LINKEN)
2008 für die Kommunen, 600 Millionen Euro Minus
durch Änderungen bei den Funktionsverlagerungen im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Rahmen der Unternehmensteuer. Dann als Nächstes die Frau Kollegin Haßelmann, lassen Sie eine Frage des
SGB-II-Reform, die Streichung beim Heizkostenzu- Kollegen Götz zu?
schuss und beim Kinderwohngeld; das sind über
300 Millionen Euro. Streichung bei den ALG-Renten- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
beiträgen: über 1,8 Milliarden Euro. Das alles wurde ge- Gerne.
strichen, und zwar zulasten der Kommunen, gerade im
aktuellen schwarz-gelben Haushalt. Wir haben eine Kür- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zung der Städtebaufördermittel zu verzeichnen. Das Ge- Bitte, Herr Götz.
bäudesanierungsprogramm ist gestrichen worden.
(Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist doch nicht Peter Götz (CDU/CSU):
wahr! Das ist doch einfach nicht wahr!) Frau Kollegin, ich würde Sie gerne fragen, ob Sie es
als ehrlich empfinden, dass Sie sich darüber beklagen,
Das alles ist massiv eingeschränkt worden. Wir haben
dass der Anteil des Bundes an den Kosten der Unter-
massive Kürzungen bei den Eingliederungshilfen und
kunft jetzt nicht erhöht wird, obwohl Sie während Ihrer
bei den Arbeitsmarktmitteln. Das alles liegt in Ihrer jet-
Regierungszeit den Anteil des Bundes an diesen Kosten
zigen Verantwortung und ist den Städten und Gemeinden
auf null gesetzt haben. Finden Sie das in Ordnung?
aufgebürdet worden. Diese Beschlusslagen aus Ihrem
Haushalt werden die Städte und Gemeinden massiv tref- (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch Quatsch!
fen. Unsinn!)
8530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nach Übernahme der Regierungsverantwortung durch (C)
Herr Götz, wenn Sie meiner Rede gefolgt wären, Dr. Angela Merkel als Bundeskanzlerin diese 3,2 Mil-
wüssten Sie, dass das, was Sie gesagt haben, in der Sa- liarden Euro den Kommunen als Anteil des Bundes an
che nicht richtig ist. den Kosten der Unterkunft sofort wieder zur Verfügung
gestellt worden sind.
(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Aber selbst-
verständlich!) (Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen
Vielleicht hat ja jemand, der nach mir spricht, mehr Re- [SPD]: Schwachsinn!)
dezeit und kann darauf eingehen. Heute mehr zu fordern, ist die eine Sache. Darüber
Das Nächste ist: Sie regieren seit 2005. Warum haben kann man natürlich immer reden. Ich frage Sie, ob Ihnen
Sie den Bundesanteil nicht erhöht, wenn Sie glauben, bewusst ist, dass wir gegenwärtig einen Bundeshaushalt
dass die Beschlusslagen falsch waren? In der letzten Le- – Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, Haushälterin –
gislaturperiode lag uns hier sogar ein Antrag der damali- mit einer Nettoneuverschuldung von nahezu 50 Milliar-
gen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, beste- den Euro haben. Deshalb wird es auch in Zukunft
hend aus CDU und FDP, vor. Ich sage Ihnen: Sie schwierig sein, die Auswirkungen auf die unterschiedli-
kommen damit nicht durch. Sie können nicht immer sa- chen politischen Ebenen einigermaßen angemessen zu
gen: 2004 ist etwas passiert; 2004 ist etwas falsch gelau- berücksichtigen. Können Sie mir folgen?
fen.
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: So ist es! Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dafür sind Sie verantwortlich! Da vorn steht Das heißt, Sie sind dagegen, dass sich die Bundes-
die Angeklagte! – Dr. Birgit Reinemund ebene an sozialen Kosten in einem höheren Umfang be-
[FDP]: Das müssen Sie sich schon sagen las- teiligt. So habe ich Ihren Einwand verstanden.
sen, immer wieder!)
(Peter Götz [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)
Sagen Sie doch einmal, was Ihr Ansatz bei der Frage der
sozialen Kosten ist. Wie stehen Sie zu einem höheren Über die Jahre 2002 und 2004 können wir in aller
Bundesanteil? Sie haben keine Idee, und deshalb reden Ruhe diskutieren. Wir können auch über Verantwortlich-
Sie gerne über die Jahre 2002 oder 2004. Ich finde, das keiten und Beschlüsse, die getroffen wurden, reden. Das
darf man Ihnen nicht durchgehen lassen. entlässt Sie aber nicht aus der Verantwortung, Herr Götz.
Ich bin seit fünf Jahren im Bundestag. Seit vier Jahren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, diskutieren wir über einen höheren Bundesanteil, über
(B) bei der SPD und der LINKEN) eine größere Verantwortung des Bundes bei den Kosten (D)
der Unterkunft. Ich stelle fest, dass Sie sich seit vier Jah-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren im Bund dagegen wehren, zu einem anderen Berech-
Frau Haßelmann, erlauben Sie eine Nachfrage des nungsmodus zu kommen und den Anteil des Bundes zu
Kollegen Götz? erhöhen. Auf kommunaler Ebene, auf Landesebene und
im Bundesrat streiten CDU-geführte Länder aber sehr
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wohl dafür, dass der Anteil des Bundes steigt. Ich sage
Ihnen: Diese Widersprüchlichkeit wird man feststellen.
Wenn Herr Götz sich so mehr Redezeit verschaffen
Die Leute bemerken das. Das darf man Ihnen nicht
möchte, bitte.
durchgehen lassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bitte. und bei der SPD)
Jetzt lassen Sie uns einmal über die Kommission zur
Peter Götz (CDU/CSU): Gemeindefinanzreform reden. Sagen Sie doch einfach
Mir geht es nicht um mehr Redezeit, sondern mir geht einmal, was Sie wollen. Die FDP hat gerade erklärt: Wir
es darum, dass wir einigermaßen bei der Wahrheit blei- halten an der Abschaffung der Gewerbesteuer eisern
ben. fest. Bei Ihnen ist das so: Erst erklärt der Finanzminister:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – „Wir schaffen die Gewerbesteuer ab und ersetzen sie“,
Bernd Scheelen [SPD]: Das wäre einmal jetzt ist er auf dem Trip, die Gewerbesteuer beizubehal-
schön!) ten. Das ist ein Versprechen an die Kommunen – mittler-
weile von Angela Merkel und dem Finanzminister. Jetzt
ist gemeinsam mit der FDP anscheinend die Lösung ge-
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): funden worden, die Gewerbesteuer zu entkernen, anstatt
Ja, bitte. Das finde ich auch gut. Ich erinnere Sie nur sie auszubauen, sie also sozusagen zu einer Rumpfge-
an den letzten Freitag. winnsteuer zu machen, um sie dann im zweiten Schritt
abzuschaffen. Ich sage Ihnen: Es gibt nur zwei Gemein-
Peter Götz (CDU/CSU): desteuern. Diese Gemeindesteuern brauchen die Städte
Dazu gehört, dass der Anteil des Bundes an den Kos- und Gemeinden als stabile Steuern und nicht etwa so
ten der Unterkunft während der Zeit Ihrer Regierungs- entkernt und so entschlackt, dass sie sich nur noch auf
verantwortung auf null gesetzt wurde und dass sofort Gewinne beziehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8531
Britta Haßelmann
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
Ich halte auch Ihre Analyse für falsch. Es ist nicht
richtig, zu sagen, wir bewerten Fremdkapital oder Angesichts einer Situation von 12 Milliarden Euro
Fremdfinanzierungen völlig anders als Eigenkapital. Defizit, von 40 Milliarden Euro Kassenkrediten und
Vielmehr brauchen wir auch die Hinzurechnungen. Ihr 50 Milliarden Euro Investitionsnotwendigkeiten gehört
Totschlagargument, dass damit eine Substanzbesteue- in die Debatte ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit als nur
rung vorliege, ließe sich doch auflösen. Wir finden genü- Verweise auf frühere Regierungen und Absichtserklä-
gend Möglichkeiten, zum Beispiel über Freibeträge oder rungen, die bei Ihnen heute so und morgen so aussehen.
Verlustvorträge, um im Rahmen der Gewerbesteuer zu Legen Sie doch einmal vor, welche Form von Bundesbe-
berücksichtigen, dass Unternehmen schlechte Jahre ha- teiligung Sie bei den Kosten der Unterkunft und bei der
ben, aber dennoch weiterhin Hinzurechnungen erzielen. Grundsicherung im Alter wollen.
Mehr als Ausreden sind bei Ihnen bisher konzeptionell
(Peter Götz [CDU/CSU]: Halten Sie es doch
gar nicht drin. Schenken Sie den Leuten endlich einmal
noch vier Wochen aus!)
reinen Wein ein, und sagen Sie als CDU – die FDP hat es
schon getan –, was Sie wollen! Ich sehe nur einen Finanzminister, der jeden Tag einen
neuen Vorschlag macht, so jüngst den Vorschlag, dass
(Peter Götz [CDU/CSU]: Das habe ich doch der für die Bundesagentur für Arbeit gedachte Mehr-
vorhin gesagt!) wertsteuerpunkt, der 8 Milliarden Euro ausmacht, an die
Wohin wollen Sie denn bei der Gewerbesteuer? Einmal Kommunen gehen soll.
sind Sie dafür, einmal sind Sie dagegen und wollen sie
irgendwie ersetzen. Das ist doch keine substanzielle Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Politik einer Regierungspartei! Frau Haßelmann, Ihre Zeit ist schon lange abgelau-
fen.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: War-
ten Sie doch mal ab!)
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sagen Sie den Leuten klar, ob Sie sie abschaffen oder ob Ich komme sofort zum Ende.
Sie sie ersetzen wollen! Legen Sie ein Modell vor, über
das man reden kann! Aber agieren Sie hier nicht mit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Teufelsszenarien nach dem Motto: Wir gingen hier voll
(B) in die Substanzbesteuerung. – Es gibt genug Möglich- Sie müssten wieder einmal durchatmen; das wäre (D)
keiten, das Thema Substanzbesteuerung zu regeln, zum ganz gut.
Beispiel durch Freibeträge und durch Verlustvorträge. In (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
der Sache können wir gerne darüber streiten. und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann
Ein zweites Thema: die kommunale Einkommen- meiner Meinung nach nicht auf noch mehr Geld verzich-
steuer. Hierbei handelt es sich doch um ein vergiftetes ten. Sie haben deren Haushalt um 16 Milliarden Euro ge-
Angebot an die Städte und Gemeinden. Wollen Sie denn schröpft. Das ist genug.
den Städten und Gemeinden im Ruhrgebiet sagen: „Wir,
Schwarz-Gelb in Berlin, senken die Einkommensteuer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und machen uns als diejenigen beliebt, die Steuern sen- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
ken; aber ihr vor Ort könnt dann schön den Hebesatz an- LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Die Rede
heben, wenn es euch miserabel geht, und seid damit für wird durch Länge nicht besser!)
die Steuererhöhungen verantwortlich“? – Wie kann man
einen solchen Vorschlag in einer Situation machen, in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
der Städte und Gemeinden 40 Milliarden Euro Kassen- Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann von der
kredite haben? CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU)
Da kann man doch nicht einfach nur sagen, der Wettbe-
werb der Kommunen solle befördert werden. Wir müs- Antje Tillmann (CDU/CSU):
sen dringend etwas tun, damit es nicht zu einem ruinösen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wettbewerb der Städte und Gemeinden untereinander Gern nutze ich erneut die Gelegenheit, mit Ihnen heute
kommt. Wenn Ihre Antwort darauf die kommunale Ein- über die Finanzausstattung der Kommunen zu reden. Ich
kommensteuer ist, dann hoffe ich, dass Ihnen genügend hätte mich aber gerne einmal mit neuen Positionen und
Städte und Gemeinden, denen es schlecht geht, wirklich neuen Tatbeständen auseinandergesetzt und nicht zum
einmal deutlich die Quittung für einen solchen Vorschlag wiederholten Male mit den immer gleichen Argumenten,
geben. die keine Lösung für die Kommunen darstellen.
8532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Antje Tillmann
(A) In Ihrem Antrag „Klare Perspektiven für Kommunen – Was haben wir bisher gemacht? Diese Frage, die Sie (C)
Gewerbesteuer stärken“, liebe Kollegen von der SPD, gestellt haben, ist berechtigt. Kollege Götz hat sehr be-
fällt Ihnen wieder nur die Gewerbesteuer ein. Sie for- eindruckend dargestellt, was wir in den vergangenen
dern uns auf, Gesetzesänderungen zu unterlassen, auf die Jahren für die Kommunen getan haben.
Einführung neuer Gestaltungsmöglichkeiten zu verzich- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
ten und bei der Gemeindefinanzkommission, von der Sie
sowieso nichts halten, schnell zum Ende zu kommen. Ich kann die Liste der Gesetze, bei denen wir ausdrück-
lich auf die möglichen Auswirkungen auf die Kommu-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt nen geachtet haben, fortführen: Konjunkturprogramme,
doch gar nicht!) CO2-Programme. Ja, diese wurden in der Großen Koali-
Herr Minister Kühl, dass Sie sich hier hinstellen und tion beschlossen. Sie werden ja nicht verhehlen, dass wir
dabei waren und federführend mit an den Konjunktur-
die Schuldfrage in dem Sinne klären, dass die Finanzsi-
programmen gearbeitet haben.
tuation der Kommunen dadurch entstanden sei, dass der
Bund Gesetze im Sozial- und Steuerbereich gemacht Ich kann gerne auch Beispiele aus dieser Legislatur-
habe, die die Kommunen belasteten, finde ich einiger- periode nennen. Wir werden morgen über das Bildungs-
maßen dreist; denn jeder von uns weiß, dass diese Bun- paket abstimmen. Das Bildungspaket entlastet die Kom-
desgesetze selbstverständlich im Bundesrat gewesen munen bei den Kosten für Kita- und Schulmittagessen
sind und dass Sie als Vertreter der Länder sich Ihre Zu- für bedürftige Kinder. Das kostet den Bund 120 Millio-
stimmung haben gut abkaufen lassen. Das war ein rich- nen Euro.
tig teures Vergnügen für den Bund. Leider haben Sie (Joachim Poß [SPD]: Indem Sie auf der ande-
dann vergessen, das Geld an die Kommunen weiterzuge- ren Seite Milliarden gestrichen haben!)
ben, sodass die Schuldfrage, wenn überhaupt, zwischen
uns beiden gemeinsam zu klären ist. Die Kommunen werden entlastet, indem wir 500 Millio-
nen Euro für außerschulische Bildung zur Verfügung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellen. Die Kommunen werden entlastet, indem wir die
Fahrtkosten von bedürftigen Schülerinnen und Schülern
Ich finde, dass es zur Ehrlichkeit gehört – viele Red-
an weiterführenden Schulen übernehmen.
ner in dieser Debatte sind ja aus dem Finanzbereich –, zu
sagen, wie sicher die Gewerbesteuer ist. Sie ignorieren (Joachim Poß [SPD]: Wodurch werden sie im
immer noch, dass die Gewerbesteuer nicht nur konjunk- sogenannten Sparpaket belastet?)
turabhängig ist, sondern auch große Risiken aufgrund Natürlich kommen wir als Bund auch für die entspre-
veränderter Rechtsprechung birgt. Sie ignorieren, dass chenden Verwaltungskosten auf.
(B) sich bei den Körperschaften zwischenzeitlich ein Ver- (D)
lustvortragspotenzial von über 506 Milliarden Euro Herr Götz hat Ihnen die Energieprogramme darge-
aufgebaut hat und dass diese Verlustvorträge zu Steuer- stellt. Es gibt auch hier kein einziges Programm, bei dem
ausfällen von 140 Milliarden Euro führen könnten. Die die Kommunen nicht besonders gefördert werden.
bestehenden Verlustvorträge entsprechen dem 3,6-Fa- Für Sprachförderung stellen wir 400 Millionen Euro
chen des Jahresaufkommens von Körperschaftsteuer und zur Verfügung.
Gewerbesteuer gemeinsam. Diese Thematik hat auf-
grund des BFH-Beschlusses vom August 2010 an Bri- Hinsichtlich der Steuervereinfachungsgesetze – diese
sanz gewonnen. Der BFH hat bezüglich der Regelung stehen ja noch an – haben wir schon gesagt, dass die
zur Mindestbesteuerung gesagt, dass sie in Sonderfäl- Kommunen an deren Finanzierung nicht beteiligt werden.
len eventuell nicht rechtens ist und die Verluste geltend Was tun Sie von den Sozialdemokraten und den Lin-
gemacht werden dürfen. ken? Sie diskutieren morgen mit uns über die Regelsätze
Auch die Abschirmwirkung der Gewerbesteuer, bei Hartz IV. Ihnen sind die 5 Euro Regelsatzerhöhung
zu wenig.
die die Kommunen bisher als Garant für die Kontinuität
der Steuereinnahmen gesehen haben, gilt nicht mehr, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
weil die Rechtsprechung des EuGH auch hier zu Verän- Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wesentlich zu
derungen führt. wenig!)
Sie aber erzählen den Kommunen: Wir behalten die Ich habe von Ihnen noch kein Wort dazu gehört – auch in
Gewerbesteuer bei, dann wird alles gut, dann ist eure Fi- Ihren Änderungsanträgen steht dazu nichts –, dass diese
nanzsituation gesichert. Das verstehen wir nicht unter Regelsatzerhöhung selbstverständlich Auswirkungen
klaren Perspektiven für Kommunen. auf die Kommunen hat, weil sie automatisch auch Folge-
wirkungen auf SGB XII hat. 5 Euro Regelsatzerhöhung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bedeutet 143 Millionen Euro Kosten für die Kommunen.
neten der FDP) Dazu haben Sie keinen Gegenfinanzierungsvorschlag
gemacht;
Wir sind froh, dass das Finanzministerium Vorsorge trifft
und überlegt, wie man diese Risiken, die gegebenenfalls (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch!)
auf uns und insbesondere auf die Kommunen zukom-
fordern aber hier eine weitergehende Regelsatzerhöhung
men, auffangen kann und wie man schon heute Entschei-
ständig ein.
dungen treffen kann, um die Kommunen in die Lage zu
versetzen, besser planen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8533
Antje Tillmann
(A) Sie sehen, dass die bundespolitischen Maßnahmen vernünftig, sachlich und sozial gerecht entscheiden? (C)
massiv an Qualität gewonnen haben, seitdem wir an der Wird es sofort eine Zunahme sozialer Brennpunkte ge-
Regierung sind. Es gibt kein Gesetz, bei dem die Aus- ben, bloß weil wir den Stadträten erlauben, über ihre
wirkungen auf die Kommunen nicht betrachtet werden, Stadt selber zu entscheiden? Das ist nicht unsere Auffas-
sung.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
natürlich unter dem Aspekt, dass Bund, Länder und Wir glauben, dass auf kommunaler Ebene sehr verant-
Kommunen massive finanzielle Schwierigkeiten haben. wortungsbewusst und sehr vernünftig entschieden wird.
Im Gegensatz zu einigen anderen im Haus, die der
Schuldenbremse nicht zugestimmt haben, finde ich nach (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wie vor, dass das die beste Errungenschaft der letzten NEN]: Dann definieren Sie doch mal die An-
Legislaturperiode war. Wir stehen dazu. gemessenheit!)

(Joachim Poß [SPD]: Die größte Zeitbombe, Das Gleiche gilt beim Thema Hebesätze. Die Kom-
die wir beschlossen haben!) munen und die kommunalen Spitzenverbände halten das
Hebesatzrecht bei der Gewerbesteuer und der Grund-
Man muss natürlich alle drei Ebenen gleichzeitig be- steuer zu Recht hoch. Unterschiedliche Lebensverhält-
trachten. nisse gibt es schon heute; der Geringverdiener in einer
Großstadt wird durch die Grundsteuer natürlich mehr be-
Frau Kollegin Haßelmann, Sie weisen zu Recht darauf
lastet als der Geringverdiener in einer kleineren Stadt.
hin, dass Vergangenheitsbewältigung schwierig ist, wenn
Das Hebesatzrecht ist Ausdruck der kommunalen Selbst-
etwas schon sieben Jahre her ist. Die Kommunen leiden
verwaltung. Wenn es bei der Gewerbesteuer und bei der
aber tatsächlich immer noch unter den Kosten der
Grundsteuer gerecht ist, warum soll es dann bei der Ein-
Grundsicherung. Das ist einer der Bereiche, in dem die
kommensteuer und der Körperschaftsteuer Gift sein?
Kosten außerordentlich stark steigen. Deshalb finde ich
den Vorschlag des Bundesfinanzministers, die Kommu- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dazu sage ich
nen an dieser Stelle gegebenenfalls zu entlasten, richtig. gleich noch etwas!)
Wir werden hier Reparaturen an Problemen durchführen,
die Sie verursacht haben. Wir werden Spielräume schaf- Das Problem liegt doch eher bei den Ländern; das sa-
fen. Wir glauben, dass solche Spielräume nützlicher sind gen die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände sehr
als irgendwelche Sonderprogramme für die Kommunen. deutlich. Die kommunalen Spitzenverbände haben die
Sorge, dass das Hebesatzrecht von den Ländern sofort
(B) Wir trauen den Kolleginnen und Kollegen auf kom- genutzt wird, um Kommunen zu zwingen, eine Steuer zu (D)
munaler Ebene zu, verantwortlich eigene Entscheidun- erheben.
gen zu treffen.
(Joachim Poß [SPD]: Was? Die kommunalen Spit-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie müssen zenverbände sagen etwas ganz anderes!)
aber auch Geld dafür haben, Entscheidungen
zu treffen!) Das werden wir durch ein Bundesgesetz ausschließen,
sollten wir uns tatsächlich auf dieses Hebesatzrecht ver-
Wir werden durch die Gesetzesänderungen bei SGB II ständigen. Das ist für uns wiederum ein Ausdruck des Be-
und SGB XII ein Satzungsrecht beschließen, demzu- mühens, die Verantwortung auf die Ebene zu heben, wo
folge Kreise und Kommunen demnächst die Höhe der sie hingehört. Die Verantwortung für die Kommunen ge-
Kosten für Unterkunft und Heizung in ihren Gebieten hört nicht nach Berlin, sondern in die Stadträte. Wir ver-
angemessen selbst bestimmen dürfen und demzufolge trauen unseren Vertreterinnen und Vertretern dort sehr.
Kommunen demnächst auch Pauschalen für die Kosten
von Unterkunft und Heizung einführen dürfen. Liebe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Kollegin Haßelmann, liebe Kolleginnen und Kollegen Joachim Poß [SPD]: Die kommunalen Spit-
von den Grünen, Ihren im Ausschuss eingebrachten Än- zenverbände weisen übrigens auch darauf hin,
derungsantrag kann ich daher eigentlich nur als Miss- dass Sie das Land spalten!)
trauensvotum gegenüber Stadträten sehen. Sie fordern in Ihrem zweiten Antrag schließlich, dass
(Frank Tempel [DIE LINKE]: Das heißt, den bundesgesetzliche Regelungen hinsichtlich ihrer Finan-
Schwarzen Peter weiterzuschieben!) zierung bzw. ihrer Kosten künftig einer Stellungnahme
durch die Kommunen zu unterziehen sind. Das ist ein
Die Grünen fordern in ihrem Antrag, diese Regelung zu guter Vorschlag. Die Gemeindefinanzkommission hat
streichen. In Ihrem Antrag heißt es: ihn aber schon längst gemacht; und ich schätze auch die
Die Regelungen zur Bestimmung der angemesse- Vorschläge, die von dort kommen, sehr. Ich finde es
nen Kosten für Unterkunft und Heizung durch Sat- nämlich richtig, dass wir demnächst, wenn wir über
zung führen zu sozialpolitisch unerwünschten Fol- Bundesgesetze sprechen, auch die Auswirkungen auf die
gen. Die Folge wäre eine verstärkte Segregation Kommunen, die die Kommunen in einer Stellungnahme
und die Zunahme sozialer Brennpunkte. zum Ausdruck bringen können, beraten. Es darf nicht
nur um den Gesetzestext, der vom Finanzministerium
Liebe Kollegen, was haben Sie für ein Verständnis von sowieso vorgelegt wird, gehen, sondern die kommunalen
Kommunalpolitik? Sind wir in Berlin die Einzigen, die Spitzenverbände sollten ruhig eine Stellungnahme abge-
8534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Antje Tillmann
(A) ben dürfen. Wir glauben, dass wir bei Bundesgesetzen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
dann noch mehr auf die Kommunen achten könnten. Keine Zwischenfragen, okay.
Aber ich wiederhole: Das wäre eigentlich Aufgabe der
Länder, die das offensichtlich aber nicht vernünftig ma- Bernd Scheelen (SPD):
chen, sodass wir diese Verantwortung gerne überneh-
Nächster Punkt: Kosten der Unterkunft. Herr Götz,
men.
den Unsinn, den Sie hier verbreiten, muss man ein für
Liebe Kollegen, wir wollen klare Perspektiven für die alle Mal ausrotten. Sie verbreiten die Lüge, im Gesetz
Kommunen: mehr Planungssicherheit, mehr Eigenver- habe es im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft eine
antwortung, mehr Handlungsspielraum. Das scheint für Nullsumme gegeben. Das ist und bleibt eine Lüge.
Sie ein Experiment zu sein, das Sie sich nicht zutrauen.
(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Na, na!
Wir trauen uns das zu.
Jetzt wird es unanständig!)
(Joachim Poß [SPD]: Sie trauen sich jeden Un-
In dem Gesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat – da-
sinn zu! Das ist ja das Problem!)
mals war von Angela Merkel als Bundeskanzlerin über-
Wir glauben, dass die Stadträte in den Kommunen vor haupt noch nicht die Rede –, haben wir eine Summe von
Ort richtige, sozial verantwortliche und vernünftige Ent- über 4 Milliarden Euro festgelegt, wobei die Kommunen
scheidungen treffen können. um 2,5 Milliarden Euro entlastet wurden. Die Null, die
Sie ansprechen, war ein Platzhalter im Gesetz, der auf-
Danke schön. grund der Tatsache, dass Sie diese Entscheidung im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrat verhindert haben, weil Ihnen das alles zu viel
war, notwendig war.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/CSU]:
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der Seit wann gibt es denn im Haushalt Platzhalter? –
SPD-Fraktion. Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Ist hier
schon Fastnacht? – Weitere Zurufe von der
(Beifall bei der SPD) CDU/CSU: Oh! – Aha! Wir sind also mal wie-
der schuld!)
Bernd Scheelen (SPD):
Jetzt zum Thema. Im Jahre 2008 erzielten die circa
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 12 500 Städte und Gemeinden in Deutschland Einnah-
ren! Ich bin dem Finanzminister des Landes Rheinland- men von 183 Milliarden Euro, ihre Ausgaben betrugen
(B) Pfalz, Carsten Kühl, sehr dankbar, dass er hier deutlich 175 Milliarden Euro. Das heißt, sie hatten einen Finan- (D)
gemacht hat, dass Bund und Länder in der Verantwor- zierungsüberschuss von 8 Milliarden Euro im Schnitt.
tung stehen. Ich darf sagen: Rheinland-Pfalz ist, was die Wir wissen, dass es Kommunen gab, denen es gut ging,
Verantwortung für die Kommunen angeht, vorbildlich. und Kommunen, denen es schlecht ging. Sie wissen, wie
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aha! Wie ist das das mit dem Durchschnitt ist. Wenn Sie mit einem Bein
denn beim Länderfinanzausgleich?) auf der Herdplatte stehen und mit dem anderen im Eis-
kübel, haben Sie im Schnitt eine angenehme Temperatur.
Ich darf auf den Fonds zur Stabilisierung der kommuna- Trotzdem haben Sie hinterher ein verbranntes und ein
len Finanzen hinweisen. Er hat Vorbildcharakter. Daran unterkühltes Bein.
sollten Sie sich ein Beispiel nehmen.
Im Jahr 2010 sieht das aber anders aus. Bei 180 Mil-
(Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ liarden Euro Ausgaben gab es nur noch 168 Milliarden
CSU]: Sagen Sie doch mal etwas zur Grunder- Euro Einnahmen. Das heißt, da ist jetzt plötzlich eine
werbsteuer!) Lücke von 12 Milliarden Euro. Im Vergleich zu 2008
– Jetzt sage ich etwas zur Grunderwerbsteuer, Herr fehlen 20 Milliarden Euro. Diese Lücke ist groß, und da
Götz, und komme damit zu Ihnen: Sie haben darauf hin- müssen wir als Bund handeln und helfen.
gewiesen, in Baden-Württemberg gebe es andere Zustän- (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])
digkeiten als in Rheinland-Pfalz. Das interessiert die
Kommunen eigentlich überhaupt nicht. Für die Kommu- Diese Lücke ist krisenbedingt, aber sie ist auch durch
nen ist wichtig, was bei ihnen ankommt. Dafür sind die Schwarz-Gelb bedingt. Durch Ihre Gesetze, die Sie in
Länder zuständig. Die Länder sind für die Verteilung der dem einen Jahr, in dem Sie regieren, gemacht haben – die
Steuermasse zuständig, und da verhalten sich Rheinland- Kollegin Haßelmann hat darauf hingewiesen; ich will
Pfalz und andere SPD-regierte Länder vorbildlich. das nicht im Einzelnen ausführen –, haben Sie die Kom-
munen schon um 3 Milliarden Euro zusätzlich belastet.
Das machen wir auf Dauer nicht mit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollegen Scheelen, möchten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der SPD)
frage zulassen? Deswegen haben wir den Antrag eingereicht, einen
Rettungsschirm für die Kommunen zu spannen. Denn
Bernd Scheelen (SPD): Kommunen sind genau wie Banken, genau wie Unter-
Nein, bitte nicht. nehmen, genau wie Arbeitsplätze systemrelevant. All
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8535
Bernd Scheelen
(A) das ist systemrelevant. In der Kommune erfahren die Unternehmen bei der Körperschaftsteuer belasten. Die (C)
Bürger Politik, dort nehmen sie wahr, welche Folgen Körperschaftsteuer ist aber oft bei null; da sollte man
Politik hat, und deswegen muss man den Kommunen sich einmal fragen, welcher Hebesatz auf null denn ir-
helfen. gendetwas bringt.
Wir haben in dem Antrag kurzfristige Maßnahmen Sie haben zwei Argumente gegen die Gewerbesteuer;
vorgeschlagen: mit denen will ich mich noch kurz auseinandersetzen.
Sie sagen, die Gewerbesteuer hat Aufkommensschwan-
400 Millionen Euro zusätzlich für Kosten der Unter-
kungen, und Sie sagen, die Gewerbesteuer wirkt krisen-
kunft; den Kommunen soll also der Betrag wiedergege-
verschärfend. Das sind ja Ihre beiden Hauptargumente.
ben werden, den Sie ihnen voriges Jahres weggenom-
men haben. Diesen Antrag haben wir letzte Woche im (Dr. Volker Wissing [FDP]: Bestreiten Sie
Haushaltsausschuss eingebracht. Den Antrag haben Sie das?)
abgelehnt. Da haben Sie Ihre Kommunalfreundlichkeit
bewiesen, Herr Götz. – Ich werde Ihnen gleich einmal ein paar Grafiken zei-
gen.
Dann haben wir gefordert, die Belastungen, die Sie
durch Ihre Gesetze geschaffen haben, auszugleichen. Erstes Argument: Wenn die Gewerbesteuer krisen-
Auch dazu haben wir von Ihnen bisher nichts gehört verschärfend wirkte – wir haben ja nun eine Krise mit
einem Einbruch des Wachstums um 4,7 Prozent –, dann
(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Natürlich!) müsste die Anzahl der Insolvenzen ja dramatisch nach
außer Ihrer Aussage, in der Kommission müsse man mal oben gegangen sein, dann müsste 2009 in etwa Folgen-
über die Gewerbesteuer reden. des passiert sein,

Von der Abschaffung der Gewerbesteuer soll ja das (Der Redner hält eine Grafik hoch – Dr. Birgit
Heil kommen. Das ist für die Städte und Gemeinden die Reinemund [FDP]: Das ist alles zu rot!)
wichtigste Steuer mit einem Aufkommen von 41 Milliar- dass nämlich wie hier auf der Grafik die Zahl der Insol-
den Euro im Jahr 2008. venzen doppelt so hoch liegt. Das ist aber nur ein Fake,
(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) denn tatsächlich ist die Zahl der Insolvenzen gleichge-
blieben.
– Ja, zu Ihnen komme ich gleich, Herr Dr. Wissing. Ma-
chen Sie sich ruhig schon mal parat. (Zuruf des Abg. Peter Götz [CDU/CSU])

(Lachen bei der FDP – Zuruf von der FDP: Im Jahr 2009, im stärksten Krisenjahr, gab es sogar we-
(B) Das sind wieder falsche Versprechungen, wie niger Insolvenzen als 2006, als 2005, als 2004. (D)
immer!) (Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])
Sie wollen den Kommunen die Gewerbesteuer wegneh- Das Argument zieht also nicht.
men. Die Gewerbesteuer – das muss man für die Zuhöre-
rinnen und Zuhörer vielleicht einmal erläutern – ist eine Zweites Argument: Aufkommensschwankungen.
Steuer, die nur von den Unternehmen gezahlt wird, und Natürlich schwankt das Aufkommen aus der Gewerbe-
zwar von denen, die das auch können, steuer. Allerdings hat der Deutsche Städtetag eine
schöne Broschüre mit dem Titel „Die Gewerbesteuer –
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das ist relativ!) eine gute Gemeindesteuer“ herausgegeben; die sollten
weil sie auf den Gewinn erhoben wird, und zum Gewinn Sie mal lesen.
werden tatsächlich bestimmte Dinge noch hinzugerech- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr gut!)
net. Sie haben gesagt, dabei handele es sich um Ausga-
ben. Das sind keine Ausgaben, sondern es sind in der Es sieht nämlich folgendermaßen aus:
Regel umgewandelte Gewinne. Es ist für Unternehmen,
(Der Redner hält erneut eine Grafik hoch)
gerade für international tätige, überhaupt kein Problem,
Die Gewerbesteuer schwankt mit einer Amplitude von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
knapp 30 Prozent – das ist richtig –, aber sie entwickelt
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi-
sich dynamisch; sie wächst nämlich jedes Jahr um
derspruch bei der FDP)
4,7 Prozent. Das macht keine andere Steuer. Alle ande-
Gewinne in Mieten, in Pachten, in Leasingraten zu ver- ren Steuern wachsen nur um etwa 1,2 Prozent und haben
wandeln. Diese Hinzurechnung haben wir gemeinsam in dabei genau die gleiche Schwankungsgröße. Insoweit ist
der Großen Koalition – damals war die CDU/CSU ja auch dieses zweite Argument von Ihnen entkräftet.
noch auf dem richtigen Weg – beschlossen. Das wollen
Jetzt bleibt Ihnen nichts anderes mehr übrig, als ein
Sie jetzt zurückdrehen.
Loblied auf die Gewerbesteuer zu singen. Darauf warten
(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) wir jetzt. Die Gewerbesteuer ist vor kurzem 200 Jahre alt
geworden. Viele wollten sie abschaffen. Ich gebe Ihnen
An die Stelle der Gewerbesteuer wollen Sie drei Säu- die Prognose: Sie werden das nicht schaffen. Die Gewer-
len setzen: Sie wollen die Einkommensteuer- und Lohn- besteuer wird auch die nächsten 200 Jahre überdauern.
steuerzahler belasten, Sie wollen die Verbraucher belas-
ten, und dann wollen Sie noch ein bisschen die Vielen Dank.
8536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Bernd Scheelen
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich halte fest: Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- Nordrhein-Westfalen – überall dort wird vorbildliche
chen des Abg. Holger Krestel [FDP]) Landespolitik im Interesse der Kommunen gemacht.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bernhard Kaster das Wort. der LINKEN)

Bernhard Kaster (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


Vielen Dank. – Herr Kollege Scheelen, Sie haben in Jetzt hat die Kollegin Birgit Reinemund für die FDP-
Ihrer Rede einleitend auf die Mustersituation im Land Fraktion das Wort.
Rheinland-Pfalz hingewiesen. Aus Fürsorge auch in Be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zug auf weitere Redebeiträge von Ihnen möchte ich Sie der CDU/CSU)
damit konfrontieren, dass Rheinland-Pfalz bei einem
Vergleich der westlichen Flächenländer – so schreibt Dr. Birgit Reinemund (FDP):
dies der Rechnungshof Rheinland-Pfalz – im Jahre 2009
Herr Präsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle
die absolute Spitze beim Defizitsaldo darstellte.
Jahre wieder, nein, jede Woche wieder debattieren wir
(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Hört! hier im Bundestag auf Betreiben der SPD-Fraktion über
Hört!) das Thema Gemeindefinanzen.
Im gleichen Bericht des Rechnungshofes Rheinland- (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist auch richtig
Pfalz für das Jahr 2010 ist ausgeführt: und wichtig so!)
Die finanzielle Lage der rheinland-pfälzischen In der letzten Sitzungswoche geschah dies in einer Aktu-
Kommunen ist desolat: … ellen Stunde, heute debattieren wir über zwei Anträge
gleichen Inhalts.
In einem folgenden Spiegelstrich heißt es dazu:
Das ist das gute Recht der Opposition, doch wo blei-
Auch in Jahren, in denen die Kommunen der meis- ben Ihre zusätzlichen Aspekte? – Neue Ideen? Fehlan-
ten übrigen westlichen Flächenländer Überschüsse zeige!
erzielten, wies die Kassenstatistik für die rheinland-
pfälzischen Gemeinden und Gemeindeverbände (Frank Tempel [DIE LINKE]: Setzen Sie erst
(B) Defizite aus. einmal die alten um!) (D)
Die Frage ist, ob das nicht auch etwas mit Landespoli- Neue Lösungsansätze? Heute waren keine zu hören.
tik zu tun haben könnte. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie die Ständige Wiederholungen bringen uns nicht weiter.
Finanzierungsmodelle, die es in Rheinland-Pfalz gibt (Joachim Poß [SPD]: Sie haben auch immer die al-
und die sehr ungewöhnlich sind, wie beispielsweise das ten Ideen! Wie bei der Gewerbesteuer.)
vom Nürburgring, in dieser Form auch den Kommunen
empfehlen würden. Schon Goethe wusste: „Getretener Quark wird breit –
nicht stark“.
(Nicolette Kressl [SPD]: Peinliche Polemik!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU)
Herr Kollege Scheelen, zur Erwiderung. Seit der letzten Debatte hat sich an der Faktenlage
nichts geändert. Die Regierungskommission hat die Auf-
Bernd Scheelen (SPD): gabe, einen nachhaltigen Vorschlag zu erarbeiten,
Herr Kollege, Sie können sich sicherlich daran erin- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, ihr
nern, dass ich darauf hingewiesen habe, dass Rheinland- macht das! Die Kommission arbeitet gar nicht
Pfalz einen Stabilisierungsfonds für die Finanzen der mehr!)
Kommunen eingerichtet hat.
um die Finanzierung der Kommunen auf eine verlässli-
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das hätten sie chere Basis zu stellen. Das beinhaltet sowohl die struktu-
einmal früher machen sollen!) relle Verbesserung der Einnahmesituation als auch die
Das ist vorbildlich, weil es den Kommunen in Rhein- Entlastung auf der Ausgabenseite. Diese Regierungs-
land-Pfalz natürlich nicht deutlich besser geht als den kommission besteht aus Regierungsmitgliedern, Mitglie-
Kommunen im Rest der Republik. dern der Landesregierungen und Vertretern der kommu-
nalen Spitzenverbände. Das ist übrigens die erste
(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Nein, deutlich Regierungskommission, bei der die Vertreter der kom-
schlechter!) munalen Spitzenverbände gleichrangig mit am Tisch sit-
zen. Das haben Sie damals, 2003, nicht geschafft.
Es gibt einige SPD-regierte Länder, die solche Fonds ha-
ben. Das letzte Land, das einen solchen eingerichtet hat, (Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen
ist Nordrhein-Westfalen. [SPD]: Das ist Quatsch! Das ist eine Lüge,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8537
Dr. Birgit Reinemund
(A) Frau Reinemund! Das sollten Sie nicht wieder- Der Bund hat in der Zeit sozialdemokratischer Re- (C)
holen! Das ist gegen das neunte Gebot! – gierungsverantwortung wichtige Maßnahmen zur
Joachim Poß [SPD]: Bei der Kommission von Verbesserung der kommunalen Finanzlage ergrif-
Eichel waren die Kommunen auch dabei!) fen …
Auf die Ergebnisse der Kommission warten wir län- (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das
ger als gedacht; das ist richtig. Wir erwarten diese ge- sieht man jetzt!)
nauso ungeduldig wie Sie. Auf Basis dieser Ergebnisse
wollen wir diskutieren. Sie veranstalten hier immer wie- Ich frage die Kolleginnen und Kollegen der SPD-
der den gleichen Schlagabtausch mit allseits bekannten Fraktion: Ist das wirklich Ihr Ernst? Wie scheinheilig ist
Positionen. das denn!
Seit der Wiedervereinigung haben die deutschen (Joachim Poß [SPD]: Wir haben die Gewerbe-
Kommunen gemäß der volkswirtschaftlichen Gesamt- steuer in der Großen Koalition stabilisiert!)
rechnung einen Überschuss von 6,6 Milliarden Euro er-
wirtschaftet. Im gleichen Zeitraum machte der Bund ein Die Kommunen sind doch gerade deshalb in ihrer fatalen
Defizit von fast 1 Billion Euro. Dennoch haben die Lage, weil der Bund ihnen immer mehr Aufgaben aufge-
Kommunen aktuell ohne Zweifel an einer Notlage zu lei- bürdet hat, ohne ihnen gleichzeitig die finanziellen Mit-
den. Der Deutsche Städtetag spricht von einem Haus- tel zur Verfügung zu stellen.
haltsdefizit von 11 bis 12 Milliarden Euro im Jahr 2010. (Bernd Scheelen [SPD]: Das war zu Kohls
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist nach Zeiten! Da waren Sie dabei!)
den Steuermehreinnahmen!)
Daran leiden die Kommunen aktuell. Das geschah vor
Unabhängig von jeder Krise sind die Einnahmen der allem unter sozialdemokratischer Regierungsverantwor-
Kommunen im Schnitt um 1,5 Prozent gestiegen, die tung. Es war Ihr Minister Clement, der im Jahre 2005
Ausgaben dagegen um 4 Prozent. Das ist doch eindeutig den Anteil des Bundes bei den Kosten der Unterkunft
ein strukturelles Defizit, das wir mit strukturellen Lö- auf null setzen wollte. Dass dies ein Platzhalter war,
sungsansätzen beheben müssen. Herr Scheelen, ist das einzig Neue, was ich heute gehört
habe.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie übertragen (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bernd
die Aufgaben! Dann steigen die Kosten!) Scheelen [SPD]: Das war so, weil der Bundes-
rat das verhindert hat! Sie sollten sich ein biss-
(B) In der Krise zeigt sich die seit Jahrzehnten bekannte (D)
chen mit der Geschichte beschäftigen!)
Problematik der Gewerbesteuer drastisch: ihre gene-
relle Schwankungsanfälligkeit um bis zu 50 Prozent, ab- Heute dagegen streiten wir hier darum, ob die derzeitige
hängig von der Konjunktur – das hat sogar Herr Kostenübernahme in der Höhe ausreichend ist; das ist
Scheelen bestätigt –, eine ganz andere Qualität, Herr Scheelen.
(Bernd Scheelen [SPD]: 32 Prozent, das ist (Joachim Poß [SPD]: Prüfen Sie, was im Bun-
doch ein Unterschied!) desrat los war!)
ihre ungleiche Verteilung zwischen den Kommunen,
Wenn Ihre gebetsmühlenartigen Forderungen nach
ohne dass ein direkter Bezug zwischen dem Steuerauf-
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbe-
kommen und der Leistung der Kommune besteht, und
steuer erfüllt würden, würde das zu nichts anderem als
die Abhängigkeit vieler Kommunen von einzelnen gro-
zu einer weiteren Substanzbesteuerung der Unternehmen
ßen Gewerbesteuerzahlen, wie SAP in Walldorf, BASF
führen.
in Ludwigshafen, Audi in Ingolstadt usw.
Einen Punkt haben Sie bisher in jeder Debatte igno- (Zuruf von der FDP: Genau!)
riert – Frau Tillmann hat es ausführlich ausgeführt –: die Gerade in der Krise hat sich gezeigt, wie krisenverschär-
aktuelle Rechtsprechung des EuGH und das Urteil des fend dies ist. Das gefährdet Unternehmen und Arbeits-
Bundesfinanzhofes, infolge derer bzw. dessen plätze. Jede Firmeninsolvenz ist ein Gewebesteuerzahler
(Bernd Scheelen [SPD]: Vom EuGH gibt’s weniger und bedeutet zig Arbeitslose mehr. Das ist Poli-
noch nichts! – Gegenruf von Antje Tillmann tik zulasten der Arbeitnehmer und zulasten der Kommu-
[CDU/CSU]: Nein, wir meinen keine Recht- nen.
sprechung! Wir meinen Erlasse! Die kann ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ihnen noch schicken! – Joachim Poß [SPD]: der CDU/CSU)
Sie meinen sehr wahrscheinlich die BFH-
Rechtsprechung!) Auch die Einbeziehung der freien Berufe ist ein im-
der Gemeindesteuer ein massiver Einbruch durch erwei- mer wieder gerne vorgebrachtes Placebo. Denn es be-
terte Verlustverrechnungen drohen kann. deutet viel Bürokratie für wenig Ertrag, und größtenteils
bringt es lediglich eine Verlagerung der Einnahmen von
Was schreibt denn nun die SPD in ihren Anträgen? – Bund und Land auf die Kommune. Das freut natürlich
Ich zitiere: die Kommunen, ist jedoch nicht im Sinne der Sache.
8538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Birgit Reinemund


(A) Was tun wir für die Kommunen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der
(Zuruf von der SPD: Gar nichts!) Fraktion Die Linke.
und zwar bereits vor jeder Gemeindefinanzreform? – (Beifall bei der LINKEN)
Wir haben die Städtebauförderung über dem Stand von
2008 weitergeführt.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
(Zuruf von der SPD: Sie haben Mittel ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
kürzt! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einem hat meine Vorrednerin völlig recht: Es geht um
NEN: Wo ist denn die „Soziale Stadt“?) ein strukturelles Defizit, und insofern sollten wir hier
nicht von „ein bisschen Konjunktur rauf“ und „ein biss-
Wir haben die energetische Gebäudesanierung auf ho- chen Konjunktur runter“ reden. Vielmehr sollten wir
hem Niveau weitergeführt. Wir haben ein Bildungspaket festhalten – und dabei finde ich es unwürdig, das eine
für bedürftige Kinder in Höhe von fast 1 Milliarde Euro oder das andere zu machen –: Die rot-grünen Steuerre-
verabschiedet, das zum Großteil den Kommunen zugute- formen haben bei den Kommunen von 2000 bis 2009 zu
kommt. über 25 Milliarden Euro an Mindereinnahmen geführt,
Die größte Unterstützung für die Kommunen ist un- und das eine Jahr unter Schwarz-Gelb hat 3,3 Milliarden
sere solide Finanz- und Wirtschaftspolitik, Euro an Mindereinahmen gebracht. Das ist so, und allein
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird im nächsten
(Bernd Scheelen [SPD]: Darüber kann ich nur Jahr zu über 1,5 Milliarden Euro an Mindereinnahmen
lachen!) bei den Kommunen führen.
angefangen mit einer Steuerentlastung für Bürger und Herr Kollege Götz, wer immer noch sagt, dass der
Unternehmen Aufschwung rein exportorientiert begründet sei und am
Wachstumsbeschleunigungsgesetz liege, der glaubt wohl
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Das ist nach
von über 22 Milliarden Euro zum 1. Januar 2010 mit wie vor Unsinn.
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. (Beifall bei der LINKEN)
(Joachim Poß [SPD]: Einschließlich Bürger- Aber – damit hat Frau Haßelmann völlig recht – die
entlastungsgesetz der großen Koalition!) Kommunen interessiert nicht die Vergangenheit; wir
müssen uns vielmehr mit dem Jetzt auseinandersetzen
Nicht umsonst haben wir 2010 zusätzlich zum Export
(B) erstmals wieder einen steigenden Binnenkonsum und ein und uns um Alternativen bemühen. (D)
steigendes Investitionsvolumen in Deutschland. Nicht (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
umsonst haben wir ein geschätztes Wirtschaftswachstum
Ich möchte an den Einsetzungsbeschluss für die
von 3,7 Prozent in diesem Jahr und von 2,2 Prozent im
Kommission erinnern, weil das gar nicht mehr zur Dis-
nächsten Jahr.
kussion steht. In diesem Beschluss geht es um den auf-
kommensneutralen Ersatz der Gewerbesteuer durch ir-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gendetwas anderes. Dazu heißt es:
Frau Kollegin Reinemund, Ihre Zeit ist seit einer ge-
Dabei hat die Kommission auf die Vermeidung von
wissen Weile abgelaufen.
Aufkommens- und Lastenverschiebungen insbe-
(Beifall des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE] – sondere zwischen dem Bund auf der einen und Län-
Zuruf von der FDP: Nicht Zeit, sondern Rede- dern und Kommunen auf der anderen Seite zu ach-
zeit!) ten.
Wenn man das ernst nimmt, dann kommt für die Kom-
Dr. Birgit Reinemund (FDP): munen überhaupt nichts heraus. Selbst wenn man zusagt,
Nur die Redezeit, hoffe ich doch. ihnen auf der Ausgabenseite etwas abzunehmen, dann
nimmt man ihnen das auf der Einnahmeseite wieder
weg. Insofern muss, wenn man das strukturelle Defizit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ernst nimmt, der Auftrag der Kommission verändert
Ja. – Bitte schön. werden. Es muss festgelegt werden, dass am Ende mehr
für die Kommunen herauskommt,
Dr. Birgit Reinemund (FDP):
(Beifall bei der LINKEN)
Unser Ziel ist und bleibt eine nachhaltige strukturelle
Verbesserung der kommunalen Finanzen. und zwar muss für sie das herauskommen, was Sie den
Kommunen in den letzten Jahren durch Steuersenkungen
Klare Perspektiven für Kommunen – ja, das wollen genommen haben.
wir. Wir wollen klare Perspektiven für die kommunale
Selbstverwaltung, aber keine Zuwendungen und Ret- Zu der Debatte um die Gewerbesteuer wird immer
tungsschirme. wieder gesagt, dass das ein alter Hut sei. Ich möchte auf
ein gemeinsames Gutachten der Deutschen Akademie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für Städtebau und Landesplanung und der Akademie für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8539
Dr. Axel Troost
(A) Raumforschung und Landesplanung – das sind die re- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
nommiertesten Kommunal- und Regionalforscher der Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/
Bundesrepublik – hinweisen, das im Herbst erstellt wor- CSU-Fraktion.
den ist. Diese Wissenschaftler haben nichts mit Parteien
zu tun. Sie kommen zum Schluss ihrer sehr guten Ana- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lyse auf vier Seiten zu Empfehlungen, aus denen ich drei neten der FDP)
Passagen zitieren will, und zwar zuerst, weil das sehr
wichtig ist, zu den Kassenkrediten. Dazu sagt das Gut- Peter Aumer (CDU/CSU):
achten: Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wieder einmal dürfen wir über einen Antrag der SPD zu
Hierzu gehören auf der Einnahmeseite kommunale
den Kommunalfinanzen debattieren.
Entschuldungsfonds in denjenigen Ländern, in de-
nen Kommunen mit hohen Kassenkrediten eine (Bernd Scheelen [SPD]: Freut euch!)
nennenswerte Rolle spielen.
– Sie werden sich gleich freuen.
Das ist sehr wichtig, weil viele Kommunen nicht mehr
aus dem Elend herauskommen. (Bernd Scheelen [SPD]: Ihr macht das doch
selber nicht!)
Zum Thema unserer Debatte heißt es:
Ihr Antrag trägt den Titel „Klare Perspektiven für Kom-
Die Gewerbesteuer (mit Hebesatzrecht) ist in drei munen – Gewerbesteuer stärken“. Wo war die klare Per-
Richtungen fortzuentwickeln: Sie benötigt eine brei- spektive der SPD? Ich habe in der ganzen Debatte nichts
tere, das heißt weniger von Gewinnschwankungen von einer Perspektive gehört.
abhängige und regional weniger streuende Bemes-
sungsgrundlage. Weitere Steuerpflichtige („freie Be- (Bernd Scheelen [SPD]: Ihr müsst den Antrag
rufe“) sind in die Besteuerung einzubeziehen. Lang- lesen! Da steht alles drin!)
fristig sollten Möglichkeiten zum schrittweisen Die Forderungen Ihres Antrags werden in der Gemein-
Abbau der Gewerbesteuerumlage mit dem Ziel der definanzkommission schon längst bearbeitet.
fiskalischen Entflechtung der Ebenen geprüft wer-
den. Die Bundeskanzlerin, der Bundesfinanzminister, der
bayerische Ministerpräsident und die CSU haben immer
Ich weise darauf hin, dass die Ansicht, es sei angeblich gesagt, dass wir ohne die Kommunen keine Entschei-
völlig klar, dass die Gewerbesteuer nicht tragfähig ist, dung über die Gewerbesteuer treffen. Dieser Punkt, den
von den Wissenschaftlern nicht geteilt wird und sie die Sie von der SPD und auch Sie, Frau Haßelmann, immer
(B) Situation völlig anders einschätzen. Sie kommen zu ge- ansprechen, hat sich also erledigt. Die Zusage des Bun- (D)
nau demselben Ergebnis wie wir in der Opposition mit desfinanzministers, einnahme- und ausgabenseitig etwas
unseren Anträgen. zu ändern, entspricht dem, was Sie in Ihrem Antrag for-
(Beifall bei der LINKEN) dern. Außerdem wird das Kommunalmodell in der Ge-
meindefinanzkommission bereits diskutiert und bearbei-
Zwei Absätze weiter heißt es dann: tet.
Der kommunale Anteil an der Einkommensteuer Deshalb frage ich mich, weshalb Herr Staatsminister
(ohne Hebesatzrecht) ist beizubehalten. Für die Ab- Dr. Kühl vorhin gesagt hat, die Gemeindefinanzkommis-
lehnung eines Hebesatzrechtes hier spricht vor al- sion sei ein Witz, obwohl er selbst Mitglied darin ist.
lem folgender Grund: Eine bedarfsorientierte Diffe- Herr Staatsminister, Sie kennen wahrscheinlich den An-
renzierung der Hebesätze würde in den Städten zu trag Ihrer Genossen aus dem Bundestag nicht. Bei der
überdurchschnittlichen, im Umland zu unterdurch- SPD weiß offensichtlich die Linke nicht, was die Rechte
schnittlichen Hebesätzen führen und so die raum- tut, und das Land weiß nicht, was der Bund tut. Zudem
entwicklungspolitisch unerwünschte Stadt-Um- verabschiedet sich der Herr Staatsminister auch noch in
land-Wanderung … befördern. eine Pause, während wir über die Zukunft diskutieren.
Das wird völlig zu Recht von den Wissenschaftlern fest- Das sollte man auch einmal ansprechen.
gestellt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Insofern kann ich nur sagen: Was Sie machen, wider-
spricht allen Erkenntnissen der Wissenschaft, und es ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
spricht nicht den Forderungen der Kommunen. Es entspricht Herr Kollege Aumer, erlauben Sie eine Zwischen-
allenfalls den Forderungen einiger Umlandgemeinden. frage der Kollegin Haßelmann?
Deswegen müssen wir hier weiterkommen. Es kann aber
nicht allein darum gehen, nur einen aufkommensneutralen
Peter Aumer (CDU/CSU):
Ersatz zu schaffen. Notwendig ist vielmehr eine Weiterent-
wicklung der Gewerbesteuer, die zu Mehreinnahmen der Nein, keine Zwischenfrage.
Kommunen führt, damit diese wieder handlungsfähig Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
werden. Perspektiven zielen auf die Zukunft. Sie haben die Zu-
Danke schön. kunft aber doch schon längst aus dem Blick verloren. Es
geht nicht um ein bisschen „Rauf und Runter“; damit ha-
(Beifall bei der LINKEN) ben Sie vollkommen recht, Herr Troost. Wir arbeiten für
8540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Peter Aumer
(A) eine klare Struktur der Kommunalfinanzen. Deswegen Weg gebracht. Das hat die SPD mit ihrem Bundesver- (C)
nehmen wir uns in der Debatte Zeit, und zwar die Zeit, kehrsminister nie geschafft. Letztlich ist es bei Ihnen nur
die Sie uns nicht lassen wollen. Man braucht aber Zeit, zu einer kleinen Regelung gekommen, die aber nicht
um ganz konkret über Themen zu diskutieren und um weitergeholfen hat.
das Band zwischen Ländern und Kommunen neu auszu-
Wir kümmern uns jedoch um die Belange der Kom-
richten.
munen. Sprechen Sie auch das einmal an. Wir sind ein
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und verlässlicher Partner im Schulterschluss mit unseren Ge-
der FDP) meinden. Dafür arbeiten wir. Deshalb gibt es die Ge-
meindefinanzkommission. Wir lassen uns von Ihnen
Wir, die christlich-liberale Koalition, arbeiten an un-
nicht drängen und lassen uns von Ihnen auch nicht in die
serem Wählerauftrag für die Zukunft unseres Landes.
falsche Ecke stellen.
Zur Zukunft gehört Verlässlichkeit, die Sie von der SPD
bei Stuttgart 21 und bei der Rente mit 67 vermissen las- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, ja!)
sen. Das ist keine verlässliche Politik.
Sie sind kein verlässlicher Partner – Herr Troost, Ihr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Brummen hilft auch nicht weiter –; denn Ihr Vorschlag
Die Bundeskanzlerin hat in Ihrer Haushaltsrede die ist kein Vorschlag für die Zukunft.
tragenden Säulen unserer Politik angesprochen: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist von
Wir sind erstens für eine starke Wirtschaft, zweitens den renommiertesten Wissenschaftlern in der
für einen starken Staat und drittens für ein starkes Bundesrepublik!)
Gemeinwesen. – In der Politik muss man aber unterscheiden zwischen
Um genau diese drei Punkte kümmert sich die Gemein- dem, was pragmatisch umzusetzen ist, und dem, was
definanzkommission. Damit soll erreicht werden, dass wissenschaftlich machbar ist. Wir arbeiten für eine prag-
das Band zwischen Wirtschaft und Kommunen eine matische und für eine verlässliche Politik, die Zukunft
tragfähige Zukunft hat. schafft und die neue Perspektiven eröffnet.

Das Gemeinwesen, das in einem noch stärkeren Wett- Die SPD konnte das mit ihrem Antrag heute nicht er-
bewerb um die besten Entscheidungen steht, muss sich reichen. Machen Sie konstruktive Vorschläge! Machen
auf neue Gegebenheiten einstellen. Darüber hinaus müs- Sie Vorschläge, die auf die Zukunft ausgerichtet sind, die
sen in Zukunft die Menschen noch stärker an der politi- man mit Zahlen untermauern kann und die eine verlässli-
schen Diskussion beteiligt werden. Genau daran arbeiten che Politik für unsere Gemeinden hinsichtlich der Finan-
(B) wir als christlich-liberale Koalition. Lassen Sie uns kon- zen bedeuten. (D)
struktiv zum Wohle unserer Kommunen, zum Wohle un- Der Herr Staatsminister hat im Übrigen nicht gesagt,
seres Gemeinwesens und zum Wohle unseres Staates ar- wie er sein Land voranbringen möchte. Herr Kaster hat
beiten. Frau Haßelmann, wo sind denn Ihre Vorschläge? vorhin aufgezeigt, dass es eine gemeinsame Politik ge-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Eine ben muss, eine gemeinsame Politik von Bund, Ländern
berechtigte Frage!) und Kommunen. Ich glaube, nur in einem verlässlichen
Miteinander können wir zukunftsfähige Politik gestal-
Die Gemeindefinanzkommission hat angekündigt, im ten. Deswegen bitte ich Sie und fordere Sie auf: Lassen
Januar werde das Ergebnis bekannt gegeben. Dann kön- Sie uns nicht in Phrasen diskutieren, sondern lassen Sie
nen wir im Parlament darüber diskutieren. uns an der Zukunft arbeiten! Machen Sie substanzielle
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Grünen sagen Vorschläge! Lassen Sie die Gemeindefinanzkommission
immer nur, wogegen sie sind! – Britta zum Ende ihrer Beratungen kommen! Wir werden auf
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Grundlage der Ergebnisse dieser Kommission und
Im Februar!) im Einklang mit den Kommunen eine gute Zukunft ge-
stalten.
– Oder im Februar. Über einen Monat später oder früher
sollten wir uns nicht streiten. Ich weiß aber schon, was Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
die Grünen sagen werden. Sie werden sagen: Wir sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dagegen.
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nau!) Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling von der
Denn in den vergangenen Wochen und Monaten war es SPD-Fraktion.
immer so, dass wir für die Zukunft arbeiten und Sie da- (Beifall bei der SPD)
gegen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Carsten Sieling (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind im Großen wie im Kleinen ein verlässlicher Diese Debatte zeigt, wie gemeingefährlich diese schwarz-
Partner für die Kommunen. Der Bundesverkehrsminis- gelbe Koalition für die Menschen und die Kommunen ist.
ter, den die CSU stellt, Peter Ramsauer, hat zum Beispiel
eine Regelung für den Feuerwehrführerschein auf den (Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8541
Dr. Carsten Sieling
(A) Sie haben hier in aberwitziger Weise darüber gejammert, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer Schwankun- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
gen aufweisen; das ist in der Tat so. Sie haben aber keine GRÜNEN)
Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie diese
Einnahmen zu stabilisieren sind. Vielmehr machen Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Vorschläge, die zum Ziel haben, sie weiter zu schwächen
Herr Kollege Sieling, ich möchte darauf hinweisen,
und zu unterlaufen. Damit machen Sie die Kommunen
dass keine Fraktion in diesem Hause gemeingefährlich
kaputt.
ist.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich bin sehr froh, dass meine Fraktion den vorliegen- Wir arbeiten nach demokratischen Prinzipien zusam-
men.
den Antrag eingebracht hat, in dem wir uns ausdrücklich
hinter das sogenannte Kommunalmodell stellen. Das Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg
heißt, wir haben kein Verständnis dafür, dass die Gewer- von der CDU/CSU-Fraktion.
besteuer in der jetzigen Form – so bewährt sie auch ist –
den Handwerker belastet, während sein Steuerberater (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und sein Rechtsanwalt von dieser Steuer befreit sind. neten der FDP)
Das geht nicht. Das ist eine ungerechte Steuer.
Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass Sie, Herr Präsident, den Begriff „Gemeinge-
Man muss die Bemessungsgrundlage der Gewerbe- fährlichkeit“ abgeräumt haben. Ich wäre sonst ausführ-
steuer erweitern; das ist ein Vorschlag. Dafür hätten Sie lich darauf eingegangen. Ich glaube, dass die Politik der
sich einsetzen sollen. So käme man zu einem vernünfti- christlich-liberalen Koalition das genaue Gegenteil von
gen Kompromiss in der Kommission zur Reform der Ge- gemeingefährlich im Hinblick auf die Kommunen ist.
meindefinanzen. Aber Sie jagen diese Kommission – ich
will ausdrücklich wiederholen, was Herr Minister Kühl Ich will das am Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
hier sehr deutlich gemacht hat – von links nach rechts. das heute vielfach erwähnt worden ist, deutlich machen.
Die Bundesregierung setzt eine Kommission ein, und Ein wesentliches Element des Wachstumsbeschleuni-
dann kommt ein Koalitionsausschuss, der andere Vor- gungsgesetzes ist, dass es durch die Erhöhung des Kin-
(B) schläge macht. Das hat nichts mit Demokratie zu tun. Sie dergeldes und des Kinderfreibetrages 4,5 Milliarden (D)
wollen eine Koalitionsherrschaft ausüben. Das geht Euro mehr für Familien, für „ganz normale“ Menschen
nicht. Das schadet den Menschen. in diesem Land gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Nicolette Kressl [SPD]: Und wie viel gibt es
LINKEN) für die Hotels?)

Ich möchte in den letzten wenigen Sekunden, die mir Wir haben so die Kaufkraft der Menschen in den Kom-
als Redezeit verbleiben, einen weiteren aberwitzigen munen gestärkt. An den aktuellen Zahlen sehen wir, dass
Punkt aufgreifen, den der schon nicht mehr anwesende die Menschen von der gestiegenen Kaufkraft Gebrauch
Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Wissing – ihm machen. Das schlägt sich erfreulicherweise in allen
ist das anscheinend nicht so wichtig –, angesprochen hat. Steuerkassen nieder, auch in den Steuerkassen der Kom-
Er hat uns vorgeworfen, wir würden die Ausgabenpro- munen.
blematik nicht angehen. Ich will es konkretisieren: In (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der letzten Woche ist in diesem Haus der Haushalt be-
schlossen worden. Die SPD hat im Haushaltsausschuss Ich halte von diesen wissenschaftlichen Musterrech-
vorgeschlagen, die Kommunen bei den Kosten der Un- nungen, wonach die Kommunen aufgrund des Wachs-
terkunft um 400 Millionen Euro und bei der Grundsiche- tumsbeschleunigungsgesetzes 1,5 Milliarden Euro Min-
rung im Alter um 300 Millionen Euro zu entlasten sowie dereinnahmen haben, gar nichts. Das sage ich ganz
vor allem die Streichungen bei der Städtebauförderung offen; denn diese Rechnungen gehen davon aus, dass die
zurückzunehmen. Wir haben insgesamt 1 Milliarde Euro Wirtschaft völlig statisch ist:
mehr für die Kommunen gefordert. Aber Sie von der
schwarz-gelben Koalition haben das abgelehnt. Auch da (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
haben Sie die Kommunen geschwächt. der FDP)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Alle produzieren immer das Gleiche, alle verdienen das
DIE GRÜNEN) Gleiche, und die Unternehmen machen bei diesen Rech-
nungen immer die gleichen Gewinne. Wir erleben im
Sie reden über das eine, tun aber etwas ganz anderes. Moment aber einen grandiosen konjunkturellen Auf-
Das ist nicht vertretbar. Ändern Sie Ihre Politik! Machen schwung in diesem Land.
Sie etwas für die Menschen!
(Bernd Scheelen [SPD]: Aber nicht durch die-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ses Gesetz!)
8542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Mathias Middelberg


(A) Dieser wirkt sich aus und schlägt sich in mehr Kaufkraft (Joachim Poß [SPD]: Das ist die Regel!) (C)
und in höheren Steuereinnahmen nieder.
Das ist doch abwegig. Sie können Gewinne über ver-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Strukturell schiedene Jahre strecken, aber zum Schluss entsteht
haben sie Mindereinnahmen!) doch folgende Situation: Wenn ein Einzelhändler meh-
rere Jahre lang schlechte Geschäfte gemacht hat, dann ist
Selbst wenn Sie niedrigere Sätze haben, haben Sie unter er am Ende. Er hat keine Substanz mehr, aus der er Ihre
dem Strich mehr Einnahmen. Das kann Ihnen jedes Hinzurechnung bezahlen könnte. Irgendwann kann er
Milchmädchen ausrechnen. die Steuern nicht mehr strecken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Er hat einen Freibetrag!
Er zahlt keine Gewerbesteuer!)
Der Kollege Götz hat richtigerweise auf Folgendes
hingewiesen: Als wir 2005 mit Ihnen starteten, hatten – Nein, Herr Poß, Sie haben es nicht begriffen. Der ist
wir 5 Millionen Arbeitslose in diesem Land. Wir haben fertig und macht Pleite, und dann sind die Arbeitsplätze
jetzt die 3-Millionen-Grenze unterschritten. Die Per- verloren.
spektive für die kommende Zeit ist hervorragend. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reden sogar schon über Facharbeitermangel. Das ist eine
Situation, die die Kommunen im Bereich der Sozialaus- Das führt zu toten Innenstädten, wo vorher der Einzel-
gaben ganz gewaltig entlastet. Das ist nicht nur – das handel floriert hat. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik.
nehmen wir gar nicht für uns allein in Anspruch –, aber Deswegen haben wir die Hinzurechnungen nicht erhöht,
auch Ausfluss des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes, sondern reduziert; denn wir wollen etwas für das Leben
durch dessen zweiten Teil vor allem die Mittelständler in den Innenstädten tun.
und die kleinen Unternehmen in diesem Land aufgrund (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
der Sofortabschreibungen, Verlustnutzung usw. entlastet Bernd Scheelen [SPD]: Sie müssen sich ein-
werden. mal entscheiden, ob das eine Großbetriebe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) steuer ist oder ob der Einzelhändler sie zahlt!)
Es ist geradezu empörend, dass Sie diese Banalitäten im-
Wenn wir schon von problematischer Politik im Hin-
mer wieder als Lösungsmodell anpreisen. Das halte ich
blick auf die Kommunen reden – ich will gar nicht die
wirklich für empörend.
Vergangenheit bemühen, sondern auf die aktuelle Be-
schlusslage der SPD verweisen –, dann möchte ich Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auf ein Zitat des Geschäftsführers des Deutschen
(B) Städte- und Gemeindebundes hinweisen, der sich mit Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Zuschlag (D)
zur Einkommensteuer mit kommunalem Hebesatz ma-
Ihren Vorschlägen zur Hartz-IV-Politik und der Verab-
chen. Sie kritisieren das in aller Breite. Die kommunalen
schiedung von der Agendapolitik auseinandergesetzt hat.
Verbände äußern sich dazu durchaus differenziert. Der
Die Mehrleistungen und den Verzicht auf Vermögens- Deutsche Städte- und Gemeindebund hat gesagt, die
und Einkommensprüfung, den Sie beschlossen haben, Horrorszenarien, von denen die SPD spreche, seien völ-
bezeichnet der Deutsche Städte- und Gemeindebund als lig wirklichkeitsfremd, sonst hätten unterschiedliche Ab-
unbezahlbar. Es gelte, die Eigenverantwortung der Bür- fall- und Abwassergebühren längst zu einer Abwande-
ger zu stärken, statt immer wieder den Eindruck zu ver- rung ins Umland führen müssen. Die Kollegin Tillmann
mitteln, der Staat könne weiter ein Rundum-sorglos-Pa- hat zu Recht auf das Thema Grundsteuer hingewiesen.
ket finanzieren. Zitat: Auch bei der Gewerbesteuer haben wir unterschiedliche
Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Ver- Sätze, und das Land leidet nicht darunter. Im Gegenteil:
mögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht Sie sprechen sich in dem Punkt ja sogar dafür aus. Pro-
noch zusätzliche Transferleistungen erhalten … fessor Henneke vom Deutschen Landkreistag sagt, der
Hebesatz stärke die kommunale Selbstverwaltung aus-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- drücklich. Der Bürger könne damit besser sehen, was die
neten der FDP) Leistungen der Gemeinde kosten. Er rechne damit, dass
man sorgsam mit diesem Instrument umgehen werde.
Wenn wir das umsetzen würden, wäre das eine Belas-
tung der Kommunen. Was Sie hier vorschlagen, ist allen- (Beifall bei der CDU/CSU)
falls eine Mogelpackung; denn Sie wollen die Gewerbe- Daran sollten wir uns auch halten und den Verlauf der
steuer erhöhen, aber auf der anderen Seite sorgen Sie Diskussion ganz sachlich abwarten. Ich finde, es handelt
auch für eine Mehrbelastung der Kommunen im Hartz-IV- sich in keiner Weise um ein Diktat des Ministers. – Herr
Bereich. Das ist doch völlig unglaubwürdig. Minister Kühl, es wäre zweckmäßig, wenn Sie während
einer Debatte, in der Sie als Auftaktredner aufgetreten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind, weiterhin aufmerksam teilnähmen.
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen. (Iris Gleicke [SPD]: Schulmeister!)
Die Gewerbesteuer hat Nachteile; diese sind genannt
worden. Sie hat auch manche Vorteile. Aber es geht doch Ich finde, es ist überhaupt nicht empörend, dass es ei-
wirklich nicht, die Hinzurechnung so darzustellen, dass nen Vorschlag des Ministers gibt. Es gibt eine gemein-
man Gewinne gewissermaßen in Mieten und Pachten same Presseerklärung des Ministeriums und der kommu-
übersetzen kann. nalen Spitzenverbände. Es gibt gewissermaßen einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8543
Dr. Mathias Middelberg
(A) Zwischenbericht der Kommission, der zeigt, wo man c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C)
sich über die verschiedenen Punkte einig ist. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des ZIS-Ausführungsgesetzes und ande-
(Joachim Poß [SPD]: Dafür habt ihr zwei Tage rer Gesetze
gebraucht! Einen Tag hat die gehalten!)
– Drucksache 17/3960 –
Wir sollten jetzt die sachliche Diskussion über den
Vorschlag von Herrn Schäuble abwarten. Die Situation Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
der Kommunen ist zu ernst, als dass wir tatsächlich auf Innenausschuss
die Schnellschüsse von Ihnen reagieren sollten. Rechtsausschuss

Danke schön. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-


gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kommen vom 29. März 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und St. Vincent
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und die Grenadinen über die Unterstützung in
Ich schließe die Aussprache. Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informa-
tionsaustausch
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3996 an die in der Tagesordnung aufge- – Drucksache 17/3959 –
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Überweisungsvorschlag:
verstanden? – Das ist der Fall, dann ist die Überweisung Finanzausschuss (f)
so beschlossen. Rechtsausschuss

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
dem Titel „Rettungsschirm für Kommunen – Strategie kommen vom 7. Juni 2010 zwischen der Bun-
für handlungsfähige Städte, Gemeinden und Land- desrepublik Deutschland und St. Lucia über
kreise“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- den Informationsaustausch in Steuersachen
empfehlung auf Drucksache 17/4060, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1152 abzulehnen. – Drucksache 17/3961 –
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dage- Überweisungsvorschlag:
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an- Finanzausschuss (f)
(B) genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Rechtsausschuss (D)
bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 i sowie tokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des
Zusatzpunkt 4 auf: Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Malta zur
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
tokoll vom 23. Juni 2010 zur Änderung des Vermögen
Protokolls über die Übergangsbestimmungen,
das dem Vertrag über die Europäische Union, – Drucksache 17/3962 –
dem Vertrag über die Arbeitsweise der Euro- Überweisungsvorschlag:
päischen Union und dem Vertrag zur Grün- Finanzausschuss
dung der Europäischen Atomgemeinschaft
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
beigefügt ist
Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Martin
– Drucksache 17/3357 – Dörmann, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der setzes zur Änderung des Gesetzes über die
Europäischen Union (f) Wahrnehmung von Urheberrechten und ver-
Auswärtiger Ausschuss wandten Schutzrechten (Urheberrechtswahr-
Innenausschuss nehmungsgesetz – UrhWahrnG)
Rechtsausschuss
– Drucksache 17/3991 –
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Überweisungsvorschlag:
Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifika- Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
tions-Gesetzes Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
– Drucksache 17/3800 –
Überweisungsvorschlag: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
8544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter Berichterstattung: (C)
und der Fraktion der SPD Abgeordnete Manfred Grund
Franz Thönnes
Bei Aussetzung der Wehrpflicht Hochschul- Dr. Rainer Stinner
pakt aufstocken Wolfgang Gehrcke
– Drucksache 17/4018 – Viola von Cramon-Taubadel
Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
lung auf Drucksache 17/2476, den Antrag der Fraktion
Ausschuss für Arbeit und Soziales Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1432 abzu-
Verteidigungsausschuss lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
Ausschuss für Gesundheit fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
Haushaltsausschuss
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike haltung von SPD und Linke.
Höfken, Birgitt Bender, Cornelia Behm, weiterer
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
titionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte
DIE GRÜNEN
37 b bis 37 k.
Umsetzung der EU-Health-Claims-Verord-
Tagesordnungspunkt 37 b:
nung voranbringen
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
– Drucksache 17/4015 – ausschusses (2. Ausschuss)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Sammelübersicht 171 zu Petitionen
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 17/3918 –
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela gen? – Sammelübersicht 171 ist einstimmig angenom-
Wagner, Oliver Krischer, Bettina Herlitzius, wei- men.
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 37 c:

Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunk- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
(B) ausschusses (2. Ausschuss) (D)
turpaket (EEPR) unverzüglich für mehr Ener-
gieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen Sammelübersicht 172 zu Petitionen
– Drucksache 17/4017 – – Drucksache 17/3919 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gen? – Sammelübersicht 172 ist ebenfalls einstimmig
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit angenommen.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Tagesordnungspunkt 37 d:
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Sammelübersicht 173 zu Petitionen
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der – Drucksache 17/3920 –
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 37 a bis gen? – Sammelübersicht 173 ist angenommen mit den
37 k. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vor- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Ent-
Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 37 a: haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 37 e:
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola ausschusses (2. Ausschuss)
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bre-
men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Sammelübersicht 174 zu Petitionen
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/3921 –
OSZE-Vorsitz für Reformen in Kasachstan
nutzen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 174 ist einstimmig angenom-
– Drucksachen 17/1432, 17/2476 – men.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8545
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Tagesordnungspunkt 37 f: Tagesordnungspunkt 37 k: (C)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 175 zu Petitionen Sammelübersicht 180 zu Petitionen
– Drucksache 17/3922 – – Drucksache 17/3927 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 175 ist bei Gegenstimmen tungen? – Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stim-
von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
gen Fraktionen angenommen. Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 g: Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Aktuelle Stunde


ausschusses (2. Ausschuss) auf Verlangen der Fraktion der SPD
Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
hinsichtlich der Zukunftsängste des wissen-
– Drucksache 17/3923 – schaftlichen Nachwuchses
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
tungen? – Die Sammelübersicht 176 ist bei Gegenstim- ner das Wort dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-
men der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übri- Fraktion.
gen Fraktionen angenommen. (Beifall bei der SPD)
Tagesordnungspunkt 37 h:
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ausschusses (2. Ausschuss)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen
Sammelübersicht 177 zu Petitionen uns Sorgen um den wissenschaftlichen Nachwuchs ma-
chen. Es gibt eine aktuelle Studie, von der Bundesregie-
– Drucksache 17/3924 – rung in Auftrag gegeben, wonach Nachwuchswissen-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- schaftler ihre Arbeit an sich durchaus positiv bewerten,
(B) (D)
tungen? – Die Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen aber Zukunftsängste haben. Letzteres ist auch nur zu
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- verständlich; denn lediglich etwa 10 Prozent aller
genstimmen der Linken und der Grünen angenommen.1) Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswis-
senschaftler haben eine unbefristete Stelle, etwa
Tagesordnungspunkt 37 i: 90 Prozent müssen sich mit einer befristeten Stelle zu-
friedengeben.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) In der Studie kommt sehr deutlich zum Ausdruck,
dass die Leute Perspektiven haben wollen – das ist doch
Sammelübersicht 178 zu Petitionen nachvollziehbar –, dass sie Planbarkeit ihres Berufswe-
– Drucksache 17/3925 – ges wünschen,
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau! Plan-
gen? – Die Sammelübersicht 178 ist mit den Stimmen wirtschaft!)
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei dass sie eine unbefristete Stelle haben wollen. Das ist na-
Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion türlich auch wichtig für die Vereinbarkeit von Familie
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. und Beruf, die uns so sehr am Herzen liegt.
Tagesordnungspunkt 37 j: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
ausschusses (2. Ausschuss) GRÜNEN)

Sammelübersicht 179 zu Petitionen Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum ist
das nun ein Thema, warum diese Aktuelle Stunde? Weil
– Drucksache 17/3926 – wir den wissenschaftlichen Nachwuchs brauchen! Wir
brauchen ihn für die Lehre an den Hochschulen. Immer
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- mehr Leute wollen studieren – das ist wunderbar –, aber
gen? – Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen sie müssen natürlich auch ausgebildet werden. Dafür
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der Grünen braucht es entsprechend qualifiziertes Personal. Wir
bei Gegenstimmen von SPD und Linken angenommen. brauchen daneben natürlich auch Forscherinnen und
Forscher, die uns voranbringen, die uns in verschiedenen
1) Anlage 2 Bereichen Problemlösungen anbieten. Dabei entstehen
8546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Swen Schulz (Spandau)


(A) Schwierigkeiten, wenn Leute von schlechten Arbeitsbe- möglich sein. Wir als Sozialdemokraten haben das übri- (C)
dingungen abgeschreckt werden. gens in der Großen Koalition gefordert, aber unser da-
maliger Koalitionspartner CDU/CSU wollte die Tarif-
Ich möchte aus dieser aktuellen Studie gern etwas sperre unbedingt drin haben. Ich hoffe, dass da jetzt ein
vorlesen, nämlich das Zitat von einer im Bereich Natur- Umdenkprozess möglich ist.
wissenschaften tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin
einer Universität: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Die Gefahr, nach jahrelangem „Durchschlagen“ auf der LINKEN)
befristeten Stellen und einem gewissen „Berufsno- Der zweite Punkt sind Juniorprofessuren. Unter Rot-
madentum“ am Ende keine permanente Stelle zu Grün haben wir Juniorprofessuren eingeführt und auch
bekommen, ist hoch. Das Risiko, diesen Weg zu ge- gefördert, weil das vielen Nachwuchswissenschaftlern
hen, ist mir persönlich zu hoch, auch wenn ich die Perspektive gibt. Da stellt sich die Frage, warum unter
Arbeit in der Wissenschaft mag. der Regie von Frau Schavan die Förderung beendet bzw.
Wir sehen an diesem Zitat, dass wir Menschen verlieren, kein neues Programm aufgelegt wurde. Wir wollen Ju-
dass wir ihre Kompetenzen verlieren. Das können wir so niorprofessuren. Deswegen schlagen wir ein neues
nicht hinnehmen. Da müssen wir gegensteuern. Bund-Länder-Programm vor: 1 000 Juniorprofessuren –
das wäre ein guter Beitrag.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN]) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Es gilt auch hier der sozialdemokratische Grundsatz
von der guten Arbeit. Nur mit Perspektiven und nur mit Der dritte Punkt ist: Der sogenannte Tenure Track,
guten Arbeitsbedingungen können wir die Leute gewin- also der Karriereweg an der eigenen Hochschule, muss
nen, und nur so können diese auch die exzellenten Leis- ausgebaut werden. Die Bundesregierung sollte da aktiv
tungen abliefern, die wir von ihnen sehen möchten. Das werden und mit den Ländern ins Gespräch kommen, wie
wollen wir erreichen: gute Arbeit, auch in der Wissen- wir den Tenure Track ausbauen können.
schaft.
Der vierte Punkt ist: Die Hochschulen müssen eine
(Zuruf von der FDP: Wer will das nicht?) solide Personalentwicklungsplanung machen. Das ist
Das Thema ist natürlich nicht ganz neu, auch wenn leicht gesagt, aber schwerer getan. Da muss Überzeu-
wir hier eine aktuelle Studie haben. Die Bundesregie- gungsarbeit geleistet werden. Da müssen Kompetenzen
(B) rung hat bereits 2008 in dem umfangreichen „Bundesbe- aufgebaut werden. Ich habe da einen kleinen Vorschlag (D)
richt zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuch- für die Bundesregierung: Sie bieten seit neuerem Kurse
ses“ selbst festgestellt, dass es durchaus Probleme gibt. für Hochschulen an, wie Stipendien eingeworben wer-
Die Frage ist bloß: Was tut die Bundesregierung, um die- den können. Wie wäre es, wenn Sie einmal etwas Ver-
ses Problem zu lösen? – Unter Rot-Grün haben wir Re- nünftiges machen und Kurse für Personalentwicklungs-
gelungen zur Ausschaltung von Kettenbefristungen ge- planung anbieten? – Das wäre doch ein vernünftiger
schaffen, und in der Großen Koalition haben wir das Beitrag.
Wissenschaftszeitvertragsgesetz gemacht. Wir haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
aber gleichzeitig gesagt, dass es evaluiert werden soll, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
weil wir gucken müssen, was tatsächlich in der Realität GRÜNEN)
passiert. Wir haben die Bundesregierung damit beauf-
tragt, eine Evaluation vorzulegen. Und der fünfte Punkt: Es gibt eine Menge Bund-Län-
der-Programme im Hochschulbereich, etwa den Hoch-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
schulpakt und die Exzellenzinitiative. Die Bundesregie-
Das ist dringend notwendig!)
rung hat in ihrem Bericht gesagt, dass mit dem
Meine sehr verehrten Herren Staatssekretäre, die Evalua- Hochschulpakt sicherlich alles viel besser für die Nach-
tion durch die Bundesregierung ist überfällig. Wo ist der wuchswissenschaftler wird. Aber Vertrauen allein reicht
Bericht? Legen Sie ihn vor, damit wir da weiterkommen. nicht. Da muss man auch genauer hinschauen und viel-
leicht auch einmal den Erhalt von Bundesmitteln an
Tatsächlich müssen wir überlegen: Reichen die jetzi- Mindestarbeitsbedingungen knüpfen und Anreize für
gen Bestimmungen aus, oder sind sie vielleicht sogar an gute Arbeit einbauen. Es kann nicht sein, dass – wie es
der einen oder anderen Stelle kontraproduktiv? Ein tatsächlich insbesondere in der Hochschullehre häufig
Punkt scheint mir jedenfalls jetzt schon klar zu sein: Die passiert – Leute nachgerade ausgebeutet werden, zu
Tarifsperre muss weg. ganz schlechten Bedingungen Arbeit leisten, die eigent-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ge-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE leistet werden sollte. Dem müssen wir einen Riegel vor-
GRÜNEN) schieben.
Es sollte die Möglichkeit geben, dass Arbeitgeber und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen über das Gesetz- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
liche hinaus treffen. Das sollte gerade in diesem Bereich GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8547

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
Herr Kollege Schulz, kommen Sie bitte zum Schluss. Aber Sie haben daraus keine Konsequenzen
gezogen!)
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Es war diese Bundesregierung, die den HIS-Bericht
Herr Präsident, Sie wollen keine weiteren Punkte hö- „Wissenschaftliche Karrieren“ in Auftrag gegeben hat,
ren? Das ist natürlich traurig. Ich hätte noch einiges an- damit wir erstmals empirische Zahlen zur Situation des
zubieten, zum Beispiel aus dem Drittmittelsektor. wissenschaftlichen Nachwuchses erhalten. Schon dieser
Bericht, aus dem Sie heute hier zitieren, ist ein erster Be-
Letzter Satz: Wir sollten im Ausschuss dieses Thema, weis dafür, dass die Bundesregierung nicht tatenlos ist,
das nicht leicht ist, seriös und sachlich auf der Basis der sondern sich intensiv diesem Thema widmet.
Evaluation diskutieren, die dann hoffentlich bald kommt
– Herr Staatssekretär, Sie können dazu gleich etwas sa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai
gen –, und dann tatsächlich Konsequenzen ziehen. Diese Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was
Debatte hier sollte dafür ein Auftakt sein. ist daraus geworden? Nichts! – Swen Schulz
[Spandau] [SPD]: Sie müssen auch Konse-
Herzlichen Dank. quenzen daraus ziehen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn Sie sich den Bericht anschauen, dann sehen Sie,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE dass die Nachwuchswissenschaftler gebeten wurden,
GRÜNEN) den folgenden Satz zu vervollständigen:
„Wenn ich meine berufliche Situation ändern
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: könnte, dann würde ich …“
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen- Der Punkt, der am meisten genannt wurde, war: „Unbe-
tarische Staatssekretär Dr. Helge Braun. fristete Stelle“. An zweiter Stelle lag: „Bezahlung“. Ich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) glaube, dass es kaum eine Berufsgruppe gibt, in der die
Arbeitszufriedenheit so hoch ist wie bei den Nachwuchs-
wissenschaftlern, denn an dritter Stelle lag die Nennung:
Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun- „Nichts ändern“. Ich denke, das macht deutlich, dass
desministerin für Bildung und Forschung: hier viele junge Menschen mit Engagement und Freude
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wissenschaftlich tätig sind. Deswegen ist es aus meiner
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft Sicht völlig falsch, wie Sie bei diesem Thema stigmati-
(B) Deutschlands liegt ganz erheblich in den Händen junger sieren. (D)
Nachwuchswissenschaftler. Wir erwarten von ihnen Bei-
träge zur Lösung unserer Klimaprobleme, der Welt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ernährung, der Energieversorgung, der Volkskrankheiten Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was heißt
und internationaler Konflikte. Wir erwarten von ihnen denn hier „stigmatisieren“? Sie verschließen
auch Innovationen, sodass Wachstum und soziale Si- die Augen vor den Problemen! – Kai Gehring
cherheit in Zeiten des demografischen Wandels verste- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schönreden
tigt werden können. hilft nicht!)
Die Studie macht im Hinblick auf die Einkommens-
Deshalb steht selbstverständlich der wissenschaftli-
situation deutlich, dass junge Wissenschaftlerinnen und
che Nachwuchs mitten im Fokus der Politik der Bundes-
Wissenschaftler geradezu mit großer Freude daran arbei-
regierung und des Bundesministeriums für Bildung und
ten, ihren Weg an den Universitäten und außeruniversitä-
Forschung.
ren Forschungseinrichtungen fortzusetzen; sie haben ein
Junge Forscher sind oft voller Begeisterung; aber ich großes Interesse daran und sind sogar bereit, ein geringe-
bin sicher, dass sie deutlich weniger davon begeistert res Einkommen in Kauf zu nehmen, wenn sie weiterhin
sind, dass diese Aktuelle Stunde – der Auftakt der De- über die Freiheiten des Wissenschaftssystems verfügen
batte zum Thema Nachwuchswissenschaftler – mit dem dürfen.
polemischen Titel „Fehlende Aktivitäten der Bundesre- Ich will etwas zur Situation von Akademikern am Ar-
gierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissen- beitsmarkt sagen, die nicht in die Wissenschaft, sondern
schaftlichen Nachwuchses“ versehen wurde. Ich glaube in die freie Wirtschaft gehen. Diejenigen mit einem aka-
nicht, dass Sie damit die klügsten Köpfe in diesem Land demischen Abschluss haben die weitaus besten Chancen
beeindrucken können. am Arbeitsmarkt. Die Bundesagentur für Arbeit hat für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Jahr 2009 entsprechende Zahlen herausgegeben: Da-
nach gibt es bei der Beschäftigung von Akademikern
Als aktuellen Aufhänger haben Sie die HIS-Studie zi- eine positivere Entwicklung als bei allen Beschäftigten.
tiert, die sich der Situation der Nachwuchswissenschaft- Akademiker sind am kürzesten arbeitslos. Die Zahl der
ler in Deutschland widmet. Es war Bundesministerin Beschäftigten hat bei den Akademikern in den letzten
Annette Schavan, die 2008 den ersten „Bundesbericht zehn Jahren um 21 Prozent zugenommen, bei allen Be-
zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses“ schäftigten hat sie um 2 Prozent abgenommen. Allein im
vorgelegt hat. letzten Jahr hat sie um 3,5 Prozent zugenommen, bei al-
8548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun


(A) len Beschäftigten um 0,3 Prozent abgenommen. – Wenn Wir haben nämlich gesehen, wenn wir die Situation im (C)
Sie die absoluten Zahlen wissen wollen: Am Ende der Detail beleuchten wollen, dann brauchen wir mehr Zah-
Regierung Schröder gab es 244 000 arbeitslose Akade- len, mehr Daten, mehr Fakten und auch eine Umfrage
miker; heute sind es 167 000, also deutlich weniger als unter den Betroffenen, um die Situation richtig einschät-
damals. zen zu können. Ich glaube deshalb, dass Sie Anfang
nächsten Jahres einen Bericht bekommen werden, der die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Erwartungen, die der Bundestag damals in das Thema ge-
neten der FDP – Swen Schulz [Spandau]
setzt hat, bei weitem übertreffen wird. Deshalb bitte ich
[SPD]: Also ist alles gut, ja?)
Sie an der Stelle einfach noch um ein wenig Geduld.
Sie haben das Thema Tenure Track angesprochen. Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wissen genau, dass Sie sich damit am allerwenigsten an
Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Bundesregierung richten müssen. Wir haben zum
Fakten sind doch Fakten!)
Beispiel im Bereich der Helmholtz-Gemeinschaft den
Nachwuchswissenschaftlern und Gruppenleitern in vie- Was haben wir fünftens getan? Wir haben die Mittel
len Fällen einen solchen Tenure Track angeboten, also für die Begabtenförderung, insbesondere für die Promo-
die Möglichkeit, bei positiver Evaluation ihrer Tätigkeit tionsstipendien, von 30 auf 50 Millionen Euro jährlich
unbefristete Stellen zu bekommen. Es treibt auch die angehoben. Damit steht einem Promotionsstudierenden
Bundesregierung um, dass sich der Tenure Track an vie- in den Begabtenförderungswerken jetzt ein monatliches
len Universitäten – und zwar nicht aufgrund fehlender Salär von 1 050 Euro zur Verfügung.
Initiativen der Bundesregierung – noch nicht so durchge-
Was haben wir sechstens gemacht? Wir haben in den
setzt hat, wie sich das viele junge Nachwuchswissen-
großen Forschungsprogrammen Nachwuchsgruppen eta-
schaftler wünschen. Ich denke, die Berichte, die wir an
bliert, zum Beispiel im Gesundheitsforschungspro-
dieser Stelle abgegeben haben, können dazu beitragen,
gramm oder im Programm der empirischen Bildungsfor-
dass dieses Thema in sachlicher Weise weiter vorange-
schung.
bracht wird.
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es Wir haben siebtens die Programme „PhD-Net“ und
– ganz erfolgreich – auch das Programm „International
geht gar nicht voran! Das ist das Problem!)
promovieren“ gestartet.
Sie brandmarken hier die Untätigkeit der Bundesre-
gierung. Dazu will ich einige Sätze sagen, Herr Kollege: Und wir haben achtens mit dem KISSWIN-Netzwerk
ein erfolgreiches Netzwerk etabliert. Ich konnte im letz-
Erstens. Sie haben selber die Exzellenzinitiative ange- ten Jahr selber die entsprechende Tagung eröffnen, auf
(B) sprochen. Die vom Bund finanzierte Exzellenzinitiative der junge Nachwuchswissenschaftler nicht nur Transpa- (D)
hat 3 800 neue Jobs für Nachwuchswissenschaftler ge- renz im Hinblick auf ihren Karriereweg bekommen, son-
schaffen. dern sich auch erfolgreich vernetzen können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir haben neuntens die Rückkehrperspektiven nach
Patrick Meinhardt [FDP]) Auslandsaufenthalten verbessert. Ich glaube, die
Alexander-von-Humboldt-Professur ist etwas, was in der
In der zweiten Runde der Exzellenzinitiative werden es,
ganzen Welt Beachtung findet. Gleichzeitig, seit 2009,
wenn es sich verstetigt, bis zu 5 400 sein.
gibt es auch das DAAD-Programm zur Rückführung und
Zweitens haben wir darüber hinaus im Zusammen- Rückgewinnung von deutschen Wissenschaftlern.
hang mit der Exzellenzinitiative 39 Graduiertenschulen
Doch nicht nur die Bundesregierung direkt, sondern
geschaffen.
auch die DFG hat ermöglicht, dass zukünftig Promovie-
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rende – Sie haben ihre Arbeitsverhältnisse angespro-
Aber was kommt danach?) chen – mehr als 50 Prozent einer Stelle in Anspruch
nehmen können. Die DFG hat 301 Graduiertenkollegs
Drittens sorgt der Pakt für Forschung und Innovation
und -schulen gebildet. Wir haben das Emmy-Noether-
dafür, dass das Gleiche auch an den außeruniversitären
Programm und die Heisenberg-Professur, den Heinz-
Forschungseinrichtungen geschieht.
Maier-Leibnitz-Preis und vieles andere.
Viertens. Sie haben auch das Thema der Vereinbarkeit
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist alles
von Familie und Beruf angesprochen. Das Programm
nicht neu!)
„Zeit gegen Geld“ ist ein erfolgreiches Programm zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Familienkom- Also, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen
ponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz haben Sie und Kollegen von der SPD, ich glaube, es wird deutlich:
selbst genannt. Das, was die Regierung in den letzten Jahren auf den
Weg gebracht hat, ist das, was Deutschland braucht,
Zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz will ich Ihnen
nämlich die Leistungsträger in unserem Land – und das
sagen: Sie werden die Evaluation Anfang nächsten Jah-
sind die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nach-
res bekommen. Sie wird sogar noch viel umfangreicher
wuchswissenschaftler – deutlich zu stärken. Wir haben
werden als das, was dem ursprünglichen Auftrag ent-
eine Vielzahl von Initiativen. Mit der vorliegenden Stu-
spricht, und um weitere Facetten ergänzt.
die und der Fortschreibung des von uns erstmals vorge-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Na super!) legten „Bundesberichtes zur Förderung des Wissen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8549
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(A) schaftlichen Nachwuchses“ werden wir an dem Thema lieber heute als morgen. Das tun sie auch in großem (C)
weiter arbeiten, damit die jungen Menschen in Deutsch- Maße. Sie tun das, weil sie mit den Perspektiven ihres
land, die Nachwuchswissenschaftler, bei guten berufli- Berufs, mit ihrem Einkommen und mit den Ungewiss-
chen Perspektiven entscheidend dazu beitragen können, heiten, die solche existenziellen Konkurrenzkämpfe mit
dass Deutschland eine gute Zukunft hat. sich bringen, unzufrieden sind.
Vielen Dank. Wie schon gesagt: Das alles ist nicht neu. Zuletzt hat
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai sich der Forschungsausschuss 2009 in einer großen An-
Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hörung damit beschäftigt. Die Erkenntnisse daraus blie-
Dazu hat Ihre Rede aber nicht beigetragen!) ben nahezu folgenlos. Was Sie aufgezählt haben, Herr
Braun, existiert schon lange. Das sind überhaupt keine
originären Leistungen dieser Bundesregierung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte von der (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
Fraktion Die Linke. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Das Einzige, was Sie nach dieser Anhörung gemacht ha-
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): ben, ist, ein Internetportal zu schaffen, damit man die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss Stellenvermittlung besser gestalten kann. Ansonsten se-
Studien wirklich ernst nehmen und auch lesen können. hen Sie Ihre Aufgaben der Förderung des Nachwuchses
Und die Studie der HIS GmbH, die Anlass dieser De- mit der Projektförderung und vor allem mit der Exzel-
batte ist, zeigt eines ganz deutlich: Das Rennen um die lenzinitiative als erledigt an.
Einwerbung zusätzlicher Forschungsgelder, also um die Die Exzellenzinitiative löst die Probleme aber nicht,
sogenannten Drittmittel, führt zu einer deutlichen Ver- sondern sie verschärft sie weiter. Ich will das kurz erklä-
schlechterung der Beschäftigungsbedingungen des wis- ren. Man hat also, wie Sie schon erwähnt haben, etwa
senschaftlichen Nachwuchses an Wissenschaftseinrich- 4 000 Projektstellen in einem hochspezialisierten Be-
tungen. reich geschaffen. Das ist zusätzliches Personal. Dieses
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und das bereits vorhandene Personal steuern auf das
gleiche Nadelöhr zu. Dahinter liegen die bereits erwähn-
Zwischenzeitlich arbeiten mehr Wissenschaftlerin- ten höchst seltenen Dauerstellen. Dort aber gibt es, wie
nen und Wissenschaftler auf solchen Drittmittelstellen wir wissen, keinen Aufwuchs. Deshalb werden von den
(B) als auf Stellen, die aus den regulären Haushalten finan- vielen über die Exzellenzinitiative Geförderten später (D)
ziert werden. Der wissenschaftliche Mittelbau bzw. viele keine Beschäftigung an Hochschulen und Instituten
Nachwuchs bildet heute die Verschiebemasse in den finden. Die Gewerkschaften haben uns früh auf diesen
Haushalten von Hochschulen und Instituten. Die Betrof- Widerspruch hingewiesen. Schon deshalb hätte weder
fenen sind quasi zum akademischen Proletariat gewor- Rot-Grün die Exzellenzinitiative noch Schwarz-Rot spä-
den. ter das Wissenschaftszeitvertragsgesetz beschließen dür-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- fen. Erst dieses Gesetz hat die unbegrenzte Befristung
rufe von der CDU/CSU) von Drittmittelstellen möglich gemacht.

Alle bisherigen Studien, auch diese jüngste, zeigen uns: (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer in das deutsche Wissenschaftssystem einsteigt, kann So ist es!)
auch gleich auf einem Vulkan tanzen. Es ist nämlich völ- Wie dem auch sei: Wenn sich mit dieser Debatte eine
lig offen, ob man sich halten kann, oder ob man wieder Chance eröffnet, diese Fehler zu korrigieren, dann soll-
ausgestoßen wird. Wissenschaftliche Dauerstellen – das ten wir sie entschlossen nutzen. Tilgen Sie die Fehler im
haben Sie schon gesagt, Herr Kollege – im Mittelbau Gesetz; einige sind schon genannt worden. Kippen Sie
verglühen nämlich immer mehr. Laut HIS-Umfrage ha- die Tarifsperre, damit Gewerkschaften und Arbeitgeber
ben nur noch 9 Prozent der Befragten an Universitäten aktiv gegen diese miesen Arbeitsbedingungen im Dritt-
und 6 Prozent an außeruniversitären Einrichtungen eine mittelbereich vorgehen können. Stellen Sie endlich das
unbefristete Stelle inne. Es dominiert die befristete Be- Kooperationsverbot ins Abseits, damit das Ausufern des
schäftigung. Doch damit nicht genug: Auch die Dauer Drittmittelsektors begrenzt werden kann. Stellen Sie die
der Befristung wird ständig eingedampft. Deutlich mehr Basisfinanzierung von Hochschulen und Forschungsein-
als die Hälfte der Befragten hat einen Vertrag mit einer richtungen auf sichere Füße. Schließlich – da kann ich
Laufzeit von weniger als 24 Monaten. Ein Viertel der mich meinem Kollegen aus der SPD-Fraktion nur an-
Bezugsgruppe hat einen Vertrag mit einer Laufzeit von schließen –: Legen Sie ein Stellenprogramm von Bund
weniger als einem Jahr. Dann finden sich noch ganz bi- und Ländern vor, damit insbesondere im Postdocbereich,
zarre Erscheinungen. Uns wird in jüngster Zeit immer also in der Zeit nach der Promotion, verlässliche Be-
öfter von Monats- oder sogar Wochenverträgen berich- schäftigungschancen angeboten werden können.
tet, und das im Wissenschaftsbereich.
Danke schön.
Deutschland, ein Land der Ideen, wie Sie immer so
schön sagen? Angesichts dieser Entwicklung kommen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Hochqualifizierte nur auf eine Idee: Weggehen, und das neten der SPD)
8550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gelfall von denen, die einen unbefristeten Vertrag haben. (C)
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Martin Neumann Wir müssen hier wirklich etwas tun, auch in Richtung
von der FDP-Fraktion. Kommunikation und Darstellung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist
Quatsch! Es gibt kaum Leute mit unbefristeten
Verträgen!)
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und – Das steht da drin, Herr Schulz. Das ist so.
Kollegen! Die Zukunftsperspektive junger Menschen Was tut die Bundesregierung? Ich will an dieser Stelle
beschäftigt dieses Haus des Öfteren. In der Vergangen- noch einmal deutlich hervorheben – Staatssekretär Braun
heit haben wir oft über Bildungsverlierer, Schulabbre- hat das gerade gesagt –: Wir haben mit der dritten Säule
cher und dergleichen gesprochen. Heute, in dieser De- des Hochschulpakts etwas für eine bessere Lehre getan.
batte, stellen wir uns die Frage nach der Situation derer, 2 Milliarden Euro gibt es beispielsweise für mehr Stel-
die eigentlich auf der Sonnenseite der Gesellschaft ste- len. Klar ist, dass das eine oder andere zu tun ist. Wir ha-
hen müssten. Letztendlich geht es um diejenigen, die den ben nicht die Verhältnisse wie beispielsweise in Großbri-
Sprung in das wissenschaftliche Ausbildungssystem ge- tannien, etwa einen Lecturer oder solche Dinge. Wir
schafft haben und – das sage ich auch als Hochschulpro- brauchen sicherlich eine strukturiertere Position.
fessor – den Weg in Richtung Wissenschaft gehen wol-
len. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist ja
schon mal was!)
Wie geht es also unseren Doktoranden, Postdoktoran-
den und Juniorprofessoren? Die Studie, auf die diese Dis- – Natürlich. Darüber muss man in Zukunft nachdenken. –
kussion Bezug nimmt, die HIS-Studie, basiert auf Zahlen Wir brauchen rechtliche Rahmenbedingungen – das ist
aus dem Jahr 2009. Die Frage, wie es heute aussieht, die Aufgabe dieser Bundesregierung –, um Deutschland
muss man sicherlich durchaus differenziert beantworten. attraktiv, forschungsfreundlich und international konkur-
Bei den Doktoranden – das will ich an dieser Stelle deut- renzfähig zu machen.
lich sagen – sind wir im Vergleich mit dem EU-Durch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
schnitt viel besser. In den 27 Mitgliedstaaten der EU gibt
es im Durchschnitt 2,7 Promotionen je 100 Hochschulab- Wir reden über ein Thema, das von ureigenem landes-
schlüsse. Wir haben eine Quote von 14,2 Prozent. Wir politischen Interesse ist. Das ist an verschiedenen Stellen
sind besser als Frankreich, besser als Großbritannien und diskutiert worden. Ich komme aus Brandenburg. Die
sogar besser als Finnland. An dieser Stelle sage ich: Die Wissenschaftspolitik im rot-rot regierten Brandenburg
(B) OECD hat es versäumt, uns dafür einen Lorbeerkranz zu ist meiner Ansicht nach wirklich beängstigend. (D)
überreichen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Die Landesregie-
Hier kann – das ist in der Bildung allgemein so – sicher- rung vereinbart mit den Hochschulen einen Hochschul-
lich das eine oder andere besser gemacht werden. pakt. Die Hochschulen bilden Rücklagen. Das wird ge-
tan, um eine langfristige Perspektive zu bekommen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Darüber Dann gibt es plötzlich Probleme im Haushalt, und dann
reden wir doch jetzt!) greift man einfach einmal in die Tüte.
Ein Artikel in der FAZ stand unter der Überschrift (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie haben das
„Fördert mich, ich bin Forscher!“. In diesem Zusammen- Geld aus dem Personalhaushalt! Das ist
hang ist die Frage zu klären: Wie kann man Defizite mit Quatsch, was Sie erzählen! Sie haben die
Programmen beispielsweise auch aus der Bundespolitik Leute nicht eingestellt! Deshalb ist das Geld
bereinigen? Ich spreche auch die Landespolitik an; dazu übrig geblieben!)
komme ich gleich noch. Im Kern – das ist eine Diskus-
– Fragen Sie doch einmal die Kollegen, die letztendlich
sion, die wir im Herbst vergangenen Jahres hatten – geht
keine Perspektive sehen, weil es keine verlässliche
es um die qualifizierte Betreuung, die Planbarkeit und
Hochschulpolitik gibt. Es geht nicht nur um diese
die Finanzierungsmöglichkeiten. Die Hochschulen ma-
10 Millionen Euro. Es geht darum, dass man in beste-
chen das schon, wenn wir sie nur lassen. Wir müssen den
hende Verträge eingreift und so Planbarkeit verhindert.
Hochschulen die Möglichkeit geben. Sie antworten mit
strukturierten Promotionsprogrammen und Graduierten- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das Geld ist
kollegs, um an der Stelle nur einige Punkte zu nennen. nicht für die Personalpolitik ausgegeben wor-
Auch die Stipendienprogramme der Begabtenförder- den!)
werke sind ein wesentlicher Bestandteil, um hier etwas
deutlich zu verbessern. – Liebe Frau Sitte, das sind Rücklagen. Man bildet
Rücklagen für eine langfristige Personalentwicklung.
Das Thema Projektarbeit sowie befristete Arbeitsver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
träge sind in der Tat ein Problem. Wenn Sie einmal in die
Studie gucken, werden Sie feststellen, woher die Klage Das führt meiner Ansicht nach dazu – gestatten Sie mir
kommt. Die Klage kommt nicht von den Menschen mit diesen Satz –, dass junge Wissenschaftler dann nicht
befristeten Arbeitsverträgen, sondern sie kommt im Re- mehr an einen Vertrag glauben, sondern fragen: Was ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8551
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) die Perspektive an dieser Hochschule? Das schadet uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
sehr. Darum habe ich Angst. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Die Hochschu-
len haben nicht eingestellt! Deshalb war das Viele deutsche Postdocs arbeiten in den USA. Sie wür-
Geld übrig!) den liebend gerne nach Deutschland zurückkommen;
Ich bitte Sie, diese Angst an der Stelle so zu erkennen. aber das ist für sie ein Hochrisikounternehmen. Wenn
man in den USA ein guter Postdoc ist, nützt es einem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nichts, wenn man gesagt bekommt, man könne auch bei
uns Postdoc werden. Die Postdocs wollen wissen, was da-
Wir brauchen in der Zukunft Aktivitäten, die langfris- nach kommt. Herr Schulz hat recht, wenn er sagt, dass die
tig und planbar sind, um ein besseres und in der Tat im- Familiengründung in dieser Lebensphase eher schwierig
mer wieder zu veränderndes und weiterzuentwickelndes ist.
Hochschul- und Wissenschaftssystem zu haben.
Ich bedanke mich. Glück auf! (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
[SPD])
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Es geht hier nicht um ein individuelles Problem einiger
Hochqualifizierter, sondern um die Frage, wie attraktiv
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der wissenschaftliche Beruf in Deutschland ist. Dies be-
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager von trifft nicht nur unsere Hochschulen und unsere außeruni-
Bündnis 90/Die Grünen. versitären Forschungseinrichtungen, sondern dies ist ein
existenzielles Problem unseres Wissenschaftssystems
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): insgesamt. Es geht um dessen Wettbewerbsfähigkeit und
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Qualität in der Zukunft. Die Bundesregierung reagiert da-
Braun, Sie haben richtig festgestellt, dass unser wissen- rauf mit Realitätsverweigerung. Wir haben eine Kleine
schaftlicher Nachwuchs Spaß an der wissenschaftlichen Anfrage gestellt. Sie haben auf unseren Hinweis auf die
Arbeit hat. Aber das muss er nicht an deutschen Hoch- rasante Zunahme von befristeten und nebenberuflichen
schulen machen. Das muss er noch nicht einmal in Beschäftigungsverhältnissen noch am 10. November die-
Deutschland machen. Sie haben offensichtlich überhaupt ses Jahres geschrieben, dass die Beschäftigungsverhält-
keine Ahnung, wie es für den wissenschaftlichen Nach- nisse Ihrer Auffassung nach attraktiv und konkurrenzfä-
wuchs an deutschen Hochschulen inzwischen aussieht. hig sind.
(B) (D)
(Widerspruch bei der CDU/CSU) Wenn man Bund, Länder und auch einen Teil der
Wissenschaftsorganisationen betrachtet, sieht man, dass
Befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit, neben-
Wegschauen oder kollektive Verantwortungslosigkeit – man
berufliche Tätigkeit, prekäre Beschäftigungsverhält-
schiebt sich den Schwarzen Peter für das Problem ge-
nisse, und zwar für Leute, die Daueraufgaben in For-
genseitig zu – herrschen. Ich glaube, es ist überfällig,
schung und Lehre leisten – das ist inzwischen der
Normalfall. Für einen wirklich guten Postdoc gibt es dass Bund, Länder und Wissenschaftsorganisationen die
kaum Möglichkeiten, durch den engen Karriereflaschen- Fragen nach den Arbeitsbedingungen für hauptberufli-
hals zu einer ordentlichen Professur zu kommen. Auf che Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den
30 Promovierte kommen 3 Habilitierte und eine ordent- Hochschulen in Deutschland und nach den Perspektiven
liche Professur. unseres wissenschaftlichen Nachwuchses gemeinsam
ganz oben auf die Tagesordnung setzen.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie weisen darauf hin, dass wir so viele Graduiertenpro- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
gramme haben. Durch diese wird doch der Druck auf KEN)
diesen engen Flaschenhals nur größer. Dadurch wird das
Problem nicht gelöst. Dieses Problem ist weder beim Hochschulpakt, also
dem Pakt für mehr Studienplätze, noch beim Pakt für For-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schung und Innovation angesprochen worden. Die Grund-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- finanzierung in den Ländern bricht weg. Die Drittmittelfi-
KEN) nanzierung des Bundes kann das nicht kompensieren. Wir
Sie haben für den wissenschaftlichen Nachwuchs haben dadurch eine rasant ansteigende Zahl befristeter
überhaupt keine Berechenbarkeit, überhaupt keine Plan- Beschäftigungsverhältnisse. Die Personalstruktur ist im
barkeit der Karriere geschaffen. Im Gegenteil: Der wis- internationalen Vergleich extrem ungünstig: 14 Prozent
senschaftliche Nachwuchs läuft heute Gefahr, dass er im ordentliche Professuren und darunter Nachwuchs und un-
fünften Lebensjahrzehnt immer noch befristete Stellen selbstständiger Mittelbau mit unklaren Perspektiven in
hat, immer noch als Nachwuchs gilt und am Ende als befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Mit einer sol-
Überqualifizierter und Gescheiterter im beruflichen Nir- chen Personalstruktur können wir in Deutschland nicht
wana landet. Das kann doch nicht die Perspektive in un- weiter erfolgreich sein im Wettbewerb um die besten
serem Wissenschaftssystem sein. Köpfe.
8552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Krista Sager
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeugt, sondern gleich noch die medienkompatible Schlag- (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der zeile dazu liefern: „Fehlende Aktivitäten der Bundes-
LINKEN) regierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissen-
schaftlichen Nachwuchses“.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir brauchen jetzt ganz drin-
gend einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs, ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nen Pakt für die Zukunftsperspektiven der hauptberufli-
Man könnte vermuten, dass diese Formulierung auf die
chen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir
Lektüre eines Buches des Psychologen Michael Thiel
brauchen Änderungen im Wissenschaftszeitvertragsge- zurückgeht, in dem er die Strategie „Mit Jammern zum
setz. Es hat nicht die gewünschten Ziele erreicht. Es ist ge- Erfolg“ ausbreitet.
scheitert; das muss man heute anerkennen. Wir brauchen
wissenschaftsgerechte Bedingungen. Wenn wir das nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schaffen, wird uns der demografische Wandel böse einho-
Mit der Realität hat das Beschwören von Zukunftsängs-
len. Die jungen Leute sind heute viel internationaler
ten allerdings nichts zu tun.
orientiert, als es noch vor 20 Jahren der Fall war. So wer-
den wir die besten Köpfe weder für die Wissenschaft ge- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
winnen noch sie hier halten können. Ach! Tun Sie doch nicht so, als wenn Sie das
bei der GAIN-Conference nicht mitgekriegt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben!)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) Eine Art Zukunftsoptimismus breitet sich aus, „No
future“ war gestern – so bilanzierte der Zukunftsforscher
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Horst Opaschowski vor wenigen Tagen. Das Sinus-Insti-
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Feist von der tut kommt in einer Studie zu dem Ergebnis: Zukunfts-
ängste sind zwar vorhanden, beziehen sich jedoch meist
CDU/CSU-Fraktion.
auf die Tatsache, dass noch kein konkretes Berufsziel
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorliegt. Die hohe Anziehungskraft, die von dem Berufs-
neten der FDP) ziel Wissenschaftler ausgeht, ist ungebrochen; das stel-
len wir fest. Allerdings gibt es strukturelle und weitge-
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): hend bekannte Probleme
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ah!)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Der sagt uns – das kommt noch hinzu –, die insbesondere die Karriere-
(B) jetzt, dass alles in Ordnung ist!) planbarkeit, die berufliche Sicherheit und die Gerechtig- (D)
keit von Personalentscheidungen sowie die Möglichkei-
– Ich habe doch noch gar nichts gesagt, Herr Schulz. Sie
ten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf betreffen.
müssen sich doch noch nicht aufregen.
(Florian Pronold [SPD]: Mensch! Er spricht ja
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Na ja! Man jetzt fast zur Sache!)
kennt sich!)
Allerdings ist auch das Problem der Verengung der
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die Jobperspektive allein auf den Hochschulraum bekannt.
SPD als Partei der konsequenten Enthaltung kennenler- Genau das haben wir festgestellt, verehrte Kollegin
nen dürfen, und zwar immer dann, wenn es um die Zu- Sager, als wir bei der GAIN-Conference in Boston wa-
kunftsfragen unseres Landes geht. Eine Partei, die zu- ren. Wir müssen die Studenten natürlich auch dafür sen-
dem das Abrücken von ihren eigenen Programmpunkten sibilisieren, dass sie sich für Jobs in der Wirtschaft oder
– das Zeitvertragsgesetz gehört dazu – zur alleinigen in der Verwaltung interessieren; genau das brauchen wir.
Strategie erklärt, muss sich nicht wundern, wenn sie in
der öffentlichen Diskussion keine Rolle mehr spielt. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist nicht das Problem! Das Problem ist:
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ach! Das ist Sie gehen in die Wirtschaft, weil sie in der
doch einfach Unfug! – Dr. Ernst Dieter Wissenschaft keine Chance mehr sehen!)
Rossmann [SPD]: Hören Sie doch mit diesem
Popanz auf!) Eine Verengung auf die Hochschulperspektive wird die-
ses Problem nicht lösen.
Die Umfragewerte sprechen hier eine deutliche Sprache.
Jetzt noch ein paar Fakten. An den deutschen Hoch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schulen ist die Zahl der hauptberuflichen wissenschaftli-
Man könnte sich nun fragen, welch eine Verzweiflung chen Stellen in den letzten zehn Jahren um 26 Prozent
bei den Chefideologen dieser Partei herrschen muss, gestiegen. Ist das Versagen? Die Zahl der Professoren-
stellen stieg im gleichen Zeitraum um 6 Prozent. Ist das
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nichts?
Ach! Zum Thema! – Dr. Petra Sitte [DIE
LINKE]: Hallo?) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das gilt nur für Fachhochschulen! An den an-
wenn sie versuchen, nicht nur ein Thema für sich zu be- deren Hochschulen sind die Zahlen herunter-
setzen, welches eine erschreckende Realitätsferne be- gegangen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8553
Dr. Thomas Feist
(A) Die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter stieg um Wir haben uns dort mit den Zukunftsängsten der Nach- (C)
knapp 50 Prozent. Das sind doch Ergebnisse, die sich se- wuchswissenschaftler, insbesondere der Postdocs, be-
hen lassen können. schäftigt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Spannend!)
Allein für Sachsen bedeutet dies einen Anstieg um Auf die Frage, welche Zukunftsängste es gibt, wurde ge-
27 Prozent. Ich kann Ihnen sagen: Das sind für die antwortet: Es ist zu unsicher, dass befristete Professoren-
Hochschulen in Sachsen die richtigen Impulse. Das sind stellen verlängert werden. An genau dieser Stelle haben
genau die Impulse, die die Bundesregierung gesetzt hat. wir nachgefragt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine be-
Trotz der Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung – fristete Professorenstelle verlängert wird, liegt bei „nur“
auch das gehört zur Wahrheit – ist das Volumen des Bil- 80 Prozent. Wenn wir auf diesem hohen Niveau weiter-
dungshaushalts in dieser Legislaturperiode so groß wie jammern wollen, bitte schön, dann können wir das gerne
nie. Das BAföG wurde erhöht, ebenso der Elternfreibe- tun.
trag. Die Altersgrenze für den BAföG-Bezug wurde
deutlich heraufgesetzt. Mit der Einrichtung des Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
landstipendiums kämpfen wir für die Etablierung einer Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
neuen Anerkennungs- und Förderkultur für den wissen- Warum gehen sie denn dann ins Ausland,
schaftlichen Nachwuchs. wenn sie davon nichts haben?)

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Abschließend: Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie können zur nicht zu Unrecht gesagt: Das 20. Jahrhundert war das
Sache nichts sagen! Deshalb reden Sie ständig Jahrhundert der Sozialdemokratie. Willkommen im
drum herum und spielen irgendwelche alten Jahr 2010!
Platten ab!) Einen schönen Tag noch.
Nicht nur wir, sondern auch die Studierenden und die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nachwuchswissenschaftler sehen deutlich: Von Tatenlo-
sigkeit der Bundesregierung kann hier keine Rede sein.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das bestreiten wir. Auch die Zahlen und Fakten spre-
chen dagegen. Zukunftsangst ist vor allem eines: in der Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
Sache unbegründet. die SPD-Fraktion.

(Florian Pronold [SPD]: Das klingt aber nicht (Beifall bei der SPD)
(B) überzeugend, so wie Sie das sagen!) (D)
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Eine aktuelle Studie stellt fest: 86 Prozent der Studen- Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen!
ten gehen davon aus, im Anschluss an das Studium zü- Über die Performance der schwarz-gelben Regierung
gig eine Anstellung zu finden, die ihren Erwartungen bisher kann man ja wirklich trefflich streiten. Ich halte
und Qualifikationen entspricht. sie für denkbar schlecht. Nur in einem Punkt würde ich
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwarz-Gelb halbwegs gute Noten ausstellen, und
Zum Thema!) zwar, wenn es darum geht, Sachen schön zu reden und
Wohltaten anzukündigen.
Ich wiederhole: 86 Prozent. Das durchschnittliche Ein-
stiegswunschgehalt stieg von 37 000 Euro im Jahr auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen
38 000 Euro im Jahr. Das alles sind doch deutliche Si- bei der CDU/CSU – Zurufe von der FDP: Oh,
gnale, die Sie nicht negieren können. oh!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Glaubt man Ihrer Rhetorik und der Rhetorik der Bun-
Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: desregierung, dann sind die Arbeitssituation und die Zu-
Zum Thema!) kunftsaussichten junger Wissenschaftler in unserem
Land wirklich ganz ausgezeichnet.
Diese Studie kommt zu dem Schluss: Von Zukunfts-
angst kann, jedenfalls in dieser Studentengeneration, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Thomas
trotz der weltweiten Krise keine Rede sein. Feist [CDU/CSU]: So ist das!)
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wie sieht die Realität aus? Viele junge Forschende
Das ist gar nicht das Thema! – Kai Gehring sind in Teilzeit eingestellt und arbeiten trotzdem fast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema ver- Vollzeit. Der übergroße Teil ist befristet eingestellt, und
fehlt!) das ohne eine wirklich längerfristige Perspektive. Zu
viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen
Jetzt komme ich auf einen weiteren Aspekt zu spre-
an den Universitäten und Forschungseinrichtungen unse-
chen. Frau Kollegin Sager, auch Sie haben, wie gesagt,
res Landes nur eine begrenzte Perspektive. Laut der ak-
an der GAIN-Conference in Boston teilgenommen.
tuellen Studie sehen nur 20 Prozent der Befragten eine
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja! Das wis- Karriere, die sie planen können. Zum Teil werden selbst
sen wir ja jetzt! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Postdocs, also Menschen, die eine Promotion hinter sich
DIE GRÜNEN]: Sie hat aber etwas gelernt!) haben, noch Stipendien angeboten. Das ist wirklich eine
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Daniela Kolbe (Leipzig)


(A) ziemliche Frechheit. Wenn man dann weiß, dass das Besonders dramatisch wirkt sich die permanente Un- (C)
nicht nur an Universitäten passiert, sondern auch an vom sicherheit auf junge Frauen aus. Nicht nur, dass Frauen
Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungen, dann in wissenschaftlichen Führungspositionen noch immer
wird schlussendlich doch mindestens klar, dass es auch so dramatisch unterrepräsentiert sind, dass selbst dem li-
in der Verantwortung des Bundes liegt, da etwas zu tun. beralsten Verfechter der reinen Leistungsgesellschaft das
Grausen kommen muss –
Aber was tut Frau Schavan? Da ist nichts zu hören au-
ßer warmen Worten, und heute ist von ihr nicht mal was (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wer ist das?)
zu sehen. Sicherlich stimmt es, dass die Arbeitsverhält- an systematisch geringerer Leistung kann das ja wohl
nisse für den wissenschaftlichen Nachwuchs einige Spe- nicht liegen –, nein, auch die mangelnde Vereinbarkeit
zifika haben. Denn viele junge Wissenschaftler und Wis- von Familie und Beruf trifft in besonderem Maße
senschaftlerinnen schätzen es durchaus, dass sie eine Frauen. Seien wir ehrlich: Die derzeitigen Arbeitsbedin-
Zeitlang einfach nur forschen und sich beweisen können. gungen im akademischen Berufsumfeld lassen es kaum
Ihnen geht es oft gar nicht um den unbefristeten Arbeits- zu, dass junge Wissenschaftlerinnen Mütter werden.
vertrag mit einer 40-Stunden-Woche. Das zeigen auch
die Zahlen. Trotz dieser hochprekären Arbeitsbedingun- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist doch
gen und unsicheren Perspektiven sind die meisten Wis- nicht wahr! Das wissen Sie!)
senschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrem Job zu-
frieden. Sie schätzen eigenverantwortliches Forschen, Viele Frauen verschieben den Wunsch nach Kindern in
und sie sind hochgradig motiviert. Aber wissenschaftli- eine ferne Zukunft, doch der ideale Zeitpunkt für ein
cher Idealismus allein sichert auf Dauer kein Auskom- Kind kommt unter diesen Bedingungen selten oder nie.
men. Gerade junge Frauen – lesen Sie ruhig mal die Studie –
sorgen sich mehr um ihre berufliche Perspektive und se-
(Beifall bei der SPD) hen die größere Gefahr, abgehängt zu werden, wenn sie
Kinder bekommen.
Nur mit Kant, Planck, Einstein usw. wird weder die
Wohnung warm noch Hunger gestillt noch für die Rente Wir brauchen auch in den wissenschaftlichen Arbeits-
vorgesorgt. Vor allem bedrücken junge Wissenschaftler gruppen eine andere Kultur. Oft hängt es von der Stim-
in unserem Land die Unsicherheit und die fehlende Plan- mung und der Kultur in den Instituten ab, ob Kinder-
barkeit ihrer Karrieren. wünsche erfüllt werden. Dadurch wird die Bundes-
regierung aber nicht aus der Verantwortung entlassen.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Zurück zur
Planwirtschaft!) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das interessiert
(B) die Herren auf der Regierungsbank wenig!) (D)
Meine Damen und Herren, ein Blick auf die soziale
Gerade in der Postpromotionsphase, in der viele junge
Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses wirft die
Forscherinnen an vom Bund mitfinanzierten außeruni-
Frage auf: Können und wollen wir es uns wirklich leis-
versitären Forschungseinrichtungen arbeiten, müssen
ten, junge Akademikerinnen und Akademiker, die wir so
verlässliche Karriereperspektiven her: Arbeitsstellen in
dringend brauchen, so lange in Unsicherheit zu lassen?
der Wissenschaft, durch die ein Leben an einem Ort für
Wir sagen Nein. Weder wollen wir, dass junge Men-
eine längere Zeit ermöglicht wird. Wir sagen: Tenure-
schen in solcher Unsicherheit verharren, mit allen für sie
Track-Karrieren müssen auch in Deutschland häufiger
schmerzhaften persönlichen Konsequenzen wie Kinder-
werden.
losigkeit, dem Gedanken, auszuwandern, und schlicht
schlechter Lebensqualität, noch können wir es uns als (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski
wissensbasierte Gesellschaft leisten, diese jungen Wis- [CDU/CSU]: Das sagen wir auch!)
senschaftlerinnen und Wissenschaftler in solcher Unsi-
cherheit zu lassen. Die Probleme liegen auf dem Tisch, und sie sind er-
drückend. Wir reden in der Tat über eine Gruppe von Ar-
Wir Sozialdemokraten meinen, Beschäftigungsver- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die die Zukunft
hältnisse müssen auch für Forscher in der Promotions- unseres Landes mitbestimmen können. Nehmen Sie die
phase zur Norm werden. Allein durch Stipendien können Sorgen dieser jungen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
wir diese Gruppe auf Dauer nicht halten schaftler nicht nur in Sonntagsreden, wie heute hier im
Deutschen Bundestag, sondern endlich auch in der rea-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nehmen Sie doch len Politik ernst.
mal Geld in die Hand, Frau Kolbe!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
und nicht zufriedenstellen. Hier muss der Bund der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN] – Tankred Schipanski [CDU/
(Zurufe von der CDU/CSU: Alles muss der CSU]: Machen wir!)
Bund machen! Natürlich!)
als regelmäßiger Mittelgeber höhere Anforderungen an Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gute Arbeitsbedingungen stellen. Das Wort hat der Kollege Patrick Meinhardt für die
FDP-Fraktion.
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Haben die Län-
der auch eine Aufgabe?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8555

(A) Patrick Meinhardt (FDP): ist aber eine genauso klare Ansage, dass wir attraktive (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen Perspektiven auch im Bereich der Wirtschaft, im Mittel-
und Kollegen! Ich darf nochmals den Titel dieser Aktu- stand und bei den forschenden Unternehmen anbieten
ellen Stunde zitieren: „Fehlende Aktivitäten der Bundes- wollen. Im vergangenen Jahr haben wir sage und
regierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissen- schreibe 67 Milliarden Euro durch Unternehmen gene-
schaftlichen Nachwuchses“. riert, in denen Forschung und Entwicklung der zentrale
Punkt ihres unternehmerischen Schaffens gewesen ist.
(Beifall bei der SPD)
Es ist doch gut, wenn die jungen Menschen dort arbei-
Das ist ein beachtlicher Titel, so präzise auf den Punkt ten, eine Perspektive für sich entwickeln können und
gebracht und so knackig. Vielleicht könnte man in Rich- eine attraktive Zukunftsperspektive für sich sehen, und
tung SPD eher sagen: fehlende Fähigkeit der SPD hin- das muss man auch als klares Ziel einer vernünftigen
sichtlich der verständlichen Formulierung des Themas Wissenschaftspolitik deklarieren.
einer Aktuellen Stunde.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Schauen Sie sich an, was wir nicht nur durch die For-
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Unheimlich
schung, sondern auch durch die Lehre in den Bereich
witzig!)
Qualitätsoffensive investieren. Das ist ein ganz klares
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um was geht Zeichen. Mit den 2 Milliarden Euro aus dem Qualitäts-
es in der Debatte? Es geht um die grundlegende Frage: pakt Lehre leisten wir eine Investition in die Zukunft
Wie attraktiv ist Deutschland für junge Wissenschaftle- junger Menschen. Dadurch soll auch dazu beigetragen
rinnen und junge Wissenschaftler? Wenn wir in die Stu- werden, dass der Lehrstandort Hochschule für junge
die hineingucken, dann sehen wir eine zentrale Aussage Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler
dazu: Trotz aller Hürden ist der Beruf der Wissenschaft- attraktiver gestaltet wird. Das ist ein Ergebnis unserer
lerin und des Wissenschaftlers ein attraktives Ziel. christlich-liberalen Politik.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, der Beruf, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
aber nicht in Deutschland!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wissen-
Durch unendlich viele Aktivitäten im Rahmen des schaftsorganisationen konnten von 2006 bis 2010 eine
Pakts für Forschung und Innovation, des Hochschul- jährliche Steigerung von 3 Prozent verzeichnen, und ab
pakts, der Exzellenzinitiative, des Professorinnenpro- 2011 wird die Steigerung bei 5 Prozent jährlich liegen.
gramms und des Stipendiatenprogramms wird sehr deut- Dies unterstützt diese Koalition, um außeruniversitäre
lich, dass Deutschland im Moment sein Gesicht ändert. Forschungsstandorte zu stärken und um jungen Wissen-
(B) (D)
Deutschland wird als Wissenschaftsstandort von Jahr zu schaftlern Alternativen und attraktive Möglichkeiten zu
Jahr attraktiver. bieten.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss aber
Es ist aber richtig: Man muss sich anhören, was bei- auch ankommen in dem Bereich!)
spielsweise die jungen Studierenden und die Doktoran-
den auch in den Netzwerken wie GAIN, dem German Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brau-
Academic International Network, sagen. Dabei werden chen in diesem Land ein richtiges Grundgefühl, eine
natürlich auch Punkte angesprochen, denen wir uns un- richtige Grundstimmung, eine richtige Grundeinstellung.
ter allen Umständen mit einer gewissen Sorgsamkeit
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Und Sie sa-
widmen müssen, zum Beispiel wird dort gefordert, dass
gen uns, wie die Stimmung ist?)
es auch für Partnerinnen und Partner verstärkt Angebote
geben soll und dass es auch eine familienfreundliche In- Deswegen ist es immer wieder schön, wenn junge Wis-
frastruktur an unseren Hochschulen geben muss, um die senschaftlerinnen und Wissenschaftler von sich aus sa-
Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen. gen, dass sie in diesem Land eine Perspektive haben.
Diese Perspektive lassen wir uns von der Opposition
Gucken wir uns doch einmal die Realität an. Wir ha-
auch nicht kaputtreden.
ben Schritt für Schritt Veränderungen herbeigeführt. Die
TU und das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbio- Der nächste Schritt – diesen hat der Staatssekretär für
logie und Genetik in Dresden betreiben gemeinsam eine nächstes Jahr angekündigt –, den wir jetzt nach der De-
Kindertagesstätte. Genau das ist der Weg, den wir be- batte machen müssen, ist, dass wir aufzeigen, wie wir
schreiten müssen, um familienfreundliche Strukturen in dieses Land im Bereich der Wissenschaftsfreiheit voran-
den Forschungseinrichtungen und den Universitäten her- bringen. Dann haben wir die Chance, im kommenden
zustellen. Jahr eine Diskussionskultur über mehr Wissenschafts-
freiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu etablieren
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und auf diesem Wege die dynamische Forschungspolitik,
Es ist dringend notwendig, dass wir uns auch damit die ein Qualitätszeichen dieser Bundesregierung ist, fort-
auseinandersetzen, wo wir jungen Menschen, jungen zuschreiben.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Perspekti-
Vielen herzlichen Dank.
ven geben können. Natürlich ist der Hochschul- bzw.
Universitätsbereich dabei von zentraler Bedeutung. Es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
8556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie führen gerade eine kurzatmige Debatte über Zu- (C)
Der Kollege Klaus Barthel ist nun der nächste Redner wanderung und darüber, wie man Hochqualifizierte ins
für die SPD-Fraktion. Land holt. Herr Brüderle und Teile der Union würden
zum Beispiel gerne die Einkommensmindestgrenzen für
(Beifall bei der SPD) Fachkräfte absenken.

Klaus Barthel (SPD):


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie können
schon kommen! Jeder, der kommen will, kann
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- kommen!)
legen! Ich will zuerst versuchen, das Thema in den Ge-
samtzusammenhang zu stellen. Sie wollen Akademiker aus aller Welt anlocken, um
Druck auf die Arbeitsbedingungen für die Wissenschaft-
Wir haben heute Vormittag eine heftige Debatte über
lerinnen und Wissenschaftler auszuüben. Das ist reines
die Rente mit 67 geführt. Die Koalitionsredner haben
Lohndumping auch noch in diesem Bereich. Es ist alles
wieder einmal ihr Mantra von der Demografie herunter-
andere als eine Lösung des Problems, über das wir heute
geleiert. Aber ein Blick in die Demografiegeschichte
reden.
zeigt doch, dass wir den gravierendsten demografischen
Wandel, was das Verhältnis der erwerbstätigen Bevölke- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
rung zur Gesamtbevölkerung angeht, bereits hinter uns LINKEN)
haben. Obwohl sich dieser demografische Wandel bei
uns in den letzten 100 Jahren vollzog, haben wir hohe Noch gibt es keinen generellen Fachkräftemangel. Ich
Wachstumsraten erzielt und den Sozialstaat ausgebaut, will nicht in die Hysterie mit einstimmen, aber Sie sind
und zwar trotz der Kriege und Krisen. dabei, ihn zu produzieren. Deswegen müssen Sie endlich
die Studien- und Arbeitsbedingungen für den wissen-
Warum ging das überhaupt? Es ging, weil sich die schaftlichen Nachwuchs deutlich verbessern. Es kann
Produktivität der Arbeit schneller entwickelt hat als der doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet der öffentliche
demografische Wandel. Denn wenn es nur nach der De- Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb vom Idealismus
mografie ginge, müssten Bangladesch, Guatemala und der dort Tätigen lebt und ansonsten in diesem Bereich
der Kongo das beste Rentensystem haben. die Prekarität die Regel ist: von Befristung zu Befristung
Die Produktivität hängt von der Qualität der Arbeit ab bei Teilzeitbezahlung für Vollzeitarbeit frei nach dem
und diese Qualität wiederum von den Fertigkeiten und Motto „Nur die Not gebiert Großes“, wenngleich sie
Fähigkeiten der Erwerbstätigen. Dabei spielen die Berei- auch keine Kinder gebiert, weil die Zukunft unklar ist,
wie wir gehört haben.
(B) che Wissenschaft, Forschung und Entwicklung eine zen- (D)
trale Rolle, weil wir aus dem Wertprodukt dieser Arbeit Die Entwicklung zieht sich inzwischen bis in die Eh-
alles, also auch den Staat, die Sozialversicherung und die renamtlichkeit hinein. Mir ist heute der Mustervertrag
Wissenschaft, finanzieren. einer namhaften deutschen Hochschule vorgelegt wor-
Umgekehrt gilt: Fehlende Bildung, fehlende Qualifi- den. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass sich
kation, fehlende Wissenschaft und fehlende Forschung Lehrbeauftragte, die in einem öffentlich-rechtlichen
würden uns erhebliche Wohlstandsverluste bescheren. Rechtsverhältnis stehen, verpflichten, die einschlägigen
Die Prognos AG hat zum Beispiel errechnet, dass sich, Arbeitssicherheits- und Unfallverhütungsvorschriften
sofern wir nichts tun – und hier sind wir bei der Untätig- einzuhalten. Das Ganze nennt sich Lehrauftrag. Der
keit der Bundesregierung –, eine immer größere Arbeits- Kernsatz lautet:
kräftelücke insbesondere im Bereich der Fachkräfte und Eine Vergütung des Lehrauftrages erfolgt nicht.
Akademiker auftun wird.
Meine Damen und Herren, heben Sie die Tarifsperre
Man kann nicht allen Zahlenspielen, die es dazu gibt,
im Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf!
folgen, aber die Größenordnungen, die aufgezeigt wer-
den, müssen uns doch zu denken geben. Von heute bis (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das war Ihre
2030, so Prognos, baut sich unter Berücksichtigung der eigene Ministerin, die das eingeführt hat! Sie
Qualifikation ein Wachstumsverlust von mehr als 5 Bil- sind schon lange dabei! Das müssen Sie doch
lionen Euro auf. Damit fällt das Bruttoinlandsprodukt je wissen!)
Einwohner im Jahre 2030 um 4 000 Euro weniger aus,
wenn wir nichts tun. 2030 haben wir nur noch ein halb Auch wissenschaftliche Arbeit ist Arbeit, und Arbeit
so großes Wachstum, wenn wir nichts tun. Daher ist es muss der Tarifautonomie unterliegen. Ersetzen Sie pre-
notwendig, dass wir in den Bereichen Bildung und Wis- käre durch reguläre Arbeit! Schaffen Sie Dauerstellen
senschaft handeln. für Daueraufgaben! Sie wollen sicherlich nicht behaup-
ten, dass die wissenschaftliche Arbeit keine Dauerauf-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gut, dass ihr gabe ist.
mal zum Thema redet!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Man wird den Eindruck nicht los, dass die Bundesre-
gierung hier zwischen Ignoranz und Untätigkeit einerseits Wir werden den internationalen Wettbewerb um die
– das haben wir heute gerade wieder gehört – und einer besten Köpfe, wie es so schön heißt, nicht im Wettlauf
interessengeleiteten Hysterie andererseits schwankt. um die miserabelsten Arbeitsbedingungen gewinnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8557
Klaus Barthel
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schon heute haben die Wissenschaftseinrichtungen die (C)
der LINKEN und der Abg. Krista Sager Möglichkeit, Mitarbeiterstellen nicht zu teilen, Junior-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) professorenstellen einzurichten und Tenure-Track-Op-
tionen zuzulassen. Sie machen davon aber einfach nicht
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ausreichend Gebrauch.
Nächster Redner ist der Kollege Tankred Schipanski Der Bund stellt bereits umfassend Mittel zur Verfü-
für die CDU/CSU-Fraktion. gung, die allen voran dem wissenschaftlichen Nach-
wuchs zugutekommen. Wir haben von Graduiertenschu-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len im Rahmen der Exzellenzinitiative gehört.
neten der FDP) Außerdem geben wir Mittel im Rahmen des Hochschul-
pakts 2020. Ferner stellen wir Mittel bereit im Rahmen
Tankred Schipanski (CDU/CSU): des Pakts für Forschung und Innovation. Darüber hinaus
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und unterstützen wir Promotionsstipendien, Nachwuchs-
Herren! Die SPD veranstaltet heute eine erstaunlich gruppen und Netzwerke.
populistische Aktuelle Stunde. Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht verken-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen, dass die Grundfinanzierung einer Hochschule Län-
neten der FDP) dersache ist. Dreh- und Angelpunkt sind die Haushalts-
stellen, die eine Hochschule braucht. Dabei ist nicht der
Die Linke tanzt auf einem heißen Vulkan, und die SPD Bund, sondern dabei sind die Länder in der Pflicht.
springt auf die jüngst veröffentlichte HIS-Studie „Wis-
senschaftliche Karrieren“ auf. Die darin angesprochenen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Probleme sind allseits bekannt. Lösungsvorschläge wer- Das Handelsblatt titelte am 12. Oktober dieses Jah-
den diskutiert und Maßnahmen ergriffen. res:
Die Vertreter der christlich-liberalen Koalition sind Bund sichert Überleben der Hochschulen.
im regen Gedankenaustausch mit jungen Wissenschaft-
lern vor Ort in den Hochschulen, aber auch mit den Ver- Weiter heißt es dort:
tretern der Jungen Akademie. Wir haben ein Ohr für Stück für Stück steigt der Bund in die Grundfinan-
diese Probleme. Dazu braucht es keine Aktuelle Stunde. zierung der Hochschulen ein – und übernimmt da-
mit ureigene Aufgaben der Länder.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die FAZ berichtet am 25. November: Das Fundament
(B) Bereits in vorangegangenen hochschulpolitischen De- (D)
einer Grundfinanzierung der Hochschulen bröckelt. Den
batten haben wir uns klar dazu bekannt, eine kalkulier- Unis fehlt Planungssicherheit für ihre Entwicklungen
bare Laufbahnperspektive für junge Wissenschaftler und Profilbildungen. Länder verweigern sich, ihre Haus-
zum Beispiel nach dem Vorbild des Tenure Track weiter halte zugunsten von Bildungs- und Innovationsausgaben
auszubauen und den Ausbau unbefristeter Stellen im umzugewichten. Fakt ist, dass die Länder nicht mehr
akademischen Mittelbau voranzutreiben. Die Befristung agieren, sondern nur noch reagieren.
von Stellen im akademischen Mittelbau auf maximal
zwölf Jahre durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ist aber im Grundsatz sehr sinnvoll. Sie dient dem Wett-
Schlimmer noch: Sozialdemokratische Kultusminis-
bewerb. Sie gibt dem wissenschaftlichen Nachwuchs ei-
ter, wie beispielsweise der Kultusminister in Thüringen,
nen Orientierungsrahmen und den nötigen Schub, um
sparen im Hochschulbereich. Wir haben heute auf der
Dissertationen abzuschließen und Habilitationen anzu-
Besuchertribüne Gäste aus Thüringen.
gehen. Sie vermeidet, dass Menschen über Jahrzehnte
auf Qualifizierungsstellen sitzen, ohne nennenswerte (Zurufe von der SPD)
Forschungsergebnisse zu produzieren und ohne Anreize
In der Zeit hieß es am 11. November:
zu haben, im akademischen System weiter aufzusteigen.
Allen Versprechungen zum Trotz geben die Landes-
(Beifall bei der CDU/CSU) regierungen weniger Geld für Bildung aus.
Doch sehen wir durchaus auch einen Korrekturbedarf Im kleinen Bundesland Thüringen kürzt SPD-Bil-
mit Blick auf bessere Rahmenbedingungen für den wis- dungsminister Christoph Matschie für das Haushaltsjahr
senschaftlichen Nachwuchs. 2011 den Hochschulen 20 Millionen Euro. Er kündigt
(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einfach aus heiterem Himmel einen Pakt des Landes mit
Das ist ja ganz neu!) den Hochschulen. Der Kollege Neumann hat dies für
Brandenburg bereits dargestellt.
Die Kollegen der SPD sollten aber auf den Adressaten
ihrer Aktuellen Stunde achten. Gefordert ist nicht primär Im gleichen Atemzug erhält Thüringen durch den
der Bund; gefordert sind die Länder und die Hochschu- Hochschulpakt 2020
len. (Zurufe von der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – hören Sie doch erst einmal zu – vom Bund 16 Millio-
der FDP) nen Euro für das Jahr 2011 zusätzlich für seine Hoch-
8558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Tankred Schipanski
(A) schulen, also für Studienplätze und wissenschaftlichen senschaftlichen System muss es natürlich immer Innova- (C)
Nachwuchs. tionen, Erneuerungen und Wechsel geben. Daher sind
wir in der Zeit von Rot-Grün und in der Großen Koali-
Wissen Sie, was die Demonstranten in Thüringen sa-
tion bei einem Zeitvertragsgesetz und bei dem Modell
gen? Sie sagen: Uni-Tod in Raten: Danke, liebe Sozial-
„zweimal sechs Jahre“ angekommen. Wenn aber auf der
demokraten.
anderen Seite 75 Prozent des wissenschaftlichen Nach-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wuchses nur befristet beschäftigt sind, dann ist die Ba-
lance in die falsche Richtung gegangen,
Die SPD sollte sich lieber darum kümmern, nicht die
Grundfinanzierung der Hochschulen zu kürzen. Damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
wäre dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr geholfen DIE GRÜNEN)
als mit einer populistischen Aktuellen Stunde im Bun-
und wir müssen eine neue Balance finden.
destag.
Aus diesem Grund will ich noch einmal die fünf
Die christlich-liberale Koalition in Berlin schürt keine
Handlungsfelder beschreiben, die uns Sozialdemokraten
Zukunftsangst beim wissenschaftlichen Nachwuchs.
besonders wichtig sind.
Dies macht die SPD mit ihren Ministern wie Christoph
Matschie, der das Fundament der Grundfinanzierung der Zunächst einmal muss es doch eine institutionelle Si-
Hochschulen nachhaltig schädigt, und dies im Zeitalter cherheit für Hochschulen und Wissenschaftseinrichtun-
der Bildungsrepublik Deutschland. gen geben, damit sie ihre Hochschuletats, ihre For-
schungsetats und ihre Mitarbeiteretats nicht immer nur
Vielen Dank.
durch Projektförderung finanzieren können. Dabei ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) natürlich existenziell wichtig – das spreche ich ganz ru-
hig an –, dass es an erster Stelle eine auskömmliche Wis-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: senschaftsfinanzierung durch die Länder gibt. Aber ohne
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter eine auskömmliche Finanzierung der Länder gibt es
Rossmann für die SPD-Fraktion. keine auskömmliche und sichere Wissenschaftsfinanzie-
rung. Lassen Sie uns das gemeinsam festhalten, und
(Beifall bei der SPD) zwar sowohl für die CDU als auch die SPD in Thürin-
gen.
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bei-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fall bei Abgeordneten der LINKEN und des
(B) Das Beste bei solchen Debatten wäre, wenn wir uns alle BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
vornehmen, dass diese Reden, die wir hier wechselseitig
halten, an den Hochschulen im Bereich des wissen- Das Zweite ist, dass es eine neue Betrachtung von
schaftlichen Nachwuchses verteilt werden oder auch bei Hochschule geben muss. Frau Sager, vielleicht habe ich
der Landesregierung von CDU und SPD in Thüringen. die Tragweite Ihrer Ausführungen nicht ganz verstan-
den. Aber das Ziel jedenfalls, dass jede wissenschaftli-
(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wer ist che Laufbahn am Ende in eine wissenschaftliche
Kultusminister?) Spitzenposition, in eine Professur, zu münden hat, darf
Ich will damit nur sagen: Wir können uns das jetzt wech- nicht das ausschließliche Leitbild des wissenschaftlichen
selseitig in die Schuhe schieben. Ein Kollege hat Bran- Nachwuchses sein.
denburg angeführt. Wir könnten Bayern anführen. Sie,
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Schipanski, haben Thüringen angeführt. Wir könn-
ten fragen, wer in Thüringen regiert. Lassen wir das. Die Hochschulen sind breiter aufgestellt. Sie sind For-
schungseinrichtungen und kümmern sich auch um Wis-
Ich finde, wir hatten einen guten Einstieg in das
senschaftsvermittlung, Vermittlung von beruflichem Wis-
Thema durch die Rede des Kollegen Schulz. Herr Staats-
sen und Weiterbildung. Vor diesem Hintergrund bedarf es
sekretär Braun hat dann richtigerweise auf die Ambiva-
eines neuen Ethos und einer neuen Wahrnehmung dessen,
lenz in der HIS-Studie abgehoben. Dieser Studie ist bei
was früher akademischer Mittelbau genannt wurde.
den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaft-
lern viel Begeisterung für die Wissenschaft zu entneh- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
men, aber auch viel Sorge um die Bedingungen, unter Ja! Personalstruktur!)
denen man eine optimale Leistung der Wissenschaft
Die Personalstruktur der Hochschulen muss deshalb in
schaffen will und kann.
zweierlei Hinsicht weiterentwickelt werden: in Richtung
Diese Ambivalenz muss uns doch Ansporn sein. Es Forschung und in Richtung Lehre.
muss doch unser Ansporn sein, dass es nicht mehr eine
Wenn es hier zu einem neuen Aufbau kommt, dann
Ambivalenz bleibt, sondern zu ganz konkreter Unterstüt-
gibt es auch Sicherheit für den wissenschaftlichen Nach-
zung wird, aus der besseren Absicherung von wissen-
wuchs. Im Qualitätswettbewerb entscheidet sich dann,
schaftlicher Tätigkeit heraus dann mit aller Energie für
an welcher Stelle sich der wissenschaftliche Nachwuchs
die Wissenschaft arbeiten zu können.
im Wissenschaftssystem einbringen kann. Wenn wir die
Ich will in gleicher Weise für eine Balance werben. Lehre aufwerten, dann schaffen wir schließlich auch hier
Diese Balance ist etwas aus dem Ruder geraten. Im wis- zunehmend qualitativ hochwertige Stellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8559
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) Das Dritte ist: Wir müssen einerseits die Juniorprofes- diese Aktuelle Stunde und nicht das, was manche mein- (C)
sur über den Tenure Track ausbauen und andererseits die ten uns Sozialdemokraten als Polemik ins Stammbuch
Graduiertenkollegs noch mehr profilieren. Ich will den schreiben zu müssen. Die wissenschaftlichen Nach-
bedenkenswerten Punkt dessen, was Sie, Herr Feist, an- wuchskräfte sollten uns jede gemeinsame Anstrengung
gesprochen haben, aufgreifen. Es muss auch im Rahmen wert sein, auch den Ministerpräsidenten und der Bundes-
des Graduiertenkollegs und des Promotionsbereichs eine kanzlerin.
Vermittlung von beruflichen Kenntnissen geben, die auf
eine Tätigkeit außerhalb der Hochschule abzielen. Ich Danke schön.
bitte Sie, bei den Graduiertenkollegs nachzufragen, wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
es nicht nur um die Wissenschaftsorientierung, sondern der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
auch um die Berufsorientierung bestellt ist. Das könnte GRÜNEN)
zu einer neuen Qualität in Deutschland, dem Spitzenland
in Europa bei den Promotionen, führen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Der vierte Punkt bezieht sich auf die Familienförde- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
rung. Diese scheint uns Sozialdemokraten in der Debatte Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
unterbelichtet zu sein. Wenn 25 Prozent der männlichen
Nachwuchswissenschaftler, aber nur 12 Prozent der weibli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen Kinder haben, dann kann uns das nicht ruhen lassen.
Das ist nicht nur diskriminierend. Vielmehr verschenken Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):
wir hier auch Potenzial. Dass Nachwuchswissenschaftle- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
rinnen so wenige Kinder haben, ist Ausdruck einer Not- gen! In dieser Woche wurde die große HIS-Studie „Wis-
lage; denn sie haben den gleichen Wunsch nach Verein- senschaftliche Karrieren“ vorgelegt.
barkeit von Beruf und Familie, von Wissenschaft und
Familie. Dennoch haben sie deutlich geringere Chancen, (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Na ja!
Beruf und Familie zu vereinbaren. Schwache Studenten- Mittelgroße Studie!)
werke und schwache Beratungsstellen, wenn es um Kin- Für diese Studie wurden 2 300 Nachwuchswissenschaft-
dertagesstätten und Unterstützung geht, schwächen den ler befragt. Als ich die Auswertung der Antworten gele-
wissenschaftlichen Nachwuchs. Es ist eine gemeinsame sen habe, habe ich mich zuerst sehr gefreut. Denn entge-
Aufgabe, hier für Verbesserungen zu sorgen. gen der Meinung vieler, die den Wissenschaftsstandort
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland permanent schlechtreden, haben die Be-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der fragten mit überwältigender Mehrheit angegeben, dass
(B) (D)
LINKEN) sie mit den Bedingungen und den Inhalten ihrer Arbeit
sehr zufrieden oder zufrieden sind.
Der fünfte Punkt betrifft den Tarifbereich. Es sollte
einen Wissenschaftstarifvertrag in Ergänzung der gesetz- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Es geht um Per-
lichen Regelungen geben. Ich sage an Ihre Adresse, spektiven!)
meine Damen und Herren von der Koalition: Das Strei- Der Beruf des Wissenschaftlers stellt ein erstrebenswer-
ten für die Wissenschaftsfreiheit ist sicherlich richtig. tes Ziel dar. Die Studie zeichnet insgesamt ein sehr posi-
Aber Freiheit erzeugt auch Bedarf nach Sicherheit. Nur tives Bild vom Klima und von den Arbeitsbedingungen
wenn es Freiheit und Sicherheit gleichzeitig gibt, kom- an den Hochschulen und an unseren Forschungseinrich-
men wir voran. In dieser Hinsicht fand ich Ihre Ausfüh- tungen.
rungen, Herr Neumann, im Hinblick auf das nächste Jahr
verheißungsvoll. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE
Aber es geht nicht nur um das nächste Jahr. Ich GRÜNEN]: Von den Arbeitsbedingungen
möchte auch Rückschau auf das letzte Jahr halten. Im nicht!)
Dezember letzten Jahres haben wir mit großen Erwar-
tungen auf den Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin mit – Doch, Arbeitsbedingungen auch. – Darüber können
den Ministerpräsidenten geschaut. Auch dieses Jahr fin- wir uns auch, bevor wir gleich wieder ins Kritisieren fal-
det wieder eine Ministerpräsidentenkonferenz statt. Dort len, wahrlich freuen, und darauf können wir zumindest
soll ein Resümee in Bezug auf die Qualifizierungsinitia- für einen Moment stolz sein.
tive gezogen werden. Ich werbe und kämpfe bei Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Merkel und den Ministerpräsidenten dafür: Nehmen Sie neten der FDP – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]:
auch die Fragen betreffend den wissenschaftlichen Und jetzt zu den Perspektiven!)
Nachwuchs in Ihre Agenda auf, wenn Sie bei der nächs-
ten Ministerpräsidentenkonferenz überprüfen, was bei In der Studie werden auch Sorgen angesprochen. Die
der Qualifizierungsinitiative gut und was schlecht gelau- Sorgen der Nachwuchswissenschaftler, die zum Aus-
fen ist! Machen Sie das rechtzeitig! Verschenken Sie druck kommen, drehen sich vor allem um die Befristung
nicht wieder ein Jahr! Warten Sie nicht erst die Studie von Stellen und die dadurch entstehenden Unsicherhei-
ab, sondern sorgen Sie jetzt für entsprechende Weichen- ten für die Karriere und für die Familienplanung. Man
stellung! Tun Sie jetzt mehr für die Qualifizierung des muss ehrlicherweise sagen: Diese Unsicherheiten wer-
wissenschaftlichen Nachwuchses! Das ist der Anlass für den wir nie ganz aus dem System nehmen können. Es
8560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Reinhard Brandl


(A) kann in der Wissenschaft nicht jeder als Professor oder Verantwortung. Sie haben durch neue Hochschulgesetze (C)
als Dozent unbefristet beschäftigt werden. und durch die Wissenschaftsfreiheitsinitiative Spiel-
räume erhalten, die sie jetzt nutzen müssen, um eine
(Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir auch
transparente, streng leistungsorientierte und eine an den
nicht gefordert!)
Bedürfnissen der jungen Wissenschaftler ausgerichtete
Ich kann daher nur jedem Wissenschaftler empfehlen, Personalentwicklung zu betreiben. Nur gemeinsam kön-
immer auch eine berufliche Option außerhalb der Wis- nen wir besser werden im Sinne unserer jungen Wissen-
senschaft im Blick zu haben. Nichtsdestotrotz nehmen schaftler.
wir die Sorgen der jungen Wissenschaftler sehr ernst.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Frau Bundesministerin Schavan war die erste Ministerin,
die diese Situation systematisch erfasst und 2008 den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ersten „Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftli- neten der FDP)
chen Nachwuchses“ vorgelegt hat.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
folgte daraus?) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Parallel dazu wurde zum Beispiel die KISSWIN-Platt- den Zusatzpunkt 6 auf:
form freigeschaltet; der Staatssekretär hat es vorhin an- 7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
gesprochen. Auch die erwähnte HIS-Studie, die am SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Montag vorgelegt worden ist, wurde im Auftrag der
Bundesregierung erstellt. Diese Untersuchungen sind für Menschenrechtslage im Iran verbessern
alle Beteiligten eine wichtige Bestandsaufnahme und
– Drucksache 17/4011 –
bieten Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation.
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Ja,
hoffentlich!) Die Hinrichtung der Iranerin Sakineh
Mohammadi Ashtiani verhindern und welt-
Ich will einen herausgreifen, der mich persönlich
weit die Todesstrafe abschaffen
nachdenklich gestimmt hat. Laut HIS-Studie sind – da-
rüber ist heute noch nicht debattiert worden – nur etwa – Drucksache 17/3993 –
20 Prozent der Befragten der Meinung, dass Personal-
entscheidungen in der Wissenschaft im Allgemeinen fair ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
(B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
ablaufen. Wir setzen die jungen Wissenschaftler einem
harten Wettbewerb aus und erwarten von ihnen Topleis- Mehr Flüchtlinge aus dem Iran aufnehmen
tungen. Aber dann müssen wir auch darauf achten, dass
die Bedingungen und die Regeln in diesem Wettbewerb – Drucksache 17/3997 –
fair sind und die Regeln auch so wahrgenommen wer- Überweisungsvorschlag:
den. Das kann der Bund nicht von oben verordnen, son- Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
dern das ist ein Thema, das die ganze Community an- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
geht. Vorbild kann zum Beispiel das Auswahlverfahren Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
für das Emmy-Noether-Programm der DFG sein. Das
hat in der Wissenschaft einen hervorragenden Ruf. Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Drei-
viertelstunde zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie
Wenn es um die Schaffung attraktiver Rahmenbedin- einverstanden. Dann können wir so verfahren.
gungen für Nachwuchswissenschaftler geht, sind alle Be-
teiligten gefordert. Der Bund fördert die Wissenschaft in Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
großem Umfang. Alleine über die Exzellenzinitiative Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion das
– Herr Staatssekretär Braun hat es vorhin angesprochen – Wort.
sind in den letzten Jahren über 4 000 neue Stellen für Wis- (Beifall bei der FDP)
senschaftler geschaffen und an die 330 Professuren neu
eingerichtet worden.
Marina Schuster (FDP):
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Davon dis- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
tanzieren wir uns nicht!) Kollegen! Wir sprechen heute über die ernste Menschen-
rechtslage im Iran. Erst gestern wurde eine Frau ge-
Ähnlich erfolgreich sind die Initiativen Hochschul-
hängt; erst gestern wurde wieder die Todesstrafe voll-
pakt und Pakt für Forschung und Innovation.
streckt. Unabhängig davon, ob Frau Schahla Dschahed
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist alles unschuldig oder schuldig war – an ihrer Schuldigkeit
gut, aber Sie sehen nicht die Probleme!) gibt es nach Amnesty International sehr wohl Zweifel –,
glaube ich, wir alle hier im Hohen Haus können sagen:
Die Länder sind ebenfalls gefordert, ihren Beitrag zu
Wir sind gegen die Todesstrafe, und sie gehört weltweit
leisten. Wir haben das eben in der Debatte von den Kol-
abgeschafft.
legen Schipanski und Neumann gehört. Es stehen auch
die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen in der (Beifall im ganzen Hause)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8561
Marina Schuster
(A) Diese Hinrichtung ist leider kein Einzelfall. Nach fessoren, die nicht die staatliche Meinung vertreten, (C)
Schätzungen von Amnesty International sollen im letz- wurde die Lehrbefugnis entzogen. Die Bandbreite des
ten Jahr 388 Menschen hingerichtet worden sein. In die- Internets wird staatlich eingeschränkt, und Mobilfunk-
sem Jahr sollen bereits 146 Todesurteile vollstreckt wor- netze, die für die Zivilgesellschaft sehr wichtig sind,
den sein. Weitere Menschen sind von der Todesstrafe, werden regelmäßig blockiert. Das zeigt: Die grundlegen-
auch von der besonders grausamen Art der Hinrichtung, den Prinzipien der Presse- und Meinungsfreiheit werden
nämlich der Steinigung, bedroht. Darunter ist Frau nicht eingehalten. Deswegen ist es, auch für die irani-
Sakine Aschtiani. Redner aller Fraktionen haben in vor- schen Blogger und für die iranische Zivilgesellschaft, so
herigen Debatten zu Recht und unablässig gefordert, sie wichtig, dass diese Prinzipien endlich gewährleistet wer-
von der Steinigung zu verschonen. den.
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass sich die Bun- Die Diskriminierung von Oppositionellen, von
desregierung regelmäßig gegenüber Vertretern der Isla- Frauen, von Homosexuellen, von anderen Minderheiten,
mischen Republik Iran für die Abschaffung der Todes- vor allem religiösen Minderheiten wie den Bahai, ist im
strafe einsetzt. Daneben initiiert und unterstützt sie Iran leider an der Tagesordnung. Diese Diskriminierung
regelmäßig EU-Demarchen oder EU-Erklärungen, wie ist massiv. Die Maßnahmen während der Grünen Revo-
zum Beispiel im Juli 2010. Da drohte die Hinrichtung ei- lution haben gezeigt, wozu das Regime fähig und bereit
nes zur Tatzeit Minderjährigen. Oder: Im Mai 2010 wur- ist. Es ist daher auch an uns, für all diejenigen einzutre-
den ohne vorherige Ankündigung fünf Kurden hingerich- ten, die nicht mehr gehört werden können. Wir müssen
tet. Hier hat die Bundesregierung eine Protesterklärung weiter das Sprachrohr sein für die Frauen und Männer,
der Hohen Vertreterin der EU, Lady Catherine Ashton, die sich für die Menschenrechte und für ihre Mitmen-
initiiert. schen im Iran einsetzen.
Deswegen ist auch unser interfraktioneller Antrag Das Regime im Iran bewertet die Lage natürlich an-
richtig. Wir fordern darin die iranische Regierung auf, ders. Die Anwendung der Todesstrafe wird gerechtfer-
die Todesstrafe nicht mehr zu vollstrecken und endlich tigt mit der Bekämpfung von Umstürzlern oder von
dem 2. Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt Menschen, die als terroristische Gefahr gebrandmarkt
über bürgerliche und politische Rechte beizutreten. werden. Rechtsstandards werden mit dem Vorrang der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie islamischen Scharia begründet. Diese Entwicklungen
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- können wir nicht gutheißen.
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Erinnern wir uns: Eine Vielzahl von Menschenrech-
Die iranische Bevölkerung ist tagtäglich gravierenden ten ist bereits in der iranischen Verfassung niederge-
(B)
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Unter Mahmud schrieben. Das heißt, es ist auch an uns, die Islamische (D)
Ahmadinedschad hat sich die Lage verschlechtert. Neben Republik immer wieder an die eigenen Standards zu er-
fehlender Versammlungsfreiheit und eingeschränkter innern,
Meinungsfreiheit kommt es auch zu willkürlichen Ver- (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Sehr gut!)
haftungen. Seit Juni 2009 gab es rund 6 000 Verhaftungen
von Demonstranten, politisch Andersdenkenden oder damit diese endlich eingehalten werden.
Unterstützern von regimekritischen Kreisen. Anderen ge- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
lang glücklicherweise die Flucht. Deswegen hat die Bun- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
desregierung zu Recht entschieden, iranische Bürger auf-
zunehmen, die nach der sogenannten Grünen Revolution Das iranische Volk blickt auf eine erfolgreiche und
in die Türkei geflohen sind und ohne gesicherte Aufent- stolze Geschichte innerhalb der Völker dieser Welt zu-
haltsperspektive waren. 29 sind mittlerweile in Deutsch- rück. Es verdient eine Regierung, eine Justiz und Sicher-
land angekommen. heitsbehörden, die es beschützen und fördern, statt es zu
unterdrücken. Deswegen ist es wichtig, dass wir Parla-
Ich möchte an dieser Stelle dem Menschenrechtsbe- mentarier im Bundestag, aber auch die Bundesregierung
auftragten der Bundesregierung, Markus Löning, sehr mit unserer Arbeit weitermachen und den vorliegenden
herzlich danken. Er war gestern bei uns im Menschen- Antrag verabschieden. Wir senden damit ein Signal an
rechtsausschuss und hat über seinen Besuch in der Tür- das Regime, aber vor allem auch an die Zivilbevölke-
kei berichtet. Er hat auch darüber berichtet, dass er sich rung.
dort mit iranischen Flüchtlingen getroffen und mit den
Familien gesprochen hat. Das zeigt: Wir nehmen dieses Die Islamische Republik muss sich ihrer Verantwor-
Thema sehr ernst. tung bewusst werden und endlich ein klares und deutli-
ches Bekenntnis zu Freiheit, zu Rechtsstaatlichkeit und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gegen die Todesstrafe, gegen Folter, gegen Unterdrü-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ckung und gegen Diskriminierung ablegen – nicht durch
GRÜNEN) Worte, sondern durch Taten.
Es geht uns bei diesem Antrag aber nicht nur um die (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
Todesstrafe oder um die Flüchtlinge. Es geht uns darum, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dass wir uns für die allgemeine Verbesserung der Men-
schenrechtslage einsetzen, damit politische und bürgerli- Für die Islamische Republik steht viel auf dem Spiel.
che Freiheiten endlich gewährt werden. Universitätspro- Es geht nämlich um die Zukunft, um die Zukunft von
8562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Marina Schuster
(A) 74 Millionen Menschen. Deswegen ist es richtig und 22 Uhr eine Fernsehsendung mit dem Titel „Wo ist (C)
wichtig, dass wir mit unserem Engagement nicht nach- meine Stimme?“ ausstrahlt. Da werden Bilder von die-
lassen, dass wir aber auch nicht die Gesprächskanäle in sem Aufstand in Teheran gezeigt. Jeder möge sich selbst
den Iran verschließen. ein Bild davon machen.
Vielen Dank. Es kommt nach Geltung der Scharia in diesem Land
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD zu für uns unglaublichen Urteilen für zweifelhafte Ver-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie gehen wie zum Beispiel der Steinigung bei Abfall vom
des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) Glauben, Ehebruch oder Homosexualität. Dieben, die
Schokolade stehlen, wird öffentlich die Hand abgehackt –
grausige Vorgänge in diesem Land!
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für Auch das Thema Zeitehe – ich habe es im Zusam-
die SPD-Fraktion. menhang mit Frau Dschahed erwähnt – ist ein Thema,
mit dem man sich genauer auseinandersetzen sollte. Die
(Beifall bei der SPD) Ehe auf Zeit kann für Jahre, Tage, Stunden oder auch nur
für den Geschlechtsverkehr geschlossen werden. Zeit-
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): ehen werden übrigens auch mit zum Tode verurteilten
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frauen vor ihrer Hinrichtung eingegangen, um sie legiti-
Der Fall der Sakine Aschtiani beschäftigt uns und die miert vergewaltigen zu können. All dies sind furchtbare
Medien seit Monaten. Ihr Schicksal ist nach wie vor un- Vorgänge im Iran. Man muss sie deutlich ansprechen,
klar. Selbst wenn die entsetzliche Strafe der Steinigung damit man weiß, was in diesem Land passiert.
nicht vollstreckt wird, droht ihr nun der Tod durch Er-
hängen. Aber nicht nur diese Todesurteile – 2 000 Verurteilun-
gen allein im Jahre 2009 – müssen uns zu denken geben.
Ich selbst habe Ende September an einer Pressekonfe- Der Iran ist ein Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger
renz teilgenommen, um für die SPD-Fraktion gegen die- terrorisiert. Journalisten, Studenten, Lehrer, Menschen-
ses schreckliche Schicksal von Frau Aschtiani zu protes- rechtsverteidiger und Frauenrechtsaktivistinnen, die sich
tieren – immer in der Hoffnung, dass internationaler für eine Öffnung des Irans engagieren wollen, werden
Protest die Verurteilte und ihre Angehörigen schützen verfolgt, gegängelt, inhaftiert, ihre Familien werden be-
könnte. Ich danke ausdrücklich Frau Mina Ahadi, die droht, sie werden gefoltert, körperliche Züchtigungen
uns als Dissidentin und Gründungsmitglied des Komi- sind an der Tagesordnung, und die Todesstrafe droht ih-
tees gegen Steinigung auf dieses schreckliche Steini- nen.
(B) gungsurteil aufmerksam gemacht hat und damals auch (D)
den Telefonkontakt mit dem Sohn von Frau Aschtiani Akbar Gandschi hat das bei einem Zeitungskongress
hergestellt hat. in Hamburg, wo dem ebenfalls im Evin-Gefängnis in-
haftierten iranischen Journalisten Ahmad Zeid-Abadi die
Todesurteile gibt es im Iran zuhauf. Frau Kollegin „Goldene Feder der Freiheit“ verliehen wurde, sehr
Schuster hat gerade schon die Nachricht angesprochen, deutlich ausgesprochen. Er brachte sich damit wohl
dass die Iranerin Schahla Dschahed gestern im Tehera- selbst wieder in Gefahr. Er war schon einmal wegen ei-
ner Evin-Gefängnis wegen Mordes an einer Rivalin ner Äußerung, die er im sogenannten Westen gemacht
durch den Strang hingerichtet wurde. Diese Nachricht ist hat, sechs Jahre in ebendiesem Evin-Gefängnis. Man
nur wenige Stunden alt. Die Angehörigen des Opfers kann den Mut dieser Menschen nur bewundern, die da-
übernahmen laut Presseberichten bei der Hinrichtung mit deutlich an die Öffentlichkeit gehen.
eine aktive Rolle. Frau Dschahed war die Ehefrau auf
Zeit eines iranischen Fußballprofis. (Beifall im ganzen Hause)
Ob die Anklagen gegen Frau Aschtiani oder Frau Dass auch ausländische Journalisten von Verfolgung
Dschahed gerechtfertigt waren oder nicht, kann ich nicht nicht verschont werden, ist jedem von uns bekannt. Ich
beurteilen. Es gibt erhebliche Zweifel daran; das hat habe es sehr gut gefunden, dass sich eine Delegation des
eben auch die Kollegin Schuster schon angesprochen. Bundestages in Teheran für die Freilassung der Journa-
Wir wissen aber wohl, dass ihr Verfahren weder fair listen eingesetzt hat, und hoffe, dass der Antrag, den wir
noch rechtsstaatlich war. heute besprechen, auch dabei hilft, hier tätig zu werden
und die Regierung in Teheran entsprechend zu beeindru-
Gefangenen im Evin-Gefängnis droht generell die cken.
Folter. So hat Frau Dschahed nach fast einem Jahr Un-
tersuchungshaft ihr Geständnis vor Gericht widerrufen – Die Situation in Teheran, im Iran, ist auch sehr
unter Hinweis auf die Umstände, unter denen es zu- schwierig, was die Medien betrifft. Das Internet wird
stande gekommen ist. kontrolliert.
Wir müssen leider seit Jahren feststellen: Die Men- Ich möchte noch einen kurzen Satz zu dem Antrag sa-
schenrechtssituation im Iran ist katastrophal, in jeglicher gen, den wir vorliegen haben: Die Abscheu gegen dieje-
Hinsicht. Die zivile Opposition, die gegen das Regime nigen, die mit einem solchen Terrorregime Menschen
aufbegehrt, wird blutig niedergeschlagen, und ihre An- beherrschen, und der Kampf gegen die Todesstrafe eint
hänger werden politisch verfolgt. Ich darf darauf hinwei- uns alle. Deswegen haben wir das leider sehr kurzfristige
sen, dass der WDR am Montag, dem 6. Dezember, ab Angebot der Koalition angenommen, nach einigen nöti-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8563
Angelika Graf (Rosenheim)
(A) gen Ergänzungen diesen Antrag, über den wir heute re- für Ihr Begehren muss ich schon darauf hinweisen: Wir (C)
den, gemeinsam einzubringen – auch um dem Anliegen müssen bei solchen Fragen immer die Länder mit einbe-
der Frau Aschtiani mehr Gewicht zu geben. Wir hätten ziehen; es ist nicht so einfach, über ihre Köpfe hinweg
uns allerdings gefreut, wenn es möglich gewesen wäre, zu entscheiden.
die Anzahl der Flüchtlinge – das haben Sie angespro-
chen – von 50 auf eine größere Zahl zu erhöhen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir könnten auch so mehr auf-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen! – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]:
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ein Prüfauftrag!)
Wir wollten, dass es geprüft wird. Es war also kein ir- Ich möchte ein Beispiel dafür anführen, dass die Bun-
gendwie unsittliches Ansinnen, das wir da formuliert ha- desregierung und das Parlament in der Lage sind, zu
ben. Es handelte sich um einen Prüfauftrag an die Bun- handeln, wenn die Lage prekär wird, wenn die Men-
desregierung. Ich denke, die Bundesregierung und die schenrechte mit Füßen getreten werden und die Men-
sie tragenden Parteien hätten da über ihren Schatten schen in Not sind. Ich erinnere an eine Aktion auf euro-
springen sollen; denn 50 ist zu willkürlich, es ist zu we- päischer Ebene, die von Deutschland ausging: 10 000
nig, und es ist ein zu schwaches Signal. irakische Flüchtlinge sollten nach Europa gebracht wer-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. 2 501 Flüchtlinge sind in Deutschland angekom-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men; wir haben unsere Hausaufgaben erfüllt; wir sind
nach wie vor sehr eng bei den irakischen Flüchtlingen.
Wir sollten etwas nicht vergessen: Die Menschen, die Wir brauchen also keine Aufforderung von Ihnen. Wenn
wir aufnehmen, sind fähig, nach der Schreckenszeit des wir sehen, dass etwas nicht funktioniert, sind wir durch-
Herrn Ahmadinedschad den Iran wieder aufzubauen. aus in der Lage, zu handeln und den Menschen zu hel-
Auch das sollten wir bedenken, wenn wir über solche fen. In diesem Fall war Deutschland der Motor in Eu-
Dinge reden. Es hat auch etwas mit unserer eigenen Ge- ropa. Das zeigt, dass wir uns um die Menschen in Not
schichte zu tun. Wo wären wir heute, wenn wir nicht die kümmern. Das wollte ich zunächst einmal zu dem an-
Menschen gehabt hätten, die geholfen haben, unseren merken, was Sie gesagt haben.
Staat wieder aufzubauen?
Wir haben das Thema Iran bereits mehrfach hier im
Darum meine Bitte an Sie bei den weiteren Beratun- Hohen Haus – im Plenum, aber auch im Menschen-
gen: Gehen Sie in sich! Vielleicht ist es doch noch mög- rechtsausschuss – behandelt. Wir haben Betroffene, zum
lich, diesen Satz in den Antrag einzufügen. Beispiel die Bahai, gehört. Wir stehen aber auch in Kon-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ takt zu Exiliranern, die uns über die Situation in ihrer
(B) Heimat berichten. (D)
DIE GRÜNEN)
Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, dass Iran
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Mitunterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Men-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold für die schenrechte von 1948 ist. Am 8. Dezember findet in Er-
CDU/CSU-Fraktion. innerung an die Unterzeichnung der Internationale Tag
der Menschenrechte statt. Wir werden dann noch einmal
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die Situation im Iran thematisieren.
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Ute Granold (CDU/CSU): Pascal Kober [FDP])
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Iran ist aber auch Vertragsstaat des Internationalen
Frau Kollegin Graf, zunächst ein Wort an Sie. Wir sind Paktes über bürgerliche und politische Rechte und schon
heute in der Lage, über einen interfraktionellen Antrag von daher verpflichtet, die grundlegenden Menschen-
zu debattieren; das kommt in diesem Haus nicht sehr oft rechte zu gewähren.
vor.
Die Realität sieht aber leider anders aus. Beide Kolle-
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das liegt ginnen haben bereits davon berichtet; ich brauche das
aber nicht an uns!) nicht zu wiederholen. Fundamentale Menschenrechte
Es ist per se gut, dass wir uns alle bei diesem Thema sehr wie das Recht auf Leben, auf angemessene Behandlung
einig sind; das wurde auch in den Redebeiträgen deut- im Gefängnis und auf Rechtsstaatlichkeit – keine Inhaf-
lich. tierung aus Willkür, sondern nur nach Überprüfung
durch den Haftrichter –, aber auch die Meinungsfreiheit,
Zusätzlich liegt ein Antrag von SPD und Grünen zur die Pressefreiheit und viele andere Rechte werden im
Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus dem Iran vor. Wir Iran nicht gewährleistet. Menschen, deren Angehörige
haben uns auf die Aufnahme von 50 Flüchtlingen aus Repressalien und Folter erfahren oder zu Tode kommen,
dem Iran geeinigt. Unsere Regierung – unter anderem erfahren Druck und Zwang, wenn sie Kontakt mit der
der Außenminister und der Menschenrechtsbeauftragte – Presse aufnehmen, um Öffentlichkeit zu schaffen.
waren hier aktiv. Inzwischen sind 29 Flüchtlinge in
Deutschland angekommen; Kollegin Schuster hat es be- Auch ausländische Journalisten, die sich darum küm-
reits gesagt. Die anderen Fälle befinden sich derzeit in mern, sind der Schikane ausgesetzt. Aktuell sind zwei
der Prüfung. Frau Kollegin Graf, bei allem Verständnis deutsche Journalisten im Zusammenhang mit dem Fall,
8564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Ute Granold
(A) den die Kollegin gerade angesprochen hat, inhaftiert. aktivistin Frau Ahari, die seit Dezember 2009 im be- (C)
Hier ist das Auswärtige Amt dabei, zu helfen. Wir hof- rühmt-berüchtigten Evin-Gefängnis einsitzt. Auch ihr
fen, dass es im Fall Aschtiani vorangeht. Erst weg von droht der Tod.
der Steinigung, dann hin zum Erhängen, und jetzt even-
Die iranische Verfassung – das hatte ich im Rahmen
tuell eine Begnadigung.
einer Rede vor knapp einem Jahr hier schon im Detail
Eine Steinigung ist grausam: Die Männer werden bis beschrieben – ist auf den ersten Blick eine Verfassung,
zur Hüfte, die Frauen bis zur Brust eingegraben und mit der man leben kann. Sie enthält Menschenrechte und
dann gesteinigt. Teilweise ist es ein stundenlanger Grundfreiheiten – das ist dort gewährleistet –; aber alles
Kampf, bis man tot ist. Das ist ganz barbarisch. Im Ver- steht unter dem Vorbehalt der Scharia, und das ist das
gleich dazu erscheint der Tod durch Erhängen fast wie Problem. Die Scharia erlaubt körperliche Strafen wie
ein Gnadenakt; aber das ist auch nicht viel besser. Es Peitschenhiebe und Amputationen, die Todesstrafe und
handelt sich um ein Todesurteil aus Willkür. Geständ- Steinigungen – auch bei Minderjährigen. Die Frauen
nisse werden durch Folter erpresst. Man hört vom Men- – das möchte ich als Frau noch erwähnen; es sprechen
schenrechtsrat im Iran, dass im Fall Aschtiani eine Be- heute zum Thema ja einige Frauen – sind alles andere als
gnadigung anstehen könnte. Wir wissen nicht, ob das gleichberechtigt; das ist ganz schwierig. Frau Kollegin
stimmt; aber ich denke, dass der weltweite öffentliche Graf hat die Möglichkeit der Ehe als Nebenfrau auf Zeit,
Druck in diesem Fall etwas bewirken konnte und kann. auf Stunden, angesprochen. Das war auch bei der Frau
Wir sollten in diesem Fall dafür sorgen, dass der Druck der Fall, die gestern Morgen gehängt wurde.
so lange aufrechterhalten wird, bis auch der Sohn und
Die Situation der Bahai und anderer religiöser Min-
der Anwalt und auch die beiden deutschen Journalisten
derheiten ist ganz prekär. In diesem Zusammenhang
aus der Haft entlassen werden. Ich denke, da sind wir
habe ich gerade die Nachricht erhalten, dass einem irani-
uns sehr einig.
schen Pfarrer, 35 Jahre alt, wegen des Übertritts vom
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie muslimischen zum christlichen Glauben über seinen An-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- walt das Todesurteil zugestellt worden ist. Männer erhal-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) ten dafür die Todesstrafe, die Frauen eine lebenslange
Haft. In diesem Fall sind beide Eheleute konvertiert. Sie
Dieser Fall zeigt, dass wir durch öffentlichen Druck haben zwei Söhne im Alter von sechs und acht Jahren.
Einfluss auf die Geschehnisse im Iran nehmen können, Das ist eine schwierige Situation. Ich denke, wir sollten
wenn auch nicht massiv, aber doch langsam und stetig. uns gemeinsam auch dieses Falles annehmen und sehr
Dieser Druck muss international aufgebaut und dann dezidiert darauf achten, ob sich die Situation im Iran ver-
aufrechterhalten werden; wir haben mit vielen Reisen ändert.
(B) des Ausschusses dazu beigetragen. Frau Kollegin Graf, (D)
wir waren gerade in Kairo. Auch dort konnte man fest- Wir müssen aber auch schauen, dass wir für die Men-
stellen: Die Deutschen haben einen guten Ruf in der schen, die hier in Deutschland leben oder im Iran sind
Welt, gerade im Hinblick auf die Einforderung der Men- und die Situation aushalten wollen, die Situation verbes-
schenrechte. Ich erwähne in diesem Zusammenhang ge- sern. Ich habe in meinem Wahlkreis aktuell eine junge
rade auch Indien und viele andere Länder mehr. Wir Frau, eine Iranerin, die in Deutschland lebt und mit ei-
schauen danach. Wenn man insistiert, hat man auch Er- nem Iraner verheiratet ist. Sie hat sich nicht so verhalten,
folg. Wir wollen dieses Pfund, unseren guten Ruf als wie der Mann es wollte. Er hat gesagt: „Wir fahren zu ei-
Deutsche nutzen, um immer wieder darauf hinzuweisen, nem Besuch in die Heimat“ und hat sie dann dort ins Ge-
dass die fundamentalen Menschenrechte eingehalten fängnis geschafft mit dem Argument, sie habe Ehebruch
werden müssen. begangen und müsse gesteinigt werden. Es ist nur unter
schwierigsten Umständen möglich gewesen, die Frau
Wenn man sich die Bilanz des derzeitigen Präsidenten wieder aus dem Gefängnis zu holen.
ansieht, muss man sagen, dass sich die Menschenrechts-
situation dramatisch verschlechtert hat. Ich hatte die Si- Wir müssen die Situation derer, die geflohen sind,
tuation geschildert, die Grüne Revolution und all das, tragfähig machen, aber auch dafür sorgen, dass sich die
was den Menschen, die für ihre fundamentalen Rechte Situation im Land verändert. Das gilt auch für den Irak.
auf die Straße gehen, geschieht: Sie werden inhaftiert, Wir müssen zusehen, dass die Menschen in ihrer Heimat
gefoltert und kommen zu Tode. Davon sind auch Min- eine Perspektive haben. Nur dort, wo es überhaupt nicht
derjährige betroffen. Auch die traurigen Rekorde an Hin- möglich ist und der Tod vor der Tür steht, müssen wir
richtungen wurden genannt. In diesem Jahr wurden bis- auch hierfür aus Deutschland Hilfe leisten.
lang 2 000 Todesurteile verhängt; einige Hundert sind
Ich möchte zusammenfassen: Wir müssen in diesem
bis jetzt vollstreckt worden. Zu den Details der Hinrich-
Haus – auch durch die heutige Debatte – eine Öffentlich-
tungen habe ich mich bereits geäußert.
keit für dieses Thema schaffen. Wir müssen aber nach
Es gibt viele Straftatbestände, auch vermeintliche wie vor auch versuchen, mit der Regierung, den Opposi-
Straftatbestände, auf deren Grundlage jemand in Haft tionellen, Organisationen und Religionsvertretern vor
kommt und mit dem Tode bestraft werden kann. Es gibt Ort im Gespräch zu bleiben. Wir müssen auch auf der
zum Beispiel den Straftatbestand der Gottesfeindschaft. Grundlage der internationalen Verpflichtungen, die der
Das kann man sehr weit auslegen. Ein Beispiel dafür, Iran eingegangen ist, dafür sorgen, dass die fundamenta-
dass man auch dafür schwere Repressalien erfahren len Menschenrechte eingehalten werden. Wenn wir uns
kann, ist die 26-jährige Bloggerin und Menschenrechts- in diesem Haus beim Thema Iran so einig sind wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8565
Ute Granold
(A) heute, dann sollte das auch bei anderen Staaten der Welt gierung sowie alle anderen Regierungen auf, das von der (C)
gelten, in denen es ähnlich prekäre Situationen gibt. UNO-Generalversammlung beschlossene Hinrichtungs-
moratorium zu befolgen. Insbesondere betrifft dies ne-
Noch einmal zu der Prüfung der Annahme weiterer
ben dem Iran China, den Irak, Saudi-Arabien, den Jemen
Flüchtlingen: Da werden wir, wenn es so weit ist, wei-
und die USA. Diese Länder vollstrecken die meisten
tere Gespräche führen. Wir haben das Kontingent von 50
Hinrichtungen.
noch nicht ausgeschöpft. Wenn sich die Situation ver-
schärft und Bedarf besteht, dann können wir sicherlich Wir unterstützen auch eine Resolution, die demnächst
auch mit den Vertretern der Länder darüber reden, ob in die UNO-Generalversammlung eingebracht wird.
und wie wir hier eine weitere Hilfestellung geben kön- Alle Staaten, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft
nen, so wie wir es auch beim Irak gemacht haben. Ich haben, werden aufgefordert, dem UNO-Generalsekretär
denke, dann werden wir, die Bundesregierung, der Au- und der Öffentlichkeit sämtliche Informationen über To-
ßenminister und auch der Menschenrechtsbeauftragte desstrafe und Arten der Hinrichtung zur Verfügung zu
das Ohr am Volk, nah bei den Menschen haben und hel- stellen, um so die staatliche Geheimhaltung zu überwin-
fen. Ich denke, darin sind wir uns einig, und das sollten den.
wir weiter so machen.
Ich setze mich ganz bewusst für Frau Aschtiani, ihr
Vielen Dank. Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und ihr Recht auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Leben ein.
bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
Vizepräsidentin Petra Pau: Ruprecht Polenz [CDU/CSU])
Das Wort hat die Kollegin Groth für die Fraktion Die Ich halte es im Kampf für die Abschaffung der Todes-
Linke. strafe für enorm wichtig, immer wieder auf Einzel-
(Beifall bei der LINKEN) schicksale von Menschen, die weltweit durch die eigene
Regierung vom Tode bedroht sind, aufmerksam zu ma-
Annette Groth (DIE LINKE): chen. Darum beteilige ich mich seit Jahren an der inter-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nationalen Kampagne für Mumia Abu-Jamal, der in den
Kollegen! Ich möchte einmal kurz auf die Entstehung USA von der Todesstrafe bedroht ist.
des Antrags der Regierungskoalition, von SPD und Grü- (Marina Schuster [FDP]: Der musste ja noch
nen eingehen. Es waren die Grünen, die die Regierungs- kommen!)
(B) fraktionen gebeten hatten, einen interfraktionellen An- (D)
trag gegen die Hinrichtung der Iranerin Sakine Aschtiani Bei unserem Einsatz für die Menschenrechte und ge-
zu unterstützen. Die Koalition lehnte dies aus innenpoli- gen die Todesstrafe dürfen andere politische Interessen
tischem Kalkül ab. So sind die Grünen und die SPD auf gegenüber den betreffenden Staaten keine Rolle spielen.
uns, die Linke, mit der Bitte zugekommen, gemeinsam (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
einen Oppositionsantrag zu formulieren. Das ist der jetzt Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])
vorliegende Antrag der Linken. Nachdem wir drei Frak-
tionen einen gemeinsamen Antrag erarbeitet hatten, sind Die Fraktion Die Linke wird sich nicht an Ihrer Debatte
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungs- über die Achse des Bösen beteiligen. Die Todesstrafe im
fraktionen, zu SPD und Grünen gegangen und haben Iran ist genauso barbarisch wie die Todesstrafe in China
plötzlich für einen gemeinsamen Antrag geworben. Dem oder den USA.
haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD (Beifall bei der LINKEN)
und Grünen, zugestimmt. Sie wollen es sich nicht mit
der CDU verderben, stehen nächstes Jahr doch etliche Wenn ich mir Ihren gemeinsamen Antrag ansehe, bin
Wahlen an, bei denen es interessante Koalitionsmöglich- ich mir nicht ganz sicher, worum es Ihnen eigentlich
keiten gibt. geht.
(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: So ein (Marina Schuster [FDP]: Das steht doch da
Unsinn!) drüber!)
Dieses Spiel machen wir nicht mit. Wollen Sie sich für Frau Aschtianis Recht auf Leben ein-
setzen, oder benutzen Sie sie, um einmal richtig gegen
(Beifall bei der LINKEN)
den Hort des Bösen, den menschenfeindlichen Islam,
Wir haben uns entschieden, den gemeinsam mit SPD vom Leder ziehen zu können? Wir lehnen es ab, unseren
und Grünen ausgearbeiteten Antrag als eigenständigen Appell gegen die Todesstrafe für außenpolitische und
Antrag zur Abstimmung zu stellen, da er schlicht und geostrategische Machtinteressen instrumentalisieren zu
einfach besser ist. Also gibt es keine Zustimmung zu Ih- lassen. Für die Fraktion Die Linke ist immer wichtig,
rem Antrag. dass Menschenrechtsverletzungen, die von unseren Ver-
bündeten begangen werden, nicht einfach unter den
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Tisch gekehrt werden, während sie, wenn sie von unlieb-
Wir setzen uns gegen die Vollstreckung des Todesur- samen Regimen begangen werden, offensiv aufgegriffen
teils an Frau Aschtiani ein und fordern die iranische Re- werden. Eine solche Menschenrechtspolitik ist unehrlich
8566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Annette Groth
(A) und schadet unserem Bemühen, die Achtung der Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
schenrechte weltweit durchzusetzen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Ich bin nicht bereit, wegen der Probleme, die Sie mit
der Linken haben, das gemeinsame Signal gegenüber ei-
Die Menschenrechtsverletzungen im Iran sind
nem menschenrechtsverletzenden Regime zu schmälern.
schwerwiegend; das wissen wir alle. Aber schauen Sie
Deshalb haben wir uns auf diesen Antrag eingelassen.
auch einmal in die ägyptischen Folterkammern oder
Der Antrag zur Menschenrechtssituation im Iran ist um-
nach Saudi-Arabien. Warum schreien Sie nicht auf,
fassend. Er beinhaltet nicht nur das Problem der Steini-
wenn unzählige Kinder und Frauen bei dem israelischen
gung, sondern auch Themen, die Oppositionelle und reli-
Krieg gegen den Gazastreifen ums Leben kommen? Wo
giöse Minderheiten sowie Homosexuelle und Frauen
ist Ihre Stimme, wenn Kinder in israelischen Gefängnis-
regelmäßig betreffen.
sen gefoltert oder bei friedlichen Demonstrationen er-
schossen werden? Die Kollegin Schuster hat vorhin angesprochen, dass
Wir stellen uns gegen jeden Versuch, die iranische wir den Iran auffordern, das Zusatzprotokoll zur völligen
Oppositionsbewegung als Vorwand für eine Neuordnung Abschaffung der Todesstrafe zu unterzeichnen. Im Fall
der Ölregion im Interesse der westlichen Industriena- Aschtiani und auch in anderen Fällen reicht es aber, ihn
tionen zu missbrauchen. Sanktionen, die die Bevölke- an seine Verpflichtung zu erinnern, die er zur Einschrän-
rung treffen – Sanktionen treffen immer die Bevölke- kung der Todesstrafe im Internationalen Pakt über bür-
rung –, lehnt die Linke ab. Sanktionsdrohungen tragen gerliche und politische Rechte eingegangen ist. Danach
zur Verschärfung von Konflikten bei. Wem es wirklich darf die Todesstrafe nur bei schwersten Verbrechen, bei
um Demokratisierung und Menschenrechte im Iran geht, einer klaren Beweislage und in einer nicht brutalen Form
der muss alles tun, um die internationale Lage des Iran verhängt werden. All diese Punkte verletzt der Iran. Des-
zu entspannen. Wir alle kennen die Kriegsdrohungen ge- halb müssen wir den Iran aufgrund seiner selbstständig
gen den Iran. eingegangenen völkerrechtlichen und menschenrechtli-
chen Verpflichtungen daran erinnern, dass das so nicht
Sie sollten sich für eine Politik starkmachen, die den geht und dass die Staatengemeinschaft das nicht hin-
Iran einbindet und statt Konfrontation und Isolation eine nimmt.
Politik des wirklichen Dialogs wählt. Solange deutsche
Iranpolitik im Kern auf Sanktionen und Androhung mili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
tärischer Intervention beschränkt bleibt, ist eine wir- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
kungsvolle Menschenrechtspolitik unmöglich.
(B) Ehebruch, Abfall vom Glauben oder Homosexualität (D)
Danke. sind häufig Gründe für Todesurteile im Iran. Keiner die-
ser Gründe ist ein schwerstes Verbrechen. Das kann man
(Beifall bei der LINKEN) schon dem entnehmen, dass es über die Strafbarkeit die-
ser Tatbestände in der Staatengemeinschaft überhaupt
Vizepräsidentin Petra Pau: keinen Konsens gibt. Dann können es keine schwersten
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol- Verbrechen sein.
lege Volker Beck das Wort.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen Wie die Urteile zustande kommen, kann man auch an
gemeinsamen Antrag mit der Koalition eingebracht, weil dem Fall von Ibrahim Hamidi nachvollziehen, einem 18-Jäh-
es uns darum geht, das gemeinsame Signal dieses Hau- rigen, der von der Hinrichtung durch Erhängen am Kran
ses an den Iran zu senden: bedroht ist, weil er mit drei anderen jemanden homo-
sexuell vergewaltigt haben soll. Der Tatvorwurf der ho-
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das stimmt mosexuellen Vergewaltigung ist der häufigste Vorwurf,
überhaupt nicht!) der gemacht wird, um Homosexuelle zu verfolgen. Die
Geständnisse der Zeugen sind in der Regel erpresst oder
Stoppen Sie die Steinigung von Aschtiani! Führen Sie
gehen, wie in diesem Fall, auf Familienstreitigkeiten zu-
sie einem fairen Gerichtsverfahren zu! Lassen Sie sie so-
rück. Später ziehen die Zeugen ihre Aussagen zurück,
fort frei, wenn die Schuld nicht erwiesen ist!
aber das Todesurteil bleibt in Kraft. Während seiner Ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei nehmung war Ibrahim Hamidi an den Beinen aufgehängt
der CDU/CSU, der SPD und der FDP) und geschlagen worden. Bei einer weiteren Vernehmung
ging ein Glastisch zu Bruch. Auf diese Art bekommt der
Darum geht es in dieser Debatte, nicht um die Kinde- Iran in seinen Moralverfahren die Beweise. Das ist ver-
reien zwischen CDU/CSU-Fraktion und Linksfraktion. brecherisch. Ein solches Vorgehen müssen wir verurtei-
Ich finde, unser Signal wäre stärker – das will ich deut- len.
lich sagen –, wenn alle fünf Fraktionen auf dem Antrag
stünden. Themen, bei denen wir uns einig sind, Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
schenrechtsverletzungen in anderen Ländern zu kritisie- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so-
ren, sollten wir hier im Hohen Haus gemeinsam tragen. wie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8567
Volker Beck (Köln)
(A) Wenn wir das glaubwürdig tun, können wir aber nicht (Ute Granold [CDU/CSU]: Oh, schade!) (C)
sagen, dass wir nur 50 Flüchtlinge – Oppositionelle, An-
hänger religiöser Minderheiten und Homosexuelle aus Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dem Iran – aus der Türkei aufnehmen.
Ich hätte die Frage gerne beantwortet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es gibt dazu einen umfangreichen Antrag unserer Frak-
tion, über den wir gestern im Ausschuss gesprochen ha- Vizepräsidentin Petra Pau:
ben. Die Türkei akzeptiert gegenwärtig nicht die Regeln
der Genfer Flüchtlingskonvention für nichteuropäische Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Flüchtlinge. Oppositionelle, die aus dem Iran fliehen, Polenz.
werden regelmäßig eingesperrt, so übrigens der Anwalt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von Frau Aschtiani. Ich habe mich persönlich dafür ein-
gesetzt, dass sich das Auswärtige Amt für seine Freilas-
sung einsetzt. Mohammed Mostafai wurde von den türki- Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
schen Behörden zunächst festgenommen und konnte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
später nach Norwegen ausreisen. Wir sehen: Homosexu- legen! Der Iran ist eine alte und große Kulturnation. Die
elle, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger ha- Iraner sind zu Recht stolz darauf. Schon im 13. Jahrhun-
ben in der Türkei aufgrund deren Außenpolitik gegenüber dert hat der berühmte persische Dichter Saadi in seinem
dem Iran oftmals weitere Verfolgung und Diskriminie- poetischen Meisterwerk Golestan – auf Deutsch Rosen-
rung zu ertragen. Deshalb müssen wir Menschen aus der garten – die Solidarität der Menschen über alle Grenzen
Türkei aufnehmen, die es geschafft haben, den Iran zu hinweg beschworen. Ich möchte gerne einen Vers aus
verlassen, aber in der Türkei nicht in einem sicheren Ha- dem Rosengarten zitieren:
fen sind.
Als Adams Nachfahr’n sind wir eines Stammes
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Glieder.
sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Mensch schlägt in der Schöpfung als Juwel
sich nieder.
Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Prüfauftrag oder Falls Macht des Schicksals ein Organ zum Leiden
unserem umfassenden Antrag zur Aufnahme von Flücht- führt,
lingen zu. Es ist nicht so – damit möchte sich die Koali- Sind alle Andern von dem Leid nicht unberührt.
(B) tionsmehrheit in diesen Debatten immer herausreden –, Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst, (D)
dass es dafür nach unserem Ausländerrecht der Zustim- Verdienst du nicht, dass Du Dich einen Menschen
mung der Länder bedarf und deswegen so kompliziert nennst.
ist. Ich lese Ihnen, mit Erlaubnis der Präsidentin, zum
Schluss meiner Rede § 22 des Aufenthaltsgesetzes vor: Wie weit hat sich die heutige iranische Regierung von
dieser Humanität, von diesem Respekt vor der Würde ei-
Einem Ausländer kann für die Aufnahme aus dem nes jeden einzelnen Menschen entfernt?
Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden hu-
manitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis er- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
teilt werden. Eine Aufenthaltserlaubnis ist zu ertei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
len, wenn das Bundesministerium des Innern oder
die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politi- Die Vertreter der iranischen Regierung werden nicht
scher Interessen der Bundesrepublik Deutschland müde, immer wieder einzufordern, mit Respekt, mit
die Aufnahme erklärt hat. Würde und auf gleicher Augenhöhe behandelt zu werden.
Die gleiche Regierung verhält sich dem eigenen Volk ge-
Welches politische Interesse könnte höher stehen als die genüber nicht so. Jeder, der nicht ihrer Meinung ist, wird
Wahrung der Menschenrechte und die Unterstützung bedroht; er läuft Gefahr, unterdrückt und misshandelt zu
von Menschenrechtsverteidigern, die sich in Gefahr für werden, wenn die Kleidungsvorschriften nicht exakt ein-
Leib, Leben und Freiheit für Demokratie und Rechts- gehalten werden oder wenn eine Party mit westlicher Mu-
staatlichkeit einsetzen! sik gefeiert wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Vizepräsidentin Petra Pau:
KEN) Kollege Polenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Die Frau Präsidentin darf gerne die Zwischenfrage
der Kollegin Granold zulassen.
Ruprecht Polenz (CDU/CSU):
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ja.
Kollege Beck, das hätten Sie mit der Kollegin vorher
klären müssen. Sie haben, wie Sie wissen, Ihre Redezeit Vizepräsidentin Petra Pau:
bereits überschritten. Bitte.
8568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Stefan Liebich (DIE LINKE): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C)
Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, wir arbeiten im und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auswärtigen Ausschuss sehr gut zusammen, und ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Iran hat den
schätze Ihre faire Verhandlungsführung. Mich würde in- UN-Zivilpakt unterschrieben. Wie kommt es dann zu
teressieren, wieso es Ihre Fraktion eigentlich ablehnt, diesen schweren Menschenrechtsverletzungen? Der Phi-
dass wir in dieser Frage, in der wir uns über die Frak- losophieprofessor Reinhard Brandt aus Marburg hat ge-
tionsgrenzen hinweg einig sind, einen gemeinsamen An- rade an einer UNESCO-Konferenz in Teheran zum
trag einbringen. Thema „Philosophie: Theorie und Praxis“ teilgenommen
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie und einen Erfahrungsbericht darüber veröffentlicht. Er
des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE zitiert einen iranischen Teilnehmer, Mohammad Hossein
GRÜNEN]) Talebi, der auf diesem Kongress Folgendes gesagt hat:
Das Menschenrecht richte sich nach dem islami-
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): schen Recht, das den Menschen zum Tier erklärt,
wenn er von Gott abfällt. … Von einem Menschen-
Ich stelle mir diese Frage gerade bei Themen, die die
recht auf der Grundlage eines unverlierbaren Perso-
Menschenrechte betreffen, immer wieder. Aber ich muss
nenstatus jedes Menschen, selbst des Verbrechers
Ihnen ganz ehrlich sagen: Der Beitrag Ihrer Kollegin, die
(so Immanuel Kant), könne keine Rede sein.
vorhin gesprochen hat, hat mich darin bestärkt, dass es
diesmal richtig war. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer einen Men-
schen zum Tier erklärt, hat ein bestialisches Verständnis
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Menschenwürde und Menschenrechten.
Ich fordere die iranische Regierung auf, ihre eigenen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
Bürgerinnen und Bürger mit Respekt zu behandeln. Ich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
fordere sie auf, Respekt vor der politischen Entschei- bei Abgeordneten der LINKEN)
dung des iranischen Volkes zu haben, wenn es an die
Wahlurnen gerufen wird. Ich fordere die iranische Re- Das steht im Gegensatz zu den internationalen Verpflich-
gierung auf, Respekt vor der politischen Meinung der tungen des Iran und zur UN-Charta, übrigens auch im
Iranerinnen und Iraner zu haben, sie sie frei äußern zu Gegensatz zur Auffassung vieler hervorragender islami-
lassen, friedliche Demonstrationen zuzulassen und Me- scher Theologen – auch aus dem Iran. Es steht außerdem
dien- und Pressefreiheit zu gewährleisten. im Gegensatz zu den Worten des großen iranischen Poe-
ten Saadi:
(B) Wir müssen auch Respekt vor der Würde des Men- (D)
Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst,
schen einfordern: im Strafvollzug, im Gerichtsverfahren Verdienst Du nicht, dass Du Dich einen Menschen
mit anwaltlicher Vertretung und fairen rechtsstaatlichen nennst.
Regeln. Weil wir die weltweite Abschaffung der Todes-
strafe aber nicht in einem Anlauf erreichen werden, müs- Aus Sorge um Frau Aschtiani, die beiden deutschen
sen wir, wie ich finde, mit allem Nachdruck fordern, Journalisten, die Bahai, die verfolgten Studenten und
dass die Steinigung, die die barbarischste Form der To- Professoren und aus Sorge um die ins Gefängnis gewor-
desstrafe ist, sofort abgeschafft wird. fenen Blogger und Journalisten führen wir im Deutschen
Bundestag heute diese Debatte.
(Beifall im ganzen Hause)
Wir führen sie aus Sorge um die Humanität im Iran,
Man kann sich zur Begründung dieser barbarischen die immer mehr von dieser Regierung und ihren Helfe-
Strafe auch nicht auf den Koran berufen. Ajatollah rinnen und Helfern mit Füßen getreten wird.
Ghaemmaghami, ein oberster schiitischer Rechtsgelehr-
ter, der in Teheran Theologie studiert hat und das Islami- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
sche Zentrum Hamburg leitete, an dem früher auch der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
ehemalige iranische Präsident Chatami tätig war, hat ge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rade erst in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung geschrieben: „Im Koran finden wir keine Bestä- Vizepräsidentin Petra Pau:
tigung dieser Strafmethode“. Außerdem stellte er fest, Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Arnold
„dass die Steinigung aus koranischer Sicht nicht akzepta- Vaatz das Wort.
bel sein kann“. So äußerte sich ein oberster schiitischer
Rechtsgelehrter.
Arnold Vaatz (CDU/CSU):
Ich fordere auch in dieser Debatte dazu auf, die deut- Der Kollege Polenz hat soeben zu dem Thema Stel-
schen Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch, die lung genommen, ob es nicht zusammen mit der Linken
schlimmen Haftbedingungen ausgesetzt sind, zügig vor gemeinsame Anträge zum Thema Menschenrechte ge-
Gericht zu stellen, wenn sie gegen iranische Vorschriften ben sollte. Ich möchte der Antwort des Kollegen Polenz
verstoßen haben sollten, und ihnen ein faires Verfahren etwas hinzufügen: Ich halte es für richtig, dass unsere
zu gewährleisten, damit sie nach Deutschland zurück- Anträge so stark wie möglich sind und eine so breite Un-
kehren und das Weihnachtsfest mit ihren Familien feiern terstützung wie möglich erfahren, wenn sie dem Thema
können. Menschenrechte gelten, weil es um die Betroffenen geht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8569
Arnold Vaatz
(A) und nicht um uns. Aber das setzt voraus, dass man sicher Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
ist, dass alle Unterstützenden unter dem Wort „Men- Zu einer weiteren und damit letzten Kurzintervention
schenrechte“ in etwa dasselbe verstehen. in dieser Phase der Debatte hat der Kollege Volker Beck
(Zurufe von der LINKEN: Oijoijoi!) das Wort.
Das große Problem, das ich mit den Kolleginnen und
Kollegen von der Linken habe, ist, dass mir in meinem Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wahlkreis sehr viele Vertreter der Linken-Basis begeg- Ich möchte auch auf diesen Punkt in der Rede von
nen, die in der DDR behauptet haben, dass dieser Staat Herrn Polenz zurückkommen. Ich meine, dass wir uns
die Menschenrechte optimal verwirkliche. Genau das keinen Gefallen tun, wenn wir bei Menschenrechtsfra-
zeigt, dass es hier eine dramatische Differenz im Ver- gen nicht gemeinsam agieren.
ständnis dieses Begriffs gibt. Ich möchte ein gemeinsa-
mes Votum dieses Hauses nicht dadurch schwächen, Wir müssen akzeptieren, dass jeder der Abgeordneten
dass ich mich dem Verdacht aussetze, unter Menschen- der Linksfraktion das gleiche Mandat hat wie wir; er
rechten etwas Ähnliches zu verstehen, was die aus der wurde von Wählerinnen und Wählern dieses Landes ge-
DDR kommende Parteibasis der Linken ihr Leben lang wählt und ist deshalb legitimiert, mit uns gemeinsam
darunter verstanden hat und noch heute darunter ver- Politik zu machen. Niemand will doch behaupten, dass
steht. diese Linksfraktion anstrebt, die DDR wieder zu errich-
ten und damit eine Diktatur. Das ist doch wirklich al-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
bern. Aber bei ganz konkreten Menschenrechtsanträgen
Zurufe von der LINKEN)
gibt es Differenzen mit der Linken, weil sie bei be-
stimmten Ländern nicht so genau hinschaut, zum Bei-
Vizepräsidentin Petra Pau: spiel wenn es um China oder Kuba geht. Wir hatten da in
Der Kollege Liebich hat das Wort. der letzten Wahlperiode eine scharfe Auseinanderset-
zung in der Frage, ob man nur auf Guantánamo schaut
Stefan Liebich (DIE LINKE): oder auch um Guantánamo herum die Maßstäbe der in-
Herr Kollege Vaatz, zunächst einmal möchte ich Ih- ternationalen Menschenrechtsverträge anlegt.
nen sagen, dass Ihre Aussage schon in der Sache über-
haupt nicht zutrifft. Sie machen sich gar nicht die Mühe, Diese Auseinandersetzung ersparen Sie den Linken
sich mit uns auseinanderzusetzen und mit uns eine Dis- damit, dass Sie sie hier zu Schmuddelkindern erklären.
kussion darüber zu führen, was wir in Fragen der Men- Ich will die politische Auseinandersetzung mit ihnen
(B) schenrechte hier vertreten wollen, sondern Sie sagen von führen und auch hart darüber streiten. Wir hatten auch (D)
vornherein – nicht nur unserer Fraktion, sondern allen schon Diskussionen mit Vertretern der Unionsfraktion
anderen Fraktionen im Haus –, dass Sie, egal, was wir darüber, dass man das bei bestimmten befreundeten Län-
finden, immer gemeinsame Anträge mit uns ablehnen dern nicht ganz so streng sieht und dass man bei ihnen
werden. Machen Sie sich insofern hier nicht die Mühe, einen Weichzeichner benutzt.
sich irgendwelche Ausreden einfallen zu lassen!
Wir sind der Meinung: Die Richtlinien in der Men-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schenrechtsdebatte und der Menschenrechtspolitik müs-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- sen die internationalen Verträge und die Allgemeine Er-
ten der SPD) klärung der Menschenrechte sein. Wer das unterstützt,
Zum Zweiten. Wenn es in unseren Reihen jemanden ist uns willkommen, auch wenn er eine schwierige Ge-
gäbe, der die Universalität der Menschenrechte infrage schichte hat.
stellte, dann wäre er nicht lange Mitglied unserer Frak-
Ich meine, auch in den Fraktionen auf der bürgerli-
tion. Dass es in Parteien Menschen gibt, die da durchaus
chen Seite des Hauses gibt es schwierige Vergangenhei-
abweichende Meinungen haben, möchte ich gerne an Sie
ten von einzelnen Mitgliedern dieser Partei. Das hat uns
zurückgeben; denn das gibt es durchaus auch in Basis-
organisationen der CDU. Ich habe hin und wieder auch nie davon abgehalten, Richtiges zu unterstützen. Des-
mit der CDU meine Diskussionen. halb werden wir zu den richtigen Forderungen der
Linkspartei und der Koalition immer Ja und zu falschen
Wir sind die gewählten Mitglieder des Deutschen Forderungen und falschen Sichtweisen genauso deutlich
Bundestages. Wir versuchen gemeinsam ein starkes Si- Nein sagen.
gnal in Richtung Iran zu senden; aber Ihre Fraktion
macht aus rein parteipolitischem Kalkül jedes Mal das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gleiche Spiel. Da müssen Sie nicht im Nachhinein nach sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
irgendwelchen Ausreden suchen. Es wäre wirklich KEN)
schön, wenn Sie den besonderen Worten Ihres Vorred-
ners, Herrn Polenz, ein wenig Aufmerksamkeit schenk-
Vizepräsidentin Petra Pau:
ten und zumindest darüber einmal nachdächten.
Das Wort hat der Kollege Strässer für die SPD-Frak-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- tion.
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD) (Beifall bei der SPD)
8570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Christoph Strässer (SPD): gerne hören –, zu welchem Punkt unseres Antrags Sie (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein sagen wollen. Man kann hier natürlich die großen
Bis vor kurzem habe ich gedacht, dass wir hier über ein imperialistischen Verschwörungen bemühen – das ist in
Thema sprechen, bei dem nichts weniger am Platz ist als Ordnung –, aber ich sage: Wir als Bundesrepublik
parteipolitisches Gezänk. Deutschland haben hier eine Verantwortung.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ich habe gelesen – das ist wohl auch so – dass der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Atomdialog“ mit dem Iran in diesen Tagen wieder auf-
genommen wird. Ich darf hier einfach einmal an die in-
Weil das jetzt vielleicht ein bisschen subjektiv rüber- ternen Schicksale dort erinnern. Mir wird schlecht – ich
kommt, will ich das auch noch einmal in aller Deutlich- glaube, das gilt für viele von uns –, wenn ich alleine die
keit sagen: Möglichkeit in Betracht ziehe, dass dieses Regime im
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Die decken al- Iran über Atomraketen, über Massenvernichtungswaf-
les zu, wie der Schnee draußen!) fen, verfügt.
Ich als Mitglied dieses Deutschen Bundestages unter- (Annette Groth [DIE LINKE]: Ja!)
stelle bei einer solchen Forderung keinem Kollegen, aus Deshalb finde ich die Verhandlungen darüber, sie davon
welcher Fraktion auch immer, unlautere Motive; das tue abzubringen, auch vernünftig und sinnvoll.
ich nicht. Alle Kolleginnen und Kollegen, die hier sit-
zen, sind gewählt und haben, wenn sie gegen die Todes- Ich möchte aber an die Bundesregierung appellieren:
strafe eintreten, das Recht, dass ihnen das abgenommen Eines darf bei diesen Verhandlungen und bei dem diplo-
wird. Ich nehme ihnen das ab und sage nicht: Die haben matischen Geplänkel nicht passieren, nämlich dass wir
eine Vergangenheit, mit der sie sich auseinanderzusetzen dabei die Menschen im Iran vergessen. Ich glaube, das
haben, und deshalb dürfen sie nicht die Abschaffung der ist die Kernbotschaft, mit der wir umgehen müssen: Die
Todesstrafe im Iran fordern. Massenvernichtungswaffen, die der Iran möglicherweise
anstrebt, sind das eine, aber die Instrumente dafür – ich
(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir sage das jetzt einmal etwas zynisch –, sein eigenes Volk
doch gar nicht gesagt!) nach innen zu unterdrücken und zu drangsalieren, hat er
Ich glaube, wenn die Menschen, die wir damit anspre- schon. Deshalb sage ich einmal ganz deutlich und offen:
chen wollen, diesen Teil der Debatte hören, dann werden Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung in den Ge-
sie sich von dem Schauspiel, das hier in diesem Hohen sprächen genau auch dieses Thema der Menschenrechte
Hause gerade abgelaufen ist, beschämt abwenden. im Iran anspricht. Denn ansonsten verlieren wir – jeden-
falls nach meiner Überzeugung – jede Glaubwürdigkeit,
(B) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (D)
über diese Fragen global zu reden.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
Ich sage das auch vor dem Hintergrund ganz deutlich,
dass man sich – ich verlasse jetzt einfach einmal mein Einige Punkte sind schon angesprochen worden. Ich
Manuskript – natürlich mit bestimmten Fragen auseinan- will zwei, drei Punkte, die mir im Katalog über die mo-
dersetzen kann und muss; das ist doch überhaupt nicht mentane Lage im Iran besonders aufgefallen sind, an-
das Problem. Man muss aber zumindest ein Angebot sprechen.
machen, und dann kann man sehen, wo die Leute eigent- Mir liegt – schließlich werden wir in absehbarer Zeit
lich stehen und was da eigentlich los ist. auch über das Thema Religionsfreiheit sprechen – das
Ich sage das für mich persönlich ganz klar – wir ha- Schicksal der Bahai besonders am Herzen. Ich sage das,
ben das auch in unserer Fraktion so besprochen –: Die weil die Bahai nach meiner Einschätzung – ich bin nicht
Forderung nach einer Nichtvollstreckung der Todes- religiös oder konfessionell gebunden – eine der Religio-
strafe für Frau Aschtiani ist bei uns ebenso Konsens wie nen sind, die weltweit zwar in sehr kleinem Umfang
die Forderung, die Todesstrafe weltweit abzuschaffen. agieren, aber seit Anfang an Friedfertigkeit gegenüber
Deshalb werden wir dem Antrag, den wir selber mit for- jedermann, gegenüber anderen Religionen und gegen-
muliert haben, am Schluss dieser Debatte auch zustim- über anderen Konfessionen, predigen. Insofern ist es be-
men. Das ist für mich überhaupt keine Frage. sonders pervers, dass sieben führende Mitglieder der Ba-
hai seit mehr als zwei Jahren im Iran ohne Gerichtsurteil
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem inhaftiert sind. Ich zitiere aus einer Stelle, die mir beson-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ders aufgefallen ist, dass die Anklage gegen diese Men-
Darüber kann man sich natürlich auseinandersetzen, schen zu Beginn dieses Jahres um einen Vorwurf erwei-
aber ich hätte mir gewünscht, dass das in dieser Plenar- tert wurde, der in der deutschen Übersetzung noch
sitzung heute nicht erforderlich gewesen wäre. schlimmer klingt, als er es vielleicht ist; ich weiß es
nicht. Dieser Vorwurf lautet „Verdorbenheit auf Erden“.
Frau Kollegin Groth, ich verstehe Sie nicht. Sie haben Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
keinen einzigen Ton dazu gesagt, was an dem Antrag, gen, da sitzen Menschen im Knast, die einer Religions-
den wir hier eingebracht haben, falsch ist. Sie haben ge- gemeinschaft angehören, die den Frieden predigt. Genau
sagt: Unser Antrag ist besser. – Damit kann man natür- diesen Menschen wird „Verdorbenheit auf Erden“ vorge-
lich leben und sich einen schlanken Fuß machen. Ich bin worfen, und auf diesen Tatbestand steht im Iran die To-
aber wirklich einmal gespannt – das würde ich von Ihnen desstrafe. Das ist für mich eine der vielen Perversionen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8571
Christoph Strässer
(A) dieses Regimes, und diese Perversion müssen wir in die- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 r auf: (C)
sem Hohen Hause einheitlich aufzeigen. Deshalb
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
möchte ich noch einmal an die Linksfraktion gerichtet Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
werben – dabei ist es mir egal, ob es den Kollegen von Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU gefällt –: Stimmen auch Sie diesem Antrag zu! DIE LINKE
Denn nur damit gewinnen Sie die Glaubwürdigkeit, die
Sie in Anspruch nehmen und mit der wir uns auseinan- Gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte im
dersetzen müssen. Gesundheits- und Sozialwesen der DDR
– Drucksache 17/3871 –
In diesem Sinne würde ich mir wünschen, Frau Kolle-
Überweisungsvorschlag:
gin Granold – vielleicht noch als Ergebnis zum 8. De- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
zember, dem Tag der Menschenrechte; das wäre ein Innenausschuss
klasse Signal –, dass die Bundesregierung verkünden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
würde: Wir öffnen uns. Wir nehmen von den 4 000 In- Ausschuss für Gesundheit
haftierten in der Türkei ein paar mehr als diese 50 auf, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
deren Aufnahme wir schon zugesichert haben. – Das Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
wäre für diese Menschen – obwohl sie keine Christen Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
sind – ein schöner Auftakt für die Weihnachtszeit. – DIE LINKE
Danke schön.
Gerechte Lösung für rentenrechtliche Situa-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tion von in der DDR Geschiedenen
DIE GRÜNEN) – Drucksache 17/3872 –
Überweisungsvorschlag:
Vizepräsidentin Petra Pau: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Ich schließe die Aussprache. – Mir liegt von den Kol- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
legen Koenigs, Nouripour, Malczak und Beck (Köln)
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
vor.1) Eine weitere Erklärung nach § 31 unserer Ge-
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
schäftsordnung liegt mir von zahlreichen Abgeordneten
DIE LINKE
der Fraktion Die Linke vor.2) Entsprechend unseren Re-
gularien nehmen wir diese zu Protokoll. Gerechte Versorgungslösung für Ballettmit-
(B) glieder in der DDR (D)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die – Drucksache 17/3873 –
Grünen auf Drucksache 17/4011 mit dem Titel „Men- Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
schenrechtslage im Iran verbessern“. Wer stimmt für die- Innenausschuss
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der Ausschuss für Kultur und Medien
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bünd- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
nis 90/Die Grünen gegen vier Stimmen aus der Fraktion Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Die Linke bei Enthaltung der übrigen Fraktion Die Linke Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
angenommen. DIE LINKE
Tagesordnungspunkt 7 b. Abstimmung über den An- Regelung der Ansprüche der Bergleute der
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3993 Braunkohleveredlung
mit dem Titel „Die Hinrichtung der Iranerin Sakineh
Mohammadi Ashtiani verhindern und weltweit die To- – Drucksache 17/3874 –
desstrafe abschaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag Innenausschuss
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Grünen abgelehnt.
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf DIE LINKE
Drucksache 17/3997 an die in der Tagesordnung aufge- Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der Pflege von Angehörigen in der DDR
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen. – Drucksache 17/3875 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
1) Anlage 3 Innenausschuss
2) Anlage 4 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
8572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten – Drucksache 17/3880 – (C)
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Überweisungsvorschlag:
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
DIE LINKE Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rentenrechtliche Lösung für Land- und Forst-
wirte, Handwerkerinnen und Handwerker, k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
andere Selbständige sowie deren mithelfende Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Familienangehörige aus der DDR
DIE LINKE
– Drucksache 17/3876 –
Vertrauensschutz für Versorgungsberechtigte
Überweisungsvorschlag: der DDR mit einem Ruhestandsbeginn bis
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss zum 30. Juni 1995 schaffen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/3881 –
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag:
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
DIE LINKE
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Rentenrechtliche Anerkennung von zweiten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
und vereinbart verlängerten Bildungswegen Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
sowie Forschungsstudien und Aspiranturen in DIE LINKE
der DDR
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften
– Drucksache 17/3877 – auf Alterssicherung für Angehörige der Deut-
Überweisungsvorschlag: schen Reichsbahn der DDR
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss – Drucksache 17/3882 –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Überweisungsvorschlag:
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(B) DIE LINKE (D)
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Rentenrechtliche Anerkennung von DDR-Re- Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
gelungen für ins Ausland mitgereiste Ehepart- Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
nerinnen und Ehepartner sowie von im Aus- DIE LINKE
land erworbenen Ansprüchen
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften
– Drucksache 17/3878 – auf Alterssicherung für Angehörige der Deut-
Überweisungsvorschlag: schen Post der DDR
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss – Drucksache 17/3883 –
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Innenausschuss
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE n) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Rentenrechtliche Anerkennung aller freiwilli- Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
gen Beiträge aus DDR-Zeiten DIE LINKE
– Drucksache 17/3879 – Angemessene Altersversorgung für Professo-
Überweisungsvorschlag: rinnen und Professoren neuen Rechts, Ärztin-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) nen und Ärzte im öffentlichen Dienst und wei-
Innenausschuss tere Beschäftigte universitärer und anderer
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wissenschaftlicher Einrichtungen in Ost-
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten deutschland
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar – Drucksache 17/3884 –
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Überweisungsvorschlag:
DIE LINKE Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Befristetes System „sui generis“ für die Besei- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
tigung des Versorgungsunrechts bei den Zu- Ausschuss für Bildung, Forschung und
satz- und Sonderversorgungen der DDR Technikfolgenabschätzung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8573
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): (C)
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen! Seit fast 20 Jahren haben wir es bei der Rentenüber-
DIE LINKE leitung mit Überführungslücken, Versorgungsunrecht
und auch Rentenstrafrecht zu tun. Trotz vieler Ankündi-
Angemessene Altersversorgung für Beschäf-
gungen der Kanzlerin und im Koalitionsvertrag von
tigte des öffentlichen Dienstes der DDR, die
Schwarz-Gelb ist bisher nichts geschehen.
nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
Die Betroffenen waren voller Hoffnungen. Auch wir
– Drucksache 17/3885 –
als Linke sind erst einmal zurückhaltend geblieben. Im
Überweisungsvorschlag: Mai dieses Jahres haben wir sozusagen als Gedanken-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss stütze einen Gesamtantrag für eine umfassende Korrek-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tur der Rentenüberleitung vorgelegt mit der Aufforde-
rung, bis Ende des Jahres aktiv zu werden. Bis Ende
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten 2010 ist nichts geschehen. Das ist untragbar.
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der LINKEN)
DIE LINKE
Wir und die Betroffenen erwarten einfach nur die Aner-
Angemessene Altersversorgung für Angehö- kennung gelebten Lebens und die Gleichbehandlung von
rige von Bundeswehr, Zoll und Polizei, die mit Berufsgruppen und Erwerbsbiografien Ost wie West.
DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre Tä-
Zum Abschluss der letzten Legislaturperiode hatte
tigkeit fortgesetzt haben
Gregor Gysi angekündigt: Solange wir im Bundestag
– Drucksache 17/3886 – sind, werden wir diese Anträge in jeder Legislatur-
Überweisungsvorschlag: periode vorlegen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss (Beifall bei der LINKEN)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sie haben es sich also selbst zuzuschreiben, dass wir
heute wieder ein Gesamtpaket mit allen zu lösenden Ein-
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten zelproblemen vorlegen. Sie haben weder den im Ge-
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar sundheitswesen der DDR Beschäftigten noch den
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Reichsbahnerinnen, Postlern oder Akademikerinnen und
DIE LINKE Akademikern zu einer ihren Berufskolleginnen und -kol-
(B) (D)
Einheitliche Regelung der Altersversorgung legen West wenigstens annähernd vergleichbaren Alters-
für Angehörige der technischen Intelligenz der versorgung verholfen.
DDR Besonders grotesk finde ich die Broschüre zum
– Drucksache 17/3887 – 20. Jahrestag der Einheit. Darin rühmt sich die Bundes-
regierung mit Fotos, dass der Raum Bitterfeld von der
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Dreckschleuder zum „Solar Valley“ wurde.
Innenausschuss (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ist es!)
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Aber denen, die in der Nähe im Raum Borna/Espenhain
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion mit seiner zerstörten Umwelt in der Braunkohlevered-
DIE LINKE lung gearbeitet haben

Wertneutralität im Rentenrecht auch für Per- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat sie denn
sonen mit bestimmten Funktionen in der DDR zerstört? – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dank DDR! Das sind keine nor-
– Drucksache 17/3888 – malen Arbeitsbedingungen da, Frau Kollegin
Überweisungsvorschlag: Bunge! Wer trägt denn da die Verantwortung?)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss – die dort geschuftet haben, muss man sagen –, streichen
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sie einfach den besonderen Rentenanspruch. Das finden
wir beschämend.
Es handelt sich um die Beratung mehrerer Vorlagen
zur Überleitung von DDR-Rentenrecht in Bundesrecht. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Sie haben die bettelarm in die
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Einheit entlassen!)
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wie sehen denn Ihre Aktivitäten aus? In der CDU/
CSU-Fraktion wurden die Verantwortlichen ausge-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
tauscht. Zumindest sah das in der Debatte zum Gesamt-
gin Dr. Martina Bunge.
antrag im Mai so aus. Denn in der letzten Legislatur-
(Beifall bei der LINKEN) periode hatte Kollegin Maria Michalk aus Sachsen
8574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Martina Bunge


(A) wenigstens einen gewissen Handlungsbedarf einge- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
räumt. Ein neuer Abgeordneter, der Kollege Frank Kollegin Bunge, ich kann nachvollziehen, dass Sie
Heinrich, sprach am 20. Mai dieses Jahres hingegen von sich für viele Gruppen, meines Erachtens teils für die
„Härten, Verwerfungen und Randschwächen“, mit denen richtigen Gruppen, aber auch für Gruppierungen einset-
wir bei der Rentenüberleitung leben müssten. Hoffent- zen, die wir kritisch sehen, weil dies die privilegierten
lich stehen Sie heute zu Ihrem Wort, Kollegin Michalk. Gruppierungen waren, die die DDR in den Ruin getrie-
Ich habe gesehen, dass Sie noch sprechen werden. Aber ben haben. Sie haben ein sehr schönes Beispiel aus der
wo sind die Taten? Region, aus der ich komme, nämlich aus dem Süden
(Beifall bei der LINKEN) Leipzigs, sehr treffend beschrieben.

Es geht um die Anerkennung gelebten Lebens von Hun- Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, dass es in
derttausenden älteren Menschen im Osten. der DDR mit den älteren Menschen, mit den Rentnerin-
nen und Rentnern auch nicht so gut bestellt war. Sie sind
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wer hat denn das genauso wie ich in der DDR aufgewachsen. Bitte neh-
Leben entwertet? Wir waren es nicht!) men Sie doch zur Kenntnis, dass es auch in der DDR Al-
Das haben übrigens auch die Kolleginnen und Kollegen tersarmut gab. Es gab privilegierte Rentner. Das waren
von der FDP-Fraktion in der letzten Legislaturperiode so meistens die Rentner, die sehr staatsnah waren. Die Ren-
gesehen und einen Antrag mit fast allen der von uns er- ten in der DDR waren aber teilweise so niedrig, dass
kundeten Probleme vorgelegt. auch Verarmung stattgefunden hat.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben eine Ich möchte, dass in dieser Debatte auch dieser Aspekt
andere Lösung als Sie!) zum Tragen kommt. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu
nehmen.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Kollegin Bunge, gestatten Sie eine Zwischenfrage der bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
Kollegin Lazar? geordneten der SPD)

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
Das ist jetzt zwischendrin etwas schwierig, weil ich
Frau Kollegin, das DDR-Rentensystem war nicht üp-
gerade bei der FDP-Fraktion bin. Vielleicht nach dem
pig. Es gab aber eine Mindestrente. Man konnte zumin-
Passus. Ich bin gerade mittendrin.
dest bescheiden davon leben, weil es eine zweite Lohn-
(B) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Lesen Sie erst tüte gab, da die Mieten sehr viel niedriger waren. Eine (D)
einmal vor! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zweiraumwohnung kostete beispielsweise 30 Mark.
Nicht dass Sie noch durcheinanderkommen!)
Insofern sind die Zusatzversorgungssysteme denen mit
Ich will mich erst einmal mit der FDP beschäftigen. höheren Qualifikationen aus dem Westen nachgebildet
Sie haben als Oppositionsfraktion fast alles in Ihren An- worden. Rentenrecht hat eine Wertneutralität. Deshalb
trag hineingebracht. Sie hatten beispielsweise erkannt, kann man nicht a priori sagen, dass es sich um privilegier-
dass ein Techniker Ost eine ähnliche zusätzliche Versor- tes Einkommen handelt. Das ist einfach nicht möglich.
gung hatte wie ein Techniker West, und waren scho-
ckiert, wie dann bei der Überführung der Rentenansprü- Sie können doch nicht einfach alles auf die Rente zu-
che vorgegangen wurde. rückstufen und sagen, dass sei für Sie alles Luft. Es gibt
einen Vertrauensschutz, weil Beiträge gezahlt wurden.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben eine
Lösung vorgeschlagen!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo ist denn das
Geld hin?)
Sie haben damit bewiesen, dass das keine Absurditäten
im Alterssicherungssystem der DDR waren, sondern – Schauen Sie doch einmal genau hin. Das hat sogar
Ansprüche in Systemen, in die der Einzelne zum Teil er- Herr Seehofer damals als Staatssekretär zugegeben, der
hebliche Beiträge eingezahlt hatte. diese Rentenüberleitung gemacht hat.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo sind denn (Beifall bei der LINKEN)
die Beiträge hin?)
Nun zur SPD-Fraktion. Kollege Anton Schaaf, meine
Ich denke, wir müssen hier den Vertrauensschutz einfor- Hochachtung. Sie haben das Versagen zu SPD-Regie-
dern. rungszeiten eingestanden. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt
(Beifall bei der LINKEN) Ernst machen. Ich denke, wir haben viele Gemeinsam-
keiten. Sie, verehrte Kollegen von den Grünen, hatten ei-
Jetzt bin ich mit meiner Bemerkung über die FDP fer- nen Antrag zu den Geschiedenen gestellt, den Sie leider
tig. heute zurückgezogen haben. Lassen Sie uns das doch ge-
meinsam anpacken. Ich denke, es ist nun an der Zeit, ei-
Vizepräsidentin Petra Pau: nen gangbaren Weg zu suchen. Umsetzen muss dies na-
Wenn die Wortmeldung zu der Zwischenfrage noch türlich das Ministerium für Arbeit und Soziales. Dort
besteht, dann lasse ich sie jetzt zu. sind die personellen Kapazitäten vorhanden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8575
Dr. Martina Bunge
(A) Ich fordere insbesondere die Koalitionsfraktionen und des ersten gesamtdeutschen Parlaments, festhalten: Es (C)
die Kanzlerin auf: Machen Sie die Sache zur Chefsache war, ist und bleibt bis zum heutigen Tag eine großartige
Ost. Machen Sie endlich Schluss mit den Ungerechtig- Solidarleistung der Deutschen, dass wir durch die Ren-
keiten und der Diskriminierung von Hunderttausenden tenüberleitung den älteren Menschen in der ehemaligen
älterer Bürgerinnen und Bürgern im Osten. DDR bzw. in den neuen Bundesländern eine Alterssiche-
rung garantieren, die es ihnen ermöglicht, nicht in die
Danke schön. Armutsfalle zu geraten und einen angemessenen Lebens-
(Beifall bei der LINKEN) abend zu verbringen. Das DDR-Recht hätte ihnen das
nie und nimmer ermöglicht.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weiß das
Wort. Wenn man nun zwei völlig unterschiedliche Alters-
versorgungssysteme, nämlich das der alten Bundesrepu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) blik Deutschland und das der alten DDR, im Rahmen ei-
ner Rentenüberleitung langsam zu einem gemeinsamen
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): System zusammenführen will, dann muss man – übri-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! gens wie bei jeder anderen Regelung, mit der zwei unter-
Herr Bundestagspräsident Dr. Lammert hat heute Morgen schiedliche Systeme zusammengebracht werden sollen –
die Plenarsitzung des Bundestages mit einem Gedenken mit Stichtagen arbeiten. In der Tat haben Stichtage etwas
an den 20. Jahrestag der ersten Wahl eines gesamtdeut- Willkürliches. Aber Stichtage sind notwendig, weil man
schen Bundestages eröffnet. Zu den großen Leistungen das vor diesem Stichtag existierende System und das
dieses ersten gesamtdeutschen Bundestags gehört es, dass diesem System innewohnende Unrecht nicht für alle Zei-
er die Rentenüberleitung Ost-West beschlossen hat, eines ten auslöschen und nachträglich heilen kann. Auch das
der markantesten und wichtigsten sozialpolitischen Vor- Rentenüberleitungsgesetz sieht daher Stichtagsregelun-
haben des wiedervereinigten Deutschlands. Ich möchte gen vor.
an dieser Stelle zunächst einmal den Abgeordneten, die Ich möchte das beispielhaft am Versorgungsausgleich
damals im ersten gesamtdeutschen Bundestag diese Ren- für Geschiedene deutlich machen. Die Linke beantragt,
tenüberleitung beschlossen haben, einen herzlichen Dank geschiedenen Frauen und Männern, die nach altem DDR-
aussprechen für den Mut und die Weitsicht, die sie damals Recht keinen Versorgungsausgleich bekommen – das ist
mit diesem Beschluss bewiesen haben. für die Betroffenen sicherlich finanziell hart –, nachträg-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich ein mit Mitteln der heutigen deutschen Steuerzahle-
(B) rinnen und Steuerzahlern finanzierten Versorgungsaus- (D)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Renten- gleich zu zahlen. Das hört sich gut an. Aber ich frage: Wo
überleitung war und ist eine großartige Solidarleistung bleibt die Gerechtigkeit? Was sollen die in den alten Bun-
zuallererst der Versicherten und des Staates. Durch diese desländern lebenden Rentnerinnen und Rentner sagen,
Rentenüberleitung wurden die Rentnerinnen und Rent- die zum Beispiel vor dem Jahr 1977 geschieden wurden
ner in den neuen Bundesländern nicht benachteiligt, son- und ebenfalls keinen Versorgungsausgleich bekommen?
dern sie sind die eigentlichen Gewinner des gemeinsa- Diese würden dann mit dem gleichen Recht fragen: Wa-
men deutschen Rentenrechts. Für die Rentnerinnen und rum wird nicht auch uns nachträglich ein mit Steuermit-
Rentner in den neuen Bundesländern war die Renten- teln finanzierter Versorgungsausgleich gezahlt? Oder:
überleitung ein echter Zugewinn im Vergleich zu dem, Müssten dann nicht auch diejenigen Männer und Frauen,
was sie nach altem DDR-Recht je hätten bekommen die einen Teil ihrer Versorgungsansprüche im Rahmen
können. des Versorgungsausgleichs an den geschiedenen Partner
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie abgegeben haben, sagen: „Alles zurück zu mir! Der Staat
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE soll das ausgleichen.“?
GRÜNEN) Diese Beispiele zeigen: Wer behauptet, mit Einzelan-
Ich möchte das an folgendem Beispiel deutlich machen. trägen für bestimmte Gruppen für mehr Gerechtigkeit zu
Wurden ihnen in der alten DDR gerade einmal 30 bis sorgen, sorgt in Wahrheit für noch mehr Ungerechtig-
40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens keit, weil dann andere Gruppen fragen, warum nicht
ausgezahlt und wurden ihnen im ersten Jahr der Vereini- auch sie das bekommen, was man den anderen gegeben
gung nur 35 Prozent der Westrente ausgezahlt, kletterte hat. Das ist das Problem.
dieser Anteil im Laufe der letzten 20 Jahre auf 89 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
zent des Westwertes. Um es kurz und knapp zu sagen:
Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Es gibt auch
Hätten wir keine Rentenüberleitung geschaffen, lebten
noch einen anderen Vorschlag!)
heute die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutsch-
lands allesamt in Armut. Sie könnten von ihren Renten Wir haben schon im Mai 2009 über die meisten der
nie und nimmer leben. nun vorliegenden Anträge debattiert und eine Anhörung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit Fachexperten durchgeführt. Die Experten haben ein-
hellig darauf hingewiesen, dass sie keinen Handlungsbe-
Bei aller Kritik, die man an einzelnen Regelungen darf, wohl aber die Gefahr weiterer Ungerechtigkeiten
üben kann, sollten wir heute, am 20. Jahrestag der Wahl sehen, wenn wir das beschließen, was vorliegt.
8576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das liegt an der (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Zwei (C)
Auswahl! Es gibt solche und solche!) neue!)
Bevor wir angebliches Unrecht durch Beschlüsse ver- Zu diesem neuen Antrag kann ich Folgendes sagen: Ich
meintlich beheben, was wieder anderen Unrecht zufügt habe mir alle Mühe gegeben, zu verstehen, wen Sie da-
oder andere zu der Auffassung bringt, dass ihnen Unrecht mit genau meinen. Ich weiß nicht, welcher Professor die-
geschieht, sollten wir diesem Expertenrat folgen. Wir sen Antrag geschrieben hat. Aber ich konnte noch nicht
brauchen – das haben wir uns in der Koalition vorgenom- einmal herausfinden, welche Anspruchsberechtigten Sie
men – ein einheitliches Rentenrecht in Deutschland. Das meinen. Auch Leute, die wirklich Ahnung vom Renten-
muss unser großes Ziel sein. recht haben, haben vergeblich versucht, herauszufinden,
was eigentlich mit diesem Antrag gemeint ist. Sie haben
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wann hier und da einen Finanzvorschlag in den Anträgen ge-
kommen Sie denn endlich mit einem Vor- macht. All das bewegt sich innerhalb des Rentenrechts.
schlag? Sie kommen ja nicht in die Gänge!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Lassen Sie
Aber mit den vielen vorliegenden Einzelanträgen wider- uns das im Ausschuss bereden!)
fährt niemandem Gerechtigkeit. Es bleibt dabei: Mit der
Rentenüberleitung haben wir ein ungerechtes Rentensys- Ich sage Ihnen: Sie werden mich damit nicht dazu bewe-
tem Ost abgeschafft und den Rentnerinnen und Rentnern gen, meine Zustimmung zu einer neuen Anhörung zu
in den neuen Bundesländern eine Lebensgrundlage ge- dieser Thematik zu geben. Das ergibt überhaupt keinen
geben. Das wäre mit einer Rente nach DDR-Recht nie Sinn. Solange sich Ihre Vorschläge im Rahmen des Ren-
möglich gewesen. tenrechts bewegen, wo sie nichts zu suchen haben, kom-
men wir keinen Schritt voran.
Vielen Dank.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Lösungen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für einzelne Fallgruppen, die dort beschrieben sind, su-
chen müssen. Ich finde, man kann den Standpunkt recht-
Vizepräsidentin Petra Pau: fertigen, dass sich aus der Rentenüberleitung für einen
Teil der Bevölkerung besondere Härten ergeben haben.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Schaaf das
Dafür muss man aber eine sozialpolitische Lösung fin-
Wort.
den und keine rentenpolitische Lösung, die auf Dauer
(Beifall bei der SPD) rentenwirksam wird. Das kann man von mir aus tun,
aber dazu höre ich von Ihnen nichts. Ihr Erkenntnisge-
Anton Schaaf (SPD): winn hat bisher nicht dazu ausgereicht, zu sagen: Lasst
(B) (D)
uns doch einmal überlegen, wie wir soziale Härten au-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ßerhalb des Rentenrechts mildern können. – Deswegen
Sehr geehrte Frau Bunge, ich glaube nicht, dass es der arbeiten wir an einem Vorschlag zur Errichtung eines
Sache, die Sie hier vortragen – auch wenn man sie in Sozialfonds, der besondere Härten, die sich aus der Ren-
Teilen für berechtigt halten kann –, guttut, wenn man das tenüberleitung ergeben haben, abmildern soll.
Rentenrecht und die Rentenüberleitung, die allen Men-
schen, die Rentenansprüche aus der DDR hatten, ein (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr interessant!)
Auskommen gesichert haben, hier als Rentenstrafrecht
Das wäre ein sinnvoller Vorschlag. Damit trifft man ziel-
bezeichnet. Ich glaube, der Sache tut man damit nichts
genau die, die wirklich betroffen waren.
Gutes.
Ich nenne noch eine Gruppe, die Sie ständig vergessen,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP die ich aber immer auf dem Schirm habe und auf die man
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genau achten sollte. Es handelt sich um die Menschen, die
Ich habe es schon letztes Mal gesagt und sage es jetzt aus der DDR geflüchtet sind und nach dem Fremdrenten-
noch einmal: Ich habe maximales Verständnis dafür, gesetz zunächst einmal Ansprüche hatten, aber nach der
dass es hier in diesem Hause Kolleginnen und Kollegen Rentenüberleitung nach dem allgemeinen Rentenrecht
gibt, die an einer Stelle schlichtweg nicht springen kön- behandelt worden sind. Auch diese Menschen haben
nen, nämlich an der Stelle, wo es darum geht, dass man durch die Einigung und den Rentenüberleitungsvertrag
die Privilegien derjenigen, die in der DDR besonders Nachteile erlitten. Wir müssen also schauen, dass wir
partei- und staatsnah waren, in heutige Rentenansprüche auch an dieser Stelle etwas bewegen. Das ist nicht Ihre
überträgt. Das kann ich absolut nachvollziehen. Klientel, das ist mir klar, aber auch für diese muss aus
meiner Sicht eine sozialpolitische Lösung gefunden wer-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP den. Die sollten wir gemeinsam suchen.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie tun der Sache keinen Gefallen, wenn Sie die Renten- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
überleitung als Nachteil für eine riesige Masse von Men-
schen im Osten der Republik darstellen. So finden wir An die Regierung gerichtet – da pflichte ich Ihnen
keine gemeinsame Lösung. gerne bei – würde ich sagen: Meiner Kenntnis nach gibt
es einen konkreten Vorschlag für Menschen, die in der
Sie haben jetzt bis auf einen neuen Antrag wieder Karbonchemie gearbeitet haben. Es gibt einen vernünfti-
wortgleiche Anträge eingebracht. gen Vorschlag zur Umsetzung der Ansprüche. Ich bitte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8577
Anton Schaaf
(A) Sie, diesen zügig zu bearbeiten. Es gibt 500 Leute, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
dringend darauf warten, dass ihre Ansprüche erfüllt wer- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
den. Wenn es einen Lösungsvorschlag gibt, der tragbar Kollegin Dr. Bunge.
ist, dann kümmern Sie sich darum, sonst sind die
500 Leute weggestorben, bevor sie diese Ansprüche gel-
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
tend machen können. An die Regierung gerichtet sage
ich, dass es einen Vorschlag einiger Bundesländer im Danke, Frau Präsidentin. – Kollege Schaaf, da Sie
Bundesrat gibt, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzu- mich mehrmals angesprochen haben, ich aber nicht an-
richten, um die Problematik der Geschiedenen in der dauernd Zwischenfragen stellen wollte, möchte ich zum
DDR aufzugreifen und vielleicht Lösungsvorschläge zu Abschluss einiges sagen.
unterbreiten. Lassen Sie sich auf den Versuch ein, Lösun- Ich weiß nicht, welchen Antrag Sie vorliegen hatten.
gen zu finden, damit wir einige Schritte vorankommen. Ich denke, vieles von dem, was Sie angesprochen haben,
Ich glaube, wir können die Lage nur dann befrieden, sollten wir in der Ausschussarbeit klären. Es sind jetzt
wenn man schaut, wo soziale Härten entstanden sind und übrigens insgesamt 19 Anträge. In der vorigen Legisla-
wie man diese sozialen Härten vernünftig abmildert. Be- tur waren es 17, die aktualisiert sind, weil durch Ge-
wegen Sie sich an dieser Stelle. Ich kann damit leben, richtsverfahren Neueres hinzugekommen ist und, und,
wenn wir das alles nicht im Rentenrecht lösen; denn da und.
hat es im Allgemeinen nichts zu suchen. Wenn man das
Ganze sozialpolitisch mit einem Sozialfonds löst, um Wir beziehen nicht alles auf die Rente, sondern wir
Härten abzumildern, dann hat man einmalige Aufwen- stellen uns für die Zusatz- bzw. Sonderversorgung ein
dungen, aber man hat den Menschen tatsächlich und sehr System sui generis vor, ein System besonderer Art für
konkret geholfen. Bewegen Sie sich also an dieser Stelle. eine befristete Zeit. Das liegt also außerhalb des Renten-
rechts. Denn wir meinen, diese Menschen können ihr
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Leben nicht wiederholen, und deshalb muss eine Lösung
DIE GRÜNEN)
gefunden werden.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Sie ha-
(Beifall bei der LINKEN)
ben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass es eine renten-
rechtliche Ost-West-Angleichung geben soll. Was die Gruppe derjenigen angeht, die „freiwillig“
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Davon aus der DDR gegangen sind oder die DDR verlassen ha-
sieht man nur nichts!) ben, weil sie dort unter Druck waren, – –
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
(B) Ich sage Ihnen dies als Mahnung: Wenn man ein solches (D)
Versprechen macht, bei dem am Ende substanziell für ist eine verräterische Sprache! – Manfred
die Menschen keine Verbesserung herauskommt, dann Grund [CDU/CSU]: Wie bitte? Wahrschein-
sollte man sich besser an dieses Podium stellen und sa- lich Aussiedler, Umsiedler möglicherweise!)
gen: Das können wir zurzeit nicht stemmen. – Das sollte – Das ist ja prima, das ist ja nett, wie Sie sich getroffen
man besser tun. Gehen Sie nicht mit einem Vorschlag fühlen. Es ist bezeichnend.
raus, der nicht wenigstens ein Stück weit etwas von dem
einlöst, was die Menschen im Osten erwarten. Das tut (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
uns allen nicht gut und Ihnen sowieso nicht. Ich sage Ih- ist unglaublich, was Sie hier sagen! Das ist
nen: Wenn Sie schon etwas machen, dann muss dabei et- eine Beleidigung dieser Menschen! – Weitere
was Substanzielles für die Menschen passieren, sonst Zurufe von der CDU/CSU)
lassen Sie besser die Finger davon. Sagen Sie den Men-
schen: Wir kriegen es nicht gewuppt. Ich hatte Verständnis dafür, dass diese Gruppe nicht zu
uns gekommen ist, solange wir noch PDS waren. Die
Frau Bunge, ganz zum Schluss: Ich weiß, wie schwie- Befindlichkeiten konnte ich gut nachvollziehen. Können
rig es ist, die Problematik zu lösen, und wie viel Geld Sie sich aber vorstellen, dass diese Menschen sich jetzt
man bewegen müsste, um alle Bedürfnisse zu befriedi- auch an uns wenden, weil Sie einfach nichts tun?
gen. Vor diesem Hintergrund habe ich gesagt: Wir haben
das in den letzten Legislaturperioden, in denen wir Ver- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
antwortung getragen haben, nicht hinbiegen können. Das NEN]: Und wo ist Ihr Antrag dazu?)
ist kein Schuldeingeständnis, sondern es zeigt nur auf, So groß ist deren Not, dass sie sagen: Dieses Problem
wie schwierig es ist, diese Problematik tatsächlich zu lö- muss gelöst werden. Wir sehen: Die Linke macht hier et-
sen; denn es kostet enorm viel Geld und befriedigt unter was. Wir möchten möglichst, dass Sie gemeinsam etwas
Umständen nicht alle. Wir haben eine wechselseitige unternehmen, um auch unser Problem zu lösen.
Diskussion: Wenn wir auf der einen Seite ein bisschen
mehr machen, dann wird auf der anderen Seite darüber Danke.
diskutiert, dass das bezahlt werden muss. Das ist auch
nicht gut für unser Land. (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
mendingen] [CDU/CSU]: Ein Haus in Brand
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie setzen und dann Feuerwehr spielen! Großar-
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- tig! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE
NISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Und wo ist Ihr Antrag dazu?)
8578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass (C)
Herr Kollege Schaaf, bitte. das Leben als Rentner in der DDR ein Zuckerschlecken
gewesen wäre; Sie haben das aber ein Stück weit getan,
Anton Schaaf (SPD):
Frau Bunge.
Frau Kollegin Bunge, ich wollte nur sagen, dass ne- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Nein!)
ben dem Personenkreis, den Sie benannt haben, andere
Ich bin kein DDR-Bürger gewesen, aber ich kenne viele
betroffene Gruppen da sind, die durch die Rentenüber-
Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind und auch
leitung auch Nachteile erlitten haben. Ich habe das noch
als Ältere dort gelebt haben. Sie haben mir sehr deutlich
einmal angesprochen: Wir sollten die Debatte vollstän-
gemacht, dass die Rentner in der DDR eine benachtei-
dig und mit allen betroffenen Personengruppen führen,
ligte Gruppe waren. Daran muss man erinnern. Das wer-
und wir sollten das Ganze einer sozialpolitischen Lösung
den die Menschen nicht vergessen. Auch die älteren
zuführen.
Menschen aus der ehemaligen DDR wissen das bis heute
Ich habe am Anfang etwas gesagt, zu dem ich weiter- sehr genau.
hin stehe: Ich nehme vieles von dem, was Sie an Anträ- Dass es bei der Überleitung zu Verwerfungen, zu ge-
gen gestellt haben, ebenso wie die Schicksale dahinter fühlten oder tatsächlichen Ungerechtigkeiten kam, war
sehr ernst. Das ist nicht mein Problem. Ihr Erkenntniszu- unvermeidlich, weil die Systeme nicht völlig kompatibel
gewinn in den letzten Anträgen, dass die Rentenüberlei- waren. Die Rentensysteme der DDR konnten dem, was
tung für die allermeisten Menschen aus der DDR wirk- im Westen, in der alten Bundesrepublik, Standard war,
lich glatt gelaufen ist, ist ein Erkenntniszugewinn, den nicht einfach nachgebildet werden. Es waren unter-
wir in dieser Form vorher noch nicht hatten. Ich konsta- schiedliche Systeme. Daraus ergeben sich in der Über-
tiere das wirklich als einen positiven Schritt nach vorn. leitung notwendigerweise Ungerechtigkeiten.
Wenn Sie hier permanent damit argumentieren, das, was
da praktiziert werde, sei ein Rentenstrafrecht, (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ach, das
war sehr, sehr ähnlich!)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Un-
glaublich!) – Nein, das kann man nicht sagen. – Das sehen Sie auch
an den drei Fallgruppen, in die man die 18 Fälle im We-
wohl wissend, dass niemand – niemand! – ohne Rente sentlichen einteilen kann. Es gibt die Menschen, die aus
durch die Überleitung gegangen ist, dann ist das dem rechtlichen, politischen, persönlichen Gründen in der
Versuch einer gemeinsamen Lösung nun wirklich nicht DDR keine Rentenversicherungsbeiträge leisten konn-
angemessen. Deswegen weise ich das in aller Deutlich- ten; sie konnten einfach keine Beiträge leisten. Dann
(B) keit zurück. gibt es die Menschen, deren Rentenansprüche aus der (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DDR-Zeit nicht mit dem SGB VI kompatibel waren
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE – das sind im engeren Sinne die, von denen ich gespro-
GRÜNEN – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: chen habe –, deswegen auch nicht überführt werden
Das war eine Aufzählung! Können Sie nicht konnten. Und schließlich gibt es die Menschen, die An-
zuhören?) wartschaften hatten, die aber statt in andere Versor-
gungssysteme ins SGB VI übergeleitet wurden, einfach
weil es kein bundesdeutsches Äquivalent gab.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb für Die vierte Fallgruppe, eine Sondergruppe, so will ich
die FDP-Fraktion. einmal sagen, bilden diejenigen, die geflüchtet sind, die
also noch vor der Maueröffnung die DDR verlassen ha-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ben. Es war wirklich ein starkes Stück, fand ich, wirklich
der CDU/CSU) eine Unverschämtheit, mit Blick auf diese Gruppe zu sa-
gen: Na ja, wir wissen ja nicht, aus welchen Gründen die
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gegangen sind. – Sie wussten ganz genau, warum sie die
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DDR verlassen haben. An mir nagt, dass diese Men-
Ich bin mit den Kollegen Weiß und Schaaf nachdrück- schen bis heute keine Gerechtigkeit erfahren konnten.
lich der Meinung, dass die Rentenüberleitung, das heißt Schwierig wird die Sache durch Folgendes: Ein Teil
die Integration des Rentensystems der DDR in das Ren- derjenigen, mit denen wir gesprochen haben – wir haben
tensystem der Bundesrepublik, eine riesige Leistung ist. uns mit jeder einzelnen Gruppe unterhalten –, fordert,
Man muss einfach festhalten, Frau Bunge: Millionen das frühere DDR-Recht nicht mehr wirken zu lassen
von Menschen haben wir dadurch im Alter einen Le- – ich bringe es einmal auf diese kurze Formel –, und ein
bensstandard gesichert, von dem sie zu DDR-Zeiten anderer Teil fordert gerade, dass Ansprüche nach eben-
nicht zu träumen wagten. Das muss man hier einmal sehr diesem früheren Recht komplett anerkannt werden. Man
deutlich sagen. erkennt sehr schnell, dass das zu Ungerechtigkeiten füh-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren muss und dass es keine einfache Lösung gibt. In die-
sem Sinne ist auch das Ergebnis zu verstehen, das wir in
Sie konnten nicht erhoffen, dass es ihnen so gut gehen der Anhörung im Mai 2009 erzielt haben. Die Sachver-
würde, wie es durch das bundesdeutsche Rentensystem ständigen haben die Empfehlung abgegeben, keine Kor-
am Ende gewährleistet werden konnte. rektur der geltenden Gesetze vorzunehmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8579
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ihre Sach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C)
verständigen! Das waren nicht unsere!) bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
geordneten der SPD – Zuruf der Abg.
Sie haben uns deutlich gemacht, dass die Nachjustierung Dr. Martina Bunge [DIE LINKE])
zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuen Unge-
rechtigkeiten, führen würde. Im Übrigen konnte das nur funktionieren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der FDP, weil wir ein umlage-
In dieser Situation haben wir versucht, einen Lö- finanziertes Rentensystem haben und kein kapitalge-
sungsvorschlag zu entwickeln. Unser Vorschlag bewegt decktes. Da wäre das nämlich nicht möglich gewesen.
sich innerhalb des Rentensystems, also innerhalb des
SGB VI. Da gilt nun einmal der Grundsatz: ohne Beitrag (Anton Schaaf [SPD]: So ist es!)
keine Leistung. Deswegen war unsere Idee – sie ist es Nun ist es so, dass immer noch einige Regelungen des
unverändert –, günstige Nachversicherungsmöglichkei- Rentenüberleitungsgesetzes bei einigen Betroffenen zu
ten zu schaffen, sodass die Menschen aus diesen Diskussionen führen, sie sich diskriminiert fühlen und
18 Fallgruppen Ansprüche erwerben können. Wir su- denken, dass ihre Lebensleistung aberkannt wurde. Da-
chen also eine Lösung auf dem Boden der Beitragsäqui- für haben wir im Einzelnen durchaus Verständnis. Aber
valenz, eine Nachversicherungslösung auf freiwilliger ich glaube, dass es nicht möglich ist, im Rahmen eines
Basis. Wir halten das für gut geeignet. Wir sind mit dem solchen Rentenüberleitungsgesetzes tatsächlich alle Ein-
Kollegen Schaaf, den ich persönlich und fachlich sehr zelfälle zu lösen und jedem Einzelfall gerecht zu wer-
schätze, und allen Gutwilligen in diesem Hause dabei, den. Deswegen finden wir auch heute, dass vor diesem
gemeinsam eine Lösung zu suchen. Nur eines geht nicht, Hintergrund eine grundlegende Korrektur des Renten-
Frau Bunge: Ich bin nicht bereit, diese Larmoyanz, mit überleitungsgesetzes nicht sinnvoll ist.
der Sie hier angetreten sind, zu akzeptieren. Dass Men-
schen in der DDR unter schwierigsten Arbeits- und Um- Aber es gibt einige wenige Gruppen, bei denen tat-
weltbedingungen gearbeitet haben, dass sie haben schuf- sächlich Handlungsbedarf besteht; das sehen wir ganz
ten müssen bis zum Umfallen – da frage ich mich schon, ähnlich wie die SPD. Da greife ich eine Gruppe heraus:
wer am Ende die Verantwortung dafür gehabt hat, dass die Geschiedenen der ehemaligen DDR. Bei der Renten-
die Umwelt in der DDR zerstört wurde und dass Men- überleitung wurde keine Gewährung der Geschiedenen-
schen unter teils unmenschlichen Bedingungen gearbei- witwenrenten für Frauen vorgesehen, die vor Einführung
tet haben. des Versorgungsausgleichs im Jahr 1992 in den neuen
Bundesländern geschieden wurden. Eine Frau aus den
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich alleine alten Bundesländern, deren Ehe vor 1977 geschieden
war auch nicht zuständig! Jetzt hören Sie mal wurde, kann Geschiedenenwitwenrente beziehen, wenn
(B) auf!) (D)
ihr geschiedener Ehemann vor seinem Tod Unterhalt ge-
Deswegen will ich Ihnen ein Stück weit auch die Kom- zahlt hat. Eine Frau aus den neuen Bundesländern, deren
petenz absprechen, hier einfach als die Gutmenschen, Ehe vor 1977 geschieden wurde, hat keinen Anspruch
die bei allem wissen, wie es geht, aufzutreten. Sie tragen auf Geschiedenenwitwenrente, auch dann nicht, wenn
einen Gutteil Verantwortung daran, ihr Mann gerichtlich dazu verurteilt wurde, ihr Unterhalt
zu zahlen. Der Versorgungsausgleich trat erst 1992 nach
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem Einigungsvertrag in Kraft. Dies führt im Vergleich
zu den alten Ländern tatsächlich zu einer Schlechterstel-
dass sich die Menschen in der Situation befinden, in der
lung dieser Personengruppe und zu einer Benachteili-
sie heute sind.
gung gegenüber den Personen, die nach dem ab dem
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 1. Januar 1992 geltenden Recht in den neuen Ländern
mit einem Anspruch auf Versorgungsausgleich geschie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den worden sind. Wir finden, dass diese Gerechtigkeits-
lücke tatsächlich geschlossen werden muss.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Unter Berücksichtigung des überwiegend schon sehr
nen. fortgeschrittenen Alters der Betroffenen sollte die Erar-
beitung und Festlegung konkreter Lösungen zügig in
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Angriff genommen und die beschlossenen Maßnahmen
DIE GRÜNEN): unverzüglich umgesetzt werden. Auch wenn die Bun-
desregierung, wie auf eine unserer schriftlichen Fragen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
im Juli zu erfahren war, keinen Handlungsbedarf sieht,
Auch wir finden, dass die Überleitung der DDR-Alters-
hat meine Fraktion hierzu bereits in der letzten Legisla-
sicherung in die deutschen Rentenversicherungen eine
tur konkrete Vorschläge gemacht, und wir werden das
große Leistung war. Ich kann nur wiederholen, was an-
auch in dieser Legislaturperiode wieder tun.
dere Kollegen, Herr Weiß und Herr Schaaf, gesagt ha-
ben: Die Rentnerinnen und Rentner sind die Gewinner Wir sind nicht die Einzigen, die diesbezüglich Hand-
der deutschen Einheit gewesen. Das zeigen alle empiri- lungsbedarf sehen – der Kollege Schaaf hat schon darauf
schen Untersuchungen. Sie sind diejenigen, die am meis- hingewiesen –: Der Bundesrat hat am 24. September die-
ten von der Einheit profitiert haben. ses Jahres die Bundesregierung nachdrücklich gebeten,
8580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) eine befriedigende Lösung für diese Gruppe herbeizu- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (C)
führen. Wenn Sie schon nicht unserem Vorschlag folgen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
können, fordern wir Sie auf, wenigstens dem Beschluss
sowie bei Abgeordneten der SPD)
des Bundesrates zu folgen und endlich etwas zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wir sehen noch eine Gruppe, die zum Teil durch das Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
Rentenüberleitungsgesetz benachteiligt wurde, die nicht CDU/CSU-Fraktion.
bei den Linken vorkommt – auch darauf hat Herr Schaaf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schon hingewiesen –, nämlich die DDR-Flüchtlinge.
Den Flüchtlingen wurden damals im Zuge der Wieder-
Maria Michalk (CDU/CSU):
vereinigung und im Rahmen der neuen Sozialgesetzge-
bung die bereits zuerkannten Rentenansprüche nach Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fremdrentengesetz wieder aberkannt. Sie wurden ren- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Jahre
tenrechtlich wie Bürgerinnen und Bürger des Beitrittsge- wieder bringt die Fraktion der Linken Anträge ein, in de-
biets behandelt, obwohl sie zum Teil schon viele Jahre nen gefordert wird, die Altersversorgung zahlreicher
vor dem Mauerfall die DDR verlassen hatten, ihre Ren- Menschen mit DDR-Erwerbsbiografie in bestimmten
tenverläufe längst festgestellt waren und sie dann in der Berufsgruppen aufzubessern.
berechtigten Erwartung ihrer Rentenanwartschaften ent- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Daran sind
täuscht wurden. Die formale Anwendung mag juristisch Sie mit schuld!)
vertretbar sein, schafft aber Ungerechtigkeiten, ausge-
rechnet gegenüber Menschen, die die DDR teils unter Wir haben zuletzt – das wurde schon gesagt – im Mai
Lebensgefahr, teils unter großen Repressalien und teils letzten Jahres hier im Hohen Haus darüber debattiert und
unter großen persönlichen Entbehrungen vor 1989 ver- entschieden; wir haben Anhörungen dazu durchgeführt.
lassen haben. Trotzdem bringen Sie heute 18 Anträge ein, die alle ei-
nes gemeinsam haben, nämlich die Aufforderung: Bis
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zum 30. Juni nächsten Jahres muss alles geregelt sein.
NEN]: Das war nicht freiwillig!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist ein
Wir finden, auch hier muss es eine gerechte Lösung ge- hohes Ziel!)
ben.
Haben Sie als Antragsteller die Argumente vergessen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die ausgetauscht und uns in der Anhörung von Sachver-
(B) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ständigen vorgetragen worden sind? (D)
Zum Schluss ein Blick nach vorne. Zurzeit sind die (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ihre Sach-
Renten im Osten immer noch höher als im Westen; das verständigen!)
muss einmal zur Kenntnis genommen werden. Das wird
Haben Sie keine Auswertung vorgenommen? Hier gab
sich aber in den nächsten Jahren dramatisch ändern.
es keine Willkür, sondern eine Entscheidung auf rechts-
Aufgrund der Arbeitsmarktsituation im Osten und der
staatlicher Basis, untermauert mit guten Argumenten
Lebensläufe derjenigen, die jetzt oder künftig in die
von Experten. Dort, wo bestimmte rentenrechtliche Re-
Rente eintreten, wird das durchschnittliche Rentenni-
gelungen aus der Vergangenheit nicht bestätigt wurden,
veau im Osten erheblich sinken. Deswegen brauchen wir
hat das Hohe Haus Gesetzesänderungen vorgenommen,
auch hier eine Garantierente für langjährig Versicherte,
in vielen Fällen übrigens auf der Grundlage von Urteilen
die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Davon profi-
zum Leidwesen der SED-Opfer.
tieren vor allem Menschen in Ostdeutschland, die in den
nächsten Jahren von Armut bedroht werden. Ich habe (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja,
gesagt, dass es aus unserer Sicht nicht möglich war und so ist es!)
ist, bei der Rentenüberleitung jedem einzelnen Fall ge-
recht zu werden. Eine Garantierente hilft aber zumindest Ich glaube, wir sollten uns deshalb einig sein, dass die
denjenigen, die sich benachteiligt fühlen und zurzeit ge- Überführung der rentenrechtlichen Regelungen die Si-
ringe Rentenansprüche haben. tuation der Menschen in den neuen Bundesländern ver-
bessert hat; sie ist eine Erfolgsgeschichte.
Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitions-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Fragen
vertrag versprochen, in dieser Legislaturperiode ein ein-
Sie mal die Betroffenen! Die sehen das an-
heitliches Rentenrecht in Ost und West einzuführen.
ders!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber das
Es wurde von meinen Vorrednern herausgearbeitet – ich
ist ein anderes Thema!)
möchte das bestätigen –: Die Überführung der renten-
Wir finden in der Tat, dass es dafür 20 Jahre nach der rechtlichen Regelungen war gut. Natürlich hat sie auch
Einheit höchste Zeit ist. Es ist nicht hinnehmbar, dass zu Verwerfungen geführt. Jeder von uns kennt einzelne
der Rentenwert im Osten immer noch niedriger ist als im Beispiele: Verwerfungen durch Stichtagsregelungen,
Westen. Wir sind für einheitliche Rentenregelungen in aufgrund der Besonderheit, dass es in der DDR ein be-
Ost und West. Die Vereinheitlichung sollte so schnell rufsspezifisches Rentenrecht gab. Wir haben selbstver-
wie möglich umgesetzt werden. ständlich darüber diskutiert. In bestimmten Fällen disku-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8581
Maria Michalk
(A) tieren wir weiter darüber; das will ich hier durchaus Aber ein Preis der deutschen Einheit war, ein überhaupt (C)
einräumen. nicht kompatibles Rentenrecht zu überführen. Das hat
nur Deutschland gemacht. Die anderen Staaten im sozia-
Es ist historisch gesehen schon ein starkes Stück, dass listischen Block, Ihre Brüder und Schwestern, haben das
sich diejenigen, die die Komplexität und Kompliziertheit nicht machen müssen. Wir sind an dieser Stelle die Ein-
der Materie der rentenrechtlichen Zusammenführung zigen.
verursacht haben, heute zu Fürsprechern bestimmter Be-
rufsgruppen aufschwingen. Das will ich Ihnen heute be- Wie kompliziert das ist, möchte ich einmal kurz an
scheinigen. dem Beispiel Ihres Antrages zeigen, der sich mit den ge-
rechten Alterseinkünften für Beschäftigte im Gesund-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heits- und Sozialwesen der DDR beschäftigt. Zur Erin-
Ich halte Ihre Anträge für durchweg opportunistisch. nerung: Für Versicherte, die mindestens zehn Jahre
Gleichwohl bestätige ich Ihnen noch einmal, dass es ununterbrochen in Einrichtungen des Gesundheits- und
Einzelschicksale, einzelne Gruppen gibt, die auch uns Sozialwesens eine versicherungspflichtige Tätigkeit aus-
am Herzen liegen und mit deren Problemen wir uns be- geübt haben, sah die 1. Rentenverordnung der DDR aus
schäftigen. Das geht aber nicht so: Hopp, hopp, hopp, dem Jahr 1979 vor, dass bei der Bestimmung des Steige-
Pferdchen, lauf Galopp. rungsbetrages der Alters- und Invalidenrente jedes Jahr
der Tätigkeit in einer solchen Einrichtung statt mit
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: 20 Jahre 1 Prozent mit 1,5 Prozent zu berücksichtigen ist.
hatten Sie Zeit!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Fünf
Am 30. Juni 2011 kann nicht alles erledigt sein. Es han- Jahre!)
delt sich um eine hochkomplexe Materie, mit der wir uns
Diese Regelung müssten wir in das SGB VI überneh-
intensiv beschäftigen. Wir werden unsere Zusage aus
men. Das ist schon deshalb problematisch, weil wir ein
dem Koalitionsvertrag einhalten. Gleichbehandlungsgebot zu erfüllen haben. Denn die da-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit verbundene Begünstigung würde sich nur auf Be-
der FDP – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: schäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens und nur
Na, da bin ich aber gespannt!) auf die Berechnung der Alterseinkünfte, nicht aber auf
die Berechnung der Erwerbsminderungsrenten beziehen.
Die angeblichen Ungerechtigkeiten bei der Renten- Das ist ein Beispiel, das zeigt: Wenn wir das so lösen
überleitung haben – das muss man einmal sagen – ihre würden, hätten wir eine neue Ungerechtigkeit.
Ursache in der Willkür des DDR-Rentenrechts.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Verglei-
(Widerspruch bei der LINKEN) chen Sie doch mal die Einkommen der Be-
(B) (D)
Zum Beispiel gab es in der DDR keine eindeutigen, ein- schäftigten!)
heitlich angewendeten und einklagbaren Regeln für Zu- Bei der Rentenüberführung in diesem Punkt haben die
satzrenten. Gerichte dezidiert keinen Verstoß gegen Art. 14 des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundgesetzes festgestellt, da dieser nicht einzelne Be-
neten der FDP) rechnungselemente, sondern den Geldwert der Rente
schützt. Wir haben uns in vorangegangenen Debatten be-
Zu diesem Punkt haben bereits frühere Regierungen ganz reits darüber ausgetauscht, wie hoch der Geldwert nach
unterschiedlicher Zusammensetzung umfangreiche Prü- der Mark der DDR im Vergleich zum heutigen Euro-
fungen vorgenommen und letztlich die Überführungsre- Auszahlbetrag wäre. Auch das müssen wir uns noch ein-
geln bestätigt. Die Gerichte haben das auch getan, und das mal in Erinnerung rufen.
müssen Sie jetzt einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Meine Empfehlung ist: Ziehen Sie Ihre 18 Anträge,
Wir haben in den vorangegangenen Debatten auch Ihre 18-Punkte-Wunschliste, zurück
immer wieder festgestellt, dass eine pauschale Besser- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Davon
stellung der heute wieder in Rede stehenden einzelnen träumen Sie nachts!)
Gruppen die Debatte nicht beenden, sondern – das
wurde schon gesagt – neue Ungerechtigkeiten bei ande- und konzentrieren Sie sich auf die Fragen einer zu-
ren Gruppen hervorrufen würde. kunftssicheren Rentenregelung im vereinten Deutsch-
land. Wir in der Union werden das jedenfalls tun.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wir wollen
keine Besserstellung, sondern eine Gleichstel- Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
lung! – Weiterer Zuruf des Abg. Matthias W. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Birkwald [DIE LINKE]) Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hoffent-
Uns in der Union war immer bewusst, dass mit der lich haben das viele der Betroffenen gehört
Regelung zur Rentenüberleitung nicht sämtliche Erwar- und gesehen!)
tungen aller Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bun-
desländern erfüllt werden. Mir tun die Leute an vielen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Stellen schon auch leid. Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für
die SPD-Fraktion.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dafür
können sie sich nichts kaufen!) (Beifall bei der SPD)
8582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Sonja Steffen (SPD): (Widerspruch des Abg. Peter Weiß [Emmen- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dingen] [CDU/CSU])
Kollegen! Wir reden heute über ein unbequemes Thema, Sigmar Gabriel hat uns heute Morgen in seiner Rede
dem bereits seit der Wiedervereinigung, also seit 20 Jah- drastisch vor Augen geführt, dass eine Arbeitsbiografie
ren, mit allerlei Sonderregelungen ausgewichen wurde: mit 35 Erwerbsjahren bei einem Stundenlohn von 8 Euro
gerechte Alterseinkünfte für Rentner und Rentnerinnen zu einer Rente von 558 Euro monatlich führt. 558 Euro
im Osten. monatlich!
Die Bilanz der Rentenangleichung ist bislang – zu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 45 Jahre!)
mindest aus ostdeutscher Sicht – ernüchternd. Nach ei-
nem rasanten Anstieg stagniert die Ostrente, und viele Der Gang zum Sozialamt zur Beantragung von Leistun-
Ostdeutsche sehen ihre Arbeitsleistung nicht ausrei- gen nach der Grundsicherung ist damit unvermeidbar.
chend anerkannt. Darauf zielen auch die meisten der In meinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern
18 bzw. 19 Anträge der Fraktion Die Linke ab. gehören Menschen mit einem Stundenlohn von 8 Euro
In meiner Eigenschaft als Mitglied des Petitionsaus- schon fast zu den Gutverdienenden; glauben Sie mir das.
schusses sind mir die Petitionen, die dieses Anliegen (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Richtig! –
verfolgen, hinlänglich bekannt. Ich sehe hier auch einige Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir
andere Mitglieder des Petitionsausschusses, die das mit glauben Ihnen das!)
Sicherheit bestätigen können.
Die Bundesregierung muss also dringend gegensteuern,
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Ich will das um Altersarmut vor allem im Osten zu verhindern.
Thema heute zum Anlass nehmen, als Abgeordnete aus
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Ostdeutschland zu Ihnen zu reden.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
In Ihrem Koalitionsvertrag, meine Kolleginnen und GRÜNEN)
Kollegen von Union und FDP, haben Sie festgeschrie- Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass viele Men-
ben, die Unterschiede im Rentensystem in Ost und West schen im Osten nach 1990 meist unverschuldet ihre Ar-
endlich zu beseitigen. „Wir führen in dieser Legislatur- beit verloren haben, lange arbeitslos waren oder sind und
periode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West oftmals nur sehr schlecht bezahlte Arbeit gefunden ha-
ein“, heißt es in Ihrer Vereinbarung, und in einem Be- ben. Dies wird dramatische Spätfolgen für die Rente ha-
schluss des CDU-Bundesausschusses kann man lesen: ben. Das Problem bleibt nicht auf Ostdeutschland be-
Wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost und schränkt, wenn prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne
(B) (D)
West schaffen. nicht bekämpft werden.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Herr Kolb, ich glaube, auch Sie haben das verschiedent-
lich in der Presse bestätigt. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die so-
ziale Einheit vollenden. Dazu gehört ein einheitliches
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben dazu Rentensystem in Ost und West, und zwar noch in dieser
in der letzten Legislaturperiode Anträge einge- Legislaturperiode.
bracht!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Unterschlagen wurde in den Papieren bisher aber der
Zeitpunkt. Ich befürchte, dass die Lösung weiterhin auf Absichtserklärungen der Regierungskoalition reichen
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. nicht aus.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Anton Schaaf [SPD]: Richtig!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. An 20 Millionen Rentnern kommt man nicht vorbei. Wie
Kolb [FDP]: Bisher hatten wir viel damit zu sieht die Bundesregierung auch an dieser Stelle aus,
tun, die vom Verfassungsgericht verworfenen wenn sie 2013 feststellt, dass sie hinsichtlich der ver-
Gesetze zu heilen!) sprochenen Angleichung der Altersbezüge in Ost und
West nichts erreicht hat?
Aber auch in den alten Bundesländern – das ist heute
schon mehrfach zur Sprache gekommen – rumort es be- Ich warne jedoch davor, auf diesem Wege erneut die
reits seit längerem bei diesem Thema, weil die Men- Belange der ostdeutschen Bevölkerung zu vernachlässi-
schen in den alten Bundesländern die Ostruheständler gen. In einem Welt-Online-Artikel von heute dämpft der
bevorzugt sehen. Nach der Wiedervereinigung 1990 Unionskollege Michael Kretschmer – ich weiß nicht, ob
mussten die Ostrenten aufgewertet werden – das wissen er heute hier ist – die Erwartungen der ostdeutschen Be-
Sie alle hier –, um es den Rentnern im Osten zu ermögli- völkerung sehr deutlich. Man kann dort lesen – ich zi-
chen, ihren Ruhestand bei gesamtdeutschen Mieten und tiere –:
Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Dadurch sehen
Die Anpassung bedeutet für Ostdeutsche nicht au-
sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Westen
tomatisch eine Anhebung des Niveaus.
benachteiligt. Allerdings – Herr Weiß, hören Sie bitte
gut zu – sind die Löhne im Osten nach wie vor viel nied- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört!
riger. Wesentlich niedrigere Renten sind die Folge. Hört!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8583
Sonja Steffen
(A) Darauf hat der Kollege Schaaf schon hingewiesen. Las- verkaufen, wenn Sie, wie es heißt, „Personen mit be- (C)
sen Sie die Leute nicht im Ungewissen. Sie haben hohe stimmten Funktionen“ eine höhere Rente bescheren
Erwartungen an diese Ost-West-Angleichung. möchten? Diese Frage drängt sich in diesem Zusammen-
hang einfach auf.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Konkret fordern Sie in Ihrem Antrag, die Regelung
Michalk [CDU/CSU]: Sie sollten sie nicht des § 6 Abs. 2 im Anspruchs- und Anwartschaftsüber-
weiter schüren! Das ist ja der Punkt!) führungsgesetz zu streichen. Wir können hier ganz kon-
kret benennen, um welche Personengruppen es sich han-
Ich muss heute an dieser Stelle noch einmal darauf
delt. Dazu schweigt sich Ihr Antrag nämlich ganz
hinweisen, dass die Ostdeutschen, dass wir Ostdeutsche
vornehm aus. Es geht um Personen mit Amt und Wür-
ohnehin schon die Gebeutelten des sogenannten Sparpa-
den, zum Beispiel um ehemalige Staatssekretäre im
ketes sind. Die Zahlen der Paritätischen Forschungs-
Politbüro der SED.
stelle sprechen eine sehr deutliche Sprache: Die Kür-
zungsbeträge pro Einwohner und Jahr für den Zeitraum (Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE
2010 bis 2014 beginnen bei 22 Euro in Bayern und en- LINKE])
den bei 96 Euro in Berlin. Da die Hauptmasse der Kür-
zungen im SGB-II-Bereich liegt, sind die ostdeutschen Es geht um ehemalige Minister und ehemalige General-
Länder besonders betroffen. sekretäre des Zentralkomitees.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Was hat das jetzt (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
mit den Anträgen der Linken zu tun?)
Es geht um Staatsanwälte, Richter, Vorsitzende des
Mecklenburg-Vorpommern drohen dadurch Wertschöp- Staatsrats und weitere. Genau das ist der Personenkreis.
fungsverluste von insgesamt 840 Millionen Euro. Die Und diesem Personenkreis möchten Sie eine
Angleichung der Rente muss daher mit einem ausgewo- Höchstrente bescheren, indem Altersansprüche, die nicht
genen und wirksamen Programm zur Bekämpfung der nur durch Arbeitsleistung erworben wurden, dargestellt
Altersarmut und mit der Einführung gesetzlicher flä- werden sollen.
chendeckender Mindestlöhne verbunden sein.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Nein, keine
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Höchstrente! Einen zusätzlichen Anspruch!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie – Frau Bunge, mir ist schon die ganze Zeit aufgefallen,
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dass Sie ständig dazwischenbrüllen, wenn wir versu-
(B) GRÜNEN) chen, auch einmal andere Standpunkte darzustellen. (D)
Meine Familie gehört zu denen, die damals „freiwillig
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die DDR verlassen“ haben, wie Sie es hier so süffisant
Nächster Redner ist der Kollege Sebastian dargestellt haben.
Blumenthal für die FDP-Fraktion. (Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE
(Beifall bei der FDP) LINKE])
Es war eine große Herausforderung, Ihrem Beitrag zuzu-
Sebastian Blumenthal (FDP): hören, ohne die Fassung zu verlieren, bzw. während Ih-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich res Beitrages die parlamentarischen Gepflogenheiten
möchte auf die Drucksache 17/3888 aus dem Antragsrei- einzuhalten.
gen, den die Linken vorgelegt haben, eingehen. Darin
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
geht es um Personen mit besonderen Funktionen in der
DDR. Jetzt möchte ich Sie bitten, einfach einmal zuzuhören.
In der heutigen Debatte können wir sicherlich festhal- Das Bundesverfassungsgericht hat ja im Sommer
ten, dass es Sachverhalte gibt, die von niemandem hier festgestellt, dass die Rentenansprüche der eben genann-
infrage gestellt werden. Dazu gehört auf jeden Fall, dass ten Personenkreise zum Teil „Prämien für Systemtreue“
es in individuellen Wahrnehmungen in den neuen Bun- gewesen sind. Aber Prämien für Systemtreue sieht unser
desländern gefühlte Ungerechtigkeit gibt. So gibt es Ru- Rentensystem einfach nicht vor.
heständler, die aufgrund der Diktatur in der DDR keine
persönliche Karriere machen konnten. Auch sie haben Wir von der FDP sehen als Zielsetzung ganz klar, hier
Ungerechtigkeitsgefühle. Das sollte hier nicht ver- eine ganzheitliche Lösung zu finden. Das haben die Kol-
schwiegen werden. legen Vorredner schon ausgeführt. Auf die Wiederein-
führung einer Prämie für Systemtreue werden wir ganz
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sicher verzichten. Aus diesem Grund werden wir zumin-
der CDU/CSU) dest diesen einzelnen Antrag, den Sie vorgelegt haben,
Sie von den Linken gehen aber immer nur auf den ande- in der weiteren Beratung entschieden ablehnen.
ren Teil ein. Das zumindest besagt der Antrag, den Sie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
uns hier vorgelegt haben. Wie wollen Sie es aber den
eben genannten Menschen als angemessen oder gerecht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
8584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wie ernsthaft gehen Sie dieses Anliegen an? Einzelne (C)
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Frank kleine Nachbesserungen mögen eine geringe Chance ha-
Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ben, die meisten der Forderungen in Ihren Anträgen sind
allerdings realitätsfern; so denke ich, so denken wir. Die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- größten Chancen für einen Ausgleich – an dieser Stelle
neten der FDP) möchte ich tatsächlich doch noch eine Gruppe nennen –
sehe ich bei den Wissenschaftlern und Professoren, die
Frank Heinrich (CDU/CSU): nach der Wende die Wissenschaftslandschaft in den
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und neuen Bundesländern maßgeblich aufgebaut haben. Ihre
Kollegen! Ich stehe als Letzter in dieser Debatte und Renten müssen diese Lebensleistung nach der friedli-
merke, dass eigentlich schon alles gesagt ist. Die Argu- chen Revolution widerspiegeln. Vertreter dieser Gruppe,
mente wurden nicht nur letztes Jahr, sondern auch in die- mit denen ich in Kontakt bin, haben mir gesagt: Wir füh-
sem Jahr schon einmal ausgetauscht und liegen heute len uns in diesem Antrag nicht richtig wiedergegeben.
schon wieder auf dem Tisch. Daher möchte ich nur zu-
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Dann neh-
sammenfassen und zwei Grundgedanken in die Debatte
men Sie jetzt einmal den Einzelantrag!)
einbringen.
Wir sehen – so haben Sie es genannt, Frau Dr. Bunge –
Der erste Gedanke, der mir dabei kommt, ist: Quanti-
das Gesamtpaket. Wir wollen nicht in den gemeinsamen
tät vor Qualität. Quantitativ haben Sie sich ausgiebig mit
Topf geworfen werden. Das wird unserer Problematik
den unterschiedlichsten Ansprüchen verschiedenster
überhaupt nicht gerecht. – Ich bin sicher, dass es anderen
Gruppen beschäftigt. Das bedeutet aber nicht automa-
in anderen Bereichen ganz ähnlich geht.
tisch, dass damit auch eine Annäherung an Lösungen
stattfindet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wir haben
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wir ma-
auch mit denen zusammengearbeitet!)
chen wenigstens Vorschläge!)
Der zweite Gedanke, den ich ansprechen möchte, ist,
Viele Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fraktio-
dass einige der Anträge mit dem Wort „Gerecht“ begin-
nen – Herr Schaaf, Sie haben das gesagt – haben sich in
nen, zum Beispiel „Gerechte Alterseinkünfte“. Da gibt
den letzten Jahren bemüht, differenziert mit diesem
es ein Problem, eine Kollision. Durch die Wende – das
Thema umzugehen. Ein abschließendes Ergebnis gibt es
haben wir nicht verschwiegen – und durch die Stichtage,
noch nicht. Wir gehen davon aus und ich setze mich da-
die angesetzt wurden, sind Ungerechtigkeiten gehalten
für ein, dass wir nächstes Jahr an die nächsten Anglei-
(B) chungsschritte herangehen. Das heißt, dann wird noch worden oder entstanden. Dies betrifft aber auch generell (D)
die Frage der Generationengerechtigkeit. Junge Leute
einmal debattiert werden. Mein Einsatz wird in diese
sagen mir: Wie können Sie immer noch darüber disku-
Richtung gehen. Wir sind aber noch bei keinem Ergeb-
tieren? Es ist so geschehen. Wir müssen Rechtssicherheit
nis. Das zeigt die Komplexität.
schaffen und neu in die Zukunft denken.
Wie müssen sich die Betroffenen zum Teil fühlen,
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das sagen
wenn es immer wieder hü und hott geht? Sie machen ih-
Sie einmal den Enkeln von Betroffenen! Die
nen neue Hoffnungen, sprechen sie von Ihrer Seite aus
werden nicht so reden!)
immer wieder an und machen sie heiß. Denken Sie nur
einmal daran – Herr Blumenthal hat es gerade gesagt; Man kann nicht in allen Fällen völlige Gerechtigkeit
auch mir ist da einiges durch den Kopf gegangen –, wie erreichen. Ich habe die Frage im Ohr, warum man das in
Sie diese eine Gruppe ansprechen und wie Sie darüber einem Rechtsstaat nicht schafft. Die Herausforderung
reden. der Einzelfallgerechtigkeit können wir so nicht meistern.
Ihre 18 Anträge sind meines Erachtens nicht im Inte- Meine Kritik ist auch hier: Sie klären die Menschen
resse der einzelnen Gruppen. Das Vorgehen wird keiner nicht auf. Ich weiß – das ist bei meinen Vorrednern
oder kaum einer der Gruppen gerecht. Da wird eher in- mehrfach angeklungen –, dass Vertrauen enttäuscht wor-
strumentalisiert, und ich hinterfrage die Motive. den ist. Aber es ist viel mehr vor der Wende, vor der
friedlichen Revolution enttäuscht worden.
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann ma-
chen Sie doch einen Vorschlag!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Am Ende kann die Linke allen, jeder dieser Gruppen, sa- Worauf wurde überhaupt vertraut? Viele Planungen und
gen: Für eure Gruppe haben wir uns eingesetzt. Erwartungen sind hinfällig geworden. Es ist nachvoll-
ziehbar, dass auf die sozialen Versprechungen der DDR
(Zuruf von der LINKEN: Richtig! Sehr rich- vertraut wurde.
tig! Das stimmt!)
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Und Bei-
Schauen Sie in den Mai 2009, in das Jahr 2010, in den träge gezahlt in Zusatzversorgung!)
November und auf den 2. Dezember dieses Jahres. – Wie
komplex die Lösung von und das Herangehen an Ren- Jetzt machen Sie in Ihren Anträgen ähnliche Verspre-
tenfragen ist, kommunizieren Sie allerdings nicht. chungen. Das Wort „Willkür“ ist im Zusammenhang mit
dem Rentenrecht gefallen. Die Ungerechtigkeiten, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich hier aufgelistet habe, sind alle genannt worden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8585
Frank Heinrich
(A) Ich möchte zum Schluss sagen: Insgesamt betrachtet Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des (C)
war die Übertragung des Rentensystems West auf das Rechts der Sicherungsverwahrung und zu be-
Rentensystem Ost eine große gesellschaftliche Leistung. gleitenden Regelungen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 17/3403 –
Es war eine tolle Leistung, die in kürzester Zeit stattfand. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
Die Löhne sind danach gestiegen. Wir haben es ge- schusses (6. Ausschuss)
schafft, die Rentnerinnen und Rentner daran zu beteili-
gen. Das war überhaupt nicht selbstverständlich. Dies – Drucksache 17/4062 –
geschah immer in dem Bewusstsein, dass Ungerechtig- Berichterstattung:
keiten dabei passieren. Auch jetzt führt jede Verände- Abgeordnete Ansgar Heveling
rung zu neuen Ungerechtigkeiten. Ich habe das Bild ei- Christine Lambrecht
nes Mobiles vor Augen: Wenn wir es an einer Stelle Christian Ahrendt
belasten, wird das System kippen. Halina Wawzyniak
Die wirtschaftlichen Fehler von damals, die sich auch Jerzy Montag
in unzähligen Lebensläufen, in die widerrechtlich einge- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
griffen wurde, niedergeschlagen haben, heute entspre- SPD vor.
chend ausgleichen zu wollen, ist trotz aller Bestrebungen
nicht möglich. Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Drei-
viertelstunde zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie
(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Warum einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
denn nicht? Möglich ist das immer! Man muss
nur wollen! Alles eine Frage des politischen Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Willens!) Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler das
Wort.
Wir würden die Leistungsfähigkeit unseres Staates über-
dehnen, wenn wir für alle negativen Folgen, die das Sys- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tem für den Bürger hatte, einen Ausgleich schaffen woll-
ten. Gerechtigkeit kann man nicht gegen Gerechtigkeit Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
aufwiegen, auch ein demokratischer Rechtsstaat kann ministerin der Justiz:
das nicht. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute abschließend eines der um-
Schwer nachvollziehbar ist für mich allerdings – da- fangreichsten, schwierigsten und wichtigsten rechtspoli- (D)
(B)
mit komme ich zum Schluss –, dass die angeblichen oder tischen Vorhaben dieser Legislaturperiode. Es handelt
tatsächlichen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in sich um nicht mehr und nicht weniger als um die seit
regelmäßigen Abständen von Ihrer Seite immer wieder 1970 größte Reform des Rechts der Sicherungsverwah-
so stark betont werden. Dies steht nicht im Verhältnis zu rung aus einem Guss.
den Chancen, die mit der Erlangung der Freiheit verbun-
den waren. Deshalb erinnere ich zum Ende noch einmal (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
an den Satz von Peter Weiß, der heute den Jahrestag be-
Damit werden die teils verfehlten Detailkorrekturen der
tont hat.
letzten Jahre abgelöst. Wir schaffen nun ein in sich stim-
miges System, das den rechtsstaatlichen Anforderungen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: voll entspricht und die Sicherheitsinteressen der Bevöl-
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. kerung wahrt. Ich finde, dies ist ein sehr zufriedenstel-
lendes Ergebnis der intensiven Beratungen aller Fraktio-
Frank Heinrich (CDU/CSU): nen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages.
Er hat damit genau diese Freiheit dokumentiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sicherungsverwahrung bedeutet weiteren Freiheits-
entzug nach vollständiger Verbüßung einer schuldange-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: messenen Strafe aufgrund einer Gefährlichkeitsprog-
Ich schließe die Aussprache. nose. Das bedeutet zugleich: Dieses Institut ist zwar
notwendig, es kann und darf in einem Rechtsstaat aber
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nur die Ultima Ratio, das letzte Mittel, sein. Ich bin des-
den Drucksachen 17/3871 bis 17/3888 an die in der Ta- wegen sehr zufrieden, dass die Parlamentarier in den Be-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. ratungen des Rechtsausschusses den Katalog der Anlass-
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der taten, also derjenigen Taten, bei denen dieses
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. einschneidendste und letzte Mittel des Strafrechts noch
zur Anwendung kommen darf, sehr genau durchforstet
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 auf:
haben. Das Ergebnis ist, dass nun im Wesentlichen nur
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- noch schwere Gewalt- und Sexualdelikte und einige wei-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten tere schwere Straftaten mit hoher Strafandrohung Anlass
8586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) für die Verhängung von Sicherungsverwahrung sein Die SPD-Fraktion hat als Oppositionspartei von An- (C)
können. Damit ist der Ultima-Ratio-Charakter, den ich fang an gesagt, dass wir Sie in diesem Prozess gern,
erwähnt habe, deutlich gewahrt. Das ist ein gutes Ergeb- auch gemeinsam mit unseren sozialdemokratischen Jus-
nis der Beratungen des Rechtsausschusses. tiz- und Innenministern, konstruktiv begleiten, und wir
haben auch eine Lösung für die Altfälle eingefordert.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Von Anfang an haben wir diese Zusage gemacht, und ich
bei Abgeordneten der SPD) denke, wir haben sie auch entsprechend konstruktiv ein-
Meine Damen und Herren, unserer Meinung nach hat gehalten.
sich die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht be- Uns war es wichtig, dass bei dieser Neuregelung, zu
währt. Es ist daher besser, den Anwendungsbereich der der wir ja verpflichtet sind, die Anlasstaten, die Vortaten,
schon im Urteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung beschränkt werden auf Taten, die es tatsächlich wert
auszubauen. Genau dies geschieht mit diesem Gesetz. sind, dass jemand nach Verbüßen der Strafhaft weiter die
Schließlich mussten wir auf eine Sondersituation rea- Freiheit entzogen bekommt. So haben wir darauf hinge-
gieren, nämlich auf die Situation, dass Verurteilte aus der wirkt, dass diese Taten auf schwerste Taten gegen Le-
Sicherungsverwahrung schon entlassen wurden oder ben, körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbe-
noch zu entlassen sind, und zwar wegen eines Ihnen be- stimmung beschränkt wurden. Deswegen – das muss ich
kannten Urteils des Europäischen Gerichtshofes für an dieser Stelle auch sagen – bin ich froh, dass Sie nicht
Menschenrechte. Für diese Fälle schaffen wir das Gesetz mit einem Gesetzentwurf in die anstehenden Beratungen
zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter hineingegangen sind und gesagt haben, so bleibt es – das
Gewalttäter. Wir haben damit als Bundesgesetzgeber das wäre ja auch eine Möglichkeit gewesen –, sondern dass
getan, was uns möglich ist, um diese schwierige Situa- es im Beratungsprozess gelungen ist, gemeinsam diese
tion zu meistern. Es handelt sich dabei um eine Sonder- Veränderungen herbeizuführen.
situation, auf die wir mit speziellen Vorschriften reagie- Somit möchte ich mich an der Stelle noch einmal bei
ren. allen Kolleginnen und Kollegen dafür bedanken, dass
wir bei diesem hochemotional beladenen Thema in sehr
Ich möchte am Ende meiner kurzen Einführung allen
konstruktiven und sehr sachlichen Diskussionen hinge-
Mitgliedern des Rechtsausschusses dafür danken, dass
kriegt haben, entsprechende Neuregelungen zu schaffen.
sie in sehr konstruktiven Beratungen die Vorschläge, die
Ich denke, dieses Klima herrschte auch zu Recht. Herzli-
das Bundesjustizministerium erarbeitet hat und die die
ches Dankeschön!
Koalitionsfraktionen eingebracht haben, noch einmal
verbessert haben. Ich finde, jetzt liegt ein anspruchsvol- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
(B) les und ausgewogenes Gesamtkonzept vor, das sich FDP) (D)
durchaus sehen lassen kann.
Die Sicherungsverwahrung – Herr Staatssekretär
Vielen Dank. Stadler hat es gesagt – ist ja die schärfste Sanktion, die
das deutsche Strafrecht überhaupt kennt. Sie bedeutet
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Freiheitsentzug zum Schutz der Allgemeinheit trotz be-
SPD) reits erfolgter vollständiger Verbüßung der Haftstrafe,
wenn zu befürchten ist, dass bei jemandem weiterhin
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: eine Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit besteht.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Deswegen soll diese Ultima Ratio nur für eng begrenzte
Lambrecht für die SPD-Fraktion. Fälle möglich sein. Ich will es deutlich sagen: Es geht
nicht um ein subjektives Sicherheitsgefühl in der Bevöl-
(Beifall bei der SPD) kerung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass es
einzelne, Gott sei Dank sehr wenige Menschen gibt, die
Christine Lambrecht (SPD): tatsächlich eine permanente Gefahr für die Gesellschaft
darstellen. Für diese begründeten Einzelfälle, wirklich
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nur für die, muss es unserer Überzeugung nach auch in
gen! Vor fast genau einem Jahr hat der Europäische Ge- Zukunft die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung ge-
richtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die nach- ben.
trägliche Verlängerung der zunächst auf zehn Jahre
begrenzten Sicherungsverwahrung gegen die Europäi- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
sche Menschenrechtskonvention verstößt. Ein Jahr spä- FDP)
ter – spät, aber nicht zu spät – liegt uns jetzt ein Gesetz-
entwurf vor, der, wie ich finde und wie die SPD- Zu Beginn der Beratungen hatten wir noch einen Ent-
Bundestagsfraktion findet, durchaus eine Antwort auf wurf auf dem Tisch liegen, gegenüber dem wir sehr kri-
die Vorgaben, die uns der Europäische Gerichtshof für tisch waren, insbesondere weil darin auch Vermögensde-
Menschenrechte gemacht hat, ist. Damit wird nämlich likte enthalten waren. Unsere Position war: Wenn wir es
vor allem ermöglicht, Kinder, Jugendliche und Frauen jetzt schon neu regeln, dann sollten wir es wirklich eng
auch weiter vor Gewalttätern zu schützen, die als hoch- auf eine geringe Anzahl von Anlasstaten begrenzen –
gefährlich gelten müssen. auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Ich habe es
schon gesagt: Es ist gelungen, diese Konzentration zu er-
(Beifall bei der SPD und der FDP) reichen, und das ist auch gut so.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8587
Christine Lambrecht
(A) Unserer Meinung nach immer noch nicht gut ist, dass An diesem Knackpunkt wird sich hinterher auch ent- (C)
es nicht gelungen ist, Sie davon zu überzeugen, den letz- scheiden, ob mit dem ThUG, diesem Therapieunterbrin-
ten Schritt zu gehen, eben auch die Sicherungsverwah- gungsgesetz, das erreicht wird, was beabsichtigt ist,
rung für Heranwachsende und für Jugendliche neu zu re- nämlich Menschen in einer entsprechenden Maßnahme
geln. Dass uns das nicht gelungen ist, ist sehr schade. auf das vorzubereiten, was auf sie zukommt. Das sollte
Wir bedauern das. Da haben Sie Handlungsbedarf. Da unser aller Anspruch sein: Jeder, der in Sicherungsver-
sind Sie gefordert. Ich gehe davon aus, dass das dann wahrung untergebracht ist, muss einen Anspruch darauf
auch zügig erfolgen wird. haben, eine Perspektive zu besitzen. Diese Unterbrin-
gung darf für niemanden bedeuten: Tür zu, und das war
(Beifall bei der SPD) es. Für jeden muss vielmehr eine Perspektive eröffnet
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu werden. Das muss in den Ländern geleistet werden.
dem Therapieunterbringungsgesetz kommen. Diese Re-
gelung wurde geschaffen, weil nach dem vorhin schon Ich sage aber auch: Das wird die Länder richtig viel
genannten Urteil Menschen aus der Sicherungsverwah- Geld kosten, weil sie Therapieangebote zu machen ha-
rung entlassen wurden bzw. jetzt entlassen werden, teil- ben und für entsprechende räumliche Ausgestaltungen
weise völlig unvorbereitet auf das, was sie nach jahrelan- sorgen müssen. Deswegen habe ich auch an dieser Stelle
ger Haft und auch noch Sicherungsverwahrung in noch einmal die ganz klare Forderung: Wir dürfen die
Freiheit erwartet, und dann noch umgeben von mehreren Länder hier finanziell nicht im Regen stehen lassen, son-
Polizisten, die sie rund um die Uhr bewachen. Ich glaube, dern hier ist, bitte schön, auch der Bund gefragt.
das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen ist dieses The- (Beifall bei der SPD)
rapieunterbringungsgesetz sicherlich ein schmaler Grat,
ein schwieriger Weg, den man aber nichtsdestotrotz ge- Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es nach dem Inkraft-
hen muss. Ich glaube auch, dass die Eingrenzung, die vor- treten des Gesetzes wirklich in allen Ländern möglich
genommen wurde, eine durchaus sachgerechte und auch ist, den entsprechenden Tätern eine sogenannte Fußfes-
akzeptable Einschränkung ist. sel anzulegen; denn ich weiß nicht, ob alle Länder ent-
sprechend darauf vorbereitet sind. Ich glaube, eher nicht.
Ich will es deswegen noch einmal deutlich sagen: Es wird also wohl eine Übergangsphase geben. Wie ge-
Diese Unterbringung im Nachhinein ist nur möglich – als sagt: Hier kommt auf die Länder richtig viel Arbeit zu,
Auswirkung des Urteils –, wenn Verurteilungen aufgrund und wir sollten sie entsprechend begleiten.
von Taten erfolgt sind, die auch jetzt nach der Neurege-
lung als Vortaten der Sicherungsverwahrung gelten wür- Zusammenfassend sage ich: Der Gesetzentwurf liegt
den, und wenn zwei externe Gutachter feststellen, dass spät vor, nämlich erst nach einem Jahr, aber immerhin
(B) eine Störung vorliegt, aufgrund der die Gefahr besteht, nicht zu spät. Die geforderten Korrekturen bezogen auf (D)
dass der Verurteilte weitere Straftaten begehen wird, die Anlasstaten haben wir immerhin erreicht. Schwach-
durch die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschä- punkt bleibt natürlich, wie gesagt, dass Sie sich nicht zu
digt werden, oder dass eine hinreichend konkretisierte Veränderungen bei den Jugendlichen und Heranwach-
potenzielle schwere Straftat droht. senden durchringen können. In der Gesamtabwägung
kommen wir von der SPD-Bundestagsfraktion aber zu
Ich glaube, wir haben es mit diesen ganz engen
dem Schluss, dass mit diesem Gesetzentwurf ein gang-
Voraussetzungen geschafft, dass wirklich nur der Perso-
barer Weg aufgezeigt wird. Ich frage mich nämlich: Was
nenkreis erfasst ist, den wir auch erfassen wollen. Wir
wäre ein alternativer Weg gewesen?
wollen nämlich nicht, dass durch das Therapieunterbrin-
gungsgesetz alle, die nach dem genannten Urteil entlas- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Alternati-
sen wurden und werden, erfasst werden, sondern wirk- ven entwickeln!)
lich nur die Schwerstkriminellen, von denen zu erwarten
ist, dass sie in genau den gerade angeführten Bereichen Etwa nichts zu tun und dabei zuzuschauen, wie höchst ge-
hinterher rückfällig werden. Ich glaube, für diese ist der fährliche Straftäter völlig unvorbereitet in eine untrag-
Gesetzentwurf auch angemessen. bare Situation entlassen werden, sodass Gefahr von ihnen
ausgeht? Ich sage Ihnen: Das ist kein verantwortbarer
Es ist ein Novum, dass im Gesetzentwurf von der psy- Weg. Deswegen haben wir uns entschieden, Verantwor-
chischen Störung gesprochen wird. Diesen Begriff kann- tung zu übernehmen. Wir werden diesem Gesetzentwurf
ten wir im deutschen Recht bisher nicht. Wir kennen die zustimmen.
psychische Krankheit, aber nicht die psychische Stö-
rung. Ich glaube aber durchaus, dass das mit dem, was Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
uns aus Europa vorgegeben worden ist, zu vereinbaren
ist. Ich sage aber auch: Es kommt jetzt darauf an, was (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Länder daraus machen. Allein die Buchstaben des der CDU/CSU und der FDP)
Gesetzes werden nicht entscheidend sein. Auch das Ur-
teil ist ja nicht erfolgt, weil etwas im Gesetz stand, son- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dern weil die Sicherungsverwahrung in Deutschland so Das Wort hat nun die Kollegin Andrea Voßhoff für
ausgestaltet war, dass sie nichts anderes als eine Verlän- die CDU/CSU-Fraktion.
gerung der Strafhaft war. Das war die Situation, die vor-
gefunden wurde. Darauf wurden wir auch hingewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Trotzdem wurde in den Ländern nichts verändert. neten der FDP)
8588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): eingestuft werden, aufgrund des Urteils des EGMR ent- (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! lassen werden? All dieses stellte für die Bürger ein Pro-
Es ist vom Staatssekretär schon gesagt worden: Die blem dar, und sie wussten nicht, wie sie mit den dadurch
christlich-liberale Koalition legt heute einen Gesetzent- ausgelösten Ängsten umgehen sollten.
wurf zur abschließenden Neugestaltung der Sicherungs-
verwahrung vor, einen Gesetzentwurf mit einer rechts- Schutzlücken im Gesetz zu schließen, war demzu-
politischen Tragweite von – ich glaube, das sagen zu folge der Auftrag und der Anlass für unsere Reform. Es
können – grundsätzlicher Bedeutung. Nach meiner Erin- ist schon gesagt worden: Wir haben Ihnen heute in drei
nerung hat es, seitdem ich im Bundestag bin, kein anderes Bereichen gute Regelungen vorgelegt.
Gesetzgebungsverfahren in der Rechtspolitik gegeben, Erstens. Für künftige schwere Gewalt- und Sexual-
das in der öffentlichen Wahrnehmung zu Recht so auf- straftäter haben wir die Sicherungsverwahrung unter Be-
merksam diskutiert und verfolgt worden ist. rücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und auch
Ich denke auch, sagen zu können – das wissen all die, des Urteils des EGMR neu geregelt. Aufgrund der Neu-
die sich intensiver damit befasst haben –, dass gerade ordnung der primären, aber auch der Ausweitung der
diese Materie zu den komplexesten und schwierigsten vorbehaltenen Sicherungsverwahrung insbesondere auch
im Bereich des Strafrechts, des Strafprozessrechts und auf Ersttäter sind wir ebenso wie viele Sachverständige
des Strafvollzugs gehört und es demzufolge in besonde- der Auffassung, dass die umstrittene nachträgliche Si-
rer Weise eine Herausforderung war. Das wird jeder fest- cherungsverwahrung in Zukunft entbehrlich ist. Deshalb
stellen, der schon einmal in den Gesetzentwurf hineinge- unterstützen wir dies – und das haben wir auch nachhal-
schaut hat. tig gefordert – gerade im Bereich der Sicherungsverwah-
rung für künftige Fälle.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute zur ab-
schließenden Beratung vorlegen, regeln wir nicht nur Zweitens. Für die Altfälle haben wir mit der Beibe-
das Recht der Sicherungsverwahrung nahezu komplett haltung der bisherigen Regelungen zur Sicherungsver-
neu, sondern – das ist auch die Auffassung der Union – wahrung eine, wie wir meinen, im Ergebnis tragfähige
wir werden hiermit künftig auch ausgewogen und ver- Lösung gefunden. Ich weiß – darüber haben wir auch im
antwortbar Schutzlücken im Recht der Sicherungsver- Rechtsausschuss diskutiert –, dass das nicht unumstritten
wahrung schließen und damit den Ansprüchen gerecht, ist. Ich denke allerdings, dass das BMJ sehr abgewogen
die die Bürger an uns haben. Ich glaube, all das wird mit und im Ergebnis sehr überzeugend dargelegt hat, dass
diesem Gesetzentwurf zu einem großen Teil erreicht. die im Gesetz beabsichtigte Übergangsregelung als ver-
tretbar anzusehen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(B) neten der SPD und der FDP) Einen dritten Punkt möchte ich noch nennen, der hier (D)
auch schon angesprochen worden ist, nämlich die soge-
Die Neuordnung der Sicherungsverwahrung gehörte nannten Parallelfälle. Es geht darum, wie wir mit denje-
ja von Anfang an – auch das hat der Staatssekretär er- nigen umgehen, die aufgrund des Urteils des EGMR be-
wähnt – zu den umfassendsten rechtspolitischen Vorha- reits in die Freiheit entlassen werden mussten oder in
ben dieser christlich-liberalen Koalition. Nachdem in ei- absehbarer Zeit in die Freiheit entlassen werden. Es ist
ner Vielzahl von Gesetzesinitiativen der vergangenen von meinen Vorrednern gesagt worden: Mit dem Thera-
Jahre immer wieder einzelne Bereiche geregelt wurden, pieunterbringungsgesetz haben wir auf eine Sondersitua-
ist das Recht insgesamt unübersichtlich geworden. Es tion, die einen begrenzten Personenkreis betrifft, rea-
gibt wohl kaum eine andere Materie, die mit so unter- giert. Für den vorliegenden Gesetzentwurf – ich weiß, es
schiedlich divergierenden Entscheidungen von Bundes- ist nicht unumstritten, und es gibt immer auch Argu-
gerichten bis hin zum EGMR leben musste. Die Ursa- mente dagegen – gilt hier mein besonderer Dank dem
chen kennen wir. Die Folgen haben wir heute mit dem BMJ, das den engen Korridor, den das EGMR in Art. 5
Gesetzentwurf nicht nur zu lösen versucht, sondern auch ermöglicht hat, sehr abgewogen und rechtstechnisch
auf einem guten Weg – wie ich finde – lösen können. sehr gut umgesetzt hat.
Wir standen vor der schwierigen Frage – ich sagte es Von Vertretern der Linken musste ich heute lesen, mit
bereits –, im Lichte der divergierenden Entscheidungen diesem Gesetz würden wir uns dem Druck der Stammti-
von Obergerichten einschließlich des EGMR das Recht sche beugen. Dazu kann ich nur sagen: Meine Damen
der Sicherungsverwahrung neu zu regeln und im Span- und Herren von der Linken, sprechen Sie doch einmal
nungsfeld dieser unterschiedlichen Entscheidungen auch mit den besorgten Eltern, in deren Nachbarschaft solche
einen Weg zu finden, um die Lücken, die die Entschei- Straftäter wohnen, die aus einem ganz anderen Grund
dungen des EGMR, aber auch Entscheidungen des Bun- freigelassen wurden als aus dem, dass sie nicht mehr ge-
desverfassungsgerichts und infolgedessen des BGH auf- fährlich sind. Ich glaube nicht, dass Sie mit solchen Pa-
gerissen haben, zu schließen. rolen dort überzeugen können.
Die durch das EGMR-Urteil entstandene Situation (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
wurde hier schon angesprochen; ich brauche es daher bei Abgeordneten der SPD)
nicht im Einzelnen zu thematisieren. Viele betroffene
Bürger und Eltern haben sich an uns gewandt und ge- Meine Damen und Herren, es ist schon erwähnt wor-
fragt: Ist es richtig und was tut der Staat dagegen, dass den: Im Nachgang zur Anhörung haben wir einige wei-
immer noch Straftäter, die erklärtermaßen als gefährlich tere Änderungen vorgenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8589
Andrea Astrid Voßhoff
(A) Sozusagen im Lichte der Auswertung der Anhörung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
haben wir den Kreis der Anlasstaten nochmals einge- Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak
grenzt, um die Ultima-Ratio-Funktion der Sicherungs- für die Fraktion Die Linke.
verwahrung deutlich zu dokumentieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben weiterhin das Erlöschen des Vorbehalts
beim Bewährungswiderruf rückgängig gemacht. Das be- Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
deutet, dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung bei Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
jemandem, der vorzeitig auf Bewährung freigelassen Herren! Mir scheint, dass wir in zwei verschiedenen
wird, nicht automatisch erlischt. Vielmehr kann der Vor- Welten leben. In der Debatte um die zukünftige Ausge-
behalt der Sicherungsverwahrung wieder aufleben, wenn staltung der Sicherungsverwahrung hat ein von mir sehr
die Bewährung aus welchen Gründen auch immer – bei- geschätzter Kollege aus den Reihen der Union sinnge-
spielsweise weil er Straftaten begangen hat oder erneut mäß gesagt: Absolute Sicherheit wird es nicht geben.
auffällig geworden ist – aufgehoben wird. Im Nachgang Deshalb ist immer eine Abwägung zwischen den Sicher-
zu der Anhörung ist es auch gelungen, die Frist für die heitsinteressen der Bevölkerung und dem rechtsstaatli-
Rückfallverjährung von 10 auf 15 Jahre zu verlängern. chen Umgang mit Straftätern notwendig.
Wenn man dies alles zusammennimmt, dann ist diese (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ein gu-
grundlegende Reform der Sicherungsverwahrung – das ter Mann!)
habe ich eingangs gesagt – ein tragfähiges Konzept für
die Zukunft. Das ist – nach den Regelungen der vergan- Diese Aussage kann ich bedingungslos teilen.
genen Jahre – ein großer Erfolg der christlich-liberalen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie
Koalition. Es ist nicht in allen Punkten unumstritten; das werden langsam klüger!)
wissen wir. Aber die Materie ist außerordentlich kom-
plex und schwierig. Ich glaube, wir können sie alle bedingungslos teilen. Sie
entspricht auch den übereinstimmenden Einschätzungen
Ich meine, die christlich-liberale Koalition hat in die- aller Sachverständigen, die wir in den letzten Wochen zu
ser Frage den richtigen Weg gefunden und in den offe- diesem Thema gehört haben.
nen Punkten einen guten Kompromiss erzielt. Dass sich
die Linken dem nicht anschließen können, kann man Aber mit dem vorgelegten Gesetzentwurf kommt die
schon deren Stellungnahme entnehmen. Die Kollegin Koalition in ihrer Abwägung zu einem Ergebnis, das
Lambrecht hat es bereits angesprochen. Die Grünen ent- diesem Anspruch bedauerlicherweise nicht gerecht wird
und bei dem erhebliche rechtsstaatliche Bedenken beste-
(B) wickeln sich leider zu einer Dagegen-Partei. Es gibt – so hen bleiben. Deshalb können wir Linken den Gesetzent- (D)
wurde es auch von der SPD vorgetragen – gute Gründe,
diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. wurf nicht mittragen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass die Sicherungsverwahrung unter rechtsstaatli-
chen Gesichtspunkten ein problematisches Instrument
– Das muss nicht sein, keine Frage. Es zeigte sich aber in ist, wird selbst von konservativen Strafrechtlern nicht
den Beratungen, dass wir in vielen Fragen nicht nur ei- bestritten. Deshalb sagen auch Befürworter der Siche-
nen guten Kompromiss, sondern auch einen vertretbaren rungsverwahrung, dass dieses Mittel nur die Ultima Ra-
Weg gefunden haben. tio sein darf. In der Abwägung der Koalition wird jedoch
dieses rechtsstaatlich fragwürdige Instrument nicht be-
Auch ich darf mich beim BMJ und beim Koalitions-
schränkt. Das postulierte Ziel der Sicherungsverwahrung
partner für die guten konstruktiven Gespräche im Rah-
als Ultima Ratio wird nicht eingehalten. Massive Beden-
men unserer Berichterstattung bedanken. Das war wich-
ken hinsichtlich der Europarechtskonformität werden
tig und gut. Wir haben viele Anregungen aufgenommen
ignoriert. Das Gesetzgebungsverfahren war allenfalls
und, wie Sie sehen, die eine oder andere auch umgesetzt.
formal von dem Bemühen geprägt, ein größtmögliches
In diesem Sinne darf ich an die Länder appellieren. Es Einvernehmen herzustellen. Inhaltlich hat die Koalition
ist von entscheidender Bedeutung – das wäre es schon es schlicht durchgezogen.
die ganzen Jahre über gewesen, aber jetzt erst recht –, Sicherungsverwahrung bedeutet im Kern, dass Men-
dass die Länder die Umsetzung der Sicherungsverwah- schen, die für früher begangene Straftaten eine Freiheits-
rung jetzt endlich neu anpacken. Ich weiß, dass es eine strafe verbüßt haben, aufgrund einer vermuteten Gefähr-
Arbeitsgruppe auf Länderebene und ein erstes Kriterien- lichkeit für die Zukunft präventiv weggesperrt werden.
papier gibt. Auch dort ist man also auf einem guten Weg. Das aber steht im Widerspruch zum Schuldprinzip des
Unser Gesetz kann nur so gut sein wie die anschließende deutschen Strafrechts. Der Gesetzentwurf manifestiert
Umsetzung in den Ländern. Deshalb darf ich hoffen, diesen Widerspruch, und deshalb lehnen wir ihn ab.
dass die Länder an dieser Stelle zügig weitermachen.
Wir sind es der Sicherheit unserer Bürger schuldig. (Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank. Wir erleben heute die zweite und dritte Beratung ei-
nes Gesetzentwurfs, der fast genauso aussieht, wie er
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eingebracht wurde. Ich erinnere daran: Der Gesetzent-
8590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Halina Wawzyniak
(A) wurf wurde von der Koalition wenige Tage vor der ers- wirklich zustimmen wollen. Manchmal – nicht nur an (C)
ten Lesung eingebracht. Die Begründung umfasste dieser Stelle – ist es richtig, auch einmal dagegen zu
knapp 100 Seiten. Danach gab es eine Sachverständigen- sein. Der Rechtsstaat würde es Ihnen danken.
anhörung und zwei sogenannte Orientierungsgespräche.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir Linke waren die einzige Fraktion, die trotz erhebli-
cher grundsätzlicher Bedenken gegen den ganzen Ansatz
nach der Sachverständigenanhörung eine schriftliche Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Stellungnahme für das Orientierungsgespräch vorgelegt Der Kollege Jerzy Montag hat nun das Wort für die
haben, in der wir detailliert und sehr konkret einen er- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
heblichen Änderungsbedarf aufgezeigt haben. Aber was
ist jetzt das Ergebnis der Anhörung und der Orientie- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rungsgespräche? Lediglich an einem einzigen Punkt ha- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ben Sie Veränderungen vorgenommen, nämlich bei den Sehr geehrte Frau Kollegin Voßhoff, in der gestrigen
Anlassstraftaten. Der Preis für diese Veränderung war Rechtsausschusssitzung haben wir Grünen – auch die
die Verlängerung der Frist für die Rückfallverjährung SPD, aber ich rede jetzt von uns – Ihnen diverse, gut be-
auf 15 Jahre. So etwas nennt man Kopplungsgeschäft. gründete Vorschläge unterbreitet, wie man den Gesetz-
Selbst die Veränderung bei den Anlassstraftaten führt entwurf zur Reform der Sicherungsverwahrung verbes-
nicht zu dem Ziel, die Sicherungsverwahrung als Ultima sern kann. Die Union war an dieser Stelle die Dagegen-
Ratio zu gestalten. Immer noch zählen Staatsschutzde- Partei; denn Sie haben immer dagegen gesprochen. Sie
likte und Delikte nach dem Betäubungsmittelgesetz zu haben die Vorschläge sogar abgelehnt, als wir darüber
den Anlassstraftaten. abgestimmt haben.
Doch damit nicht genug. Trotz erheblicher Bedenken (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
reicht es aus, dass der Hang nicht festgestellt, sondern
Lassen Sie also bitte schön diese Mätzchen, zu denen
weiter nur wahrscheinlich sein muss. Aber auch damit
Sie sich offensichtlich in dieser Woche verabredet ha-
nicht genug: Trotz erheblicher Kritik an der Europa-
ben. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, was das hier
rechtskonformität wurde die vorbehaltene Sicherungs-
für eine Veranstaltung ist. In einer Demokratie streiten
verwahrung ausgeweitet mit der Begründung, dies sei
die Parteien und Fraktionen um die beste Lösung.
günstig für die Therapie. Wir sind der Auffassung, dass
diese Begründung absurd ist. Mit dem Damoklesschwert (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge-
der Sicherungsverwahrung wird jeder Therapieansatz nau!)
konterkariert.
(B) Wenn man die beste Lösung gefunden hat, dann stimmt (D)
(Beifall bei der LINKEN) man dieser zu. Wenn man aber mit einer schlechten Lö-
sung konfrontiert wird, wie Sie sie uns vortragen, dann
Trotz erheblicher Kritik an der Europarechtskonfor- ist man dagegen. Das ist das Wesen der Demokratie und
mität bleibt die Regelung der nachträglichen Sicherungs- des Parlamentarismus.
verwahrung für Altfälle bestehen. Wir werden also bis
zu 15 Jahre weiter eine nachträgliche Sicherungsverwah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rung haben. An dieser Stelle frage ich Sie mit den Wor- Lassen Sie also diese gegen uns Grüne gerichteten Mätz-
ten von Herrn Renzikowski: Wer zahlt eigentlich die chen. Uns schadet das nicht; aber es fällt Ihnen auf die
Schadensersatzforderungen, wenn diese Fälle vor dem eigenen Füße.
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhan-
delt werden und die Betroffenen recht bekommen? (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber
es scheint Sie zu treffen!)
Zum Schluss zum Therapieunterbringungsgesetz; das
ist Art. 5 des Gesetzentwurfs. Die vorgeschlagenen Rege- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition aus
lungen zum Therapieunterbringungsgesetz wurden von CDU/CSU und FDP hat vor über einem Jahr vereinbart
allen Sachverständigen als problematisch bezeichnet. und in der Koalitionsvereinbarung zu Papier gebracht,
Sie wissen, dass die Gesetzgebungskompetenz umstrit- die Sicherungsverwahrung grundlegend zu reformieren.
ten ist. Sie etikettieren Menschen um zu psychisch Ge- Kaum war die Tinte trocken, entschied der Europäische
störten, trotz erheblicher europarechtlicher Bedenken. Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 2009,
Das führt zu einer Psychiatrisierung, hilft aber nieman- dass die frühere schwarz-gelbe Koalition unter Kohl im
dem weiter. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Thera- Januar 1998 einen entscheidenden Fehler im Rahmen
pie gefordert. Sie haben das nicht aufgegriffen. Deshalb der Sicherungsverwahrung gemacht hat und dass dieser
ist es gut und richtig, dass das Land Brandenburg den Fehler im Ergebnis ein Verstoß gegen europäische Men-
Vermittlungsausschuss in Sachen Sicherungsverwahrung schenrechte ist. Es wäre also an der Zeit gewesen, sich
anrufen wird. sofort im Dezember 2009 an die Arbeit zu machen, um
Ihren eigenen Reformwillen zu zeigen und um der Ent-
(Beifall bei der LINKEN) scheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte nachzukommen.
Für uns ist es unmöglich, diesem Gesetzentwurf zuzu-
stimmen. An dieser Stelle möchte ich eine Bitte an die Was haben Sie aber gemacht? Sie haben eine Be-
Kolleginnen und Kollegen der SPD richten: Überlegen schwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschen-
Sie sich noch einmal, ob Sie diesem Gesetzentwurf rechte eingereicht, die von vornherein aussichtslos war.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8591
Jerzy Montag
(A) Der Gerichtshof hat sie nicht einmal zur Entscheidung denn darunter werden auch solche sein, die weder thera- (C)
angenommen. Auf diese Art und Weise haben Sie viele piewillig noch therapiefähig sind.
Monate verstreichen lassen, viele Monate, in denen wir
Die Lösung unter Berücksichtigung des Urteils des
im Parlament über eine Reform hätten diskutieren kön-
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätte
nen, die uns, den Ländern und der Polizei viele Probleme
sein müssen – das haben wir auch gefordert –, diesen
erspart hätte, die wir jetzt haben. Verstoß gegen die Menschenrechte wiedergutzumachen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) indem man die betroffenen Menschen auf freien Fuß
setzt. Unter dem Strich ist der Gesetzentwurf zu
Nun beraten wir abschließend über einen Gesetzent- schlecht, als dass wir ihm zustimmen könnten. Wir wer-
wurf der Koalitionsfraktionen. Zuerst zum einzigen den ihn ablehnen.
positiven Punkt. Dass Sie schon in Ihrem ersten Vor-
schlag eine Begrenzung bei den Anlasstaten vorgenom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
men haben, haben wir gesehen und gewürdigt. Wir alle
– nicht nur die SPD – haben kritisiert, dass der Anlassta- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
tenkatalog zu weit gefasst ist. Dieser ist nun eingeengt Nächster Redner ist der Kollege Christian Ahrendt für
worden; das ist gut. Aber die Vorschriften betreffend den die FDP-Fraktion.
Staatsschutz, das Drogenstrafrecht und die Kriegsverbre-
chen – dies sind sicherlich schwere Straftaten – haben (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mit der Sicherungsverwahrung nicht das Geringste zu der CDU/CSU)
tun. Es wäre deshalb richtig gewesen, sich, wie es die
Ministerin im Sommer versprochen hat, auf schwerste Christian Ahrendt (FDP):
Gewalttaten und schwere Sexualstraftaten zu beschrän- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol-
ken. Das haben Sie nicht getan. Selbst beim einzigen gu- leginnen und Kollegen! Bevor ich unangenehm werde,
ten Punkt sind Sie auf halbem Weg stehen geblieben. Folgendes vorweg: Es waren gute Beratungen. Wir
freuen uns, dass wir nun ein gutes Gesetzeswerk vorle-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen und dass es uns gelungen ist, viele gute Vorschläge
Zu den negativen Punkten. Sie haben gesagt, Sie der Opposition, insbesondere von der SPD-Fraktion,
wollten die nachträgliche Sicherungsverwahrung ab- aufzunehmen. Aber das, was Sie vorgetragen haben,
schaffen. Aber Sie haben es nicht getan. Aufgrund fal- Herr Montag, ist eine bodenlose Frechheit. Die nachträg-
scher Übergangsbestimmungen wird es noch in über liche Sicherungsverwahrung, über die Sie sich beklagen,
haben Sie 2004 im Bundestag beschlossen. Nun bekla-
15 Jahren Fälle geben, in denen die nachträgliche Siche-
gen Sie, dass wir sie nicht so abschaffen, wie Sie wollen.
(B) rungsverwahrung drohen kann und eventuell verhängt Sie hätten diese Regelung erst gar nicht einführen sollen. (D)
werden wird. Über 15 Jahre werden wir einen Doppel- Das ist der erste Fehler.
standard haben, weil Sie sich nicht entschließen konnten,
eine vernünftige Übergangsregelung zu schaffen. Beson- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ders schlimm ist, dass Sie nicht die Kraft gefunden ha-
Damit bin ich auch beim Kernproblem. Das gesamte
ben, die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Jugend-
Recht der Sicherungsverwahrung ist ein Flickenteppich.
strafrecht – diese halten Sie selbst für falsch –
Ich gebe Ihnen recht: Es war ein Fehler, 1998 die
abzuschaffen; das wäre notwendig gewesen. Das kriti- Höchstgrenze von zehn Jahren abzuschaffen – das hat
sieren wir. Auch deswegen werden wir Ihrem Gesetzent- uns das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Men-
wurf nicht zustimmen. schenrechte dieses Jahr eingebracht –, weil wir damit ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen das Rückwirkungsverbot verstoßen haben. Aber was
in diesem Jahr gelungen ist, ist Folgendes: Wir haben
Dass Sie die vorbehaltene Sicherungsverwahrung mit dem Gesetzentwurf das Recht im Hinblick auf die
ausbauen, ist ein Fehler, meine Damen und Herren von Sicherungsverwahrung wieder vom Kopf auf die Füße
der Koalition. Sie beziehen die Ersttäter ein und setzen gestellt. Deswegen muss man sich an dieser Stelle bei
das Maß der Wahrscheinlichkeit für den Richter so ge- der Bundesjustizministerin bedanken; denn sie hat den
ring an, dass es Hunderte, vielleicht sogar Tausende vielen, relativ forsch vorgetragenen Vorschlägen wider-
Fälle geben wird, in denen der Vorbehalt erklärt wird. standen und ist konsequent bei ihrem Gesetzentwurf ge-
Das führt zu einem Chaos im Strafvollzug; denn diese blieben. Sie hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt,
Menschen werden ganz anders behandelt als andere. den wir bei den Beratungen im Parlament noch weiter
verbessert haben. Deswegen geht mein ganz besonderer
Des Weiteren stellt das geplante Therapieunterbrin- Dank an das Justizministerium.
gungsgesetz keine Lösung für die Zukunft dar. Dieses
Gesetz gilt für einen sehr begrenzten Personenkreis. Von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
diesem Personenkreis werden Sie nur einen ganz kleinen der CDU/CSU)
Subkreis erfassen, nämlich diejenigen, bei denen sich ein
Zivilgericht dazu hergibt, sie für psychisch gestört zu er- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
klären. Da die Länder in diesen wenigen Fällen keine Herr Kollege Ahrendt, gestatten Sie eine Zwischen-
Möglichkeiten haben, die Betroffenen entsprechend un- frage des Kollegen Ströbele?
terzubringen, werden sie diese Menschen in psychiatri-
sche Krankenhäuser stecken. Diese Häuser wehren sich (Marco Buschmann [FDP]: Same procedure as
schon heute gegen die Aufnahme solcher Menschen; every time!)
8592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Christian Ahrendt (FDP): Herr Montag kritisiert hat, und dafür die vorbehaltene (C)
Gerne. Sicherungsverwahrung ausbauen, erreichen wir zwei
Dinge: Wir machen die Anwendung des Rechts sowohl
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für die Bevölkerung, die wir schützen müssen, als auch
Bitte. für die Täter, die resozialisiert werden sollen, sicherer.
Wenn die Täter den Vorbehalt auf dem Weg in die Haft
mitbekommen, dann wissen sie, worum sie sich in der
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Haft kümmern müssen. Dann können sie aktiv an der
GRÜNEN): Resozialisierung, an Therapien mitwirken; denn sie wis-
Herr Kollege Ahrendt, wenn Sie die Frau Justizminis- sen: Wenn sie aktiv sind, können sie den Vorbehalt wi-
terin loben, derlegen. Das ist viel besser, als wenn sie am Ende der
(Marco Buschmann [FDP]: Was immer gut Strafverbüßung erfahren, dass die nachträgliche Siche-
ist!) rungsverwahrung verhängt wird und sie nicht mehr die
Chance haben, in die Freiheit entlassen zu werden. Inso-
dann kann das nicht nur daran liegen, dass sie aus Ihrer fern ist das ein ganz entscheidender Fortschritt, wobei
Partei und Fraktion kommt. Sie sollten auch dazu Stel- wir bei der Abwägung darauf achten, dass wir die
lung nehmen, was der Kollege Montag gesagt hat, näm- Grundrechte der Täter schützen. Wir geben ihnen mit
lich dass die Justizministerin nicht nur in einer Veran- diesem Instrument die Möglichkeit, in Freiheit zu kom-
staltung, sondern den ganzen Sommer über in der men.
Diskussion über die Veränderung der Sicherungsverwah-
rung immer wieder betont hat, dass sie dieses verfas- Es ist auch richtig gewesen, dass wir die Frist für die
sungsrechtlich schwierige und problematische Instru- Rückfallverjährung für Sexualstraftäter auf 15 Jahre ver-
ment nur ganz eng bei Gewalttaten und Straftaten gegen längert haben; denn das ist ein ganz besonders gefährli-
die sexuelle Selbstbestimmung einsetzen will. cher Täterkreis. Die Beratungen im Rechtsausschuss und
die Beratungen mit den Sachverständigen haben gezeigt,
Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor – dafür loben
dass wir ein gutes Stück vorangekommen sind.
Sie die Bundesministerin auch noch –, der eine Auswei-
tung auf viele andere Tatbestände wie Diebstahl, Zerstö- Was ein Problem bleibt – das ist eine schwierige Grat-
ren einer Telefoneinrichtung und Ähnliches vorsieht. wanderung, die das Justizministerium aber erfolgreich
Das passt irgendwie nicht zusammen. Wollen Sie Ihr gemeistert hat –, ist das Therapieunterbringungsgesetz.
Lob nicht ein bisschen einschränken? Auf der einen Seite beschäftigen wir uns mit der Frage:
Sind wir zuständig? Oder ist der Aspekt der Gefahrenab-
(B) Christian Ahrendt (FDP): wehr schon so groß, dass eigentlich die Länder zuständig (D)
Nein, im Gegenteil. Der Gesetzentwurf veranlasst sind? Auf der anderen Seite haben wir das Problem mit
mich, mein Lob zu verstärken. Denn das Justizministe- dem Rückwirkungsverbot, weil die Sicherungsverwah-
rium und die Koalition haben zusammen mit der SPD rung vom Bundesverfassungsgericht als Strafe angese-
gezeigt, dass es im Gesetzgebungsverfahren möglich ist, hen worden ist und die Zuständigkeit deshalb beim Bund
ein Gesetz ein Stück weit zu verbessern. An einer Stelle liegt.
gebe ich Ihnen recht. In dem Entwurf stand, dass alle
Straftaten mit einer Strafe über zehn Jahren zu einer Si- Mit dem Recht, das wir hier geschaffen haben, haben
cherungsverwahrung führen können. Wir haben das, was wir zum einen den Schutz für die Bevölkerung herge-
Herr Montag in der ersten Lesung kritisiert hat, in den stellt, den wir vor dem Hintergrund, dass es jetzt Straftä-
Beratungen aufgenommen, diese Einwände mit dem Jus- ter gibt, die zu entlassen sind, brauchen. Wir haben aber
tizministerium abgeklärt und das Gesetz neu gefasst, so- zum anderen dafür gesorgt, dass diese Straftäter aus dem
dass jetzt die Ultima Ratio im Gesetz steht: nur schwere normalen Vollzug herauskommen und in eine gesonderte
Straftaten. Therapie kommen und somit in der Lage sind, sich dort
entsprechend zu resozialisieren.
(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) An dieser Stelle muss man einfach sagen, dass dies
nicht immer im Verantwortungsbereich der Bundesregie-
– Lassen Sie mich ausreden, Herr Kollege. – Deshalb rung liegt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die
haben wir gemeingefährliche Straftaten aufgenommen; Länder für die Strafvollstreckung zuständig sind. Es
denn es ist gefährlich, wenn jemand in Serie Brände legt. liegt auch an den Ländern, in diesem Bereich besser zu
Wenn eine entsprechende Gefährlichkeit des Täters ge- werden; denn im Urteil des Europäischen Gerichtshofs
geben ist, kann die Sicherungsverwahrung verhängt wer- für Menschenrechte steht, über mehrere Seiten deutlich
den. Wir können uns als Parlament für diese entschei- ausgeführt, dass das, was in der Vergangenheit im Voll-
dende Verbesserung, die im Gesetzgebungsverfahren zug der Sicherungsverwahrung in den Ländern geleistet
erfolgt ist, selbst loben. worden ist, nicht ausreicht. Hier sind jetzt die Länder ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fordert. Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden.
Ich möchte an der Stelle die Gelegenheit ergreifen, Wir haben heute die Möglichkeit, ein gutes Gesetz zu
die weiteren Punkte auszuführen, die wir bei der Siche- verabschieden. Dieses Gesetz verbessert die Situation
rungsverwahrung verbessern. Dadurch, dass wir die der betroffenen Sicherungsverwahrten. Was aber ent-
nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffen, was scheidend ist: Es schützt die Bevölkerung, und darum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8593
Christian Ahrendt
(A) geht es uns. Deswegen können wir diesem Gesetz guten Christian Ahrendt (FDP): (C)
Gewissens zustimmen. Herr Kollege Montag, ich hätte nicht so vehement
reagiert, wenn Sie das, was Sie eben gesagt haben, auch
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. in Ihrer Rede angesprochen hätten. Sie hatten den Ein-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) druck erweckt, mit der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung nichts zu tun zu haben. Tatsächlich haben Sie
sie verabschiedet. Es wäre also anständig von Ihnen ge-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wesen, sich so zu äußern, wie ich es gemacht habe. Die
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen FDP hat damals 1998 zusammen mit der CDU/CSU die
Montag das Wort. Zehnjahresfrist abgeschafft, das war ein Fehler. Deswe-
gen müssen wir diesen Fehler korrigieren, indem wir das
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte berücksichtigen.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Ahrendt, ich
habe mich noch einmal zu Wort gemeldet, weil Sie mich Aber diese Kraft haben Sie nicht aufgebracht. Sie ha-
in Ihrem Beitrag persönlich angesprochen haben und mir ben hier den Eindruck erweckt, als hätten Sie mit der
nicht nur meine sachliche Kritik, sondern eine ungeheu- nachträglichen Sicherungsverwahrung, die viele Pro-
erliche Unverschämtheit meinerseits oder etwas in die- bleme mit sich bringt, die in der Wissenschaft und in der
sem Sinne vorgeworfen haben. Praxis nicht gerade mit freundlichen Kommentaren be-
dacht wird, nichts zu tun. Die Äußerung von Ihnen, dass
Herr Kollege, ich will Ihnen sagen: Sie erleben jetzt dem nicht so ist, hat mir gefehlt.
die Schwierigkeiten, die man in einer Regierungskoali-
tion hat, wenn man der kleinere Koalitionspartner ist. Ich Es ist natürlich schwierig – das ist der zweite Teil
hatte nicht die Zeit, in meinen fünf Minuten darüber zu meiner Antwort –, sich in einer Koalition durchzuset-
reden, dass die Frist für die Rückfallverjährung, die bis- zen. Aber wenn man sich diesen Gesetzentwurf an-
her – über Jahrzehnte – mit fünf Jahren eine gute Vorlage schaut und sich klarmacht, was die Ministerin dazu bei-
für die Justiz in Deutschland in Sicherungsverwahrungs- getragen hat, dann muss man feststellen: Sie hat sich in
fällen gewesen ist, von der Union auf zehn Jahre ange- dieser Koalition trotz der Kompromisse, die gemacht
hoben worden ist. In den letzten Beratungen wurde of- worden sind – die Kompromisse sind gut; ich trage sie
fensichtlich in der Koalition ein Geschäft gemacht; denn mit –, sehr erfolgreich durchgesetzt. Wir haben das
sie wurde sogar auf 15 Jahre angehoben. Recht der Sicherungsverwahrung wieder vom Kopf auf
die Füße gestellt. Deswegen freue ich mich, dass wir das
Ich wage die Hypothese: Das hat Ihnen und der FDP Gesetz heute zusammen mit der CDU/CSU und auch mit (D)
(B) nicht gefallen, aber Sie mussten das schlucken. So ähn-
der SPD verabschieden können.
lich war die Situation bei der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung im Jahr 2004. Die SPD wollte sie unbedingt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wir Grüne wollten sie nicht. Deswegen haben wir uns der CDU/CSU)
mit Erfolg dafür eingesetzt, dass sie so rechtsstaatlich
eingeführt wurde, dass in den sechs Jahren seitdem nicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mehr als 20 Menschen in nachträgliche Sicherungsver- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
wahrung gekommen sind. Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
Sie kennen unsere grundsätzliche Kritik an der nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
träglichen Sicherungsverwahrung. Deswegen haben wir
viel Gemeinsames und nicht so viel Trennendes; Sie Ansgar Heveling (CDU/CSU):
wollen sie doch auch nicht. Ich habe mir die Freiheit ge- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
nommen, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie sie im Ju- gen! Wären wir der ideale Gesetzgeber, könnten wir
gendstrafrecht immer noch nicht abgeschafft haben, ob- heute ein perfektes Gesetz zur Reform der Sicherungs-
wohl Ihr Kollege van Essen in keiner Rede zu diesem verwahrung vorlegen. Doch den idealen Gesetzgeber
Thema vergisst, zu sagen, dass das auf dem FDP-Zettel gibt es nur in der idealen Welt. Wir leben aber nicht in
steht. Dennoch schaffen Sie es nicht, in dieser Angele- einer idealen Welt. Wir leben in einer Welt, in der es
genheit zu Ihrem Koalitionspartner durchzudringen. Menschen gibt, die eine Gefahr für andere sind. Wir le-
Ich habe mir ferner erlaubt, zu sagen, dass die Über- ben in einer Welt, in der es potenzielle Straf- und auch
gangsregelung für viele Jahre – bis zu 15 Jahre und Wiederholungstäter gibt, die jederzeit wieder zuschlagen
mehr – zu einer Doppelstruktur im Strafvollzug führen können.
wird. Das sind sachliche Argumente. Die können Sie gut Wir haben das zu Beginn dieser Woche in Duisburg
oder richtig finden, aber Sie dürfen darauf nicht in einer erlebt. Ein gerade aus der Sicherungsverwahrung Entlas-
so persönlichen und emotionalen Art erwidern. sener
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Nach einem Gut-
achten!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – nach einem Gutachten, das ist richtig; er wurde als
Herr Kollege Ahrendt, bitte. nicht gefährlich eingestuft –
8594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Ansgar Heveling
(A) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Was soll man noch Zukunft nicht mehr gebraucht wird. Wir konsolidieren (C)
machen?) die primäre Sicherungsverwahrung. Wir weiten – das ist
das Kernstück der Reform – die vorbehaltene Siche-
hat ein kleines Kind angegriffen und gewürgt. Es konnte rungsverwahrung aus. Mit dieser Neujustierung wird es
sich Gott sei Dank losreißen. So ist sicherlich Schlimme- auch zukünftig möglich sein, die Bürgerinnen und Bür-
res verhindert worden. ger vor gefährlichen Straftätern auch nach dem Verbü-
Wir dürfen als Politiker vor solchen Situationen nicht ßen der Strafe zu schützen.
die Augen verschließen. Wir müssen deshalb um gesetz-
Gleichzeitig werden die engen rechtsstaatlichen
liche und rechtsstaatliche Lösungen ringen. Aber was wir
Grenzen für eine Freiheitsentziehung auf Grundlage ei-
auch tun – darauf müssen wir klar und deutlich hinweisen –:
ner prognostischen Beurteilung beachtet, es wird der Ul-
Wir können keine perfekten gesetzlichen Regelungen
tima-Ratio-Grundsatz eingehalten. Dem wird insbeson-
zum Schutz vor gefährlichen Straftätern schaffen. Weil es
dere dadurch Rechnung getragen, dass als Anlasstaten
keine perfekten Regelungs- und Schutzmechanismen ge-
für die Sicherungsverwahrung zukünftig nur noch
ben kann, wird auch niemals ein hundertprozentiger
schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten, schwerste Ver-
Schutz vorhanden sein.
brechen, in Betracht kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Trotz des immensen Entscheidungsdrucks und trotz
Aber wir stehen in der Verantwortung, unser Möglichs- des eng gesteckten Beratungszeitraums haben wir die
tes zu tun, diesem Risiko mit rechtsstaatlichen Mitteln Meinung von Experten nicht nur gehört, sondern ihren
zu begegnen. Das ist ohne Zweifel nicht einfach, geht es Rat auch in die weiteren Überlegungen mit einbezogen,
doch um unterschiedliche, teils widerstreitende Rechts- sodass es im Verfahren und nach der Anhörung noch
positionen. Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die substanzielle Änderungen gegeben hat.
dieses Spannungsfeld, in dem wir unsere gesetzgeberi-
sche Entscheidung zu treffen haben, ausmachen: Trotz des eng gesteckten Zeitrahmens hat es auch
nach der Anhörung im weiteren Verfahren Gespräche
Erstens. Der Staat hat einen Schutzauftrag gegenüber unter Einbeziehung aller Fraktionen gegeben. Ich darf
den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere den mich an dieser Stelle insbesondere bei den Kolleginnen
Schwächsten gegenüber. Freiheit und Sicherheit zu ge- und Kollegen der SPD bedanken. Sie haben frühzeitig
währleisten, ist die existenzielle Aufgabe auch und ge- signalisiert, am Gesetzgebungsverfahren konstruktiv
rade des Rechtsstaats. teilzunehmen. Sie haben nicht nur das getan, sie haben,
obwohl sie im Verfahren weiter gehende Wünsche und
Zweitens. Ohne Zweifel, auch die persönliche Frei-
Vorstellungen artikuliert haben, in der Schlussberatung (D)
(B) heit ist ein hohes Gut. Freiheitsentziehungen sind daher
im Rechtsausschuss dem Gesetzentwurf zugestimmt.
zu Recht nur in engen Grenzen zulässig.
Das ist ein gutes Signal, nicht zuletzt auch mit Blick auf
Drittens. Freiheitsentziehung als Strafe knüpft an be- die Bundesländer.
reits begangenes Unrecht, damit an Schuld und damit an
einen objektivierbaren Faktor an. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Freiheitsentziehung aufgrund von vermuteter Gefähr- Auf diese wird es jetzt in der Umsetzung entschei-
lichkeit ist demgegenüber von einer Prognoseentschei- dend ankommen. Die Sicherungsverwahrung wird in
dung abhängig und damit durch Unwägbarkeiten den Ländern vollzogen. Wir wissen, dass die Entschei-
gekennzeichnet. Es können immer falsche Prognoseent- dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
scheidungen getroffen werden, in jeglicher Richtung. Es rechte sehr intensiv auf die tatsächlichen Bedingungen
können Gefährliche als nicht gefährlich und Nichtge- der Sicherungsverwahrung abhebt. Hier kommt eine
fährliche als gefährlich begutachtet werden. Progno- Menge Arbeit auf die Länder zu – Arbeit, die der Bund
seentscheidungen können sich als falsch erweisen; so ihnen aufgrund der Kompetenzregelung in unserem Ver-
war es in Duisburg. fassungsgefüge nicht abnehmen kann. Allerdings sind
die Länder auch bereits intensiv mit den Vorbereitungen
Wir müssen versuchen, dieses Spannungsverhältnis zur Umsetzung des neuen Rechts befasst.
aufzulösen, und zwar rechtsstaatlich aufzulösen. Ich
glaube, wir haben es uns dabei alle miteinander – ge- Ich bedauere, dass sich die Fraktion von Bündnis 90/
nauer gesagt: weitgehend alle – nicht leicht gemacht. Die Grünen, obwohl ihre Hinweise erkennbar auf frucht-
Denn nicht nur das oben skizzierte Spannungsfeld hat baren Boden gefallen sind, schlussendlich nicht zu einer
die Reformdiskussion beherrscht, sondern auch der Zustimmung hat durchringen können.
durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die
für Menschenrechte ausgelöste Regelungsdruck hat uns
sind wieder dagegen!)
unter Zug- und Entscheidungszwang gesetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Natürlich kann man stets unterschiedliche Schlussfolge-
neten der FDP) rungen aus Erkenntnissen ziehen. Natürlich kann man
immer noch mehr regeln. Aber wir haben uns doch er-
Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Si- kennbar aufeinander zubewegt. Dann kommt es letztlich
cherungsverwahrung verfolgen wir das Ziel, dafür zu auf das Wollen an. Wenn es daran mangelt, dann redu-
sorgen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung in ziert es sich nachher doch auf das Dagegen-Sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8595
Ansgar Heveling
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in (C)
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
NEN]: Sie wollten ja nicht!) zeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
Leider ist bei der Fraktion Die Linke nicht einmal im men der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Ansatz die Bereitschaft zur Problemlösung erkennbar. Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Mir fehlt offen gestanden jedes Verständnis für deren Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Position.
Wir kommen zur
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das ist mir dritten Beratung
egal!)
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Ihre Skepsis gegenüber allem, was mit Rechtsstaat zu Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
tun hat, mag man vor dem Hintergrund Ihrer Geschichte Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz-
noch nachvollziehen können. entwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie bei der zweiten Beratung angenommen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Na, na, na!)
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 bis 10 auf:
Vielleicht ist es aber auch besser, wenn man erst gar
nicht versucht, eine Fraktion zu verstehen, die in der ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
Tradition einer Partei steht, die das eigene Volk jahr- NIS 90/DIE GRÜNEN
zehntelang selbst für gefährlich gehalten und wegge- Irland unterstützen und Steuerharmonisierung
sperrt hat. vorantreiben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
rufe von der LINKEN) ges gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesre-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gierung und Deutschem Bundestag in
Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Redezeit Angelegenheiten der Europäischen Union
eine Zwischenfrage der Kollegin Klein-Schmeink?
– Drucksache 17/4065 –
Ansgar Heveling (CDU/CSU): ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
(B) Nein, ich möchte jetzt zum Schluss kommen. – Wir (D)
schließen heute die Neuordnung des Rechts der Siche- Irland unterstützen – Euro stabilisieren
rungsverwahrung ab. Wir haben es uns dabei alle nicht
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
leicht gemacht. Wir wissen auch um die Schwierigkeiten
ges gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
im Detail, aber wir stehen den Bürgerinnen und Bürgern i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
gegenüber in der Verantwortung, um deren Freiheit und menarbeit von Bundesregierung und Deut-
Sicherheit zu gewährleisten. Dieses Gesetz wird dazu ei- schem Bundestag in Angelegenheiten der
nen Beitrag leisten. Europäischen Union
Vielen Dank. – Drucksache 17/4082 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
bei Abgeordneten der SPD)
Irland unterstützen und gerechten, wirksamen
Mechanismus zur Bewältigung von Staatsfi-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nanzierungskrisen schaffen
Ich schließe die Aussprache. hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
setzentwurf zur Neuordnung des Rechts der Sicherungs- Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
verwahrung und zu begleitenden Regelungen. Der Rechts- ten der Europäischen Union
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4062, den Gesetzentwurf der Fraktionen – Drucksache 17/4014 –
der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3403 in der ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ausschussfassung anzunehmen. Alexander Ulrich, Michael Schlecht, Jan van
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der SPD auf Druck- Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
sache 17/4066 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer DIE LINKE
stimmt für den Änderungsantrag der SPD-Fraktion? – zum Antrag der Republik Irland auf finan-
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan- zielle Unterstützung im Rahmen des Euro-
trag ist damit abgelehnt. Dafür hat die SPD-Fraktion ge- päischen Finanzstabilisierungsmechanismus
stimmt, dagegen die anderen Fraktionen. (EuB-BReg 126/2010)
8596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- Jetzt aufgrund der Entscheidungen gegen die Kredit- (C)
ges nach Artikel 23 Absatz 2 des Grund- hilfen zu stimmen, würde aber nicht dazu führen, dass
gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 1 des Gesetzes das Sparprogramm sozialer oder besser würde; es würde
über die Zusammenarbeit von Bundesre- Irland dem reinen Spiel der Märkte überlassen – nicht
gierung und Deutschem Bundestag in mehr –, und das in einer Situation, in die Irland natürlich
Angelegenheiten der Europäischen Union vor allem durch das außergewöhnliche Ereignis der Fi-
nanzkrise geraten ist.
Profiteure der Krise zur Kasse bitten – Keine
weitere Verstaatlichung fauler Bankkredite bei Natürlich hat die irische Politik eine zu laxe Aufsicht
Finanzhilfen für Irland über die Finanzmärkte betrieben und die Unternehmen-
steuern zu niedrig gehalten. Europa hat aber diese Politik
– Drucksache 17/4029 – durchgehen lassen und nicht voraussehend mit europäi-
Über den Antrag der Fraktion der SPD und über den schen Regelungen reagiert. Wenn wir ehrlich sind, müs-
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir sen wir auch sagen, dass gerade Deutschland unter dieser
später namentlich abstimmen. Bundesregierung in Brüssel regelmäßig bei der strengen
Regulierung der Finanzmärkte bremst.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver- es reicht aus unserer Sicht nicht aus, den Iren vorzuwer-
fahren. fen, dass sie eine schlechte Regierung haben, zumal Sie
zu Hause nicht gegen die Neoliberalen gewinnen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Manuel Sarrazin für die Fraktion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es steckt ein tieferer Sinn hinter unserem Antrag.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Joachim Poß [SPD]: Es wäre schade, wenn
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
das nicht der Fall wäre!)
Kollegen! Es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass wir
Grüne in dieser Woche als Erste beantragt haben, dass Bei der Tat der Solidarität geht es uns nicht einfach nur
der Bundestag Verantwortung für Irland übernimmt. Für darum, Europa zu bewahren, sondern wir wollen Europa
die Kredithilfen für Irland sprechen aus unserer Sicht weiterentwickeln. Diese Tat fordert auch politisch ein:
Solidarität und Rationalität im europäischen Sinn. Geht endlich die Koordination der nationalen Wirt-
(B) schaftspolitiken an! Geht endlich die Steuerharmonisie- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
rung an und geht endlich den Abbau der wirtschaftlichen
Der Geschichtsphilosoph Alfred Vierkandt sagte einmal: Ungleichgewichte in der Europäischen Union an!
Solidarität ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Denn – um es mit Robert Schuman zu sagen, der
praktisch werden kann und soll. diese Erkenntnis schon 1950 hatte; ich zitiere –: Europa
„wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst
Echte Solidarität gibt es also nur dann, wenn man sie am eine Solidarität der Tat schaffen“. Wer also will, dass Eu-
Ende auf die Wirklichkeit bezogen eintreten lässt. Wir ropa mehr wird, als es 1950 war und als es heute ist, der
finden, das gilt auch heute. sollte aus unserer Sicht heute für die Solidarität der Tat
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmen.
Es ist nicht so, dass wir alles, was die Europäische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kommission und die irische Regierung ausgehandelt ha- sowie bei Abgeordneten der SPD)
ben, einfach gut finden. Wir finden es falsch und unklug Meine Damen und Herren, dass wir mit unserem An-
für Irland, auf dem harten Weg des Sparens nicht auch die trag eine Stellungnahme nach Art. 23 des Grundgesetzes
Anhebung des Unternehmensteuersatzes anzupacken. einfordern, liegt daran, dass wir möchten, dass der Bun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destag zeigt, dass er seine Verantwortung übernimmt, zu
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sagen, dass die Parlamente beteiligt werden müssen,
CDU/CSU) wenn wir wollen, dass Europa gelingt. Das ist notwen-
dig, um die irische Hilfe verfassungsgerichtsfest zu ma-
Wir finden es falsch, auf dem Sanierungsweg nicht auch chen.
die Vermögen heranzuziehen.
Die Beschlussvorlage der Kommission liegt uns noch
(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) nicht vor. Das Finanzministerium hat uns heute den Ent-
Wir wollen, dass Europa endlich bei der Harmonisierung wurf für die Beschlussvorlage zur Verfügung gestellt.
der Unternehmensteuern vorankommt. Wir denken, dass Wir denken deshalb, dass eigentlich den Rechten des
gerade Irlands Probleme zeigen, dass es jetzt Zeit ist, Parlamentes auf Stellungnahme gemäß Art. 23 GG nicht
hier voranzukommen und zu handeln. Genüge getan worden ist. Wir geben mit dieser Stellung-
nahme aber ideell unsere Zustimmung dazu, dass die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesregierung im Ecofin für die Kredithilfen für Ir-
sowie bei Abgeordneten der SPD) land stimmt. Wir wahren trotzdem unser Recht auf Stel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8597
Manuel Sarrazin
(A) lungnahme, die wir erst dann abgeben können, wenn wir vor der Tagung der Ecofin am Dienstag, dem 7. Dezem- (C)
auch die endgültigen Beschlussvorlagen kennen und ber 2010, und der Tagung des Europäischen Rates am
richtig bewerten können. Wir kennen den Inhalt durch 16. und 17. Dezember 2010.
die Information im Ausschuss aber relativ gut. Deshalb
ist das sachlich möglich und auch geboten. Das bedeutet Inzwischen liegen auch der Antrag unserer Koalition
aber nicht, dass wir auf unsere Rechte verzichten. Darauf zu diesem Thema und auch der Entwurf – der Kollege
werden wir auch weiterhin pochen. Sarrazin hat darauf hingewiesen – der Europäischen
Kommission für den Beschluss des Rates vor. Dieser
Vielen Dank. Entwurf enthält drei Hauptelemente: erstens eine Strate-
gie für den Finanzsektor, zweitens eine ehrgeizige Stra-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tegie zur Haushaltskonsolidierung und drittens eine
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Strukturreformstrategie zur Verbesserung der Arbeits-
marktsituation und zur Stärkung des wirtschaftlichen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wachstums. Es ist sicherlich interessant, das genauer zu
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Barthle beleuchten; darauf werde ich noch zurückkommen.
für die CDU/CSU-Fraktion.
Über eines sind wir uns alle im Klaren: Irland ist nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit Griechenland vergleichbar. Es handelt sich um ein
vollkommen eigenständiges Phänomen. In Irland über-
Norbert Barthle (CDU/CSU): wiegt das Problem des aufgeblähten Bankensektors, ob-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wohl natürlich auch das Staatsdefizit, das trotz der Spar-
Kollegen! Wir diskutieren heute über ein 85-Milliarden- maßnahmen im kommenden Jahr immer noch bei fast
Euro-Paket, das zwischen der Europäischen Kommis- 10 Prozent liegen wird, dazu beiträgt, dass Irland sich
sion, dem Internationalen Währungsfonds und der Euro- nicht selbst helfen kann. Deshalb ist es notwendig, dass
päischen Zentralbank verabredet wurde. Es soll dazu wir als Europäer Solidarität üben, Irland helfen und
dienen, die Zahlungsfähigkeit Irlands wiederherzustellen gleichzeitig unsere eigene Währung, unseren Euro,
und gleichzeitig auch die Finanzstabilität der Euro-Zone schützen. Letztendlich geht es nämlich genau darum.
sicherzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dieses Paket beinhaltet verschiedene Teile, für die Ich denke, wir können froh und stolz sein, dass wir
auch verschiedene Beteiligungen gelten. Da ist zunächst bei uns, so sagt es der Finanzminister, schon im kom-
einmal der EFSF-Teil, also die Europäische Finanzstabi- menden Jahr die 3-Prozent-Grenze der Maastricht-Krite-
litätsfazilität. Für diesen Teil ist das Einvernehmen mit rien wieder unterschreiten. Wir sollten aber nicht in den (D)
(B) dem Haushaltsausschuss herzustellen. Ich möchte fest-
Fehler verfallen, darauf mit Überheblichkeit und zu viel
stellen, dass dieses Einvernehmen eindeutig hergestellt Stolz zu reagieren.
wurde. Ich will an dieser Stelle auch dem Bundesfinanz-
minister ganz herzlich danken, der uns aktuell und lau- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das stimmt!)
fend über die jeweiligen Beratungen informiert hat, zu-
letzt noch am Sonntag über Telefonkonferenzen, mit Im Gegenteil: Wir sollten den anderen in der Europäi-
einer umfassenden Unterrichtung am Montag im Haus- schen Union nicht sagen, wie es richtig zu machen ist,
haltsausschuss und erneut unter dem entsprechenden Ta- welche Steuern sie erheben sollen, wie sie ihre Wirt-
gesordnungspunkt am Mittwoch. schaft gestalten sollen. Da unterscheiden wir uns von Ih-
nen. Wir wollen umgekehrt aber auch nicht, dass andere
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns sagen, wie hoch unser Körperschaftsteuersatz sein
soll, wie hoch unser Mehrwertsteuersatz sein soll, wie
Dieses Einvernehmen wurde mit den Stimmen der
unsere Wirtschaftspolitik aussehen soll. Ich denke, es ist
Koalition, mit den Stimmen der SPD und mit den Stim-
gut und richtig, dass die Europäische Union auf die
men der Grünen hergestellt. Dafür ein ganz herzliches
Stärke ihrer Mitglieder setzt. Es gilt, die Stärke der Mit-
Dankeschön. Das zeigt, dass an dieser Stelle doch ein
glieder zu stärken. Deshalb machen wir dies heute.
Verantwortungsbewusstsein besteht. Ich möchte aber
nochmals betonen, dass wir im Haushaltsausschuss auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– entgegen anderslautender Agenturmeldungen von ges- neten der FDP)
tern – eine eigenständige Mehrheit hatten. Wir hatten
eine eigene Mehrheit von 14 : 11, daran gibt es nichts zu Ich will nochmals darauf verweisen, dass wir froh und
rütteln. stolz sind, dass wir eine so gute industrielle Basis haben,
dass wir eine mittelständische Struktur haben, die sich in
(Zurufe von der SPD) dieser Krise als flexibel und resistent erwiesen hat, dass
Damit sind diese Bedingungen für den Rettungsschirm unsere Industrie eine Grundstruktur hat, die in der Lage
erfüllt. war, möglichst schnell wieder Impulse aufzunehmen.
Die Marktreaktionen in Irland zeigen allerdings, dass die
Es geht heute aber eigentlich um den zweiten Teil. Märkte die industriellen Voraussetzungen nicht immer
Das ist – EFSM genannt – der Europäische Finanzstabi- genau im Visier haben, sondern auch spekuliert wird.
lisierungsmechanismus. Hierfür ist die Beteiligung des Diesen Spekulationen müssen wir den Boden entziehen.
Parlaments, des Deutschen Bundestages, vorgesehen. Dazu dient dieses Paket, das jetzt auf den Weg gebracht
Diese erfolgt hier und heute und damit auch rechtzeitig wird.
8598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Norbert Barthle
(A) Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals daran erin- (Joachim Poß [SPD]: Gut, dass Sie immer ei- (C)
nern, dass das Sparpaket, das in Irland jetzt auf den Weg ner Meinung waren!)
gebracht wird, zu etwa einem Drittel aus Mehreinnah-
Das steht in unserem Antrag mit drin. Ich glaube, damit
men und zu zwei Dritteln aus Ausgabenreduzierungen
sind wir auf dem richtigen Weg.
besteht, und zwar mit teilweise ernst zu nehmenden
Maßnahmen: Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf Es geht immer – dessen müssen wir uns stets verge-
68 Jahre, wissern – um die Stabilität unserer Währung. Es geht um
das Vertrauen der Menschen in unsere Währung. Dafür
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Die Arbeitnehmer gilt es sich auch auf europäischer Ebene einzusetzen.
wieder!)
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Absenkung der
Mindestlöhne um 1 Euro, Erhöhung des Mehrwertsteu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ersatzes. An dieser Stelle empfehle ich vor allem den
Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite des Hau- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ses, einmal nachzuschauen, wie die Länder, die quasi ge- Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die
zwungen sind, heftige Sparprogramme aufzulegen, diese SPD-Fraktion.
Aufgabe angehen, und eine Analogie zu Deutschland
herzustellen. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein (Beifall bei der SPD)
Blick auf unser Zukunftspaket.
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):
(Joachim Poß [SPD]: Das ist die Entschuldi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
gung für das unsoziale Sparpaket!) Wir Sozialdemokraten stimmen den Hilfen für Irland zu.
Mit unserem Zukunftspaket machen wir genau dasselbe: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ein Drittel Einnahmeverbesserungen, zwei Drittel Spa- der CDU/CSU)
ren bei den Ausgaben.
Wir tun dies im Bewusstsein unserer Verantwortung für
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ein friedliches Europa. Wir tun dies nicht – entgegen den
der FDP) gerade wieder vorgetragenen Argumenten – für eine
Rettung des Euro, Kollege Barthle. Es geht nicht um den
Deshalb lohnt sich ein Blick darauf. Das ist genau die-
Kurs des Euro, der tagtäglich schwankt. Vielmehr geht
selbe Grundstruktur.
es darum, dass, wenn ein Land aus der Währungsunion
(B) Sosehr ich es begrüße, dass Grüne und SPD dabei aussteigt, der zweite Schritt der Ausstieg aus der Euro- (D)
sind, wenn es um dieses Rettungspaket geht, so sehr päischen Union ist. Das ist die Gefahr, vor der wir ste-
empfehle ich, dass Sie darauf achten, dass Sie nicht, um hen. Wir wollen eine gemeinsame Europäische Union,
außenpolitisch seriös zu erscheinen, innenpolitisch das weil nur sie zum Beispiel dafür sorgen kann, dass die Fi-
Gegenteil tun und gemeinsam mit den Gewerkschaften nanzmärkte gezähmt werden. Das geht nur durch eine
die Menschen gegen unsere Zukunftspakete auf die gemeinsame Linie innerhalb der Europäischen Union.
Straße treiben. Das beißt sich. Das widerspricht sich. (Beifall bei der SPD)
Das ist nicht konsistent.
Deswegen muss sie erhalten bleiben. Vor dieser Frage
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – stehen wir.
Joachim Poß [SPD]: Das ist ja eine absolute
Frechheit!) Eine politische Union muss aber auch politische Ant-
worten geben. Alles, was bis jetzt verabredet wurde, sind
Ich begrüße es außerdem, dass auf europäischer Geld und Kredite – und das alles sehr kurzfristig. Wir
Ebene ernsthaft darüber nachgedacht wird, wie ein Sta- sind Getriebene der Märkte. Politische Entscheidungen
bilisierungsmechanismus für die Zeit nach Auslaufen werden mittlerweile morgens im Kanzleramt mit dem
dieser Maßnahmen, also für die Zeit nach 2013 einge- Blick auf den Ticker bzw. darauf getroffen, wie sich die
richtet werden kann. Kurse ändern. So werden heute politische Entscheidun-
gen durch Ihre Regierung getroffen. Das ist fatal.
(Joachim Poß [SPD]: Vor allen Dingen die Ei-
nigkeit der Koalition an der Stelle!) (Beifall bei der SPD)
Dazu gibt es Vorschläge der Van-Rompuy-Gruppe. Ich Das ist nicht das Primat der Politik, Frau Bundeskanzle-
begrüße es sehr, dass unsere Position von Bundeskanzle- rin, das Sie vor einer Woche hier gefordert haben, son-
rin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang dern das ist das Gegenteil.
Schäuble immer wieder vorgetragen wird. Eine politische Antwort wäre, die Spirale der Speku-
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Erfolglos!) lation und der Verunsicherung zu durchbrechen. Wir So-
zialdemokraten haben in unserem Antrag ganz konkrete
Wir setzen darauf, dass es gelingt, den Mechanismus Vorschläge dazu gemacht. Sie als Koalitionsfraktionen
einzuführen, der in unserem Antrag dargelegt ist, mit sind nicht mit einer Silbe darauf eingegangen und haben
dem wir in der Lage sind, zukünftige Krisen zu beherr- sie sich nicht zu eigen gemacht. Die Verunsicherung bei
schen, und zwar auch unter Beteiligung der Gläubiger. Ihnen ist so stark – ich brauche mir nur die Pressemittei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8599
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) lungen der FDP vom gestrigen Tag anzuschauen –, dass höheres Risiko trägt und im Zweifel haften muss. Die (C)
es schwer genug ist, diesen Laden zusammenzuhalten, Haftung wird jetzt für zwei Jahre komplett ausgesetzt.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Deauville nicht nur
(Joachim Poß [SPD]: So ist es!) alle europäischen Partner mit Ihrer Verhandlungsführung
geschweige denn für eine gemeinsame Initiative und und dem mit Herrn Sarkozy erzielten Ergebnis vor den
eine gemeinsame Aktion aller hier vertretenen Fraktio- Kopf gestoßen, sondern Sie haben auch die Märkte ver-
nen zu sorgen. Ich bedauere dies ausdrücklich. unsichert, weil Sie sie im Unklaren lassen. Sie haben gar
kein Konzept, wie die Gläubigerbeteiligung aussehen
(Beifall bei der SPD) soll. Deswegen ist es berechtigt, dass aus den anderen
Es zeigt sich die Abhängigkeit der Politik von den europäischen Hauptstädten zu hören ist, dass Sie zum
Märkten. Da Sie uns Irland immer als das Heilsmodell Teil Schuld daran haben, dass es Verunsicherung gibt.
der ökonomischen Entwicklung gepriesen haben und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-
weil die Märkte für Sie das Evangelium sind, frage ich Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie, warum Sie die Märkte dann so treiben lassen. Wa- NEN])
rum greifen Sie nicht ein, indem Sie klare Regularien
aufstellen? Warum greifen Sie nicht ein, indem Sie unse- Das, was verabredet wurde, machen Sie sich jetzt zu
ren Vorschlägen folgen? eigen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist beinahe
eine Art Misstrauensvotum gegenüber dem Ergebnis,
Zur Akzeptanz dieses Programms in der deutschen das Finanzminister Schäuble erzielt hat. Sie sprechen
Bevölkerung gehört, Frau Bundeskanzlerin, auch einmal sich für automatische Sanktionen aus. Dies haben Sie
klar öffentlich dazu Stellung zu beziehen. Diese klare aber in Deauville geopfert. Es gibt keine automatischen
Ansage würde aber auch bedeuten zu sagen: Das ist Sanktionen; Sie fordern sie lediglich. Sie sprechen sich
nicht umsonst. Das wird uns höchstwahrscheinlich etwas dafür aus, dass Gläubiger immer beteiligt werden sollen.
kosten. Die Frage ist dann, wer dafür zahlt. Die Position Wir als Sozialdemokraten unterstützen das. Wer ein Ri-
der SPD ist da eindeutig: Wir wollen auf europäischer siko eingeht, wer einen höheren Zins bekommt, muss die
Ebene, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, Zeche zahlen. Nicht der Steuerzahler muss einspringen,
auch zahlen. sondern die Investoren müssen zahlen. Das gehört zur
(Beifall bei der SPD) Marktwirtschaft; sonst wird sie auf den Kopf gestellt.
Das bedeutet die Einführung einer Finanztransaktion- (Beifall bei der SPD)
steuer. Dazu ist von Ihnen nichts zu hören. Das ist aber nicht verabredet. Man muss sich das ge-
(B) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie kann man nau anschauen. Sie unterscheiden in dem vorgeschlage- (D)
so etwas fordern, wenn man genau weiß, dass nen Kompromiss bei der Frage der Gläubigerbeteili-
es nicht durchsetzbar ist?) gung, ob der betroffene Staat Liquiditätsprobleme oder
Solvenzprobleme hat. Bisher konnte mir niemand erklä-
Zur Ehrlichkeit und zur Akzeptanz der Stabilisie- ren, woran dieser Unterschied festgemacht wird.
rungsmaßnahmen: Wir erleben Gipfel für Gipfel. Nach-
dem die EZB gerade keine Entscheidung für eine Aus- (Joachim Poß [SPD]: Das wird gleich erläu-
weitung des Ankaufsprogramms getroffen hat – dies tert!)
begrüße ich sehr –, wird darüber spekuliert, dass es viel-
Darüber wird eine politische Entscheidung getroffen
leicht schon wieder einen Gipfel gibt. Als Nächstes sind
werden, auch wenn Sie das ausschließen wollen. Genau
Portugal, Spanien, Belgien und Italien im Fokus. Aber
das wird passieren. Deswegen befürchte ich, dass diese
das alles hilft uns nicht.
Klausel niemals in Kraft treten wird, dass es niemals zu
Ich hätte erwartet, dass von dem Gipfel am Sonntag in einer Gläubigerbeteiligung kommen wird. Sie werden
Brüssel – Stichwort „Ecofin“ – ein klares Signal des immer politische Entscheidungen treffen. Das ist ein
Sich-ehrlich-Machens der Staaten ausgeht, die im Feuer Fehler.
stehen. Das heißt erstens, deutlich zu machen, wie die
(Beifall bei der SPD)
Situation ist, und zweitens, die Rettungsmaßnahmen, die
Hilfsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen und nicht so Wir brauchen hier klare Ansagen, klare Regularien
lange zu warten, bis es gar nicht mehr anders geht. Das und keine Betrachtung von Fall zu Fall und auch keine
ist die Bankrotterklärung der Politik. Unterscheidung von Aspekten, die man gar nicht unter-
scheiden kann. Das Finanzministerium konnte mir ges-
(Beifall bei der SPD)
tern im Haushaltsausschuss anhand der beiden Fälle Ir-
Ich will auf einen für uns Sozialdemokraten sehr land und Griechenland nicht erklären, wer ein
wichtigen Punkt zu sprechen kommen, der von Ihnen Liquiditäts- und wer ein Solvenzproblem hat. Ich habe
wie eine Monstranz vor sich her getragen, aber nicht ver- so schon kein Vertrauen in dieses Vorgehen, wie soll es
wirklicht wird. Das ist die Frage der Gläubigerbeteili- dann in der Zukunft sein?
gung.
(Otto Fricke [FDP]: Weil es bei Irland nicht
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Richtig!) geht!)
Es ist vollkommen klar, dass derjenige, der eine Anleihe – Diese Frage wurde nicht beantwortet, Herr Kollege
zeichnet, einen höheren Zins bekommt, aber auch ein Fricke. – Das führt nur dazu, dass die Verunsicherung
8600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) bestehen bleibt, dass es höhere Risikoaufschläge und land und Irland sind verschiedene Fälle. Sie dürfen nicht (C)
Prämienzinsen geben wird. Aber das, was eine Markt- in einen Topf geworfen werden.
wirtschaft ausmacht, nämlich dass Anleger und nicht der
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Bravo! Gut er-
Steuerzahler für das höhere Risiko zahlen und geradeste-
kannt!)
hen – ich vermute, es wird zu einem Ausfall der Gläubi-
gerbeteiligung kommen –, wird nicht passieren. Irland hat aufgrund der Bankenkrise ein temporäres Fi-
nanzierungsproblem. Es muss geholfen werden, die Spe-
Ich wäre froh und dankbar, Sie würden dem dezidier-
kulation zu stoppen.
ten und sehr konkreten Antrag der SPD-Fraktion zustim-
men. Das würde Europa sicherer machen. Das würde zu Wichtig ist – das kommt im Antrag der Linken falsch
einem sozialen Europa führen, in dem nicht immer die herüber –: Eine zwingende Beteiligung der Gläubiger ist
Spekulanten herrschen. Stimmen Sie unserem Antrag zu. nach dem derzeitigen Mechanismus gar nicht vorgese-
Dann hätten Sie mehr als Herr Sarkozy, der den Spatz in hen. Sie ist für Irland weder rechtlich möglich noch poli-
der Hand hat, wenn diese Rettungsaktionen vorüber tisch und ökonomisch sinnvoll. Solidarität ist für Sie lei-
sind. Sie, Frau Merkel, haben nach dem derzeitigen Ver- der ein Fremdwort. Sie lassen Irland alleine. Ihr Antrag
handlungsstand jedenfalls nicht die Taube auf dem ist leider ein reiner Showantrag.
Dach.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vielen Dank.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich SPD und
(Beifall bei der SPD) Grüne in ihren Anträgen jetzt für Hilfen für Irland aus-
sprechen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Peter Danckert [SPD]: Was heißt denn
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Luksic für die hier „jetzt“? Vorher mussten wir das doch gar
FDP-Fraktion. nicht tun!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie zeigen damit europapolitische Verantwortung, die Sie
der CDU/CSU) bei den vorherigen Abstimmungen zu Griechenland
bzw. zum Euro-Schirm nicht an den Tag gelegt haben.
Oliver Luksic (FDP):
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2010 wird als das Jahr der Prüfung unserer Gemein- Ihre jetzige Zustimmung zeigt, dass Sie damals falsch
schaftswährung in die Geschichte der Europäischen entschieden haben.
(B) Union eingehen. Nach den schwierigen Entscheidungen (D)
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wie bitte? Davon
über die Griechenland-Hilfe und den Rettungsschirm
kann ja wohl keine Rede sein! – Joachim Poß
müssen wir jetzt über die Hilfen für Irland entscheiden.
[SPD]: Das Gegenteil ist richtig!)
Wir müssen uns vor allem zu den Eckpunkten des robus-
ten Krisenmechanismus nach 2013 positionieren. Das ist Aber es ist gut, dass Sie diesen Fehler jetzt korrigieren.
die zentrale Frage, die beantwortet werden muss, damit Sie reden hier immer von europäischer Solidarität. Gut,
der Teufelskreis von Krisen und Rettungspaketen end- dass Sie Ihren Worten jetzt auch Taten folgen lassen!
lich durchbrochen werden kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Irland-Hilfen sind notwendig, um den Euro zu schüt- Joachim Poß [SPD]: Sie haben es wirklich
zen. Die nun beschlossenen Grundzüge des künftigen nicht verstanden! – Dr. Peter Danckert [SPD]:
Mechanismus sind ein guter Kompromiss. Die Bundes- Wer ahnungslos ist, sollte hier nicht reden!)
regierung hat in Brüssel das realpolitische Maximum he-
Für die Zukunft müssen neue Lösungen gefunden
rausgeholt.
werden, um den Euro langfristig zu stabilisieren. Kol-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lege Schneider, Sie haben eben von den Märkten gespro-
der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Oh!) chen. Das eigentliche Problem war, dass die Regeln, die
es in Europa gibt, von Rot-Grün aufgeweicht wurden.
Irland hat als erstes Land Hilfen aus dem Rettungs-
Indem damals der blaue Brief verhindert wurde, wurde
schirm beantragt und wird diese zu Recht erhalten. Es
das falsche Zeichen gesetzt, dass jeder ungestraft Schul-
zeigt sich im Fall Irlands, dass die Konzeption des Ret-
den machen kann. Wir brauchen jetzt harte Regeln für
tungsschirms, die Wahrung der strikten Konditionalität
einen harten Euro.
der Hilfen und die aktive Einbindung des IWF, richtig
war und ist. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie ha-
ben unseren Antrag nicht gelesen!)
Die drei Elemente des Hilfspakets sind richtig: die Re-
form des Bankensektors, die Stabilisierung des irischen Die Bundesregierung hat in schwierigen Verhandlun-
Haushaltes sowie wachstumsorientierten Strukturrefor- gen die richtigen Weichen für den zukünftigen Mecha-
men. Das sind strenge Bedingungen. Diese Maßnahmen nismus gestellt. Der neue Mechanismus wird den derzei-
sind in Irland innenpolitisch schwer umzusetzen. Wir tigen Rettungsschirm vollständig ablösen, sowohl was
sind aber fest davon überzeugt, dass es nur so eine Hilfe die bilaterale Hilfe angeht als auch was das Gemein-
zur Selbsthilfe geben kann. Deswegen will ich, wie es schaftsinstrument betrifft. Es ist ein besonderer Erfolg
auch der Kollege Barthle getan hat, betonen: Griechen- der Bundesregierung, dass sie im Gegensatz zu dem, was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8601
Oliver Luksic
(A) Sie wollen, die Vergemeinschaftung des Zinsrisikos in (Joachim Poß [SPD]: Aha! Ihre Fraktion hat (C)
Form von Euro-Anleihen abgewendet hat. Das wäre die sich aber darauf eingelassen! Sie lesen wohl
Transferunion. Das ist der Unterschied zwischen uns und noch nicht mal Ihre eigenen Fraktionsbe-
Ihnen. schlüsse!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Im Laufe der Beratungen im Europäischen Rat und in
Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie kom- der Euro-Gruppe werden noch viele Präzisierungen vor-
men Sie denn darauf, dass wir das wollen?) genommen. Das erfordert europapolitischen Mut. Diesen
Mut hat sowohl die FDP als auch die christlich-liberale
– Das steht in Ihrem Programm. Koalition. Mit unserem Antrag stärken wir der Bundes-
(Joachim Poß [SPD]: Was? Wo genau steht das regierung für ihren guten und richtigen Kurs in Brüssel
denn? Das ist eine böse Unterstellung! – den Rücken.
Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Schwach- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
sinn!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Stattdessen muss auch nach dem neuen Mechanismus
Einstimmigkeit herrschen. Das ist gut. So kann gegen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
den Willen Deutschlands nichts beschlossen werden. Die
Bundesregierung hat hier im Interesse Deutschlands und Das Wort hat der Kollege Thomas Nord von der Frak-
eines stabilen Euros die richtigen Akzente gesetzt. tion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Der wichtigste Punkt, den Sie, Herr Schneider, weg-
gelassen haben, ist die Einführung von Umschuldungs-
klauseln, den sogenannten Collective Action Clauses, ab Thomas Nord (DIE LINKE):
2013. Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass wir Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
das hinbekommen? und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke
– das ist bekannt – hat als einzige Fraktion gegen das
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Was, bitte schön, Hilfspaket für Griechenland und gegen den Euro-Ret-
haben wir denn bis jetzt hinbekommen? – tungsschirm gestimmt. Wir stimmen heute gegen die
Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hilfsmaßnahmen für Irland; denn auch in diesem Fall
NEN]: Wieso? Gegen die Collective Action schützt der Euro-Rettungsschirm nicht den Euro, son-
Clauses war doch nie jemand!) dern die Banken.
(B) Das Thema „Beteiligung privater Gläubiger“ ist nicht (Beifall bei der LINKEN) (D)
in der Schublade verschwunden, obwohl viele Mitglied-
staaten dagegen waren und es auch vonseiten der Euro- Diese benötigen unsere Hilfe nicht. Unsere Solidarität,
päischen Kommission und der EZB Widerstand gab. Das Herr Sarrazin, Herr Luksic, gilt den Arbeitnehmerinnen
ist ein großer Erfolg. Dass Sie ihn kleinreden, ist in Ord- und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern und
nung. Dennoch ist es ein großer Erfolg, dass wir die Be- den vielen anderen Menschen, die jetzt die Suppe auslöf-
teiligung privater Gläubiger jetzt durchsetzen. feln müssen, die sie nicht bestellt haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)

Nun muss Sorge dafür getragen werden, dass dies in Hier wird gesagt, es gebe keine Handhabe gegen Krisen-
der Praxis geschieht. Es ist wichtig, dass wir die Hürden profiteure und für eine sofortige Regulierung der Finanz-
der politischen Manipulierbarkeit höher legen, damit der märkte, die EU-Verträge ließen dies nicht zu. Wir sagen,
Rettungsschirm nicht zur Geldpumpe wird. Was den prä- die Verträge sind in Kernbereichen ohnehin nicht mehr
ventiven Arm angeht, müssen wir bei Sanktionen eine in Kraft und müssen verändert werden.
weitgehende Automatisierung hinbekommen. Bei der (Beifall bei der LINKEN)
Gläubigerbeteiligung ist die Schuldentragfähigkeitsana-
lyse von Europäischer Kommission, EZB und IWF Wer jetzt europaweit den Sozialabbau gegen die Men-
wichtig. Hier brauchen wir ein Stück Entpolitisierung. schen vorantreibt, der hätte auch die Kraft, jetzt Speku-
Dabei sind wir auf einem guten Weg. lanten zur Kasse zu bitten.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sie ma- Sie sagen, wer nicht hilft, die Banken zu retten, ris-
chen das Gegenteil! Wissen Sie das eigent- kiert die politische Stabilität der Europäischen Union.
lich?) Wir sagen, wer Banken rettet, aber Finanzmärkte jetzt
nicht reguliert, der treibt die Europäische Union in eine
Nur so wird sichergestellt, dass die Unterstützung durch existenzielle Krise.
die Staatengemeinschaft erst nach den Anstrengungen
des Schuldnerlandes einsetzt und die Beteiligung der (Beifall bei der LINKEN)
Gläubiger wirklich das letzte Mittel darstellt. Die Fakten sprechen für sich. Am 6. Mai wurde hier
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wieso eigentlich?) das Griechenland-Paket beschlossen. Die Kanzlerin er-
kannte eine Notsituation. Sicherlich, Griechenland war
Klar muss auch sein: Der zukünftige Schirm darf nicht in Not. Aber die Ursache war keine Naturkatastrophe.
zu groß werden. Das wäre ein falsches Signal. Die Verträge wurden verletzt, geholfen hat es nicht. Am
8602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Thomas Nord
(A) 19. Mai sagte die Kanzlerin, dass der Euro in Gefahr ist. Danke schön. (C)
In zwei Wochen wurde aus der Griechenland-Krise eine
(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic
Euro-Krise. Der Euro-Rettungsfonds wurde installiert.
[FDP]: Immer gegen Europa!)
Die Verträge wurden erneut außer Kraft gesetzt und die
Krise eben nicht gestoppt. Die Folgen für die betroffe-
nen Staaten waren unabsehbar. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
Absehbar jedoch sind sie für die Banken. Sie werden jetzt der Kollege Alois Karl von der CDU/CSU das
immer auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzah- Wort.
ler saniert. Sie zahlen, wie zum Beispiel die Hypo Real
Estate, weiter satte Gewinne und Boni an ihre Aktionäre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und Manager. Sie können sich ohne Risiko immer auf
Staatshilfen verlassen. Alois Karl (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
(Beifall bei der LINKEN)
Damen und Herren! Wir haben uns die Situation, in der
Ausgeblieben ist die Regulierung der Finanzmärkte. wir heute sind, nicht ausgesucht; wir haben gehofft, dass
Die Debatte über einen zukünftigen Mechanismus zur sie an uns vorübergeht. Trotzdem musste Irland am
Krisenbewältigung treibt das Dilemma auf die Spitze. 21. November 2010 diesen Antrag auf finanzielle Hilfe
Bei der Zinsentwicklung für portugiesische und für spa- stellen. Das war notwendig, auch wenn wir fast den Ein-
nische Staatsanleihen ist das doch zu beobachten. Es druck hatten, Irland musste ein wenig gedrängt werden.
wird behauptet, man komme an die Gewinner der Spe- Es geht aber nicht nur um Irland, sondern es geht auch
kulationen nicht heran. Es sei unmöglich, die irische Re- um unsere Währung, um den Euro. Aus diesem Grunde
gierung zu bewegen, die Dumpingsteuer für Unterneh- ist es wichtig, dass es hier in Europa ab dem 21. Novem-
men anzuheben. Die nationale Souveränität würde eine ber 2010 zu einer solidarischen, gemeinschaftlichen Leis-
Steuerharmonisierung behindern. Wo bleibt dieses Argu- tung gekommen ist. Ich danke dem Herrn Bundesfinanz-
ment beim größten Sozialabbau in Europa seit dem minister, dass er mutig, schnell und entschlossen mit den
Zweiten Weltkrieg? Kollegen gehandelt hat.
Alle europäischen Mitgliedstaaten, die Hilfe benöti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gen, werden durch EU und IWF genötigt, die Mehrwert- neten der FDP)
steuer anzuheben, die Löhne zu senken, den Kündigungs-
schutz abzubauen, das Renteneintrittsalter zu erhöhen Wenn es richtig ist, dass die deutsche Sicherheit am
(B) usw. Alles ist erlaubt. Nichts hindert die EU und den IWF Hindukusch verteidigt wird, wie es ein ehemaliger Ver- (D)
daran, das durchzusetzen. Wenn aber Profite abgeschöpft teidigungsminister gesagt hat, dann wird unsere Wäh-
werden sollen und Spekulation verhindert werden soll, rung, der Euro, auch in Irland verteidigt. Ansonsten fällt
dann geht in der Europäischen Union gar nichts mehr. So er. Das können wir uns nicht leisten; das ist jedem klar.
schützt man den Euro nicht vor weiteren Angriffen. Es ist kurz angedeutet worden: Irland ist nicht Grie-
(Beifall bei der LINKEN) chenland. Irland hat sein Bruttosozialprodukt in zehn
Jahren verdoppelt. Das Wirtschaftswachstum war enorm
Die Rettung Irlands ist eben kein unabhängiges Phäno- hoch, die Arbeitslosigkeit war gering. Irland ist mit dem
men. Es ist eine Frage der Zeit, bis Portugal fällig wird – Wirtschaftswunderland Deutschland verglichen worden.
oder auch Belgien. Portugal soll unter den Schirm, damit Das hat für die Menschen in Irland außerordentlich viel
Spanien nicht fällt. Schon wird die Forderung nach einer gebracht.
Verdoppelung des Umfangs des Rettungsschirms laut.
Nach Spanien kommt Italien, meine Damen und Herren, Wie Sie von den Linken jetzt fordern können, dass
und was kommt dann? wir in der jetzigen prekären Situation Irland alleine las-
sen, ist Ihr Geheimnis. Dämlicher könnte es für die Iren
Wenn der irische Haushalt am 7. Dezember verab- nicht zugehen, dämlicher könnten Sie sich nicht ausdrü-
schiedet sein wird, wird die dortige Regierung zerbre- cken. Für Irland wäre es eine Katastrophe, wenn wir
chen. Was 2008 als Finanzmarktkrise begonnen hat, ist heute nicht helfen würden.
2010 eine Krise der europäischen Institutionen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was auch immer das heißt, eines ist sicher: Wenn es
nach Ihnen geht, dann sollen weiterhin die Bürgerinnen Ich bin sehr dankbar, dass sich die Hilfe für Irland in
und Bürger, diejenigen, die jetzt schon wenig haben, die Höhe von etwa 85 Milliarden Euro – das ist gesagt wor-
Zeche bezahlen. Das wird Europa weiter destabilisieren. den – auf viele Schultern verteilt. Irland selbst hat sich ja
schon großartig beteiligt. 15 Milliarden Euro sind in den
(Beifall bei der LINKEN) letzten Jahren für die eigene Konsolidierung schon auf-
gewendet worden. Jetzt wendet Irland weitere 17,5 Mil-
Wir wollen das nicht. Deshalb lehnt die Linke das Fi-
liarden Euro dadurch auf, dass die Barreserven aufge-
nanzpaket für Irland ab. Deshalb fordern wir die Regu-
braucht werden und die Pensionskasse in Anspruch
lierung der Finanzmärkte, fordern wir, die Profiteure der
genommen wird.
Krise zur Verantwortung zu ziehen, fordern wir eine EU-
weite Mindestbesteuerung, fordern wir eine Komplettre- Ich bin sehr dankbar, dass sich der IWF zu einem
vision der europäischen Verträge. Drittel an den restlichen Kosten, also mit 22,5 Milliar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8603
Alois Karl
(A) den Euro, beteiligt und dafür Zinsen in Höhe von ren zu ziehen. Es wird eine Diskussion sein, die wir in (C)
3,12 Prozent verlangt. Dadurch wird den Iren in der Tat der Tat vor dem Jahr 2013 führen müssen. Es wird da-
geholfen. rum gehen, dass wir eine Rangfolge werden einhalten
müssen und dass wir sagen, dass sich in allererster Linie
(Beifall bei der CDU/CSU) das Schuldnerland wird beteiligen müssen. Diejenigen,
Ich bin dankbar, dass durch die Fazilitäten ebenfalls die Gläubiger sind, werden sich in zweiter Linie beteili-
mit 22,5 Milliarden Euro unterstützt wird, und es ist ein gen müssen, und dann wird auch die Staatengemein-
Gebot der Korrektheit, dass man sagt: Auch Länder wie schaft in Europa ihren Anteil leisten müssen.
Großbritannien, Schweden und Dänemark, die nicht zur Bis dahin, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Euro-Zone gehören, unterstützen diesen Rettungsfonds werden wir uns hoffentlich nicht mehr zu häufig zu die-
mit ihrem Beitrag von etwa 5 Milliarden Euro. Auch das sem Thema hier sprechen müssen. Heute ist klar: Wir
ist ein großartiger Beitrag im Rahmen der Solidarität in müssen an der Seite von Irland stehen. Alles andere wäre
Europa. eine Katastrophe für uns, für Europa und für unsere
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Währung, den Euro.
neten der FDP) Vielen herzlichen Dank.
Ich möchte hier ausdrücklich erwähnen, dass Irland tat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sächlich auch Freunde außerhalb der Euro-Zone hat,
auch deshalb, weil Vertrauen darin besteht, dass sich Ir-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
land weiterhin anstrengen wird, um aus der jetzigen Si-
tuation herauszukommen. Ich schließe die Aussprache.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir nun zwei na-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
mentliche Abstimmungen und zwei einfache Abstim-
viel gehört. Irland muss sich anstrengen. Die Steuern
mungen im Wechsel durchführen werden. Zu dem An-
werden erhöht, die Zahl der Mitarbeiter im öffentlichen
trag der Koalitionsfraktionen liegen einige wenige
Dienst wird um 25 000 gekürzt und die Bediensteten des
persönliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
öffentlichen Dienstes bekommen zwischen 10 und 30 Pro-
nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
zent weniger Entlohnung.
Wir kommen zunächst zu dem Antrag der Fraktion
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Die Arbeitneh-
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4065 mit
mer!)
dem Titel „Irland unterstützen und Steuerharmonisie-
Ich habe heute Vormittag mit dem irischen Botschaf- rung vorantreiben, hier: Stellungnahme des Deutschen
(B) ter in Deutschland gesprochen. Er wird einen gehörigen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge- (D)
Abschlag hinnehmen müssen. Trotzdem steht er dahinter setzes“. Wir stimmen über den Antrag auf Verlangen der
und sagt: Wir werden das schaffen. Wir werden es auch Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
deshalb schaffen, weil wir unsere niedrigen Körper- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
schaftsteuersätze halten können. – Das ist die Vorausset- Urnen zu besetzen. – Sind Schriftführerinnen und
zung dafür, dass Irland auch in den nächsten Monaten Schriftführer an allen Urnen? – Das ist der Fall. Damit
und Jahren wieder zu einer blühenden Volkswirtschaft eröffne ich die Abstimmung.
wird. Gerade dies ist nötig, damit Irland das Geld erwirt-
schaftet, um die jetzigen Konsolidierungsanstrengungen Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm-
in der Tat zu meistern. karte abgegeben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Meine Damen und Herren, wir sollten doch nicht Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2)
glauben, dass wir von Deutschland aus eine Steuerhar-
monisierung in Europa jetzt lostreten oder verordnen Ich bitte die Mitglieder der Fraktionen, sich zu ihren
könnten. Vor dem Hintergrund, dass es uns schon in Plätzen zu bewegen, weil wir jetzt eine einfache Abstim-
Deutschland nicht gelingt, dass für die Städte und Ge- mung durchführen.
meinden vergleichbare oder gleiche Hebesätze für die Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der Frak-
Gewerbesteuer, für die Grundsteuer A und die Grund- tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4082
steuer B gelten – unsere Städte und Gemeinden haben mit dem Titel „Irland unterstützen und den Euro stabilisie-
also unterschiedliche Steuersätze –, frage ich Sie: Wie ren, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages ge-
sollten wir uns erdreisten, unseren Freunden in Europa mäß Artikel 23 des Grundgesetzes“. Wer stimmt für die-
– und jetzt insbesondere unseren Freunden in Irland – zu sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
sagen, welche Steuersätze sie anwenden müssten? – In- Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
sofern sind die Überlegungen, die Sie jetzt äußern, völlig tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und der
verwoben und übersteigert. Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Grünen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 9: Abstimmung
Ich bin optimistisch und zuversichtlich, dass Irland über den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
mit den großen Anstrengungen, die es auf sich genom-
men hat, in wenigen Jahren wieder auf einem sicheren 1) Anlage 5
Pfad sein wird. Es kommt auf uns an, die richtigen Leh- 2) Ergebnis Seite 8606 C
8604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) sache 17/4014 mit dem Titel „Irland unterstützen und weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (C)
gerechten, wirksamen Mechanismus zur Bewältigung NIS 90/DIE GRÜNEN
von Staatsfinanzierungskrisen schaffen, hier: Stellung-
Internationaler Klimaschutz vor Cancún –
nahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23
Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum
Absatz 3 des Grundgesetzes“. Wir stimmen über diesen
Ziel
Antrag auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich
ab. – Drucksache 17/4016 –
Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer noch an Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
ihren Plätzen? – Das ist offenkundig der Fall. Dann bitte Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ich, mit der Abstimmung zu beginnen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte noch Entwicklung
nicht eingeworfen? – Das ist nicht der Fall. Dann Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
nen. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
werden Ihnen später bekannt gegeben.1)
so beschlossen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4029 mit dem
ner dem Kollegen Frank Schwabe von der SPD-Fraktion
Titel „Profiteure der Krise zur Kasse bitten – Keine wei-
das Wort.
tere Verstaatlichung fauler Bankkredite bei Finanzhilfen
für Irland, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- (Beifall bei der SPD)
ges nach Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Frank Schwabe (SPD):
haltungen? – Dann ist der Antrag abgelehnt mit den Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der und Kollegen! In den vergangenen Tagen stand in der
FDP und Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der Süddeutschen Zeitung ein Bericht, der sich auf den ers-
Fraktion Die Linke. ten Blick sehr skurril anhört, aber die Dramatik des The-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf: mas schildert, über das wir heute reden.
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD In dem Artikel ist die Rede davon, dass es seit 332 Jah-
(B) ren ein Gebet im schweizerischen Wallis gibt, dass der (D)
Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem Aletschgletscher nicht weiter wachsen soll. Er ist näm-
globalen Klimaschutzabkommen lich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg gewach-
– Drucksache 17/3998 – sen. Immer dann, wenn ein Stück von diesem Gletscher
abgebrochen ist, gab es Überschwemmungen und Erd-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) rutsche.
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Mittlerweile wurde die Bitte an den Vatikan gerichtet,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dieses Gebet verändern zu dürfen, und zwar dahin ge-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und hend, dass der Gletscher nicht schrumpfen soll. Der Vati-
Verbraucherschutz kan hat dem zugestimmt. Das macht deutlich, wie weit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung der Klimawandel mittlerweile auch in Europa vorange-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung schritten ist. Wenn man sich den Klimawandel im globa-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union len Maßstab vor Augen führt, dann stellt man fest, dass
Haushaltsausschuss es weit dramatischer ist.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Ähnlich ist die Situation in den Anden. In Lima leben
Jung (Konstanz), Marie-Luise Dött, Peter 9 Millionen Menschen, die auf eine aus den Anden-Glet-
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schern gespeiste Wasserversorgung angewiesen sind.
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael Die Menschen sind massiv bedroht, weil demnächst
Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, Trinkwasser nicht mehr in gleichem Umfang wie bisher
weiterer Abgeordneter und und der Fraktion der zur Verfügung steht. Für Inseln wie Mikronesien und Tu-
FDP valu ist der Klimawandel keine ferne Theorie mehr. Die
dort lebenden Menschen planen bereits, ihre Inseln zu
Die UN-Klimakonferenz in Cancún – Fort-
verlassen. Guatemala und Costa Rica wurden in diesem
schritte für den Klimaschutz erreichen
Jahr von mehreren Tropenstürmen heimgesucht. In El
– Drucksache 17/4010 – Salvador findet während der Erntezeit keine Schule statt,
damit die Kinder bei der Ernte helfen können. Da sich
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten die Zeiten der Einsaat und der Ernte wegen des Klima-
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe, wandels verschoben haben, gibt es einen neuen Schulka-
lender, damit man wieder genau weiß, wann auf die Ern-
1) Ergebnis Seite 8608 B tezeit Rücksicht zu nehmen ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8605
Frank Schwabe
(A) Man sieht also: All die Herausforderungen, über die che Weise besser und vor allem zehnmal konkreter war (C)
wir jetzt diskutieren und in Cancún reden werden, war- als Ihr sogenanntes Energiekonzept.
ten nicht. Es geschieht hier und jetzt. Der Klimawandel
wird sich weiter verstärken. Er wird nicht warten, egal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ob wir in Kopenhagen, Cancún oder sonst wo über die- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ses Thema diskutieren. Wir alle wissen: Ein allumfas- Wenn ich mir die Situation in Europa anschaue, dann
sendes Abkommen wird es nicht geben, auch nicht in stelle ich fest, dass wir seit mehreren Jahren über die
Cancún. Dennoch formulieren wir Erwartungen. Wir er- Frage reden, ob wir unser Minderungsziel auf 30 Prozent
warten beispielsweise Fortschritte beim Waldschutz. Da- erhöhen sollen. Herr Umweltminister Röttgen hat das
rüber müssen wir noch einmal mit unserer Delegations- mehrfach gefordert. Durchsetzen kann er sich in der Re-
leitung reden; denn Deutschland ist nicht gerade sehr gierung aber nicht. Leider findet sich dieses Ziel auch im
progressiv, wenn es um das Thema LULUCF geht. Ich Antrag der Koalition nicht wieder. Mir ist nicht klar, wie
kann hier nicht näher darauf eingehen. Aber wir sollten Sie das nationale Ziel von 40 Prozent erreichen wollen,
uns das zu Herzen nehmen und noch einmal mit dem wenn Sie nicht gleichzeitig innerhalb der Europäischen
Bundesumweltminister darüber reden. Union eine Erhöhung des Minderungsziels auf 30 Pro-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zent durchsetzen. Schließlich wird der gesamte Emis-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sionshandel auf europäischer Ebene geregelt. Wenn Sie
Ihr 40-Prozent-Ziel erreichen wollen, müssen wir inner-
Wir wollen in Cancún Verbesserungen und Fort- halb der Europäischen Union das 30-Prozent-Ziel festle-
schritte im Bereich der Anpassungsmaßnahmen erzielen, gen.
genauso wie beim Technologietransfer und bei der Fi-
nanzierung dieser Maßnahmen. Insofern gibt es durch- Am schlimmsten ist es allerdings bei dem Thema Fi-
aus Anforderungen an Cancún. Wir müssen aber aufpas- nanzierung der Klimaschutzziele. Was glauben Sie ei-
sen, dass wir die Anforderungen nicht zu gering gentlich, wie es die Entwicklungsländer, von denen ich
bemessen, vor allen Dingen nicht die an uns selbst. Wir am Anfang geredet habe, finden, wenn sie sehen, wie Sie
müssen Schluss mit dem Warten auf den Langsamsten bei der Finanzierung des internationalen Klimaschutzes
im internationalen Klimaprozess machen. Der Kollege tricksen?
Ott, der gleich reden wird, hat das „Klimapolitik der un-
terschiedlichen Geschwindigkeiten“ genannt. Darum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wird es nun gehen: Was ist fortschrittlich, und welches des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
ist der Erfolgsweg für die Volkswirtschaften in Europa, Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])
wenn man bedenkt, dass die Ressourcen knapper werden
(B) Sie haben 1,26 Milliarden Euro in Kopenhagen zuge- (D)
und dass der Klimawandel in Zukunft dramatischer
sagt, am Ende werden es aber nur 10 Prozent dieser
wird? Darauf müssen wir uns stärker besinnen. Der Er-
Summe sein, die neu und zusätzlich – das ist das Ent-
folgsweg kann nur darin bestehen, Energie und Roh-
scheidende – zur Verfügung gestellt werden. Auch Frau
stoffe deutlich effizienter einzusetzen. Wir sollten diesen
Staatssekretärin Kopp wird in Cancún sein, wie ich gele-
Weg aus eigener Erkenntnis gehen, vollkommen egal,
sen habe. Frau Staatssekretärin Kopp hat in der letzten
was andere auf der Welt machen. Das ist das Gebot der
Woche in einem AFP-Gespräch gesagt, diese Mittel
Stunde.
seien insofern zusätzliche Mittel, als sie neu und zusätz-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich zu den Leistungen des BMZ in 2009 auf ein be-
DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling- stimmtes Thema bezogen seien, nämlich den Klima-
Schröter [DIE LINKE]) schutz. Ich habe zuerst überhaupt nicht verstanden, was
damit gemeint ist. Das heißt, immer dann, wenn man
Wir sollten Allianzen der Fortschrittlichen bilden, Gelder, die schon zugesagt worden sind, umdeklariert
also mit den Teilen der Erde, in denen die Menschen be- und auf ein anderes Thema bezieht, ist es neues und zu-
reit sind, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen. Ich sätzliches Geld. So meinen Sie das offenbar in diesem
glaube, man kann solche Allianzen mit Lateinamerika Zusammenhang. Das heißt, wenn dieselben 1,26 Mil-
beim Schutz des Regenwaldes und mit Südostasien bei liarden Euro demnächst auf irgendeiner Konferenz für
der technologischen Entwicklung schließen. Südkorea, die Malariabekämpfung zugesagt werden, dann ist das
China und andere asiatische Länder sind bereits auf ei- nach Ihrer Interpretation – so muss ich das verstehen –
nem guten Weg. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere neues und zusätzliches Geld.
Außenpolitik anders ausrichten müssen. Klimaschutz
und Energiesicherheit müssen in Zukunft zentrale The- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ihr habt gar
men unserer Außenpolitik sein. nichts verstanden!)
Jetzt komme ich zum kritischen Teil. Was tun wir in Es ist abenteuerlich, was die Bundesregierung macht. Es
Deutschland unter Schwarz-Gelb? Mein Eindruck ist, ist ein dicker Klotz für die Verhandlungen in Cancún; es
dass wir in das Mittelmaß zurückgefallen sind. Wenn ich ist ein dicker Klotz, den Sie, Frau Kopp, im Gepäck ha-
mir die aktuellen Debatten in diesem Land anschaue, ben werden.
dann stelle ich fest: Es gibt ein sogenanntes Energiekon-
zept. Der Umweltbericht 2010 der Bundesregierung, (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
über den wir gestern bereits diskutiert haben, macht Wo die leben, heißen solche Leute Heirats-
deutlich, dass das Klimaprogramm von 2007 auf vielfa- schwindler!)
8606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Frank Schwabe
(A) Ich kann leider im Einzelnen auf die Anträge nicht quete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqua- (C)
eingehen. Ich möchte nur einen Punkt aufgreifen. Sie lität“ gesagt hat, dass die christliche Sicht auch zum
fordern, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Aus- Prinzip der Nachhaltigkeit einlädt. Ich glaube, das kann
weitung der CDM-Projekte. Die Europäische Union tut man unterstützen. In diesem Sinne sollten wir gemein-
gerade zum Glück das Gegenteil. Sie diskutiert darüber, sam nach Cancún reisen.
ob man die CDM-Projekte nicht einschränken muss. Ich
Vielen Dank.
war am Montag in einer Schulklasse. Dort haben mich
die Schüler gefragt, ob der Emissionshandel nicht so et- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
was wie ein Ablasshandel sei. Gerade für den Bereich DIE GRÜNEN)
des CDM muss ich sagen, dass der Emissionshandel im-
mer mehr zum Ablasshandel verkommen ist. Deswegen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ist nicht eine Ausweitung von CDM das Gebot der Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
Stunde, sondern eine Reduzierung dieser Maßnahme. ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstim-
Nichtsdestotrotz, wir werden gemeinsam mit einer
mungen bekannt.
Delegation des Deutschen Bundestages in Cancún sein.
Wir werden uns bemühen, gemeinsam Fortschritte zu er- Zunächst zur ersten namentlichen Abstimmung über
zielen und gemeinsam zu agieren. Worauf sich der Ein- den Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
zelne beruft, ist jedem selbst überlassen, ob es die so- Dr. Gerhard Schick und der Fraktion Bündnis 90/Die
ziale Verantwortung für die betroffenen Menschen oder Grünen mit dem Titel „Irland unterstützen und Steuer-
ob es die Ehrfurcht vor der Artenvielfalt bei Tieren und harmonisierung vorantreiben“. Abgegebene Stimmen
Pflanzen ist. Man kann es aber auch wie Herr 576. Mit Ja haben gestimmt 195, mit Nein haben ge-
Dr. Zimmer von der Union formulieren, der gestern in stimmt 378, Enthaltungen 3. Der Antrag ist damit abge-
einer bemerkenswerten Rede zur Einsetzung der En- lehnt.

Endgültiges Ergebnis Karin Evers-Meyer Anette Kramme Marlene Rupprecht


Abgegebene Stimmen: 576; Gabriele Fograscher Nicolette Kressl (Tuchenbach)
davon Dr. Edgar Franke Angelika Krüger-Leißner Anton Schaaf
Dagmar Freitag Ute Kumpf Axel Schäfer (Bochum)
ja: 195
(B) Peter Friedrich Christine Lambrecht Bernd Scheelen (D)
nein: 378 Sigmar Gabriel Christian Lange (Backnang) Marianne Schieder
enthalten: 3 Michael Gerdes Dr. Karl Lauterbach (Schwandorf)
Martin Gerster Steffen-Claudio Lemme Ulla Schmidt (Aachen)
Ja Iris Gleicke Burkhard Lischka Silvia Schmidt (Eisleben)
Ulrike Gottschalck Gabriele Lösekrug-Möller Carsten Schneider (Erfurt)
SPD Angelika Graf (Rosenheim) Kirsten Lühmann Swen Schulz (Spandau)
Kerstin Griese Caren Marks Ewald Schurer
Ingrid Arndt-Brauer Michael Groschek Katja Mast Frank Schwabe
Rainer Arnold Michael Groß Hilde Mattheis Dr. Martin Schwanholz
Heinz-Joachim Barchmann Wolfgang Gunkel Petra Merkel (Berlin) Rolf Schwanitz
Dr. Hans-Peter Bartels Hans-Joachim Hacker Ullrich Meßmer Stefan Schwartze
Sören Bartol Bettina Hagedorn
Bärbel Bas Dr. Matthias Miersch Rita Schwarzelühr-Sutter
Klaus Hagemann Dr. Carsten Sieling
Dirk Becker Franz Müntefering
Michael Hartmann
Uwe Beckmeyer Dr. Rolf Mützenich Sonja Steffen
(Wackernheim)
Lothar Binding (Heidelberg) Manfred Nink Peer Steinbrück
Hubertus Heil (Peine)
Gerd Bollmann Thomas Oppermann Dr. Frank-Walter Steinmeier
Rolf Hempelmann
Klaus Brandner Gustav Herzog Holger Ortel Christoph Strässer
Willi Brase Gabriele Hiller-Ohm Aydan Özoğuz Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bernhard Brinkmann Petra Hinz (Essen) Heinz Paula Franz Thönnes
(Hildesheim) Frank Hofmann (Volkach) Johannes Pflug Wolfgang Tiefensee
Edelgard Bulmahn Dr. Eva Högl Joachim Poß Rüdiger Veit
Ulla Burchardt Christel Humme Dr. Wilhelm Priesmeier Ute Vogt
Martin Burkert Josip Juratovic Florian Pronold Dr. Marlies Volkmer
Petra Crone Oliver Kaczmarek Dr. Sascha Raabe Andrea Wicklein
Dr. Peter Danckert Johannes Kahrs Mechthild Rawert Heidemarie Wieczorek-Zeul
Martin Dörmann Dr. h. c. Susanne Kastner Gerold Reichenbach Dr. Dieter Wiefelspütz
Elvira Drobinski-Weiß Ulrich Kelber Dr. Carola Reimann Waltraud Wolff
Garrelt Duin Lars Klingbeil Sönke Rix (Wolmirstedt)
Sebastian Edathy Hans-Ulrich Klose René Röspel Uta Zapf
Siegmund Ehrmann Dr. Bärbel Kofler Dr. Ernst Dieter Rossmann Dagmar Ziegler
Dr. h. c. Gernot Erler Daniela Kolbe (Leipzig) Karin Roth (Esslingen) Manfred Zöllmer
Petra Ernstberger Fritz Rudolf Körper Michael Roth (Heringen) Brigitte Zypries
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8607
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) BÜNDNIS 90/ Nein Olav Gutting Dr. Michael Luther (C)
DIE GRÜNEN Florian Hahn Karin Maag
CDU/CSU Holger Haibach Hans-Georg von der Marwitz
Kerstin Andreae
Dr. Stephan Harbarth Andreas Mattfeldt
Marieluise Beck (Bremen) Peter Altmaier
Jürgen Hardt Stephan Mayer (Altötting)
Volker Beck (Köln) Peter Aumer
Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Meister
Cornelia Behm Dorothee Bär
Thomas Bareiß Dr. Matthias Heider Dr. Angela Merkel
Birgitt Bender Mechthild Heil Maria Michalk
Alexander Bonde Norbert Barthle
Günter Baumann Frank Heinrich Dr. h. c. Hans Michelbach
Viola von Cramon-Taubadel Rudolf Henke Dr. Mathias Middelberg
Ekin Deligöz Ernst-Reinhard Beck
(Reutlingen) Michael Hennrich Philipp Mißfelder
Katja Dörner Jürgen Herrmann Dietrich Monstadt
Manfred Behrens (Börde)
Hans-Josef Fell Ansgar Heveling Marlene Mortler
Dr. Christoph Bergner
Dr. Thomas Gambke Ernst Hinsken Dr. Gerd Müller
Peter Beyer
Kai Gehring Steffen Bilger Peter Hintze Stefan Müller (Erlangen)
Britta Haßelmann Clemens Binninger Christian Hirte Nadine Schön (St. Wendel)
Bettina Herlitzius Peter Bleser Robert Hochbaum Dr. Philipp Murmann
Winfried Hermann Dr. Maria Böhmer Karl Holmeier Bernd Neumann (Bremen)
Priska Hinz (Herborn) Wolfgang Börnsen Franz-Josef Holzenkamp Michaela Noll
Ulrike Höfken (Bönstrup) Anette Hübinger Dr. Georg Nüßlein
Dr. Anton Hofreiter Wolfgang Bosbach Thomas Jarzombek Franz Obermeier
Bärbel Höhn Norbert Brackmann Dieter Jasper Eduard Oswald
Ingrid Hönlinger Klaus Brähmig Dr. Franz Josef Jung Henning Otte
Thilo Hoppe Michael Brand Andreas Jung (Konstanz) Dr. Michael Paul
Uwe Kekeritz Dr. Reinhard Brandl Dr. Egon Jüttner Rita Pawelski
Katja Keul Helmut Brandt Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold
Memet Kilic Dr. Ralf Brauksiepe Hans-Werner Kammer Dr. Joachim Pfeiffer
Dr. Helge Braun Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer
Sven-Christian Kindler
Heike Brehmer Alois Karl Beatrix Philipp
Maria Klein-Schmeink
Ralph Brinkhaus Bernhard Kaster Ronald Pofalla
Ute Koczy Siegfried Kauder (Villingen-
Gitta Connemann Christoph Poland
Tom Koenigs Schwenningen) Daniela Raab
Oliver Krischer Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt Volker Kauder Thomas Rachel
Agnes Krumwiede Dr. Stefan Kaufmann Eckhardt Rehberg
Thomas Dörflinger
Stephan Kühn Roderich Kiesewetter Katherina Reiche (Potsdam)
(B) Renate Künast
Marie-Luise Dött (D)
Dr. Thomas Feist Eckart von Klaeden Lothar Riebsamen
Markus Kurth Enak Ferlemann Ewa Klamt Josef Rief
Undine Kurth (Quedlinburg) Ingrid Fischbach Volkmar Klein Klaus Riegert
Monika Lazar Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Dr. Heinz Riesenhuber
Agnes Malczak Dirk Fischer (Hamburg) Julia Klöckner Johannes Röring
Jerzy Montag Axel E. Fischer (Karlsruhe- Axel Knoerig Dr. Christian Ruck
Kerstin Müller (Köln) Land) Jens Koeppen Erwin Rüddel
Beate Müller-Gemmeke Dr. Maria Flachsbarth Dr. Kristina Schröder Albert Rupprecht (Weiden)
Dr. Konstantin von Notz Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe Anita Schäfer (Saalstadt)
Omid Nouripour Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Rolf Koschorrek Dr. Wolfgang Schäuble
Friedrich Ostendorff (Hof) Hartmut Koschyk Dr. Annette Schavan
Dr. Hermann Ott Michael Frieser Thomas Kossendey Dr. Andreas Scheuer
Lisa Paus Dr. Michael Fuchs Michael Kretschmer Karl Schiewerling
Brigitte Pothmer Hans-Joachim Fuchtel Gunther Krichbaum Norbert Schindler
Tabea Rößner Alexander Funk Dr. Günter Krings Tankred Schipanski
Claudia Roth (Augsburg) Ingo Gädechens Rüdiger Kruse Georg Schirmbeck
Krista Sager Dr. Thomas Gebhart Bettina Kudla Christian Schmidt (Fürth)
Norbert Geis Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder
Manuel Sarrazin
Alois Gerig Günter Lach Bernhard Schulte-Drüggelte
Elisabeth Scharfenberg
Eberhard Gienger Dr. Karl A. Lamers Uwe Schummer
Christine Scheel
Michael Glos (Heidelberg) Armin Schuster (Weil am
Dr. Gerhard Schick Andreas G. Lämmel Rhein)
Josef Göppel
Dr. Frithjof Schmidt Peter Götz Dr. Norbert Lammert Detlef Seif
Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Götzer Katharina Landgraf Johannes Selle
Dr. Wolfgang Strengmann- Ute Granold Ulrich Lange Reinhold Sendker
Kuhn Reinhard Grindel Dr. Max Lehmer Dr. Patrick Sensburg
Dr. Harald Terpe Hermann Gröhe Paul Lehrieder Bernd Siebert
Markus Tressel Michael Grosse-Brömer Dr. Ursula von der Leyen Thomas Silberhorn
Jürgen Trittin Markus Grübel Ingbert Liebing Johannes Singhammer
Daniela Wagner Manfred Grund Matthias Lietz Jens Spahn
Wolfgang Wieland Monika Grütters Dr. Carsten Linnemann Carola Stauche
Dr. Valerie Wilms Dr. Karl-Theodor Freiherr Patricia Lips Dr. Frank Steffel
Josef Philip Winkler zu Guttenberg Dr. Jan-Marco Luczak Erika Steinbach
8608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Christian Freiherr von Stetten Dr. Bijan Djir-Sarai Björn Sänger Andrej Hunko (C)
Dieter Stier Patrick Döring Frank Schäffler Ulla Jelpke
Gero Storjohann Mechthild Dyckmans Christoph Schnurr Dr. Lukrezia Jochimsen
Stephan Stracke Rainer Erdel Jimmy Schulz Katja Kipping
Max Straubinger Jörg van Essen Marina Schuster Harald Koch
Karin Strenz Ulrike Flach Dr. Erik Schweickert Jan Korte
Thomas Strobl (Heilbronn) Otto Fricke Werner Simmling Caren Lay
Lena Strothmann Dr. Edmund Peter Geisen Judith Skudelny Sabine Leidig
Michael Stübgen Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Hermann Otto Solms Ralph Lenkert
Dr. Peter Tauber Hans-Michael Goldmann Joachim Spatz Michael Leutert
Antje Tillmann Heinz Golombeck Dr. Max Stadler Stefan Liebich
Dr. Hans-Peter Uhl Joachim Günther (Plauen) Torsten Staffeldt Dr. Gesine Lötzsch
Arnold Vaatz Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Rainer Stinner Thomas Lutze
Volkmar Vogel (Kleinsaara) Heinz-Peter Haustein Stephan Thomae Ulrich Maurer
Stefanie Vogelsang Manuel Höferlin Florian Toncar Dorothee Menzner
Andrea Astrid Voßhoff Elke Hoff Serkan Tören Cornelia Möhring
Marco Wanderwitz Birgit Homburger Johannes Vogel Niema Movassat
Kai Wegner Dr. Werner Hoyer (Lüdenscheid) Wolfgang Nešković
Marcus Weinberg (Hamburg) Heiner Kamp Dr. Daniel Volk Thomas Nord
Peter Weiß (Emmendingen) Michael Kauch Dr. Guido Westerwelle Petra Pau
Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Lutz Knopek Dr. Claudia Winterstein Richard Pitterle
Ingo Wellenreuther Pascal Kober Dr. Volker Wissing Yvonne Ploetz
Karl-Georg Wellmann Dr. Heinrich L. Kolb Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ingrid Remmers
Peter Wichtel Gudrun Kopp Paul Schäfer (Köln)
Annette Widmann-Mauz Dr. h. c. Jürgen Koppelin DIE LINKE Michael Schlecht
Klaus-Peter Willsch Sebastian Körber Dr. Ilja Seifert
Holger Krestel Jan van Aken
Elisabeth Winkelmeier- Kathrin Senger-Schäfer
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Agnes Alpers
Becker Dr. Petra Sitte
Heinz Lanfermann Herbert Behrens
Dagmar Wöhrl Kersten Steinke
Sibylle Laurischk Karin Binder
Dr. Matthias Zimmer Sabine Stüber
Harald Leibrecht Matthias W. Birkwald
Wolfgang Zöller Alexander Süßmair
Lars Lindemann Heidrun Bluhm
Willi Zylajew Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Martin Lindner (Berlin) Steffen Bockhahn
Christine Buchholz Dr. Axel Troost
FDP Michael Link (Heilbronn)
Eva Bulling-Schröter Alexander Ulrich
Dr. Erwin Lotter
(B) Jens Ackermann Dr. Martina Bunge Kathrin Vogler (D)
Oliver Luksic
Christian Ahrendt Roland Claus Johanna Voß
Horst Meierhofer
Christine Aschenberg- Sevim Dağdelen Harald Weinberg
Patrick Meinhardt
Dugnus Dr. Diether Dehm Katrin Werner
Gabriele Molitor
Daniel Bahr (Münster) Heidrun Dittrich Jörn Wunderlich
Jan Mücke
Florian Bernschneider Werner Dreibus Sabine Zimmermann
Petra Müller (Aachen)
Sebastian Blumenthal Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Dagmar Enkelmann
Claudia Bögel Dr. Martin Neumann Klaus Ernst Enthalten
Nicole Bracht-Bendt (Lausitz) Wolfgang Gehrcke
Klaus Breil Dirk Niebel Nicole Gohlke SPD
Rainer Brüderle Cornelia Pieper Diana Golze
Klaus Barthel
Angelika Brunkhorst Gisela Piltz Annette Groth
Werner Schieder (Weiden)
Ernst Burgbacher Dr. Christiane Ratjen- Dr. Gregor Gysi
Marco Buschmann Damerau Heike Hänsel
BÜNDNIS 90/
Sylvia Canel Dr. Birgit Reinemund Dr. Rosemarie Hein
DIE GRÜNEN
Helga Daub Dr. Peter Röhlinger Inge Höger
Reiner Deutschmann Dr. Stefan Ruppert Dr. Barbara Höll Hans-Christian Ströbele

Nun zur zweiten namentlichen Abstimmung über den 575. Mit Ja haben gestimmt 197, mit Nein 377, Enthal-
Antrag der Fraktion der SPD. Abgegebene Stimmen tungen 1. Auch dieser Antrag ist damit abgelehnt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8609
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Endgültiges Ergebnis Johannes Kahrs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Christine Scheel (C)
Abgegebene Stimmen: 575; Dr. h. c. Susanne Kastner Franz Thönnes Dr. Gerhard Schick
davon Ulrich Kelber Wolfgang Tiefensee Dr. Frithjof Schmidt
Lars Klingbeil Rüdiger Veit Dorothea Steiner
ja: 197
Hans-Ulrich Klose Ute Vogt Dr. Wolfgang Strengmann-
nein: 377 Dr. Bärbel Kofler Dr. Marlies Volkmer Kuhn
enthalten: 1 Daniela Kolbe (Leipzig) Andrea Wicklein Dr. Harald Terpe
Fritz Rudolf Körper Heidemarie Wieczorek-Zeul Markus Tressel
Ja Anette Kramme Dr. Dieter Wiefelspütz Jürgen Trittin
Nicolette Kressl Waltraud Wolff Daniela Wagner
SPD Angelika Krüger-Leißner (Wolmirstedt) Wolfgang Wieland
Ute Kumpf Uta Zapf Dr. Valerie Wilms
Ingrid Arndt-Brauer Christine Lambrecht Dagmar Ziegler Josef Philip Winkler
Rainer Arnold Christian Lange (Backnang) Manfred Zöllmer
Heinz-Joachim Barchmann Dr. Karl Lauterbach Brigitte Zypries
Dr. Hans-Peter Bartels Nein
Steffen-Claudio Lemme
Klaus Barthel Burkhard Lischka BÜNDNIS 90/
Sören Bartol CDU/CSU
Gabriele Lösekrug-Möller DIE GRÜNEN
Bärbel Bas Kirsten Lühmann Peter Altmaier
Dirk Becker Kerstin Andreae Peter Aumer
Caren Marks Marieluise Beck (Bremen)
Uwe Beckmeyer Dorothee Bär
Katja Mast Volker Beck (Köln)
Lothar Binding (Heidelberg) Thomas Bareiß
Hilde Mattheis Cornelia Behm
Gerd Bollmann Norbert Barthle
Petra Merkel (Berlin) Birgitt Bender
Klaus Brandner Günter Baumann
Ullrich Meßmer Alexander Bonde
Willi Brase Ernst-Reinhard Beck
Dr. Matthias Miersch Viola von Cramon-Taubadel
Bernhard Brinkmann (Reutlingen)
Franz Müntefering Ekin Deligöz
(Hildesheim) Manfred Behrens (Börde)
Dr. Rolf Mützenich Katja Dörner
Edelgard Bulmahn Dr. Christoph Bergner
Manfred Nink Hans-Josef Fell
Ulla Burchardt Peter Beyer
Martin Burkert Thomas Oppermann Dr. Thomas Gambke Steffen Bilger
Petra Crone Holger Ortel Kai Gehring Clemens Binninger
Dr. Peter Danckert Aydan Özoğuz Britta Haßelmann Peter Bleser
Martin Dörmann Heinz Paula Bettina Herlitzius Dr. Maria Böhmer
Elvira Drobinski-Weiß Johannes Pflug Winfried Hermann Wolfgang Börnsen
Garrelt Duin Joachim Poß Priska Hinz (Herborn) (Bönstrup)
(B) Sebastian Edathy Dr. Wilhelm Priesmeier Ulrike Höfken Norbert Brackmann (D)
Siegmund Ehrmann Florian Pronold Dr. Anton Hofreiter Klaus Brähmig
Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Sascha Raabe Bärbel Höhn Michael Brand
Petra Ernstberger Mechthild Rawert Ingrid Hönlinger Dr. Reinhard Brandl
Karin Evers-Meyer Gerold Reichenbach Thilo Hoppe Helmut Brandt
Gabriele Fograscher Dr. Carola Reimann Uwe Kekeritz Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Edgar Franke Sönke Rix Katja Keul Dr. Helge Braun
Dagmar Freitag René Röspel Memet Kilic Heike Brehmer
Peter Friedrich Dr. Ernst Dieter Rossmann Sven-Christian Kindler Ralph Brinkhaus
Sigmar Gabriel Karin Roth (Esslingen) Maria Klein-Schmeink Gitta Connemann
Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) Ute Koczy Leo Dautzenberg
Martin Gerster Marlene Rupprecht Tom Koenigs Alexander Dobrindt
Iris Gleicke (Tuchenbach) Oliver Krischer Thomas Dörflinger
Ulrike Gottschalck Anton Schaaf Agnes Krumwiede Marie-Luise Dött
Angelika Graf (Rosenheim) Axel Schäfer (Bochum) Stephan Kühn Dr. Thomas Feist
Kerstin Griese Bernd Scheelen Renate Künast Enak Ferlemann
Michael Groschek Marianne Schieder Markus Kurth Ingrid Fischbach
Michael Groß (Schwandorf) Undine Kurth (Quedlinburg) Hartwig Fischer (Göttingen)
Wolfgang Gunkel Werner Schieder (Weiden) Monika Lazar Dirk Fischer (Hamburg)
Hans-Joachim Hacker Ulla Schmidt (Aachen) Agnes Malczak Axel E. Fischer (Karlsruhe-
Bettina Hagedorn Silvia Schmidt (Eisleben) Jerzy Montag Land)
Klaus Hagemann Carsten Schneider (Erfurt) Kerstin Müller (Köln) Dr. Maria Flachsbarth
Michael Hartmann Swen Schulz (Spandau) Beate Müller-Gemmeke Klaus-Peter Flosbach
(Wackernheim) Ewald Schurer Dr. Konstantin von Notz Dr. Hans-Peter Friedrich
Hubertus Heil (Peine) Frank Schwabe Omid Nouripour (Hof)
Rolf Hempelmann Dr. Martin Schwanholz Friedrich Ostendorff Michael Frieser
Gustav Herzog Rolf Schwanitz Dr. Hermann Ott Dr. Michael Fuchs
Gabriele Hiller-Ohm Stefan Schwartze Lisa Paus Hans-Joachim Fuchtel
Petra Hinz (Essen) Rita Schwarzelühr-Sutter Brigitte Pothmer Alexander Funk
Frank Hofmann (Volkach) Dr. Carsten Sieling Tabea Rößner Ingo Gädechens
Dr. Eva Högl Sonja Steffen Claudia Roth (Augsburg) Dr. Thomas Gebhart
Christel Humme Peer Steinbrück Krista Sager Norbert Geis
Josip Juratovic Dr. Frank-Walter Steinmeier Manuel Sarrazin Alois Gerig
Oliver Kaczmarek Christoph Strässer Elisabeth Scharfenberg Eberhard Gienger
8610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Michael Glos Dr. Karl A. Lamers Bernhard Schulte-Drüggelte Mechthild Dyckmans (C)
Josef Göppel (Heidelberg) Uwe Schummer Rainer Erdel
Peter Götz Andreas G. Lämmel Armin Schuster (Weil am Jörg van Essen
Dr. Wolfgang Götzer Dr. Norbert Lammert Rhein) Ulrike Flach
Ute Granold Katharina Landgraf Detlef Seif Otto Fricke
Reinhard Grindel Ulrich Lange Johannes Selle Dr. Edmund Peter Geisen
Hermann Gröhe Dr. Max Lehmer Reinhold Sendker Dr. Wolfgang Gerhardt
Michael Grosse-Brömer Paul Lehrieder Dr. Patrick Sensburg Hans-Michael Goldmann
Markus Grübel Dr. Ursula von der Leyen Bernd Siebert Heinz Golombeck
Manfred Grund Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Joachim Günther (Plauen)
Monika Grütters Matthias Lietz Johannes Singhammer Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Carsten Linnemann Jens Spahn Heinz-Peter Haustein
zu Guttenberg Patricia Lips Carola Stauche Manuel Höferlin
Olav Gutting Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Frank Steffel Elke Hoff
Florian Hahn Dr. Michael Luther Erika Steinbach Birgit Homburger
Holger Haibach Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Dr. Werner Hoyer
Dr. Stephan Harbarth Hans-Georg von der Marwitz Dieter Stier Heiner Kamp
Jürgen Hardt Andreas Mattfeldt Gero Storjohann Michael Kauch
Gerda Hasselfeldt Stephan Mayer (Altötting) Stephan Stracke Dr. Lutz Knopek
Dr. Matthias Heider Dr. Michael Meister Max Straubinger Pascal Kober
Mechthild Heil Dr. Angela Merkel Karin Strenz Dr. Heinrich L. Kolb
Maria Michalk Thomas Strobl (Heilbronn) Gudrun Kopp
Frank Heinrich
Dr. h. c. Hans Michelbach Lena Strothmann Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Rudolf Henke
Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Sebastian Körber
Michael Hennrich
Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Holger Krestel
Jürgen Herrmann
Dietrich Monstadt Antje Tillmann Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Ansgar Heveling
Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl Heinz Lanfermann
Ernst Hinsken Arnold Vaatz
Peter Hintze Dr. Gerd Müller Sibylle Laurischk
Stefan Müller (Erlangen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Harald Leibrecht
Christian Hirte Stefanie Vogelsang
Robert Hochbaum Nadine Schön (St. Wendel) Lars Lindemann
Dr. Philipp Murmann Andrea Astrid Voßhoff Dr. Martin Lindner (Berlin)
Karl Holmeier Marco Wanderwitz
Bernd Neumann (Bremen) Michael Link (Heilbronn)
Franz-Josef Holzenkamp Kai Wegner
Michaela Noll Dr. Erwin Lotter
Anette Hübinger Marcus Weinberg (Hamburg)
Dr. Georg Nüßlein Oliver Luksic
Thomas Jarzombek Peter Weiß (Emmendingen)
(B) Franz Obermeier Horst Meierhofer (D)
Dieter Jasper Sabine Weiss (Wesel I)
Eduard Oswald Patrick Meinhardt
Dr. Franz Josef Jung Ingo Wellenreuther
Henning Otte Gabriele Molitor
Andreas Jung (Konstanz) Karl-Georg Wellmann
Dr. Michael Paul Jan Mücke
Dr. Egon Jüttner Rita Pawelski Peter Wichtel Petra Müller (Aachen)
Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold Annette Widmann-Mauz Burkhardt Müller-Sönksen
Hans-Werner Kammer Dr. Joachim Pfeiffer Klaus-Peter Willsch Dr. Martin Neumann
Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer Elisabeth Winkelmeier- (Lausitz)
Alois Karl Beatrix Philipp Becker Dirk Niebel
Bernhard Kaster Ronald Pofalla Dagmar Wöhrl Cornelia Pieper
Siegfried Kauder (Villingen- Christoph Poland Dr. Matthias Zimmer Gisela Piltz
Schwenningen) Ruprecht Polenz Wolfgang Zöller Dr. Christiane Ratjen-
Volker Kauder Daniela Raab Willi Zylajew Damerau
Dr. Stefan Kaufmann Thomas Rachel Dr. Birgit Reinemund
Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg FDP Dr. Peter Röhlinger
Eckart von Klaeden Katherina Reiche (Potsdam) Jens Ackermann Dr. Stefan Ruppert
Ewa Klamt Lothar Riebsamen Christian Ahrendt Björn Sänger
Volkmar Klein Josef Rief Christine Aschenberg- Frank Schäffler
Jürgen Klimke Klaus Riegert Dugnus Christoph Schnurr
Julia Klöckner Dr. Heinz Riesenhuber Daniel Bahr (Münster) Jimmy Schulz
Axel Knoerig Johannes Röring Florian Bernschneider Marina Schuster
Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Sebastian Blumenthal Dr. Erik Schweickert
Dr. Kristina Schröder Erwin Rüddel Claudia Bögel Werner Simmling
Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Nicole Bracht-Bendt Judith Skudelny
Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Breil Dr. Hermann Otto Solms
Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Rainer Brüderle Joachim Spatz
Thomas Kossendey Dr. Annette Schavan Angelika Brunkhorst Dr. Max Stadler
Michael Kretschmer Dr. Andreas Scheuer Ernst Burgbacher Torsten Staffeldt
Gunther Krichbaum Karl Schiewerling Marco Buschmann Dr. Rainer Stinner
Dr. Günter Krings Norbert Schindler Sylvia Canel Stephan Thomae
Rüdiger Kruse Tankred Schipanski Helga Daub Florian Toncar
Bettina Kudla Georg Schirmbeck Reiner Deutschmann Serkan Tören
Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bijan Djir-Sarai Johannes Vogel
Günter Lach Patrick Schnieder Patrick Döring (Lüdenscheid)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8611
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Dr. Daniel Volk Dr. Diether Dehm Sabine Leidig Dr. Petra Sitte (C)
Dr. Guido Westerwelle Heidrun Dittrich Ralph Lenkert Kersten Steinke
Dr. Claudia Winterstein Dr. Dagmar Enkelmann Michael Leutert Sabine Stüber
Dr. Volker Wissing Klaus Ernst Stefan Liebich Alexander Süßmair
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Wolfgang Gehrcke Dr. Gesine Lötzsch Dr. Kirsten Tackmann
Nicole Gohlke Thomas Lutze Dr. Axel Troost
DIE LINKE Diana Golze Ulrich Maurer Alexander Ulrich
Annette Groth Dorothee Menzner Kathrin Vogler
Jan van Aken Dr. Gregor Gysi Cornelia Möhring Johanna Voß
Agnes Alpers Heike Hänsel Niema Movassat Harald Weinberg
Herbert Behrens Dr. Rosemarie Hein Wolfgang Nešković Katrin Werner
Karin Binder Inge Höger Thomas Nord Jörn Wunderlich
Matthias W. Birkwald Dr. Barbara Höll Petra Pau Sabine Zimmermann
Heidrun Bluhm Andrej Hunko Richard Pitterle
Steffen Bockhahn Ulla Jelpke Yvonne Ploetz
Christine Buchholz Dr. Lukrezia Jochimsen Ingrid Remmers Enthalten
Eva Bulling-Schröter Katja Kipping Paul Schäfer (Köln)
Dr. Martina Bunge BÜNDNIS 90/
Harald Koch Michael Schlecht
DIE GRÜNEN
Roland Claus Jan Korte Dr. Ilja Seifert
Sevim Dağdelen Caren Lay Kathrin Senger-Schäfer Hans-Christian Ströbele

Wir kommen jetzt zum Redebeitrag des Kollegen langsam, aber das ist der einzige Weg, der im internatio-
Andreas Jung von der CDU/CSU-Fraktion. nalen Prozess möglich ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb tritt die Bundesregierung dafür ein, dass es in
Cancún ein ausgewogenes Paket an Entscheidungen
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): gibt. Dafür hat sie die volle Unterstützung meiner Frak-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tion, der CDU/CSU. Was wollen wir in Cancún errei-
ist jetzt rund ein Jahr her, dass die Konferenz in Kopen- chen? Wir wollen, dass die Klimaarchitektur weiter aus-
hagen stattgefunden hat. Natürlich haben wir die Enttäu- gebaut wird, damit auf diesem Grundstein und diesen
schung über die Konferenz in Kopenhagen miteinander Grundmauern im nächsten Jahr in Südafrika tatsächlich
(B) geteilt. Das Ziel, das wir erreichen wollten, nämlich ein ein Klimaabkommen erreicht werden kann. Wir wollen, (D)
völkerrechtlich verbindliches Klimaabkommen, das das dass das Ziel, ein völkerrechtlich verbindliches Abkom-
2-Grad-Ziel festschreibt, bei dem sich alle Staaten global men zu erreichen, festgeschrieben wird. Ferner wollen
verpflichten, beim Klimaschutz mitzumachen, haben wir wir, dass offiziell bestätigt wird, was in Kopenhagen zur
nicht erreicht. Kenntnis genommen wurde, nämlich dass das gemein-
same Ziel dieser Anstrengungen die Festschreibung des
Wir haben es trotz des Einsatzes der Bundesrepublik 2-Grad-Ziels ist.
Deutschland und der Europäischen Union nicht erreicht.
Wir haben gemeinsam mit vielen Partnern auf der Welt Das ist das Mindeste, was wir erreichen wollen. Es
dafür gekämpft, dass wir dieses Ziel erreichen. Wir ha- soll sogar ein Überprüfungsmechanismus bei der Frage
ben dabei die Vorreiterrolle unterstrichen und fortge- vereinbart werden, ob wir nach dem nächsten Bericht
führt, die Deutschland und die Europäische Union über des IPCC im Jahr 2015 darüber möglicherweise hinaus-
viele Jahre im Klimaschutz hatten. gehen müssen. Das wollen wir dort als Mindestziel fest-
Gescheitert ist dieser Gipfel letztlich daran, dass ei- schreiben.
nerseits die USA und andererseits China nicht bereit wa- Im Übrigen ist dies auch die Grundlage der Klima-
ren, die von ihnen geforderten Verpflichtungen – Minde- politik der Bundesregierung, national und im europäi-
rungen bzw. Beiträge – zu übernehmen. Das war die schen Kontext. Warum haben wir uns als Koalition und
Situation vor einem Jahr. Leider ist die Situation vor als Deutscher Bundestag zu der unbedingten Verpflich-
dem Gipfel in Cancún nicht viel anders. Deshalb haben tung bekannt, bis 2040 ein Minus von 40 Prozent an
wir auch nicht die konkrete Erwartung, dass in Cancún Treibhausgasen zu erreichen, und zwar egal, was andere
der Durchbruch passieren wird, den wir uns für Kopen-
machen? Dieses Ziel leitet sich aus dem 2-Grad-Ziel ab,
hagen erhofft hatten. Nach wie vor sind die USA und
das beinhaltet, dass wir den Treibhausgasausstoß welt-
China nicht bereit, diese Verpflichtungen zu überneh-
weit bis Mitte des Jahrhunderts halbieren müssen. Es ist
men.
klar, dass Industriestaaten wie die Bundesrepublik er-
Andererseits wissen wir aber auch, dass der Gipfel heblich mehr übernehmen müssen. Kurzfristig gilt bis
von Cancún kein verlorener Gipfel sein darf. Wir müs- 2020 das 40-Prozent-Ziel. Bis 2050 gilt das ebenfalls im
sen in ganz konkreten Schritten weiterkommen, in Energiekonzept festgeschriebene Ziel einer Minderung
Schritten, zu denen es keine Alternative gibt, auch nicht von 80 bis 95 Prozent, das im Energiekonzept selbstver-
zu dem mühsamen Prozess des Einstimmigkeitsprinzips ständlich mit ganz konkreten Maßnahmen unterlegt
auf internationaler Ebene. Es geht uns immer viel zu wird.
8612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Andreas Jung (Konstanz)


(A) Damit nehmen wir die Herausforderung an, die uns tur beitragen können. Es ist ein Instrument, das zeigt: (C)
die Wissenschaft mit auf den Weg gibt, und dafür wollen Was wir in den Industrieländern machen, steht in einem
wir in Cancún verhandeln. Frank Schwabe hat angespro- ganz engen Zusammenhang mit dem, was in den Ent-
chen, wie unsere Position zu der Festlegung der Europäi- wicklungsländern gemacht wird. Nur gemeinsam kön-
schen Union ist. Ich denke, dass in dem Antrag auch nen wir erfolgreich sein. Das wollen wir in Cancún errei-
eine Offenheit für eine Erhöhung des Klimaziels der Eu- chen.
ropäischen Union enthalten ist. Wir sagen: Wir wollen
den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates folgen, Ich bitte alle in diesem Haus, daran mitzuarbeiten,
die lauten: Wir müssen nach Cancún unsere Ziele über- dass dieser Gipfel mit einer starken Position der Bundes-
prüfen. Wir müssen prüfen, ob wir von 20 auf 30 Prozent regierung tatsächlich ein Erfolg werden kann.
hinaufgehen. – Wir sagen ferner ganz konkret: Dabei ist Herzlichen Dank.
anzustreben, dass die anderen Staaten in Europa und die
Europäische Union ambitionierte Ziele übernehmen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mit denen der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar
sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
Wir wollen erreichen, dass es in Cancún einen Ent-
(Beifall bei der LINKEN)
scheidungstext zu den Fragen von Messungen, Überprü-
fungen und Verifizierungen gibt; denn wir glauben, dass
dies wichtig ist, um Transparenz und Vertrauen in die- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
sem Prozess zu schaffen. Wir wollen auch die Fragen der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanzierung angehen. Wir wollen, dass die wichtigen irrwitzige Kluft macht ratlos. 700 Gigatonnen an Treib-
und entscheidenden Schritte hin zu einem Klimafonds in hausgasen dürfen wir bis 2050 weltweit noch emittieren;
Cancún gegangen werden können. Hier geht es selbst- dann ist die Erwärmung des Klimas um 2 Grad Celsius
verständlich auch um Finanzierungsfragen. Bei den The- erreicht. Bei dem jetzigen Ausstoß wird diese Menge in
men, bei denen wir weit fortgeschritten sind, erhoffen zehn Jahren erreicht. Das heißt, es muss sich viel ändern,
wir uns, dass wir zu tatsächlichen Umsetzungsentschei- damit das 2-Grad-Ziel überhaupt eingehalten werden
dungen kommen. Das gilt für die Fragen der Technolo- kann. Wenn das nicht passiert, wird es zu einer Erwär-
giekooperation, die Fragen der Anpassung und die Fra- mung um 4 oder 5 Grad kommen, oder die jährlichen
gen des Waldschutzes. Einsparziele werden sehr viel schmerzlicher.
(B) Wenn es zu einem solchen Klimafonds kommt, dann Im Wettlauf gegen die Zeit herrscht enormer Gegen- (D)
– das ist uns klar – führt das zu Verpflichtungen der Bun- wind. Die USA haben sich erneut von ernsthaften Ver-
desrepublik, der Industriestaaten überhaupt, auch der Eu- handlungen verabschiedet. Im Repräsentantenhaus sitzen
ropäischen Union. Deshalb will ich an dieser Stelle und in zu viele Klimaleugner und zu viele Industrielobbyisten,
Anwesenheit des Bundesfinanzministers sagen: Einer der im Übrigen jetzt auch von Bayer und BASF unterstützt.
großen Erfolge im Rahmen des Energiekonzepts ist mit
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sicherheit die Festlegung, dass bei einem Aufstocken auf
NEN]: Eon!)
100 Prozent bei der Auktionierung im Bereich des Emis-
sionshandels das, was zusätzlich eingenommen wird, für Für China und Indien wird es keinen Grund für Zuge-
Klimaschutz, für nationalen Klimaschutz, aber auch für ständnisse geben. Es drohen also eine gegenseitige Blo-
internationalen Klimaschutz, verwendet werden kann. ckade von Interessenblöcken und somit ein erneutes
Das ermöglicht uns, das umzusetzen, für das wir mit die- Scheitern der UN-Klimaverhandlungen.
sem Klimafonds die Grundlagen schaffen wollen.
Was bleibt, ist die dürre Hoffnung, dass von den Re-
(Beifall bei der CDU/CSU) gierungschefs in Cancún wenigstens jene Pakete zuge-
schnürt werden, die von den Ad-hoc-Arbeitsgruppen in
Ich will ein letztes Wort sagen, und zwar zu dem von
der UN schon weitgehend gepackt wurden. Es geht um
Frank Schwabe angesprochenen CDM, also zu dem fle-
rechtsverbindliche Entscheidungen zu den Themenblö-
xiblen Mechanismus nach dem Kioto-Protokoll. Wir se-
cken Waldschutz, Anpassung, Technologiekooperation.
hen nach wie vor eine Perspektive für diesen Mechanis-
mus. Wir wollen, dass die Deckelung überprüft wird. Die entscheidende Frage „Wer zahlt’s?“ lässt Cancún
Wir sagen aber gleichzeitig – das haben wir auch in den jedoch wohl genauso offen wie Kopenhagen. Auch Be-
Antrag hineingeschrieben –: Es muss als Voraussetzung schlüsse über konkrete und verbindliche Minderungs-
die ökologische Integrität dieses Instruments erhöht wer- ziele – eigentlich sollte das das Kerngeschäft der Klima-
den. Es muss klargestellt werden, dass es sich tatsächlich diplomaten sein – wird man in Mexiko wieder einmal
um zusätzliche Projekte in Entwicklungsländern zur vermissen.
Reduzierung von Treibhausgasemissionen handelt, die
ohne die Mittel aus dem Emissionshandel nicht durchge- Umso wichtiger wäre eine Vorreiterrolle Europas. Der
führt worden wären. Das ist uns wichtig. Nachweis, dass mit CO2-armen Technologien Vorteile für
Wirtschaft und Beschäftigung verbunden sind, könnte
Wenn das gewährleistet ist, sehen wir darin eines der eine neue Dynamik in Gang setzen und auch den Falken
Instrumente, die zu einer globalen Klimaschutzarchitek- bei den Großmächten das Wasser abgraben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8613
Eva Bulling-Schröter
(A) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Michael Kauch (FDP): (C)
Frank Schwabe [SPD] und Dr. Hermann Ott Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) land ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Wir als
christlich-liberale Koalition haben Klimaschutzziele be-
Doch auch hier ist Optimismus fehl am Platze. Die
schlossen, wie sie noch keine Bundesregierung zuvor
EU kann sich nicht durchringen, ihr Minderungsziel für
beschlossen hat.
Treibhausgasemissionen, nämlich 20 Prozent weniger
Emissionen gegenüber 1990, bedingungslos auf 30 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zent zu verbessern. Auch die Bundesregierung stützt das neten der FDP)
leider nicht. Sie tritt ebenso wenig dafür ein, den gewal-
tigen Überschuss an Emissionszertifikaten stillzulegen, 80 bis 95 Prozent bis 2050 – das ist international vor-
der EU-weit durch die Wirtschaftskrise 2008/2009 ent- bildlich.
standen ist. Wird er aber künftig genutzt, so kann sich Wir haben mit unserem Energiekonzept auch deutlich
Europa von CO2-Zertifikatepreisen verabschieden, die gemacht, dass das kein Wolkenkuckucksheim ist, son-
eine Lenkungswirkung hin zu einer weniger klimaschäd- dern dass man das realistisch, seriös und fachlich fun-
lichen Gesellschaft hätten. Das haben wir auch neulich diert umsetzen kann. Und wir werden es tun.
erst wieder diskutiert.
Aber klar ist auch: Wir brauchen im internationalen
Offensichtlich setzt sich die Lobby von Großindustrie Klimaschutz Mitstreiter; denn allein national werden wir
und überkommener Energiewirtschaft auch dabei durch, nicht die Erfolge erzielen, die wir erzielen müssen.
die ohnehin schwachen Minderungsziele über den soge- 2 Grad als Perspektive werden wir nur dann schaffen,
nannten Clean Development Mechanism – CDM – weiter wenn wir andere Länder – die großen Emittenten dieser
aufzuweichen. Es werden Zertifikate dafür vergeben, Welt – ins Boot holen. Wir in Deutschland haben nur gut
dass in Entwicklungsländern bestimmte Projekte stattfin- 3 Prozent, die Europäische Union etwa 15 Prozent An-
den. Wenn es die aber nicht gibt, ist es kein zusätzlicher teil am weltweiten Treibhausgasausstoß. Das macht
Klimaschutz, aber sie werden angerechnet. Trotz des deutlich: Wir können noch so gut sein – wenn es uns
mittlerweile nachgewiesenen Skandals – ich sage es noch nicht gelingt, die anderen ins Boot zu holen, werden wir
einmal – um die sogenannten HFC-23-Projekte – das ist erfolglos bleiben. Außerdem müssen wir sehen: Ein in-
ein Abfallprodukt von Kältemitteln, das in den Industrie- ternationales Abkommen ist auch deshalb wichtig, damit
ländern extra dafür produziert wird – zögert die EU ge- es nicht zu Produktionsverlagerungen in Länder kommt,
nauso wie der CDM-Exekutivrat der UN, wenigstens die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen. Das kann
diese endgültig vom CO2-Handel auszuschließen. Das auch nicht im Interesse des internationalen Klimaschut-
(B) wäre dringend notwendig. zes sein. (D)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- der CDU/CSU)
ten der SPD)
Deshalb müssen wir auf den internationalen Konfe-
Auch das ist kein Wunder, haben doch maßgebliche renzen wirklich sinnvoll vorgehen. Es geht nicht nur um
Teile der Wirtschaft großes Interesse an niedrigen CO2- gut Fühlen, sondern es geht um gut Machen.
Zertifikatepreisen. Die faulen, aber sehr preiswerten
HFC-23-Zertifikate machen dabei 60 Prozent aus. Wenn (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
wir es ehrlich meinen, müssen die endlich weg. CSU])
(Beifall bei der LINKEN) Wir haben weiterhin das Ziel, ein globales Klima-
schutzabkommen zu erreichen. Dieses Ziel gibt diese
2010 war ein neues Rekordjahr bei den Temperaturen, Koalition nicht auf. Wir sehen aber auch die Realitäten
aber auch beim CO2-Ausstoß. Es ist dringend notwen- in der Welt. Wir sehen, dass die Vereinigten Staaten ge-
dig, dass wir Erfolg bei den Verhandlungen haben, dass rade nach den Zwischenwahlen völlig unbeweglich sind
die Entwicklungsländer endlich sehen, dass wir, die In- und nicht damit zu rechnen ist, dass sich hier eine
dustrieländer, es ernst meinen, dass wir ihnen die Hände schnelle Änderung ergibt.
reichen und nicht wieder zu etwas drängen, was sie
selbst nicht wollen, sondern dass es wirklich fair zugeht. Der zweite große Emittent China wird häufig in ei-
Diese Fairness haben wir bis jetzt noch nicht bewiesen. nem Atemzug mit den USA genannt. Ich glaube aber,
hier muss man differenzieren. Ich war Anfang des Mo-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nats in China und war überrascht, wie fortschrittlich die
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE chinesische Regierung in dieser Beziehung ist und wie
GRÜNEN) sie ihre Positionen ändert. China wird jetzt, mit dem
nächsten Fünfjahresplan, ein nationales, unkonditionier-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tes Energieeffizienzziel auf den Weg bringen. Momentan
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von prüft China, ob es einen nationalen Emissionshandel ein-
der FDP-Fraktion. führt. All das ist noch nicht so viel wie das, was wir ma-
chen; aber es sind Schritte in die richtige Richtung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wenn es mit den USA nicht gelingt, dann muss man sich
der CDU/CSU) an dieser Stelle gegebenenfalls andere Partner in der
8614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Michael Kauch
(A) Welt suchen, die mit uns zumindest Stück für Stück vo- Es ist richtig: Wir müssen mehr Transparenz schaffen, (C)
rangehen. wenn es darum geht, welche zusätzlichen Finanzausga-
ben wir tatsächlich zusagen. Die entsprechende Formu-
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Rolle der Au-
lierung im Antrag der SPD ist etwas ausgewogener als
ßenpolitik in diesem Prozess stärken; alleine mit den
das, was Herr Schwabe gerade vorgetragen hat: Wir
Umweltministerkonferenzen werden wir nicht voran-
müssen Vertrauen schaffen.
kommen. Insofern ist es ein großer Fortschritt, dass der
Antrag der Koalition die Bundesregierung erstmals dazu (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das ihr verspielt
auffordert, „die umweltpolitischen Anstrengungen stär- habt!)
ker durch die Außenpolitik zu unterstützen“. Ich bin sehr
froh, dass das Auswärtige Amt signalisiert hat, dass es Es geht darum, klarzustellen: Was ist unsere Zusage?
diese Rolle übernehmen will. Denn nur im Rahmen ei- Wir müssen es schaffen, dass die Entwicklungsländer
nes Interessenausgleichs, der über die Umweltpolitik hi- unsere Zusage auch so verstehen. Das war in der Vergan-
nausgeht und beispielsweise die Sicherheitspolitik und genheit leider nicht der Fall. Das müssen wir ändern; ich
die Handelspolitik einbezieht, wird es dazu kommen, glaube, das ist ein gemeinsames Anliegen dieses Hauses.
dass die USA und China erkennen, dass es sich lohnt, (Beifall bei der FDP – Dr. Matthias Miersch
mit uns zu kooperieren, weil wir dann auch an anderen [SPD]: Dann stimmt doch unserem Antrag
Stellen der internationalen Politik Leistungen erbringen. zu!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Abschließend komme ich zum Clean-Development-
Wir sehen nicht, dass es unmittelbar ein globales Kli- Mechanismus. Es ist richtig – da muss ich Frau Bulling-
maschutzabkommen geben wird. Deshalb hat die Koali- Schröter von den Linken einmal zustimmen –:
tion hier das beantragt, was die Europäische Union in
(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Dr. Dagmar
Bezug auf das Kioto-Protokoll schon vereinbart hat:
Enkelmann [DIE LINKE]: Die hat das gut ge-
Deutschland ist gemeinsam mit der EU bereit, eine macht! – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Na ja!
zweite Verpflichtungsperiode einzugehen … Es geht doch!)
Das bedeutet, dass wir nicht auf die Vereinigten Staaten Der Umgang mit den HFC-23-Industriegasen stellt einen
warten werden. Die Voraussetzung ist aber, dass wir in Missbrauch des Clean-Development-Mechanismus dar.
den Vereinigten Staaten zumindest auf nationaler Ebene Das ist mit Blick auf die Umwelt im Prinzip ein – –
Schritte erkennen können und es dort in den nächsten
Jahren zu vergleichbaren Anstrengungen kommt. Wenn (Josef Göppel [CDU/CSU]: Sauladen! –
(B) schon kein internationales Abkommen mit den USA zu- Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
stande kommt, dann erwarten wir aber von den amerika- NEN]: Nonsens!)
nischen Partnern, dass sie auf nationaler Ebene ihre – Ja. Im Prinzip ist es ein Hintertreiben des Clean-Deve-
Hausaufgaben machen. lopment-Mechanismus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir sollten aber nicht das Kind mit dem Bade aus-
Um zu weiteren Fortschritten in der Klimaschutzpoli- schütten. Es gibt gute, glaubwürdige Projekte des Clean-
tik zu kommen, ist es ein ganz wichtiger Schritt, verstärkt Development-Mechanismus. Es ist unser gemeinsames
mit unseren Partnern in den Schwellen- und Entwicklungs- Interesse, mit dem Geld, das wir investieren, möglichst
ländern zusammenzuarbeiten. Es ist schon angesprochen viele Treibhausgasemissionen zu verhindern. Dazu trägt
worden: Technologiekooperation, Anpassungsmaßnah- der Clean-Development-Mechanismus bei.
men und Waldschutz sind zentrale Voraussetzungen da-
Vielen Dank.
für, dass wir Emissionen in den Ländern mindern können,
die sich gerade entwickeln und industrialisieren. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Man sollte an dieser Stelle das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
drücklich loben. Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott vom
Bündnis 90/Die Grünen.
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Für die Trickse-
reien, die es begangen hat!)
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Einschränkung bei Maßnahmen, die es in früheren
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
Jahren gegeben hat – Waldschutz wurde hauptsächlich in
habe seit 1994 fast alle Klimakonferenzen erlebt, mit ih-
Brasilien betrieben –, war nicht ausreichend. Ich finde es
ren Höhen und vor allem auch mit ihren Tiefen. Ja, in
wichtig, dass das BMZ jetzt auch Afrika stärker in den
der Rückschau scheint es, als sei die Geschichte der Kli-
Blick nimmt und insbesondere zur Kenntnis nimmt, dass
mapolitik eine einzige lange Geschichte der Krisen.
das Kongobecken neben dem Amazonas-Gebiet eine der
Aber es ging immer wieder aufwärts. Das Scheitern der
grünen Lungen unseres Planeten darstellt. Dirk Niebel
letzten Konferenz in Kopenhagen ist allerdings nach un-
hat sehr deutlich gemacht, dass wir auch in dieser Re-
serem Eindruck ein Bruch, der mit business as usual
gion den Waldschutz forcieren müssen.
nicht geheilt werden kann. Ein einfaches Weiter-so kann
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und darf es deshalb nicht geben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8615
Dr. Hermann Ott
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Emissionen wieder möglich sind, muss verhindert wer- (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der den. Die freiwillige Weitergeltung der eigenen Ver-
LINKEN) pflichtungen sollte von Umweltminister Röttgen öffent-
lich gefordert und in Cancún von der Europäischen
Die Gründe dafür sind vielfältig, doch liegen sie vor Union einseitig und ohne Vorleistungen erklärt werden.
allem in der Lähmung der USA begründet. Schon in Ko-
penhagen war sichtbar geworden, dass der Bewegungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
spielraum von Präsident Obama sehr gering war. Nach und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
den letzten Wahlen, den Midterm Elections, ist jedoch LINKEN)
klar, dass dieses Land, welches historisch den größten
Ausstoß an Treibhausgasen hat, sehr wahrscheinlich in Sodann muss die Europäische Union mit den Schwellen-
den nächsten zehn Jahren keinem internationalen Vertrag ländern und mit der großen Mehrheit der Entwicklungs-
zum Schutz des Klimas beitreten wird. Dabei drängt die länder Verhandlungen über ein Klimaschutzprotokoll be-
Zeit; denn schließlich muss bis spätestens 2020 der glo- ginnen, ohne auf ein Einlenken der USA zu warten. Für
bale Treibhausgasausstoß ein Maximum erreichen, wenn einen erfolgreichen Fortgang der internationalen Klima-
wir unter der wichtigen 2-Grad-Grenze bleiben wollen. verhandlungen muss die EU, muss aber auch die Bun-
desregierung in den nächsten Jahren ihre Strategie auf-
Doch anstatt beherzt das Schicksal in die Hand zu geben, erst Vorleistungen von anderen zu verlangen, ehe
nehmen, verlieren sich die Verhandlungen im Gescha- sie selber etwas tut.
cher der Supermächte. Das Spektakel erinnert an einen
Meine Fraktion ist bereit, eine solche Politik aktiv zu
Kampf der Elefanten, die mit großem Getöse aufeinan-
unterstützen. Frau Staatssekretärin, für die anstehenden
der losgehen. Die Erde bebt, viel Staub wird aufgewir-
Verhandlungen wünschen wir trotz aller politischen Un-
belt, und die Europäische Union steht dabei und sagt:
terschiede dem Minister und seinem Team viel Erfolg.
Tut uns leid, die konnten sich nicht einigen. Jetzt können
wir auch nichts tun. – Das, meine Damen und Herren, Ich danke Ihnen.
nennt man Flucht vor der Verantwortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
LINKEN)
Der erste faule Trick ist, dass sich die Elefanten über- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
haupt nicht einigen wollen und nur einen Schaukampf Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
(B) veranstalten. Der zweite faule Trick dabei ist, dass die der Kollege Josef Göppel von der CDU/CSU-Fraktion (D)
EU kein Mäuschen ist, das sich ducken muss, sondern das Wort.
durchaus eine gewisse Masse aufweist und auf Augen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
höhe agieren kann, und es gibt keinen Grund, das nicht
zu tun.
Josef Göppel (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Nach der Ernüchterung von Kopenhagen flammte die
LINKEN) Diskussion über die Ursachen des Klimawandels wieder
Natürlich wäre ein Vertrag unter Einbeziehung aller auf. Diese Debatte wird zwar heftig geführt, aber sie ist
großen Verursacher die optimale Lösung. Wenn aller- müßig. Der haushälterische Umgang mit den Gütern der
dings die optimale Lösung nicht erreichbar ist, dann Erde ist auch wirtschaftlich vernünftig, und der sparsa-
muss man die zweitbeste Lösung wählen; ansonsten be- mere Einsatz von Rohstoffen und Energie bringt wirt-
steht die Gefahr, dass wir in ein paar Jahren immer noch schaftliche Vorteile. Das sind Argumente, die die Kli-
mit leeren Händen dastehen, und das können wir uns maskeptiker immer für sich beanspruchen. Deshalb ist
einfach nicht leisten. dieser Streit müßig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das nun schon mehrfach angesprochene Thema der
sowie bei Abgeordneten der SPD) Position der Europäischen Union in Cancún hängt damit
direkt zusammen. 20 Prozent Minderung der Treibhaus-
Die zweitbeste Lösung ist aus unserer Sicht eine Klima- gase bis 2020 – das ist unsere größte Schwäche in der
politik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Was Konferenz, weil die anderen wissen, dass wir 17 Prozent
wir brauchen, sind Vorreiter, also Länder und Regionen, erreicht haben. Ich schätze das so ein: Wenn die Europäi-
die den Zögerern und Zauderern zeigen, dass Klima- sche Union nicht wieder wie in Kopenhagen an den
schutz funktioniert und dass Klimaschutz die Arbeits- Rand gedrängt werden will, sondern an den Schlussta-
plätze der Zukunft schafft. gen der Konferenz eine aktive Rolle spielen will, dann
muss sich die Delegation hier bewegen. Gott sei Dank
Was ist also in Cancún zu tun? Zunächst müssen gibt es einige Anzeichen dafür.
Deutschland und die EU sich vor allem für eine Weiter-
geltung der Pflichten des Kioto-Protokolls nach 2012 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einsetzen, und zwar ohne die Bedingung, Herr Kauch, neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
dass andere mitziehen. Ein „offener Himmel“, wo alle SES 90/DIE GRÜNEN)
8616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Josef Göppel
(A) Ich komme zu einem zweiten Bereich, der ebenfalls rangehen will. Ich war in Nagoya. Ich habe miterlebt, (C)
schon mehrfach angesprochen wurde, zum Waldschutz. wie glaubwürdig Deutschland neben Norwegen war,
Es besteht jetzt die Chance, mit dem Schwung der gelun- weil wir als einzige konkrete Beiträge erbracht haben.
genen Konferenz zur biologischen Vielfalt den Wald- Diese Glaubwürdigkeit erwarten viele in der Welt von
schutz konkret voranzubringen. Waldschutz heißt mehr uns, weil Deutschland in diesem Zusammenhang einen
Klimaschutz, bedeutet aber auch Sicherung der biologi- guten Namen hat. Wir haben aber auch eine große Ver-
schen Vielfalt, und er trägt zur Armutsbekämpfung bei. antwortung.
Wir haben in Deutschland eine lange Tradition der nach-
haltigen Forstwirtschaft. Jetzt geht es darum, das Wissen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
des hochqualifizierten Personals mit anderen zu teilen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Ich nenne dafür zwei Beispiele. bei Abgeordneten der LINKEN)

Erstens. Die Fähigkeit der Wälder, Kohlenstoff zu


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
speichern, hängt mit ihrer biologischen Vielfalt zusam-
men. Man muss ganz klar sagen: Pappelkulturen und Eu- Ich schließe die Aussprache.
kalyptuswälder – Monokulturen – sind keine echten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Wälder. Sie können die Funktion der Klimaanpassung den Drucksachen 17/3998 und 17/4016 an die in der Ta-
nicht wahrnehmen. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Zweitens. Je stärker wir den Wald nutzen, desto stär- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ker sinkt die Speicherfähigkeit. Auch im Zusammen- sind die Überweisungen so beschlossen.
hang mit unserer Waldstrategie in Deutschland ist es Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
wichtig, die Nutzung so auszubalancieren, dass die Wäl- Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
der eine Senke bleiben. 17/4010 mit dem Titel „Die UN-Klimakonferenz in Can-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cún – Fortschritte für den Klimaschutz erreichen“. Wer
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal-
GRÜNEN) tungen? – Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
Erfreulich ist, dass sich von den 193 Staaten, die an tionsfraktionen.
der Konferenz teilnehmen, 140 bereit erklärt haben, den
2-Grad-Appell von Kopenhagen mit freiwilligen Ver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
pflichtungen zu unterlegen. Aber die unschöne Seite an
der Sache ist, dass diese Verpflichtungen gerade einmal – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(B)
ausreichen, um den Anstieg der mittleren Erdtemperatur richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- (D)
auf 4 Grad zu begrenzen. 2 Grad wollen wir erreichen. schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
Damit wird deutlich: Es muss noch kräftig nachgelegt Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
werden. scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
Deutschland ist in der Gruppe der Willigen, in der so- tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
genannten Cartagena-Gruppe. In dieser Cartagena- vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Gruppe sind Industrieländer, aber auch Entwicklungs- Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
länder und hochbedrohte Inselstaaten. Ich erhoffe mir tionen von 1982 und der Resolutionen 1814
von der Mitarbeit in der Cartagena-Gruppe eine abge- (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom
stimmte Vorgehensweise, die auf der Konferenz in Can- 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008,
cún eine gewisse Dynamik in Gang setzen kann, insbe- 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1897
sondere im Hinblick auf unseren Nachbarkontinent (2009) vom 30. November 2009 und nachfol-
Afrika. Es geht darum, die Lebensbedingungen dort so gender Resolutionen des Sicherheitsrates der
zu stabilisieren, dass die Menschen in ihrer Heimat blei- Vereinten Nationen in Verbindung mit der Ge-
ben können. Wir sind uns im Umweltausschuss darin ei- meinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates
nig, dass wir das ureigene afrikanische Projekt eines gro- der Europäischen Union vom 10. November
ßen Pflanzgürtels am Südrand der Sahara unterstützen 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates
wollen. der Europäischen Union vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
Damit komme ich abschließend zur Verhandlungs- der Europäischen Union vom 30. Juli 2010
strategie in Cancún. Ich möchte an dieser Stelle kurz an und dem erwarteten Beschluss des Rates der
unseren verstorbenen Kollegen Hermann Scheer erin- Europäischen Union vom 13. Dezember 2010
nern. Er war der Erste, der in die Niedergeschlagenheit
nach Kopenhagen hinein gesagt hat: Wendet euch kon- – Drucksachen 17/3691, 17/4048 –
kreten Aktionen zu. Geht die Schritte, die jetzt gegangen
Berichterstattung:
werden können. Dann können die konkreten Aktionen
Abgeordnete Philipp Mißfelder
zu einem Abkommen zusammenwachsen.
Edelgard Bulmahn
Ich wünsche unserem Umweltminister Verhandlungs- Dr. Rainer Stinner
glück und eine starke Rolle, um an jedem Tag der Ver- Jan van Aken
handlungen deutlich zu machen, dass Deutschland vo- Kerstin Müller (Köln)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8617
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) schätzten Beitrag im Rahmen dieser internationalen Mis- (C)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung sion.
– Drucksache 17/4055 – (Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])
Berichterstattung: Ihr großes Engagement, ihr Einsatz und ihre Bereit-
Abgeordnete Norbert Barthle schaft, persönliche Entbehrungen in Kauf zu nehmen,
Klaus Brandner verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sven-Christian Kindler der CDU/CSU)

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Wir müssen aber die fortbestehenden Probleme in al-
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfeh- ler Offenheit analysieren. Noch immer ist die Zahl der
lung werden wir später namentlich abstimmen. Angriffe auf Handelsschiffe ausgesprochen hoch. Aber
– und das ist neu – die Anzahl der erfolgreichen Kape-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rungen und Geiselnahmen nimmt im Verhältnis ab. Es
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- zeigt sich, dass die militärische Präsenz Wirkung zeigt.
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
Ausdrücklich möchte ich an dieser Stelle auch die Ei-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- geninitiative der Reeder zum Schutz ihrer Besatzungen
ner dem Kollegen Burkhardt Müller-Sönksen von der begrüßen. Vorsorgemaßnahmen wie die Einrichtung von
FDP-Fraktion das Wort. Schutzräumen an Bord, die bewusst deeskalierend wir-
(Beifall bei der FDP) ken, sind ein besonders wichtiger Beitrag, der aus mei-
ner Sicht ausbaufähig ist. Die am Freitag erfolgreich
abgewendete Entführung des deutschen Frachters „Bre-
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): men“ ist für mich ein überzeugendes Beispiel für den Er-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die folg solcher privaten Maßnahmen.
Zeit, in der die Piraterie ausschließlich als regionales
Problem am Horn von Afrika wahrgenommen wurde, ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
vorbei. Seit knapp anderthalb Wochen läuft der Prozess der CDU/CSU)
gegen zehn somalische Staatsbürger vor dem Landge- Heute Abend, zu dieser Stunde, tagt in Hamburg der
richt Hamburg und verdeutlicht uns erneut die globale Verband Deutscher Reeder mit Hans-Joachim Otto, dem
Tragweite des Problems. Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundeswirt-
(B)
Die Operation Atalanta leistet nicht nur einen Beitrag schaftsminister. Ich bin mir sicher, dass die privaten (D)
im Kampf gegen die Piraterie, sondern sie leistet durch Vorsorgemaßnahmen der Reeder dort Gesprächsthema
den Schutz der Hilfsgutlieferungen vor allem direkte sein werden.
Hilfe für die notleidende Bevölkerung Somalias. Der Auch der von der Europäischen Union im Februar
Seeweg ist für die humanitäre Hilfe alternativlos. Nur letzten Jahres eingerichtete Sicherheitskorridor hat sich
durch den Einsatz der Marine ist es gelungen, dass in als großer Erfolg herausgestellt. Ich rege an, dass sich
diesem Jahr alle UN-Hilfslieferungen ihr Ziel unbescha- die Bundesregierung mit unseren Partnern in Atalanta
det erreicht haben. darüber verständigt, wie wir die Bekämpfung der Pirate-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rie über die Begleitung von Schiffen hinaus intensivieren
der CDU/CSU) können. Ich glaube, dass es ein guter Weg ist, neben dem
Mandat Atalanta und den Eigenvorsorgemaßnahmen
Hierin liegen der Schwerpunkt und der Erfolg der Ope- weitere Initiativen zusammen mit den Partnern herbeizu-
ration Atalanta. Die Entscheidung über die Fortsetzung führen.
des Mandats ist gleichzeitig eine Entscheidung über den
Erfolg dieser notwendigen humanitären Hilfe für die Be- Als Abgeordneter der Freien und Hansestadt Ham-
völkerung Somalias. burg liegt mir die Bewegungsfreiheit im offenen Meer
besonders am Herzen. Bei dieser Bewegungsfreiheit
Aber die militärischen Maßnahmen sind nicht isoliert, geht es nicht nur um die Wahrung der wirtschaftlichen
sondern Teil eines umfassenden Konzepts. Neben den Interessen der westlichen Länder, sondern sie ist auch
Hilfslieferungen sind die Unterstützung beim politischen eine zentrale Errungenschaft des zivilisatorischen Fort-
Wiederaufbau und die Ausbildung von Polizeikräften schritts. Es ist diese Freiheit, die wir im Kampf gegen
von zentraler Bedeutung. Nur wenn es gelingt, die Pro- die Piraterie verteidigen.
bleme in Somalia zu lösen, entziehen wir der Piraterie
dauerhaft die Grundlage. Der Welthandel braucht die internationalen Seehan-
delswege. Sie sind die Grundlage unserer globalisierten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Weltwirtschaft.
der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei den
über 300 vor allem bei der Marine befindlichen Soldatin- Über 90 Prozent des Handels weltweit erfolgt über die-
nen und Soldaten bedanken. Sie leisten hervorragende sen Weg. Diese Zahl – über 90 Prozent des Welthandels –
Arbeit und einen von den Bündnispartnern hochge- verdeutlicht, dass es hierbei nicht um ein egoistisches In-
8618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Burkhardt Müller-Sönksen
(A) teresse einer exportorientierten Nation wie Deutschland Insbesondere vor Somalia und im Golf von Aden ist (C)
geht, sondern um ein gemeinsames Interesse der Völker- diese Freiheit nach dem Völkerrecht gefährdet. Zurzeit
gemeinschaft. Das breite Bündnis, das die Maßnahmen befinden sich nach Schätzungen unabhängiger Organisa-
zur Sicherung der Seeverbindungswege trägt, geht weit tionen 24 Schiffe mit circa 430 Geiseln in der Hand von
über die Europäische Union und die NATO hinaus. Auch Piraten. Ich möchte, weil wir immer über Freiheit und
Länder wie China, Indien, Pakistan und Indonesien ko- Handelswege reden, an dieser Stelle sehr deutlich sagen:
operieren mit uns im gemeinsamen Kampf gegen die Pi- Diese ungefähr 430 Menschen haben keine Freiheit. Sie
raterie. Auch die breite Zustimmung für das Mandat hier sind in der Hand von Piraten, und sie werden als Geiseln
im Deutschen Bundestag zeigt die allgemeine Akzeptanz benutzt. Ihre Freiheit ist schändlich eingeschränkt. Ich
dieser Operation. meine, wir müssen mit dazu beitragen, dass diese Men-
schen wieder in Freiheit kommen. Ich wünsche mir für
Ich möchte mich hier – dies ist mein letzter Punkt –
sie wie für andere Geiseln, dass sie Weihnachten mit ih-
ganz deutlich gegen die Romantisierung des Problems
ren Familien oder in Kontakt zu ihren Familien feiern
Piraterie aussprechen. Es handelt sich bei diesen Piraten
nicht um mittellose Fischer, denen die Existenzgrund- können.
lage entzogen wurde und die nun in ihrer Verzweiflung (Beifall im ganzen Hause)
mit ihren Booten Handelsschiffe angreifen. Wer über
500 Seemeilen von Somalia entfernt, vor der indischen Wenn ich die Aussage von General Glatz, die heute in
Küste, mit Granatwerfern und modernsten Schnellboo- der Presse zu lesen ist, richtig verstanden habe, sind
ten agiert, ist auf andere Weise motiviert und finanziert. mittlerweile nahezu 100 Millionen US-Dollar an Löse-
geld geflossen. 100 Millionen US-Dollar, das deutet eher
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
auf organisierte Kriminalität denn auf die Bekämpfung
Bei dieser Erscheinungsform von Piraterie handelt es von Armut hin. Trotzdem bleibt meine Fraktion dabei,
sich um eine der schwersten Formen von Kriminalität; dass die Ursachen dieser Kriminalität dort zu bekämpfen
sie ist ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen ge- sind, wo die Menschen keine anderen Perspektiven ha-
leitet. Die Entführung der malaysischen „Albedo“ diesen ben. Die Armut und die Bereitschaft, sich Piratenorgani-
Montag, mehr als 1 500 Kilometer von der somalischen sationen auszuliefern, hängen nicht zuletzt damit zusam-
Hauptstadt entfernt, verdeutlicht, dass sich das Problem men, dass in Somalia und in den Ländern am Horn von
keinesfalls auf die somalischen Küstengewässer be- Afrika insgesamt die Lebensperspektiven fehlen. Wir
schränkt. Deswegen ist es gut und richtig, das Opera- tun gut daran, innerhalb der EU, aber auch mit eigenen
tionsgebiet auszuweiten. Mitteln dazu beizutragen, dass die Menschen wieder
Chancen und Perspektiven bekommen und von ihrer
(B) Eines müssen wir uns vor Augen führen: Wenn wir Hände Arbeit leben können, sodass sie sich keinen Pira- (D)
die Operation Atalanta jetzt einstellten, wie es die Lin- tenorganisationen oder kriminellen Vereinigungen aus-
ken immer wieder fordern, würden die Menschen in So- liefern müssen.
malia wieder Hunger leiden und würde neuer Nährboden
für die Piraterie geschaffen. Ich bitte Sie daher um Un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
terstützung für dieses Mandat. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Vielen Dank. FDP)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Somalia selbst ist nicht in der Lage, gegen die Pirate-
rie vorzugehen. Deshalb hat man sich an die Vereinten
Nationen gewandt. Die Europäische Union hat im Rah-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men der Umsetzung der entsprechenden Aufträge der
Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der Vereinten Nationen die Operation Atalanta beschlossen.
SPD-Fraktion. Die Operation Atalanta soll erreichen, dass die Piraten-
(Beifall bei der SPD) netzwerke zerschlagen werden, dass die Piraterie einge-
dämmt wird und vor allen Dingen dass Personen, die bei
diesem Vorgehen gefangen genommen bzw. festgesetzt
Ullrich Meßmer (SPD): werden, rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Zugegebenermaßen haben wir hier noch einiges zu tun.
ren! Die Hohe See ist Freiheit. Nach völkerrechtlichen Nachdem Kenia die entsprechenden Abkommen aufge-
Grundsätzen bedeutet dies, dass die Hohe See, also das kündigt hat, müssen wir dringend daran interessiert sein,
Meer außerhalb der Küstengewässer, von jeder Staatsan- mit anderen Staaten entsprechende Lösungen zu finden.
gehörigkeit frei ist. Einzelpersonen und Staaten ist das
Meer insgesamt frei zugänglich. Dies wurde zuletzt im Drei Ziele verfolgt diese Operation vorrangig: die Si-
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von cherstellung der durch Piratenüberfälle gefährdeten hu-
1982 bestätigt. Von diesem freien Zugang hängen gerade manitären Hilfe für die notleidende Bevölkerung am
für Afrika der überlebenswichtige Transport humanitärer Horn vom Afrika, den Schutz der zivilen Schifffahrt und
Hilfsgüter, aber auch – mein Vorredner hat es gerade an- die Verhinderung von Geiselnahmen einschließlich der
gesprochen – der freie und ungehinderte Verkehr von zi- Geiselbefreiung. Da mein Vorredner schon auf eine ent-
vilen Schiffen und damit der Waren- und Güterverkehr sprechende Aktion hingewiesen hat, erspare ich mir
ab. Ausführungen dazu.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8619
Ullrich Meßmer
(A) Nun zur freien Handelsschifffahrt und zur Kritik, die auch notwendig, um diese Mission erfolgreich zu erfül- (C)
in diesem Zusammenhang gelegentlich geäußert wird. len.
Wir reden immer davon, dass ein freier Handelsverkehr
unseren Interessen dient. Insgesamt geht es aber um Fol- Die Verhinderung von Geiselnahmen und die Geisel-
gendes: Bei den jährlich etwa 16 000 Schiffen, die den befreiungen sind teilweise erfolgreich; aber wir dürfen
Golf von Aden passieren, handelt es sich nicht nur um uns nicht damit zufriedengeben, solange wir wissen,
Schiffe, die Europa verlassen, sondern auch um Schiffe, dass es dort noch Geiseln gibt, dass Menschen festgehal-
die sich aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Ländern ten werden. Wir müssen uns aber auch klar darüber sein
Asiens, nach Europa bewegen. Arbeit und Wohlstand in – darauf lege ich ausdrücklich Wert –, dass wir die
Deutschland, aufgrund der Globalisierung aber auch in Grundlage dafür schaffen müssen, dass die Menschen in
der Welt insgesamt hängen nicht zuletzt davon ab, ob ein Afrika von ihrer Hände Arbeit leben können, dass sie
freier Handelsverkehr gewährleistet ist oder nicht. eine Perspektive haben. Das werden wir auch mit noch
so vielen Kriegsschiffen nicht schaffen können, sondern
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das ist eine Aufgabe der Politik. Hier zu sparen, wäre
der SPD und der CDU/CSU) falsch. Wir müssen Somalia in die Lage versetzen, sich
selbst zu helfen.
Ich denke, dass wir daran ein großes Interesse haben
müssen, übrigens auch im Sinne der Menschen, die in (Beifall bei der SPD)
Drittländern oder Schwellenländern leben und sich auf
diesem Weg ihre Existenz sichern. Solange das noch nicht der Fall ist, wird es zur Opera-
tion Atalanta keine Alternative geben. Wir werden sie
(Beifall bei der SPD) unterstützen müssen. Wir werden diesem Mandat zu-
stimmen im Interesse der Menschen, im Interesse der
Ich möchte nicht versäumen, an dieser Stelle den Sol- freien Handelswege und ganz besonders im Interesse
datinnen und Soldaten zu danken, die im Einsatz sind. derjenigen, die in Zukunft eine Perspektive haben wol-
Die Bedeutung ihres internationalen Einsatzes zeigt sich len, wozu der freie Handel durchaus gehört.
gerade erneut, auch an der Bereitschaft, auf den Schiffen
multinational zu operieren, sogar mit dieser Gruppe, die Herzlichen Dank.
bereit ist, Einsätze zum Schutz von Handelsschiffen
durchzuführen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] geordneten der FDP)
[SPD])
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch Reeder in der
Verantwortung stehen. Sie müssen zum Schutz ihrer ei- Das Wort hat jetzt der Kollege Roderich Kiesewetter
genen Schiffe etwas tun. Deshalb finde ich es wichtig von der CDU/CSU-Fraktion.
und richtig, dass es Sicherheitsräume gibt. Aber was
nützt auf einem Schiff die beste Sicherheitseinrichtung, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wenn es nicht auch eine Einsatzgruppe gibt, die im
Zweifelsfall bereit ist, sich auf diesem Schiff für die Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
Mannschaft, die sich in Sicherheit gebracht hat, einzu- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
setzen? Dies ist ein weiteres Argument für unsere Initia- und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit
tive im Rahmen der Operation Atalanta. Die Erfolge dem 22. November, also seit einer guten Woche, stehen
sind messbar. Alle im Auftrag des Welternährungspro- in Hamburg zehn Somalis, der Piraterie angeklagt, vor
gramms durchgeführten Schiffstransporte für Somalia Gericht. Sie sind gewiss die schwächsten Glieder der
haben ihre Zielhäfen sicher erreicht. Über 90 000 Ton- Kette. Aber es wird in der Diskussion über das Gerichts-
nen Lebensmittel und weitere wichtige Hilfsgüter ge- verfahren deutlich, dass viele behaupten, Deutschland,
langten an ihr Ziel und halfen, circa 1,8 Millionen Men- Europa, die Vereinten Nationen hätten Somalia und die
schen zu versorgen. Auch Mittel für verschiedene Region aufgegeben.
Projekte der Hilfe zur Selbsthilfe konnten so sicher ihren
Weg finden. Wir zeigen mit unserer heutigen Debatte: Wir haben
die Region nicht aufgegeben, wir kümmern uns um die
Obwohl die Zahl der Angriffe steigt, ist es seit dem Region. Wir setzen uns für die Operation Atalanta ein.
Beginn der Operation immer mehr möglich geworden, Entscheidend ist nicht, dass wir hier die Mythologie und
zivile Schiffe zu schützen. Während 2009 noch 19 – so eine griechische Jägerin bemühen; aber sie war auf der
heißt es schön in der Formulierung – größere Piratenein- Jagd. Wir müssen deutlich machen, dass diejenigen, die
heiten neutralisiert wurden, konnten bis Oktober 2010 hinter der Piraterie stecken, die organisierte Kriminalität,
bereits 116 Pirateneinheiten neutralisiert und damit An- ausgehoben werden müssen. Die Piraterie bekämpft das
griffe verhindert werden. Das hat natürlich dazu geführt, Recht. Die Piraterie beraubt Menschen der Freiheit. Die
dass die Piraten ihren Einsatzraum ausgeweitet haben; Piraterie verletzt Menschen, und sie tötet sie auch. Das
mein Vorredner hat darauf hingewiesen. Deshalb um- dürfen wir nicht durchgehen lassen.
fasst das jetzige Mandat auch mehr als nur den Bereich
vor der somalischen Küste. Der Einsatzraum umfasst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
mittlerweile Teilgebiete des Indischen Ozeans. Das ist bei Abgeordneten der SPD)
8620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Roderich Kiesewetter
(A) Die organisierte Kriminalität, die dahintersteckt, ist ten. Die Bundesregierung kümmert sich auch um die (C)
nicht nur organisiert, sie ist militärisch straff organisiert; Einbindung von zum Beispiel Tansania und Kenia und
das sind Hightechorganisationen. Das müssen wir auf- unterstützt eine Reihe ganzheitlicher Projekte, zum Bei-
klären. Damit wird klar: Mit der Operation Atalanta al- spiel den Aufbau des Polizeiausbildungsprogramms und
lein werden wir des Problems nur auf See Herr werden. des Soldatenausbildungsprogramms. Daneben hilft sie
Die Zahlen sprechen für sich. Die Kollegen Meßmer und bei der Finanzierung von AMISOM und leistet Unter-
Müller-Sönksen haben das sehr deutlich angesprochen. stützung mit Blick auf Strafverfolgungskapazitäten.
Ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür; das war sehr hilf- 28 Millionen Euro sind seit 2008 für diese zivilen Mis-
reich. Ich möchte das auch nicht im Einzelnen wiederho- sionen geflossen. Dadurch wird auch unsere Glaubwür-
len. Aber ich möchte deutlich machen: Wenn wir nichts digkeit erhöht.
unternehmen, schaden wir den 3,5 Millionen Einwoh-
nern Somalias, der internationalen Gemeinschaft, dem Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
Welternährungsprogramm und nicht zuletzt den Welt- mich zum Schluss noch einen wesentlichen Punkt auf-
handelswegen. greifen. Wenn wir vernetzte Sicherheit erreichen wollen,
dann müssen wir uns auch immer darüber klar sein, was
80 Prozent des Welthandels wird über die Meere ab- das für ein Gegner ist. Wir haben in diesem Jahr bereits
gewickelt. Mit der Operation Atalanta, die die Europäi- über 115 Angriffe von Piraten abgewehrt. Im vergange-
sche Union im Juli 2010 glücklicherweise ausgeweitet nen Jahr waren es fast 200. Wir haben über 470 000 Ton-
hat, weil auch die Piraten ihr Einsatzgebiet ausgeweitet nen Lebensmittel zu der betroffenen Bevölkerung ge-
haben, werden wir ein klares Zeichen setzen. Unsere bracht. Allein in diesem Jahr waren es 90 000 Tonnen. In
Fraktion unterstützt deshalb die Operation Atalanta voll diesem Jahr sind 31 Schiffe mit entsprechenden Nah-
und ganz, und ich werbe auch fraktionsübergreifend um rungsmitteln, die den Menschen zugutekommen, in die
Zustimmung. Region gefahren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Das kann keine Dauerlösung sein. Die Dauerlösung
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- liegt darin, dass wir gemeinsam mit der Kontaktgruppe
NISSES 90/DIE GRÜNEN) für eine Stabilisierung in Somalia sorgen. Das erreichen
Über eines müssen wir uns aber auch klar sein: Teile wir durch Transparenz, durch regionale Ansätze und
davon sind aus der Not heraus geboren. Durch Not wird durch eine ganzheitliche, klare Politik.
aber keine Gewalt gerechtfertigt. Wir müssen das grund- Wir unterstützen den Antrag der Bundesregierung,
sätzlich und ganzheitlich angehen. und ich werbe für einen breiten Ansatz. Ich hoffe, dass
Ich bin unserem Außenminister sehr dankbar, dass er sich weite Teile des Parlaments anschließen.
(B) (D)
auf dem diesjährigen EU-Afrika-Gipfel vor zwei Tagen Herzlichen Dank.
deutlich gemacht hat, dass wir AMISOM und die Afri-
kanische Union unterstützen und dass wir hier auch Zei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen für Afrika setzen und Afrika nicht alleine lassen. Es
geht um vernetzte Sicherheit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nächster Redner ist der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
Wir haben ja etliche Kollegen, die sich in dem Be-
reich intensiv engagieren. Ich möchte an dieser Stelle (Beifall bei der LINKEN)
auch dem Kollegen Holger Haibach danken, der für un-
sere Fraktion einen Kongress zur vernetzten Sicherheit
mit über 300 Teilnehmern organisiert hat, der in dieser Jan van Aken (DIE LINKE):
Woche stattfand. Es waren übergreifend – auch partei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
übergreifend – Fachleute und Experten eingeladen, und denke, eines ist sicher: So funktioniert es nicht. Wir
es wurde klargemacht, dass wir Krisen nur übergreifend brauchen uns die Zahlen doch nur anzuschauen. Vor
und vernetzt mit einem zivil-militärischen Ansatz be- zwei Jahren gab es in den ersten neun Monaten des Jah-
kämpfen können. res genau 77 Piratenangriffe. In diesem Jahr waren es
127, Tendenz steigend. Es ist auch logisch, dass das so
Genau das müssen wir auch in Afrika tun. Wir haben nicht funktionieren kann; denn Sie können kein einziges
dafür auch den Unterausschuss „Zivile Krisenprävention Problem dadurch lösen, dass Sie nur an den Symptomen
und vernetzte Sicherheit“, das heißt, auch unser Parla- herumdoktern, aber überhaupt nicht an die Ursachen he-
ment stellt sich neu auf und nimmt die neuen Herausfor- rangehen.
derungen an. Das müssen wir klarmachen. Die Opera-
tion Atalanta ist ein Beispiel für vernetzte Sicherheit. Ich (Beifall bei der LINKEN)
glaube, dass das Außenministerium in dieser Richtung
sehr gut arbeitet, insbesondere auch hinsichtlich der an- Die Ursachen liegen an Land, in Somalia. In Somalia
schließenden Evaluation. herrscht bitterste Not. 3,2 Millionen Menschen sind auf
Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das Land schlittert im-
Lassen Sie mich in den letzten zwei Minuten auf den mer weiter in einen Bürgerkrieg hinein. Sie können das
regionalen Kontext und auf die Perspektive eingehen. Es Problem der Piraterie nur mit einer politischen Lösung in
ist ganz wichtig, dass wir Somalia nicht isoliert betrach- Somalia lösen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8621
Jan van Aken
(A) (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens wunderbare Vorschläge gemacht; zum Beispiel hätte (C)
[CDU/CSU]: Deshalb bringen wir die Nah- Entwicklungshilfe im Norden in Somaliland oder in
rungsmittel dahin!) Puntland eine positive Wirkung auf ganz Somalia.
Das sagen einem nicht nur die Zahlen der letzten zwei Es gibt ja lokale Autoritäten, die funktionieren. Diese
Jahre. Das sagt einem nicht nur der gesunde Menschen- können Sie unterstützen und einen demokratischen Auf-
verstand. Das sagt auch unser Außenminister, Herr bau von unten fördern. Natürlich können Sie endlich
Westerwelle, der an dieser Stelle vor genau einer Woche auch etwas gegen die illegale Fischerei unternehmen.
gesagt hat – ich zitiere Sie jetzt, Herr Westerwelle –: Denn auch sie ist eine der Ursachen – sie ist keine
Rechtfertigung – der Piraterie in Somalia.
Der Einsatz gegen die Piraterie wird nicht
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
– „nicht“, Herr Kiesewetter – keine Waffen mehr exportieren sollte. 8 Milliarden Euro
auf der Hohen See gewonnen, sondern nur an Land.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist die Wahrheit. Ich gebe Ihnen recht, Herr
hat Deutschland im letzten Jahr an Rüstungsexporten
Westerwelle. Allerdings verstehe ich nicht – das müssen
verdient, und ich finde, dass jedes einzelne Sturmgewehr
Sie mir hier erklären –, dass Sie hier zwar eine richtige
und jede einzelne Maschinenpistole eine zu viel ist,
Analyse vorlegen, aber trotzdem 50 Millionen Euro und
wenn sie exportiert wird. Denn über kurz oder lang lan-
1 400 Soldaten beantragen, um sie auf die Hohe See zu
den sie alle in Kriegsgebieten – auch in Somalia –, und
schicken, obwohl das Problem dort gar nicht zu lösen ist.
wir, die Linke, sind dafür, dass die Waffenexporte end-
Das verstehe ich wirklich gar nicht.
lich aufhören.
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens
Ich danke Ihnen.
[CDU/CSU]: Wie sollen denn die Menschen
an die Lebensmittel kommen?) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/
CSU: Das ist grauenhafter Zynismus!)
Wenn Sie so weitermachen, können Sie die ganze Bun-
desmarine in den Indischen Ozean schicken. Sie können
sie für 30 Jahre dort hinschicken, aber es wird sich nichts Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ändern, solange Sie nicht an die Ursachen herangehen. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Kerstin Müller das Wort.
Da frage ich auch die Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen. Sie machen in Ihrem Antrag genau die glei-
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) che Analyse auf. Sie fragen sogar richtigerweise: Wie (D)
lange soll es denn noch so weitergehen? Wann ist ein NEN):
Ende abzusehen? – Aber wie können Sie nach dieser Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr van
richtigen Analyse diesem Mandat noch zustimmen? Ich Aken, es kam jetzt nicht wirklich überraschend, dass
verstehe es einfach nicht. Ihre Fraktion den Atalanta-Antrag ablehnen wird.

Herr Westerwelle hat letztes Mal noch etwas Zweites (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir sind
gesagt. Er hat behauptet, die Bundesregierung werde konsequent, im Gegensatz zu Ihnen!)
auch den politischen Wiederaufbau in Somalia unterstüt- Ich finde allerdings: Wenn Sie es hier wieder einmal ab-
zen. Das allerdings war schlichtweg gelogen. Wir haben lehnen, sollten Sie auch realistische Alternativen benen-
ihn gestern zweimal im Ausschuss gefragt. Wir haben nen.
uns das Mandat genau durchgelesen, und es gibt sehr ge-
naue Zahlen darüber, was die Bundesregierung in Soma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
lia macht und was sie nicht macht. bei der SPD und der FDP – Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE]: Hat er klar gesagt!
Sie liefert Nahrungsmittelhilfe. Wunderbar! Das finde Zuhören, Frau Müller!)
ich richtig, und diese Hilfe muss auch weiterhin geleistet
werden. Allerdings ist das kein politischer Wiederauf- – Ich frage mich, wie Ihr Beitrag zu verstehen ist, wenn
bau. Und sie bildet 2 000 somalische Soldaten aus. Das Sie sagen, die Ursachen liegen an Land. Das sagen übri-
ist nicht nur falsch, das ist richtig kontraproduktiv. Denn gens alle. Niemand behauptet, dass wir mit diesem Ein-
wie wollen Sie überhaupt einen politischen Friedenspro- satz die Ursachen bekämpfen. Es geht um Symptombe-
zess in Somalia anstoßen, wenn Sie eine Seite im Bür- kämpfung.
gerkrieg mit Militärs ausrüsten? Sie haben doch jeden (Zurufe von der LINKEN: Ah!)
Kredit verspielt. Sie sind jetzt Partei. Sie können in So-
malia doch überhaupt nicht mehr als Mediator bzw. als – Ja, natürlich. Sie haben es echt nicht verstanden.
Friedenspartei auftreten. Das heißt, Sie machen das Ge-
genteil eines politischen Wiederaufbaus. Aber wie ist Ihr Beitrag zu verstehen? Fordern Sie,
dass wir Truppen nach Somalia schicken, weil wir da die
(Beifall bei der LINKEN) Ursachen bekämpfen müssen und weil es da ein Sicher-
heitsproblem gibt?
Dabei gibt es doch viele gute und konstruktive Ideen.
Beispielsweise haben Amnesty International oder der (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein
Evangelische Entwicklungsdienst in den letzten Tagen Quatsch!)
8622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) Ich jedenfalls sehe hier nur schlechte Alternativen, die Es geht auch nicht nur um das sichere Geleit für die (C)
die notwendigen Aufgaben erfüllen könnten. Schiffe des Welternährungsprogramms, sondern auch
um den Schutz der freien Seewege für alle und deren
Da ist zum einen die notwendige humanitäre Versor- friedliche Nutzung. Das ist ein internationales Rechtsgut
gung – dazu haben Sie besser nichts gesagt – von im- und ein anerkanntes Völkerrecht, weil es im Interesse al-
merhin 3,2 Millionen Menschen erforderlich. Sie ist nur ler ist, die zivile Schifffahrt und wehrlose Matrosen am
auf dem Seeweg mit dem Welternährungsprogramm Horn von Afrika zu schützen. Das sehen alle UNO-Mit-
möglich. Die Schiffe des Welternährungsprogramms gliedstaaten so. Sie sind doch eigentlich die Völker-
fahren inzwischen nur noch mit internationalem Geleit- rechtspartei. Alle UNO-Mitgliedstaaten sehen das so.
schutz. Die Reeder stellen sonst keine Schiffe mehr zur Selbst die Chinesen und Russen haben diesem Mandat
Verfügung. Allein in diesem Jahr sind 46 Schiffe beglei- zugestimmt.
tet worden. Was ist Ihr Vorschlag, damit die Nahrung bei
den Menschen in Somalia ankommt? Ich habe dazu Ich will aber auch etwas zu Herrn Minister
nichts gehört. Guttenberg sagen, der in dem Zusammenhang von der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, militärischen Absicherung nationaler Rohstoffinteres-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) sen gesprochen hat. Darum geht es auch nicht, meine
Damen und Herren von der Koalition. Damit suggeriert
Wir haben keine internationale Seepolizei – erst recht man, deutsche Soldaten wollen vor der Küste Somalias
keine so robuste, das wollen wir nach deutschem Recht Jagd auf Öl oder seltene Ressourcen machen. Das ist
schon gar nicht –, die zivile Schiffe und wehrlose Matro- Unsinn. Darum geht es nicht.
sen wirksam schützen könnte. Die Zahl ist schon er-
wähnt worden: 438 Geiseln sind in der Gewalt somali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
scher Piraten.
Es geht um den Schutz der freien Seewege. Das ist ein
(Jan van Aken [DIE LINKE]: Trotz Atalanta!) internationales Rechtsgut und eine Errungenschaft, weil
die Weltmeere heute nicht mehr zwischen den Groß-
Wie wollen Sie die befreien? Mit Polizei? Das ist kein
mächten aufgeteilt werden.
Spaziergang. Deswegen fahnden auch keine Polizisten,
sondern Soldaten nach den Piraten. Ich will klar sagen: Es ist also klar: Atalanta dämmt nur die Symptome
Atalanta ist im Grunde ein quasipolizeilicher Einsatz, ein. Sie kann die Ursachen der Piraterie nicht beseitigen.
der von Soldaten geführt werden muss. Es muss darum gehen – das ist unsere klare Forderung
Hätten wir Atalanta nicht, was wären die Alternati- an die Bundesregierung und auch an Sie, Herr Außen-
minister –, dass wir viel stärker den Friedensprozess in
(B) ven? Manche sähen zum Beispiel lieber die NATO als (D)
diesen UN-mandatierten und EU-geführten Einsatz. Ich Somalia fördern und Ideen präsentieren. Es muss einen
sage für meine Fraktion sehr deutlich: wir nicht. umfassenden politischen Versöhnungs- und Dialogpro-
zess geben. Man kann nicht allein auf die korrupte Über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gangsregierung setzen. Das ist zum Scheitern verurteilt.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und der FDP) Wir müssen auf jeden Fall versuchen, mit verhand-
lungsbereiten Kräften von al-Schabab und Hisb al-Islam
Wir wollen, dass diese Missionen im Wesentlichen von Dialoge aufzubauen.
der UNO geführt werden. Oder es gäbe noch mehr natio-
nale Alleingänge – es gibt einige, die dort mit nationalen
Schiffen herumfahren –, oder – das ist die eigentliche Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Gefahr – es würden künftig die Blackwaters dieser Welt Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
auf den Decks von Containerschiffen und Getreidefrach-
tern stehen. Wollen Sie das?
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN):
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ich komme zum Schluss. – Ich frage mich, warum wir
SPD und der FDP) nicht Somaliland stärker einbeziehen. Dieses unmittel-
Das wäre eine gefährliche Militarisierung der zivilen bare Nachbarland ist völlig stabil mit einer demokrati-
Schifffahrt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das schen Entwicklung. Ich verstehe nicht, warum man das
wollen. nicht als gutes Beispiel nutzt.
Die Alternative ist ganz einfach. Die Alternative zu Politisch muss viel mehr geschehen. Dieses Mandat
diesem multilateralen Einsatz heißt: entweder Rena- beseitigt nicht die Ursachen. Es muss vielmehr ein poli-
tionalisierung oder Privatisierung des Sicherheitsrisi- tisches Gesamtkonzept geben. Das fehlt uns noch. Dazu
kos. Die große Mehrheit meiner Fraktion will das nicht. sagen wir etwas in unserem Entschließungsantrag. Wir
Deswegen werden wir heute diesem vernünftigen Man- würden uns freuen, wenn Sie auch dem zustimmen.
dat zustimmen.
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Jan (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
van Aken [DIE LINKE]: Ist aber falsch!) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8623

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Der letzte Punkt: Man muss das eine tun, ohne das an- (C)
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin dere zu lassen. An dieser Stelle ziehe ich eine Parallele
Buchholz. zur Innenpolitik. Wenn es Kriminalität auf den Straßen
in Deutschland gibt, dann fordert doch selbst die Linke
Christine Buchholz (DIE LINKE):
nicht die Abschaffung der Polizei. Vielmehr haben wir
die Polizei, und wir bekämpfen präventiv Kriminalität.
Frau Müller, ich habe zwei Fragen. Die erste Frage Genau darum geht es hier auch. Wir schützen die freien
zielt hauptsächlich auf die Versorgung der Menschen in Seewege und brauchen ein umfassendes politisches
Somalia mit Nahrungsmitteln ab. Wie können Sie ange- Konzept.
sichts dessen erklären, dass sich das Mandat bis in den
Indischen Ozean fast vor die Küste des Irans ausgeweitet In diesem Zusammenhang üben wir natürlich Kritik
hat? Wie passen diese beiden Argumente zusammen? an der Bundesregierung. Da läuft viel zu wenig. Ich sage
Ihnen aber auch aus einer zehnjährigen Erfahrung heraus
Meine zweite Frage bezieht sich auf die politische Al- – ich bin überall in der Region gewesen –: Ganz schnell
ternative. Das Mandat Atalanta und die Politik der Bun- wird das keiner aus der Tasche ziehen. Es gibt nicht das
desregierung sind absolut einseitig auf die Unterstützung Ei des Kolumbus, um Somalia an einem Tag zu retten.
des Transitional Federal Government ausgerichtet. Das Es gibt aber noch einige Vorschläge, bei denen die Bun-
ist eine scharfe Kritik der Nichtregierungsorganisation desregierung engagierter sein könnte.
Amnesty International. Dieser Ansatz ignoriert kom-
plett, dass in den letzten 19 Jahren versucht wurde, in Wir müssen die Ursachen bekämpfen und gleichzeitig
Somalia Regierungen aufzubauen, die von den Somalis etwas gegen die Kriminalität auf den Seewegen tun.
nicht akzeptiert werden. Diese Realität können Sie nicht Deshalb brauchen wir beides.
ignorieren. Wenn Sie dem Mandat zustimmen, stimmen Es wäre schön, wenn Sie sich damit einmal auseinan-
Sie auch dieser Politik zu. Das widerspricht allerdings dersetzen könnten. Man muss die Symptome angehen
den schönen Worten, die Sie am Ende Ihrer Rede gefun- und die Ursachen bekämpfen.
den haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall bei der LINKEN) bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Frau Müller, bitte. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ingo
Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion.
(B) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
NEN):
Wenn Sie zugehört haben, dann haben Sie mitbekom- Ingo Gädechens (CDU/CSU):
men, dass ich von zwei zentralen Zielen dieses Mandats
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gesprochen habe.
gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr van
Das eine Ziel ist der Geleitschutz für die Schiffe des Aken, Ihre Rede war schwer zu ertragen. Die Kurzinter-
Welternährungsprogramms. Auch in Ihrer Kurzinterven- vention, Frau Buchholz, hätten Sie sich sparen können.
tion haben Sie nichts dazu gesagt, was denn Ihr Vor- Die Antwort von Frau Müller empfand ich aber als sehr
schlag ist, wie 3,2 Millionen Menschen – das ist die erfrischend.
Hälfte der Bevölkerung in Somalia – mit Nahrungsmit- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
teln versorgt werden sollen. Das finde ich für eine Partei, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die einen humanitären Anspruch hat, ziemlich schlecht
und ziemlich wenig. Atalanta, eigentlich eine schöne und klangvolle Be-
zeichnung, die auch Namensgeber für eine friedliebende
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Region sein könnte. Atalanta ist aber leider die Bezeich-
der CDU/CSU, der SPD und der FDP) nung einer EU-geführten Operation in einer weniger
Das ist das erste Ziel. friedliebenden Region zur Bekämpfung der Piraterie auf
der Grundlage des Seerechtsübereinkommens und der
Das zweite Ziel ist der Schutz der Seewege. Der freie entsprechenden Resolution des Sicherheitsrats der Ver-
Zugang zur See ist eine Errungenschaft des modernen einten Nationen.
Völkerrechts, des UN-Seerechtsübereinkommens von
1982. Ihre Haltung dazu verstehe ich nicht. Sie suggerie- Die multinationale Operation stemmt sich mit einer
ren immer, Sie seien die Völkerrechtspartei. Wenn aber konzertierten Kraftanstrengung gegen eine hässliche und
Völkerrecht geschrieben wird und wenn es ein einstim- menschenverachtende Fratze einer skrupellosen Pirate-
mig gefasstes UN-Mandat gibt, das zur Durchsetzung rie. Selbst diejenigen, die womöglich einer Art Sir-
dieses Völkerrechts Schiffe auf See schickt, dann sagen Francis-Drake-Romantik hinterherlaufen, müssen erken-
Sie: Wir sind nicht dabei. – Das finde ich nicht sehr nen, dass auf den strategisch positionierten Piratenmut-
glaubwürdig. Um diese beiden Rechtsgüter geht es. terschiffen und Skips Verbrecher der übelsten Sorte an
Bord sind, für die ein fremdes Menschenleben wertlos
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist. Stehen sie erst vor Gericht, so wie aktuell in Ham-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) burg, geben sie sich scheinheilig, demütig und unterwür-
8624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Ingo Gädechens
(A) fig. Sind sie bewaffnet auf See, werden Schiffe mit un- vor die Größe des Operationsgebietes. Weit entfernt von (C)
barmherziger Brutalität geentert, wird rücksichtslos auf der Küste gibt es in jüngster Zeit Überfälle. Als Beispiel
Besatzungsmitglieder geschossen. Diese Piraten schre- nenne ich nur mögliche Erreichbarkeiten. Wenn in einer
cken weder vor Erpressung noch vor Mord zurück. Entfernung von lediglich 300 Seemeilen ein Schiff ange-
griffen wird, benötigt eine Fregatte unter Höchstfahrt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zwölfeinhalb Stunden, um am Ort des Geschehens ein-
Vor dem Hintergrund eigener staatlicher Machtlosigkeit zutreffen.
hat die somalische Übergangsregierung den Sicherheits-
rat um Hilfe gebeten, die nunmehr seit zwei Jahren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– auch mit deutscher Unterstützung – gewährt wird. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Das Engagement und der Einsatz der Einheiten unse- Kollegen Ströbele?
rer deutschen Marine sowie insbesondere die hohe Flexi-
bilität der Soldatinnen und Soldaten verdienen gerade Ingo Gädechens (CDU/CSU):
von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages aller- Herr Ströbele ist immer herzlich willkommen.
höchste Wertschätzung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- GRÜNEN):
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege, Sie selber haben sich gerade auch für
Wie nahezu bei allen Einsätzen gelten die deutschen andere Maßnahmen ausgesprochen. Geben Sie mir recht,
Schiffe und deren Besatzung als wichtige, erfahrene und dass in den Gewässern vor Somalia und den Nachbar-
professionell handelnde Einheiten auch in diesem multi- staaten nach wie vor – so lautet jedenfalls die Auskunft
nationalen Verband. Das internationale Engagement geht des Auswärtigen Amtes – große schwimmende Schiff-
mittlerweile weit über die Einheiten der EU-Mission einheiten etwa aus Italien, Frankreich und anderen euro-
Atalanta hinaus. Unilateral operieren Staaten wie – um päischen Staaten sowie aus Asien fischen und dass das
nur einige zu nennen – Russland, Saudi-Arabien, Singa- Leerfischen dieser ursprünglich sehr fischreichen Ge-
pur, Thailand, Indien, China und die Vereinigten Arabi- wässer eine der Ursachen ist, warum auch Fischer zu
schen Emirate im Einsatzgebiet. Piraten geworden sind? Dabei verkenne ich nicht, dass
es sich hier inzwischen um eine international agierende
Neben dem bereits erwähnten Schutz der Hilfsschiffe kriminelle Organisation handelt. Was gedenken Sie vor-
des World Food Programme und dem Schutz der African zuschlagen, um das Leerfischen der Gewässer rund um
Union haben Deutschland und die gesamte freie Welt Somalia zu beenden?
(B) (D)
eine vehementes Interesse an freien Seehandelswegen.
Es geht nicht, wie von den Linken wiederholt behauptet, Ein weiterer Punkt. Ist Ihnen ein Bericht der Kontroll-
um eine Art Kanonenbootpolitik, sondern es geht um le- kommission des Weltsicherheitsrates bekannt, wonach
gitimiertes internationales Recht auf Hoher See, das al- etwa 50 Prozent der Versorgungsgüter des Welternäh-
len Staaten ungehinderte Durchfahrt gewährt. So wie rungsprogramms zwar in Somalia ankommen, dort aber
Deutschland in Nord- und Ostsee im Seehoheitsgebiet verloren gehen, weil 30 Prozent so versickern sowie je-
und selbstverständlich auf den internationalen Seeschiff- weils 10 Prozent an die Transportunternehmen und die
fahrtsstraßen eine sichere Passage gewährt, erwarten wir Milizen in den Gebieten gehen, durch die die Güter
gemeinsam mit den verbündeten Staaten eine ungehin- durchgeschleust werden? Was soll gemacht werden, um
derte Fahrt auf den Weltmeeren. einen viel größeren Schwund zu verhindern, der bewirkt,
dass die Waren und Nahrungsmittel des Welternährungs-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- programms nicht zu den Bedürftigen gelangen? Haben
neten der FDP) Sie dazu Vorschläge, statt immer nur vom Militär zu re-
Die ungehinderte Fahrt unserer Schiffe, egal ob gechar- den?
tert oder unter deutscher Flagge fahrend, gilt es, zu
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
schützen, weil freie Handelswege von elementarer Be-
deutung gerade für ein Exportland wie Deutschland sind.
Ingo Gädechens (CDU/CSU):
Ich möchte an dieser Stelle keine tiefergehende Ana- Herr Ströbele, ich verkenne nicht das Problem der
lyse über die Entstehung der Piraterie auf einem ge- Fischtrawler, der großen Fischfangfabrikschiffe, die in
schundenen Kontinent, insbesondere in einem armen internationalen Gewässern weit vor der Küste Somalias
und unsicheren Land wie Somalia, machen. Selbstver- die Meere leerfischen. Es gibt sicherlich einen Zusam-
ständlich ist uns allen bewusst, dass Maßnahmen not- menhang, aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang,
wendig sind, damit Piraterie erst gar nicht entsteht. Auch weil der somalische Fischer Küstenfischerei betrieben
hier setzt die deutsche Außenpolitik an wichtigen Stellen hat. Ich könnte jetzt einen großen Exkurs über die Pro-
an, um die unübersichtliche Situation in Somalia und in bleme, die unsere Ostseefischer und unsere Nordsee-
der gesamten Region zu verbessern. fischer haben, vortragen. Die sind auch nicht Piraten ge-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) worden.
Als größtes Problem für die im Kampf gegen die Pira- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
terie eingesetzten Marineeinheiten erweist sich nach wie der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8625
Ingo Gädechens
(A) Aber die Küstenfischerei leidet natürlich darunter, dass alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. (C)
größere Mengen von Fischen in internationalen Gewäs- Dann eröffne ich die Abstimmung.
sern genau von den Schiffen, die Sie eben genannt ha-
ben, weggefischt werden. Es muss internationale Ver- Sind Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die ihre
handlungen geben, damit in internationalen Gewässern Stimmkarte noch nicht abgegeben haben? – Das ist nicht
eine vernünftige Regelung getroffen wird. der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn Sie lobend erwäh-
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
nen, dass die Hilfsgüter in Somalia ankommen, dann
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
sage ich Ihnen, dass das dem Part geschuldet ist, den
Ihnen später bekannt gegeben.2)
Atalanta übernimmt. Wir bringen die Schiffe des World
Food Programme sicher in die Häfen. Dass auf außen- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
politischem Wege etwas getan werden muss, damit die schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Hilfsgüter nicht in die falschen Hände geraten, sondern auf Drucksache 17/4067. Wer stimmt für diesen Ent-
bei den notleidenden Menschen ankommen, darüber schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
sind wir uns beide einig. Diese Aktivitäten müssen noch gen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Dafür
verstärkt werden. haben die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gestimmt, dagegen die Koalitions-
(Beifall bei der CDU/CSU)
fraktionen und die Fraktion Die Linke. Die SPD-Frak-
Leider ist die Zahl der Überfälle noch gestiegen, aber tion hat sich enthalten.
die Abwehr ist effektiver geworden. Das kann man als Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:
Erfolg für das neue Sicherheitskonzept der Marine, des
Verbands Deutscher Reeder und der Bundespolizei wer- – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ten. Die Besatzungen wissen sich besser zu wehren und richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
melden Vorfälle und Beobachtungen schneller, sodass schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung
auch schneller Hilfs- und Schutzmaßnahmen eingeleitet
werden können. Die enge Verbundenheit beim gemein- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
samen Vorgehen gegen die Piraterie können Sie daran scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
erkennen, dass sich auf der Fregatte „Hamburg“, die zur- tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
zeit im Einsatzgebiet ist, ein estnisches Vessel Protection des Friedensprozesses in Bosnien und Herze-
Detachment Team befindet, das zuvor auch in Deutsch- gowina im Rahmen der Implementierung der
land für den Einsatz ausgebildet wurde. Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensverein-
(B) barung sowie an dem NATO-Hauptquartier (D)
Wir brauchen heute ein klares und deutliches Signal Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
für die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der der Resolution des Sicherheitsrates der Ver-
EU-Mission Atalanta. Eine breite Zustimmung, um die einten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolu-
ich Sie alle bitte, wäre zugleich ein deutliches Signal für tionen
alle Soldatinnen und Soldaten, die hochmotiviert ihren
– Drucksachen 17/3692, 17/4049 –
oftmals gefährlichen Dienst auf See verrichten.
Berichterstattung:
Herzlichen Dank.
Abgeordnete Philipp Mißfelder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Marieluise Beck (Bremen)
Ich schließe die Aussprache.
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili- – Drucksache 17/4056 –
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
Berichterstattung:
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Pira-
Abgeordnete Norbert Barthle
terie vor der Küste Somalias. Dazu liegen mehrere per-
Klaus Brandner
sönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unse-
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
rer Geschäftsordnung vor.1)
Michael Leutert
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Sven-Christian Kindler
lung auf Drucksache 17/4048, den Antrag der Bundes- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
regierung auf Drucksache 17/3691 anzunehmen. Über Bündnis 90/Die Grünen vor.
diese Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
vorgesehenen Plätze an den Urnen einzunehmen. Sind mentlich abstimmen.

1) Anlagen 6 und 7 2) Ergebnis Seite 8629 D


8626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
zu debattieren. – Ich höre und sehe keinen Widerspruch. der CDU/CSU)
Dann werden wir so verfahren.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Ich eröffne die Aussprache. Grünen, muss ich auch dafür plädieren, Ihren Antrag ab-
zulehnen. Sie wollen ein weiteres Mal die Hürden für die
Als erster Redner hat der Kollege Dr. Rainer Stinner
Abschaffung des Hohen Repräsentanten erhöhen. Es gibt
für die FDP-Fraktion das Wort.
schon jetzt hohe Hürden, vielleicht zu hohe. Eine Hürde
(Beifall bei der FDP) ist: nachhaltige Finanzpolitik. Wo gibt es die schon?
(Heiterkeit bei der FDP)
Dr. Rainer Stinner (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Abschaffung des Büros des Hohen Repräsen-
Heute vor genau 15 Jahren hat der Deutsche Bundestag tanten, OHR, angeht, gibt es bereits fünf Ziele und zwei
das IFOR-Mandat für Bosnien-Herzegowina verabschie- Bedingungen. Das ist schon eine ganze Menge. Sie von
det. Wenn man diese 15 Jahre Revue passieren lässt, den Grünen – ich weiß, wer es geschrieben hat – wollen
dann muss man sagen, dass auch dieses Mandat insge- diese Hürden nochmals erhöhen, indem Sie formulieren:
samt sehr erfolgreich gewesen ist. Vor 15 Jahren waren Wir müssen das Büro des Hohen Repräsentanten auf-
in diesem Rahmen noch über 50 000 NATO-Soldaten im rechterhalten, bis es in diesem Land endlich eine Verfas-
Einsatz. Nachdem es in eine EU-Mission umgewandelt sung gibt. – Wir alle wissen, wie wichtig es ist, über
wurde, sind es nunmehr noch 1 900 internationale Solda- Dayton hinwegzukommen, aber diese Hürde ist zu hoch.
ten. Dazu zählen zum heutigen Zeitpunkt 126 deutsche Alle, die sich mit dem Thema näher beschäftigen, wis-
Soldaten. sen, dass die Hohen Repräsentanten der letzten Jahre an
Wirksamkeit verloren haben, auch wenn sie guten Wil-
Das ist ein Entwicklungspfad, der in die richtige lens waren. Ich darf es so deutlich sagen: Die letzten Ho-
Richtung gegangen ist. Wir haben in Bosnien-Herzego- hen Repräsentanten haben einen eher traurigen Eindruck
wina in den letzten Jahren deutliche Verbesserungen er- gemacht, weil sie wussten, dass sie nichts mehr errei-
reicht. Dafür Dank und Anerkennung allen, die daran chen können. Deshalb ist es hohe Zeit, dass wir damit
mitgewirkt haben! Schritt für Schritt Schluss machen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- der CDU/CSU)
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb sagen wir, dass das OHR aufgelöst werden
(B) Wir alle wissen, dass in Bosnien-Herzegowina noch (D)
muss, spätestens dann, wenn das SAA abgeschlossen ist.
vieles ungelöst ist. Aber eines wissen wir auch: Die Si- Darüber sind wir im besten Einvernehmen mit der Bun-
cherheitslage ist weitestgehend stabil. desregierung.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Stimmt!) Wo stehen wir in Bosnien-Herzegowina, und wo
Man kann sagen: Es hat lange genug gedauert, aber im- möchten wir in Zukunft stehen? Ich wiederhole für alle
merhin haben wir es erreicht. Liebe Kolleginnen und hier im Raum, aber auch mit Blick nach draußen noch
Kollegen, wenn wir uns anschauen, wie es in anderen einmal, dass meine Fraktion unverändert zu dem politi-
Konfliktgebieten nach 15 Jahren internationalem Enga- schen Commitment von Thessaloniki des Jahres 2003
gement aussieht, müssen wir feststellen: Wir sind in steht, dass der westliche Balkan und damit auch Bos-
Bosnien-Herzegowina besser dran. nien-Herzegowina eines Tages Teil eines geeinten,
freien, demokratischen Europas in der EU sein soll.
Wir wollen ALTHEA weiter reduzieren. Wir möchten
dazu kommen, dass wir diese Mission beenden und in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
eine Ausbildungsmission umwandeln. Das werden wir der CDU/CSU)
Schritt für Schritt tun. Der Entwicklungspfad ist vorge- Das ist unser politisches Ziel. Das möchten wir
zeichnet. Das heißt, wir beenden Mandate. Eine wichtige schrittweise erreichen. Die Hürden sind mannigfaltig,
Botschaft an die Bevölkerung ist: Wir tun das Richtige aber wir müssen daran arbeiten, weil es auch in unserem
und Wichtige, aber wir hören auf, wenn das nicht mehr eigenen Interesse ist, dass wir das erreichen. Da ist noch
in diesem Umfang notwendig ist. vieles zu tun,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat noch- in Bosnien-Herzegowina insbesondere. Wir müssen Hil-
mals die Mandatierung beschlossen und uns beauftragt. festellung leisten – wir alle wissen das –, und wir versu-
Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat das Land chen auch, sie zu leisten. Die Probleme sind bekannt: ein
Bosnien-Herzegowina mitgestimmt, weil Bosnien- unwilliger Herr Dodik, zu viel Administration in der Fö-
Herzegowina seit Herbst letzten Jahres Mitglied im deration. Es gibt 180 Minister. Das wünschen sich viel-
Weltsicherheitsrat ist. Das heißt, wir trauen diesem Land leicht auch manche bei uns.
zu, die Welt mit zu regieren. Ich werbe dringend dafür,
dass wir diesem Land auch zutrauen, sich selbst zu re- (Heiterkeit bei der FDP – Volker Kauder
gieren. [CDU/CSU]: Nein!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8627
Dr. Rainer Stinner
(A) Das ist ein bisschen viel für dieses Land und kaum zu fi- tärische Anteil, der diese Mandatsdebatte zur Folge hat, (C)
nanzieren. Es gibt keine Verfassung. Es werden Gesetze als Ergebnis bringt, dass Bosnien-Herzegowina in der
nicht zügig genug verabschiedet etc. öffentlichen politischen Debatte in Europa nicht verges-
sen wird.
Aber, meine Damen und Herren, wir haben erlebt,
dass Bosnien-Herzegowina ans Laufen kommt, wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
man ein konkretes Ziel vorhält, nämlich die Visabefrei- der CDU/CSU und der FDP)
ung. Das hat im Lande einen sehr starken Druck hervor-
gerufen, Reformen einzuleiten. Ich bin froh darüber, Denn das Schlimmste wäre, wenn es zu einem vergesse-
dass unsere Freunde in Bosnien-Herzegowina endlich nen Konflikt käme.
das Europa kennenlernen können, in dem das Land eines Dass wir diese Konfliktsituation auf dem Balkan
Tages aufgehen soll. nicht gelöst bekommen kann sich Europa im Grunde ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nommen nicht leisten. Denn die Konfliktlösung ist auch
für uns wichtig, nicht nur für den Balkan selbst, sondern
Diesen Weg werden wir weitergehen. Wir werden Bos- für Gesamteuropa.
nien-Herzegowina weiter unterstützen. Wir werden weiter
deutlich sagen: Der Weg nach Europa ist offen, das Tor ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
offen, aber, liebe Leute, ihr müsst selbst – durch eigene CDU/CSU)
Reformanstrengungen – durch das Tor hindurchgehen. Deswegen ist es notwendig, dass wir hier diesem Land
Wir helfen, ihr müsst auf diese Hilfe antworten, müsst den Weg zu einem vollkommen souveränen Staat ebnen
euer eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Ihr seid in und da unsere Hilfe leisten.
Europa willkommen, wir helfen euch dabei.
Meine Damen und Herren, ich habe etwas zur Regie-
Vielen Dank. rungsbildung gesagt. Zur Regierungsbildung ist es not-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wendig, eine multiethnische Verfassung in Bosnien-
Herzegowina zu verabschieden, damit wir den Weg für
dieses Land nach Europa öffnen und begradigen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Fritz In diesem Land muss auch die polizeiliche EU-Mis-
Rudolf Körper. sion Beachtung finden. Deutschland ist mit einem ganz
wesentlichen Beitrag an der insgesamt 120-köpfigen Po-
Fritz Rudolf Körper (SPD): lizeimission mit Polizeibeamtinnen und -beamten betei-
(B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ALTHEA ligt, die dort ihren Dienst insbesondere in der Qualifizie- (D)
ist eine Begrifflichkeit aus der griechischen Sage und be- rung und in der Ausbildung leisten. Ihnen ist an dieser
schreibt die Göttin der Gesundheit. Ich bin im vergange- Stelle ebenso zu danken wie den Soldatinnen und Solda-
nen Jahr auf diese Sage eingegangen. Ich will das nicht ten in diesem Bereich.
wieder tun, sondern nur so viel sagen: Die Namenswahl (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
ist ganz gut, weil Bosnien-Herzegowina in der Tat Ge- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
sundung braucht. Dieses Land braucht weiterhin Gesun- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
dung, und es muss sich etwas bewegen.
Wenn man über die Situation dieses Landes redet,
Wenn man die letzten zwölf Monate verfolgt hat, ist kommt man an einem nicht vorbei: Wir waren bei der
das, was sich zum Positiven bewegt hat, relativ leicht Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Kor-
und schnell aufzuzählen. Da sind einmal in der Tat die ruption noch nicht erfolgreich. Ich finde, das muss deut-
für die Befreiung von der Visapflicht für Schengen-Staa- lich gesagt werden: Dieses Land hat nur Erfolg, wenn es
ten notwendigen Reformen. Sie sind erfolgreich durch- die organisierte Kriminalität und die Korruption erfolg-
geführt worden, und das ist gut für Bosnien-Herzego- reich bekämpft.
wina.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Wenn diese Bekämpfung nicht erfolgreich ist, wird es
Was einem auch ein Stück weit Anlass gibt, optimisti- keinen direkten Weg zu einem vollkommen souveränen
scher als vielleicht noch vor zwölf Monaten zu sein, ist Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Grundord-
das Wahlergebnis am 3. Oktober: Die nicht nationalis- nung geben können. Insofern ist hier unsere Hilfe ge-
tisch gesinnten Parteien haben Stimmenzuwächse er- fragt und gefordert.
zielt. Jetzt ist wirklich Hilfe zu leisten, damit es zu der
Bildung einer Regierung kommt, die die ethnischen Es ist gut, dass im militärischen Teil der Operation
Konflikte überwinden kann. eine ganze Menge umorganisiert worden ist; eine Aus-
bildungs- und Beratungskomponente wurde integriert.
Wenn wir heute den militärischen Anteil dieses Man- Damit beschreiten wir den richtigen Weg.
dates beschließen – dazu ist schon etwas gesagt worden;
wir haben im Grunde genommen nur noch 120 Soldatin- Es wird immer wieder vergessen, dass die EU auch
nen und Soldaten im Einsatz und die Obergrenze zum auf Kapazitäten der NATO zurückgreift. So wird das
Glück bei weitem nicht erreicht –, gibt es einen Punkt, Hauptquartier in Bosnien-Herzegowina in Fragen der
der, glaube ich, zu beachten ist, nämlich dass dieser mili- Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur und im Hin-
8628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Fritz Rudolf Körper


(A) blick auf eine euro-atlantische Integration von der Meine Damen und Herren, warum nenne ich diesen (C)
NATO unterstützt, und das ist gut so. Fall? Das Beispiel zeigt, dass das schwierige Verhältnis
der gesellschaftlichen Gruppen in Bosnien und Herzego-
Ich bin sicher: Das Hauptrisiko für Bosnien-Herzego- wina zueinander noch sehr fragil und emotional aufge-
wina liegt nicht so sehr auf militärischer Ebene, sondern wühlt ist. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, dass Men-
viel stärker auf politischer Ebene, auch in den Bereichen schen, die in einem unerträglichen Maße schutzlos den
der Wirtschaft und der inneren Sicherheit; da liegt leider Aggressionen und der Gewalt ausgeliefert sind, über sehr
nach wie vor ein hohes Risiko für die Entwicklung die- lange Zeiträume unter den traumatischen Erfahrungen zu
ses Landes. Insofern ist es nach wie vor richtig, an den leiden haben. Angesichts des Mordens und des Vertrei-
fünf Zielen festzuhalten, die wir gemeinsam vereinbart bens, des unvorstellbar großen Leids, das der Bürgerkrieg
haben, nämlich: Aufteilung und nachhaltige Regelung in den Jahren zwischen 1992 und 1995 über die Men-
des Staatsvermögens, Regelung des Vermögens im Ver- schen gebracht hat, können wir alle miteinander – außer
teidigungssektor, Umsetzung des Schiedsspruchs zum vielleicht Herr Gysi mit seiner linken Truppe –
Sonderbezirk Brcko, fiskalische Nachhaltigkeit und Ver-
ankerung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in der Verfas- (Zurufe von der LINKEN)
sung von Bosnien-Herzegowina. Es ist lohnenswert, für feststellen, dass das, womit wir die Bundeswehr seit
diese Ziele zu kämpfen. Dayton in Bosnien und Herzegowina beauftragt haben,
(Beifall bei der SPD) richtig und notwendig ist.

Meine Damen und Herren, die Konflikte in und um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bosnien-Herzegowina dürfen nicht vergessen gemacht neten der FDP)
werden; sie dürfen auch nicht verdrängt werden. Das ist Über diesen weitgehenden Konsens in diesem Haus
ganz wichtig; denn die Verwirklichung von Frieden, freue ich mich ausdrücklich, auch wenn es – jetzt an die
Freiheit und Sicherheit auf dem Balkan, in den Balkan- Grünen gerichtet – für die Grünen vielleicht ein langer
staaten, ist für Gesamteuropa von existenzieller Bedeu- Lernprozess gewesen sein mag.
tung. Deshalb stimmt meine Fraktion, die SPD-Bundes-
tagsfraktion, dieser Mandatsverlängerung zu. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir denken halt immer nach!)
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Heute würdigen Sie in Ihrem Entschließungsantrag aus-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten drücklich das Engagement der Bundeswehr, und das ist
der CDU/CSU und der FDP) gut so.
(B) (Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- (D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: NIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer
Nächster Redner ist der Kollege Peter Beyer für die Zwischenfrage)
CDU/CSU-Fraktion.
Es war ein langer Weg dorthin, eine beachtliche Lern-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kurve, die Sie so gerade noch hinbekommen haben.
neten der FDP) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir stimmen zu, seit Jahren!)
Peter Beyer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie brüchig das Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
gesellschaftliche Gefüge und wie aufgewühlt die Situa-
tion in Bosnien und Herzegowina zuweilen auch heute
Peter Beyer (CDU/CSU):
noch ist, zeigen die Emotionen, die in diesen Wochen im
Zusammenhang mit einem Filmprojekt hochkochen. In Nein. – Nach dem 11. September 2001 haben Sie zu-
dem Film geht es um eine junge muslimische Frau und nächst für den Einsatz in Afghanistan gestimmt, obwohl
um einen Serben, der diese Frau während des Bürger- Sie in der Sache dagegen waren. Das nennt man wahr-
kriegs im Flüchtlingslager vergewaltigt hat. Angelina scheinlich grüne Dialektik, meine Damen und Herren.
Jolie, die bekannte US-amerikanische Schauspielerin, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
führt bei diesem Filmprojekt Regie. Zugleich ist sie Son- NEN]: Besser als fantasielos!)
derbotschafterin des UN-Flüchtlingswerks UNHCR und
damit auch für die Opfer des bosnischen Bürgerkrieges Wir werden sehen, wie weit es bei Ihnen mit der außen-
zuständig. politischen Verantwortung her ist, wie ernst Ihnen dieses
Thema ist, und zwar spätestens dann, wenn wir Anfang
Sie sorgt mit ihrem Filmprojekt in diesen Tagen für des kommenden Jahres hier im Hohen Hause über die
großen Unmut. Sie stößt vor allem bei weiblichen Verlängerung des ISAF-Mandats für Afghanistan zu ent-
Kriegsopfern mit ihrem Projekt auf Widerstand. Die scheiden haben werden. Es stellt sich die Frage, ob Sie
Frauen sehen sich nämlich erneut einem großen menta- sich dort erneut den Luxus leisten werden, drei Positio-
len Leid ausgesetzt. Die Drehgenehmigung für das Film- nen gleichzeitig zu vertreten. Denn seinerzeit haben
projekt in Bosnien ist derzeit annulliert, und UNHCR 35 Ihrer Kollegen sich nicht entschieden – sie konnten
beschäftigt sich mit dem Fall. oder wollten nicht –, 8 waren dafür und 21 dagegen. Wo-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8629
Peter Beyer
(A) für, so frage ich, stehen Sie eigentlich? Oder sind Sie Da ich von der Europäischen Union spreche, möchte (C)
auch in dieser Frage einfach nur dagegen? ich darauf hinweisen, dass zwei der wichtigsten außen-
und sicherheitspolitischen Aufgaben der Europäischen
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf Union die dauerhafte Stabilität auf diesem Teil unseres
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ha, ha, Kontinents und die Integration der Staaten in die euro-
ha!) atlantischen Strukturen bleiben werden.
Meine Damen und Herren, der Frieden selbst muss in Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
Bosnien und Herzegowina von innen heraus wachsen beobachte ich auch erfreut die mehr und mehr konstruk-
– Kollege Stinner deutete es schon an –, 15 Jahre nach tiv und stabilisierend wirkende Rolle Serbiens.
Kriegsende, 15 Jahre nach dem Abkommen von Dayton,
ja und auch 15 Jahre nach den Gräueltaten von Srebre- Die optimistische Einschätzung im vorliegenden Ent-
nica. Leider ist das Land nach 15 Jahren selbst noch schließungsantrag der Grünen, wonach Bosnien und
nicht so weit, dass es von innen heraus in Frieden wach- Herzegowina „baldmöglich“ Mitglied der Europäischen
sen kann. Bis heute konnten Hunderttausende Flücht- Union werden sollen, teile ich so nicht. Für alle Kandi-
linge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Kriegs- daten gelten die EU-Beitrittskriterien gleichermaßen.
zeit, die ethnischen Säuberungen – ein schlimmes Wort, Niemand sollte zeitlich bevorzugt werden. Einen EU-
wie ich finde –, die Not in den Flüchtlingslagern: All das Beitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfüllung
ist noch immer sehr präsent. aller Kriterien, ansonsten eben nicht. Der Weg nach Eu-
ropa lohnt sich für die Menschen im Land, in der Region
Und hier kommt ALTHEA ins Spiel, meine sehr ge- des Westbalkans und in Europa. In diesem Zusammen-
ehrten Damen und Herren. ALTHEA ist die bisher hang leistet Deutschland mit der ALTHEA-Mission ei-
größte EU-geführte Operation im Militärbereich. In die- nen wichtigen Beitrag.
sem Rahmen nehmen unsere Soldaten eine ganze Reihe
wichtiger Aufgaben in Verantwortung wahr. Sie bündeln Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich unseren Sol-
vor allem die Anstrengungen für die zivil-militärische datinnen und Soldaten für ihren Einsatz in diesem auch
Zusammenarbeit und führen dabei nicht zuletzt Experten heute noch nicht einfachen Umfeld. Sie leisten eine her-
der unterschiedlichsten Disziplinen zusammen. vorragende Arbeit.
Das funktioniert in Bosnien und Herzegowina weit- Ich danke Ihnen.
aus besser als andernorts. Gerade in dieser Woche, an
diesem Montag, hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hier im Bundestag einen Kongress zu diesem Thema
(B) veranstaltet, um die zivil-militärische Zusammenarbeit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
auch konzeptionell voranzubringen. Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Oje, eine gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Katastrophe!) Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil ALTHEA, wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-
gemessen an der Aufgabenstellung, erfolgreich ist, weil rung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
sich die militärische Sicherheitslage stabilisiert hat, des- Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta“ be-
halb konnte die Friedenstruppe in der Vergangenheit kannt: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt
schrittweise reduziert werden. Das ist auch und gerade 487, mit Nein 68, Enthaltungen 12. Die Beschlussemp-
ein Erfolg der Europäischen Union. fehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ernst-Reinhard Beck Dr. Helge Braun Dr. Hans-Peter Friedrich
Abgegebene Stimmen: 567; (Reutlingen) Heike Brehmer (Hof)
davon Manfred Behrens (Börde) Ralph Brinkhaus Michael Frieser
Dr. Christoph Bergner Gitta Connemann Dr. Michael Fuchs
ja: 487
Peter Beyer Leo Dautzenberg Hans-Joachim Fuchtel
nein: 68 Steffen Bilger Alexander Funk
Alexander Dobrindt
enthalten: 12 Clemens Binninger Thomas Dörflinger Ingo Gädechens
Peter Bleser Dr. Thomas Gebhart
Marie-Luise Dött
Dr. Maria Böhmer Norbert Geis
Ja Wolfgang Börnsen
Dr. Thomas Feist
Alois Gerig
(Bönstrup) Enak Ferlemann Eberhard Gienger
CDU/CSU Ingrid Fischbach
Wolfgang Bosbach Michael Glos
Peter Altmaier Norbert Brackmann Hartwig Fischer (Göttingen) Josef Göppel
Peter Aumer Klaus Brähmig Dirk Fischer (Hamburg) Peter Götz
Dorothee Bär Michael Brand Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Wolfgang Götzer
Thomas Bareiß Dr. Reinhard Brandl Land) Ute Granold
Norbert Barthle Helmut Brandt Dr. Maria Flachsbarth Reinhard Grindel
Günter Baumann Dr. Ralf Brauksiepe Klaus-Peter Flosbach Hermann Gröhe
8630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Michael Grosse-Brömer Ingbert Liebing Johannes Singhammer Dagmar Freitag (C)
Markus Grübel Matthias Lietz Jens Spahn Peter Friedrich
Manfred Grund Dr. Carsten Linnemann Carola Stauche Sigmar Gabriel
Monika Grütters Patricia Lips Dr. Frank Steffel Michael Gerdes
Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Jan-Marco Luczak Erika Steinbach Martin Gerster
zu Guttenberg Dr. Michael Luther Christian Freiherr von Stetten Iris Gleicke
Olav Gutting Karin Maag Dieter Stier Ulrike Gottschalck
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Angelika Graf (Rosenheim)
Holger Haibach Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Kerstin Griese
Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Michael Groschek
Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Karin Strenz Michael Groß
Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Thomas Strobl (Heilbronn) Wolfgang Gunkel
Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Lena Strothmann Hans-Joachim Hacker
Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Bettina Hagedorn
Frank Heinrich Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Klaus Hagemann
Rudolf Henke Dietrich Monstadt Antje Tillmann Michael Hartmann
Michael Hennrich Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl (Wackernheim)
Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz Hubertus Heil (Peine)
Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Rolf Hempelmann
Ernst Hinsken Nadine Schön (St. Wendel) Stefanie Vogelsang Dr. Barbara Hendricks
Peter Hintze Dr. Philipp Murmann Andrea Astrid Voßhoff Gustav Herzog
Christian Hirte Bernd Neumann (Bremen) Marco Wanderwitz Gabriele Hiller-Ohm
Robert Hochbaum Michaela Noll Kai Wegner Frank Hofmann (Volkach)
Karl Holmeier Dr. Georg Nüßlein Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Eva Högl
Franz-Josef Holzenkamp Franz Obermeier Peter Weiß (Emmendingen) Christel Humme
Anette Hübinger Eduard Oswald Sabine Weiss (Wesel I) Josip Juratovic
Thomas Jarzombek Henning Otte Ingo Wellenreuther Oliver Kaczmarek
Dieter Jasper Dr. Michael Paul Karl-Georg Wellmann Johannes Kahrs
Dr. Franz Josef Jung Rita Pawelski Peter Wichtel Dr. h. c. Susanne Kastner
Andreas Jung (Konstanz) Ulrich Petzold Annette Widmann-Mauz Ulrich Kelber
Dr. Egon Jüttner Dr. Joachim Pfeiffer Klaus-Peter Willsch Lars Klingbeil
Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Elisabeth Winkelmeier- Hans-Ulrich Klose
Hans-Werner Kammer Beatrix Philipp Becker Dr. Bärbel Kofler
Steffen Kampeter Ronald Pofalla Dagmar Wöhrl Daniela Kolbe (Leipzig)
Alois Karl Christoph Poland Dr. Matthias Zimmer Fritz Rudolf Körper
(B) Bernhard Kaster Ruprecht Polenz Wolfgang Zöller Anette Kramme (D)
Siegfried Kauder (Villingen- Daniela Raab Willi Zylajew Nicolette Kressl
Schwenningen) Thomas Rachel Angelika Krüger-Leißner
Volker Kauder Eckhardt Rehberg SPD Ute Kumpf
Dr. Stefan Kaufmann Katherina Reiche (Potsdam) Ingrid Arndt-Brauer Christine Lambrecht
Roderich Kiesewetter Lothar Riebsamen Rainer Arnold Christian Lange (Backnang)
Eckart von Klaeden Josef Rief Heinz-Joachim Barchmann Dr. Karl Lauterbach
Ewa Klamt Klaus Riegert Dr. Hans-Peter Bartels Steffen-Claudio Lemme
Volkmar Klein Dr. Heinz Riesenhuber Klaus Barthel Burkhard Lischka
Jürgen Klimke Johannes Röring Sören Bartol Gabriele Lösekrug-Möller
Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Bärbel Bas Kirsten Lühmann
Axel Knoerig Erwin Rüddel Dirk Becker Caren Marks
Jens Koeppen Albert Rupprecht (Weiden) Uwe Beckmeyer Katja Mast
Dr. Kristina Schröder Anita Schäfer (Saalstadt) Lothar Binding (Heidelberg) Hilde Mattheis
Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble Gerd Bollmann Petra Merkel (Berlin)
Dr. Rolf Koschorrek Dr. Annette Schavan Klaus Brandner Ullrich Meßmer
Hartmut Koschyk Dr. Andreas Scheuer Willi Brase Dr. Matthias Miersch
Thomas Kossendey Karl Schiewerling Bernhard Brinkmann Franz Müntefering
Michael Kretschmer Norbert Schindler (Hildesheim) Dr. Rolf Mützenich
Gunther Krichbaum Tankred Schipanski Edelgard Bulmahn Manfred Nink
Dr. Günter Krings Georg Schirmbeck Ulla Burchardt Thomas Oppermann
Rüdiger Kruse Christian Schmidt (Fürth) Martin Burkert Holger Ortel
Bettina Kudla Patrick Schnieder Petra Crone Heinz Paula
Dr. Hermann Kues Dr. Ole Schröder Dr. Peter Danckert Johannes Pflug
Günter Lach Bernhard Schulte-Drüggelte Martin Dörmann Joachim Poß
Dr. Karl A. Lamers Uwe Schummer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Wilhelm Priesmeier
(Heidelberg) Armin Schuster (Weil am Garrelt Duin Florian Pronold
Andreas G. Lämmel Rhein) Sebastian Edathy Dr. Sascha Raabe
Dr. Norbert Lammert Detlef Seif Siegmund Ehrmann Mechthild Rawert
Katharina Landgraf Johannes Selle Dr. h. c. Gernot Erler Gerold Reichenbach
Ulrich Lange Reinhold Sendker Petra Ernstberger Dr. Carola Reimann
Dr. Max Lehmer Dr. Patrick Sensburg Karin Evers-Meyer Sönke Rix
Paul Lehrieder Bernd Siebert Gabriele Fograscher René Röspel
Dr. Ursula von der Leyen Thomas Silberhorn Dr. Edgar Franke Dr. Ernst Dieter Rossmann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8631
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Karin Roth (Esslingen) Heinz-Peter Haustein Viola von Cramon-Taubadel Dr. Barbara Höll (C)
Michael Roth (Heringen) Manuel Höferlin Ekin Deligöz Andrej Hunko
Marlene Rupprecht Elke Hoff Hans-Josef Fell Ulla Jelpke
(Tuchenbach) Birgit Homburger Dr. Thomas Gambke Dr. Lukrezia Jochimsen
Anton Schaaf Dr. Werner Hoyer Kai Gehring Katja Kipping
Axel Schäfer (Bochum) Heiner Kamp Britta Haßelmann Harald Koch
Bernd Scheelen Michael Kauch Priska Hinz (Herborn) Caren Lay
Marianne Schieder Dr. Lutz Knopek Ulrike Höfken Ralph Lenkert
(Schwandorf) Pascal Kober Bärbel Höhn Michael Leutert
Werner Schieder (Weiden) Dr. Heinrich L. Kolb Ingrid Hönlinger Stefan Liebich
Ulla Schmidt (Aachen) Gudrun Kopp Thilo Hoppe Dr. Gesine Lötzsch
Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. h. c. Jürgen Koppelin Katja Keul Thomas Lutze
Carsten Schneider (Erfurt) Sebastian Körber Tom Koenigs Ulrich Maurer
Swen Schulz (Spandau) Holger Krestel Oliver Krischer Dorothee Menzner
Ewald Schurer Patrick Kurth (Kyffhäuser) Renate Künast Cornelia Möhring
Dr. Martin Schwanholz Heinz Lanfermann Markus Kurth Niema Movassat
Rolf Schwanitz Sibylle Laurischk Undine Kurth (Quedlinburg) Wolfgang Nešković
Stefan Schwartze Harald Leibrecht Jerzy Montag Thomas Nord
Rita Schwarzelühr-Sutter Lars Lindemann Kerstin Müller (Köln) Richard Pitterle
Dr. Carsten Sieling Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Konstantin von Notz Yvonne Ploetz
Sonja Steffen Michael Link (Heilbronn) Omid Nouripour Ingrid Remmers
Peer Steinbrück Dr. Erwin Lotter Friedrich Ostendorff Paul Schäfer (Köln)
Dr. Frank-Walter Steinmeier Oliver Luksic Brigitte Pothmer Michael Schlecht
Christoph Strässer Horst Meierhofer Tabea Rößner Dr. Ilja Seifert
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Patrick Meinhardt Claudia Roth (Augsburg) Kathrin Senger-Schäfer
Franz Thönnes Gabriele Molitor Krista Sager Dr. Petra Sitte
Wolfgang Tiefensee Jan Mücke Manuel Sarrazin Sabine Stüber
Rüdiger Veit Petra Müller (Aachen) Elisabeth Scharfenberg Alexander Süßmair
Ute Vogt Burkhardt Müller-Sönksen Christine Scheel Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Marlies Volkmer Dr. Martin Neumann Dr. Gerhard Schick Dr. Axel Troost
Andrea Wicklein (Lausitz) Dr. Frithjof Schmidt Alexander Ulrich
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dirk Niebel Markus Tressel Kathrin Vogler
Dr. Dieter Wiefelspütz Cornelia Pieper Jürgen Trittin Johanna Voß
Uta Zapf Gisela Piltz Daniela Wagner Harald Weinberg
Dagmar Ziegler Dr. Birgit Reinemund Wolfgang Wieland Katrin Werner
(B) Manfred Zöllmer Dr. Peter Röhlinger Dr. Valerie Wilms Jörn Wunderlich (D)
Brigitte Zypries Dr. Stefan Ruppert Josef Philip Winkler Sabine Zimmermann
Björn Sänger
FDP Frank Schäffler BÜNDNIS 90/
Christoph Schnurr Nein
Jens Ackermann DIE GRÜNEN
Jimmy Schulz
Christian Ahrendt SPD Bettina Herlitzius
Marina Schuster
Christine Aschenberg- Winfried Hermann
Dr. Erik Schweickert Waltraud Wolff
Dugnus Sven-Christian Kindler
Werner Simmling (Wolmirstedt)
Daniel Bahr (Münster) Monika Lazar
Judith Skudelny
Florian Bernschneider Lisa Paus
Dr. Hermann Otto Solms DIE LINKE
Sebastian Blumenthal Dr. Wolfgang Strengmann-
Joachim Spatz
Claudia Bögel Jan van Aken Kuhn
Dr. Max Stadler
Nicole Bracht-Bendt Agnes Alpers Hans-Christian Ströbele
Torsten Staffeldt
Klaus Breil Herbert Behrens
Dr. Rainer Stinner
Rainer Brüderle Karin Binder
Stephan Thomae Enthalten
Angelika Brunkhorst Matthias W. Birkwald
Florian Toncar
Ernst Burgbacher Heidrun Bluhm
Serkan Tören SPD
Marco Buschmann Steffen Bockhahn
Johannes Vogel
Sylvia Canel Christine Buchholz Petra Hinz (Essen)
(Lüdenscheid)
Helga Daub Dr. Martina Bunge
Dr. Daniel Volk
Reiner Deutschmann Roland Claus BÜNDNIS 90/
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Bijan Djir-Sarai Sevim Dağdelen DIE GRÜNEN
Dr. Claudia Winterstein
Patrick Döring Dr. Diether Dehm
Dr. Volker Wissing Katja Dörner
Mechthild Dyckmans Heidrun Dittrich
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Uwe Kekeritz
Rainer Erdel Werner Dreibus
Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Memet Kilic
BÜNDNIS 90/
Ulrike Flach Klaus Ernst Maria Klein-Schmeink
DIE GRÜNEN
Otto Fricke Nicole Gohlke Ute Koczy
Dr. Edmund Peter Geisen Kerstin Andreae Diana Golze Agnes Krumwiede
Dr. Wolfgang Gerhardt Marieluise Beck (Bremen) Annette Groth Agnes Malczak
Hans-Michael Goldmann Volker Beck (Köln) Dr. Gregor Gysi Beate Müller-Gemmeke
Heinz Golombeck Cornelia Behm Heike Hänsel Dr. Hermann Ott
Joachim Günther (Plauen) Birgitt Bender Dr. Rosemarie Hein Dorothea Steiner
Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Bonde Inge Höger Dr. Harald Terpe
8632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Nun setzen wir die Debatte fort. Das Wort hat die Das ist der Pfad, auf den die ALTHEA-Mission Bos- (C)
Kollegin Inge Höger für die Fraktion Die Linke. nien-Herzegowina führen will. Die Linke spricht sich
vehement gegen diese gefährliche Entwicklung aus.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Inge Höger (DIE LINKE):
Durch die Präsenz der EU-Truppen wird das Land mi-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit litärisch, politisch und auch wirtschaftlich kontrolliert.
15 Jahren ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina Der Balkan ist ein Übungsfeld für die neue EU-Militär-
präsent. Worum geht es bei diesem Einsatz im armen und Interessenpolitik. Es ist nicht zu übersehen, dass
Vorhof der Europäischen Union? Geht es um Sicherheit hierbei alte Traditionen kolonialer Herrschaft wieder
und Frieden? Geht es um den Aufbau eines lebensfähi- aufleben,
gen, demokratischen Rechtsstaates?
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
Die EU-Mission ALTHEA ist ein Musterbeispiel da-
für, dass Sicherheit und Frieden mit Militär nicht zu er- und die Bundeswehr ist aktiv daran beteiligt.
reichen sind.
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ihre Rede ist
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens nicht zu ertragen! – Volker Kauder [CDU/
[CDU/CSU]: In welchem Film waren Sie CSU]: Das tut körperlich weh, was Sie hier ab-
denn?) liefern! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
Die beiden Landesteile Bosnien und Herzegowina sind
Die geschichtliche Kontinuität wird in Bosnien-Her-
weiterhin tief gespalten. Die Korruption blüht. 30 Pro-
zegowina besonders deutlich mit Blick auf den größten
zent der Menschen leben in extremer Armut. Die Ar-
Truppensteller, auf Österreich. Dieses Land schickt wie
beitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Insbesondere junge
Deutschland nicht nur Soldatinnen und Soldaten, son-
Menschen sind von Erwerbslosigkeit betroffen. Das Ein-
dern auch Investoren. Seit Jahren konkurriert die Tele-
zige, was ALTHEA in Bosnien-Herzegowina teilweise
kom Austria mit der serbischen Telekom um Marktan-
gelingt, ist die Privatisierung öffentlichen Eigentums.
teile in Bosnien. Nicht nur die Menschen in diesem Land
Aber das Verkaufen öffentlichen Eigentums ist kein Re-
fühlen sich dabei an die Zeiten des Habsburger Reichs
zept zur Bekämpfung von Armut, weder in Bosnien
erinnert.
noch anderswo.
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wer hat denn mit
[CDU/CSU]: Jetzt kommen Ihre Rezepte, Frau Milosevic verhandelt? – Zuruf von der FDP:
(B) Keine Ahnung von Geschichte!) (D)
Höger! Jetzt wollen wir etwas hören!)
Die neoliberale europäische Agenda Einerseits wird Bosnien-Herzegowina durch die EU
gezwungen, bei Gesundheit und Sozialem massiv zu
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!) sparen. Andererseits wird das Land zu hohen Militäraus-
gaben ermutigt. Um eng mit der NATO kooperieren und
löst die Probleme in Bosnien-Herzegowina nicht, sie
irgendwann NATO-Mitglied werden zu können, gibt das
verschärft sie noch.
Land viel zu viel Geld für Militär aus. 4,5 Prozent des
(Beifall bei der LINKEN) Bruttoinlandsprodukts fließen in Ausbildung und Aus-
rüstung des Militärs. Das ist im Verhältnis dreimal so
Menschen in wirtschaftlicher Not sind häufig anfälliger viel wie in Deutschland. Mit diesem Geld könnten Ar-
für nationalistische Feindbilder und Hetze gegen ver- beitsplätze geschaffen, könnte Armut überwunden wer-
meintlich andere. Das gilt für die Bevölkerung in Bos- den.
nien-Herzegowina ebenso wie für die Menschen hier bei
uns in Deutschland. (Beifall bei der LINKEN)
Die Linke distanziert sich von jeder Form des Rassis- Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina nicht
mus und Nationalismus. Teil der Lösung; sie ist Teil des Problems.
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ingo
[CDU/CSU]: Aber nicht von Hetze! – Peter Gädechens [CDU/CSU]: Ungeheuerlich ist
Beyer [CDU/CSU]: Die Gutmenschen!) das! Jetzt hören Sie aber auf!)
Solange die Armut in Bosnien-Herzegowina nicht nach- Die 7,7 Millionen Euro, die dieser Einsatz kostet, wären
haltig bekämpft wird, bleibt eine Abkehr vom Nationa- in sozialen bosnischen Projekten viel besser aufgehoben.
lismus eine Illusion. In vielen osteuropäischen EU-Län-
dern bringt die gepriesene Freiheit des Kapitals mehr (Beifall bei der LINKEN)
soziale Spaltung und mehr Armut hervor, und sie führt
leider auch zur Stärkung nationalistischer, rechtsextre- Die Linke lehnt dieses Mandat ab.
mistischer Parteien.
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das war frü- [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie den Abgang aber
her viel besser!) verdient!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8633

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lich noch davon ausgegangen, dass dann, wenn die Waf- (C)
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die fen schweigen, gemeinsam an einem Staat gebastelt
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wird. Jetzt stellt sich die Situation aber ganz anderes dar:
Die eine Entität ist zu einer serbisch-homogenen Entität
(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Plötzlich geworden, was so nie intendiert war; denn es ist immer
wieder ganz große Koalition!) von der Rückkehr der Flüchtlinge ausgegangen worden.
Diese Annahmen sind aber nicht eingetreten. Nun gibt es
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE eine homogene Republik Srpska und damit ein geteiltes
GRÜNEN): Land, in dem ein Präsident – bisher Ministerpräsident –
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über ein Entitätenveto immer und immer wieder destruk-
Manchmal möchte man sagen: Denn sie wissen nicht, tiv tätig werden kann und den Schlüssel in der Hand hat,
was sie tun – oder sprechen. zu verhindern, dass es zu einem funktionsfähigen Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, samtstaat kommt. Dafür trägt die westliche Staatenge-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – meinschaft, die mit Herrn Milosevic und mit Herrn
Inge Höger [DIE LINKE]: Hauptsache, Sie Karadzic die Bosnier zu dem Vertrag von Dayton ge-
wissen, was Sie tun!) zwungen hat, die Verantwortung.

Ich habe einen Reisevorschlag für Sie, Frau Höger: Fah- Wir können uns jetzt nicht vom Acker schleichen,
ren Sie doch einfach einmal nach Bosnien. Sprechen Sie Herr Stinner, nur weil Sie in Ihren Wahlkreisen sagen
mit den Menschen, und fragen Sie sie einmal, wie ihr wollen: Das Mandat ist abgeschlossen, auf dem Balkan
Blick auf diesen Einsatz ist. ist alles in Ordnung.

(Inge Höger [DIE LINKE]: Wir sprechen auch (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nein, das stimmt
mit den Menschen!) nicht! – Zuruf von der LINKEN: Wie lange
wollen Sie denn noch da bleiben?)
Bevor man den Vorgaben der CDU-Parteizentrale
folgt – jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Beyer – sollte Solange diese Instabilität besteht, muss in Bosnien eine
man einmal in der Geschichte zurückschauen: Feuerwehr vorgehalten werden. Dies gilt, bis es dort
endlich – hoffentlich unter tätiger Mitwirkung des deut-
(Peter Beyer [CDU/CSU]: Das kann ich Ihnen schen Außenministers und der europäischen Staaten; wo-
alles zeigen! Hier!) bei ich mir nur wünschen kann, dass diese vereint agieren
Es war in den Jahren 1990 bis 1994 die kleine Gruppe und nicht getrennt, wie es bisher der Fall war – eine Ver-
der Bürgerrechtler, die hier als Ost-Grüne die Grünen- fassung gibt, die diesen Staat lebensfähig macht und den
(B)
Fraktion vertreten haben – wir waren ja auf die Reser- derzeitigen fragilen Zustand beendet. Wir alle wissen (D)
vebank getreten – und die ganz früh und durchaus nicht doch, dass es nur einen Funken braucht, damit es wieder
unbedingt zum Gefallen von uns allen in der grünen Par- zu kleineren Konflikten und Krisen kommt, von denen
tei Position für Bosnien bezogen haben. Damals wurde wir nicht wissen, welche Dynamik sie entwickeln könn-
in den Debatten die Situation auf dem Balkan verdrängt ten.
– das geht an Sie, Herr Stinner; denn Sie waren damals Wir müssen also Verantwortung übernehmen, und,
mit der CDU an der Regierung – und immer und immer wenn man so will, die Polizei muss vor Ort bleiben, bis
wieder ein friedenserhaltendes Mandat beschlossen. In dieses Land eine Verfassung hat, die das friedliche Le-
Bosnien gab es aber keinen Frieden mehr zu erhalten, ben im Staat für alle gemeinsam möglich macht. Das ist
sondern dort tobte der offene Krieg, und 100 000 Men- unser Vorschlag.
schen fielen der Verdrängung und dem Selbstbetrug, den
diese Regierung mitgemacht hat, zum Opfer. Hier kom- Schönen Dank.
men Sie nicht so einfach davon. Sie sollten sich hüten, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dieser Frage auf dem hohen Ross zu sitzen. Es steht Ih- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
nen einfach nicht zu. SPD und der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
sie recht hat, hat sie recht!) Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Weil es innenpolitisch so stark drängt, dass wir end- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lich einmal vermelden können: „Jetzt ist ein Mandat neten der FDP)
vollständig abgeschlossen“, Herr Stinner, sollten wir
eine Situation, die durchaus prekär und fragil ist, jedoch Florian Hahn (CDU/CSU):
nicht schönreden.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-
Der bosnische Präsident Izetbegovic hat dem Friedens- gen! Wenn wir Politiker über die Verlängerung eines
implementierungsrat vor zwei Tagen sehr deutlich ge- Mandats diskutieren, was den weiteren Einsatz deut-
sagt, in welche Situation sein Land mit Dayton versetzt scher Soldatinnen und Soldaten im Ausland zur Folge
wurde: Bei der Verankerung des Entitätenvetos in der als hat, denken die meisten an den Einsatz in Afghanistan.
Übergangsverfassung gedachten Verfassung wurde näm- Leider erleben unsere Streitkräfte in den anderen Ein-
8634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Florian Hahn
(A) satzgebieten nicht dieselbe Aufmerksamkeit. Aber auch wichtiger, verantwortungsvoller und vor allem zuverläs- (C)
sie erledigen ihre Aufgabe hervorragend, oft unter siger Akteur, dem alle Seiten Vertrauen entgegenbrin-
schwierigen Rahmenbedingungen. Das bedarf ausdrück- gen. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir
lich unserer Anerkennung. Ich möchte deshalb die Gele- dieses Mandat verlängern.
genheit nutzen, allen Soldatinnen und Soldaten, aber
Es ist in der letzten Woche an dieser Stelle, unter an-
auch den Polizeikräften, den zivilen Helfern und den Di-
derem vom Kollegen Mißfelder, schon vorgetragen wor-
plomaten im Einsatz für ihren Mut und für ihr Engage-
den: Die Politik in Bosnien und Herzegowina ist vielfach
ment zu danken und ihnen weiterhin Gottes Segen zu
blockiert. Aus unserer Sicht gibt es zu viel Stagnation
wünschen.
und zu wenig Fortschritt. Die Wahlen in Bosnien und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Herzegowina sind nun fast zwei Monate her. Die Regie-
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- rungsbildung ist in vollem Gange. Wichtigstes Ziel muss
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Sevim Dağdelen dabei sein, dass sich die Akteure auf einen breiten Kon-
[DIE LINKE]: Das Einzige, was Ihnen ein- sens für den europäischen Weg einigen.
fällt!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zu Ihnen, Frau Höger: Die Qualität Ihres Beitrages ist
selbst mit der vorweihnachtlich gebotenen Milde kaum Die neue Regierung muss dann schleunigst die längst
zu ertragen. überfälligen Verfassungsreformen angehen. Hier bitte
ich vehement darum, Partikularinteressen hinten anzu-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellen und die Reformen endlich eigenverantwortlich zu
NEN]: Ja, es ist schon Advent! – Jürgen Trittin einem guten Ende zu bringen. Diesen Beitrag erwarten
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist bald wir vonseiten Bosniens und Herzegowinas ausdrücklich.
Nikolaus! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Welche
Qualität? – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: ALTHEA hat dafür gesorgt, dass Bosnien und Herze-
Raten Sie einmal, wie es uns geht, wenn Sie gowina heutzutage militärisch so gut wie befriedet ist.
reden!) Die Lage, die ich dort bei meinem ersten Besuch 2003
vorfand, hat sich seither drastisch verbessert. Doch der
Schon letztes Jahr in der Debatte über diese Mandatsver- Prozess muss weitergehen und langfristig abgesichert
längerung wurden Sie, die Linken, aufgefordert, sich mit werden. Deshalb halte ich die beabsichtigte schrittweise
der Geschichte dieser Region, beispielsweise mit dem Umwandlung ALTHEAS von einer exekutiven in eine
Überfall auf die Stadt Vukovar und dem Genozid in Sre- Ausbildungsmission unter entsprechendem Rückzug aus
brenica zu beschäftigen. Nach Ihrer Einlassung heute, der Fläche und vorsichtiger Reduzierung der Mannstärke
die uns einmal mehr fassungslos machen muss, wird in den nächsten Monaten grundsätzlich für richtig. Bos- (D)
(B)
deutlich, dass Sie sich weigern, der Geschichte ins Ge- nien und Herzegowina braucht für eine chancenreiche
sicht zu sehen. Wenn ich noch den Blick auf den Tages- Zukunft dringend weitere Erfolge. Mit einer Mandats-
spiegel von gestern werfen darf: Gegenüber dieser Zei- verlängerung werden wir auch künftig dazu beitragen,
tung hat sich Ihre Partei nicht einmal davor gescheut, dass das Land diese Erfolge realisieren kann.
deutsche Soldaten als Mörder zu bezeichnen. Auch das
finde ich – ich drücke es milde aus – reichlich unange- Kolleginnen und Kollegen, Bosnien-Herzegowina ist
bracht. auch ein Beispiel dafür, wie sich die EU seit Mitte der
90er-Jahre verändert hat. Die EU, damals noch die EG,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stand dem Ausbruch des Bosnien-Krieges noch weitge-
hend hilflos gegenüber. Ihr fehlten die Foren zur Abstim-
Der westliche Balkan und insbesondere Bosnien und
mung; ihr fehlten auch die entsprechenden außen- und si-
Herzegowina gehören zu den wichtigsten Betätigungs-
cherheitspolitischen Instrumente. Heute ist ALTHEA als
feldern der deutschen Diplomatie. Die Region grenzt in
einzige Operation gemäß Berlin-Plus-Vereinbarung, un-
allen Himmelsrichtungen an die EU und hat die EU-Per-
ter EU-Führung und mit Rückgriff auf NATO-Fähigkei-
spektive zudem von uns und unseren Partnern fest zuge-
ten aktiv. Sie hat damit auch Vorbildcharakter. Deshalb
sagt bekommen. Seit April dieses Jahres nimmt Bosnien
sollte Deutschland durch seine Beteiligung an der Ope-
und Herzegowina am Membership Action Plan der
ration, wie von der Regierung vorgeschlagen, weiterhin
NATO teil. Deutschland hat hohes Interesse daran, dass
konkret mitwirken.
die Region mit bi- und multilateraler Hilfe langfristig
und nachhaltig stabilisiert wird, damit sich Zukunftsper- In diesem Sinne bitte ich Sie noch einmal um die Ver-
spektiven, Wohlstand und Demokratie weiter entwickeln längerung des Mandats und bedanke mich für Ihre Auf-
können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ethnische merksamkeit.
Auseinandersetzungen irgendwann hoffentlich für im-
mer der Vergangenheit angehören können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Stabilisierung dieser Region liegt aber auch in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
unserem ureigenen deutschen Interesse. Deshalb müssen
Ich schließe die Aussprache.
wir den Staaten des Westbalkans eine Beitrittsperspek-
tive zur EU geben. Langfristiger Frieden, Stabilität und Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
Wohlstand sorgen nicht zuletzt dafür, dass es für den in- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
ternationalen Terrorismus keinen Nährboden in Europa dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
geben kann. Deutschland war und ist auf dem Balkan ein Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8635
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) EU-geführten Operation ALTHEA. Der Ausschuss emp- Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- (C)
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- mentlich abstimmen.
sache 17/4049, den Antrag der Bundesregierung auf
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Drucksache 17/3692 anzunehmen. Über diese Be-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
schlussempfehlung stimmen wir nun namentlich ab.
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so ver-
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die fahren.
vorgesehenen Plätze an den Urnen einzunehmen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Kollege Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort.
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die
ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben? – Das ist nicht Joachim Spatz (FDP):
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergeb- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
nis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege- legen! Wir haben bei den letzten beiden Mandatsdebat-
ben.1) ten eine breite Mehrheit der – ich sage es einmal so –
vernünftigen Kräfte dieses Hauses erleben dürfen. Lei-
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- der zeichnet sich bei diesem Mandat etwas ab,
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4068. Wer stimmt für diesen Ent- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schließungsantrag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält NEN]: Weil es unvernünftig ist!)
sich? – Für den Entschließungsantrag haben gestimmt was es eigentlich nicht geben sollte, nämlich, dass, an
die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/ Formalien aufgehängt, SPD und Grüne angekündigt ha-
Die Grünen. Dagegen haben gestimmt die Koalitions- ben, diesem Mandat nicht zuzustimmen.
fraktionen, die SPD-Fraktion und die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen gab es keine. Da rentiert sich schon ein Blick auf die rechtliche
Grundlage. Es wurde ja argumentiert, dass mit immer
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: weiterer zeitlicher Entfernung der terroristischen An-
griffe auf New York und Washington im Jahr 2001 die
– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Legitimation immer schwächer würde. Dazu kann man
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- nur sagen: Es mag vielleicht eine Argumentationslinie
schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung geben, anhand derer man rechtlich in diese Richtung ar-
(B) Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut- gumentiert, aber wie bei vielen juristischen Fragen ist (D)
scher Streitkräfte bei der Unterstützung der doch auch hier zu klären, wer letztendlich entscheidet,
gemeinsamen Reaktion auf terroristische An- was gilt. Dabei muss man schon zur Kenntnis nehmen,
griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti- dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch in
kels 51 der Satzung der Vereinten Nationen diesem Jahr, am 13. Oktober, seine Meinung geäußert
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags und festgestellt hat, dass die rechtliche Grundlage wei-
sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 terhin gilt. Ich denke, das ist das entscheidende Gre-
(2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Natio- mium bei diesen Fragen.
nen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– Drucksachen 17/3690, 17/4050 – Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass
sich auch die NATO auf ihrer jüngsten Konferenz in Lis-
Berichterstattung: sabon ausweislich des Schlussdokumentes unwiderspro-
Abgeordnete Philipp Mißfelder chen zu diesem Einsatz bekannt hat. Das heißt, zu argu-
Dr. Rolf Mützenich mentieren, es gebe keine rechtlichen Grundlagen mehr,
Dr. Rainer Stinner ist nicht einschlägig.
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt Nichtsdestoweniger sagen wir Ihnen zu, dass wir ge-
nauso wie bei OEF daran arbeiten werden, dass dieses
– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Mandat eine andere Struktur erhält, und zwar aus politi-
gemäß § 96 der Geschäftsordnung schen Gründen, weil zwar nicht rechtlich, aber natürlich
politisch zur Kenntnis zu nehmen ist, dass 9/11 schon ei-
– Drucksache 17/4057 –
nige Zeit her ist. Deshalb werden wir versuchen, dieses
Berichterstattung: Mandat in ein Standing Defense Program zu überführen.
Abgeordnete Norbert Barthle Die Standing NATO Maritime Groups, die im Mittel-
Klaus Brandner meer operieren, können dafür die Basis sein. Genauso
Dr. h. c. Jürgen Koppelin wie wir das bei OEF eingehalten haben, werden wir das
Michael Leutert – davon können Sie ausgehen – auch hier einhalten.
Sven-Christian Kindler Kollege Groschek, ich finde es schon ein bisschen
mutig, der Regierung vorzuwerfen: Na ja, beim letzten
1) Ergebnis Seite 8636 D Mal habt ihr noch ein Jahr für OEF beantragt und es
8636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Joachim Spatz
(A) schon nach einem halben Jahr auslaufen lassen. – Meine dern der jetzigen Situation angemessen. Wir wollen (C)
Damen und Herren, ich finde es bemerkenswert und lo- selbstverständlich keine Ausweitung, aber die angemes-
benswert, dass man nicht das ganze Jahr gebraucht hat, sene und notwendige Obergrenze wollen wir beibehal-
um die entsprechenden Maßnahmen umzusetzen, son- ten.
dern es schneller geschafft hat.
Zu den Aufgaben: Wenn Sie sich genau ansehen, wel-
Eines ist doch auch klar: Wir machen das nicht im Al- che Aufgaben die Bundeswehr innerhalb des Mandats
leingang. Als verlässliche Partner innerhalb der NATO wahrnimmt, dann sehen Sie, dass diese nicht, wie Sie
sind wir natürlich gehalten, das in großer Übereinstim- apostrophiert haben, einfach nur aus OEF abgeschrieben
mung mit den NATO-Partnern zu machen. Wenn in die- wurden. Vielmehr hat die Bundeswehr dort die Aufgabe,
sem Jahr beim Summit in Lissabon nicht andere wesent- angemessen zu überwachen, Präsenz zu zeigen und ähn-
liche Dinge zu diskutieren gewesen wären, sodass die liche defensive Dinge zu tun, was eben nichts mit den
Rechtsform von Active Endeavour nicht in den absolu- Tätigkeiten im Zusammenhang von OEF zu tun hat.
ten Fokus der Diskussion gerückt werden konnte, wäre In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie die Argu-
uns das vielleicht schon dieses Mal gelungen. Trauen Sie mente, die Sie das letzte Mal vorgebracht haben, nicht
es der Regierung ruhig zu – wir tun das jedenfalls –, dass als Vorwand benutzen – diesem Vorwurf sollten Sie sich
die entsprechende Überführung in eine ständige Einsatz- nicht aussetzen –, um sich hier aus der Gemeinschaft de-
mission umgesetzt wird, aber eben in großer Überein- rer, die es eigentlich für vernünftig halten, zu verab-
stimmung mit den NATO-Partnern. schieden. Nutzen Sie diesen billigen Vorwand nicht, son-
(Beifall der Abg. Burkhardt Müller-Sönksen dern überlegen Sie noch einmal, ob Sie dem Mandat vor
[FDP] und Michael Groschek [SPD]) dem Hintergrund der Aussagen, die ich gemacht habe,
nicht doch zustimmen können.
So kann man das machen, und so sollten wir das ma-
chen. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sehr richtig! – Omid Nouripour [BÜND-
der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben wohl das
Mandat nicht richtig gelesen! Lesen bildet!)
Was den Inhalt der Mission angeht, ist im Übrigen
schon festzustellen: Auch das Mittelmeer als eine der Danke schön.
Hauptadern des internationalen Verkehrs – des Seever- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kehrs natürlich –, ist einer der Hauptangriffspunkte ter-
(B) roristischer Kräfte. Nur dadurch, dass dort noch nichts Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
passiert ist, wird natürlich in überhaupt keiner Weise be-
gründet, dass unsere deutsche Marine durch ihre Präsenz Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerin-
nicht auch einen entsprechenden Beitrag dazu geleistet nen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
hat. chen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregie-
Weil die Mandatsobergrenze von 700 Soldatinnen rung auf Drucksache 17/3692: „Fortsetzung der Beteili-
und Soldaten kritisiert worden ist, sei einmal darauf hin- gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-ge-
gewiesen, dass wir noch im Mai dieses Jahres 578 Sol- führten Operation ‚ALTHEA‘“, bekannt: abgegebene
daten für die entsprechenden Schiffseinheiten, die dort Stimmen 562. Mit Ja haben gestimmt 498, mit Nein 58.
eben präsent waren, gebraucht haben. Diese Obergrenze Es gab 6 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist da-
ist also keinesfalls Teil eines Vorratsbeschlusses, son- mit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Günter Baumann Dr. Ralf Brauksiepe Klaus-Peter Flosbach


Abgegebene Stimmen: 562; Ernst-Reinhard Beck Dr. Helge Braun Dr. Hans-Peter Friedrich
davon
(Reutlingen) Heike Brehmer (Hof)
Dr. Christoph Bergner Ralph Brinkhaus Michael Frieser
ja: 498 Dr. Michael Fuchs
Peter Beyer Gitta Connemann
nein: 58 Steffen Bilger Leo Dautzenberg Hans-Joachim Fuchtel
enthalten: 6 Clemens Binninger Alexander Dobrindt Alexander Funk
Peter Bleser Thomas Dörflinger Ingo Gädechens
Dr. Maria Böhmer Marie-Luise Dött Dr. Thomas Gebhart
Ja
Wolfgang Börnsen Dr. Thomas Feist Norbert Geis
CDU/CSU (Bönstrup) Enak Ferlemann Alois Gerig
Wolfgang Bosbach Ingrid Fischbach Eberhard Gienger
Peter Altmaier Norbert Brackmann Hartwig Fischer (Göttingen) Michael Glos
Peter Aumer Klaus Brähmig Dirk Fischer (Hamburg) Josef Göppel
Dorothee Bär Michael Brand Axel E. Fischer (Karlsruhe- Peter Götz
Thomas Bareiß Dr. Reinhard Brandl Land) Dr. Wolfgang Götzer
Norbert Barthle Helmut Brandt Dr. Maria Flachsbarth Ute Granold
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8637
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Reinhard Grindel Dr. Max Lehmer Reinhold Sendker Dr. h. c. Gernot Erler (C)
Hermann Gröhe Paul Lehrieder Dr. Patrick Sensburg Petra Ernstberger
Michael Grosse-Brömer Dr. Ursula von der Leyen Bernd Siebert Karin Evers-Meyer
Markus Grübel Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Gabriele Fograscher
Manfred Grund Matthias Lietz Johannes Singhammer Dr. Edgar Franke
Monika Grütters Dr. Carsten Linnemann Jens Spahn Dagmar Freitag
Dr. Karl-Theodor Freiherr Patricia Lips Carola Stauche Peter Friedrich
zu Guttenberg Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Frank Steffel Sigmar Gabriel
Olav Gutting Dr. Michael Luther Erika Steinbach Martin Gerster
Florian Hahn Karin Maag Christian Freiherr von Stetten Iris Gleicke
Holger Haibach Dr. Thomas de Maizière Dieter Stier Ulrike Gottschalck
Dr. Stephan Harbarth Hans-Georg von der Marwitz Gero Storjohann Angelika Graf (Rosenheim)
Jürgen Hardt Andreas Mattfeldt Stephan Stracke Kerstin Griese
Gerda Hasselfeldt Stephan Mayer (Altötting) Max Straubinger Michael Groschek
Dr. Matthias Heider Dr. Michael Meister Karin Strenz Michael Groß
Mechthild Heil Maria Michalk Thomas Strobl (Heilbronn) Wolfgang Gunkel
Frank Heinrich Dr. h. c. Hans Michelbach Lena Strothmann Hans-Joachim Hacker
Rudolf Henke Dr. Mathias Middelberg Michael Stübgen Bettina Hagedorn
Michael Hennrich Philipp Mißfelder Dr. Peter Tauber Klaus Hagemann
Jürgen Herrmann Dietrich Monstadt Antje Tillmann Michael Hartmann
Ansgar Heveling Marlene Mortler Dr. Hans-Peter Uhl (Wackernheim)
Ernst Hinsken Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz Hubertus Heil (Peine)
Peter Hintze Stefan Müller (Erlangen) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Rolf Hempelmann
Christian Hirte Nadine Schön (St. Wendel) Stefanie Vogelsang Dr. Barbara Hendricks
Robert Hochbaum Dr. Philipp Murmann Andrea Astrid Voßhoff Gustav Herzog
Karl Holmeier Bernd Neumann (Bremen) Marco Wanderwitz Gabriele Hiller-Ohm
Franz-Josef Holzenkamp Michaela Noll Kai Wegner Frank Hofmann (Volkach)
Anette Hübinger Dr. Georg Nüßlein Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Eva Högl
Thomas Jarzombek Franz Obermeier Peter Weiß (Emmendingen) Christel Humme
Dieter Jasper Eduard Oswald Sabine Weiss (Wesel I) Josip Juratovic
Dr. Franz Josef Jung Henning Otte Ingo Wellenreuther Oliver Kaczmarek
Andreas Jung (Konstanz) Dr. Michael Paul Karl-Georg Wellmann Johannes Kahrs
Dr. Egon Jüttner Rita Pawelski Peter Wichtel Dr. h. c. Susanne Kastner
Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold Annette Widmann-Mauz Ulrich Kelber
Hans-Werner Kammer Dr. Joachim Pfeiffer Klaus-Peter Willsch Lars Klingbeil
(B) Elisabeth Winkelmeier-
(D)
Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer Dr. Bärbel Kofler
Alois Karl Beatrix Philipp Becker Daniela Kolbe (Leipzig)
Bernhard Kaster Ronald Pofalla Dagmar Wöhrl Fritz Rudolf Körper
Siegfried Kauder (Villingen- Christoph Poland Dr. Matthias Zimmer Anette Kramme
Schwenningen) Ruprecht Polenz Wolfgang Zöller Nicolette Kressl
Volker Kauder Daniela Raab Willi Zylajew Angelika Krüger-Leißner
Dr. Stefan Kaufmann Thomas Rachel Christine Lambrecht
Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg SPD Christian Lange (Backnang)
Eckart von Klaeden Katherina Reiche (Potsdam) Ingrid Arndt-Brauer Dr. Karl Lauterbach
Ewa Klamt Lothar Riebsamen Rainer Arnold Steffen-Claudio Lemme
Volkmar Klein Josef Rief Heinz-Joachim Barchmann Burkhard Lischka
Jürgen Klimke Klaus Riegert Dr. Hans-Peter Bartels Gabriele Lösekrug-Möller
Julia Klöckner Dr. Heinz Riesenhuber Klaus Barthel Kirsten Lühmann
Axel Knoerig Johannes Röring Sören Bartol Caren Marks
Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Bärbel Bas Katja Mast
Dr. Kristina Schröder Erwin Rüddel Dirk Becker Hilde Mattheis
Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Uwe Beckmeyer Petra Merkel (Berlin)
Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Lothar Binding (Heidelberg) Ullrich Meßmer
Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Gerd Bollmann Dr. Matthias Miersch
Thomas Kossendey Dr. Andreas Scheuer Klaus Brandner Franz Müntefering
Michael Kretschmer Karl Schiewerling Willi Brase Dr. Rolf Mützenich
Gunther Krichbaum Norbert Schindler Bernhard Brinkmann Manfred Nink
Dr. Günter Krings Tankred Schipanski (Hildesheim) Thomas Oppermann
Rüdiger Kruse Georg Schirmbeck Edelgard Bulmahn Holger Ortel
Bettina Kudla Christian Schmidt (Fürth) Ulla Burchardt Heinz Paula
Dr. Hermann Kues Patrick Schnieder Martin Burkert Johannes Pflug
Günter Lach Dr. Ole Schröder Petra Crone Joachim Poß
Dr. Karl A. Lamers Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Peter Danckert Dr. Wilhelm Priesmeier
(Heidelberg) Uwe Schummer Martin Dörmann Florian Pronold
Andreas G. Lämmel Armin Schuster (Weil am Elvira Drobinski-Weiß Dr. Sascha Raabe
Dr. Norbert Lammert Rhein) Garrelt Duin Mechthild Rawert
Katharina Landgraf Detlef Seif Sebastian Edathy Gerold Reichenbach
Ulrich Lange Johannes Selle Siegmund Ehrmann Dr. Carola Reimann
8638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Sönke Rix Dr. Edmund Peter Geisen BÜNDNIS 90/ Steffen Bockhahn (C)
René Röspel Dr. Wolfgang Gerhardt DIE GRÜNEN Christine Buchholz
Dr. Ernst Dieter Rossmann Hans-Michael Goldmann Kerstin Andreae Dr. Martina Bunge
Karin Roth (Esslingen) Heinz Golombeck Marieluise Beck (Bremen) Roland Claus
Michael Roth (Heringen) Joachim Günther (Plauen) Volker Beck (Köln) Sevim Dagğelen
Marlene Rupprecht Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Dr. Diether Dehm
(Tuchenbach) Heinz-Peter Haustein Birgitt Bender Heidrun Dittrich
Anton Schaaf Manuel Höferlin Alexander Bonde Werner Dreibus
Axel Schäfer (Bochum) Elke Hoff Viola von Cramon-Taubadel Dr. Dagmar Enkelmann
Bernd Scheelen Birgit Homburger Ekin Deligöz Klaus Ernst
Marianne Schieder Dr. Werner Hoyer Katja Dörner Nicole Gohlke
(Schwandorf) Heiner Kamp Hans-Josef Fell Diana Golze
Werner Schieder (Weiden) Dr. Thomas Gambke Annette Groth
Michael Kauch
Ulla Schmidt (Aachen) Kai Gehring Dr. Gregor Gysi
Dr. Lutz Knopek
Silvia Schmidt (Eisleben) Britta Haßelmann Heike Hänsel
Pascal Kober
Carsten Schneider (Erfurt) Bettina Herlitzius Dr. Rosemarie Hein
Swen Schulz (Spandau) Dr. Heinrich L. Kolb
Priska Hinz (Herborn) Inge Höger
Ewald Schurer Gudrun Kopp
Ulrike Höfken Dr. Barbara Höll
Dr. Martin Schwanholz Dr. h. c. Jürgen Koppelin Andrej Hunko
Bärbel Höhn
Rolf Schwanitz Sebastian Körber Ulla Jelpke
Ingrid Hönlinger
Stefan Schwartze Holger Krestel Thilo Hoppe Dr. Lukrezia Jochimsen
Rita Schwarzelühr-Sutter Patrick Kurth (Kyffhäuser) Uwe Kekeritz Katja Kipping
Dr. Carsten Sieling Heinz Lanfermann Katja Keul Harald Koch
Sonja Steffen Sibylle Laurischk Memet Kilic Caren Lay
Peer Steinbrück Harald Leibrecht Sven-Christian Kindler Ralph Lenkert
Dr. Frank-Walter Steinmeier Lars Lindemann Maria Klein-Schmeink Michael Leutert
Christoph Strässer Dr. Martin Lindner (Berlin) Ute Koczy Stefan Liebich
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Michael Link (Heilbronn) Tom Koenigs Dr. Gesine Lötzsch
Franz Thönnes Dr. Erwin Lotter Oliver Krischer Thomas Lutze
Wolfgang Tiefensee Oliver Luksic Agnes Krumwiede Ulrich Maurer
Rüdiger Veit Horst Meierhofer Stephan Kühn Dorothee Menzner
Ute Vogt Patrick Meinhardt Renate Künast Cornelia Möhring
Dr. Marlies Volkmer Gabriele Molitor Markus Kurth Niema Movassat
Andrea Wicklein Jan Mücke Undine Kurth (Quedlinburg) Wolfgang Nešković
Heidemarie Wieczorek-Zeul Petra Müller (Aachen) Agnes Malczak Thomas Nord
(B) Dr. Dieter Wiefelspütz Jerzy Montag (D)
Burkhardt Müller-Sönksen Richard Pitterle
Waltraud Wolff Dr. Martin Neumann Kerstin Müller (Köln) Yvonne Ploetz
(Wolmirstedt) (Lausitz) Dr. Konstantin von Notz Ingrid Remmers
Uta Zapf Omid Nouripour Paul Schäfer (Köln)
Dirk Niebel
Dagmar Ziegler Friedrich Ostendorff Michael Schlecht
Cornelia Pieper Dr. Hermann Ott
Manfred Zöllmer Dr. Ilja Seifert
Gisela Piltz Lisa Paus
Brigitte Zypries Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Birgit Reinemund Brigitte Pothmer Sabine Stüber
Dr. Peter Röhlinger Tabea Rößner
FDP Alexander Süßmair
Dr. Stefan Ruppert Claudia Roth (Augsburg)
Jens Ackermann Dr. Kirsten Tackmann
Björn Sänger Krista Sager
Christian Ahrendt Dr. Axel Troost
Frank Schäffler Manuel Sarrazin Alexander Ulrich
Christine Aschenberg- Christoph Schnurr Elisabeth Scharfenberg
Dugnus Kathrin Vogler
Jimmy Schulz Christine Scheel Johanna Voß
Daniel Bahr (Münster) Marina Schuster Dr. Gerhard Schick
Florian Bernschneider Harald Weinberg
Dr. Erik Schweickert Dr. Frithjof Schmidt Katrin Werner
Sebastian Blumenthal Werner Simmling Dorothea Steiner
Claudia Bögel Jörn Wunderlich
Judith Skudelny Dr. Harald Terpe Sabine Zimmermann
Nicole Bracht-Bendt Dr. Hermann Otto Solms Markus Tressel
Klaus Breil Jürgen Trittin
Joachim Spatz
Rainer Brüderle Daniela Wagner Enthalten
Dr. Max Stadler
Angelika Brunkhorst Wolfgang Wieland
Ernst Burgbacher Torsten Staffeldt SPD
Dr. Valerie Wilms
Marco Buschmann Dr. Rainer Stinner
Josef Philip Winkler Petra Hinz (Essen)
Sylvia Canel Stephan Thomae
Helga Daub Florian Toncar
Serkan Tören Nein BÜNDNIS 90/
Reiner Deutschmann DIE GRÜNEN
Dr. Bijan Djir-Sarai Johannes Vogel
(Lüdenscheid) DIE LINKE
Patrick Döring Winfried Hermann
Mechthild Dyckmans Dr. Daniel Volk Jan van Aken Monika Lazar
Rainer Erdel Dr. Guido Westerwelle Agnes Alpers Beate Müller-Gemmeke
Jörg van Essen Dr. Claudia Winterstein Herbert Behrens Dr. Wolfgang Strengmann-
Ulrike Flach Dr. Volker Wissing Matthias W. Birkwald Kuhn
Otto Fricke Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Heidrun Bluhm Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8639
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
die SPD-Fraktion das Wort.
Ich glaube, das ist sehr realistisch, und ich finde, die Ko-
(Beifall bei der SPD) alitionskoalitionen tragen die Verantwortung dafür, dass
dieses Problem im Rahmen der Debatte, insbesondere
Dr. Rolf Mützenich (SPD): auch gestern im Ausschuss, nicht gelöst worden ist.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Daher muss ich Ihnen sagen: Das ist keine politische
Kollegen! Um es vorab klarzustellen: Unter bestimmten Logik. Denn auf der einen Seite sagen Sie, dass dieses
Umständen kann es richtig sein, im Sinne von Aufklä- Selbstverteidigungsrecht, dieser Bündnisfall nicht mehr
rung, Überwachung und Kontrolle im Mittelmer militä- für OEF gilt. Auf der anderen Seite bringen Sie es aber
risch präsent zu sein. Das war vor dem 11. September für das neue Mandat OAE in die Debatte wieder ein. Das
2001 so gewesen, und das wird auch in Zukunft so sein. halte ich wirklich für leichtfertig. Das ist keine gute Ar-
Nur, Herr Spatz, genau das ist das Problem: Sie füh- beit, die die Bundesregierung hier gezeigt hat.
ren diesem Mandat, dieser Aufgabe das Motiv eines (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Antiterrorkampfes zu, der im Grunde genommen über- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf
haupt nicht das hergibt, was Sie letztendlich mit diesem von der CDU/CSU: Als Sie in der Regierung
Mandat – ich erwähne beispielsweise die Einheiten, die waren, haben Sie zugestimmt!)
Sie zur Verfügung stellen – bezwecken. Damit schaffen
Sie hier ein neues Mandat, Herr Außenminister. Aus Gestern haben wir im Ausschuss – das war, glaube
meiner Sicht hätten Sie versuchen sollen, vorher mit der ich, auch für Sie sehr überraschend, Herr Bundesaußen-
Opposition darüber zu reden, wie dieses ausgestaltet und minister – eine sehr lange Debatte über dieses Mandat
begründet werden könnte. Ich erinnere an die Diskus- geführt. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie diese De-
sion, die der Deutsche Bundestag hier vor einigen Jahren batte mit uns geführt haben. Es hat mich aber gewundert,
geführt hat. Herr Spatz hat dagegen versucht, konkrete dass Sie plötzlich die Resolution 1943 des Sicherheits-
Aussagen zur Begründung zu umschiffen. Somit muss rats wieder so massiv in die Debatte eingeführt haben.
ich Ihnen sagen, Herr Bundesaußenminister: Das war Sie findet sich in Ihrem Antrag sozusagen nur als Rand-
kein gutes Gesellenstück der Bundesregierung. Denn Sie notiz auf Seite 3 ganz unten, und plötzlich wird sie zur
haben ein neues Mandat geschaffen, und Sie haben die Legitimationsgrundlage. Sie verschweigen aber, dass die
Opposition wissentlich von der Möglichkeit, an dieser Resolution des Sicherheitsrates ausdrücklich das ISAF-
Mandatierung mitzuwirken, ausgeschlossen. Mandat in Afghanistan unterstützt; OEF hat auch einen
afghanischen Teil. Dass Sie diese Unklarheit auch heute
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das stimmt noch in der Debatte zulassen, ist, finde ich, ein großer (D)
(B) nicht!) Missgriff, was diesem Mandat überhaupt nicht gerecht
Der Widerspruch wird ja schon daran deutlich, dass wird.
Sie für dieses Mandat – und darauf haben Sie im Grunde (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
genommen gerade auch hingewiesen – offensichtlich gar DIE GRÜNEN)
nicht die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
Sie von der FDP haben jedoch, als wir vor einigen Jah- Kommen wir zu den Aktivitäten. Das haben Sie uns
ren das Parlamentsbeteiligungsgesetz diskutiert haben, gestern sehr eindrücklich vor Augen geführt: Seit 2004
stets Mandatsklarheit und Mandatswahrheit gefordert. ist zwischen dem Mandat für OEF damals und diesem
Beides ist bei diesem Mandat aber nicht gegeben. Sie er- Mandat, das Sie sozusagen als neues Mandat erfunden
öffnen damit eine Diskussion über das Mandat. Das ist haben, keine Aktivität mehr erfolgt. Sie haben keine Ein-
der große Fehler, den die Bundesregierung heute hier zu sätze mehr durchgeführt. Das, was Sie gemacht haben,
verantworten hat. waren eher Transitfahrten. Wenn Sie in die Straße von
Gibraltar eingefahren sind, dann haben Sie das Mandat
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sozusagen umgewidmet.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aus der Unterrichtung des Parlaments geht hervor,
Ich glaube, es ist doch ganz offensichtlich, dass die
dass die 16 Aktionen in letzter Zeit eben nicht mit deut-
rechtliche Ableitung fragwürdig ist; es wird ja das wie-
scher Beteiligung erfolgt sind. Insofern können Sie Ihre
der aufgenommen, was Sie bei OEF – aus meiner Sicht
Begründung nicht im Deutschen Bundestag vertreten.
zu Recht – kritisiert haben. Der Kollege Hoyer hat im
Ich finde, Sie haben wissentlich sowohl das Völkerrecht
Jahre 2007, als wir hier im Deutschen Bundestag da-
gedehnt als auch das Parlament nicht mit der notwendi-
rüber diskutiert haben, zum Beispiel gesagt: Wir müssen
gen Mandatswahrheit und -klarheit informiert, wie es
aufpassen, dass wir in den Mandaten nicht immer das
notwendig gewesen wäre.
Selbstverteidigungsrecht anführen. Denn damit machen
wir es wertlos. Kollege Spatz, Sie haben gesagt, es sei kein Problem,
dass ein Personaleinsatz von 700 Soldatinnen und Solda-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten gefordert wird; denn es seien schon früher insgesamt
NEN]: Hört! Hört!)
500 eingesetzt worden. Ich finde, so kann man keine
Genau dieses Argument haben Sie aber in die Debatte Politik machen. Sie können nicht einfach sagen: OEF
eingeführt, und das ist auch einer der Gründe, warum wir passt nicht mehr. Damals hat die Personalstärke bei bei-
diesem Mandat nicht zustimmen können. den Mandaten zusammen 700 betragen, und plötzlich
8640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Rolf Mützenich


(A) werden für die Operation Active Endeavour alleine Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidi- (C)
700 Soldatinnen und Soldaten für notwendig gehalten. gung gegen einen Angriff anerkennt.
Ich finde es sehr willkürlich, wie Sie dieses Vorgehen in
Der VN-Sicherheitsrat stellte mit Resolution vom
Ihrem Mandat beschreiben.
12. September 2001 fest, dass terroristische Anschläge
Ich glaube, Sie haben einfach nur abgeschrieben. Sie wie die vom 11. September 2001 eine Bedrohung des
haben sich keine Mühe gemacht, länger über das Mandat Weltfriedens und einen Angriff auf die internationale Si-
nachzudenken, und Sie haben die anderen Bundestags- cherheit darstellen.
fraktionen, die Sie eigentlich gerne dabei haben wollen, Da der Angriff vom 11. September 2001 von außer-
nicht ausreichend mit einbezogen. halb der USA erfolgt ist, trat der Bündnisfall nach Art. 5
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) NATO-Vertrag ein. Daraus resultiert bekanntlich eine
Bündnisverpflichtung der übrigen Bündnispartner. Die-
Für die FDP-Fraktion sehen Sie jetzt einen möglichen ser Verpflichtung dürfen wir uns nicht entziehen.
Ausweg darin, demnächst wieder den NATO-Hut aufzu-
setzen. Warum haben Sie das nicht sofort gemacht? Dass der Angriff auf die internationale Sicherheit
Dann müssten Sie aber hier sagen, dass Sie es nicht ge- nicht mit den Anschlägen vom 11. September 2001 be-
schafft haben bzw. dass Sie diese Debatte geführt haben, endet war, erleben wir bis heute in trauriger Realität. Be-
aber dass Ihnen niemand gefolgt ist. Zur Wahrheit und sonders deutlich wird uns dies in diesen Tagen ange-
Klarheit gehört auch, zuzugeben, dass Sie nicht nur kein sichts der konkreten Terrorwarnungen bei uns in
gutes Gesellenstück abgeliefert haben, sondern dass Sie Deutschland vor Augen geführt.
sich möglicherweise auch in den NATO-Gremien poli- Die fortbestehende globale und zeitlich nicht ein-
tisch nicht durchgesetzt haben. Ich finde, darüber müss- grenzbare Bedrohung durch den internationalen Terro-
ten Sie dem Deutschen Bundestag genauso Rechenschaft rismus erfordert auch weiterhin entsprechende militäri-
ablegen, wie es auch im Hinblick auf das Völkerrecht sche Vorkehrungen. Vor diesem Hintergrund und
notwendig ist. angesichts des Charakters der global agierenden Terro-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten risten ist unsere Beteiligung an OAE nach wie vor ein
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wichtiger Beitrag zur nationalen Sicherheitsvorsorge
und zur Bündnisverteidigung.
Angesichts der Vielzahl von Unklarheiten und Wider-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sprüchen in dem Mandat und angesichts der mangelnden
völkerrechtlichen Grundlagen müssen wir als SPD-Frak- National fanden sich die Beteiligungen an der Opera-
tion dieses Mandat ablehnen. Wir tun das aus Überzeu- tion Active Endeavour und an der Operation Enduring (D)
(B)
gung und haben das gestern im Auswärtigen Ausschuss Freedom bisher in einem gemeinsamen Bundestagsman-
ausführlich begründet. dat. Da einerseits die deutsche Beteiligung an OEF been-
det wurde, wir andererseits aber eine Fortsetzung des be-
Herr Bundesaußenminister, ich kann Sie mit Blick auf reits mandatierten OAE-Einsatzes für notwendig halten,
zukünftige Mandate nur nachdrücklich darum bitten, die ist nunmehr ein eigenständiges Mandat zu OAE erfor-
Opposition früher in diese Mandate einzubinden und mit derlich. Bei dem vorliegenden und heute zur Abstim-
uns darüber zu reden, damit Sie den Konsens, den Sie mung stehenden Antrag handelt es sich somit um die
angeblich mit dem gesamten Deutschen Bundestag er- Fortschreibung des erstmals im Jahr 2003 erteilten Bun-
zielen wollen, möglicherweise auch für weitere Mandate destagsmandats zu OAE.
erreichen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Rahmenbe-
Ganz herzlichen Dank. dingungen der terroristischen Bedrohung und deren Be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kämpfung haben sich seit der erstmaligen Verlängerung
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) im Jahr 2003 nicht grundlegend geändert. Deshalb ist
der Antrag auf Verlängerung von OAE ausreichend und
auch richtig begründet.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer Die OAE hat zum Ziel, einen Beitrag dazu zu leisten,
für die CDU/CSU-Fraktion. Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroris-
ten auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu nehmen und vor Gericht zu stellen. Um dies zu er-
neten der FDP) möglichen, muss Präsenz auf See gezeigt werden. Es
müssen Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstel-
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): lung auf und über See stattfinden sowie ein intensiver
Austausch und Abgleich gewonnener Lagebildinforma-
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
tionen mit weiteren Akteuren im Rahmen des Auftrags
gen! Man muss vielleicht erst einmal ein paar Punkte
erfolgen. Außerdem ist eine Kontrolle des Seeverkehrs
sachlich klarstellen, was dieses Thema angeht. Die Ope-
erforderlich. Dies alles beschreibt sehr genau, worum es
ration Active Endeavour stellt den gemeinsamen Beitrag
bei der Operation geht.
des NATO-Bündnisses als Reaktion auf terroristische
Angriffe dar. OAE erfolgt völkerrechtlich auf der Grund- OAE sieht des Weiteren im Falle einer Lageverschär-
lage des Art. 51 der VN-Charta, der das naturgegebene fung den Schutz ausgewählter Schiffe und Einrichtungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8641
Dr. Wolfgang Götzer
(A) sowie gegebenenfalls das direkte Vorgehen gegen Terro- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
risten vor. Die deutschen Streitkräfte leisten ihren Bei- Für die Fraktion Die Linke spricht der Kollege Stefan
trag im Rahmen der Lagebilderstellung und nehmen im Liebich.
Bedarfsfall auch Schutzaufgaben wahr.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch nach der Abtrennung der Operation Active En-
deavour von der Operation Enduring Freedom sieht der Stefan Liebich (DIE LINKE):
Aktionsplan nach wie vor exekutive Befugnisse sowie Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
die Durchsetzung mit militärischer Gewalt vor. Deshalb Vor einem Jahr durfte ich hier in diesem Hause meine
stellt die Operation einen bewaffneten Einsatz im Sinne erste Rede halten. Damals ging es um die Operation
des Parlamentsbeteiligungsgesetzes dar. Aus diesem Enduring Freedom, einen sogenannten Antiterroreinsatz,
Grunde haben wir heute darüber abzustimmen. der mit der Operation Active Endeavour verbunden ist.
Über die Fortsetzung dieser Mission stimmen wir heute
In der jüngsten Vergangenheit konnten Angriffe ge- ab. Es war damals nicht nur meine erste Rede, sondern
gen den Luftverkehr vereitelt werden, da der Luftver- darüber hinaus das erste Mal, dass SPD, Bündnis 90/Die
kehr einer lückenlosen Überwachung unterliegt. Für den Grünen und meine Fraktion, Die Linke, gemeinsam ei-
Bereich des Seeverkehrs im Mittelmeerraum existiert ein nen Antrag der Bundesregierung, Bundeswehrsoldaten
solches Überwachungssystem bisher nicht. Der Kollege ins Ausland zu entsenden, abgelehnt haben.
Schwartze hat schon zu Recht ausgeführt, dass der See-
verkehr durch die enorme Menge des Transportraums (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
und die verhältnismäßig ungeschützten Zugangsmög- Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lichkeiten ein erhebliches Potenzial für terroristische Be- NEN]: Das haben Sie verbrochen!)
drohung bietet. Das Mittelmeer ist darüber hinaus als Damals wie heute ist klar, dass unsere Gründe dafür
maritimes Tor zwischen Europa, Afrika und Asien für sehr unterschiedlich sind. – Der Kollege Nouripour gibt
Deutschland als größte Exportnation von enormer Be- sich gerade große Mühe, darauf hinzuweisen. – Ja, un-
deutung. Außerdem besteht die Gefahr, dass das Mittel- sere Gründe dafür sind sehr unterschiedlich; das ist Fakt.
meer als Nachschubverbindung für Terroristen genutzt Leider hat es nicht gereicht. CDU/CSU und FDP haben
wird. sich durchgesetzt und erneut ein Mandat verlängert.
Aber unsere unterschiedlichen Argumente sind nicht
Das alles sind Gründe, die für eine Fortsetzung dieser ohne Wirkung geblieben. Eine weitere Verlängerung des
Operation sprechen. Dass das Mittelmeer – dieses wird OEF-Einsatzes hat die Bundesregierung erst gar nicht
(B) immer gern als Gegenargument angeführt – bisher nicht beantragt. Er ist nicht fortgesetzt worden. Damit ist die (D)
Schauplatz terroristischer Aktivitäten war, spricht nicht Beteiligung Deutschlands an dem durch die von Gerhard
gegen die Richtigkeit von OAE, sondern vielmehr dafür, Schröder gestellte Vertrauensfrage herbeigeführten Anti-
dass die Operation erfolgreich ist. terroreinsatz zu Ende. Das ist doch eine gute Nachricht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zukünftig wird (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Hardt
allerdings zu prüfen sein, ob die Gewinnung von Infor- [CDU/CSU]: Wir hören auf, wenn es keinen
mationen in der Region auch mit nichtmilitärischen Mit- Sinn macht, und machen weiter, wenn es Sinn
teln erfolgen kann und die abschreckende Präsenz durch macht!)
Kräfte anderer Organisationen gewährleistet werden
Man muss sagen: Dieser Einsatz ist fast zu Ende.
kann. Wäre dies der Fall, könnte die Aufrechterhaltung Denn wir stimmen nun über die Fortsetzung der damit
eines spezifischen Antiterrormandats entbehrlich wer- verbundenen Operation Active Endeavour ab. Die glei-
den. Im Rahmen einer sich ändernden Sicherheitsstruk- chen Argumente, die gegen OEF gegolten haben, gelten
tur könnte die Bündnisverteidigung im Mittelmeer in ei- auch gegen den Bundeswehreinsatz im Mittelmeer. Der
nen sogenannten Standing Defense Plan überführt Kollege Mützenich hat bereits darauf hingewiesen, dass
werden. Überlegungen hierzu und somit auch zu einer das Argument des Bündnisfalls hier nicht zieht. Ich
Beendigung der OAE-Mission werden bekanntlich der- finde, wer A sagt, muss auch B sagen und sollte diesen
zeit in der NATO angestellt. Einsatz beenden.
Wesentlich für einen solchen Plan ist aber eine ausrei- (Beifall bei der LINKEN)
chende Informationsüberlegenheit, die den Grad der Be-
Nun sind für den aufmerksamen Zuhörer durchaus
drohung kalkulierbar macht. Bis es so weit ist, ist die
Unterschiede bei den Koalitionsfraktionen herauszuhö-
Operation Active Endeavour unverzichtbar.
ren. Das war im Ausschuss noch ein wenig deutlicher.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Stinner hat im Prinzip argumentiert, dass
dieses Mandat unnütz ist. Der Außenminister selbst
Deshalb werden wir dem Antrag zustimmen. Ich appel- würde lieber heute als morgen dieses Mandat beenden.
liere an die Opposition, dies auch zu tun. Wenn das schon bei Ihnen so ist, dann können Sie von
uns, der Opposition, doch nicht im Ernst verlangen, ei-
Vielen Dank. ner Fortsetzung des Mandats zuzustimmen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN)
8642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Stefan Liebich
(A) Ich möchte auch in der Sache argumentieren. Wir fin- Wir wollten schon immer einmal wissen, was Sie eigent- (C)
den, dass es weiterhin nicht richtig ist, eine Blankovoll- lich damit machen. Eine Antwort wäre, dass man dafür
macht für den Einsatz von Soldaten wegen eines Terror- sorgt, eine sichere völkerrechtliche Grundlage für diese
anschlags von vor neun Jahren zu erteilen. Wir sind Mission zu erarbeiten. Das ist versäumt worden. Es ist
weiterhin der Meinung, dass die Bekämpfung von Terror der Hinweis auf die Resolution 1943 erfolgt. Über diese
bei den Ursachen beginnen muss und dass man Krimina- Resolution kann man nicht wirklich streiten. Denn auf
lität mit polizeilichen Mitteln und Strafverfolgungsmit- der Basis dieser Resolution operiert ISAF, allerdings
teln beantworten muss, auch international. Dass der 5 000 bis 6 000 Kilometer weiter im Osten. Das ist für
neunjährige Krieg gegen den Terror nicht gewonnen unsere Fraktion der ausschlaggebende Grund, warum
wurde, erleben wir in diesen Tagen hier im abgesperrten wir diesem Mandatstext nicht zustimmen können.
Reichstag wieder selbst. Deshalb wird meine Fraktion
die Fortsetzung dieses Einsatzes aus diesen Gründen Sie haben es vermurkst, aus zwei Operationen eine zu
wieder ablehnen. machen und zu erklären, dass die Mandatsobergrenze
gesenkt werden kann. Für OEF und die Operation Active
(Beifall bei der LINKEN) Endeavour zusammen lag die Obergrenze bei 700 Solda-
ten. Jetzt ist OEF weggefallen, aber die Obergrenze ist
Der Kollege Mißfelder hatte in der ersten Lesung an-
gleich geblieben. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Die
gekündigt, dass er Missverständnisse ausräumen und
Erklärung dafür von Staatssekretär Kossendey im Vertei-
Fragen der Opposition beantworten wird. Das ist nicht
digungsausschuss war – ich sage das jetzt mit den Wor-
gelungen. Die Missverständnisse und Fragen sind eher
ten eines Ministers – intellektuell überschaubar. Es geht
größer geworden. Der Kollege Mißfelder hatte sich zu-
auch um die Frage der Exekutivgewalt. Ich sage noch
dem eine breite Mehrheit für den Regierungsantrag ge-
einmal: Wir reden hier über eine Überwachungsmission.
wünscht. Auch das ist nicht gelungen. Insofern schlage
Alles, was ich von der Koalitionsseite jetzt gehört habe
ich zum Abschluss vor, dass Sie Konsequenzen ziehen
– Sie sagen, was an der Mission richtig ist –, bezieht sich
und dass nicht nur die Opposition, sondern auch die
auf Überwachungsaufgaben. Sie schreiben aber Maß-
CDU/CSU und die FDP den Antrag der Regierung ab-
nahmen in das Mandat, die dafür nicht geeignet sind.
lehnen.
Das ergibt keinen Sinn.
Vielen Dank.
Vermurkst haben Sie es auch – das ist bereits mehr-
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der fach gesagt worden –, einen Konsens herzustellen. In der
CDU/CSU und der FDP) Debatte zur ersten Lesung gab es Beiträge des Kollegen
Mißfelder, von Herrn Staatssekretär Kossendey und von
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herrn Staatsminister Hoyer, in denen die Herstellung ei- (D)
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für nes Konsenses angedeutet wurde. Gespräche gab es al-
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. lerdings keine. Es gab in den Ausschüssen nur eine De-
batte, in der wir Forderungen gestellt haben und in der
sich die Koalition aber keinen Millimeter bewegt hat.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Kabarettistisch wird es, wenn man sich diesen Man-
Liebich, herzlichen Dank dafür, dass Sie mich an etwas datstext anschaut. In dem Text steht – das muss man sich
erinnert haben: Ich möchte den Leuten draußen, die uns einmal vorstellen –, dass wir an der Marinemission teil-
bei einem Wetter, bei dem man nicht wirklich gerne hin- nehmen, um Ausbildungslager der Terroristen zu ver-
ausgeht, Tag und Nacht beschützen – das ist wirklich nichten.
keine angenehme Aufgabe –, herzlich danken. Ich
glaube, das tue ich im Namen aller hier im Hohen (Zuruf von der CDU/CSU: Einen Beitrag dazu
Hause. Sie tun es für uns. Herzlichen Dank dafür. zu leisten!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich bin versucht, den Innenminister zu fragen, warum er
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- uns bisher verschwiegen hat, dass es Ausbildungslager
geordneten der SPD) der al-Qaida gibt, die sich auf dem Grund des Mittel-
meers befinden. Das ist völlig absurd.
Gegen diese Mission, bei der es um die Überwachung
im Mittelmeer geht, kann man eigentlich relativ wenig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sagen. Die NATO ist dort gemeinsam mit Russen und und bei der SPD)
Georgiern im Einsatz. Das ist eine Konstellation, die Sie haben einfach den Text für das OEF-Mandat abge-
politisch sehr spannend und zu begrüßen ist. Das Pro- schrieben und nicht darüber nachgedacht, was Sie ei-
blem ist, dass Sie diese Mission komplett vermurksen. gentlich tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
und bei der SPD)
Deutschland hat demnächst einen Sitz im VN-Sicher-
heitsrat. Darauf sind wir alle stolz, und darüber sind wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
glücklich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Nicht alle!) Kollegen Spatz?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8643

(A) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich sage noch einmal: Ich bitte den Innenminister, uns zu (C)
Nein, ich möchte endlich namentlich abstimmen. erklären, ob unsere U-Boote am Meeresgrund tatsäch-
lich Terrorausbildungslager der al-Qaida suchen.
(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Zu
Ende lesen!)
Sie haben einen Text vorgelegt, den man der Öffent-
lichkeit nicht erklären kann. Sie haben einen Text vorge- Das ist einfach abstrus.
legt, der den Soldatinnen und Soldaten keinen Gefallen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tut. Sie haben einen Text vorgelegt, der mit dem Selbst- und bei der SPD – Joachim Spatz [FDP]: Le-
verständnis eines Parlamentes, das tatsächlich über den sen Sie zu Ende!)
Einsatz der Parlamentsarmee entscheiden will, nichts zu
tun hat.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Die Mission ist aus meiner Sicht nicht falsch. Des- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
halb, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bitte Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
ich Sie: Überlegen Sie doch einmal, ob Sie nicht der ei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
genen Regierung sagen sollten: Setzt euch auf euren Ho-
senboden und schreibt einen Mandatstext, der tatsäch-
lich etwas mit der Mission zu tun hat und der vor allem Jürgen Hardt (CDU/CSU):
eine völkerrechtliche Grundlage hat. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Nouripour, Sie haben es eben selbst vorgelesen:
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Richtig!)
und bei der SPD)
Wenn es terroristische Stationen am Meeresgrund des
Mittelmeeres gäbe, können Sie sicher sein, dass die deut-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schen Minenabwehrkräfte und die deutschen U-Boote
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Spatz das diese finden würden.
Wort.
Es geht darum, dass die Deutschen einen Beitrag dazu
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) leisten, das Lagebild zu vervollständigen. Nur so bleibt
uns das Mittelmeer als sicheres und friedliches Meer für
(B) Joachim Spatz (FDP): Handel, das es für uns Europäer und für die Nordafrika- (D)
Getretener Quark wird breit, nicht stark, Herr Kollege ner seit 4 000 Jahren ist, erhalten. Diesen Beitrag werden
Nouripour. Auch wenn die allgemeinen Aufgaben so wir Deutsche selbstverständlich leisten.
sind, wie Sie es sagen, sollten Sie dennoch nicht ver- Bereits in der letzten Woche haben wir hier sowie
schweigen, dass die konkreten Aufgaben der Bundes- auch in den zuständigen Ausschüssen über den Antrag
wehr nicht dem entsprechen, wovon Sie reden. Im An- diskutiert. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag zu-
trag ist nämlich von militärischer Präsenz auf See, stimmen. Er ist personell, räumlich und auftragsmäßig
Aufklärung und Überwachung, Lagebildherstellung, angemessen ausgestattet. Das gilt auch für das Völker-
Kontrolle des Seeverkehrs, temporärer Führung der recht. Ich füge hinzu: Herr Kollege Mützenich, es geht
Operation, Lufttransport zur Unterstützung, Nothilfe und relativ weit, wenn Sie von einer mangelnden völker-
Eigensicherung die Rede. Sie können uns doch nicht rechtlichen Grundlage sprechen. Mit einer solchen For-
ernsthaft das vorwerfen, was dem allgemeinen Auftrag mulierung muss man sehr vorsichtig sein. Eine mangel-
zuzurechnen ist und womit die Deutschen nichts zu tun hafte rechtliche Grundlage ist als völkerrechtswidrig zu
haben. verstehen. Diesen Vorwurf werden Sie wohl kaum erhe-
ben wollen. Ansonsten lade ich Sie herzlich ein, vor das
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bundesverfassungsgericht zu gehen und dies prüfen zu
lassen. Sie werden dann eine Antwort bekommen, die
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ihnen nicht gefallen wird.
Herr Kollege Nouripour, Sie haben das Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Spatz, Sie Der Auftrag des Mandates ist klar definiert. Es geht
wissen, ich bin ein großer Bewunderer Ihrer poetischen darum, den internationalen Terrorismus mit angemesse-
Künste. Herzlichen Glückwunsch! Von Ihnen möchte ich nen Mitteln zu bekämpfen. Wer, wenn nicht wir Euro-
gern noch etwas lernen. Was Sie als Parlamentarier aber päer, ist dafür zuständig, dies im Mittelmeer zu leisten.
auch können sollten, ist lesen. Denn im Antrag heißt es: Wir sollten das nicht den Amerikanern überlassen. Die
Tatsache, dass im Mittelmeer derzeit keine akute und
Die Operation Active Endeavour hat weiterhin zum sichtbare terroristische Bedrohung besteht, ist kein Be-
Ziel, einen Beitrag dazu zu leisten, Führungs- und leg dafür, dass der Einsatz überflüssig ist. Im Gegenteil:
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszu- Wollen Sie etwa warten, bis die ersten Terroristen einen
schalten. Gastanker gekapert haben und mit diesem nach Haifa,
8644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Jürgen Hardt
(A) Marseille oder Neapel fahren? In einem solchen Fall Ich möchte noch ganz kurz das Wort an die SPD rich- (C)
wäre das Geschrei nämlich groß. Ich bin der Meinung, ten. Ich sehe in der Nichtzustimmung zu dem Mandat ei-
dass wir uns auf die bewährten Instrumente der Abschre- nen Teil der asymmetrischen Absetzbewegung der SPD
ckung und der Militärpräsenz verlassen sollten. Ich von den internationalen Aufgaben der Bundesrepublik
denke, in diesem Bereich ist das der richtige Weg. Deutschland und der Bundeswehr.
Herr Nouripour, die Mandatsobergrenze ist intellektu- (Beifall bei der CDU/CSU)
ell überschaubar. Für Sie rechne ich es noch einmal vor:
Die laufenden Mandate werden mit fadenscheinigen Ar-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gumenten untergraben, in diesem Fall sogar abgelehnt.
NEN]: Bitte! Unbedingt!)
Den Kunduz-Untersuchungsausschuss haben Sie
Die Beteiligung der Deutschen Marine an einem NATO- mittlerweile zu einem Symbol des Misstrauens gegen-
Einsatzverband mit einer Fregatte und einem Versorger über den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gemacht.
erfordert rund 250 Soldaten. Operieren gleichzeitig drei
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
deutsche Einheiten im Rahmen eines Minenabwehrver-
neten der FDP – Widerspruch bei der SPD –
bands, so sind weitere 150 Soldaten erforderlich. Wenn
Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie dann noch mit AWACS Luftaufklärung betreiben
NEN]: Nein, gegenüber der Bundesregierung!)
und noch ein Schiff von Wilhelmshaven in den Indi-
schen Ozean schicken, kommen Sie ziemlich genau auf Seit über einem Jahr führen wir dort endlos lange und
700 Soldaten. Deswegen ist die Mandatsobergrenze völ- unsinnige Vernehmungen durch. Die Dinge sind für uns
lig angemessen. längst klar. Im Grunde müssten wir die Sache jetzt zügig
beenden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Als wir am vergangenen Dienstag die sechs Aufklä-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rungstornados, die über fast vier Jahre in Afghanistan
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wertvolle Arbeit für die ISAF geleistet haben, zusam-
Kollegen Nouripour? men mit dem Bundesverteidigungsminister in Jagel wie-
der in Deutschland begrüßt haben, war kein einziger Ab-
geordneter der Grünen, der SPD oder der Linken
Jürgen Hardt (CDU/CSU): anwesend.
Wenn er es immer noch nicht verstanden hat, dann
bitte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/
(B) (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat es nicht ver- DIE GRÜNEN]: Wir hatten parlamentarische (D)
standen!) Verpflichtungen! – Weitere Zurufe von der
SPD)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– Das kann ich Ihnen sagen. Die Abgeordneten haben
Bitte. die Tornados dorthin geschickt, und deswegen war es
gut, dass wir gemeinsam mit dem Minister in Jagel ge-
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wesen sind und sie begrüßt haben, als sie zurück in
Ich mache es kurz, damit wir endlich zur Abstim- Deutschland waren.
mung kommen können.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Da haben Sie für Bilder posiert mit
neten der FDP) dem Minister! Das war es doch!)
Herr Kollege Hardt, ist Ihnen bekannt, dass der Einsatz- Ich glaube, dass in diesem Land für eine dritte Nein-
truppenversorger auch unabhängig vom Mandat im Mit- sager-Partei – so gibt sich die SPD im Augenblick – kein
telmeer operiert? Platz ist. Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass die
Bürgerinnen und Bürger von der SPD eine verantwor-
Jürgen Hardt (CDU/CSU): tungsvolle Außen- und Verteidigungspolitik im Stile von
Willy Brandt, Helmut Schmidt, Hans Apel und Schorsch
Ich selbst habe an Einsätzen von Marineverbänden im
Leber erwarten und nicht das, was im Augenblick hier
Mittelmeer teilgenommen, auf einer deutschen Fregatte.
geboten wird.
Die hatte damals 200 Mann Besatzung. Die Schiffe sind
heute größer, die Besatzung besteht immer noch aus (Beifall bei der CDU/CSU)
200 Mann. Dabei ist in der Regel ein Betriebsstofftrans-
porter oder ein ähnliches Fahrzeug, das mit 25 bis 30, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
vielleicht auch 40 oder 50 Mann besetzt ist. Das sind die Herr Kollege Hardt, der Herr Arnold möchte gern
250 Mann, von denen ich gesprochen habe. Herr eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?
Nouripour, fahren Sie einfach mal mit! Machen Sie eine
kleine Reserveübung! (Rainer Arnold [SPD]: Eine Kurzinterven-
tion!)
(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Der hat
nicht gedient!) – Also keine Zwischenfrage.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8645

(A) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Um es anders zu sagen: Hätte die Regierung diesen (C)
Ich komme zum Schluss. Die CDU/CSU wird dem Gesprächsfaden geknüpft, dann hätte sie kein vom Text
Antrag zustimmen. Jeder ist herzlich eingeladen, das her so schlechtes Mandat vorgelegt. Sie wissen doch
auch zu tun – im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, selbst, dass die Formulierung des Mandats mies und
die dort den Einsatz leisten. schludrig ist. Wir hätten der Regierung geholfen, daraus
etwas Vernünftiges zu machen, und am Ende hätten wir
Danke schön. eine breite Zustimmung erhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Arnold das Herr Kollege Hardt, bitte.
Wort.
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Jürgen Hardt (CDU/CSU):
Herr Kollege Arnold, ich möchte die Sache nicht un-
Rainer Arnold (SPD): nötig verlängern; sonst bekomme ich Ärger mit Herrn
Da gibt es überhaupt nichts zu lachen. Was wir hier Nouripour, der schon seit 15 Minuten abstimmen will.
erlebt haben, ist die Aufkündigung des eigentlich vor- Ich stelle fest: Die Einwände gegen den Mandatstext
handenen Grundkonsenses in der Sicherheits- und Ver- halte ich für vorgeschoben.
teidigungspolitik,
Es geht Ihnen darum, ein Signal zu setzen, dass Sie
(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Durch bei der Sache nicht mehr dabei sind. Sie erhoffen sich
Sie!) davon einen politischen Vorteil. Das werden wir Ihnen
und das ist für uns ein sehr ernstes Thema. Herr Kollege, nicht durchgehen lassen.
ich begründe das in zwei Punkten: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Erstens. Sie werfen Parlamentariern vor, dass sie neten der FDP)
nicht die Tornado-Piloten in Empfang nehmen. Tatsache Zweitens. Die Verteidigungspolitiker der CDU/CSU und
ist: Sie haben sie deshalb nicht in Empfang genommen, der FDP haben ihre Arbeitsgruppensitzung eben am
weil sie an diesem Dienstag ihre parlamentarischen Dienstagabend nach den Fraktionssitzungen abgehalten,
Pflichten hier im Deutschen Bundestag zu erfüllen hat- damit sie am Dienstagmorgen dabei sein konnten. Ich
(B) ten. fand das keine unzumutbare oder sehr komplizierte Um- (D)
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wollen Sie be- stellung des normalen Ablaufplans.
haupten, wir nicht?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Es stellt sich doch eine ganz andere Frage, nämlich: Will der FDP)
diese Regierung, dass Parlamentarier an solchen Veran- Wenn Sie allerdings mit Ihrer Wortmeldung deutlich ma-
staltungen in der Breite teilnehmen? Wenn ja, dann muss chen wollen, dass Sie in Zukunft auf dem Weg der Bes-
sie Termine finden, die nicht mit unserem Geschäft hier serung sind, was das Verhältnis zwischen SPD und Bun-
kollidieren. Dann sind wir dabei. Wir lassen uns von Ih- deswehr angeht, bin ich im Interesse der Soldaten froh
nen überhaupt nichts nachsagen. Wir haben unsere Aner- darüber.
kennung für Soldaten an vielen symbolischen Stellen
immer wieder, auch was die Personen angeht, deutlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gemacht. Was Sie sagen, ist völlig inakzeptabel. neten der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]:
Pure Arroganz!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zweitens. Sie sagen, Sozialdemokraten verabschiede- Ich schließe die Aussprache.
ten sich von ihrer Verantwortung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
(Beifall bei der CDU/CSU) empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
Das ist falsch. Wenn die Regierung will, dass eine Oppo- trag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes
sitionspartei sich der Verantwortung stellt und gemäß bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung
dem Grundkonsens in der Sicherheits- und Verteidi- der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe
gungspolitik handelt – wir haben immer gesagt, dass wir gegen die USA, Operation Active Endeavour im Mittel-
das tun; Sie merken an der Seriosität unserer Debatten meer.
im Verteidigungsausschuss, dass sich das auch im Alltag Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
widerspiegelt –, wenn die Regierung dies also bewahren lung auf Drucksache 17/4050, den Antrag der Bundesre-
will, dann lautet die Anforderung, die auch heute wieder gierung auf Drucksache 17/3690 anzunehmen. Über
formuliert wurde, dass die Regierung im Vorfeld von diese Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab.
Mandatsentscheidungen den Dialog mit der Opposition Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
sucht. Das ist wirklich notwendig für den Grundkonsens. vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind an allen Ur-
8646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) nen die Plätze besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne Christine Buchholz (DIE LINKE): (C)
ich die Abstimmung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frieden
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die in Nahost kann es nur geben, wenn die politische Betäti-
ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben? – Das ist nicht gung der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht wei-
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte ter eingeschränkt wird.
die Schriftführerinnen und Schriftführer, auszuzählen. (Beifall bei der LINKEN)
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1) Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation
Addameer befanden sich am 30. September dieses Jah-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
res 6 180 Palästinenser aus politischen Gründen in israe-
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion lischer Haft. Unter diesen politischen Gefangenen befin-
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes den sich 212 Palästinenser in sogenannter Administra-
zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei tivhaft. Diese Gefangenen bleiben ohne Anklage und
Vertragsabschlüssen im Internet ohne Recht auf ein Gerichtsverfahren im Gefängnis. Sie
werden aufgrund angeblicher geheimer Informationen
– Drucksache 17/2409 –
festgehalten. Das israelische Militär kann palästinensi-
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- sche Zivilistinnen und Zivilisten ohne Begründung für
schusses (6. Ausschuss) sechs Monate einsperren; die Gefangennahme kann kurz
vor Ablauf der Frist beliebig oft verlängert werden.
– Drucksache 17/3588 –
Berichterstattung: Einer der Betroffenen ist der 37-jährige Reda Khaled.
Abgeordnete Marco Wanderwitz Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er arbeitet
Marianne Schieder (Schwandorf) für das UN-Hilfswerk UNRWA in einem Flüchtlingsla-
Stephan Thomae ger im Westjordanland. Reda Khaled wird seit dem
Halina Wawzyniak 19. Dezember 2008 ohne Gerichtsverfahren oder An-
Ingrid Hönlinger klage festgehalten. Die Vereinten Nationen haben Israel
zuletzt am 29. Juli 2010 für seine Praxis der Administra-
Interfraktionell wurde vorgeschlagen, die Reden zu tivhaft kritisiert, und zwar zu Recht.
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Damit sind Sie einverstanden. Es sind die Reden folgen- (Beifall bei der LINKEN)
der Kolleginnen und Kollegen: Marco Wanderwitz,
In den letzten Jahren sind vermehrt Aktivisten, die ge-
Mechthild Heil, Marianne Schieder, Elvira Drobinski-
(B) Weiß, Stephan Thomae, Dr. Erik Schweickert, Caren waltfrei gegen die Besatzung und speziell gegen den Bau (D)
Lay und Ingrid Hönlinger.2) der Mauer durch ihre Dörfer protestiert haben, verhaftet
worden, zum Beispiel Ibrahim Amireh aus dem Dorf
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss Ni’lin. Er ist Gründer und Vorsitzender des lokalen Pro-
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache testkomitees. Er wurde für schuldig befunden, sich in ei-
17/3588, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf ner militärischen Sperrzone aufgehalten zu haben. Die
Drucksache 17/2409 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die von der Armee verhängte Sperrzone beginnt direkt au-
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- ßerhalb des Dorfes und schließt die Olivenhaine mit ein,
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- von deren Ertrag die Menschen leben.
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Mit Sperrzo-
Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach un- nen kennen Sie sich ja aus!)
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Die Bewohner dürfen nichts ernten, nicht ihre Bäume
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: pflegen. Die Proteste bestehen in wöchentlichen friedli-
chen Prozessionen der Dorfbewohner zu ihren Bäumen.
Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Den Frieden befördern – Politische Gefangene Ibrahim Amireh wurde im unterirdischen Trakt eines
in Israel freilassen israelischen Militärgefängnisses eingesperrt und dort ge-
schlagen. Dann wurde er in ein Freiluftlager in der
– Drucksache 17/3545 – Wüste verlegt. Dort wird es tagsüber unerträglich heiß,
nachts unerträglich kalt. Seine Familie muss Geld sam-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit sind meln, damit er dort Wasser und Nahrung kaufen kann.
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Die Armee verweigert ihm Medikamente zur Behand-
lung seines Herzleidens. Ibrahim Amireh ist nur einer
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat von über 160 Menschen, die die Armee seit 2008 allein
das Wort die Kollegin Christine Buchholz für die Frak- in diesem Dorf verhaftet hat.
tion Die Linke.
Die Hohe Vertreterin der Außen- und Sicherheitspoli-
(Beifall bei der LINKEN) tik der EU, Catherine Ashton, wies kürzlich darauf hin,
dass die Verhaftung politischer Aktivisten dazu diene,
1) Ergebnis Seite 8648 D Palästinenser von ihrem legitimen Recht auf Protest ab-
2) Anlage 8 zuhalten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8647
Christine Buchholz
(A) Die Linke fordert die Freilassung der politischen Ge- klären, warum das Problem aus Ihrer Sicht so dringend (C)
fangenen in Israel, die Aufhebung der militärischen Son- geworden ist. Es kann nur eine interne Kompensation für
dergerichtsbarkeit und die Abschaffung der Administra- den überraschenden Schritt gewesen sein, den Sie beim
tivhaft. letzten Mal gegangen sind.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der
LINKEN)
Die Linke fordert die israelische Regierung auf, die
Menschenrechte der Gefangenen bis zu ihrer Freilassung Sie haben in Ihrer Rede so getan, als seien alle 6 180
zu respektieren. Das gilt insbesondere für die 691 Gefan- Gefangenen nach der gängigen Definition von politi-
genen aus dem Gazastreifen, denen seit Juni 2007 jegli- schen Gefangenen, wie wir sie hier auch in anderen
cher Familienbesuch verweigert wird. Menschenrechtsdiskussionen anwenden, auch wirklich
politische Gefangene. Das ist nicht so. Von den 6 180
(Beifall bei der LINKEN) Gefangenen sind viele Terroristen, und von vielen geht
Ich bitte Sie, die Abgeordneten der anderen Fraktio- eine akute Gefahr für Israel und für das Existenzrecht Is-
nen, unserem Antrag zuzustimmen, um ein Zeichen für raels aus.
die Wahrung der Menschenrechte zu setzen und damit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
einen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit in Nahost zu Niema Movassat [DIE LINKE]: Wo sind Ge-
leisten. richtsurteile? – Weiterer Zuruf von der LIN-
(Beifall bei der LINKEN) KEN: Was ist mit einem fairen rechtlichen
Verfahren?)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie haben nicht unrecht, dass in Israel in manchen
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Fällen nicht nach unseren rechtlichen Maßstäben vorge-
Philipp Mißfelder. gangen wird. Das ist uns allen bewusst. Im Übrigen
spielt das in unseren bilateralen Kontakten zu Israel im-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mer eine sehr große Rolle. Aber hier im Deutschen Bun-
neten der FDP)
destag so zu tun, als würde es sich bei einem Großteil
der Gefangenen um solche handeln, denen dort – wahr-
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): scheinlich sogar auch noch vorsätzlich – Unrecht getan
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Buchholz, Ihr Antrag wird, halte ich doch für falsch. Denn an dieser Stelle
fügt sich in den Rahmen einer Debatte ein, die wir erst geht es um die Schutzinteressen Israels,
kürzlich hier erlebt haben, nämlich in die um die Freilas-
(B) sung von Gilad Schalit. Gilad Schalit ist ein junger israe- (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Da sind (D)
lischer Soldat, der im Zuge des Gaza-Konfliktes entführt die Menschenrechte egal!)
worden ist, dessen Eltern diese Woche vom Bundesprä- die durch die Administrativhaft auch durchaus gewähr-
sidenten Christian Wulff besucht worden sind und des- leistet werden. Nun darf man sich doch nicht einbilden,
sen Schicksal in der israelischen Gesellschaft mit gro- den rechtlichen Rahmen, den wir uns für Israel und den
ßem Bangen verfolgt wird. gesamten Nahen Osten, im Übrigen auch für die Länder
Ich erwähne das deshalb, weil in der Debatte damals um Israel herum, wünschen und den wir hier in Deutsch-
Ihr Fraktionsvorsitzender hier theatralisch gesagt hat, er land haben, automatisch eins zu eins auf die israelische
plädiere für die bedingungslose Freilassung von Gilad Situation übertragen zu können. Wir kämpfen dafür, dass
Schalit. die Menschenrechte in Israel gewährleistet werden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE
LINKE])
Ich habe den Eindruck, dass das in Ihrer Fraktion nicht
ganz bedingungslos abgelaufen ist Wir werben dafür. In Gesprächen, in denen wir mit Ent-
scheidungsträgern Israels zusammen sind, ist dies ein
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Reden Sie Punkt, der – durchaus auch an unangenehmer Stelle – an-
doch zum Thema und spekulieren Sie nicht, gesprochen wird. Aber es ist trotzdem so, dass Sie auch
was in der Fraktion ist!) die existenzielle Bedrohung Israels zur Kenntnis nehmen
müssen. Davon haben Sie nichts, aber auch rein gar nichts
und dass Sie deshalb diesen eigenen Antrag eingebracht
hier in Ihrer Rede gesagt.
haben. Denn ich glaube, dass Sie einen Kuhhandel inner-
halb Ihrer Fraktion gemacht haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND-
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Reden Sie
NIS 90/DIE GRÜNEN])
doch bitte zum Thema! Was sagen Sie zu den
Gefangenen in der Administrativhaft in Is- Das ist auch der Rahmen, in dem sich diese Diskussion
rael?) abspielt.
dass Sie nämlich für die Freilassung Gilad Schalits stim- Vergleichen Sie doch einmal unsere Gesellschaft mit
men, um dann die Stimmen in Ihrer eigenen Fraktion für der israelischen. Es gibt durchaus soziologische Mög-
diesen Antrag zu bekommen, den Sie quasi aus dem lichkeiten, das gut miteinander zu vergleichen. Sie müs-
Nichts eingebracht haben. Anders kann ich mir nicht er- sen sich einmal fragen, wie die Menschenrechtssituation
8648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Philipp Mißfelder
(A) in unserem Land wäre, wenn Sie diese Gefährdungssi- Sie arbeiten mit Doppelstandards. Die Kritikpunkte, (C)
tuation, wie sie Israel tagtäglich hat, in Deutschland hät- die Sie hier gerade vorgebracht haben, haben in Ihrer
ten. Rede keine Rolle gespielt. Im Zusammenhang mit der
Situation im Gazastreifen oder der Terrorherrschaft der
(Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE Hamas haben Sie kein Sterbenswörtchen dazu gesagt.
LINKE]) Deshalb werfe ich Ihnen vor, dass Sie mit doppelten
Deshalb werbe ich zwar dafür, die Maßstäbe, die wir Standards messen. Einerseits fordern Sie Israel auf, die
hier bei uns haben, auch für Israel anzulegen – selbstver- Menschenrechte anzuerkennen, andererseits sind dieje-
ständlich –, nigen, für die Sie hier eintreten, kein Garant dafür, dass
die Menschenrechte, auch die der Israelis, gewährleistet
(Zuruf der Abg. Christine Buchholz [DIE werden. Zum Teil sind das Terroristen. Davon haben Sie
LINKE]) nichts gesagt. Deshalb fordere ich Sie auf, aus dieser De-
aber eine Vorverurteilung Israels und auch Pauschalisie- batte zu lernen, auf Ihrem Weg umzukehren und sich den
rungen lasse ich an dieser Stelle nicht zu, sondern weise wirklich entscheidenden Fragen im Nahen Osten zuzu-
sie entschieden zurück. wenden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dazu gehört am Ende auch, dass Gefangene freigelas-
neten der FDP – Christine Buchholz [DIE sen werden. Ich bin aber nicht dafür, sich hier für die be-
LINKE]: Das sind keine Vorverurteilungen!) dingungslose Freilassung von potenziellen Terroristen
oder sogar von Terroristen einzusetzen. Das würde auch
Zum Nahostkonflikt haben Sie nichts gesagt. Wir unser Rechtsstaat im Zweifel nicht hergeben. Deshalb
wünschen uns Frieden. Dazu gehört einerseits, dass alle bin ich an dieser Stelle entschieden dagegen.
Seiten zu Gesprächen und zu Zugeständnissen bereit
sind, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Genau! Wenn es um den Nahostkonflikt geht, möchte ich
Das wäre sinnvoll!) nochmals – ich habe das schon kurz angeschnitten – die
Reise unseres Bundespräsidenten erwähnen. Ich glaube,
und andererseits ein genereller Verzicht auf Terror und er hat in dieser Woche ein wichtiges Zeichen gesetzt, in-
Gewalt. Dazu ist die Hamas, der ein großer Teil der Ge- dem er mit sehr ruhigen Tönen dafür gesorgt hat, dass
fangenen angehört bzw. nahesteht, nicht bereit. Die Ha- die Menschen aufeinander zugehen. Allein durch die Art
mas ist nicht bereit, der Gewalt abzuschwören, und die und Weise, wie er sich dort eingebracht hat, hat er ein
Hamas ist nicht bereit, das Existenzrecht Israels auch nur Zeichen gesetzt. Ohne eine große Rede und ohne große
(B) im Ansatz anzuerkennen. Verlautbarungen vorher ist er auf die Konfliktparteien (D)
zugegangen und hat gezeigt, dass er sich für das Schick-
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Deswe- sal der Menschen interessiert, inklusive der Eltern von
gen enthält man den Menschen die Menschen- Gilad Schalit. Selbst dies ist in der israelischen Gesell-
rechte vor?) schaft nicht immer unumstritten und einfach. Deshalb
– Nein, das ist kein Grund, Menschenrechte zu ignorie- war es richtig, dass Christian Wulff sich mit Vertretern
ren. Ich weiß nicht, ob Sie persönlich schon einmal in Is- aller gesellschaftlichen Gruppen getroffen hat, auch mit
rael waren, aber ich weiß, dass zumindest Kollegen von Kritikern der Regierung in Israel selbst, und damit ge-
Ihnen schon dort waren. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, zeigt hat, dass Deutschland Anteil am Schicksal Israels
dass in Israel sehr engagiert über dieses Thema diskutiert nimmt und sich insbesondere für Israel einsetzt.
wird. Es ist aber nicht Aufgabe des Deutschen Bundes- Herzlichen Dank.
tages, Israel hier im Rahmen einer Debatte an den Pran-
ger zu stellen und so zu tun, als sei die israelische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gesellschaft per se gegen die Verwirklichung von Men-
schenrechten. Das ist nicht so. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Vor dem nächsten Redebeitrag möchte ich Ihnen das
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
GRÜNEN) Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Selbst dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung des Ein-
wenn sie an dieser Stelle Defizite hat, satzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unter-
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: stützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische
„Defizite“?) Angriffe gegen die USA“ bekannt geben: abgegebene
Stimmen 557, Jastimmen 308, Neinstimmen 249. Ent-
die angesprochen gehören, weigere ich mich, eine Pau- haltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist da-
schalverurteilung vorzunehmen. mit angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8649
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Endgültiges Ergebnis Manfred Grund Matthias Lietz Carola Stauche (C)
Abgegebene Stimmen: 557; Monika Grütters Dr. Carsten Linnemann Dr. Frank Steffel
davon Dr. Karl-Theodor Freiherr Patricia Lips Erika Steinbach
zu Guttenberg Dr. Jan-Marco Luczak Christian Freiherr von Stetten
ja: 308
Olav Gutting Dr. Michael Luther Dieter Stier
nein: 249 Florian Hahn Karin Maag Gero Storjohann
Holger Haibach Hans-Georg von der Marwitz Stephan Stracke
Ja Dr. Stephan Harbarth Andreas Mattfeldt Max Straubinger
Jürgen Hardt Stephan Mayer (Altötting) Karin Strenz
CDU/CSU Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Meister Thomas Strobl (Heilbronn)
Dr. Matthias Heider Maria Michalk Lena Strothmann
Peter Altmaier
Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Michael Stübgen
Peter Aumer
Frank Heinrich Dr. Mathias Middelberg Dr. Peter Tauber
Dorothee Bär
Rudolf Henke Philipp Mißfelder Antje Tillmann
Thomas Bareiß
Michael Hennrich Dietrich Monstadt Dr. Hans-Peter Uhl
Norbert Barthle
Jürgen Herrmann Marlene Mortler Arnold Vaatz
Günter Baumann
Ansgar Heveling Dr. Gerd Müller Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Ernst-Reinhard Beck
Ernst Hinsken Stefan Müller (Erlangen) Stefanie Vogelsang
(Reutlingen)
Peter Hintze Nadine Schön (St. Wendel) Andrea Astrid Voßhoff
Manfred Behrens (Börde)
Christian Hirte Dr. Philipp Murmann Marco Wanderwitz
Dr. Christoph Bergner
Robert Hochbaum Bernd Neumann (Bremen) Kai Wegner
Peter Beyer
Karl Holmeier Michaela Noll Marcus Weinberg (Hamburg)
Steffen Bilger
Franz-Josef Holzenkamp Dr. Georg Nüßlein Peter Weiß (Emmendingen)
Clemens Binninger
Anette Hübinger Franz Obermeier Sabine Weiss (Wesel I)
Peter Bleser
Thomas Jarzombek Eduard Oswald Ingo Wellenreuther
Dr. Maria Böhmer
Dieter Jasper Henning Otte Karl-Georg Wellmann
Wolfgang Bosbach
Dr. Franz Josef Jung Dr. Michael Paul Peter Wichtel
Norbert Brackmann
Andreas Jung (Konstanz) Rita Pawelski Annette Widmann-Mauz
Klaus Brähmig
Dr. Egon Jüttner Ulrich Petzold Klaus-Peter Willsch
Michael Brand
Bartholomäus Kalb Dr. Joachim Pfeiffer Elisabeth Winkelmeier-
Dr. Reinhard Brandl
Hans-Werner Kammer Sibylle Pfeiffer Becker
Helmut Brandt
Steffen Kampeter Beatrix Philipp Dagmar Wöhrl
Dr. Ralf Brauksiepe
Alois Karl Christoph Poland Dr. Matthias Zimmer
Dr. Helge Braun
Bernhard Kaster Ruprecht Polenz Wolfgang Zöller
Heike Brehmer
Siegfried Kauder (Villingen- Daniela Raab Willi Zylajew
(B) Ralph Brinkhaus (D)
Gitta Connemann Schwenningen) Thomas Rachel
Volker Kauder Eckhardt Rehberg FDP
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt Dr. Stefan Kaufmann Katherina Reiche (Potsdam) Jens Ackermann
Thomas Dörflinger Roderich Kiesewetter Lothar Riebsamen Christian Ahrendt
Marie-Luise Dött Eckart von Klaeden Josef Rief Christine Aschenberg-
Dr. Thomas Feist Ewa Klamt Klaus Riegert Dugnus
Enak Ferlemann Volkmar Klein Dr. Heinz Riesenhuber Daniel Bahr (Münster)
Ingrid Fischbach Jürgen Klimke Johannes Röring Florian Bernschneider
Hartwig Fischer (Göttingen) Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Sebastian Blumenthal
Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig Erwin Rüddel Claudia Bögel
Axel E. Fischer (Karlsruhe- Jens Koeppen Albert Rupprecht (Weiden) Nicole Bracht-Bendt
Land) Dr. Kristina Schröder Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Breil
Dr. Maria Flachsbarth Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble Rainer Brüderle
Klaus-Peter Flosbach Dr. Rolf Koschorrek Dr. Andreas Scheuer Angelika Brunkhorst
Dr. Hans-Peter Friedrich Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Ernst Burgbacher
(Hof) Thomas Kossendey Norbert Schindler Marco Buschmann
Michael Frieser Michael Kretschmer Tankred Schipanski Sylvia Canel
Dr. Michael Fuchs Gunther Krichbaum Georg Schirmbeck Helga Daub
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Günter Krings Christian Schmidt (Fürth) Reiner Deutschmann
Alexander Funk Rüdiger Kruse Patrick Schnieder Dr. Bijan Djir-Sarai
Ingo Gädechens Bettina Kudla Dr. Ole Schröder Patrick Döring
Dr. Thomas Gebhart Dr. Hermann Kues Bernhard Schulte-Drüggelte Mechthild Dyckmans
Norbert Geis Günter Lach Uwe Schummer Rainer Erdel
Alois Gerig Dr. Karl A. Lamers Armin Schuster (Weil am Jörg van Essen
Eberhard Gienger (Heidelberg) Rhein) Ulrike Flach
Josef Göppel Andreas G. Lämmel Detlef Seif Otto Fricke
Peter Götz Dr. Norbert Lammert Johannes Selle Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Götzer Katharina Landgraf Reinhold Sendker Dr. Wolfgang Gerhardt
Ute Granold Ulrich Lange Dr. Patrick Sensburg Hans-Michael Goldmann
Reinhard Grindel Dr. Max Lehmer Bernd Siebert Heinz Golombeck
Hermann Gröhe Paul Lehrieder Thomas Silberhorn Joachim Günther (Plauen)
Michael Grosse-Brömer Dr. Ursula von der Leyen Johannes Singhammer Dr. Christel Happach-Kasan
Markus Grübel Ingbert Liebing Jens Spahn Heinz-Peter Haustein
8650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Manuel Höferlin SPD Christine Lambrecht DIE LINKE (C)
Elke Hoff Christian Lange (Backnang)
Ingrid Arndt-Brauer Jan van Aken
Birgit Homburger Rainer Arnold Dr. Karl Lauterbach Agnes Alpers
Dr. Werner Hoyer Heinz-Joachim Barchmann Steffen-Claudio Lemme Herbert Behrens
Heiner Kamp Dr. Hans-Peter Bartels Gabriele Lösekrug-Möller Karin Binder
Michael Kauch Klaus Barthel Kirsten Lühmann Matthias W. Birkwald
Dr. Lutz Knopek Sören Bartol Katja Mast Heidrun Bluhm
Pascal Kober Bärbel Bas Hilde Mattheis Steffen Bockhahn
Dr. Heinrich L. Kolb Dirk Becker Petra Merkel (Berlin) Christine Buchholz
Gudrun Kopp Uwe Beckmeyer Ullrich Meßmer Dr. Martina Bunge
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Matthias Miersch Roland Claus
Sebastian Körber Gerd Bollmann Franz Müntefering Sevim Dağdelen
Holger Krestel Klaus Brandner Dr. Rolf Mützenich Dr. Diether Dehm
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Willi Brase Dietmar Nietan Heidrun Dittrich
Heinz Lanfermann Bernhard Brinkmann Manfred Nink Werner Dreibus
Sibylle Laurischk (Hildesheim) Holger Ortel Dr. Dagmar Enkelmann
Harald Leibrecht Edelgard Bulmahn Heinz Paula Klaus Ernst
Lars Lindemann Ulla Burchardt Johannes Pflug Nicole Gohlke
Dr. Martin Lindner (Berlin) Martin Burkert Joachim Poß Diana Golze
Michael Link (Heilbronn) Petra Crone Dr. Wilhelm Priesmeier Annette Groth
Dr. Erwin Lotter Dr. Peter Danckert Dr. Sascha Raabe Dr. Gregor Gysi
Martin Dörmann Mechthild Rawert Heike Hänsel
Oliver Luksic
Elvira Drobinski-Weiß Gerold Reichenbach Dr. Rosemarie Hein
Horst Meierhofer
Garrelt Duin Dr. Carola Reimann Inge Höger
Patrick Meinhardt
Sebastian Edathy Dr. Barbara Höll
Gabriele Molitor Sönke Rix
Siegmund Ehrmann Andrej Hunko
Jan Mücke René Röspel
Dr. h. c. Gernot Erler Ulla Jelpke
Petra Müller (Aachen) Petra Ernstberger Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen) Dr. Lukrezia Jochimsen
Burkhardt Müller-Sönksen Karin Evers-Meyer
Michael Roth (Heringen) Katja Kipping
Dr. Martin Neumann Gabriele Fograscher
Marlene Rupprecht Harald Koch
(Lausitz) Dr. Edgar Franke
(Tuchenbach) Caren Lay
Dirk Niebel Dagmar Freitag Ralph Lenkert
Cornelia Pieper Peter Friedrich Anton Schaaf
Michael Leutert
Gisela Piltz Sigmar Gabriel Axel Schäfer (Bochum)
Stefan Liebich
(B) Dr. Birgit Reinemund Martin Gerster Bernd Scheelen (D)
Dr. Gesine Lötzsch
Dr. Peter Röhlinger Iris Gleicke Marianne Schieder
Thomas Lutze
Dr. Stefan Ruppert Ulrike Gottschalck (Schwandorf)
Ulrich Maurer
Björn Sänger Angelika Graf (Rosenheim) Werner Schieder (Weiden) Dorothee Menzner
Frank Schäffler Kerstin Griese Ulla Schmidt (Aachen) Cornelia Möhring
Christoph Schnurr Michael Groschek Silvia Schmidt (Eisleben) Niema Movassat
Jimmy Schulz Michael Groß Carsten Schneider (Erfurt) Wolfgang Nešković
Marina Schuster Wolfgang Gunkel Swen Schulz (Spandau) Thomas Nord
Dr. Erik Schweickert Hans-Joachim Hacker Ewald Schurer Richard Pitterle
Werner Simmling Bettina Hagedorn Dr. Martin Schwanholz Yvonne Ploetz
Judith Skudelny Klaus Hagemann Rolf Schwanitz Ingrid Remmers
Dr. Hermann Otto Solms Michael Hartmann Stefan Schwartze Paul Schäfer (Köln)
(Wackernheim) Rita Schwarzelühr-Sutter Michael Schlecht
Joachim Spatz
Hubertus Heil (Peine) Dr. Carsten Sieling Dr. Ilja Seifert
Dr. Max Stadler
Rolf Hempelmann Sonja Steffen Kathrin Senger-Schäfer
Torsten Staffeldt Dr. Barbara Hendricks
Dr. Rainer Stinner Peer Steinbrück Sabine Stüber
Gustav Herzog Dr. Frank-Walter Steinmeier Alexander Süßmair
Stephan Thomae Gabriele Hiller-Ohm
Florian Toncar Christoph Strässer Dr. Kirsten Tackmann
Petra Hinz (Essen) Dr. Axel Troost
Serkan Tören Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Frank Hofmann (Volkach) Alexander Ulrich
Johannes Vogel Franz Thönnes
Christel Humme Kathrin Vogler
(Lüdenscheid) Josip Juratovic Wolfgang Tiefensee
Dr. Daniel Volk Rüdiger Veit Johanna Voß
Oliver Kaczmarek
Dr. Guido Westerwelle Ute Vogt Harald Weinberg
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein Dr. Marlies Volkmer Katrin Werner
Dr. h. c. Susanne Kastner
Andrea Wicklein Jörn Wunderlich
Dr. Volker Wissing Ulrich Kelber
Heidemarie Wieczorek-Zeul Sabine Zimmermann
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff BÜNDNIS 90/
Daniela Kolbe (Leipzig)
Nein (Wolmirstedt) DIE GRÜNEN
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme Uta Zapf Kerstin Andreae
CDU/CSU
Nicolette Kressl Dagmar Ziegler Marieluise Beck (Bremen)
Wolfgang Börnsen Angelika Krüger-Leißner Manfred Zöllmer Volker Beck (Köln)
(Bönstrup) Ute Kumpf Brigitte Zypries Cornelia Behm
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8651
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Birgitt Bender Thilo Hoppe Jerzy Montag Dr. Gerhard Schick (C)
Alexander Bonde Uwe Kekeritz Kerstin Müller (Köln) Dr. Frithjof Schmidt
Viola von Cramon-Taubadel Katja Keul Beate Müller-Gemmeke Dorothea Steiner
Ekin Deligöz Memet Kilic Dr. Konstantin von Notz Dr. Wolfgang Strengmann-
Katja Dörner Sven-Christian Kindler Omid Nouripour Kuhn
Hans-Josef Fell Maria Klein-Schmeink Friedrich Ostendorff Hans-Christian Ströbele
Dr. Thomas Gambke Ute Koczy Dr. Hermann Ott Dr. Harald Terpe
Kai Gehring Tom Koenigs Lisa Paus Markus Tressel
Britta Haßelmann Oliver Krischer Brigitte Pothmer Jürgen Trittin
Bettina Herlitzius Agnes Krumwiede Tabea Rößner Daniela Wagner
Winfried Hermann Renate Künast Claudia Roth (Augsburg) Wolfgang Wieland
Priska Hinz (Herborn) Markus Kurth Krista Sager Dr. Valerie Wilms
Ulrike Höfken Undine Kurth (Quedlinburg) Manuel Sarrazin Josef Philip Winkler
Bärbel Höhn Monika Lazar Elisabeth Scharfenberg
Ingrid Hönlinger Agnes Malczak Christine Scheel

Nun setzen wir die Debatte fort. Der nächste Redner Auch – hierüber sollten Sie noch einmal nachdenken;
ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Frak- ich weiß gar nicht, ob Sie das in Abrede stellen wollen –
tion. müssen Sie anerkennen, dass Israel in der Region weiter-
hin ein Rechtsstaat ist. Insbesondere im Verhältnis zu Is-
(Beifall bei der SPD) rael darf es nicht nur Schwarz-Weiß-Malerei geben.
Auch Palästinenser haben vor israelischen Gerichten
Dr. Rolf Mützenich (SPD): recht bekommen. Dieses Recht ist dann unter schwieri-
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- gen Bedingungen durchgesetzt worden. Auch das gehört
legen! In der Tat wird mit dem Antrag ein richtiges An- zur Realität dazu. Wenn man sich einer so schwierigen
liegen und ein Punkt angesprochen, mit dem man sich in Debatte um die Rechtsstaatlichkeit und um die Frage des
demokratischen Rechtsstaaten wird auseinandersetzen Völkerrechts stellt, dann müssen auch diese rechtsstaat-
müssen und auch dürfen. Insbesondere ist es wichtig, lichen Institutionen, worauf auch Palästinenser zugehen
dass internationale Organisationen, auch die Vereinten könnten, in einer solchen Debatte angesprochen werden.
Nationen, das getan haben. Deswegen fordern auch wir, Sie wissen aus den Diskussionen, die wir im Auswär-
(B) die SPD-Bundestagsfraktion, dass die Genfer Konven- tigen Ausschuss führen, dass es ein Problem ist, wenn ei- (D)
tion beachtet wird, der Zugang des Roten Kreuzes zu nem Staat die Existenz durch andere abgesprochen wird.
den Gefängnissen gewährleistet wird und die Möglich- Es kann sogar sein, dass dieser Staat möglicherweise
keiten, die den Vereinten Nationen in dieser Situation Handlungen unternimmt, die wir nicht für richtig halten.
zur Verfügung stehen, genutzt werden. Das ist ein großes Problem, was diesen Konflikt in der
Region ausmacht. Deswegen wäre es gut, wenn wir hier
Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen – ich will
von der Schwarz-Weiß-Malerei absähen und uns den
versuchen, das ruhig zu tun –, dass ich glaube, dass Ihr
positiven Aspekten aus den letzten Tagen stellten.
Antrag durchaus auch im Zusammenhang mit Ihrem Ab-
stimmungsverhalten bezüglich der Freilassung von Dann möchte ich noch sagen, dass die arabische Frie-
Schalit steht. Das wissen Sie, und das werden Sie nicht densinitiative, die 2001/2002 vom saudi-arabischen Kö-
in Abrede stellen können. In Ihrem Antrag, in dem es um nig, aber auch von anderen arabischen Regierungschefs
politische Gefangene geht, zeichnen Sie ein sehr einsei- vorgestellt worden ist, möglicherweise wieder eine Sub-
tiges Bild von Israel, aber auch von Palästina. stanz in der politischen Diskussion bekommt. Viele neh-
men diese arabische Friedensinitiative wieder so ernst,
Was Nichtregierungsorganisationen, insbesondere pa- wie sie es verdient, nämlich dass die arabischen Staaten
lästinensische Nichtregierungsorganisationen, Ihnen vor- Israel Frieden in den Grenzen von 1967 garantieren. Das
machen, ist, dass beide Dinge in den Blick genommen ist ein wichtiger Aspekt.
werden müssen. Dort gibt es zum Beispiel die palästi-
nensische Menschenrechtsorganisation Addameer, die Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass diese Debatte
sich sowohl um die in Israel einsitzenden politischen Ge- sogar innerhalb der Hamas eine Rolle spielt.
fangenen kümmert, aber gleichzeitig auch über die poli- (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
tischen Gefangenen in Palästina spricht, insbesondere
darüber, was sowohl bei der Hamas als auch bei der Fa- Gestern hat Regierungschef Hanija gesagt, auch die Ha-
tah passiert ist, nämlich dass es dort auch politische Ge- mas würde sich einem in einer Volksabstimmung der pa-
fangene gibt. Wenn man schon versucht, ein solches lästinensischen Bevölkerung erlangten Votum beugen,
Thema für eine politische Debatte aufzubringen, die wenn diese Volksabstimmung das Existenzrecht Israels
sinnvoll ist und mit der versucht wird, auf beiden Seiten zum Schluss zum Ergebnis habe. Ich finde, diese Debat-
Änderungen zu erreichen – das wollen Sie, das wollen ten werden wir in die europäische Politik, die deutsche
auch wir –, dann hätte man dieses Thema auch anspre- Politik, die deutsche Außenpolitik im Nahen und Mittle-
chen sollen. Ich finde, an dieser Stelle haben Sie eine ren Osten aufnehmen müssen. Deswegen bin ich der
Chance vertan. Bundesregierung dankbar dafür, dass sie mit anderen
8652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Rolf Mützenich


(A) Partnern innerhalb der Europäischen Union genau das keine Frage. Wir haben uns vor einigen Wochen mit dem (C)
kritisiert, was von Israel immer wieder als Friedenshin- Teilaspekt Gaza beschäftigt. In Gaza ist die Menschen-
dernis in den Weg gestellt wird, nämlich der Siedlungs- rechtssituation allenthalben unbefriedigend. Ich weise
bau. Genau dieser Punkt gehört mit dazu. Dazu gehört Sie darauf hin, welche unmenschliche Politik die Hamas
auch der Mut – darin unterstützen wir Sie –, dass das im- im Gazastreifen fortführt. Auch das gehört zum vollstän-
mer wieder angesprochen wird. digen Bild. Hier ist von der Einhaltung der Menschen-
rechte vonseiten der Hamas nicht die geringste Rede.
Die Reise des Bundesaußenministers in den Gaza-
streifen ist richtig gewesen. Dennoch werden wir nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
umhinkommen, Frau Staatsministerin, dass Sie dem SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
deutschen Parlament gegenüber zumindest andeuten Philipp Mißfelder [CDU/CSU] – Christine
müssen, was aus diesem Besuch erfolgt; denn das Pro- Buchholz [DIE LINKE]: Lenken Sie doch
blem ist doch, was die Nichtregierungsorganisationen in nicht vom Thema ab!)
ihrem gemeinsamen Bericht über die Situation im Ga-
zastreifen berichtet haben. Die humanitäre Situation ist Dort werden tagtäglich Menschenrechtsverletzungen
weiterhin eine Katastrophe. größeren Ausmaßes begangen.

(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, es fehlt Ihnen an Verständnis – vielleicht sind
Deswegen muss der Boykott, muss die Blockade gegen- Sie persönlich zu wenig in Israel gewesen –: Der Kern
über dem Gazastreifen aufgehoben werden. Genau das des Denkens jedes einzelnen Israelis ist primär nur von
gehört zu einer realistischen Politik, die auch hier eine einem Thema, dem Thema Sicherheit, geprägt. Das ist
Rolle hätte spielen müssen. verständlich. Noch heute fliegen Raketen auf israelische
Häuser, und Menschen werden verletzt. Jahrelang muss-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ten israelische Bürger fürchten, dass ihr Sitznachbar im
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Bus eine Bombe am Leibe trägt.
GRÜNEN)
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Interessiert Sie
Kollege Mißfelder, der Bundespräsident hat in der Tat
auch, was die Palästinenser denken?)
die richtigen Worte gefunden. Ich finde es auch richtig,
dass er die Angehörigen von Schalit besucht hat. Ich Ich erinnere Sie an das – ich sage das jetzt einmal so,
glaube, das war auch in unser aller Namen. Schließlich liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – dra-
haben wir hier im Bundestag gemeinsam einen Antrag matische Erlebnis von Herrn Fischer, in dessen Nähe, als
beschlossen, in dem die Freilassung des Soldaten Schalit er in Jerusalem war, eine Bombe hochgegangen ist.
(B) gefordert wird. Die Botschaften waren also richtig. Durch so ein Erlebnis wacht man richtig auf. Ich hatte (D)
ein solches Erlebnis nicht, aber eine Bombe ist dort ex-
Wir hier im Deutschen Bundestag und, ich glaube,
plodiert, wo ich eine Woche zuvor war. Dieses Urver-
insbesondere die europäischen Regierungen sind jetzt
ständnis über die Sicherheit Israels müssen wir immer
stärker gefordert. Nach den Kongresswahlen in den USA
im Sinn behalten, wenn wir über Israel richten und rech-
– die Befürchtungen sind offensichtlich Realität gewor-
ten.
den – haben der amerikanische Präsident und die ameri-
kanische Außenministerin nicht mehr die Unterstützung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
für eine Friedensinitiative für den Nahen und den Mittle- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
ren Osten. Möglicherweise müssen sie nun von der GRÜNEN)
Europäischen Union – auch von der deutschen Außen-
politik – stärker unterstützt werden. Sie hätten die Unter- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
stützung der SPD-Bundestagsfraktion und, ich glaube, Herr Kollege Stinner, gestatten Sie eine Zwischen-
des gesamten Hauses. frage der Kollegin Hänsel?
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Rainer Stinner (FDP):
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen; sonst
SES 90/DIE GRÜNEN) gerne, aber zu diesem Zeitpunkt heute Abend nicht
mehr.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es gibt, wie gesagt, problematische Menschenrechts-
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner situationen. Diese müssen wir an diesem Urverständnis
für die FDP-Fraktion. Israels spiegeln. Ich darf Ihnen sagen, liebe Kollegin von
den Linken: Frau Groth hatte eine Anfrage an die Bun-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten desregierung gestellt. Die Regierung hat Ihnen, Frau
der CDU/CSU) Groth, am 4. November dieses Jahres geantwortet und
erklärt, was genau sie tut und dass – das hat auch Herr
Dr. Rainer Stinner (FDP): Mißfelder gesagt – wir als Bundesregierung, als deut-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sches Parlament sehr kritisch betrachten, was hinsicht-
Ohne jeden Zweifel ist die Menschenrechtssituation im lich der Menschenrechte dort passiert. Jawohl, wir sagen
Nahen Osten für uns alle besorgniserregend. Das ist gar das auch hier ganz offen: In Israel sind einige Dinge pas-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8653
Dr. Rainer Stinner
(A) siert und passieren noch, die unseren hundertprozentigen nen nicht nahegeht, dass die Hamas Israel mit seiner (C)
Maßstäben nicht entsprechen. Das sprechen wir deutlich Auslöschung bedroht, dann kann ich nur sagen: Armes
an. Deutschland und arme Linke!
Ich glaube, wir wollen und werden nicht so weit ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hen, wie Sie das in Ihrem Antrag vorschlagen. In diesem Diese Drohung steht nach wie vor im Raum.
wird kursorisch die Freilassung sämtlicher politischer
Gefangener gefordert. Nun stellt sich die Frage, was Wir werden diesen Prozess weiterhin kritisch beglei-
politische Gefangene eigentlich sind. Nach meinem Ver- ten, Ihren Antrag heute aber aus voller Überzeugung und
ständnis sind politische Gefangene solche Gefangene, voller Inbrunst ablehnen.
die ausschließlich aufgrund ihrer politischen Äußerun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gen in Haft genommen werden. Viele der Gefangenen,
um die es sich hier handelt, waren politisch aktiv, haben
aber auch andere Dinge getan, die weiß Gott über nor- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
male politische Streitigkeiten hinausgehen, zum Beispiel Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die
das Werfen von Steinen. Das mag ja für manche Aus- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
druck einer bestimmten kulturellen Einstellung sein, für
mich ist es jedenfalls nicht Folklore, sondern durchaus Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ein Verbrechen, das entsprechend geahndet werden NEN):
sollte. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da wir heute Abend die Gelegenheit haben, über dieses
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Thema zu diskutieren, will ich, bevor ich zum Antrag
Von daher glaube ich, dass wir uns Ihrer pauschalen der Linken komme, kurz auf die aktuellen Entwicklun-
Forderung zu Recht nicht anschließen. Sehr wohl weist gen in Nahost eingehen. Herr Mützenich hat schon er-
die Bundesregierung, weist die Europäische Union auf wähnt: Aktuellen Tickermeldungen zufolge haben die
problematische Situationen hin. Man arbeitet daran. Der Palästinenser erklärt, für sie sei der Friedensprozess ge-
Dialog wird ständig gesucht. Das wissen wir, und das storben, weil es keine Verlängerung des Siedlungsmora-
wissen auch Sie. Wir haben es Ihnen, falls Sie es noch toriums gibt.
nicht wussten, am 4. November durch die Bundesregie- Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen: Es wäre
rung nochmals sehr deutlich bestätigen lassen. sehr bedauerlich, wenn es tatsächlich zu einem Ende der
Meine Damen und Herren, die Sicherheitslage in Tei- gerade erst begonnenen direkten Gespräche kommen
(B) len Israels hat sich zum Glück verbessert. Auch die Si- würde. Ich möchte an beide Seiten appellieren: Setzen (D)
cherheitslage in der Westbank wird Schritt für Schritt et- Sie diese Gespräche fort! Sie liegen nicht nur in Ihrem
was besser. Dort geschieht nämlich etwas, das bei uns zu eigenen Interesse, sondern auch im internationalen Inte-
wenig beachtet wird: Israelische und palästinensische Si- resse. Meine Bitte und Aufforderung an die israelische
cherheitsbehörden arbeiten in der Westbank vertrauens- Seite lautet: Eine Verlängerung des Siedlungsmoratori-
voll – ich nehme dieses Wort bewusst in den Mund – zu- ums muss doch, zumindest solange diese Gespräche an-
sammen, um dafür zu sorgen, dass keine weiteren dauern, möglich sein. Alles andere wäre im Hinblick auf
Bomben explodieren, keine weiteren Attentate verübt den Friedensprozess wirklich hinderlich. Man muss auch
werden etc. Das ist im Interesse Israels und, wie sich die Position der anderen Seite verstehen. Ich kann mir
zeigt, auch im wohlverstandenen Interesse der Palästi- nur wünschen, dass es zu einer Fortsetzung dieser Ge-
nenser. spräche kommt.
Die Palästinenser, jedenfalls die vernünftigen, wissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
genau, dass sie ihrem Ziel der Eigenstaatlichkeit, das wir bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord-
unterstützen, nur näher kommen können, wenn sie selbst neten der CDU/CSU)
dafür sorgen, dass in ihren Reihen keine Verbrechen be- Der Konflikt im Nahen Osten hat uns in diesem Jahr
gangen und Bombenattentate verfolgt und geahndet und schon öfter beschäftigt. Es ist uns im Deutschen Bundes-
die Attentäter abgeurteilt werden. Darum geht es. tag nicht nur gelungen, konstruktive Debatten über die-
Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir be- ses Thema zu führen, sondern wir haben gemeinsam
trachten die Situation in Israel durchaus kritisch. Aber auch substanzielle Beschlüsse gefasst, sowohl zur Auf-
wir wissen, dass Israel in einer Lage ist, in der sich kein hebung der Gaza-Blockade als auch zur Freilassung von
anderes Land der Welt befindet. Es steht immer noch die Gilad Schalit. Ich glaube – das entspricht auch den
Drohung im Raume, dieses Volk, das über 2 000 Jahre Rückmeldungen, die wir bekommen –, damit haben wir
geschunden wurde und gelitten hat, grundsätzlich zu als Deutscher Bundestag ein starkes Zeichen gesetzt, so-
vernichten. Auf diese Sondersituation wollen wir Rück- wohl in Richtung internationaler Gemeinschaft als auch
sicht nehmen. an die Adresse der Konfliktparteien.

(Mechthild Rawert [SPD]: Na ja! Das ist jetzt Ich bedaure allerdings, dass die entsprechenden An-
aber auch ein bisschen schwarz-weiß!) träge nicht von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht
werden konnten; das will ich an dieser Stelle sagen.
– Das mag für Sie dramatisch klingen. Ich sage: Die Si- Heute zum Beispiel haben wir wieder einmal über einen
tuation ist nicht so, wie ich sie gerne hätte. Wenn es Ih- interfraktionellen Antrag zur Verbesserung der Men-
8654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Kerstin Müller (Köln)


(A) schenrechtslage im Iran diskutiert. Ich möchte, da bald ten: Nur wenn palästinensische Gefangene freigelassen (C)
Weihnachtspause ist, vor allen Dingen an die CDU/ werden, bin ich auch für eine Freilassung von Gilad
CSU-Fraktion appellieren: Denken Sie doch einmal da- Schalit.
rüber nach! Es bringt nichts, die Linke pauschal unter
(Widerspruch der Abg. Christine Buchholz
Quarantäne zu stellen. Es ist doch besser, eine Auseinan-
[DIE LINKE])
dersetzung in der Sache zu führen und konkret zu sagen:
Dem stimmen wir zu, dem nicht. – Und wenn wir bei ei- – Doch, so liest sich Ihr Antrag. –
nem außenpolitischen Thema Übereinstimmung erzielt
haben, wäre es ein noch stärkeres Signal, wenn wir bei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
entsprechenden Anträgen auch gemeinsam abstimmen Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit, bitte.
würden. Sie, meine Damen und Herren von den Linken,
haben mit Ihrem Antrag zur Lage der palästinensischen
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gefangenen in Israel ein wichtiges Thema aufgesetzt.
Auch ich meine, wir dürfen die Augen nicht davor ver- NEN):
schließen, dass heute über 200 Personen in Israel in die- – Da steht: „Ebenso wie … fordern wir die Freilas-
ser sogenannten Administrativhaft einsitzen. Die palästi- sung der palästinensischen Gefangenen.“ Das führt mei-
nensische Menschenrechtsorganisation Addameer – Herr ner Meinung nach nicht zum Frieden, das führt nicht
Mützenich hat sie erwähnt – beziffert die Zahl auf 212 weiter. Gilad Schalit ist kein politischer Gefangener. Wir
im Oktober dieses Jahres. fordern seine Freilassung unabhängig davon, ob auch
palästinensische Gefangene freigelassen werden. Des-
Administrativhaft – das kritisieren wir auch an ande- halb werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
rer Stelle, bei anderen Ländern – heißt, eine Person kann
auf der Basis der vagen Annahme, sie stelle ein Sicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
heitsrisiko dar, festgenommen und eingesperrt werden – und bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg.
monatelang, ohne Verfahren, ohne dass Verteidiger aus- Christine Buchholz [DIE LINKE])
reichend Informationen über den Anklagegrund erhal-
ten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner ist nun der Kollege Michael Frieser
Ich will zu dieser Frage für meine Fraktion ganz klar für die CDU/CSU-Fraktion.
sagen: Das ist mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaat
und Menschenrechten nicht vereinbar. Ich sage auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sehr deutlich: Das muss man kritisieren, ganz besonders,
wenn auch Minderjährige Opfer einer solchen Praxis Michael Frieser (CDU/CSU):
(B) werden. Wir tun das; denn Menschenrechte sind unteil- (D)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
bar, und sie sind für alle verbindlich. gen! Gerade im Kontext des heutigen Tages mit einer
Es gibt allerdings einen Unterschied, ob diese Admi- ganzen Reihe von namentlichen Abstimmungen, die mit
nistrativhaft in Israel angewendet wird oder etwa in dem Thema „Frieden in der Welt“ und der Frage „Wie
China. In Israel haben wir es mit einer Demokratie zu kann unser Beitrag zu einer Befriedung aussehen?“ zu
tun, und zwar mit einer sehr lebendigen, und wir haben tun hatten – niemand hier in diesem Haus hat es sich bei
es mit einem gut funktionierenden Rechtsstaat zu tun, den namentlichen Abstimmungen leicht gemacht –,
Frau Buchholz. Deshalb meine auch ich, dass Israel sol- kommt Ihr Antrag mit dem sehr problematischen Titel
che Verfahren eigentlich nicht nötig hat. Wir jedenfalls „Den Frieden befördern“ wie ein Kanonenschlag daher.
haben die Erwartung, dass diese rechtsstaatlichen Prinzi- Alles andere ist leider Gottes der Fall.
pien auch gegenüber den Palästinensern eingehalten Ich glaube, wir haben schon einiges gehört. Der
werden. größte Fehler, der sich hinter diesem Antrag der Linken
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- verbirgt, ist sicherlich das Simplifizieren des Sachver-
SES 90/DIE GRÜNEN) haltes. Es geht immer um das ganz Schräge, um den Ver-
such, es möglichst irgendwie zu verschleiern.
Ich will aber trotzdem zu Ihrem Antrag sagen, dass
der Duktus den Eindruck erweckt, dass sie ihn quasi als (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Dann dif-
Antwort auf den Beschluss zur Befreiung von Gilad ferenzieren Sie mal konkret!)
Schalit hier als Kontrapunkt setzen. Das finde ich völlig Sie scheren höchst unterschiedliche Dinge und absolut
falsch. Denn ich finde, beide Sachen müssen für sich be- nicht mehr zu vergleichende Einzeltaten einfach über ei-
trachtet werden. nen – in diesem Zusammenhang leider Gottes – sehr gro-
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Betrachten ben Kamm. Das bedeutet am Ende, dass man, glaube
Sie das als falsch, aber stimmen Sie zu!) ich, niemandem mehr gerecht wird. Sie werden demjeni-
gen, der wirklich in erster Linie aus politischen Motiven
– Jetzt hören Sie an der Stelle mal zu! – in Israel inhaftiert wird, nicht gerecht, weil er gleichge-
stellt wird mit demjenigen, bei dem man, was das Exis-
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
tenzrecht anbetrifft, wirklich Sorge haben muss. Es wer-
Ich finde auch nicht, dass wir dann, wenn wir – wie Sie den alle über einen Kamm geschoren. Ich glaube, dass
schreiben – den Frieden fördern wollen, eine aufrech- wir anhand dieses Antrags deutlich machen können – er
nende Logik des „Auge um Auge“ zugrunde legen soll- ist der Beweis –, dass es gar kein wirkliches Interesse
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8655
Michael Frieser
(A) gibt, diesen Frieden in irgendeiner Art und Weise zu be- (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Haben Sie (C)
fördern. sich schon einmal mit den Organisationen un-
terhalten?)
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist
eine ungeheuerliche Unterstellung!) vielleicht nicht ausreichend in jedem Fall, aber diese
Möglichkeit besteht. Davon könnten sich andere Länder,
Es kommt kein Wort zum Existenzrecht des Staates die im Fokus stehen, wenn es um diese sicherheitstheo-
Israel vor. Es geht mit keinem Wort um Sicherheitsinte- retische und sicherheitspolitische Problematik geht, viel-
ressen. leicht ein Stück abschneiden. Ich glaube aber, auch da-
rum geht es Ihnen in Wahrheit nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ihnen geht Ich kann an dieser Stelle am Ende dieses Tages wirk-
es nicht um die Palästinenser!) lich nur dazu auffordern, dass die Linke in Deutschland
eine längst überfällige Klärung herbeiführt, und zwar
Es geht mit keinem Wort um die Tatsache, dass es auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staate Israel. Diese
um die Freilassung von Menschen geht, die nicht zu ver- Klärung wurde immer noch nicht geleistet. Sie haben
nachlässigende Straftaten mit einem vielleicht sogar ter- sich immer noch nicht von der fortwährenden Prägung
roristischen Hintergrund begangen haben. So können wir Ihrer Organisation durch den Antizionismus und den
dieses Thema sicherlich nicht angehen. Antisemitismus der DDR gelöst.
Ich glaube, dass es ein Hohn wäre, wenn wir dem An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
trag mit dem Titel „Den Frieden befördern – Politische
Gefangene in Israel freilassen“ zustimmen und damit et- Von dieser Vergangenheit haben Sie sich immer noch
was beantragen würden, wodurch der Frieden in diesem nicht verabschiedet.
Landstrich gefährdet würde, nämlich das Freilassen von Es ist bekannt, dass die DDR damals als einziger
Menschen, die am nächsten Tag wieder gegen den Staat Staat des Warschauer Paktes keine Beziehungen zu Is-
Israel vorgehen könnten. rael aufgenommen hat. Man wollte sich jahrelang nicht
zur Verantwortung für die Judenvernichtung im NS-Re-
(Beifall bei der CDU/CSU)
gime bekennen.
Ich glaube, mit diesem Antrag befördern Sie nicht den (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist
Frieden, sondern Sie befördern damit allenfalls die deut- eine Unterstellung! – Patrick Kurth [Kyffhäu-
sche Außenpolitik ins Abseits. Das ist das Einzige, was ser] [FDP]: Genau so ist das!)
(B) damit erreicht wird. Davon kann WikiLeaks nur träu- (D)
men. Ich muss aber ehrlich sagen: Dass damit eine sol- Das muss man aufarbeiten, und es wäre Ihre Pflicht ge-
che Katastrophe vorbereitet werden könnte, ist vielleicht wesen, genau das an dieser Stelle zu tun.
genau die Absicht, die hinter diesem Antrag steht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Unglaub- Broder hat schon gesagt, dass dieser Antizionismus
lich!) ein getarnter Antisemitismus ist. Es geht darum: Dieses
Dieser Verdacht bleibt zumindest bestehen. Schüren von Ressentiments – das müssen Sie sich vor-
halten lassen – kann letztendlich auch genau in die fal-
Wir haben in unserem Antrag zu den Ereignissen um sche Richtung führen.
die Gaza-Flottille, den wir gemeinschaftlich vorbereitet
(Zurufe von der LINKEN)
haben, darauf hingewiesen, dass es eben auch darum
geht, einen Gefangenenaustausch vorzubereiten. Auch Ich glaube, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass
das ist schon angesprochen worden. Ich glaube, die is- Ihre Äußerungen zum Existenzrecht Israels reine Lip-
raelische Regierung steht in dieser Hinsicht mehr als un- penbekenntnisse sind. Leider Gottes sind Sie nämlich
ter Druck. nicht in der Lage, das zu tun, was man eben tun müsste,
nämlich deutlich zu machen, dass man das Einhalten von
Geradezu infam ist es natürlich, dass Sie im Andeu- rechtsstaatlichen Prinzipien fordern kann, ohne auf der
tungsstil unterstellen – „nach Einschätzung mehrerer anderen Seite antisemitische Ressentiments zu bedienen.
Menschenrechtsorganisationen“ –, dass es zu Menschen-
rechtsverletzungen gekommen ist, und dass Sie dazu
auffordern, dass Menschenrechtsverletzungen unterblei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
ben sollen. Hier wird alles über einen Kamm geschoren. Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Es wird quasi gesagt, Folter sei an der Tagesordnung,
und es wird suggeriert, dass man in übersteigerter Form Michael Frieser (CDU/CSU):
als Mahner auftritt. Ich glaube, auch an dieser Stelle Ich will deshalb deutlich machen: Vielleicht stand
muss man sagen, dass Israel das einzige nach unseren hinter diesem Antrag nicht unbedingt ein antisemitischer
Maßstäben vorhandene rechtsstaatliche Prinzip immer Gedanke.
noch tatsächlich durchsetzen kann und dass es die Mög-
lichkeit gibt, dort auch rechtsstaatlich zu arbeiten und (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist
sich zur Wehr zu setzen; eine unglaubliche Unterstellung!)
8656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auswärtiger Ausschuss (C)


Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit. Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Michael Frieser (CDU/CSU): Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ich komme mit meinem letzten Satz zum Ende. – Viel- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
leicht kann und soll damit aber genau das erzeugt wer- Entwicklung
den. Ich kann Sie nur bitten: Werden Sie mit so etwas
nicht zum Katalysator für antisemitische Reaktionen, Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
egal von welcher Seite, ob von links oder von rechts. würfe auf den Drucksachen 17/3972 und 17/906 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
Vielen Dank. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wunderlich [DIE LINKE]: Das war wirklich Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:2)
eine Unverschämtheit!)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Hinz (Herborn), Birgitt Bender, Markus Kurth,
Ich schließe die Aussprache. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3545 mit dem Ti- Schutz von Patientinnen und Patienten bei der
tel „Den Frieden befördern – Politische Gefangene in Is- genetischen Forschung in einem Biobanken-
rael freilassen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist Gesetz sicherstellen
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit abge- – Drucksache 17/3790 –
lehnt. Die Fraktion Die Linke hat für den Antrag ge-
Überweisungsvorschlag:
stimmt, dagegen haben die Fraktionen der CDU/CSU Ausschuss für Bildung, Forschung und
und der FDP gestimmt. Enthalten haben sich die Frak- Technikfolgenabschätzung (f)
tion Bündnis 90/Die Grünen und die SPD-Fraktion. Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wir werden jetzt eine ganze Reihe von Überweisun- Ausschuss für Arbeit und Soziales
gen und Abstimmungen vornehmen. Dabei handelt es Ausschuss für Gesundheit
ich um Tagesordnungspunkte, bei denen die Reden zu Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Protokoll gegeben wurden. Es wurde interfraktionell
(B) vereinbart, dass ich die Namen der Redner nicht zu nen- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten René (D)
nen brauche; diese sind dem Protokoll zu entnehmen. Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
(Beifall)
Fraktion der SPD
Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten
Biobanken als Instrument von Wissenschaft
17 a und 17 b:1)
und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- prüfen und Missbrauch genetischer Daten und
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Über- Proben wirksam verhindern
tragung ehebezogener Regelungen im öffentli-
chen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften – Drucksache 17/3868 –
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 17/3972 – Ausschuss für Bildung, Forschung und
Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss (f) Innenausschuss
Rechtsausschuss Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Haushaltsausschuss
Beck (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Birgitt
Die Vorlagen auf den Drucksachen 17/3790 und 17/3868
Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
schüsse überwiesen werden. – Damit sind Sie einver-
wurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der
standen, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so
eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der
beschlossen.
Ehe im Bundesbeamtengesetz und in weiteren
Gesetzen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:3)
– Drucksache 17/906 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
Überweisungsvorschlag: gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Innenausschuss (f)
2) Anlage 10
1) Anlage 9 3) Anlage 11
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8657
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuer- gemein begrüßt worden. Derzeit ist die Benachrichti- (C)
gesetzen gung in Nachlasssachen dezentral und papiergebunden
organisiert. Die Orte, an denen die erbfolgerelevanten
– Drucksache 17/3025 –
Urkunden verwahrt werden, sind bei rund 5 200 ver-
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- schiedenen Stellen auf Karteikarten registriert. Diese
schusses (7. Ausschuss) Karteikarten befinden sich, sofern der Erblasser im In-
land geboren wurde, bei den Standesämtern am Ge-
– Drucksache 17/4052 – burtsort des Erblassers. In allen anderen Fällen sind die
Berichterstattung: Angaben in der sogenannten Hauptkartei beim Amtsge-
Abgeordnete Patricia Lips richt Schöneberg in Berlin registriert.
Ingrid Arndt-Brauer
Dr. Birgit Reinemund Es reicht ein Blick auf das derzeitige Verfahren, um
die offensichtlichen Mängel im Benachrichtigungswesen
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- zu erkennen: Zunächst wird das Standesamt des Sterbe-
empfehlung auf Drucksache 17/4052, den Gesetzent- ortes, beispielsweise vom Krankenhaus oder vom Pfle-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3025 in geheim, über den Tod des Erblassers informiert. Das
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Standesamt am Sterbeort ermittelt sodann die Stelle, bei
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- der die Verwahrangaben über ein Testament registriert
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- sein könnten, also beim Standesamt des Geburtsortes
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist oder beim Amtsgericht Schöneberg, und benachrichtigt
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali- diese Stelle postalisch über den Tod des Erblassers.
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfrak-
tionen und einer Enthaltung seitens der FDP-Fraktion Beim Standesamt des Geburtsortes bzw. beim Amts-
angenommen. gericht Schöneberg erfolgt als Nächstes eine manuelle
Prüfung, ob im dortigen Register irgendwelche Ver-
Wir kommen zur wahrangaben vorhanden sind. Falls ja, wird in einem
dritten Beratung nächsten Schritt die Stelle ermittelt, bei der das Testa-
ment aktuell verwahrt wird. Dies ist in der Regel das
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Amtsgericht im Gerichtsbezirk, in dem der Verstorbene
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – seinen Wohnsitz hatte. Nachdem die Verwahrstelle vom
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Standesamt über den Todesfall informiert wurde, infor-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der miert diese wiederum das Nachlassgericht und übersen-
(B) zweiten Beratung angenommen. det das Testament dorthin. Das Nachlassgericht schließ- (D)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: lich stellt auf Grundlage des Testaments den Erben
einen Erbschein aus.
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mo- Im gesamten Verfahren nehmen dabei weder die
dernisierung des Benachrichtigungswesens in Nachlassgerichte noch die Standesämter die Möglich-
Nachlasssachen durch Schaffung des Zentra- keiten moderner Kommunikations- und Speichermedien
len Testamentsregisters bei der Bundesnotar- wahr. Man mag es kaum glauben, aber noch heute wer-
kammer den alle Angaben über den Verwahrort des Testaments
oder eines Erbvertrages auf Papierkarteikarten erfasst.
– Drucksache 17/2583 – Bundesweit, so schätzt man, gibt es hiervon circa
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 15 Millionen. Neben den bereits beschriebenen kompli-
schusses (6. Ausschuss) zierten Meldewegen führen auch veraltete Verwahrdaten
und Kapazitätsgrenzen zu weiteren, nicht unerheblichen
– Drucksache 17/4063 – Verzögerungen. Man kann also auf den ersten Blick er-
Berichterstattung: kennen, dass dieses System veraltet, langsam und fehler-
Abgeordnete Ute Granold anfällig ist und darüber hinaus zu unnötig hohen
Christoph Strässer Verwaltungskosten führt. Kurz gesagt, das geltende Be-
Stephan Thomae nachrichtigungswesen stellt angesichts des technischen
Halina Wawzyniak Fortschritts einen verwaltungstechnischen Anachronis-
Ingrid Hönlinger mus dar, der dringend einer Modernisierung bedarf.
An dieser Stelle setzt das neue Konzept an. Das Ge-
Ute Granold (CDU/CSU): setz schafft die gesetzlichen Voraussetzungen, damit
Wir beraten heute abschließend über den vom Bun- künftig bei der Bundesnotarkammer ein elektronisch ge-
desrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ein- führtes, zentrales Register eingerichtet werden kann. In
richtung eines zentralen, elektronisch geführten Testa- diesem sollen dann alle erbfolgerelevanten Urkunden
mentsregisters bei der Bundesnotarkammer. Die registriert werden. Das Register soll also, so der Plan,
Erfahrungen aus der geltenden Benachrichtigungspra- die alten Karteikarten komplett ersetzen. Die Einrich-
xis zeigen, dass dieses System völlig veraltet und nicht tung und dauerhafte Führung des neuen Registers soll
mehr zeitgemäß ist. Die Zielsetzung und das Konzept des im Wege der mittelbaren Staatsverwaltung der Bundes-
Gesetzentwurfs sind daher zu Recht von Anfang an all- notarkammer als Registerbehörde zugewiesen werden,
8658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Ute Granold
(A) die der Rechtsaufsicht des Bundesjustizministeriums un- Konkretisierung der Ermächtigungsgrundlage für den (C)
terliegt. Erlass der Rechtsverordnung.
Mit dem neuen Register soll auch das Benachrichti- Intensiv haben wir uns zudem mit der Frage beschäf-
gungswesen deutlich vereinfacht werden: Die Standes- tigt, ob die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bun-
ämter werden verpflichtet, jeden Sterbefall der neuen desrates bedarf. Wir gehen davon aus, dass die Rege-
Registerbehörde mitzuteilen. Diese prüft sodann, ob im lung und Ausgestaltung des Benachrichtigungswesens
zentralen Testamentsregister Verwahrangaben vorliegen nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Landesjustiz-
und benachrichtigt dann im Wege der automatisierten verwaltungen haben wird. Daher sollten die Bundeslän-
Datenübertragung das Nachlassgericht sowie die ver- der hier stets eingebunden sein. Wir haben uns vor die-
wahrenden Stellen über den Sterbefall und etwaige Ver- sem Hintergrund entschieden, dass die Verordnung
wahrangaben. Damit ist gewährleistet, dass das Nach- zustimmungspflichtig sein soll.
lassgericht zeitnah von dem Tod und allen für das
Nachlassverfahren erforderlichen Informationen Kennt- Auch zum Schutz des informationellen Selbstbestim-
nis erlangt. Für die Erben ergibt sich somit der Vorteil, mungsrechts enthält die Beschlussempfehlung des
dass ihnen künftig deutlich schneller als bisher ein Erb- Rechtsausschuss eine Ergänzung: Es wird klargestellt,
schein ausgestellt wird. Darüber hinaus wird das Ver- dass die Erhebung und Verwendung der Daten auf das
fahren deutlich weniger fehleranfällig. für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben Erforderli-
che beschränkt bleibt.
Die Bundesnotarkammer steht jetzt vor der großen
Auf die Regelung eines bereichsspezifischen Aus-
technischen Herausforderung, zunächst alle in den Pa-
kunftsanspruchs haben wir hingegen bewusst verzichtet,
pierkarteikarten registrierten Informationen zu digitali-
da dem Erblasser ein solcher Anspruch bereits nach den
sieren und dann in das neue, elektronische Register zu
allgemeinen Vorschriften des Bundesdatenschutzes zu-
überführen. Dies ist in der Tat keine leichte Aufgabe.
steht und insofern für eine solche spezielle Regelung
Nach den guten Erfahrungen mit dem zentralen Register
keine Notwendigkeit besteht. Das haben uns auch die
für Vorsorgevollmachten können wir aber darauf ver-
Experten in den Beratungen noch einmal bestätigt. Zu-
trauen, dass die Bundesnotarkammer auch diese techni-
dem bestand das Risiko, dass man mit einem solchen be-
sche Herausforderung meistern und das neue Register
reichsspezifischen Anspruch Wertungswidersprüche
zeitnah an den Start bringen wird. Auch die im Vorfeld
zum Vorsorgeregister geschaffen hätte, für das es eine
durchgeführten Machbarkeitsstudien zeigen, dass hier
solche spezielle Regelung nicht gibt.
gründlich und sorgfältig geplant und kalkuliert wurde.
Insbesondere mit Blick auf die Anregungen der Experten Eine weitere und sicherlich auch für die Bürgerinnen
(B) im Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs und Bürger zentrale Rolle spielte in den Beratungen die (D)
haben wir in den Beratungen im Rechtsausschuss noch Höhe der künftigen, von der Bundesnotarkammer für die
diverse Änderungen eingefügt. Diese sind jedoch alle- Registrierung zu erhebende Gebühr. Die Einrichtung
samt nicht prinzipieller Natur und lassen aus guten des Registers sowie die Finanzierung der laufenden
Gründen im Übrigen das Grundkonzept unberührt. Ich Kosten des Registrierbetriebes sollen durch eine einma-
möchte im Folgenden nur die Wichtigsten davon kurz er- lige Registrierungsgebühr in Höhe von circa 15 Euro
läutern: gedeckt sein. Das ist ein Betrag, der fair, realistisch und
angesichts der für die Bürgerinnen und Bürger spürba-
Es ist davon auszugehen, dass nur in etwa 25 bis ren Verbesserung auch zumutbar ist.
30 Prozent der Sterbefälle eine letztwillige Verfügung
vorliegt, wovon wiederum ein Großteil eigenhändige Unabhängig davon wollen wir bei den Gebühren ein
Testamente sind, die sich nicht in amtlicher Verwahrung Höchstmaß an Transparenz und damit auch eine hohe
befinden. Bei einem Großteil der Meldungen an die Akzeptanz für das neue Register erreichen. Die Register-
Nachlassgerichte dürfte es sich folglich um sogenannte behörde soll deshalb verpflichtet werden, die Höhe der
Negativmeldungen handeln, die lediglich den Inhalt ha- Gebühren regelmäßig auf ihre Angemessenheit hin zu
ben, dass keine Verwahrangaben registriert sind. Ein überprüfen, um sie gegebenenfalls anpassen zu können.
Bedarf für derartige Negativmeldungen besteht an sich Wir erwarten, dass in Zukunft und hier insbesondere
nur in jenen Bundesländern, in denen die Nachlassge- nach erfolgter Refinanzierung der Einrichtungskosten
richte nach dem jeweiligen Landesrecht auch beim Feh- und Bildung einer betriebswirtschaftlich gebotenen
len einer verwahrten Verfügung die gesetzlichen Erben Rücklage die Gebühr gesenkt werden kann. Das zeigen
von Amts wegen zur ermitteln haben, also in Bayern und auch die positiven Erfahrungen beim ebenfalls von der
Baden-Württemberg. Bundesnotarkammer geführten Vorsorgeregister. Nach
der Inbetriebnahme konnten dort die Gebühren erheb-
Für die anderen Länder besteht hingegen kein Be- lich gesenkt werden. Wir gehen davon aus, dass das
darf, dass auch in besagten Negativfällen eine obligato- Bundesministerium der Justiz im Rahmen seiner Rechts-
rische Meldung an die Nachlassgerichte ergeht, da diese aufsicht und der Prüfung der Haushaltspläne der Regis-
nur auf Antrag der Erben tätig werden. Die anderen terbehörde regelmäßig auch die Höhe und Angemessen-
Länder sollen daher durch die geplante Rechtsverord- heit der Gebühren überprüfen und, soweit erforderlich,
nung, mit der die Details der Umsetzung geregelt wer- Anpassungen herbeiführen wird.
den sollen, die Möglichkeit erhalten, auf die Negativ-
meldung im Sterbefall dauerhaft zu verzichten. Der Abschließend und lediglich der Vollständigkeit halber
Änderungsvorschlag enthält hierzu eine entsprechende möchte ich noch einen anderen Punkt erwähnen, der die

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8659
Ute Granold
(A) Verlängerung der Hofraumverordnung um weitere fünf Bürger Zeit und die Verwaltungen Geld. Ein solches zen- (C)
Jahre zum Gegenstand hat. Die Hofraumverordnung trales Testamentsregister wird die Zettelwirtschaft in
würde ohne eine entsprechende gesetzliche Änderung den über 5 200 öffentlichen Stellen beenden, Synergien
zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen. Entgegen schaffen und somit die Arbeit der öffentlichen Stellen zu-
der ursprünglichen Erwartung gibt es in den neuen Län- gunsten der Erben erleichtern.
dern jedoch immer noch zahlreiche ungetrennte Hof-
räume, deren Auflösung noch nicht erfolgt ist. Aus die- Das neue elektronische Register wird bei der Bundes-
sem Grund bedarf es einer temporären Verlängerung, notarkammer entstehen. Die Bundesnotarkammer ver-
die wir an dieser Stelle regeln wollen. fügt bereits über elektronische Datenbanken zur Verwal-
tung von Namen und Adressen von Notaren und Amts-
Wir sind überzeugt, mit dem vorliegenden Gesetzent- gerichten. Sie verfügt auch über Erfahrungen mit der
wurf ein gutes Konzept zu haben. Das Benachrichti- Handhabung ähnlicher Register, zum Beispiel dem zen-
gungswesen in Nachlasssachen erfährt jetzt eine längst tralen Vorsorgeregister. Die Notarkammer geht davon
überfällige Erneuerung und wird auf den Stand der Zeit aus, dass die Überführung der Altdaten etwa fünf Jahre
gebracht. Es wird schneller, einfacher und weniger feh- in Anspruch nehmen wird. War vor 10 bis 15 Jahren ein
leranfällig. Das ist ein großer Fortschritt. solches Anliegen technisch noch gar nicht möglich, so
erscheint das Vorhaben nunmehr umsetzbar. Um eine
Christoph Strässer (SPD): länger andauernde Zweigleisigkeit des alten und des
Die Formulierung eines Testaments ist schon schwie- neuen Benachrichtigungssystems aber in jedem Fall zu
rig genug; das gilt nicht so sehr für die Form als für den vermeiden, sieht der nun vorliegende Änderungsantrag
Inhalt. Im Zweifel kann es der Erblasser nicht allen im Gegensatz zum ursprünglichen Gesetzentwurf gleich-
recht machen. Das wusste auch schon Goethe, als er wohl explizit eine Frist von sechs Jahren vor, innerhalb
schrieb: „Wenn ich scheid aus diesem Elend und lass der die Überführung der Altdaten abgeschlossen sein
hinter mir ein Testament, so wird daraus nur ein Zank soll. Das begrüße ich.
und weiß mir’s niemand keinen Dank.“ An diesem Pro-
blem können wir als Gesetzgeber nichts ändern. Aber Mit der Einführung eines neuen elektronischen Regis-
wir können das Verfahren und die Abwicklung zumindest ters gehen natürlich auch entsprechende Kosten einher.
für alle Beteiligten vereinfachen, beschleunigen und mit Das sind einmalig 12,6 Millionen Euro sowie jährlich
den uns zur Verfügung stehenden Mitteln modernisieren. anfallenden Kosten für die Pflege des Systems in Höhe
von 2,8 Millionen Euro. Diese Kosten übernimmt die
Viele Bürgerinnen und Bürger setzen sich frühzeitig Bundesnotarkammer. Die Rückfinanzierung soll über
mit dem Sterben auseinander und verfassen ihren letzten eine Registergebühr von 15 Euro pro Eintrag und über
(B) Willen. Viele Millionen hinterlegen diesen rechtzeitig bei Gebühren für Auskünfte laufen. Die Gebühren dienen (D)
einem Notar oder einem Amtsgericht. Über 15 Millionen nur der Finanzierung der Anlaufkosten, des Unterhalts
Testamente und Erbverträge werden zurzeit von den öf- und technischer Erneuerungen. Sobald eine Gewinn-
fentlichen Urkundenstellen in ganz Deutschland ver- zone erreicht wird, werden die Gebühren angepasst. Die
wahrt. Stirbt ein Erblasser, setzt dies einen schwerfälli- Gebühren sind also zweckgebunden. Der Break-even
gen Benachrichtigungsprozess in Gang. Die Bearbei- wird in etwa in zehn Jahren erwartet. Auch hier begrü-
tung eines Sterbefalls kann sich bei den zuständigen ßen wir es, dass im Sinne einer größeren Transparenz
Stellen unter Umständen über mehrere Monate hinzie- die Verpflichtung zur regelmäßigen Kontrolle der Ge-
hen. Grund für diesen langen Zeitraum ist die Tatsache, bühren durch die Registerbehörde auf ihre Angemessen-
dass die Angaben auf den Karteikarten im Laufe der Zeit heit nun ausdrücklich vorgeschrieben wird, um sie gege-
mangels regelmäßiger Aktualisierung und Pflege ihre benenfalls anpassen zu können. Die Umsetzung dieser
Richtigkeit verlieren können. Die Recherche des neuen Pflicht ist Gegenstand der Rechtsaufsicht des Bundes-
Verwahrungsorts der Urkunden kostet Zeit, was gleich- justizministeriums.
bedeutend ist mit höheren Personalkosten. Das bishe-
rige Registerwesen ist dezentral-zersplittert, papierge- Die Idee eines zentralen elektronischen Testamentsre-
bunden, nicht auf dem neuesten Stand der Technik, gisters berücksichtigt auch die europäische Entwick-
kurzum: nicht mehr zeitgemäß. lung. Seit 2007 strebt die Europäische Kommission be-
reits eine Vereinheitlichung des Benachrichtigungs-
Dazu kommt die für den Bürger als auch für die zu-
systems in Nachlasssachen an, um das Leben der EU-
ständigen Stellen fehlende Transparenz dieses Benach-
Bürger zu erleichtern. Menschen werden innerhalb der
richtigungssystems. Im Zeitalter der Neuen Medien ist
EU immer mobiler. Deshalb haben bereits 19 europäi-
es notwendig und richtig, dass die Länder auf eine
sche Staaten ein zentrales Testamentsregister einge-
schnellere und sicherere Bearbeitung in Nachlasssachen
führt. Das elektronische Testamentsregister erleichtert
und auf das Austauschen von Informationen durch elek-
die europäische Vernetzung. EU-Projekte verschiedener
tronischen Schriftwechsel setzen wollen.
Länder zur Vernetzung laufen bereits. Es gibt aber kei-
Das neue Register sichert das Erbrecht des Bürgers nen Zwang zum Anschluss an diese Projekte. Die Vernet-
und sorgt für einen Effizienzgewinn. Mit dem Gesetzent- zung müsste noch vertraglich geregelt werden. Entschei-
wurf wird durch die Schaffung eines elektronischen zen- det sich Deutschland ebenfalls für ein solches Register,
tralen Testamentsregisters das Benachrichtigungswesen wäre aber aus europäischer Sicht bereits ein großer
in Nachlasssachen modernisiert. Damit sparen sowohl Schritt Richtung Vereinheitlichung in Nachlasssachen
die Gerichte und Notare als auch die Bürgerinnen und unternommen. Endlich würden die ersten Voraussetzun-

Zu Protokoll gegebene Reden


8660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Christoph Strässer
(A) gen für ein grenzüberschreitendes Auskunftswesen mög- setzgeber unbenommen, nach einem erfolgreichen Start (C)
lich gemacht. des elektronischen Testamentsregisters diese Frage in
Zukunft noch einmal anzugehen. Insgesamt sprechen
Bei der Sachverständigenanhörung im Rahmen des doch gute Gründe dafür, dem Gesetzentwurf zuzustim-
erweiterten Berichterstattergesprächs haben daneben men.
vor allem Fragen zum Datenschutz eine wichtige Rolle
gespielt; schließlich werden unter dem neuen System
mehr Daten zentral gebündelt als zuvor. Es sei aber Stephan Thomae (FDP):
noch einmal klargestellt: Das Register soll und wird Wenn Menschen einen letzten Willen schriftlich nie-
nicht die Urkunden oder deren Inhalt, sondern nur An- dergelegt haben, verlangt es unsere Rechtsordnung,
gaben enthalten, von wem das Testament oder der Erb- dass dieser zuverlässig umgesetzt wird. Mit der Schaf-
vertrag stammt und wo diese Urkunden hinterlegt sind. fung eines Zentralen Testamentsregisters kommen wir
Für die Bundesnotarkammer als öffentliche Körper- diesem Ziel erheblich näher.
schaft gilt außerdem unmittelbar das Bundesdaten- In dem zentralen Testamentsregister werden künftig
schutzgesetz. alle erforderlich Daten über amtlich verwahrte Testa-
Nun kann man darüber streiten, ob die Regelungen mente und Erbverträge zentral registriert. Ab dem
und Formulierungen des Bundesdatenschutzgesetzes an 1. Januar 2012 gelangen diese Daten dann im Zusam-
entsprechenden Stellen auch in den Gesetzentwurf ein- menhang mit Sterbefällen an die zuständigen Nachlass-
fließen sollten oder ob eine Verweisung ausreicht. Der gerichte, indem das zuständige Standesamt die Bundes-
Gesetzentwurf hat sich eher für eine schlanke Lösung notarkammer als die zuständige Registerbehörde über
entschieden. So wie die Datenschützer habe ich mich einen Todesfall informiert. Die Bundesnotarkammer
aber auch dafür eingesetzt, die Datensammlung auf das prüft daraufhin, ob im Zentralen Testamentsregister Ver-
Notwendigste zu begrenzen. Auch deshalb unterstützen wahrangaben über erbfolgerelevante Urkunden – also
wir den Änderungs- und Ergänzungsvorschlag, die Er- zum Beispiel Testamente, Erbverträge oder Ähnliches –
mächtigungsvorschrift weiter zu konkretisieren. der verstorbenen Person vorliegen. Falls dies der Fall
ist, informiert die Registerbehörde unverzüglich das zu-
Insbesondere wird im Sinne des Datenschutzes nun ständige Nachlassgericht und die verwahrenden Stellen.
ergänzt und klargestellt, dass die Erhebung und Verwen- Die Benachrichtigung erfolgt dabei elektronisch. Der
dung der Daten auf das „Erforderliche“ zu beschränken bislang vorgesehene, umständliche Mitteilungsweg vom
ist. Damit soll und kann auch nach den Auffassungen Sterbestandesamt über das Geburtsstandesamt bzw. die
der Datenschützer im erweiterten Berichterstatterge- Hauptkartei für Testamente, die die erbrechtlich rele-
spräch sichergestellt werden, dass lediglich die zum Auf- vanten Unterlagen verwahrende Stelle bis hin zum
(B) finden des Testaments erforderlichen Verwahrangaben Nachlassgericht, wird damit obsolet. Dieser neue Infor- (D)
gespeichert werden. Ansonsten wäre eine Ausweitung mationsweg ermöglicht eine wesentlich schnellere Um-
der Datenmenge über die Speicherung zusätzlicher An- setzung von letztwilligen Verfügungen.
gaben möglich, die diesem Zweck nicht dienen.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft aber auch
Dem Gebot der Datensparsamkeit soll eine weitere weitere Verbesserungen. So bietet ein Zentrales Testa-
Regelung Rechnung tragen: Es kann zwar auch Sterbe- mentsregister Notaren die Möglichkeit, zu recherchie-
fallmitteilungen mit dem Hinweis geben, dass es keine ren, ob ein Erblasser gegebenenfalls schon früher eine
Verwahrmitteilung über ein Testament gebe, sodass bindende erbrechtliche Verfügung getroffen und öffent-
überschießende Informationen entstehen könnten, mit lich hinterlegt hat, an die er sich jetzt nicht mehr erin-
denen die Gerichte nichts anfangen können. Doch das nert. Auf diesem Weg können Nachfolgeprobleme von
Gesetz ist hinreichend flexibel. Um Datenfriedhöfe zu vornherein für den Fall ausgeschlossen werden, dass die
vermeiden, wird die Möglichkeit für eine Ausnahme von Testierfreiheit durch eine frühere Verfügung einge-
der Benachrichtigungspflicht des Nachlassgerichts schränkt sein sollte.
durch Rechtsverordnung geschaffen, sodass die Länder
auf eine automatische „Negativbenachrichtigung“ über Darüber hinaus eröffnet ein Zentrales Testaments-
den Sterbefall dauerhaft für die Zukunft verzichten kön- register Deutschland die Gelegenheit, sich an grenz-
nen. überschreitenden Informationsaustauschen in Nachlass-
sachen zu beteiligen. Bislang haben 19 europäische
In den Bundesratsausschusssitzungen, aber auch in Staaten zentrale Testamentskarteien erstellt. In Zeiten
den Sitzungen des Bundestages hat der Gesetzentwurf zu immer größerer Mobilität der Bürgerinnen und Bürger
großen Teilen Zustimmung erfahren. Einige Kritik- der Europäischen Union muss Deutschland zu diesem
punkte, die einige Kollegen und ich teilten, konnten Kreis hinzustoßen. Dies zu ändern ist unter anderem die
durch die Änderungsvorschläge beseitigt werden. Die Bestrebung des vorliegenden Gesetzentwurfes.
verbliebenen Streitfragen wiegen nicht so schwer, als
dass man dem Gesetzentwurf nicht zustimmen könnte. Ein solches Gesetz kann nicht erlassen werden, ohne
Insgesamt ist die Einführung eines zentralen Testa- dass wir über den Datenschutz sprechen. Auch in diesem
mentsregisters positiv zu bewerten – für die Länder, den Aspekt findet das Gesetz die volle Zustimmung der FDP.
Bund, aber auch für die Bürger. Ich hätte mir durchaus Der Gesetzentwurf ist von Datenschützern geprüft und
vorstellen können, dass auch privat hinterlegte Testa- nicht beanstandet worden. So wurde zum Beispiel die
mente registriert werden können. Aber wie bei der Re- Datenerhebung auf das für den Betrieb des Zentralen
gistrierung von Vorsorgevollmachten bleibt es dem Ge- Testamentsregisters unerlässlich erforderliche Maß be-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8661
Stephan Thomae
(A) grenzt. Dadurch wurde dem Grundsatz der Datenspar- Bundesnotarkammer hat sich bereit erklärt, die Kosten (C)
samkeit Rechnung getragen. Weiter hat die FDP-Bun- vorzufinanzieren. An sich haben die Länder die Kosten
destagsfraktion in den Verhandlungen zu dem Gesetz dafür zu übernehmen. Die vorfinanzierten und auch die
dafür gesorgt, dass der Anspruch auf Information aus laufenden Kosten holt sich die Bundesnotarkammer von
§ 19 BDSG durch das Gesetz nicht beeinträchtigt wird. den Nutzerinnen und Nutzern zurück.
So wird gewährleistet, dass der Erblasser kostenfrei
Auskunft über von ihm selber in Verwahrung gegebene Es ist nicht auszuschließen, dass hier in absehbarerer
Testamente, Erbverträge oder ähnliche Dokumente ver- Zeit Gewinn erzielbar ist, für eine Dienstleistung, die
langen kann. der Staat gegenüber dem Steuerzahler erbringen muss.
Die ins Auge gefasste „moderate“ Registrierungsge-
Abschließend möchte ich erwähnen, dass die ge- bühr von 15 Euro soll nämlich mit einem Einsparpoten-
plante Gesetzesänderung niemanden zwingt, sein Testa- zial im Bereich der Justiz- und Innenverwaltung gerechtfer-
ment zu hinterlegen. Wer sein Testament privat verwal- tigt werden. Daneben kann die Bundesnotarkammer
ten möchte, kann dies auch in Zukunft tun. Wer seine Gebühren für Auskünfte aus dem zentralen Testaments-
letztwillentliche Verfügung aber registrieren lassen will, register und für jede Änderung, die der Erblasser beim
muss hierfür eine Gebühr bezahlen. Eine solche Gebüh- Notar beurkundet, verlangen.
renpflicht ist angemessen und auch erforderlich, da sie
zur Finanzierung des Zentralen Testamentsregisters bei- Die Bundesnotarkammer meint, dass die Gebühren
trägt. Dabei müssen die Belastungen für die Bürger aber gerade ausreichen, um die Kosten zu decken. Wenn die
so gering wie möglich gehalten werden. Die vorgese- Einrichtungskosten nach einigen Jahren eingespielt sind
hene Gebühr von 15 Euro pro Neuregistrierung muss re- und eine „Gewinnzone“ erreicht ist, sind die techni-
gelmäßig durch das Bundesministerium der Justiz als schen Anlagen angeblich schon wieder veraltet. Der Ge-
Aufsichtsbehörde auf ihre Angemessenheit überprüft winn soll dann für technische Erneuerungen genutzt
werden. Wenn die mit der Errichtung eines zentralen werden. Betrachten wir also die Kehrseite der Medaille,
Testamentsregisters verbundenen Kosten refinanziert fällt auf, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Re-
sind und eine betriebswirtschaftlich gebotene Rücklage gistrierungsbeitrag letztlich wohl Personalabbau in den
gebildet wurde, sollten die Gebühren nach Möglichkeit Landesverwaltungen finanzieren werden. Dabei gibt es
abgesenkt werden. viele Bereiche in der Justiz, wo dringend Personal ge-
Vor diesem Hintergrund unterstützt die FDP-Bundes- braucht wird.
tagsfraktion den vorliegenden Gesetzentwurf. Mir fallen da spontan die überlasteten Sozialgerichte
ein, deren Verfahrenspensum jenseits von Gut und Böse
(B) Jens Petermann (DIE LINKE): liegt und denen auch aufgrund der Hartz-IV-Fehlent- (D)
Die Modernisierung des Benachrichtigungswesens in scheidungen von Schwarz-Gelb eine neue Klagewelle
Nachlasssachen und die damit verbundene zukünftige ins Haus steht. Bereits jetzt fehlen dort nicht nur Richte-
Nutzung der technischen Möglichkeiten ist zu begrüßen. rinnen und Richter, sondern auch Rechtspflegerinnen,
Die Landesregierungen wollen zu diesem Zweck ein Rechtspfleger und Geschäftsstellenangestellte. Der
elektronisch geführtes zentrales Testamentsregister bei elektronische Zugriff der Nachlassgerichte auf die ge-
der Bundesnotarkammer einrichten. Diese soll mit der speicherten Daten bringt einen enormen Zeitgewinn bei
Benachrichtigung der Nachlassgerichte über den Tod der Suche, ob überhaupt und wo ein Testament amtlich
eines Erblassers und den Verwahrungsort erbfolgerele- verwahrt wird. Das Risiko eines Verlustes von Verwah-
vanter Urkunden eine bisher von der Justiz erfüllte Auf- rungsnachrichten auf dem Postweg bestünde damit nicht
gabe übernehmen. mehr; jedoch ist auch eine vollelektronische Datenbank
Die Registrierung von erbrechtlichen Urkunden bei nicht vor Fehlern sicher. Es besteht die Gefahr, dass Da-
den circa 5 200 Geburtsstandesämtern, bei im Inland ten bei der Übersendung und Speicherung durch techni-
registrierter Geburt, auf Karteikarten nach dem Zettel- sches oder menschliches Versagen verloren gehen; zu-
kastenprinzip mutet nicht nur vorsintflutlich an, sondern mal sich die Bundesnotarkammer zur Überführung der
bedeutet auch für den die Dienste in Anspruch nehmen- Verwahrungsnachrichten eines oder mehrerer Auftrag-
den Bürger unnötige bürokratische Hürden. Die kompli- nehmer bedienen können soll.
zierten Meldewege, erhebliche Verzögerungen und die Als überaus problematisch sehe ich die unzureichen-
Kapazitätsgrenzen der Hauptkartei beim Amtsgericht den datenschutzrechtlichen Vorkehrungen im Gesetz
Schöneberg für Erbfälle mit Auslandsbezug sind ein büro- selbst an. Es reicht nicht aus, konkrete Maßnahmen zur
kratischer Zopf aus dem vorigen Jahrhundert, der einer
Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit
grundlegenden Revision bedarf. Mit der nunmehr ge-
erst in einer Verordnung zu regeln. Nein, entsprechende
planten Einrichtung eines zentralen Registers beschrei-
Regelungen sollte der parlamentarische Gesetzgeber
tet das BMJ den richtigen Weg. Allerdings soll dieses
vielmehr selbst treffen. Der vorliegende Gesetzentwurf
löbliche Ziel in nicht gänzlich unbeanstandbarer Art
ist insoweit mangelhaft. Wenigstens hat man die Hin-
und Weise umgesetzt werden.
weise unserer Sachverständigen in dem erweiterten Be-
Durch die Einrichtung des zentralen Testamentsregis- richterstattergespräch beherzigt. Schön, dass man einen
ters entstehen voraussichtlich Kosten in Höhe von Schritt in die richtige Richtung gegangen ist, noch schö-
12,6 Millionen Euro, wobei die laufenden Kosten mit ner wäre es allerdings gewesen, wenn man den richtigen
jährlich 2,8 Millionen Euro veranschlagt werden. Die Weg bis zu Ende gegangen wäre.

Zu Protokoll gegebene Reden


8662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Jens Petermann
(A) Neben Namen, Geburtstag, Geburtsstandesamt, Tag Wir bezweifeln aber, dass das ausreichend ist. Das Bun- (C)
der Beurkundung, dem Vorhandensein einer Verfügung desdatenschutzgesetz ist in seiner Anwendung sehr weit;
von Todes wegen an sich und dem Verwahrungsort wer- insbesondere § 9 BDSG und die dazugehörende Anlage
den auch die Namen der Eltern gespeichert. Durch die finden eine weite Anwendung auf viele unterschiedliche
Speicherung dieser besonders schutzwürdigen Daten Lebenssachverhalte. Aus unserer Sicht wäre es sinnvol-
sind die Anforderungen an den Datenschutz bereichs- ler, eine passgenaue Regelung für das zentrale Testa-
spezifisch besonders hoch anzusetzen. Dennoch wird in mentsregister zu schaffen. Gerade im Hinblick auf die
diesem Gesetzentwurf die Datensicherheit nicht dem Größenordnung der Vorhabens – gerechnet wird mit Ge-
Maßstab des Bundesdatenschutzgesetzes gerecht. Des- samtkosten in Höhe von 12,6 Millionen Euro und laufen-
halb würde ich persönlich ein Testament nicht in amtli- den Kosten für den Registerbetrieb in Höhe von jährlich
che Verwahrung geben. 2,8 Millionen Euro – sollte der Datenschutz nicht nur
am Rande geregelt werden. Bloße Verweisungen auf das
Gestatten Sie mir noch einen letzten Hinweis. Ich be- Bundesdatenschutzgesetz bergen immer Lücken.
fürchte, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene Überlei-
tung der Altdaten weder reibungslos noch zeitnah von- Das haben wir auch in dem erweiterten Berichterstat-
statten gehen wird. Sorgen sie dafür, dass den tergespräch am 22. November 2010 ausführlich erör-
Bürgerinnen und Bürgern keine Nachteile entstehen, tert. Die Experten des Datenschutzes – Herr Holzapfel
wenn die Daten der Standesämter und des Amtsgerichts vom Berliner Beauftragten für Datenschutz und Infor-
Schöneberg durch Einscannen digitalisiert werden. Ob mationsfreiheit und Frau Körffer vom Unabhängigen
der eingeschlagene Weg hält, was er verspricht, sollte Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein –
kurzfristig evaluiert und im Interesse der Bürgerinnen haben in diesem Gespräch darauf hingewiesen, dass für
und Bürger gegebenenfalls korrigiert werden. die speziellen Bedürfnisse des Testamentsregisters be-
reichsspezifische Datensicherheitsregelungen geschaf-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fen werden sollten. Das würde mehr Datensicherheit ge-
Wir befinden uns heute in der abschließenden Bera- währleisten und mehr Klarheit schaffen. Noch eine
tung des Gesetzentwurfs zur Schaffung eines zentralen weitere Frage stellt sich: Für wen sollen die Überfüh-
Testamentsregisters. Ziel des Gesetzes ist es, das Auffin- rungsvorschriften und auch die Regelungen zum Daten-
den von Testamenten im Zeitpunkt des Eintritts eines schutz und zur Datensicherheit konkret gelten?
Erbfalls zu erleichtern. Das ermöglicht eine schnellere Der Gesetzentwurf sieht vor, dass sich die Registerbe-
und sicherere Klärung von Erbfällen. Das ist ein Anlie- hörde zur Überführung der Verwahrnachrichten eines
gen, das wir ausdrücklich begrüßen. oder mehrerer Auftragnehmer bedienen kann. In dem (D)
(B)
Im Gesetzentwurf sind verschiedene Auskunftsrechte, bereits erwähnten Expertengespräch mit den Daten-
zum Beispiel für Gerichte, geregelt. Im Entwurf ist aber schützern am 22. November 2010 kam klar zum Aus-
nicht ausdrücklich festgehalten, dass auch der Erblasser druck, dass bei Unterauftragsverhältnissen erhebliche
oder die Erblasserin selbst Auskunft über seine oder ihre Komplikationen mit dem Datenschutz und der Datensi-
letztwilligen Verfügungen vom Register erhalten kann. cherheit auftreten können. Sie haben daher angeraten,
Natürlich kann man sagen: Das ergibt sich implizit aus Unterauftragsverhältnisse auszuschließen. Auch sollte
der Verweisung aus diesem Gesetz in das Bundesdaten- aus Sicht der Datenschützer das Testamentsverzeichnis-
schutzgesetz. Dennoch ist es für den Bürger und die Bür- Überführungsgesetz für den Auftragnehmer zur Anwen-
gerin klarer und einfacher, zu erkennen, wenn sein und dung kommen. Das ist im Gesetzentwurf nicht geregelt
ihr Auskunftsanspruch direkt im einschlägigen Gesetz worden.
nachzulesen ist. Wenn wir schon neue Gesetze entwer-
Zusammenfassend kann ich sagen: Wir befürworten
fen, dann sollten wir sie auch so gestalten, dass nicht der
die Einführung eines zentralen Testamentsregisters. Je-
Bürger vor der Anwendung Rechtsbeistand aufsuchen
doch sehen wir den Datenschutz und die Datensicher-
muss.
heit in dem Gesetzentwurf nicht ausreichend gewähr-
Noch auf ein weiteres Thema möchte ich eingehen. In leistet. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung
dem Gesetz sind verschiedene Regelungen zum elektro- enthalten.
nischen Rechtsverkehr beinhaltet. Wir alle wissen, dass
der elektronische Rechtsverkehr den bürokratischen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Aufwand erheblich vereinfachen und beschleunigen
kann. Allerdings birgt die elektronische Übermittlung Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
von Daten auch Risiken. Für uns lauten die zentralen empfehlung auf Drucksache 17/4063, den Gesetzent-
Fragen: Wie können wir den Datenschutz bei einem so wurf des Bundesrats auf Drucksache 17/2583 in der
umfassenden Vorhaben lückenlos gewährleisten? Wie Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
können wir also das Grundrecht auf informationelle dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
Selbstbestimmung am besten gewährleisten? wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
Im Gesetzentwurf wird auf den Datenschutz einge- ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
gangen. Er ist mittels einer Verweisung auf das Bundes- SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
datenschutzgesetz geregelt. Das verkennen wir nicht. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8663
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Wir kommen zur ten Ansatz bei der Auswahl der verfügbaren Auswerte- (C)
mittel und -methoden. Die entsprechenden Erkenntnisse
dritten Beratung dürfen aber nicht im luftleeren Raum stehen bleiben;
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem sonst wären sie Wissen ohne Wert. Sie müssen einfließen
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – in eine möglicherweise notwendige flexible Nachsteue-
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist rung unseres militärischen und zivilen Engagements im
damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der Regionalkommando Nord. Das entspricht unserem par-
zweiten Beratung angenommen. lamentarischen Auftrag!
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Die CDU/CSU unterstützt alle Vorhaben, die den
Prozess der Übergabe in Verantwortung stärken. Dazu
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gehört, dass die Vereinten Nationen über die UNAMA
richts des Auswärtigen Ausschusses ihren Einfluss intensiver wahrnehmen und eng verzahnt
(3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen mit ISAF die „Transition“ nach gemeinsamen Kriterien
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vornehmen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang
Evaluierung der deutschen Beteiligung an den pragmatischen Ansatz des COMISAF, der uns ver-
ISAF und des deutschen und internationalen gangene Woche im Auswärtigen Ausschuss unterrichtet
Engagements für den Wiederaufbau Afghanis- hat. Während der Übergabe der Verantwortung wird es
tans seit 2001 ganz besonders auf Bündniskohäsion ankommen, um die
Wirkkraft unserer Arbeit – zivil und militärisch – zu stär-
– Drucksachen 17/1964, 17/4051 – ken. Eine Ausweitung des AWACS-Einsatzes zur Unter-
Berichterstattung: stützung des zivilen Luftverkehrs in Afghanistan wäre
Abgeordnete Roderich Kiesewetter zwar wünschenswert, ist aber wegen unserer Mandats-
Johannes Pflug grenze mit einer deutschen Beteiligung nicht möglich.
Dr. Bijan Djir-Sarai Bei aller detaillierten Betrachtung der Lage in Afgha-
Wolfgang Gehrcke nistan selbst müssen wir immer auch die Gesamtregion
Dr. Frithjof Schmidt im Auge behalten. Wir dürfen nicht die politischen Inte-
ressen der regionalen Akteure ausblenden, sondern müs-
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): sen diese vielmehr in unsere Handlungen einbeziehen.
Die bereits erwähnte Anhörung im Bundestag zur Ohne die Zusammenarbeit mit Pakistan kann es keine
Lage in Afghanistan und zum Kriterienkatalog der Bun- Lösung geben, wofür wiederum eine Entschärfung des
(B) desregierung letzte Woche hat für die Öffentlichkeit Konflikts mit Indien dienlich wäre. Auch die zentral- (D)
sichtbar gemacht, dass wir Parlamentarier verfügbare asiatischen Staaten, etwa Usbekistan und Tadschikistan,
wissenschaftliche Expertisen intensiv in unsere tägliche haben größtes Interesse an Stabilität in Afghanistan.
Arbeit einbinden. Die CDU/CSU hat zudem vor drei Ta- Iran ist bereits eingebunden und leidet unter dem Drogen-
gen einen Kongress zur zivil-militärischen Zusammen- export aus seinem Nachbarland, ebenso wie Russland.
arbeit veranstaltet. Auch hier haben wir wertvolle Anre- Wir begrüßen das russische Engagement zur Drogenbe-
gungen von den geladenen Experten erhalten. kämpfung in Afghanistan ausdrücklich. Es wird deut-
lich: Es ist im Interesse deutscher Außenpolitik, regio-
Es wird deutlich, wie umfassend wir externes Fach- nale Sicherheit durch eine geteilte Verantwortung der
wissen in unsere Arbeit einfließen lassen und uns, im regionalen Akteure im Sinne der Vereinten Nationen zu
konkreten Fall, mit unserem zivil-militärischen Engage- schaffen, um langfristige Stabilität zu erreichen.
ment in Afghanistan befassen. Dieser Rückgriff auf
Experten entlässt uns aber selbstverständlich nicht aus Für uns bleibt, auch in Anbetracht der anstehenden
der Verantwortung für den von uns mandatierten Ein- Debatte um die Verlängerung des Mandats im Januar,
satz. Genau dies wäre aber die Folge einer Evaluierung der afghanische Wille entscheidend: Wir unterstützen
durch eine wissenschaftliche Institution, die die Bundes- eine Mission der Vereinten Nationen, um die die afgha-
regierung aus der Pflicht nimmt, oder gar einer Kom- nische Regierung gebeten hat. Unser Einsatz ist kein
mission mit externen Experten als Substitut für unsere Selbstzweck, sondern dient der Stabilisierung Afghanis-
parlamentarische Arbeit. Dies fordern SPD und Grüne tans, damit des regionalen Umfelds und somit letztlich
in ihrem Antrag, den wir deshalb nicht mittragen kön- unserer eigenen Sicherheit. Für die Übergabe der Ver-
nen. Entscheidend ist, dass wir Parlamentarier unsere antwortung in Afghanistan ist es entscheidend, realisti-
politische Verantwortung wahrnehmen. sche Ziele und Zeitkorridore zu benennen. Auch hierzu
wird der Fortschrittsbericht der Bundesregierung einen
Der Kriterienkatalog der Bundesregierung und der wichtigen Beitrag leisten.
demnächst vorliegende Fortschrittsbericht, der einen
ganzheitlichen, zielführenden Ansatz mit guter Betonung
ziviler Aspekte verspricht, ermöglicht es uns Parlamen- Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
tariern, den Prozess der Übergabe in Verantwortung, In der vergangenen Woche hat der Auswärtige Aus-
die sogenannte Transition, in Afghanistan eng zu be- schuss eine öffentliche Anhörung zu unserem Engage-
gleiten. Jetzt gilt es zunächst, die bisher erfolgte Umset- ment in Afghanistan durchgeführt. Externe Sachverstän-
zung der in London und Kabul entschiedenen neuen dige haben uns ihre unabhängige Einschätzung der
Strategie auszuwerten. Dafür brauchen wir einen brei- Lage in Afghanistan gegeben. Anlass für diese Anhö-
8664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) rung war die Vorlage eines Katalogs von Kriterien gagements in Afghanistan durch eine Kommission. Wir (C)
durch die Bundesregierung, auf deren Grundlage unter haben in den letzten Monaten hierzu verschiedene Ge-
Federführung des Auswärtigen Amts von nun an halb- spräche miteinander geführt. Dabei ist klar geworden,
jährlich ein evaluierender ressortübergreifender Fort- dass beide Seiten, die Regierungsfraktionen sowie SPD
schrittsbericht unseres Engagements vorgelegt wird. und Grüne, auf Grundlage des von uns eingeforderten
Fortschrittsberichts den Afghanistan-Einsatz einer kon-
Die Regierungsfraktionen hatten dieses Vorgehen den tinuierlichen Bewertung unterziehen wollen.
Kollegen von SPD und Grünen in einem Schreiben An-
fang Oktober vorgeschlagen. Herr Erler und Herr Uns unterscheidet aber, dass wir eine Evaluation
Schmidt hatten für ihre Fraktionen zugestimmt. Es war nicht ausschließlich an Externe, etwa wissenschaftliche
gut, dass wir uns in einer öffentlichen Sitzung mit dem Experten, übertragen wollen. Wir sehen hier die Bun-
Kriterienkatalog der Bundesregierung und der Lage in desregierung in der Pflicht. Deshalb legt sie jetzt den ge-
Afghanistan unter Einbeziehung von externen Sachver- nannten Fortschrittsbericht vor. Für unsere Bewertung
ständigen befasst haben. Wir haben eine ernsthafte und des Berichts ziehen wir dann selbstverständlich Exper-
sehr sachliche Diskussion, die frei von politischer Pole- tise von außen hinzu; das haben wir ja mit der Anhörung
mik war, geführt. Das hat dem Bundestag gut angestan- gezeigt.
den.
Mit einer Kommission, die unser Engagement in Af-
Die Abzugsperspektive für unsere Soldaten im Ein- ghanistan bewerten würde, würde eine Arbeit nach au-
satz in Afghanistan, die wir mit dem Anfang des Jahres ßen verlagert, die vor allem wir Parlamentarier leisten
beschlossenen Strategiewechsel fest im Auge haben, müssen. Wir Abgeordnete, die den Einsatz in Afghanis-
muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort bemessen. tan mandatiert haben, stehen hier gegenüber unserer
Dafür müssen wir Kriterien definieren. Deshalb haben Bevölkerung und den Sodaltinnen und Soldaten im Ein-
die Regierungsfraktionen bereits im Frühjahr – noch satz in der Pflicht. Ein gleichberechtigtes Stimm- und
bevor SPD und Grüne ihren Antrag, den wir heute de- Mitentscheidungsrecht für externe Experten in einem zu-
battieren, vorgelegt haben – die Bundesregierung dazu sätzlichen Gremium darf es deshalb nicht geben.
aufgefordert, einen Katalog von Kriterien – neudeutsch
Entscheidend für die CDU/CSU ist, dass die Bundes-
„Benchmarks“ – sowie regelmäßige Fortschrittsbe-
regierung und wir Parlamentarier – niemand sonst – die
richte vorzulegen. Somit ist gewährleistet, dass wir den
politische Verantwortung für den Einsatz in Afghanistan
Prozess der Übergabe der Verantwortung in afghani-
haben und weiter intensiv wahrnehmen. Wir wollen
sche Hände intensiv parlamentarisch begleiten und be-
keine Auslagerung unserer Verantwortung. Deshalb leh-
werten können.
nen wir ihren Antrag ab.
(B) Diese Benchmarks und der Fortschrittsbericht, der (D)
im Dezember nun erstmals von der Bundesregierung Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
vorgelegt wird, müssen von uns Parlamentariern einer Bereits vor der Sommerpause hat die SPD-Fraktion
genauen Überprüfung unterzogen werden, bevor wir im gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den Antrag zur
Januar eine neue Mandatierung unseres Einsatzes dis- Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes eingebracht.
kutieren. Hierzu hat die Anhörung einen wichtigen Bei- Trotz intensiver Bemühungen unsererseits ist es nicht
trag geleistet. Aus unserer Sicht ist der Kriterienkatalog gelungen, einen fraktionsübergreifenden Antrag mit den
mit 27 Indikatoren umfassend und zielführend angelegt. Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP zustande
Es ist selbstverständlich, dass wir auch externe Ex- zu bringen. Uns ging es dabei vor allem darum, neun
pertise berücksichtigen und hinzuziehen. Dies geschieht Jahre nach Beginn des Afghanistan-Einsatzes einen un-
ja ständig. Wir alle lassen die Erfahrung von Nichtregie- geschminkten Blick auf das Erreichte, aber auch auf die
rungsorganisationen oder die Arbeit unserer Stiftungen Defizite unseres Engagements werfen zu lassen, um da-
oder die wissenschaftliche Analyse von Forschungs- raus die notwendigen Konsequenzen ziehen zu können.
institutionen und anderer in unsere Arbeit zu Afghanis- Das internationale Engagement befindet sich in einer
tan einfließen. kritischen Phase. 2011 wird von vielen als das Jahr der
Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg der Mission
Es ist aber bezeichnend, dass die Linke keinen Sach- angesehen. Deswegen hätten wir es außerordentlich be-
verständigen nominieren konnte. Es wollte sich schlicht- grüßt, wenn sich auch die Fraktionen von CDU/CSU
weg kein seriöser Experte hergeben für ihren aus- und FDP dazu hätten durchringen können, einer unab-
schließlich ideologisch getriebenen Populismus bezüg- hängigen, wissenschaftlichen Evaluation zuzustimmen.
lich eines Einsatzes, der seit 2001 von den Vereinten Na- Trotz zunächst positiver Signale hat die Koalition offen-
tionen jedes Jahr einstimmig mandatiert wurde. Es ist bar kalte Füße bekommen und eine unabhängige Eva-
doch kein Zufall, dass sie keinen Wissenschaftler ausfin- luation abgelehnt. Das bedauern wir zutiefst. Dabei hat
dig machen konnte, der ihre naive und scheinheilige Ar- die öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses
gumentation teilt, dass sich mit einem sofortigen Abzug am 23. November gezeigt, wie dringend notwendig eine
der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan über solche Evaluation wäre. Alle eingeladenen Expertinnen
Nacht alles zum Besten wendet. und Experten haben dies nicht zuletzt durch den Inhalt
ihrer Ausführungen eindringlich bestätigt.
SPD und Grüne fordern nun in ihrem Antrag zweier-
lei: eine wissenschaftliche Evaluierung durch eine ex- Nach wie vor wird der Aufbau politischer Institutio-
terne Institution sowie eine Begleitung des weiteren En- nen durch Korruption und Nepotismus erheblich behin-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8665
Dr. h. c. Gernot Erler
(A) dert. Sowohl die Präsidentenwahl im vergangenen Jahr Eine weitere Plage, unter der Afghanistan zu leiden (C)
als auch die Parlamentswahlen im September dieses hat, ist die grassierende Korruption. Die International
Jahres waren von gravierenden Missständen begleitet. Crisis Group, ICG, hat dies in ihrem kürzlich erschienen
Inzwischen wurde 27 Abgeordneten, die im September Bericht „Reforming Afghanistan’s Broken Judiciary“
vermeintlich gewählt worden waren, wegen erwiesener eindrucksvoll belegt. Dort heißt es unter anderem: „Die
Wahlmanipulationen ihr Mandat wieder aberkannt. So Einmischung des Präsidentenpalasts ist so intensiv, dass
schafft man kein Vertrauen in die politischen Institutio- selbst die von der Regierung zur Korruptionsbekämp-
nen Afghanistans. fung ernannten Untersuchungsbeamten durchaus von
dem engsten Beraterkreis des Präsidenten unter Druck
Gerade weil das Jahr 2011 mutmaßlich darüber ent- gesetzt werden, Fälle gegen Regierungsangestellte oder
scheiden wird, ob der Afghanistan-Einsatz letztendlich politische Kumpel/Gefolgsleute ,cronies‘ fallen zu las-
doch noch zu einem erfolgreichen Ende geführt werden sen.“ Wenn dieses Problem nicht ernsthaft angegangen
kann oder nicht, wäre eine unabhängige, wissenschaftli- wird, dann werden die Menschen in Afghanistan das
che Expertise dringend geboten gewesen. Die Probleme letzte Stückchen Vertrauen, das sie der Regierung und
beschränken sich nicht allein auf die militärische Situa- ihren Institutionen noch entgegenbringen, auch noch
tion. Wir alle wissen: Letztendlich kann auch ein militä- verlieren. Für die Zukunft Afghanistans verheißt das
rischer Erfolg nur dann dauerhaft von Bestand sein, nichts Gutes.
wenn er im zivilen Bereich unterfüttert wird. Was nützt
es, wenn in einem Distrikt die Taliban in die Flucht ge- Auch im militärischen Bereich gibt es zum Teil sehr
schlagen werden, sich an den Lebensverhältnissen der widersprüchliche Meldungen. So ist die Zahl der Bom-
Menschen aber nichts Grundlegendes ändert? Deutsch- benanschläge in Afghanistan nach Angaben der Interna-
land und die internationale Gemeinschaft haben ihre tionalen Schutztruppe ISAF in den vergangenen sechs
Mittel für den zivilen Wiederaufbau mit dem eingeleite- Monaten deutlich zurückgegangen. Bombenanschläge
ten Strategiewechsel der Londoner Konferenz vom Ja- machen inzwischen weniger als 50 Prozent der Angriffe
nuar 2010 deutlich erhöht. Das begrüßen wir. Zugleich gegen Soldaten und Zivilisten aus. Auf der anderen Seite
müssen wir aber feststellen, dass es offenbar große Pro- ist 2010 das bislang blutigste Jahr für die NATO-Trup-
bleme beim Mittelabfluss und bei der Umsetzung gibt. pen seit Beginn des Einsatzes in Afghanistan. Seit Ja-
Auch das hätten wir gerne von einer unabhängigen Seite nuar 2010 verloren mehr als 660 ausländische Soldaten
näher beleuchtet bekommen, um gegebenenfalls noch am Hindukusch ihr Leben, so viel wie in keinem Jahr zu-
gegensteuern zu können. vor.
Inzwischen hören wir, dass die NATO beabsichtigt, im
Aus vielen Berichten und aus eigener Anschauung kommenden Frühjahr mit der Übergabe von drei Pro- (D)
(B) weiß ich, dass sich die Umsetzung zahlreicher sinnvoller
vinzen im Norden Afghanistans – Sar-i-Pol, Samangan
Projekte verzögert, weil qualifizierte Fachleute nur und Badakhshan – zu beginnen. Wir wüssten gerne von
schwer zu finden sind. Häufig bildet sich eine erhebliche der Bundesregierung, ob diese Berichte zutreffen und,
Diskrepanz zwischen dem, was mit der afghanischen falls ja, welche Konsequenzen das für die Stationierung
Seite vereinbart wird, und dem, was am Ende tatsächlich der Bundeswehr vor Ort nach sich zieht. Die SPD hat
realisiert wird. bereits Anfang dieses Jahres gefordert, die Übergabe
Lassen Sie mich das am Beispiel des im Frühjahr der Sicherheitsverantwortung im Jahr 2011 einzuleiten,
2010 in Anwesenheit von Entwicklungshilfeminister um damit die Voraussetzungen für den Rückzug der Bun-
Niebel feierlich eröffneten Teacher Training Center, deswehr zu schaffen. Wir halten an diesem Fahrplan
TTC, in Masar-i-Scharif erläutern. Ich hatte Gelegen- fest. Die Bundesregierung hat sich damals zunächst nur
heit, dieses Projekt im September dieses Jahres zu sehr widerwillig auf dieses Datum eingelassen. Inzwi-
besichtigen. Dort wurde mit Hilfe der GTZ ein hervorra- schen spricht Außenminister Westerwelle davon, dass
2012 mit dem Rückzug der Bundeswehr begonnen wer-
gend ausgestattetes Ausbildungsgebäude plus anliegen-
den soll. Damit steht er jedoch im Widerspruch zu seiner
dem Wohnheim für die auszubildenden Lehrer errichtet.
Regierungserklärung vom 10. Februar 2010, als er fest-
Im Vorfeld wurde mit der afghanischen Seite vertraglich
stellte, bereits Ende 2011 mit dem Rückzug beginnen zu
vereinbart, dass sie dafür Sorge zu tragen haben, dass
wollen. US-Präsident Obama hat schon im Dezember
das Gebäude mit Strom versorgt und die Lehrkräfte re-
2009 in seiner Westpoint-Rede erklärt, mit dem Rückzug
gelmäßig bezahlt werden. Leider musste ich bei meinem
der amerikanischen Truppen Mitte 2011 beginnen zu
Besuch feststellen, dass die afghanische Seite ihren Ver-
wollen. Dies muss auch Richtschnur für den Beginn der
pflichtungen bislang gar nicht bzw. nur unzureichend
Reduzierung des deutschen ISAF-Kontingents sein. Wir
nachgekommen ist und damit ein sehr sinnvolles Pro-
wollen von der Bundesregierung daher Klarheit darüber
jekt, in das von deutscher Seite bereits viel investiert
haben, welches Datum für sie jetzt gilt – 2011 oder 2012.
wurde, zu scheitern droht, bevor es richtig begonnen
hat, und zwar nicht aufgrund von Talibanangriffen, son- Anfang dieses Jahres lehnte es die Bundesregierung
dern aufgrund des Unwillens bzw. Unvermögens der of- zunächst entschieden ab, sich auf ein Datum für den Ab-
fiziellen afghanischen Institutionen. Solche Beispiele zug der letzten Kampftruppen festzulegen, als wir den
lassen sich zahlreiche finden. Sie sind eine der Ursachen Korridor 2013 bis 2015 vorgeschlagen haben. Inzwi-
dafür, warum der zivile Aufbau in Afghanistan nicht so schen ist dieses Datum international längst gesetzt. Der
vorankommt, wie von uns erwartet und wie er für das NATO-Gipfel in Lissabon hat dies gerade erst bestätigt.
Land dringend nötig wäre. Die Bundesregierung konnte daher gar nicht anders, als

Zu Protokoll gegebene Reden


8666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) sich diesem Fahrplan anzuschließen. Doch bis dahin ist Wir alle wissen aber auch, dass die Umsetzung nicht (C)
es noch ein schwieriger und komplizierter Weg. einfach ist. Sie erfordert noch große Anstrengungen und
unser weiteres Engagement. Stress und Eile bei der Um-
Es hätte dieser Bundesregierung gut zu Gesicht ge- setzung helfen weder der afghanischen Bevölkerung,
standen, wenn sie sich auf das Verfahren einer unabhän- noch können sie die realen regionalen und globalen Si-
gigen Analyse von dritter Seite eingelassen hätte. Da sie cherheitsgefahren bannen. Die Sicherheit, die Gerichts-
das nicht getan hat, sehen wir erwartungsvoll dem ange- barkeit und auch die Regierungsführung müssen weiter
kündigten Fortschrittsbericht entgegen, den sie uns in verbessert werden, damit die Aufständischen wirksam
wenigen Tagen vorlegen will. Was wir erwarten, ist eine bekämpft und Bedingungen für eine nachhaltige politi-
schonungslose Analyse der gegenwärtigen Lage in Af- sche Lösung geschaffen werden können. Auch insofern
ghanistan, in der keine Schönfärberei betrieben wird bin ich sehr zufrieden mit einem Ergebnis der Kabuler
und in der Probleme und Herausforderungen, vor denen Konferenz: Die afghanische Regierung wird stärker als
die internationale Gemeinschaft nach wie vor steht, of- bisher in die Pflicht genommen. Das ist jetzt schon unbe-
fen beim Namen genannt werden. Eine systematische dingt nötig.
Evaluation und Wirksamkeitsanalyse des bisherigen
deutschen diplomatischen, militärischen, entwicklungs- Ganz besonders wichtig ist – das ist meine Meinung –
politischen und polizeilichen Engagements, so wie wir die diplomatische und politische Begleitung des Prozes-
sie vorgeschlagen haben, wäre dabei von großem Nutzen ses. Die Nachbarstaaten in der Region müssen in diesen
gewesen. Prozess mit eingebunden werden. Auch die in afghani-
scher Eigenregie durchgeführten Wahlen im September
Die Koalition hat sich für einen anderen Weg ent- betrachte ich als einen ersten Erfolg – im Gegensatz zu
schieden. Wir werden daher umso gründlicher prüfen, einigen anderslautenden Meinungen hier im Hohen
ob der von der Bundesregierung vorgelegte Fortschritts- Haus. Immerhin öffneten von circa 6 900 Wahllokalen
bericht den Kriterien, die ich gerade benannt habe, ge- 5 355 Wahllokale zur Stimmabgabe. Viele Menschen ha-
recht wird. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, ben sich nicht abschrecken lassen, zu zeigen, dass sie am
die dem Einsatz in Afghanistan mit wachsender Skepsis demokratischen Prozess im Land teilhaben wollen. Die-
begegnen, haben Anspruch auf eine umfassende Be- sen gilt größte Hochachtung. Es ist ein Erfolg, dass
standsaufnahme. Sie wollen ein ungeschminktes Bild der circa 40 Prozent aller Wahlberechtigten an der Wahl
aktuellen Lage, und sie wollen wissen, wann und auf teilgenommen haben. Aber über eins müssen wir uns im
welche Weise die Bundesregierung gemeinsam mit der Klaren sein: Es sind noch Wahlen über mehrere Genera-
internationalen Gemeinschaft die Verantwortung in af- tionen notwendig bis zur Akzeptanz dieses demokrati-
ghanische Hände legt, um den Rückzug der internatio- schen Mittels und bis zum fairen Umgang mit dem Wahl-
(B) nalen Truppen einzuleiten und in spätestens vier Jahren recht. (D)
zu beenden.
Auch die Nachbereitung der Wahl lag in afghanischen
Händen. Und auch hier sehe ich Positives: Ich meine
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): nicht den massiven Betrug, wohl aber die Prüfung der
Eines steht außer Frage: Wir als Parlament brauchen Eingaben durch die Beschwerdekommission und die tat-
ein realistisches Bild der aktuellen Lage in Afghanistan; kräftigen Handlungen. So wurde fast ein Viertel der rund
wir brauchen eine verlässliche Einschätzung der Ent- 5,6 Millionen abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt,
wicklung des Einsatzes. Was wir heute wiederholt disku- und des Wahlbetrugs überführten Abgeordneten wurde
tieren ist das Wie, also die Art und Weise, wie wir zu ei- ihr vorläufiges Mandat wieder entzogen. Die Staatsan-
ner realitätstreuen Einschätzung kommen. Und da sehe waltschaft nahm Ermittlungen auf und ließ mehrere Ver-
ich große Unvollkommenheiten in Ihrem Antrag, liebe dächtige festnehmen.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Wir haben weiterhin ein ambitioniertes Ziel: die
Viele Ihrer Forderungen sind entweder von der Bun- Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch Afgha-
desregierung längst in die Tat umgesetzt oder sie sind nistan im Jahr 2014. Dennoch – und das möchte ich hier
schlichtweg nicht zielführend. Der uns vorliegende An- deutlich sagen – werden wir die Afghaninnen und Af-
trag zur Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes ist ghanen auch danach nicht im Stich lassen. Besonders
– und das muss ich ganz zu Anfang klarstellen – längst die Terrorismusnachsorge wird im Fokus unserer Bemü-
überholt. Seit dem Tag, an dem wir hier das erste Mal hungen liegen.
über dieses Thema diskutiert haben, hat sich einiges ge- Auch bei unseren Bemühungen hier im Parlament,
tan – nicht nur im Land Afghanistan selbst, sondern die dortige Situation konkret einzuschätzen, hat sich ei-
auch hier im parlamentarischen Umgang mit diesem niges getan. In wenigen Wochen stellt die Regierung uns
wichtigen Thema. Inzwischen hat die Konferenz in Ka- einen Fortschrittsbericht vor. Ein umfassender Fragen-
bul, auf die wir mit Spannung geschaut haben, stattge- katalog hierzu wurde ressortübergreifend erarbeitet. Ich
funden. Dort wurde ein weiterer wichtiger Schritt getan: bin der Auffassung, dass Ihrer Forderung nach einer
hin zu einem erfolgreichen internationalen Engagement
Evaluierung in diesem Bericht Rechnung getragen wird.
in Afghanistan. Die Probleme Afghanistans werden
zwar nicht durch eine einzige Konferenz gelöst. Die in- Zur Forderung der Opposition nach einer Einbin-
ternationale Gemeinschaft hat aber nach der Konferenz dung unabhängiger Wissenschaftler kann ich Ihnen eins
in Kabul ein gemeinsames, erfolgversprechendes Kon- sagen: Das ist passiert. Am 23. November erst fand zu
zept. Dieses Konzept verdient eine faire Chance. dem Fortschrittsbericht eine öffentliche Anhörung statt.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8667
Dr. Bijan Djir-Sarai
(A) Dabei waren erstens alle beteiligten Ausschüsse einge- heitslage, durch Nachrichten über Wahlfälschungen und (C)
bunden und zweitens zahlreiche Wissenschaftler betei- Korruption, durch Drogenanbauzahlen und Waffenhan-
ligt. Wir hatten über drei Stunden hinweg die Möglich- del widerlegt. Auch die Polizistinnen und Polizisten
keit, über den Fragebogen zur Einsatzeinschätzung zu rund um den Deutschen Bundestag, die auch für unsere
diskutieren. Die Einschätzung an sich ist jedoch ganz Sicherheit dahin beordert worden sind, sind indirekt ein
klar Aufgabe des Parlaments. Ausdruck dafür, dass nichts gut ist in Afghanistan. Der
Krieg gegen den Terror hat nicht den Terror bekämpft,
Über die baldige Vorlage des Fortschrittsberichts bin sondern den Terroristen jeden Tag neue Aktivisten in die
ich sehr froh. Wir werden darüber im Detail diskutieren. Arme getrieben.
Das ist unsere Aufgabe und nicht die Aufgabe außenste-
hender Experten. Die Federführung, und damit auch un- Es ist mehr als befremdlich, dass erst jetzt, fast zehn
sere Verantwortung, in diesem Bereich wird von uns Jahre nach dem Beginn des Krieges, eine „Evaluierung
nicht einfach outgesourct. der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen
Engagements in Afghanistan“ stattfinden soll. Das heißt
Wir wollen ein realistisches Bild der Lage in Afgha- doch nichts anderes, als dass Deutschland Krieg am
nistan. Wir wollen sehen, in welchen Bereichen es Ver- Hindukusch führt, begonnen unter einer rot-grünen
besserungen gibt und wo wir und die internationale Ge- Bundesregierung, fortgesetzt von einer schwarz-roten
meinschaft noch stärker aktiv werden müssen. Das ist und übernommen von der schwarz-gelben, ohne dass
das, worin wir einer Meinung sind. Denn diese ehrli- sich Regierung und Parlament ein einziges Mal nüch-
chen Einschätzungen sind unerlässlich für unser zukünf- tern die Frage vorgelegt hätten: Was hat dieser Krieg
tiges Engagement und das Ergebnis, auf das wir seit Be- den Menschen in Afghanistan und was hat dieser Krieg
ginn des Einsatzes hinarbeiten: die Übergabe von uns gebracht? Eins ist sicher: Er hat vielen Menschen
Verantwortung in Verantwortung. Wir haben als Koali- Leid, Not und Elend gebracht. Er hat Afghaninnen und
tion klar gesagt: Wir wollen den Einstieg in den Aus- Afghanen wie auch dort eingesetzten Soldaten das Leben
stieg. Und wir haben unser Wort gehalten. Bis zum Jahr geraubt. Nichts ist gut in Afghanistan!
2014 soll die Übernahme der Sicherheitsverantwortung
durch Afghanistan abgeschlossen werden. Ich begrüße Fast zehn Jahre Krieg ohne eine Bilanz, das ist unver-
aber ausdrücklich, dass Kompetenz und Fachwissen der antwortlich. Die Linke will den Abzug der Bundeswehr
unterschiedlichen Wissenschaftler in den Prozess der aus Afghanistan. Wir hören jetzt aus anderen Fraktio-
parlamentarischen Begleitung des Einsatzes so gut ein- nen, sie möchten einen „Abzug in Verantwortung“. Um-
fließen konnten. gekehrt ist es richtig: Verantwortung heißt Abzug, und
das nicht irgendwann und nicht vage, sondern sofort!
Genau so sehe ich Ihre Forderung nach einer Kom- Jeder Tag der Fortführung dieses Krieges setzt die Kette (D)
(B)
mission. Wir alle zusammen – als Parlament – müssen des Unheils fort und erschwert einen Friedensschluss.
die Arbeit der Bundesregierung begleiten und nicht ir-
gendeine externe Kommission, wie es in Ihrem Antrag Die Bundesregierung hat für den 16. Dezember eine
gefordert wird. Die Ausschüsse bieten genug Spielraum Regierungserklärung angekündigt. Sie will einen Fort-
und Einflussmöglichkeiten, um verantwortungsvoll mit schrittsbericht für Afghanistan vorlegen. Dass dieser
der Sache umzugehen. Zusätzlich wird das Parlament Bericht bis heute nicht vorliegt, hatte ich bereits kriti-
vierteljährlich über die Entwicklungen in Afghanistan siert. Ich möchte zumindest, dass er jetzt so rechtzeitig
sowie wöchentlich über die Einsätze der Deutschen an alle Abgeordneten des Bundestages geht, dass ihn
Bundeswehr unterrichtet. Die Informationslage befindet eine jede und ein jeder gründlich prüfen und zum Bei-
sich doch weiterhin auf einem sehr hohen Niveau. Aus spiel mit den Berichten der Vereinten Nationen, den Be-
all diesen Gründen wird die FDP-Fraktion Ihrem An- richten nichtstaatlicher Hilfsorganisationen und den Be-
trag nicht zu stimmen. richten aus Afghanistan selbst vergleichen kann. Das ist
auch deshalb wichtig, da jede und jeder von uns mit dem
Ja oder Nein zur Truppenentsendung über das Leben
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
oder den Tod von Menschen entscheidet. Wir sollten uns
„Nichts ist gut in Afghanistan“. Mit dieser Feststel- fragen: Ist die Gefahr terroristischer Anschläge durch
lung brachte die damalige Vorsitzende des Rates der den Krieg in Afghanistan, durch den „Krieg gegen den
Evangelischen Kirchen in Deutschland, Frau Margot Terror“ kleiner geworden? Jeder wird sofort antworten,
Käßmann, ihre Wahrnehmung auf den Punkt. Nach die- sie ist gewachsen.
ser klaren Feststellung teilte sich die Öffentlichkeit in
viel Zustimmung hier und harschen Widerspruch dort zu Ist mit dem ISAF-Einsatz die Chance für mehr Demo-
dieser Aussage. Heute wird kaum einer bestreiten kön- kratie für die Menschen in Afghanistan gewachsen oder
nen, dass die Aussage von Margot Käßmann richtig war. nicht? Es sollte ja auch, wie wir immer wieder gehört
„Nichts ist gut in Afghanistan“, das meint nicht, dass haben, ein Krieg für mehr Demokratie und für die Um-
nicht in einzelnen Bereichen Verbesserungen erreicht setzung von Frauenrechten sein. Jetzt hört man von Kol-
worden seien. „Nichts ist gut in Afghanistan“ ist der Wider- legen der FDP – übrigens wortidentisch mit den Aussa-
spruch zu all jenen, die sich verantwortungslos die Lage gen des US-Oberbefehlshabers General Petraeus –,
schön- und der Öffentlichkeit einreden wollen, alles sei dass niemand vorgehabt hätte, in Afghanistan eine De-
besser geworden oder zumindest auf dem Wege der Bes- mokratie nach Schweizer Vorbild einzuführen. Solche
serung. Solche Propagandamärchen werden jeden Tag Aussagen empfinde ich nur noch als zynisch. Interessan-
durch Meldungen über die Verschlechterung der Sicher- ter hingegen wäre eine Analyse, wie mit Wahlfälschun-

Zu Protokoll gegebene Reden


8668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Wolfgang Gehrcke
(A) gen und sozialer Unsicherheit umgegangen wird und das. Sie kommt damit endlich – wenigstens in Bezug auf (C)
wie tatsächlich Frauenrechte gesichert werden können. Afghanistan – der Verpflichtung aus dem Parlamentsbe-
Afghanistan braucht keinen Zynismus, sondern wirklich teiligungsgesetz nach, einmal jährlich dem Bundestag
Hilfe. bilanzierend über die Einsätze der Bundeswehr und ihr
politisches Umfeld zu berichten. Es war auch gut und
Immer wieder wurde gesagt, dass der Krieg in Afgha- richtig, dass wir in einer Anhörung des Auswärtigen
nistan, der „Krieg gegen den Terror“, ein Krieg für Ab- Ausschusses über die Kriterien eines solchen Fort-
rüstung sei. Das schien vielen Menschen besonders mit schrittsberichts beraten haben. Aber bei dieser Anhö-
Blick auf das Nachbarland Afghanistans, Pakistan, das rung haben mehrere Sachverständige eben auch die De-
ein Atomwaffenstaat ist, plausibel. Tatsache jedoch ist, fizite Ihres Vorgehens deutlich gemacht. Die Kriterien
dass der Krieg den Waffenhandel erst so richtig in für den Fortschrittsbericht sind zu umfangreich und
Schwung gebracht hat. Kriege reduzieren Waffen nicht, vage, und sie stellen zu wenig auf die Wirkung der Maß-
sondern Kriege heizen Waffenproduktion und deren Ver- nahmen ab; vor allem aber evaluiert sich die Bundesre-
breitung an. gierung hier selber. Das wurde mehrfach, zu Recht, be-
Letztlich: Der Krieg in Afghanistan darf jetzt endlich mängelt, und eine unabhängige Evaluierung, so wie wir
Krieg genannt werden. Über lange Zeit benutzten die mit sie in unserem Antrag fordern, wurde angemahnt.
uns konkurrierenden Parteien im Bundestag alle mögli- Das Verhalten der Bundesregierung gegenüber unse-
chen Umschreibungen für den Begriff. Warum? Man rem Vorschlag hat meinen Eindruck verfestigt, dass es
wusste, dass die Bevölkerung unseres Landes keinen ihr eben nicht darum geht, eine ehrliche Bestandsauf-
Krieg will. US-Politiker wie der Verteidigungsminister nahme vorzunehmen, sondern dass sie mit der Praxis
Robert Gates bemängeln den in Europa vorhandenen politischer Schönfärberei fortfahren will. Genau das
Pazifismus. Ich bin froh über eine Bevölkerung, die mehr- aber hat uns in Afghanistan in die Sackgasse gebracht.
heitlich Nein zu Kriegen sagt. Ich bin gespannt auf die Viel zu lange wollte man negative Entwicklungen, zum
Bilanz, die die Bundesregierung vorlegen wird, möchte Beispiel bei der Sicherheitslage in der Region Kunduz,
aber, dass der Bundestag selbst sich an die Arbeit einer nicht wahrhaben. Ich befürchte, dass sich genau diese
solchen Bilanz macht. Schönfärberei auch in der Abzugsdebatte widerspiegelt.
SPD und Grüne schlagen dazu die Bildung einer Eva- Ich fordere die Bundesregierung auf: Wenn Sie es ernst
luierungskommission vor. In einer solchen Kommission meinen mit der Übergabe in Verantwortung bis 2014,
werden wir gern mitarbeiten. Aber im Moment gilt noch dann legen Sie mit dem neuen Mandat auch einen Ab-
immer: Ich verlasse mich mehr auf Wikileaks als auf Be- zugsplan vor.
richte der Bundesregierung.
(B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D)
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
NEN): schlussempfehlung auf Drucksache 17/4051, den Antrag
Wir schließen heute ein langes Verfahren ab. Bereits der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
im März dieses Jahres haben wir uns zusammen mit der Drucksache 17/1964 abzulehnen. Wer stimmt für diese
SPD an die Koalitionsfraktionen gewandt, um eine ge- Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
meinsame Initiative zur Evaluierung des Afghanistan- gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
Einsatzes zu ergreifen. men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD und bei
Seit März haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
von Union und FDP, dieses Vorhaben immer wieder ver-
schleppt und verzögert, sich dann doch wieder millimeter- Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
weise bewegt, nur um jetzt am Ende den sinnvollen und
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
notwendigen Schritt zu einer unabhängigen Evaluierung
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
abzulehnen. Ich finde es sehr schade, dass wir hier nicht
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie
zu einem gemeinsamen Beschluss gekommen sind. Mit
Ihrer Haltung sind Sie Ihrer Verantwortung für Afgha- – Drucksache 17/3023 –
nistan und für die sich dort im Einsatz befindenden Sol-
datinnen und Soldaten und zivilen Kräfte nicht gerecht Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
geworden. schusses (7. Ausschuss)

In unserem Antrag fordern wir die Einsetzung einer – Drucksache 17/4047 –


unabhängigen Kommission, die den Afghanistan-Ein- Berichterstattung:
satz in seiner ganzen Komplexität und in seiner mittler- Abgeordnete Peter Aumer
weile achtjährigen Dauer auswerten und Lehren daraus Martin Gerster
ziehen sollte. Das haben viele unserer Bündnispartner
getan, und das hat, daran habe ich ja bei unserer letzten
Peter Aumer (CDU/CSU):
Debatte hierzu schon erinnert, auch Ihr Verteidigungs-
minister noch vor zwei Jahren gefordert. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die Bun-
desregierung die Richtlinie des Europäischen Parla-
Die Bundesregierung will uns nun noch im Dezember ments und des Rates vom 16. September 2009 in natio-
erstmals einen Fortschrittsbericht vorlegen. Ich begrüße nales Recht um. Der damalige Binnenmarkt-Kommis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8669
Peter Aumer
(A) sar Charlie McCreevy bewertete die Richtlinie im Ja- sollen und zusätzliche Dienstleistungen anbieten dürfen. (C)
nuar 2010 folgendermaßen: „Diese Richtlinie wird Zukünftig sollen Internetzahlungen verstärkt mit E-Geld
nicht nur das Zahlungssystem in der EU verbessern, möglich werden. In dieses Marktsegment sind bereits
sondern ebenfalls den Weg für konkrete Vorteile der Ver- ausländische Anbieter wie PayPal vorgestoßen. Die Ge-
braucher aus der Integration der Finanzmärkte ebnen.” setzesänderung soll nun auch inländischen Unterneh-
men diesen Markt eröffnen.
Die neue E-Geld-Richtlinie soll den Weg für neue, in-
novative und sichere E-Geld-Dienstleistungen ebnen, Zudem soll die Geldkartenfunktion, über welche viele
neuen Unternehmen Zugang zum Markt verschaffen so- inländische EC-Karten-Besitzer die Möglichkeit haben,
wie echten und wirkungsvollen Wettbewerb unter den ihre Karte an SB-Terminals mit E-Geld aufzuladen, er-
Marktteilnehmern fördern. Davon sollen Verbraucher, weitert werden. Damit sollen die Handhabung benutzer-
Unternehmen und die europäische Wirtschaft im Allge- freundlicher gestaltet und auch der Einsatz von E-Geld
meinen profitieren. Das Hauptziel der Richtlinie besteht vielseitiger und attraktiver gemacht werden. Überdies
darin, EU-Vorschriften zu elektronischem Geld zu mo- beseitigt die Richtlinie Defizite im deutschen Rechtssys-
dernisieren und insbesondere die Beaufsichtigung von tem, die die Financial Action Task Force on Money
E-Geld-Instituten an die im Rahmen der Zahlungsdiens- Laundering, FATF, im „Deutschland-Bericht“ vom 18.
terichtlinie geltenden Aufsichtsregelungen für Zah- Februar, bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Ter-
lungsinstitute anzupassen. Die Zweite E-Geld-Richtlinie rorismusfinanzierung, feststellte.
über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der
Tätigkeit von E-Geld-Instituten wird fristgerecht bis zum Gerade in Deutschland sind die Umsetzung der
30. April 2011 in deutsches Recht umgesetzt. Von den Richtlinie und die Beseitigung der angesprochenen De-
Änderungen betroffen sind das Finanzdienstleistungs- fizite besonders wichtig. Im europäischen Vergleich ist
aufsichtsgesetz, das Geldwäschegesetz, das Handelsge- das Angebot qualitativ hochwertiger Finanzdienstleis-
setzbuch und das Unterlassungsklagengesetz. Die auf- tungen bei uns besonders hoch. Hinzu kommen die zen-
sichtsrechtlichen Vorschriften der Zweiten E-Geldricht- trale geografische Lage Deutschlands, die engen wirt-
linie sehen für die neue Institutskategorie der E-Geld- schaftlichen Beziehungen und die internationale Ver-
Institute ein spezifisches Erlaubnisverfahren und beson- netzung der deutschen Wirtschaft, die eine lückenlose,
dere Regelungen für die laufende Aufsicht vor. Diese genaue und effiziente Implementierung der internatio-
werden in das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz aufge- nalen Vorgaben gerade in Deutschland besonders wich-
nommen, und im Gegenzug dazu werden E-Geld-Insti- tig machen. Deutschland ist als Gründungsmitglied der
tute aus dem Kreditwesengesetz herausgelöst. FATF seit ihrer Bildung 1989 aktiv an der Erarbeitung
und Weiterentwicklung der international anerkannten
Im Zuge der Umsetzung werden weitere Änderungen Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terro- (D)
(B)
in den genannten Aufsichtsgesetzen vorgenommen, die rismusfinanzierung beteiligt und hat sich immer zur na-
Defizite bei den geldwäscherechtlichen Normen beseiti- tionalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt.
gen sollen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland Der vorliegende Gesetzentwurf muss begrüßt werden.
wirksamer vor einem Missbrauch durch Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung zu schützen. Die Umset-
zung der Zweiten E-Geld-Richtlinie in den Vertragsstaa- Martin Gerster (SPD):
ten der EU bringt wesentliche Vorteile für unseren Wirt- Vom früheren US-Präsidenten Thomas Jefferson soll
schaftsraum. Sie schafft einen modernen und rechtlich das Zitat stammen, dass „der Preis der Freiheit bestän-
kohärenten Zahlungsverkehrsraum für die Ausgabe von dige Wachsamkeit“ ist. Im Guten wie im Schlechten bli-
elektronischem Geld im europäischen Binnenmarkt. Auf cken wir gerne über den Atlantik – wenn es um die Zu-
diese Weise wird der Weg für neue innovative und si- kunft unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft ins-
chere E-Geld-Dienstleistungen geebnet. Sie fördert faire gesamt geht. Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten
Wettbewerbsbedingungen und setzt gleiche Marktzu- bildete den Auftakt der jüngsten Finanz- und Wirt-
gangskriterien für alle Zahlungsdiensteanbieter, ein- schaftskrise. Amerika war und ist aber auch ein wichti-
schließlich der E-Geld-Institute. Sie initiiert einen ech- ger Vorreiter, was technische Fortschritte, gesellschaft-
ten und wirkungsvollen Wettbewerb. Sie schafft einen liche Trends und ökonomische Innovationen angeht. Das
einheitlichen aufsichtsrechtlichen Rahmen. gilt auch für die Kreditwirtschaft und Neuerungen im
Bereich digitaler Zahlungskonzepte wie dem E-Geld.
Wie sehen die Änderungen konkret aus? Nach der Jeffersons geflügeltes Wort sollten wir uns deshalb gut
Zweiten E-Geld-Richtlinie ist die Kreditinstitutseigen- zu Herzen nehmen, wenn wir heute über eine auch für
schaft nun nicht mehr zwingende Voraussetzung für das Deutschland und Europa bedeutsame Innovation in die-
Betreiben des E-Geld-Geschäfts. Mit der Durchsetzung sem Sektor beraten: die Umsetzung der zweiten europäi-
des Erlaubnisvorbehaltes, der Zulassung und der lau- schen E-Geld-Richtlinie.
fenden Aufsicht über die E-Geld-Institute wird die Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, be- Wenn wir in den vergangenen Jahren eine finanzpoli-
auftragt werden. Durch die Modifizierung der bestehen- tische Lektion gelernt haben, dann lautet sie: Wo neue
den Regelungen soll bewirkt werden, dass in Deutsch- wirtschaftliche Spielräume eröffnet werden, muss auch
land die Nachfrage nach E-Geld-Lizenzen erhöht wird der ordnungspolitische Rahmen gestärkt werden. Nur
und dass sich auch deutsche E-Geld-Institute auf dem durch konsequente Aufsicht und Regulierung können wir
europäischen Markt etablieren können. Entscheidend ist drohende Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und
hier, dass diese nun ein erweitertes Tätigkeitsfeld haben verhindern. Über das Thema E-Geld diskutieren wir auf

Zu Protokoll gegebene Reden


8670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Martin Gerster
(A) EU-Ebene seit Ende der 1990er-Jahre. Als digital ge- die Bundesrepublik fiel verheerend aus: In 20 von 49 ge- (C)
speichertes Zahlungsmittel soll es in Zukunft zu einer prüften Punkten wurden die vereinbarten Empfehlungen
dritten tragenden Säule zwischen Bargeld und Buchgeld nicht oder nur teilweise eingehalten. Der Handlungsbe-
werden. darf könnte kaum deutlicher sein. Wohl deshalb hat sich
die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf
Um den rechtlichen Rahmen zu regeln, wurde im Jahr wenigstens eines Teils der Kritik angenommen, der sich
2000 die erste europäische E-Geld-Richtlinie verab- mit den aufsichtsrechtlichen Monita der FATF befasst.
schiedet. In ihrer Wirkung wurde die Regelung den in sie Doch keiner der fünf zentralen Mängel, die seitens der
gesetzten Erwartungen jedoch nicht gerecht. Eine ernst-
Organisation moniert wurden, greift der Gesetzentwurf
hafte Belebung des E-Geld-Anbietermarktes blieb aus.
auf. Die noch offenen Punkte berühren vor allem die
Das sollte mit der 2009 beschlossenen zweiten E-Geld-
ausstehende Umsetzung der FATF-Empfehlungen für
Richtlinie geändert werden, deren Umsetzung einen Teil
den Bereich der Kammerberufe und den Nichtfinanzsek-
des heute diskutierten Gesetzesentwurfs ausmacht. Sie
soll einen einheitlichen Aufsichts- und Rechtsrahmen für tor. Betroffen sind hiervon vor allem die Bundesländer,
die Anbieter von Dienstleistungen im E-Geld-Sektor deren laxer Umgang mit dem Thema Geldwäsche in der
schaffen. Vergangenheit immer wieder Anlass zu heftiger Kritik
war, unter anderem im Juni 2010 in Form eines EU-Ver-
Das ist im Prinzip in Ordnung. Es mag tatsächlich tragsverletzungsverfahrens.
sinnvoll sein, mehr E-Geld-Anbietern den Zutritt zu die-
sem Markt zu ermöglichen und den Wettbewerb zu bele- Beim Juweliergewerbe, im Geschäftsalltag landesei-
ben. Denn Konkurrenz erhöht den Innovationsdruck und gener Spielbanken und privater Kasinos, bei der Ver-
schlägt sich tendenziell in günstigeren Konditionen für mittlung von Versicherungen oder in der Immobilien-
die Endverbraucher nieder. Solange durch klare auf- maklerbranche werden seit Jahren massive Defizite in
sichtsrechtliche Regelungen gewährleistet ist, dass die Sachen Geldwäscheprävention beobachtet. Allzu oft
angebotenen Dienstleistungen aus Verbrauchersicht se- bleiben die Behörden untätig. Das Bundesministerium
riös und mit hinreichendem Eigenkapital abgesichert der Finanzen sieht die Ursachen in Streitigkeiten zwi-
sind, spricht nichts dagegen, entsprechende Freiräume schen Innen- und Wirtschaftsministerien der Länder, die
zu schaffen. sich nicht einigen können, wem die Aufsicht obliegen
soll. Wir sehen hier den Bund in der Pflicht, im Rahmen
Es deutet einiges darauf hin, dass der anspruchsvolle einer Zuständigkeitsbereinigung Klarheit zu schaffen –
Regelungsrahmen des KWG, an den E-Geld-Anbieter ebenso wie dort, wo die Bundesministerien die Rechts-
bislang gebunden sind, dafür nicht den notwendigen aufsicht über die Kammern besonders geldwäscheaffi-
(B) Raum lassen. Insofern erscheint der Weg zielführend, ner Berufe innehaben. (D)
die E-Geld-Institute als eigenen Institutstyp an das Zah-
lungsdiensteaufsichtsgesetz zu koppeln. Ob sich hieraus In den Vorgesprächen zur Beratung des Gesetzes
tatsächlich eine ernsthafte Belebung eines eigenständi- wurde seitens der Koalition immer wieder darauf ver-
gen E-Geld-Marktes auf nationaler und europäischer wiesen, die bislang nicht verfolgten Punkte der FATF-
Ebene ergibt, bleibt aber abzuwarten. Meine Einschät- Kritik würden zeitnah, in einem „großen Wurf“, ange-
zung ist: Würde dies in größerem Stil gelingen, ergäben gangen. Davon ist bislang jedoch nichts zu sehen. Statt-
sich daraus neuer Regelungsbedarf bei der Überwa- dessen stellt Schwarz-Gelb weitere kleinteilige Ände-
chung der in E-Geld-Form kursierenden Geldmenge und rungsvorschläge in den Raum und verweist auf
eine Reihe anderer Fragestellungen, die auch auf euro- Umsetzungsfristen und Länderbeteiligungen, die sich
päischer Ebene noch nicht hinreichend berücksichtigt letztendlich nur aus dem anscheinend bewusst unprak-
worden sind. Einstweilen ist das aber Zukunftsmusik. tisch gewählten Zuschnitt der Gesetzespäckchen erge-
Zurück zur Gegenwart: Ginge es bei der Beratung ben. Dieser Eindruck verschärft sich bei einem Blick auf
des vorliegenden Gesetzentwurfs tatsächlich nur um die die so verschnürten Inhalte, beispielsweise wenn die
aktuelle Ausgestaltung der E-Geld-Thematik, hätten wir strafrechtlichen Aspekte der FATF-Kritik mit einer eher
ihm wohl zustimmen können. Doch greift die Bundesre- handzahm ausfallenden Neuregelung der strafbefreien-
gierung darin ein zweites, ebenfalls wichtiges Thema den Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung verknüpft
auf, bei dem Deutschland international am Pranger werden sollen. So sieht es jedenfalls der in Umlauf be-
steht: die Geldwäscheprävention. Zwar ist es gleichsam findliche Referentenentwurf vor, der einen weiteren
überraschend und erfreulich, dass sich eine Bundesre- Trippelschritt im Kampf gegen Geldwäsche und Steuer-
gierung unter FDP-Beteiligung dieses Themas über- hinterziehung markieren soll.
haupt annimmt, nicht hinnehmbar ist jedoch, dass der
Die strategische Entscheidung, die bemängelten De-
Entwurf gerade auf diesem zentralen Feld entschieden
zu kurz greift. fizite häppchenweise anzugehen, zeigt deutlich: Diese
Regierung versucht, das Thema Geldwäsche möglichst
Zu den Hintergründen: Im Februar 2010 erschien der tief zu hängen und sie als süßes Gift zu verwenden, um
„Deutschland-Bericht“ der Financial Action Task Force der Opposition unsinnige Paketlösungen schmackhaft
on Money Laundering. Dabei handelt es sich um ein zu machen. Das Thema ist zu ernst für solche Spielchen.
1989 gegründetes OECD-Gremium, das sich mit dem Wir Sozialdemokraten werden sie nicht mitmachen. Bei
Kampf gegen Geldwäsche und der Finanzierung des in- allen richtigen Ansätzen, die das Gesetz präsentiert,
ternationalen Terrors befasst. Das Frühjahrszeugnis für werden wir uns deshalb enthalten.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8671

(A) Frank Schäffler (FDP): linie in nationales Recht umgesetzt werden, die dem (C)
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Deutschen Bundestag faktisch kaum Spielraum bei der
verfolgen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zwei Umsetzung lässt. Zweitens sollen Mängel bei der Be-
Ziele. Das erste Ziel ist die Schaffung eines modernen kämpfung von Geldwäsche abgestellt werden, die von
Zahlungsverkehrsraums im Binnenmarkt mit dem einer Expertengruppe der OECD festgestellt wurden.
Zweck, den Wettbewerb auch in diesem Bereich zu inten-
sivieren. Diesem Ziel dient die Umsetzung der zweiten Bei der Umsetzung der E-Geld-Richtlinie müssen wir
E-Geld-Richtlinie. Hier werden sich für die Unterneh- feststellen, dass die bereits zur ersten Lesung von uns
mer neue Marktchancen bieten, von deren Nutzung dann kritisierten Punkte unverändert im Gesetz stehen blei-
die Verbraucher profitieren werden. Es geht uns jedoch ben sollen. Dabei kritisieren wir vor allem, dass mit der
gerade nicht darum, unnötige Bürokratie zu schaffen. Herauslösung der E-Geld-Institute aus dem für die Ban-
Deshalb haben wir in den Ausschussberatungen klarge- ken ansonsten verbindlichen Kreditwirtschaftsgesetz
stellt, dass Kreditinstitute, die schon die Voraussetzun- eine weniger strenge Aufsicht und deutlich geringere
gen des Kreditwesengesetzes erfüllen, im Rahmen ihrer Anforderungen verbunden sein werden. Das hätte an-
Vollbankenerlaubnis auch das E-Geld-Geschäft betrei- ders geregelt werden können und ergibt sich nicht
ben dürfen. Eine weitere Erlaubnis nach § 8a Abs. 1 zwangsläufig aus der EU-Richtlinie. Dass die Bundesre-
ZAG ist für sie nicht erforderlich. In diesem Sinne haben gierung sich dem dennoch verweigert, zeigt aufs Neue,
wir in den Ausschussberatungen noch einige weitere dass ihr das Wohl der Finanzbranche im Zweifel wichti-
Klarstellungen getroffen und redaktionelle Korrekturen ger ist, als ein gewisses Schutzniveau im Interesse von
am Gesetzentwurf vorgenommen. Verbrauchern und Allgemeinheit zu erhalten.

Das zweite Ziel, das die christlich-liberale Koalition Wäre dies anders, dann würde sie sich in Brüssel
mit diesem Gesetzentwurf verfolgt, ist die Bekämpfung auch gegen den Wahnsinn wehren, dass in immer mehr
der Geldwäsche. Zum Thema Geldwäsche wurde im Fe- Zweigen des deutschen Finanzmarktes – ohne weitere
bruar der Bericht der Financial Action Task Force on Prüfung der hiesigen Aufsicht – Anbieter aus anderen
Money Laundering, der FATF, über die Einhaltung der Staaten aktiv werden dürfen. Die einzige Voraussetzung
FATF-Standards – der sogenannten 40+9 Empfehlun- besteht regelmäßig nur darin, dass sie in ihren Her-
gen – in Deutschland veröffentlicht. Deutschland ist ver- kunftsländern zugelassen sind. Ob die Zulassungsbedin-
pflichtet, diese Standards in nationales Recht umzuset- gungen auch nur halbwegs mit den hiesigen vergleich-
zen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständen bar sind, ist dabei weitgehend bedeutungslos. Der
von der FATF überprüfen zu lassen. Wir haben nun bis Fetisch des totalen Marktes und die Bedienung der Lob-
Februar 2012 Zeit, die festgestellten Defizite zu behe- byinteressen gehen dieser lernresistenten Koalition
(B) ben. nach wie vor über alles. (D)

Im vorliegenden Gesetzentwurf beseitigen wir auf- Das, was zur Bekämpfung und Vermeidung der Geld-
grund der Sachnähe zunächst die Defizite, die den Fi- wäschekriminalität in dieses Gesetz aufgenommen
nanzsektor betreffen. Unter anderem wird der Sorgfalts- wurde, halten wir weitgehend für unbedenklich. Wenn
pflichtenmaßstab, den die Institute im Rahmen der die Übermittlung von Verdachtsmeldungen nach rechts-
Erfüllung von Hochrisikokategorien bzw. in Fällen eines staatlich einwandfreien Kriterien erfolgt, dann braucht
niedrigen Risikos anzuwenden haben, vollständig dem es auch keinen zusätzlichen Ermessenspielraum der
FATF-Standard angepasst. Gleiches gilt für die Anpas- Banken mehr. Die Schwäche des Gesetzes besteht hier
sung der institutsinternen Sicherungsmaßnahmen gegen eher darin, dass nur ein kleiner Teil der angemahnten
Geldwäsche und des Risikomanagements der Institute. Missstände aus der Welt geschafft wird. So wäre es zur
Eine Revision des Geldwäschegesetzes im Rahmen die- Behebung der Mängel auch notwendig gewesen, die
ses Gesetzgebungsverfahrens konnte angesichts der kur- Bundesländer mit ins Boot zu holen, wie etwa bei den Si-
zen Umsetzungsfrist für die Zweite E-Geld-Richtlinie bis cherheitslücken der landeseigenen Spielbanken. Doch
zum 30. April 2011 nicht erfolgen. Änderungen des wurde die Problemlösung einfach vertagt. Insofern dür-
Geldwäschegesetzes wären, anders als der vorliegende fen wir gespannt sein, ob die angekündigte Novellierung
Gesetzentwurf, aufgrund der Zuständigkeiten der Län- des Geldwäschegesetzes die angezeigten Mängel in zu-
der nur über eine Gesetzesinitiative aufzugreifen, die friedenstellender Weise beheben wird.
der Zustimmung der Länder bedarf.
„Zufriedenstellend“ heißt für uns dabei aber auch,
Wir werden die Forderungen der FATF also nach und
dass die Unschuldsvermutung nicht durch den General-
nach abarbeiten. Bereits jetzt erarbeiten wir auch einen
verdacht abgeschafft wird. Wenn etwa ein Bericht des
Gesetzentwurf zur Beseitigung der von der FATF festge-
Finanzministeriums darauf verweist, dass es zur Behe-
stellten Defizite im Strafrecht vor, der voraussichtlich
bung der Beanstandungen auch nötig wäre, die Ver-
bereits in der nächsten Woche vom Kabinett beschlossen
dachtsschwelle so weit abzusenken, dass dies einer Ent-
wird.
koppelung vom strafprozessualen Anfangsverdacht
gleichkäme, dann ist hier besondere Vorsicht geboten.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Gleichfalls wird auch sehr genau zu prüfen sein, ob eine
Das Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld- besondere Zuverlässigkeitsprüfung einfacher Bankan-
Richtlinie soll im Wesentlichen zwei Dinge regeln: Ers- gestellter mit deren Persönlichkeitsrechten überhaupt in
tens soll dem Gesetzestitel entsprechend eine EU-Richt- Übereinstimmung gebracht werden kann.

Zu Protokoll gegebene Reden


8672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Edelsteinhändler. Die Aufsicht über diese Berufsgrup- (C)
Das vorliegende Gesetz umfasst zwei Themen: Die pen ist nicht effektiv. Bei Rechtsanwälten und Wirt-
Umsetzung der E-Geld-Richtlinie und – viel wichtiger – schaftsprüfern erschwert eine weite Auslegung des Be-
Bestimmungen zum Kampf gegen Geldwäsche und Ter- rufsgeheimnisses die Zusammenarbeit mit den Behörden
rorismusfinanzierung. Der Gesetzesvorschlag reagiert und führt dazu, dass nur wenige verdächtige Transaktio-
damit zumindest teilweise auf die Kritik der Financial nen gemeldet werden. Darüber hinaus sind Rechtsan-
Action Task Force, FATF. Sie hatte im Februar 2010 einen wälte und Notare nicht verpflichtet, verdächtige Trans-
Katalog vorgelegt, in dem anhand von 49 Kriterien die aktionen bei Immobiliengeschäften zu melden. Im
Rechtslage in Deutschland begutachtet wurde. Das Er- vorliegenden Gesetzentwurf fehlen Sanktionsmöglich-
gebnis war nicht überzeugend. Lediglich in fünf Punkten keiten gegen Delikte aus dem Geldwäschebereich. Wa-
war die FATF vollständig zufrieden, in 19 Punkten hin- rum hat die Bundesregierung nicht die Möglichkeit einer
gegen sind die Kriterien ganz oder größtenteils nicht er- Gewinnabschöpfung eingeführt?
füllt. Für ein Land, das zu den Gründungsmitgliedern Wir werden vom Ausland zu Recht für unsere schlech-
der FATF gehört und das sich den Kampf gegen Geldwä- ten Vorschriften gerügt. Wir brauchen gerade im Nicht-
sche und Terrorfinanzierung auf die Fahnen geschrie- finanzsektor stärkere Sanktionsmöglichkeiten. Die ver-
ben hat, ist das ein beschämendes Ergebnis. bleibenden Monita der FATF müssen rasch beseitigt
Das vorliegende Gesetz soll nun laut Bundesregie- werden. Die Bundesregierung muss dazu mehr vorlegen,
rung ein erster Baustein sein, um die bestehenden Män- als sie es bisher getan hat bzw. beabsichtigt. Weil der
gel zu beseitigen. Es ist höchstens ein Steinchen, mehr Gesetzentwurf erste Schritte in die richtige Richtung
nicht. Es geht lediglich die Mängel im Finanzsektor an. zeigt, können wir uns in der Abstimmung enthalten. Wir
Kernstück der Kritik ist aber der Nichtfinanzsektor. Ent- erwarten, dass die Bundesregierung 2011 ehrgeizige
scheidend ist, dass die Bundesregierung keinen klaren Schritte unternimmt, um der FATF-Kritik zu begegnen.
Fahrplan vorlegt, bis wann und wie sie die Kritikpunkte
der FATF beseitigen will. Bisher ist lediglich bekannt, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
dass sie zwei Gesetzentwürfe vorlegen will. Bleibt es da- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
bei bei dem, was bislang im Referentenentwurf zur Be- empfehlung auf Drucksache 17/4047, den Gesetzent-
kämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3023 in
steht, wird aber die geplante Gesetzgebung bei Weitem der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
nicht alle Kritikpunkte ausräumen können. Im Gegen- die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
teil: Er geht lediglich einen kleinen Teil an; es geht da- men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –
bei um Vortaten des Geldwäschetatbestandes. Es sollen Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter (D)
(B)
bestimmte Delikte in einen Vortatenkatalog aufgenom- Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
men werden. Eine überzeugende Antwort auf die heftige fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
Kritik der FATF sieht anders aus. Das Bundesfinanz- und Enthaltung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/
ministerium weist aber in seiner eigenen Stellungnahme Die Grünen.
darauf hin, dass „der Löwenanteil der von der FATF ge-
äußerten Monita … nur durch die Änderung des Geld- Dritte Beratung
wäschegesetzes beseitigt werden“ kann, und schiebt an-
schließend die Verantwortung auf das federführende und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Bundesinnenministerium ab. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
Nun muss man fairerweise sagen, dass die Ansprüche ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der FATF teilweise nur schwer und mit hohem Aufwand der zweiten Beratung angenommen.
mit dem deutschen Rechtssystem vereinbar sind. Die
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Transparenz bei juristischen Personen – und hier vor allem
Treuhandkonstruktionen – wäre nur zu erhöhen, wenn Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
das öffentliche Registerwesen umgestellt würde. Das Becker, Rolf Hempelmann, Garrelt Duin, weite-
rechtfertigt aber nicht, dass an anderer Stelle die Bun- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
desregierung nicht forsch genug voran geht. Beispiels- der Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef
weise versucht sie die mangelnde Umsetzung der Rege- Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
lungen dadurch zu rechtfertigen, dass vieles auf Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Länderebene zu regeln sei und sie da nichts machen
könne. Klar ist aber auch, dass der Bund gemäß Art. 84 Am Ausbau der hocheffizienten Kraft-
Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes die zuständige Landes- Wärme-Kopplung festhalten
behörde benennen könnte.
– Drucksache 17/3999 –
Besondere Schwächen sieht die FATF beim Nichtban- Überweisungsvorschlag:
kensektor. Hier sind Geldwäsche und Terrorfinanzie- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
rung nach wie vor Tür und Tor weit geöffnet. Es gibt Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
keine systematische Umsetzung von Auflagen zur Geld- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
wäsche und Terrorismusfinanzierung durch Immobilien- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
makler, Trust- und Unternehmensdienstleister sowie Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8673

(A) Thomas Bareiß (CDU/CSU): teres Beispiel nenne ich das Erneuerbare-Energien- (C)
Wir beraten heute über einen Antrag der Opposition, Wärme-Gesetz: Das EEWärmeG fördert bei Neubauten
der sich mit der Bedeutung der Kraft-Wärme-Kopplung seit dem 1. Januar 2009 auch die Deckung des Wärme-
für unsere Energieversorgung befasst. KWK fristet kei- energiebedarfs aus KWK, beispielsweise wenn die
neswegs ein Schattendasein bei der deutschen Energie- Wärme aus Biogas über KWK erzeugt wird. Und
versorgung. Gegenwärtig macht in Deutschland der An- schließlich zum Beispiel Marktanreizprogramm: Das
teil von KWK rund 12 Prozent am Strommix aus. Das ist Programm fördert KWK-Biomasse- und Geothermiean-
nicht wenig. lagen mit zinsgünstigen Darlehen und Tilgungszuschüs-
sen. Zusammen mit der Förderung der dazugehörigen
Wir finden KWK wichtig und richtig. Genau aus die- Wärmenetze und Wärmespeicher können so gute Ge-
sem Grund kommt der KWK in zahlreichen Regelungen samtkonzepte zur effizienten Wärmeversorgung von Ge-
eine besondere Bedeutung zu, auf die ich gleich noch nä- bäuden umgesetzt werden. Im Rahmen des KfW-Anteils
her eingehen werde. Denn wir halten diese Technologie des Marktanreizprogramms wurden in 2009 und 2010
für einen intelligenten Weg, effizient mit Energiequellen rund 4 000 Darlehen für Investitionsvorhaben mit einer
umzugehen. Zum einen ermöglicht KWK eine doppelte Darlehenssumme von über 600 Millionen Euro zuge-
Dividende: Sie fängt die bei der Erzeugung von Elektri- sagt.
zität entstehende Wärme ab und führt diese einer weite-
ren Nutzung in Wohnimmobilien und Industriebetrieben Darüber hinaus hat das Bundesumweltministerium
zu. Die Novelle des KWK-Gesetzes – seit dem 1. Januar gemeinsam mit der Deutschen-Energie-Agentur GmbH,
2009 in Kraft – soll dazu beitragen, den KWK-Stroman- der dena, und Branchenakteuren ein Dokumentations-
teil auf 25 Prozent bis 2020 anzuheben. system, das „Biogasregister Deutschland“, eingerichtet,
das bei der dena angesiedelt ist. Dieses Register erleich-
Ich möchte Ihnen aber in aller Offenheit sagen: Nach tert Marktakteuren den Handel mit Biomethan. Außer-
meiner Einschätzung ist dieses Ziel nach derzeitigem dem leistet es Hilfestellung beim Transport über das
Stand nicht zu schaffen. Ich bedaure das sehr, weil ich Erdgasnetz und der Vergütung über das EEG. Das Bio-
der Überzeugung bin, dass die Technologie gut und rich- gasregister steht der Branche seit diesem Monat zur Ver-
tig ist. KWK hat einen hohen Wirkungsgrad. Während in fügung. Es wird die Nachfrage von Biogas im Strom-/
konventionellen Kraftwerken zwischen 45 und 70 Pro- KWK-Sektor verbessern. Es ist deshalb nur richtig, dem
zent der Energie, die für die Stromerzeugung eingesetzt Thema KWK eine hohe Priorität einzuräumen und die
wird, als Abwärme verloren gehen, schaffen moderne Erreichung von 25 Prozent Stromerzeugung aus KWK
KWK-Technologien Nutzungsgrade von bis zu 90 Pro- im Auge zu behalten. Wir müssen aber auch die aktuel-
zent. Die abgefangene Wärme versorgt Wohnimmobilien len Herausforderungen zur Kenntnis nehmen und die
(B) und Industrie effizient und umweltschonend mit Strom KWK-Ziele verstärkt in einem Gesamtkontext betrach- (D)
und Wärme. Bei einer Stromerzeugung kann die anfal- ten.
lende Abwärme also nahezu vollständig für die Wärmer-
zeugung genutzt werden. Ziel ist es daher, die Stromer- In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Pro-
zeugung so zu gestalten, dass in vorhandenen oder zu bleme mit der KWK hinweisen, die meist unerwähnt
erschließenden Wärmesenken die Abwärme aus der bleiben. Zwar ist die KWK energetisch überlegen. Aber
Stromerzeugung genutzt werden kann. Dies gilt auch für dies macht sie nicht automatisch unantastbar. Erstens.
die Nutzung erneuerbarer Energien. Die KWK konkurriert immer mit anderen Effizienzstra-
tegien im Bereich energieoptimierten Bauens. Exempla-
Deshalb lassen Sie mich gleich auf Ihren Antrag ein- risch für diese Entwicklung verweise ich auf die Nied-
gehen: Die Äußerungen in Ihrem Antrag finde ich ab- rig- bzw. Null-Energie-Häuser. Hier ist festzustellen,
surd. Wir planen keinen Verzicht auf KWK, und die stän- dass im Gebäudebereich eine zunehmend bessere Wär-
dige Kernkraft-Rhetorik, die Sie zelebrieren, hilft uns medämmung erreicht wird. Diese dämpft den Energie-
auch nicht weiter. Ganz im Gegenteil: Dass wir das verbrauch und erhöht Einsparpotenziale. Das ist gut
Thema KWK ernst nehmen, zeigt sich darin, dass wir die und richtig. Wenn aber der Energiebedarf von vielen
KWK über viele Instrumente und in zahlreichen Rege- modernen Gebäuden gegen null strebt, dann steht aber
lungen fördern. Als Beispiel nenne ich das Erneuerbare- doch die Frage im Raum, wie viel sinnvoller Spielraum
Energien-Gesetz. Durch den KWK-Bonus von 3 Cent/ dann noch für eine möglichst umfassende Abschöpfung
kWh erfolgt im EEG eine zusätzliche Förderung für der Wärme durch KWK-Technologie übrig bleibt. Dies
Strom aus Biomasse und Geothermie, soweit er in einer ist einer der großen Herausforderungen, die wir berück-
KWK-Anlage erzeugt wird. Hier wollen wir im ersten sichtigen müssen.
Halbjahr 2011 prüfen, ob und – wenn ja – inwieweit eine
verpflichtende KWK-Nutzung im Vergleich zur reinen Dies führt mich zu einem zweiten Problem mit KWK,
Stromerzeugung eingeführt werden kann. das mit der Verteilung der Wärme zu tun hat. Selten sind
ausreichend Wärmeverbraucher am Standort von KWK-
Kommen wir zum Beispiel Kraft-Wärme-Kopplungs- Anlagen. Die fehlende direkte Abnahmemöglichkeit von
gesetz: Auch das KWKG fördert KWK-Strom, regelt effizient erzeugter Wärme führt nun zu Effizienzproble-
seine vorrangige Einspeisung ins Stromnetz und sieht men ganz anderer Art. Sinnvoll ist die Nutzung von KWK
außerdem den Aus- und Aufbau von Fernwärmenetzen dort, wo ein hoher Wärmebedarf über das ganze Jahr
vor. Auch hier werden wir im nächsten Jahr, im Rahmen kalkulierbar ist. Denn Wärme ist massegebunden und
des Zwischenberichts für das KWKG, die Wirksamkeit daher nicht wie Strom über größere Strecken effizient zu
überprüfen und nachsteuern, wenn es nötig ist. Als wei- transportieren. Muss überschüssige Wärme über län-

Zu Protokoll gegebene Reden


8674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Thomas Bareiß
(A) gere Wege geleitet werden, beispielsweise von einem ab- keit der KWK-Förderinstrumente entscheiden und gege- (C)
seits liegenden Aussiedlerhof zu weiter entfernten Ver- benenfalls dort nachbessern, wo es langfristig sinnvoll
sorgungsobjekten, fallen relativ hohe Transport- und erscheint – auf Grundlage des Zwischenberichts zum
Übertragungskosten an. Insofern sollte darauf geachtet KWKG und des Erfahrungsberichts zum EEG. Dabei
werden, die Stromerzeugungsanlagen möglichst nah der werden wir uns leiten lassen von einer Orientierung, die
Wärmesenken anzusiedeln. gesellschaftlich gewollt und volkswirtschaftlich sinnvoll
ist. Dabei zeigt uns das Energiekonzept einen guten Weg,
Im Grunde ist es paradox: „Besonders effizient“ pro- wie wir die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sichern
duzierter Strom und Wärme fährt im Weg zum Verbrau- und gleichzeitig das Herzstück unseres Industriestand-
cher oft hohe Effizienzverluste ein. Diese Überlegung orts, eine zuverlässige und bezahlbare Energieversor-
findet in der rot-grünen Gedankenwelt wohl wenig Be- gung, langfristig gestalten können.
achtung. Sie wirft jedoch die Frage auf, welche Rolle
große KWK-Anlagen für die Wärmeerzeugung tatsäch-
lich spielen können. Diese Aspekte sollte jeder im Hin- Dirk Becker (SPD):
terkopf haben, der mit dem Gedanken spielt, die KWK- Mit dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm
Förderung weiter zu stärken, um der Umwelt uneinge- 2007 und der Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsge-
schränkt etwas Gutes zu tun. setzes im Jahr 2008 hat sich die damalige schwarz-rote
Ich möchte die KWK nicht schlechtreden, aber wir Bundesregierung dazu verpflichtet, den Anteil des
müssen pragmatisch prüfen, welche konkreten Ziele für Stroms aus hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung, KWK,
den KWK-Ausbau vor dem Hintergrund der angespro- auf 25 Prozent der Stromerzeugung zu erhöhen. Die
chenen Probleme angemessen und sinnvoll sind. In Ih- KWK sollte mit einer Reduktion von rund 20 Millionen
rem Antrag nennen Sie eine Reihe von Maßnahmen, wie Tonnen CO2-Emissionen im Jahr 2020 zur Erreichung
der KWK verstärkt unter die Arme gegriffen werden des Klimaziels von minus 40 Prozent CO2 beitragen.
sollte, beispielsweise mit einer Überprüfung des Förder- Davon findet sich im Energiekonzept der schwarz-
deckels oder dem Abbau bürokratischer Hemmnisse bei gelben Bundesregierung nichts mehr. Zwar verfolgt man
der Modernisierung von KWK-Anlagen.
noch immer ambitionierte Klimaziele, doch vertraut
Ich will Ihnen ganz offen sagen: Was die Überprüfung man bei der Erreichung der Ziele in erster Linie auf die
der KWK-Instrumente betrifft, kann ich mir durchaus ei- Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken. Von
niges vorstellen. In der Zielsetzung sind wir gar nicht so KWK und deren Anteil ist dagegen kaum noch die Rede.
weit voneinander entfernt, wie Sie vielleicht meinen. Der „Zusatznutzen“ und die „Zusatzkosten“ der KWK-
Ebenso wie Sie stelle ich die grundsätzliche Sinnhaftig- Förderung sollen überprüft werden, und beim Trost-
(B) keit von KWK als einen intelligenten Weg effizienter pflaster für die Stadtwerke aufgrund deren Benachteili- (D)
Energienutzung überhaupt nicht infrage. Ich möchte Ih- gung durch die Laufzeitverlängerung sollen auch ein
nen aber auch sagen: Die Opposition lässt keine Gele- paar Cent für die KWK abfallen. Mehr steht nicht im
genheit ungenutzt, um unsere energiepolitischen Maß- Energiekonzept zur KWK.
nahmen anzuprangern. Aber im Unterschied zu Ihnen
haben wir seit nunmehr 20 Jahren ein energiepolitisches Sie haben sich vom 25-Prozent-Ziel für die KWK ver-
Konzept aus einem Guss vorgelegt. Zum ersten Mal wird abschiedet und trauen sich nicht, dies wenigstens deut-
ein Ziel verbindlich. Dieses besteht darin, dass wir am lich zu sagen. In Ihrer Euphorie über die Laufzeitverlän-
Industriestandort Deutschland die effizienteste, klima- gerung, die nun langsam in Katerstimmung umschlägt,
verträglichste und wettbewerbsfähigste Energieversor- haben Sie einige Dinge übersehen: Der Weiterbetrieb
gung realisieren werden, die es weltweit gibt. Insgesamt alter, ineffizienter und risikobeladener Atomkraftwerke
planen wir über 60 Maßnahmen. Dabei ist die KWK ei- führt zum Investitionsattentismus beim Neubau und bei
ner von vielen Faktoren, um unsere Energieversorgung der Modernisierung von alternativen Stromerzeugungs-
umzustellen: von fossiler Energie und Kernenergie auf anlagen wie zum Beispiel KWK-Anlagen. Ohne den Aus-
regenerative Energien. Aber Ihnen fehlt eine solche bau der KWK können Sie Ihre Ziele zur Steigerung der
energiepolitische Strategie. Deshalb ist es einfach, diese Energieeffizienz vergessen. Kein konventionelles fossil
und jene Stellschraube zu kritisieren. Anspruchsvoller oder nuklear betriebenes Kraftwerk kann mit dem Wir-
hingegen, eine Langfriststrategie umzusetzen. kungsgrad einer KWK-Anlage konkurrieren. Damit ver-
passen Sie auch Ihr Klimaschutzziel von minus 40 Prozent
Ich bin überzeugt, die KWK-Frage sinnvollerweise CO2-Emissionen bis 2020 – oder die Emissionsminde-
nur vor einem langfristigen Horizont entscheiden zu rung muss sehr teuer erkauft werden.
können. Unser Energiekonzept lebt von seinem Ziel. Was
ist dieses Ziel? Bis 2050 unsere Energieversorgung na- Da KWK auch mit erneuerbaren Energien betrieben
hezu vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen – werden kann, legen Sie ein wichtiges Instrument für den
und dabei das Prinzip der Wirtschaftlichkeit nicht aus klimaschonenden Umbau des Wärmemarktes aus der
den Augen zu verlieren. Deshalb ist es auch ein Gebot Hand. Der ganz überwiegende Teil der mit dem KWK-
von Verantwortlichkeit, nicht hier und dort isoliert nach- Ausbau verbundenen Wertschöpfung findet in Deutsch-
zusteuern, sondern die Förderung von KWK in der ge- land statt. Es werden dadurch Arbeitsplätze in Deutsch-
samten Beziehung unserer energiepolitischen Ziele an- land geschaffen und gesichert. Doch Sie verzichten
zugehen. Für die KWK bedeutet das mittelfristig: In der – das ist Ihnen aber bewusst – auf Wettbewerb und de-
ersten Jahreshälfte 2011 werden wir über die Wirksam- zentrale Erzeugungsstrukturen auf dem Strommarkt.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8675
Dirk Becker
(A) Erst vor kurzem haben Sie der Fernwärme noch einen Energiekonzepte entwickeln können. Denn ab einer ge- (C)
Schlag versetzt, als Sie in einer Hauruck-Aktion die Be- wissen Größe und einer gewissen Bevölkerungsdichte
günstigung für die Fernwärme bei der Energiesteuer ge- bietet sich für Kommunen ein Stromerzeugungs- und
strichen haben. Neben der Benachteiligung der Fern- Wärmekonzept an, dass in erster Linie auf KWK basiert.
wärme im europäischen Emissionshandel in den Jahren Städte und Gemeinden sollen autonom festlegen können,
nach 2012 wird die Fernwärme mit diesem Schritt dop- wo zum Beispiel ein Nahwärmenetz sinnvoller ist als
pelt gegenüber ineffizienten und dem Emissionshandel Einzelfeuerungsanlagen mit anteiliger Nutzung von er-
nicht unterworfenen Einzelfeuerungsanlagen benachtei- neuerbaren Energien.
ligt.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Nordrhein-Westfalen.
SPD und Grüne bieten Ihnen mit diesem Antrag nun Dort hat die neue Landesregierung im Koalitionsvertrag
ihre Hilfe an, um einen Fehler zu korrigieren bevor er zwischen SPD und Grünen eine klare und mit anderen
gemacht wird. Es besteht ein großes Potenzial für KWK Maßnahmen der Energiepolitik abgestimmte Politik pro
in Deutschland – sowohl im Wärmemarkt als auch im KWK vereinbart. Dort wird versucht, mit einer eigenen
Strommarkt. Halten Sie daher zumindest am 25-Prozent- Förder- und Anreizpolitik sowie mit dem konsequenten
Ziel fest. Dadurch kann unsere Volkswirtschaft ihre Im- Abbau von Hemmnissen den KWK-Anteil an der Strom-
portabhängigkeit bei fossilen Primärenergieträgern re- erzeugung auf über 25 Prozent zu erhöhen.
duzieren. Die Modernisierung unseres Kraftwerkparks
auf Basis der KWK wirkt wie ein Konjunkturprogramm Seien Sie nicht atomfixiert. Glauben Sie nicht an die
für den Mittelstand. Es werden hier Arbeitsplätze ge- Märchen der Atomlobby. Schlagen Sie den richtigen
schaffen und gesichert. Der Maschinenbau und das Weg ein in Richtung der klimapolitisch gebotenen Ziele.
Handwerk würden es Ihnen danken. Unterstützen Sie diesen Antrag. Beenden Sie den Irrweg
der Atomenergie und setzen Sie auf den idealen Partner
In den vergangenen Jahren haben neue Energiean- der erneuerbaren Energien.
bieter und vor allem Stadtwerke in die Erneuerung und
Verjüngung des Kraftwerksparks investiert. Durch Ihre
Atompolitik verkommen nun viele Investitionen zu Klaus Breil (FDP):
„stranded investments“. Planungen mit einem Milliar- Die Grünen und die SPD wollen uns heute mit ihrem
denvolumen werden auf Eis gelegt. Am besten beerdigen Antrag weismachen, wir vernachlässigten die Kraft-
Sie die Laufzeitverlängerung, denn dann wird auch wie- Wärme-Kopplung als effiziente Ressourcen- und Klima-
der in den Strommarkt Deutschland investiert. schutzoption, stellten sie sogar zugunsten anderer kürz-
lich verlängerter Energieformen zurück. Ich sage dazu
Um das 25-Prozent-Ziel zu erreichen, müssen wir Folgendes: Indem sie die Situation hierzulande mit der
(B) aber auch die bisherigen Instrumente, insbesondere das in anderen Ländern vergleichen, machen sie die Fort- (D)
KWKG, auf ihre Wirksamkeit überprüfen. Das Gesetz schritte der deutschen Industrie und mittelständischen
muss einem Monitoring unterzogen werden. Was muss am Energieversorger in der KWK madig. Sie vergleichen
Gesetz verändert werden, damit es wirkt? Auf jeden Fall die Bundesrepublik mit flächenmäßig weitaus kleineren
muss der Anmeldezeitraum für Anlagenbau und -moder- Ländern wie Dänemark und den Niederlanden. Dort ist
nisierung über das Jahr 2016 hinaus verlängert werden. die Größe eines Fernwärmenetzes doch beinahe ver-
Reichen aber die Vergütungsklassen und die Höhe der gleichbar mit unseren Nahwärmenetzen. Da ist es kein
Vergütung? Wirkt sich der jährliche Deckel in Höhe von Kunststück, auf einen so hohen KWK-Anteil zu kommen.
750 Millionen Euro als Investitionshindernis aus? Kann
mit der Struktur des Gesetzes das Potenzial bei der in- Wir sind auf dem Weg, den Anteil von KWK-Strom
dustriellen KWK gehoben werden? auszubauen. Seit der letzten Änderung des KWK-Gesetzes
Anfang 2009 sind über 6 000 Anträge zur Förderung von
Öffnen Sie für die kleinere und mittlere KWK den
KWK-Anlagen beim BAFA eingegangen. Die Anzahl der
Markt für Regel- und Ausgleichsenergie. Insbesondere
Anträge zum Wärmenetzausbau lag bei über 600. Davon
die gasbetriebene KWK ist die eigentliche Brücke ins
sind bis zum Ende des dritten Quartals dieses Jahres
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Führen Sie das Im-
rund 5 600 Zulassungen für Anlagen und 230 Zulassun-
pulsprogramm für Mini-KWK wieder ein. Die Mini-
gen für Wärmenetzinvestitionen erteilt worden. Auch der
KWK bietet nicht nur eine sinnvolle und wirtschaftliche
diese Woche von der Bundesnetzagentur vorgestellte
Lösung im Bereich von kleineren Mehrfamilienhäusern,
Monitoringbericht widerlegt Ihre These, dass keine
die weder an ein Fernwärmenetz angeschlossen werden
KWK-Anlagen in Deutschland mehr errichtet werden.
können noch ausreichend Potenzial für die Nutzung von
KWK ist nicht tot! Mehr als 5 200 Megawatt KWK-
erneuerbaren Energien bieten. Sie stärkt auch die deut-
Stromkapazitäten gehen allein im Zeitraum von 2010 bis
sche und regionale Wirtschaft. 93 Prozent der bisher in
2012 an das Netz. Das entspricht mehr als einem Drittel
Deutschland geförderten Anlagen stammen aus heimi-
der Gesamtstromerzeuger, die in diesem Zeitraum mit
scher Produktion; der Handwerker vor Ort installiert
der Einspeisung beginnen. Dass dem wieder aufgege-
die Anlage im Keller.
bene Investitionen gegenüberstehen, ist gängige Praxis
Bauen Sie Hemmnisse und Benachteiligungen ab. In im Rahmen solcher Projekte. Entsprechend interessant
unserem Antrag listen wir Ihnen einen ganzen Katalog ist ein Blick in die Zukunft. Dort sieht es ganz gut aus:
von geeigneten Maßnahmen dazu auf. Arbeiten Sie in Mehr als 700 Megawatt sind bereits genehmigt, über
Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen daran, 800 Megawatt im Bau. Ob wir damit das Ziel einer Ver-
dass Kommunen klare und individuell geschneiderte doppelung des KWK-Anteils an der Stromerzeugung er-

Zu Protokoll gegebene Reden


8676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Klaus Breil
(A) reichen, wird die Zwischenüberprüfung im nächsten Auf kommunaler Ebene ließe sich gerade die Fern- (C)
Jahr zeigen. Ich bin zuversichtlich! wärme mit sehr positiven Effekten für Energieeinsparung
und für die regionale Wertschöpfung etablieren, würde
Sie, Grüne und SPD, beklagen ferner in Ihrem An- man die kommunalen Konzessionsverträge im Sinne der
trag, dass die Weiterführung des Impulsprogramms für öffentlichen Hand stricken und würde man Kommunen
Mini- und Mikro-KWK-Anlagen unsicher ist. Mir ist be- Anreize und Fördermöglichkeiten zur Verfügung stellen,
kannt, dass sie gerne Geld ausgeben, das sie nicht ha- ein eigenes, regionales Energieversorgungsunternehmen
ben. Ich finde die Idee mit dem Schwarmstrom ebenso zu gründen. Das bedeutete eine Regionalisierung und
vielversprechend wie die Antragsteller. Dazu braucht es Dezentralisierung von Energieerzeugung und Ver-
aber intelligente Netze. Bis sie flächendeckend in brauch. Das würde die Netze und die Verbraucher ent-
Deutschland vorhanden sind, sind die Anlagen, die lasten. Das hieße jedoch ein Aufbrechen der Marktvor-
heute beim Verbraucher zu Hause stehen, schon nicht machtstellung der großen vier Energiekonzerne; aber
mehr up to date. Das bedeutet, wir müssten schon wie- genau das will Schwarz-Gelb verhindern. Und die Rah-
der neue Anreize setzen, um nicht einen ganzen Investi- menbedingungen dahin gehend zu verändern, dass der
tionszyklus abwarten zu müssen, und das ist ganz ein- Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fortschreiten kann,
fach Quatsch! heißt auch, den großen vier Energiekonzernen ordnungs-
rechtliche Effizienzvorschriften machen. Ob die Bundes-
Tun Sie mir bitte einen Gefallen: Hören Sie endlich regierung da ihrem eigenen Anspruch, den sie in ihrem
mit Ihren Lügen auf! Ihre Anträge zur Energiepolitik Energiekonzept formuliert hat – Energieeffizienz als
sind voll davon. Die Bundesregierung würde auf den Schlüsselrolle zu begreifen –, gerecht wird, wage ich zu
Ausbau der KWK weitestgehend verzichten, um in den bezweifeln. Denn es gilt bei Schwarz-Gelb und in den
Netzen Platz für den zusätzlichen Strom aus der Lauf- Konzernetagen auch in Zeiten des ökologischen Um-
zeitverlängerung der Kernkraftwerke zu machen. Bloßes bruchs die Kapitallogik – Profite gehen vor, auch vor den
Wiederholen macht einen Sachverhalt lange noch nicht Schutz des Klimas.
wahr. Lesen Sie die Netzstudie II der dena! Marktwirt-
schaftlich gesehen hat ganz einfach immer der Strom im Bei allen Effizienzbestrebungen und wünschenswer-
Netz zu sein, der zu genau diesem Zeitpunkt am kosten- ten Entwicklungen muss aber auch klar sein, dass bei
günstigsten produziert wird. Das ist nach den Erneuer- der Verfeuerung und energetischen Nutzung von Bio-
baren nun einmal der Strom aus den deutschen masse auch der KWK-Bereich an seine Grenzen stoßen
Kernkraftanlagen, wenn wir einmal vom Import von Er- wird. Nicht alles, was regenerativ heißt, ist auch nach-
neuerbaren absehen. haltig nutzbar. Es braucht viel Augenmaß, den ökologi-
schen Flächenschutz und die Nahrungsmittelproduktion
(B) nicht gegen die erneuerbaren Energien auszuspielen. (D)
Dorothee Menzner (DIE LINKE):
Man muss auch klar feststellen, dass Kraft-Wärme-
Die Bundesregierung gibt sich allenthalben Mühe, Kopplung auf Grundlage fossiler Brennstoffe bereits
sinnvolle Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffi- jetzt ein Auslaufmodell ist; denn 100 Prozent erneuer-
zienz nicht in Betracht zu ziehen. Das konnte man bei bare Energien gibt es damit nicht. Aber es ist ein wichti-
den Beratungen zum Gesetz für Endenergieeffizienz gut ger Übergang, ein Schritt auf dem Weg dorthin.
beobachten, und das manifestiert sich auch in ihrem
Energiekonzept. Und da reden wir dann von Brückentechnologie, denn
nur das ist tatsächlich energie- und klimapolitisch sinn-
Energieverschwendung können wir uns nicht leisten. voll. Ein Erdgasblockheizkraftwerk, also Kraft-Wärme-
Was bei der energetischen Umwandlung von der Pri- Kopplung in angewandter Form bei Verbrennung einer
mär- zur Nutzenergie tagtäglich an Ressourcen vergeu- fossilen Ressource, hat eine bessere CO2-Bilanz als ein
det wird, ist unbegreiflich. Allein die Abwärme, die stän- Atomkraftwerk. Das deutsche Atomforum und mit ihm
dig aus Kraftwerken in die Umwelt verpufft, reicht aus, gemeinsam die Bundesregierung verschweigen das ge-
den Wärmebedarf des gesamten Gebäudebestandes zu flissentlich und streuen weiter die Lüge vom emissions-
decken. freien Atomstrom.
Hier gibt es wesentliche Ansatzpunkte, den Energie- Wir halten den vorliegenden Antrag von SPD und
verbrauch zu minimieren, Ressourcen zu schonen und Grünen für einen tragfähigen Ansatz, mit einer Novellie-
die weitere Beschädigung des Weltklimas zumindest ein- rung des KWK-Gesetzes unter den Zwängen des freien
zudämmen. Dass sich Deutschland mit einem Anteil von Marktes einen Anstoß zum Einsparen von Energie zu ge-
nur etwa 15 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung im Strom- ben.
mix europaweit im unteren Mittelfeld bewegt, ist ein
Zeichen von eklatanten Versäumnissen und verfehlter Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Energiepolitik: Fernwärme beispielweise wird durch In dem vorliegenden Antrag, den wir gemeinsam mit
den jüngsten Beschluss des Haushaltsbegleitgesetzes der SPD aufgesetzt haben, fordern wir die Bundesregie-
schlechter gestellt – eine Technologie, die in Finnland rung auf, an den Ausbauzielen für die hocheffiziente
selbst vom größten Stromversorger als die mit Abstand Kraft-Wärme-Kopplung, KWK, festzuhalten. KWK ist
wirtschaftlichste Variante für die Stromerzeugung be- die gleichzeitige Erzeugung von Strom und Wärme und
zeichnet wird und dort zu einem großen Boom der Kraft- damit eine hocheffiziente Technologie mit Wirkungsgra-
Wärme-Kopplung geführt hat. den von bis zu 90 Prozent. Sie führt zu deutlichen Ener-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8677
Oliver Krischer
(A) gieeinsparungen, sowohl in privaten Haushalten als In ihrem Energiekonzept schließlich, welches die (C)
auch in der Industrie. Diese innovative und flexible Bundesregierung nach monatelangen Ankündigungen
Technologie stellt darüber hinaus eine ideale Ergänzung im September veröffentlicht hat und das nach den Wor-
für Strom aus erneuerbaren Energien mit einem fluktuie- ten der Kanzlerin geradezu eine Revolution darstellt,
renden Einspeiseverhalten dar. Doch die schwarz-gelbe hat sich die Bundesregierung endgültig von ihren Aus-
Bundesregierung hat in den vergangenen 14 Monaten bauzielen für die KWK verabschiedet. Bitte erzählen Sie
ihrer Regierungszeit alles getan, um den weiteren Aus- uns jetzt nicht das Märchen, Sie seien damit einer Emp-
bau dieser Technologie zu verhindern und der gesamten fehlung der drei Institute gefolgt, die sich für die Ener-
Branche mit circa 40 000 Beschäftigten vor den Kopf zu gieszenarien verantwortlich zeichnen. Es ist bekannt,
stoßen. Dies ist der Grund, warum wir uns gemeinsam dass diesen Instituten gewisse Vorgaben gemacht wur-
mit der SPD zum Handeln gezwungen sehen. den, und ein forcierter Ausbau der KWK war mit Sicher-
heit nicht Bestandteil dieser Vorgaben; das haben die
Lassen Sie uns zunächst einen kurzen Blick zurück Lobbyisten von RWE und Co. erfolgreich verhindert.
werfen: Es ist gerade einmal drei Jahre her, da hat die Diese Unternehmen wurden im Energiekonzept dagegen
damalige Große Koalition unter der Kanzlerin Angela mit einem schönen Geschenk in Form von längeren
Merkel ihr Integriertes Energie- und Klimapaket, IEKP, Laufzeiten für Atomkraftwerke bedacht. Jetzt gab es nur
vorgelegt. In diesem Paket wurde als oberste Maßnahme ein Problem: Wohin mit dem ganzen Atomstrom? Dass
das Ziel vereinbart, den Anteil der hocheffizienten KWK wir ihn nicht brauchen, um eine angebliche Stromlücke
auf 25 Prozent am deutschen Stromverbrauch zu erhö- zu decken, hat man inzwischen sogar bei Union und
hen. Auch wenn in Deutschland noch deutlich größere FDP begriffen. Sie lösten das Problem, indem sie die
KWK-Potenziale existieren und erschließbar sind, ha- KWK aus ihren Strategiepapieren strichen. Da sie genau
ben wir Grüne es damals begrüßt, dass ein deutlicher wissen, dass der konsequente Ausbau der erneuerbaren
Ausbau der KWK stattfinden soll. Viele Unternehmen in Energien nicht mehr aufzuhalten ist, entschieden sie sich
Deutschland haben in den vergangenen Jahren in diese für die vergleichsweise unbekannte KWK, aus Angst vor
Klimaschutztechnologie in dem Vertrauen investiert, Protesten.
dass die Politik den Ausbau dieser Technologie fördert
und forciert. Aus Gründen des Klimaschutzes und im Interesse ei-
ner ganzen Branche fordern wir daher auf, die KWK
Doch schon beim Regierungswechsel vor etwas mehr nicht, wie im Energiekonzept vorgesehen, den Gewinnin-
als einem Jahr wurde erkennbar, dass die neue schwarz- teressen der großen vier Oligopolisten im Strommarkt zu
gelbe Bundesregierung ungeachtet des Vertrauens auf opfern, sondern an den im IEKP und dem Kraft-Wärme-
(B) Investitionssicherheit seitens der Branche und vieler Kopplungs-Gesetz formulierten Ziel von 25 Prozent (D)
Stadtwerke eine Kehrtwende bei der KWK vollzieht. Mit Stromerzeugung aus KWK in Deutschland festzuhalten
keinem Wort wurde die KWK im Koalitionsvertrag er- und auch die entsprechenden Maßnahmen zur Errei-
wähnt. Die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke chung dieses Ziels einzuleiten. Wie dies gelingen kann,
wurde dagegen im Koalitionsvertrag bereits angekün- können sie in unserem fraktionsübergreifenden Antrag
digt und auch der Neubau von „hocheffizienten Kohle- nachlesen. Wir haben dort alle notwendigen Punkte auf-
kraftwerken“, bei denen mehr als die Hälfte der Energie geführt. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion
immer noch sinnlos als Abwärme in die Atmosphäre ab- darüber mit Ihnen in den Ausschüssen des Deutschen
gegeben wird, sollte ausdrücklich ermöglicht werden. Bundestages.
Schon zu diesem frühen Zeitpunkt zeichnete sich die be-
vorstehende Klientelpolitik der neuen Bundesregierung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zugunsten der großen Energiekonzerne deutlich ab. Als
Folge dieser Politik stehen viele Stadtwerke – diese in- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
vestieren hauptsächlich in KWK – nun vor sogenannten Drucksache 17/3999 an die in der Tagesordnung aufge-
„Stranded Investments“. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie,
wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung
Diese Politik gegen die KWK setzte sich in dem zu- so beschlossen.
rückliegenden Jahr durchweg fort. So wurde das Im-
pulsprogramm zur Förderung von Mini-KWK-Anlagen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
ohne jede Not im März diesen Jahres eingestellt, und Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
das, obwohl selbst das Bundesumweltministerium in ei- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
ner Studie nachgewiesen hat, dass jeder Förder-Euro eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll
mindestens 7 Euro Investitionen auslöst und sich das vom 25. Mai 2010 zum Abkommen vom
Programm durch die damit verbundenen Steuereinnah- 17. Oktober 1962 zwischen der Bundesrepu-
men von selbst trägt. Dies ist ein wahrer Schildbürger- blik Deutschland und Irland zur Vermeidung
streich, den sich die Bundesregierung da geleistet hat. der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung
Ohne das Impulsprogramm wird es die noch junge Tech- der Steuerverkürzung bei den Steuern vom
nik mit ihrem großen Potenzial, die einen wichtigen Bei- Einkommen und vom Vermögen sowie der Ge-
trag zur Erreichung der Klimaschutzziele und zur De- werbesteuer
zentralisierung der Stromerzeugung leistet, sehr viel
schwerer haben, den Durchbruch im Markt zu erreichen. – Drucksache 17/3358 –
8678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- wirtschaftlichen Entwicklung und der Erosion der Be- (C)
schusses (7. Ausschuss) steuerungsgrundlagen zwischen den Staaten infrage.
Der Steuerausschuss der OECD kam zu dem Schluss,
– Drucksache 17/4061 – dass dieses Instrument nur mit solchen Staaten in Be-
Berichterstattung: tracht gezogen werden sollte, deren wirtschaftlicher
Abgeordnete Manfred Kolbe Entwicklungsstand wesentlich unter dem von Mitglied-
Lothar Binding (Heidelberg) staaten der OECD liegt.
Dr. Birgit Reinemund Zum Ausblick: Der Parlamentarische Staatssekretär
im Bundesfinanzministerium, Hartmut Koschyk, hat den
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Finanzausschuss im Juli dieses Jahres über die Para-
Dem Deutschen Bundestag liegt heute der Gesetzent- phierung eines neuen Doppelbesteuerungsabkommens
wurf zur Ratifikation des Änderungsprotokolls zum mit Irland informiert. Der entsprechende Ratifikations-
Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland vor. Grund- prozess wird durch unser Haus in den nächsten Monaten
sätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen dazu, beginnen, nachdem das Bundeskabinett entsprechend
die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten für Un- beraten und beschlossen hat. Damit werden wir dann
ternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Damit umfänglicher auf die im Vergleich zu 1962 veränderte
kann die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit Situation im Bereich der Doppelbesteuerungspolitik mit
verbessert und Investitionshemmnisse können aufgrund Irland eingehen. Nach bisherigem Stand wird dabei der
einer doppelten Steuerlast abgebaut werden. OECD-Standard umgesetzt, und es werden Neuregelun-
gen unter anderen in den Bereichen Dividenden, Renten
Das bestehende Abkommen mit Irland wird nach dem und Informationsaustausch in Steuersachen getroffen.
heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens an die Dies alles werden wir dann zu gegebener Zeit erörtern.
bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst.
Zum Inhalt: Am 17. Oktober 1962 wurde erstmalig ein Für heute steht zunächst nur das Änderungsprotokoll
Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Irland und der zur Abstimmung; damit steht die Aufhebung der fiktiven
Bundesrepublik unterzeichnet. Zur damaligen Zeit war Quellensteueranrechnung auf der Agenda. Die Unions-
es ein Grundsatz der bundesdeutschen Außensteuerpoli- fraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf zustim-
tik, Doppelbesteuerungsabkommen mit als Instrument men und dankt dem Ausschusssekretariat für die geleis-
der bundesdeutschen Hilfe zur wirtschaftlichen Ent- tete Arbeit.
wicklung zu nutzen, um das ärmere Land zu fördern. So
wurde auf die Dividenden aus Irland in Deutschland Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
(B) eine fiktive irische Steuer von 18 Prozent angerechnet, Wir verhandeln heute die Überarbeitung des Doppel- (D)
die tatsächlich so nicht angefallen war, sondern nur besteuerungsabkommens, DBA, zwischen Irland und der
fiktiv angenommen wurde. Somit wurden deutsche In- Bundesrepublik Deutschland. Im Kern geht es dabei um
vestitionen in Entwicklungsländern gefördert, da sich die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung in
die Steuerschuld gegenüber dem deutschen Fiskus im Art. XXII des Abkommens. Die SPD-Bundestagsfraktion
Verhältnis zu wirtschaftsstarken Ländern ohne fiktive unterstützt dieses Verhandlungsergebnis, das die Ein-
Quellenbesteuerung verringert. nahmeseite des Bundeshaushalts stärken soll und die
Anfälligkeit der Regelungen für Steuergestaltung und
Da die teilweise rasante wirtschaftliche Entwicklung
Missbrauch verringert. Mit der Revision wird das beste-
Irlands dieses Instrument heute nicht mehr erfordert,
hende Abkommen an das aktuelle OECD-Musterabkom-
war es aufzuheben. Das Änderungsprotokoll vom
men, OECD-MA, aus dem Jahr 2008 angepasst.
25. Mai 2010 enthält die notwendigen Regelungen, die
fiktive Anrechnung von Quellensteuern zu beseitigen. Die Bundesrepublik bildet damit im Steuerrecht die
Mit dem vorliegenden Vertragsgesetz soll das Ände- Weiterentwicklung der irisch-deutschen Wirtschaftsbe-
rungsprotokoll zu dem geltenden Doppelbesteuerungs- ziehungen und die Annäherung im sozioökonomischen
abkommen die für die Ratifikation erforderliche Zustim- Entwicklungsniveau der beiden Staaten ab. Die irische
mung durch unser Haus erlangen. Regierung ist Deutschland in den Verhandlungen entge-
gengekommen und hat die Aufhebung der fiktiven Quel-
Zur Bewertung: Das geltende Doppelbesteuerungs- lensteueranrechnung schon vor Abschluss des parla-
abkommen ist aufgrund der wirtschaftlichen und steuer- mentarischen Verfahrens angekündigt.
rechtlichen Entwicklung in beiden Staaten überholt und
sollte insbesondere an das aktuelle OECD-Musterab- Das zur Revision anstehende Doppelbesteuerungsab-
kommen angepasst werden. Irland hat bereits vor dem kommen stammt aus dem Jahr 1962 und reflektiert ins-
Abschluss dieses Änderungsprotokolls einer Gesamtre- besondere in der Regelung zur Anrechnung einer fikti-
vision des Doppelbesteuerungsabkommens zugestimmt ven, das heißt in Irland nicht erhobenen und gezahlten
und somit dem Wunsch der deutschen Seite entsprochen. Quellensteuer die ursprünglichen Motive des Vertrags
Die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung zwischen Irland und Deutschland. Fiktive Quellen-
orientiert sich an den Empfehlungen des Steueraus- steueranrechnung bedeutet, dass in Irland als gezahlt
schusses der OECD aus dem Jahre 1998. Der Bericht geltende Quellensteuer bei der Ermittlung der Steuer in
stellt den Nutzen der Gewährung fiktiver Quellensteuer- Deutschland angerechnet wird. Irland erhebt keine Ka-
anrechnungen insbesondere wegen der Missbrauchs- pitalertragsteuer auf Zahlungen an nichtansässige Per-
anfälligkeit, der Wirksamkeit als Instrument zur sonen oder Gesellschaften. Dem Steuerpflichtigen in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8679
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Deutschland entsteht also lediglich eine fiktive Steuer- für die betroffenen Unternehmen: „Die Wirtschaft ist (C)
last. Das im bisherigen Abkommen vorgesehene An- durch das Gesetz nicht unmittelbar betroffen. Unterneh-
rechnungsverfahren gilt für Zins- und Dividendenzah- men, insbesondere mittelständischen Unternehmen, ent-
lungen an natürliche Personen, insbesondere allerdings stehen durch dieses Gesetz keine unmittelbaren direkten
für Ausschüttungen einer irischen Tochtergesellschaft Kosten. Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisni-
an die deutsche Konzernmutter. Bislang konnte sich das veau, insbesondere das Verbraucherpreisniveau, sind
in Deutschland steuerpflichtige Mutterunternehmen von dem Gesetz nicht zu erwarten.“
18 Prozent des Nettobetrags dieser empfangenen Divi-
denden auf seine Steuerschuld anrechnen lassen. Im Er- Ich frage mich allerdings, wie die steuerlichen Mehr-
gebnis musste das Unternehmen somit weniger Steuer einnahmen entstehen sollen, wenn bei niemandem die
abführen, als wenn seine Dividendeneinkünfte aus inlän- Steuerbelastung steigt, weder bei den betroffenen Unter-
dischen Beteiligungen stammen würden – ein steuerli- nehmen noch bei ihren Kunden. Meine Nachfrage im Fi-
cher Anreiz für ein Engagement im Ausland. Deutsch- nanzausschuss konnte diesen Widerspruch zu den
land subventionierte mit dieser Regelung also Investi- Grundsätzen einer transparenten und seriösen Kosten-
tionen deutscher Unternehmen in Irland. abschätzung leider nicht auflösen. Die unklaren und
schwer nachvollziehbaren Ausführungen der Bundesre-
Der Verzicht auf Steuereinnahmen diente somit als In- gierung verwundern, zumal sie sich von der Revision des
strument der Wirtschaftsförderung und entwicklungspo- Doppelbesteuerungsabkommens eine Erweiterung der
litischen Zusammenarbeit. Es handelte sich um eine inländischen Besteuerungsgrundlage und die Stärkung
steuerliche Subvention von Investitionen im Ausland, die der Einnahmeseite des Haushalts verspricht. Sie ver-
von deutscher Seite toleriert wird. Im Regelfall findet weist zur Umsetzung dieser Zielsetzungen in der Geset-
diese Anrechnungsmethode in Abkommen mit Entwick- zesbegründung ausdrücklich auf die entsprechenden
lungsländern oder Staaten in wirtschaftlichen Schwie- Empfehlungen des Steuerausschusses der OECD, der zu
rigkeiten Anwendung. Die steuerliche Unterstützung der einer Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung
wirtschaftlichen Entwicklung war 1962 für Irland si- rät.
cherlich eine sinnvolle Überlegung und Regelung. Das
geltende Abkommen ist mittlerweile aufgrund des wirt- Das Informationsgefälle zwischen Bundesregierung
schaftlichen Aufholprozesses Irlands allerdings über- und Bundestag ist kein Einzelfall. Der Finanzausschuss,
holt. Das Land hat stark von seinem Beitritt zur Euro- der federführend die parlamentarischen Beratungen ei-
päischen Union und dem dadurch ausgelösten nes DBA betreut, beklagt seit längerem die Schieflage
Modernisierungsschub profitiert, insbesondere von der zwischen Legislative und Exekutive im Zugang zu Infor-
Unterstützung aus den verschiedenen EU-Programmen mationen und bei der Verhandlungssteuerung. Ange-
(B) zur Förderung der wirtschaftlichen, strukturellen und sichts der wachsenden Bedeutung eines ausgewogenen (D)
regionalen Entwicklung. und abgestimmten Netzes von Doppelbesteuerungsab-
Inzwischen ist Irland ein starker Standort für Unter- kommen bin ich der Ansicht, dass der Finanzausschuss
nehmen, sogar so stark, dass das Land einen der nied- mehr und bessere Informationen über die bisherige An-
rigsten Körperschaftsteuersätze in Europa hat und da- wendung eines Abkommens und seine künftige Ausrich-
mit in einen starken Ansiedlungswettbewerb mit anderen tung benötigt, um seine Aufgabe auf einer ausreichen-
Staaten getreten ist, die einen höheren Steuersatz haben. den Datengrundlage verantwortungsbewusst wahr-
Die irische Regierung schreibt in einem Memorandum nehmen zu können. Zu einer besseren Beteiligung des
zur Wirtschafts- und Finanzpolitik zu ihrem Antrag auf Gesetzgebers gehören nach meiner Einschätzung etwa
finanzielle Unterstützung im Rahmen des europäischen Informationen über die fiskalischen und wirtschaftli-
Finanzstabilisierungsmechanismus, „dass Irland welt- chen Wirkungen oder die Zahl der betroffenen Steuer-
weit an vorderster Front steht, was die Bereitstellung ei- pflichtigen wie auch Gestaltungsbefugnisse in der mate-
ner unternehmensfreundlichen Umgebung angeht“. In riellen Verhandlungsstrategie und bei Anwendung von
dieser Konstellation ist eine steuerliche Förderung über Anrechnungs- und/oder Freistellungsmethoden.
eine fiktive Quellensteueranrechnung nicht mehr sinn-
Mehr Sorgfalt der schwarz-gelben Bundesregierung an
voll und erforderlich. Deshalb hat die Bundesregierung
dieser Stelle hätte den parlamentarischen Beratungen gut
im Jahr 2007 Verhandlungen über eine Revision des Ab-
getan. Ich hoffe, dass sich das Denk- und Handlungsmus-
kommens aufgenommen. Die Aufhebung der fiktiven
ter von Union und FDP, das sich in der sozialen Schieflage
Steueranrechnung hilft dabei, Steuersubstrat in Deutsch-
der sogenannten Sparbeschlüsse, in den Rechentricks bei
land zu sichern. Es handelt sich um ein Ziel, für das die
der Haushaltsaufstellung des kommenden Jahres oder bei
SPD-Bundestagsfraktion seit langem arbeitet.
der Verbuchung nicht vorhandener, vielleicht nie realisier-
Mit Blick auf die angekündigte Sicherung von Steuer- barer Einnahmen, etwa aus der Finanztransaktionsteuer
einnahmen in Deutschland tritt allerdings ein Wider- oder der Brennelementesteuer, äußert, nicht auch in den
spruch im Gesetzentwurf der Bundesregierung zutage, auf Dauer angelegten Verträgen zur Regelung grenzüber-
der sich auch in den Beratungen im Finanzausschuss schreitender Besteuerungssachverhalte niederschlägt. Die
nicht aufklären ließ: Die Bundesregierung spricht in ih- SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf,
rem Gesetzentwurf davon, dass sich durch die Beseiti- Doppelbesteuerungsabkommen mit ähnlichen Regelun-
gung der fiktiven Quellensteueranrechnung „nicht bezif- gen der Wirtschaftsförderung, die ebenfalls nicht mehr
ferbare Steuermehreinnahmen“ für die öffentlichen dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung entspre-
Haushalte ergeben. Andererseits heißt es zu den Kosten chen, zu überarbeiten und Verhandlungen über den

Zu Protokoll gegebene Reden


8680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) Wechsel zu einem „echten“ Anrechnungsverfahren auf- Sektor, treffen leider ausgerechnet Menschen, die auf die (C)
zunehmen. Unterstützung durch das Sozialsystem angewiesen sind.
Leider hatte die Exekutive auch keine zufriedenstel- Auf dem Gebiet der Finanzmarktregulierung und der
lende Antwort auf die Frage, warum der Bundestag Erschließung von Steuereinnahmen aus dem Unterneh-
nicht schon früher auf die alte Regelung der fiktiven mensbereich – ich denke etwa an die Einführung einer
Quellensteueranrechnung hingewiesen wurde; schließ- europaweiten Finanztransaktionsteuer oder an die Fort-
lich sind die Rechtfertigungsgründe dafür schon lange setzung der Arbeiten an der Umsetzung einer Gemeinsa-
entfallen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass uns men Konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Kör-
Irland von Schwarz-Gelb immer als Musterland für die perschaftsteuer, GKKB, – hört man von der Bundes-
vermeintlichen Wohltaten von Steuersenkungen und regierung kaum konstruktive Vorschläge. Eine Verstän-
nachlässiger Finanzaufsicht vorgehalten wurde. Dabei digung auf einheitliche steuerliche Grundlagen, eine
wurde allerdings übersehen, welcher Schaden für den Angleichung von Steuersätzen bei der Körperschaft-
Staat bei solcher Unterfinanzierung entstehen würde. steuer oder die Einführung einer Besteuerung von Fi-
Heute sehen wir das Problem, wenn das finanziell aus- nanztransaktionen könnte sicherlich einen wichtigen
gezehrte Irland seine Finanzierungsschwierigkeiten, die Beitrag zur einnahmeseitigen Haushaltskonsolidierung
auch mit den umfangreichen Rettungsmaßnahmen für insbesondere von Staaten leisten, die mit wachsender
seinen Bankensektor zusammenhängen, nur noch mit- Verschuldung und hohen Belastungen aus der Finanz-
hilfe seiner europäischen Partnerländer bewältigen krise zu kämpfen haben. Die Einnahmen aus einer Ban-
kann. kenabgabe reichen dafür nicht aus. Eine Finanztransak-
tionsteuer hingegen ist hier besser geeignet. Die SPD-
Die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung Bundestagsfraktion hat einen Antrag „Irland unterstüt-
und der damit verbundene Wegfall der steuerlichen För- zen und wirksamen Mechanismus zur Bewältigung von
derung fallen ausgerechnet in eine Phase, in der es Ir- Staatsfinanzierungskrisen schaffen“ erarbeitet, der gute
land schlecht, sogar sehr schlecht geht. Diese zeitliche Vorschläge zur Krisenbewältigung in Irland und zur
Konstellation ist natürlich unglücklich und von nieman- Wiederherstellung der europäischen Solidarität enthält.
dem bewusst herbeigeführt, zumindest was die DBA-
Neuregelung angeht. Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Das derzeitige Doppelbesteuerungsabkommen mit Ir-
Die Finanzierungsschwierigkeiten Irlands spiegeln
land ist auf dem Stand von 1962. Damals wurde Irland
allerdings auch die grobe Verhandlungsführung von
noch als sogenanntes Entwicklungsland eingestuft, was
Bundeskanzlerin Merkel auf europäischer Ebene wider.
es heute – unabhängig von den vorhandenen finanziel-
(B) Ihre unausgereiften und unkoordinierten Vorschläge zu (D)
len Schwierigkeiten – definitiv nicht mehr ist. Als Instru-
einer Verschärfung des europäischen Stabilitäts- und
ment der deutschen Hilfe zur wirtschaftlichen Entwick-
Wachstumspakts, SWP, zur Einrichtung eines europäi-
lung war vereinbart worden, dass als gezahlt geltende
schen Stabilitätsmechanismus zur Bewältigung von ausländische Steuern auf deutsche Steuern angerechnet
Staatsfinanzierungskrisen sind bei vielen Partnerstaaten werden können. Nach dem geltenden Doppelbesteue-
in Europa auf Ablehnung und heftige Kritik gestoßen. rungsabkommen mit Irland wird das Instrument der fik-
Das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik und tiven Quellensteueranrechnung einseitig auf nach
ihr Einfluss in den auf Zusammenarbeit angelegten eu- Deutschland fließende Dividenden angewendet. In die-
ropäischen Institutionen hat durch das rücksichtslose, sem Fall können 18 Prozent des Nettobetrages der emp-
machtorientierte Auftreten der Bundeskanzlerin und ih- fangenen Dividenden auf die deutsche Steuer angerech-
ren fast schon herrischen Verhandlungsstil großen Scha- net werden, die auf diese Dividenden entfällt. Diese
den genommen. ursprünglich gewünschte Förderung ist heute nicht
Auch in der irischen Bevölkerung ist der Eindruck mehr zeitgemäß. Die Regelung soll daher nun durch das
entstanden, die schwarz-gelbe Bundesregierung habe vorliegende Änderungsprotokoll herausgenommen wer-
mit ihrem unkoordinierten Vorgehen und ihren vagen den. Ich begrüße ausdrücklich, dass Irland hier dem
Andeutungen viel Unsicherheit in die Finanzmärkte hi- Wunsch der Bundesrepublik entsprochen hat, die fiktive
Quellensteueranrechnung bereits vor der Revision des
neingetragen und die in den vergangenen Tagen und
gesamten Abkommens aufzuheben.
Wochen wachsenden Refinanzierungsschwierigkeiten
Irlands mitverschuldet. Die Nachwirkungen des irischen Am 25. Mai 2010 wurde ein Änderungsprotokoll zum
Antrags auf Unterstützung werden den irischen Staats- geltenden Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland un-
haushalt und die Menschen in Irland noch lange be- terzeichnet. Die Aufhebung der fiktiven Quellensteuer-
schäftigen. Als Gegenleistung für die europäische und anrechnung orientiert sich an den Empfehlungen des
internationale Unterstützung musste sich Irland wie zu- Steuerausschusses der OECD aus dem Jahre 1998.
vor schon Griechenland zu schmerzhaften Sparanstren- Hierbei wird vor allem der Tatsache Rechnung getra-
gungen, zu einer tiefgreifenden Reorganisation, zu einer gen, dass die fiktive Quellensteueranrechnung sehr
Rekapitalisierung des Bankensektors und zu einschnei- missbrauchsanfällig ist. Der Steuerausschuss der
denden Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und in OECD hat festgestellt, dass der Einsatz dieses Instru-
den Sozialsystemen verpflichten. Die Beschlüsse, etwa ments nur mit solchen Staaten vereinbart werde solle,
die Absenkung des Mindestlohns oder die Kürzung von dessen wirtschaftlicher Entwicklungsstand wesentlich
Sozialleistungen und Gehaltszahlungen im öffentlichen unter dem von OECD-Mitgliedstaaten liegt. Darüber hi-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8681
Dr. Birgit Reinemund
(A) naus wird mit dem vorliegenden Änderungsprotokoll die Das heißt, zuerst muss die Steuerverwaltung einen (C)
Gewährung von Vergünstigungen bei Schachteldividen- begründeten Verdacht hegen, um dann im betreffenden
den gemäß der Bestimmungen der europäischen Mutter- Land nachfragen zu können. Das ist bürokratisch, kostet
Tochter-Richtlinie von 25 Prozent auf 10 Prozent ange- Zeit, frisst viele Ressourcen und unterstützt die Steuer-
passt. umgehung. Deshalb fordert Die Linke seit langem einen
automatischen Informationsaustausch. Zudem fordern
Es ist allerdings zu begrüßen, dass während der Ver- wir, dass Übertragungen von Geldvermögen ins Ausland
handlungen über das Revisionsabkommen im Juni die- ab einem jährlichen Betrag von 100 000 Euro beim Bun-
ses Jahres alle noch offenen Punkte geklärt werden deszentralamt für Steuern angemeldet werden müssen.
konnten und das neue Abkommen somit auch bereits pa- Die Diskussion mit Liechtenstein und der Schweiz sowie
raphiert werden konnte. Struktur und Inhalt entsprechen um die Steuer-CDs und die strafbefreiende Selbstan-
im Wesentlichen den anderen deutschen Abkommen die- zeige bräuchten wir nicht zu führen, hätten wir einen au-
ser Art. So wurde, was das Auskunftsverfahren anbe- tomatischen Informationsaustausch.
langt, der umfassende Informationsaustausch entspre-
chend der OECD-Musterklausel vereinbart. Er erstreckt Die Streichung der fiktiven Quellensteueranrechnung
sich damit nicht nur auf die Bankenauskünfte, sondern ist ein guter, aber nur minimaler Schritt, denn es bleibt
auch auf Sachverhalte wie Geldwäsche, Korruption und überwiegend bei der Freistellungsmethode mit Progres-
Terrorismus. Man orientiert sich am aktuellen OECD- sionsvorbehalt. Das heißt: Es wird der Steuersatz ermit-
Musterabkommen. Derzeit werden die Vertragstexte telt unter Berücksichtigung der im Ausland erzielten
übersetzt, sodass wir neben dem jetzt vorliegenden Än- Einkünfte. Dieser Steuersatz wird dann allerdings auf
derungsprotokoll dann das gesamte Abkommen an den die Bemessungsgrundlage im Inland, ohne die Berück-
aktuellen Stand der wirtschaftlichen Verflechtungen mit sichtigung der ausländischen Einkünfte, angewendet.
Irland anpassen können. Bevor wir dieses im nächsten Das ist der sogenannte Progressionsvorbehalt. Dies
Jahr beraten werden, sollten wir allerdings bereits heute spielt natürlich denen in die Hände, die Einkünfte im
den vorliegenden Gesetzentwurf beschließen. Nur so Ausland mit niedrigeren Steuersätzen erzielen. Denn sie
können wir die fiktive Quellensteueranrechnung bereits müssen auf die im Ausland erzielten Einkünfte nicht den
für 2010 außer Kraft setzen und die entsprechenden im Inland höheren Steuersatz zahlen.
Steuermehreinnahmen verbuchen. Wir begrüßen die
Vorlage des Änderungsprotokolls, da es an der Zeit war, Um Einkünfte gleich zu behandeln und Steuergestal-
eine Revision des bestehenden Abkommens aus dem tung zulasten des Fiskus einzudämmen, ist unserer Mei-
Jahr 1962 der Realität anzupassen. nung nach die Anwendung der Anrechnungsmethode
sinnvoller; denn in diesem Fall werden die Einkünfte bei
(B) Es ist unser ausgesprochener politischer Wille, die der Berechnung der inländischen Steuer in der Bemes- (D)
Regelung der fiktiven Quellenbesteuerung als Instru- sungsgrundlage berücksichtigt. Von der im Inland zu
ment der Entwicklungspolitik durch geeignetere Maß- zahlenden Steuer wird dann lediglich die bereits im Aus-
nahmen zu ersetzen, in Entwicklungsländern ebenso wie land gezahlte Steuer abgezogen. Damit entfällt der
innerhalb Europas. Wir freuen uns, dass diese Bundes- Anreiz auf Steuergestaltung, und nur dadurch kann letzt-
regierung dies Schritt für Schritt umsetzt. endlich garantiert werden, dass Einkünfte von Inlände-
rinnen und Inländern steuerlich gleich behandelt
werden, unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Ein-
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): künfte. Dies böte eine Chance auf mehr Steuergerechtig-
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung endlich keit, doch diese haben Sie vertan.
die fiktive Anrechnung von Quellensteuern im derzeiti-
gen Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland aufheben Zum wiederholten Male muss ich sagen: Damit die
will. Diese Änderung ist überfällig. Denn sie war ur- geltenden Steuergesetze auch vernünftig umgesetzt wer-
sprünglich als Instrument zur wirtschaftlichen Entwick- den können, brauchen wir eine besser ausgestattete
lung gedacht. Aber wie wir sehen konnten, hatte Irland Finanzverwaltung, damit diese ihre Arbeit erledigen
das die letzten Jahre definitiv nicht nötig, und der kann. Hier ein alarmierender Hinweis: Während es der-
OECD-Steuerausschuss empfahl das bereits 1998. zeit rund 111 000 Planstellen bei den deutschen Finanz-
ämtern gibt, waren es 2004 noch über 119 000. Dabei ist
Noch einmal zur Rolle von Doppelbesteuerungsab- die Rendite eines solchen Beamten enorm: Rein rechne-
kommen: Einerseits ist zu verhindern, dass Staatsbürger, risch erbringt jeder Finanzbeamte pro Jahr rund
sofern sie in einem anderen Land arbeiten, übermäßig 4,6 Millionen Euro.
besteuert werden. Gleichzeitig soll dadurch verhindert
werden, dass jemand Vermögen ins Ausland schafft und Zum Schluss noch kurz zur Irland-Problematik: Die
dieses somit der Besteuerung im Ursprungsland ent- Folgen der Krise, welche ursächlich den Banken in Ir-
zieht. land zugeschrieben werden kann, wollen Sie wie auch in
Griechenland auf die Bevölkerung abladen. Statt die
Der Knackpunkt zur tatsächlichen Verhinderung von Spekulationen einzudämmen – Herr Finanzminister
Steuerumgehung ist der Informationsaustausch zwi- Schäuble sagte doch selbst im Deutschlandfunk: „Wir
schen den Steuerbehörden der Länder. Hier steckt der haben zu viel Spekulation“ – und die Finanzmärkte
Teufel wie so oft im Detail. Selbst nach OECD-Muster- wirklich zu regulieren und nach dem Verursacherprinzip
abkommen erfolgt kein automatischer Informationsaus- vorzugehen, belasten Sie die Bevölkerung. Sie knicken
tausch, sondern lediglich ein Austausch auf Ersuchen. vor der Bankenlobby ein, das ist das Problem.

Zu Protokoll gegebene Reden


8682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Barbara Höll


(A) So kommt es, dass, ebenfalls wie in Griechenland, in des längst überholten Abkommens von 1962. Die Ände- (C)
Irland Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, eine rung regelt lediglich die Abschaffung der fiktiven An-
Senkung des Mindestlohnes, die Erhöhung des Renten- rechnung von Quellensteuern. Dies ist als erster Schritt
eintrittsalters auf 68 Jahre sowie eine Mehrwertsteuer- in die richtige Richtung zu begrüßen. Aber als nächster
erhöhung auf 21 Prozent als Bedingungen gesetzt wer- Schritt muss dringend eine Anpassung an OECD-Stan-
den, damit Irland die finanziellen Hilfen erhält. dards erfolgen. Diese OECD-Standards müssen aber in
Hinblick auf einen stärkeren internationalen Ordnungs-
Fakt ist: So wie Sie im Moment weitermachen, wird rahmen weiterentwickelt werden. Dieses betrifft unter
Irland nicht das letzte Land sein, mit dem wir uns hier anderem die heute im OECD-Musterabkommen enthal-
beschäftigen werden müssen. tene Möglichkeit, sowohl das Anrechnungs- als auch das
Freistellungsverfahren in der Besteuerung ausländi-
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- scher Töchter im Inland vorzusehen. Das Freistellungs-
NEN): verfahren nützt jedoch Unternehmen, die steuerlich mo-
Zunächst eine klare Aussage: Wir Grünen unterstüt- tivierte Verlagerungen von Steuersubstrat vornehmen,
zen das von den EU-Finanzministern geschnürte Ret- etwa in Form von Fremdfinanzierungsmodellen oder
tungspaket für Irland. Die Lage in Irland hat sich in den manipulierten Preisen für Transfers innerhalb des Kon-
vergangenen Tagen dramatisch zugespitzt. Die akute zerns. Bei einer reinen Anrechungsmethode würde eine
Ansteckungsgefahr für andere Euro-Staaten, die von der Gewinnverlagerung per se unterbunden, weil in diesem
angespannten Situation in Irland und den Reaktionen Fall die Einkünfte trotzdem der höheren Steuer unterlie-
auf den Finanzmärkten ausgeht, kann nur durch die In- gen. Die Gefahr einer kompletten Verlagerung von Un-
anspruchnahme des Euro-Rettungsschirms verringert ternehmen sehe ich nicht. Zu schwer wiegen die weiteren
werden. Standortvorteile in Deutschland wie der hohe Schutz von
sogenanntem Intellectual Property. Die Bundesregie-
Das Programm zur Stützung des irischen Staatshaus- rung muss deshalb darauf hinwirken, dass in den
haltes enthält aber auch harsche Einschnitte für die OECD-Standards zu Doppelbesteuerungsabkommen al-
Bürger Irlands: Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung des lein die Anrechnungsmethode festgeschrieben wird. Bei
Mindestlohns und Anhebung der Studiengebühren. Im- der anstehenden Gesamtrevision des Doppelbesteue-
mer wieder müssen Bürgerinnen und Bürger die Lasten rungsabkommens mit Irland ist es zudem essenziell, eine
der Finanzkrise tragen, die sie selbst nicht verursacht Aktivitätsklausel festzuschreiben. Denn aktuell können
haben. Nicht zuletzt deshalb müssen wir noch mehr An- deutsche Unternehmen mit Briefkastenfirmen – das
strengungen unternehmen, die Ursachen der Krise zu heißt: ohne tatsächlich Aktivitäten nach Irland zu verla-
bestimmen und zu bekämpfen. Im Falle Irlands liegen gern, sondern allein durch die Gründung einer Tochter-
(B) sie in einer laxen Regulierung, die Banken, um sie nach gesellschaft – ihre Gewinne in Irland versteuern. (D)
Irland zu locken, praktisch alles durchgehen ließ. Bei
der Aufsicht der Banken wurde nun mit dem Einsetzen Doppelbesteuerungsabkommen und der darin be-
von drei neuen EU-Finanzmarktaufsichtsbehörden end- inhaltete Informationsaustausch sind weit mehr als eine
lich einiges verändert: Riskante Finanzmarktprodukte technische Ausgestaltung des Steuerrechts. Sie sind ein
können im Krisenfall verboten werden, die neue EU-Fi- wichtiges Element zur Kontrolle globaler Märkte. Wir
nanzmarktaufsicht erhält weitreichende Befugnisse bei brauchen zur Kontrolle der internationalen Märkte eine
der Rettung maroder Geldinstitute bis hin zum Durch- Ordnungspolitik, die Regeln setzt. Deshalb ist es wich-
griffsrecht über nationale Aufseher hinweg. Wir müssen tig, dass sich auch das Parlament rechtzeitig in den Pro-
nun genau beobachten, ob diese Aufsicht funktioniert zess einbringen kann und wir im Finanzausschuss und
und die Regelungen angewendet werden. Auch müssen hier im Plenum über die Strategien der Doppelbesteue-
wir Sorge dafür tragen, dass die Regelungen zur Kredit- rungspolitik debattieren.
sicherung aus Basel III in der EU zügig umgesetzt wer-
den.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Natürlich haben wir auch das Thema der niedrigen
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Unternehmensteuern; der Körperschaftsteuersatz liegt
empfehlung auf Drucksache 17/4061, den Gesetzent-
in Irland bei 12,5 Prozent. Nun aber auf eine rapide Er-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3358 an-
höhung der Steuern oder auf eine Ausrichtung an einem
zunehmen.
europäischen Durchschnittssteuersatz nur in Irland zu
dringen, halte ich für falsch. Richtig ist: Der nicht sinn- Zweite Beratung
volle Steuerwettbewerb in Europa muss beendet werden.
Dies kann mit der Harmonisierung der steuerlichen Be- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
messungsgrundlage sowie mit der verbindlichen Eini- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
gung auf Mindeststeuersätze gelingen. Die Bundesregie- jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
rung muss sich hierfür verstärkt einsetzen. Ein ist damit einstimmig angenommen.
gemeinsamer Markt braucht einen stärkeren Regelungs-
rahmen, und dazu gehört natürlich auch eine Harmoni- Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
sierung steuerlicher Regelungen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Nun aber zum Doppelbesteuerungsabkommen. Die richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
vorliegende Änderung ist noch keine Gesamtrevision (11. Ausschuss)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8683
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina werten zu können. Dafür liegt unter anderem eine An- (C)
Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar frage beim Ministerium vom Oktober dieses Jahres vor.
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich unterstütze dieses Vorhaben ausdrücklich. Mögli-
tion DIE LINKE cherweise könnte eine Korrektur auch in die in dieser
Legislaturperiode anstehende Rentenangleichung Ost/
Auch Verletztenrenten von NVA-Angehöri-
West integriert werden.
gen der DDR anrechnungsfrei auf die
Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen Ich befürworte die Beschlussempfehlung des Aus-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina schusses für Arbeit und Soziales, da belastbares Daten-
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, material fehlt, möchte aber gleichzeitig appellieren,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE dass die Diskussion fortgesetzt wird.
LINKE
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Auch Verletztenrenten von NVA-Angehöri-
gen der DDR anrechnungsfrei auf die Al- Die Linken wollen mit ihren Anträgen auch die Ver-
tersrente stellen letztenrenten von NVA-Angehörigen der DDR sowohl
auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende als auch auf
– Drucksachen 17/2326, 17/3217, 17/3734 – die Altersrente anrechnungsfrei stellen. In der Sache
Berichterstattung: folgt unsere Fraktion diesem Anliegen, nicht aber in der
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb Verkürzung der Antragsbegründung. Die Linken
reduzieren einen komplexen und problematischen Sach-
verhalt auf die „reine Ungerechtigkeit“ und den Gegen-
Frank Heinrich (CDU/CSU): satz „privilegierte Bundewehrangehörige/benachtei-
Ja, die Rechtslage ist hier eindeutig: Verletztenrenten ligte NVA-Angehörige“.
für Wehrdienstbeschädigte der Nationalen Volksarmee
wurden – analog zum bis dato gültigen DDR-Recht – Um zu verdeutlichen, worum es eigentlich geht, stelle
nach der Wende in die gesetzliche Unfallversicherung ich noch einmal kurz die Ausgangslage dar – ein Grund-
überführt. Das heißt, die Schadensfälle wurden und wer- problem, wie es der Vereinigungsprozess häufiger mit
den als normale Arbeitsunfälle behandelt und mit einer sich gebracht hat –: Im komplexen Prozess der Überfüh-
„Unfallrente“ bedacht. Wehrdienstbeschädigten der rung des nach Berufsgruppen differenzierten Rentenver-
Bundeswehr wird dagegen eine Verletztenrente aus dem sicherungssystems der DDR in das einkommensbezo-
Soldatenversorgungsgesetz gewährt. Eine Auswirkung gene Rentensystem der Bundesrepublik gab es immer
dieser unterschiedlichen rechtlichen Einordnung in Un- wieder auch Ungereimtheiten. Wie so oft bei der deut-
(B)
fallversicherung und Soldatenversorgungsgesetz ist, schen Einheit ergab sich auch hier die Frage, wie zwei (D)
dass den ehemaligen NVA-Angehörigen ihre Verletzten- unterschiedliche Systeme miteinander zu verbinden
rente vollständig auf die Grundsicherung für Arbeitsu- sind. Wehrdienstbeschädigungen bei Soldaten der
chende angerechnet wird – im Gegensatz zu den ehema- Bundeswehr und der ehemaligen NVA sind auch in un-
ligen Bundeswehrangehörigen. Die Fraktion Die Linke terschiedlichen Rechtsgrundlagen geregelt. Bundes-
fordert die gesetzliche Gleichbehandlung von ehemali- wehrsoldaten erhalten eine Versorgung nach dem Solda-
gen NVA- und Bundeswehrangehörigen, indem die Ver- tenversorgungsgesetz. Ehemalige Angehörige der NVA
letztenrenten der NVA-Angehörigen bis zur Höhe der sind im Rahmen der Rentenüberleitung aber nicht in
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz bei der diese Versorgung aufgenommen worden. Der Grund:
Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht angerechnet Unfälle von Wehrpflichtigen der NVA waren in der DDR
werden. Dieses Anliegen – insbesondere aus der Sicht Arbeitsunfällen gleichgestellt. Daher überführte der Ge-
der einzelnen Betroffenen – teile ich. setzgeber im Einigungsprozess ehemalige NVA-Angehö-
rige, die eine Verletztenrente bezogen haben, wie andere
Gleiches gilt auch für den zweiten Antrag. Beim Be- Arbeitnehmer auch in die gesetzliche Unfallversiche-
zug einer Altersrente sollen die Verletztenrenten ehema- rung bzw. in den Geltungsbereich des SGB VII. Deshalb
liger NVA-Wehrdienstbeschädigter gemäß dem Bundes- werden Unfälle von Zeit- und Berufssoldaten der ehema-
versorgungsgesetz ebenfalls anrechnungsfrei gestellt ligen NVA über einen Dienstbeschädigungsausgleich
werden. abgewickelt.
Die hier tatsächlich bestehende Ungleichbehandlung
Diese unterschiedliche Behandlung hat Konsequen-
kann ich nicht nachvollziehen. Es erscheint mir un-
zen. Bei der Einkommensberechnung im Rahmen der
schlüssig, dass Wehrdienstleistende, die während ihres
Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Unter-
Dienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR zu
schiede erheblich. Die Verletztenrente nach dem Solda-
Schaden gekommen sind, anders behandelt werden als
tenversorgungsgesetz ist als Grundrente nach dem Bun-
ihre Kolleginnen und Kollegen der Bundeswehr. Auf-
desversorgungsgesetz eingestuft. Sie stellt damit im Fall
grund einer Petition in der 16. Wahlperiode hat der Pe-
der Bundeswehr privilegiertes Einkommen dar, das
titionsausschuss in seiner Beschlussempfehlung die Un-
nicht angerechnet wird. Die Verletztenrente eines ehe-
gleichbehandlung ebenfalls als nicht sachgerecht und
maligen NVA-Wehrpflichtigen dagegen ist als Rente aus
verfassungsrechtlich bedenklich bewertet.
der gesetzlichen Unfallversicherung keine Grundrente
In meiner Fraktion wurde vorgeschlagen, eine belast- im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes und wird auch
bare Datenlage zu erarbeiten, um die Rechtslage neu be- nicht als zweckbestimmte Einnahme eingestuft. Deshalb

Zu Protokoll gegebene Reden


8684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Paul Lehrieder
(A) wird sie angerechnet. So entsteht die Situation, dass Ver- nehmer 29 304 Euro im Jahr verdienen, um einen Ent- (C)
letztenrenten aus nahezu vergleichbaren Sachverhalten geltpunkt in der Rentenversicherung gutgeschrieben zu
unterschiedlich behandelt werden. Eine gerichtliche An- bekommen. Im Osten musste ein Arbeitnehmer lediglich
fechtung der Anrechnung scheiterte bislang; denn es be- 24 880 Euro verdienen, um ebenfalls einen Entgeltpunkt
stehen unterschiedliche Rechtsgrundlagen und damit gutgeschrieben zu bekommen. Sein Einkommen wurde
scheidet ein Gleichheitsverstoß aus. nämlich für die Rentenberechnung mit dem Wert 1,19
hochgewertet.
Auch das Bundesarbeitsministerium hat entspre-
chend argumentiert, als es im April 2008 auf eine Hand- Die Versicherten im Osten sind somit gegenüber de-
lungsaufforderung des Petitionsausschusses reagierte. nen im Westen objektiv durch diese Höherbewertung
Es sah keinen Anlass, an der bestehenden Rechtslage et- bessergestellt. Wenn wir das beenden, würde den gegen-
was zu ändern, und stellte sich auf den Standpunkt, auch wärtigen Beitragszahlern und künftigen Rentnern im
nachträglich könne nicht von der in § 220 Abs. 4 Ar- Osten die Aussicht genommen, bei vergleichbarer Er-
beitsgesetzbuch der ehemaligen DDR vorgesehenen werbsbiografie jemals gleichhohe Renten wie im Westen
Gleichbehandlung zwischen Wehrdienst- und Arbeitsun- zu bekommen. Der derzeitige Lohnabstand würde in den
fällen abgewichen werden. Das ist heute in der Tat dis- zukünftigen Renten im Osten verfestigt.
kussionswürdig. Zwar ist die unterschiedliche Behand-
lung von Berufssoldaten und Wehrpflichtigen gerichtlich Eine grundsätzliche Klärung hier ist erforderlich. So-
bestätigt, politisch aber ist sie zu hinterfragen. bald die Ost-West-Rentenangleichung auf der politi-
schen Tagesordnung steht, sollte damit auch die Proble-
Wenn die Linke in diesem Zusammenhang von Ge- matik der NVA-Verletztenrenten angegangen werden.
rechtigkeit redet, sollte sie allerdings einen wichtigen
Aspekt eigentlich nicht unterschlagen: Die Wehrpflicht Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
in der DDR lässt sich mit der Wehrpflicht der Bundesre-
Wir sind uns bereits im Ausschuss darüber einig ge-
publik nicht vergleichen. In der Bundesrepublik gab und
wesen, dass die von den Anträgen angesprochene Pro-
gibt es die Möglichkeit, Zivildienst zu leisten. Der SED-
blematik angegangen werden muss und die Anträge da-
Staat aber achtete rigoros darauf, dass niemand der
mit auch ihre Berechtigung haben. Die Gleichstellung
Wehrpflicht ausweichen konnte. Wer den Wehrdienst
von Verletztenrenten der ehemaligen NVA-Angehörigen
verweigerte, ging für zwei Jahre ins Gefängnis. Wir soll-
mit Beschädigtenrenten von Bundeswehrangehörigen in
ten die Menschen nicht noch beim ALG-II-Bezug gegen-
der Anrechnungsfreiheit beim Arbeitslosengeld II und
über Bundeswehr-Wehrpflichtigen benachteiligen.
bei der Altersrente ist eine wichtige Forderung, die wir
Wie bereits erwähnt, hat der Petitionsausschuss des unterstützen. Es geht dabei dem Grundsatz nach aber
(B) Deutschen Bundestages – auch auf Betreiben der CDU/ nicht nur um diese Detailregelung, sondern um die (D)
CSU-Bundestagsfraktion – deshalb in der vergangenen Frage, welche fortdauernden Ungerechtigkeiten und
Wahlperiode das Bundesministerium für Arbeit und So- Ungleichheiten zwischen Ost- und Westrentnern – nicht
ziales aufgefordert, hier eine gerechte Regelung zu erar- nur Schwerbehinderten, sondern generell – weiterhin
beiten. Über die Haltung des Bundesarbeitsministeri- bestehen.
ums dazu habe ich bereits gesprochen, auch darüber,
Ich möchte noch einmal betonen: Rentnerinnen und
dass diese Auffassung rein rechtlich in Ordnung ist. Im
Rentner haben Anspruch auf die Anerkennung ihrer Ar-
Sinne der Betroffenen und mit dem Ziel der Gleichbe-
beitsleistung, unabhängig von dem staatlichen System,
handlung sollten wir hier dennoch zu einer politischen
in dem sie gelebt und gearbeitet haben. Auf die Zusatz-
Lösung kommen, allerdings im größeren Rahmen einer
versorgungssysteme der DDR haben die Menschen in
Angleichung der Renten in West- und Ostdeutschland.
Ostdeutschland vertraut – und ebenso darauf, dass die
Für eine entsprechende Lösung hat sich die Union im
Bundesregierung diese rechtmäßigen Ansprüche erfüllt.
Koalitionsvertrag ausgesprochen. Die Ost-West-Renten-
Mit der Rentenüberleitung der Nachwendezeit wurden
angleichung ist für uns aber kein Selbstzweck. Entschei-
nur Teilprobleme gelöst bzw. neue geschaffen. Es bleibt
dend für die Angleichung ist für uns das konkrete Ergeb-
daher unsere Aufgabe, die rechtmäßigen Ansprüche aus
nis für die Beitragszahler und die Rentner.
dem DDR-Recht auch bei allen bisher außen vor gelas-
Nahezu für alle ostdeutschen Rentner geht die Ren- senen Berufsgruppen zu realisieren.
tenüberleitung mit einer erheblichen finanziellen Ver-
Bei den Krankenschwestern macht es oft nur den Un-
besserung einher. Beim Rentenzahlbetrag sind sie heute
terschied zwischen 700 Euro und 800 Euro Rente aus,
im Vergleich zu den Rentnern im Westen im Durchschnitt
bei den ehemaligen Reichsbahnern geht es um eine ein-
besser gestellt. Die monatliche Rente im Osten beträgt
malige Abfindung durch die Bahn. Diese Ansprüche ma-
durchschnittlich 1 004 Euro für Männer und 684 Euro
chen einen bedeutenden Unterschied im Leben dieser
für Frauen. Im Westen sind es dagegen 967 Euro für
Menschen, denn es geht hier um ohnehin niedrige Ein-
Männer und 485 Euro für Frauen.
kommen. Wir müssen beachten, dass die Alterseinkom-
Das Problem sind allerdings die ungleichen Renten- men trotz höheren Rentenniveaus in Ostdeutschland un-
werte in West und Ost. Gegen eine vorzeitige Anglei- terhalb der Westeinkommen liegen. Im Osten gab es
chung der Ost- an die Westrenten spricht, dass dann im keine Betriebsrenten und auch keine Kapitalanlagemög-
Gegenzug auch die Hochwertung der im Osten erzielten lichkeiten für Arbeitnehmer. Die Auszahlung der berech-
Arbeitsverdienste auf das Westniveau aufgegeben wer- tigten Ansprüche ist deshalb keine „weitere“ Rentener-
den müsste. Im Westen musste im Jahr 2006 ein Arbeit- höhung für Ostdeutsche, sondern eine längst überfällige

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8685
Silvia Schmidt (Eisleben)
(A) Maßnahme zur Herstellung gleichwertiger Lebensver- Damit sehen die gesetzlichen Regelungen – von der (C)
hältnisse auf der Basis von Rentengerechtigkeit. Das Frage der Anrechnung auf andere Sozialleistungen ab-
dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über Gleichbehand- gesehen – keine Besserstellung der ehemaligen Berufs-
lung verschiedenster Gruppen in diesem Hause spre- und Zeitsoldaten vor. Im Gegenteil: Die Verletztenrente
chen. fällt bei gleichen Verletzungsfolgen im Zweifel höher aus
als der vergleichbare Dienstbeschädigungsausgleich.
Das Engagement dieser Bundesregierung für die Als Bezieher einer Verletztenrente aus der Unfallversi-
Rentengerechtigkeit wird sich auch darin zeigen, ob die cherung hat ein ehemaliger Wehrdienstleistender für
Kanzlerin mit ihrer vollmundigen Versprechung Ernst seine durch den Unfall verursachten Leiden zudem neben
macht und den Koalitionsvertrag mit der FDP Ernst der Verletztenrente noch Anspruch auf alle Leistungen
nimmt. Es geht um die Gerechtigkeit für Menschen, die der Unfallversicherung wie zum Beispiel kostenlose
ihr Leben lang hart gearbeitet haben und mit überwie- Heilbehandlung sowie medizinische, berufliche und so-
gend kleinen Renten leben müssen. ziale Rehabilitation. Für den ehemaligen Berufs- oder
Zeitsoldaten besteht kein solcher Anspruch über den
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Dienstbeschädigungsausgleich hinaus. So muss er zum
Beispiel für die Behandlung seines Leidens die in der ge-
Die Anrechnung von Verletztenrenten früherer NVA- setzlichen Krankenversicherung geforderten Zuzahlun-
Angehöriger auf ihre Altersrente bzw. auf die Grund- gen selbst erbringen, während der Bezieher einer Unfall-
sicherung wird von Betroffenen als ungerecht empfun- rente zuzahlungsfreie Heilbehandlung erhält. Dass bei
den. Das kann ich nachvollziehen, und deshalb habe ich der Anrechnung der Verletztenrente auf Arbeitslosen-
mich mehrfach mit diesem Thema befasst und Gesprä- geld II die ehemaligen NVA-Wehrpflichtigen gegenüber
che mit Vertretern dieser Gruppe geführt. den Berufs- und Zeitsoldaten der NVA anders behandelt
werden, ist der logisch folgende Preis dafür, dass letz-
Der Sachverhalt ist aber nicht so schlicht, wie uns die tere nur Dienstbeschädigungsausgleich erhielten, ihnen
Linken Glauben machen wollen. Das begründet sich also nur der immaterielle Schaden entgolten wird. Das
hauptsächlich dadurch, dass die NVA-Verletztenrenten klingt alles etwas kompliziert und ist es auch. Das allein
Anteile eines Schmerzensgeldes und Anteile eines Lohn- belegt, dass der Gesetzgeber zu keinem Zeitpunkt je-
ersatzes in jeweils nicht definierter Höhe enthalten. Die manden benachteiligen wollte.
reine Forderung einer Nichtanrechnung dieser Leistung,
wie es bei einem reinen Schmerzensgeld der Fall wäre, Hinsichtlich der Anrechnung der Unfallrenten auf Ar-
ist also nicht angemessen. Wollten wir so verfahren, ent- beitslosengeld II werden übrigens alle Verletztenrentner
stünden vergleichbare Ansprüche bei Zivildienstleisten- gleich behandelt. Das Bundessozialgericht hat die volle
(B) den und anderen Gruppen. Die „gefühlte“ oder tatsäch- Anrechnung im Urteil vom 17. März 2009 – gerade in (D)
liche Ungerechtigkeit würde also nur verlagert. Bezug auf unfallverletzte NVA-Wehrpflichtige – unter
Gleichbehandlungsgesichtspunkten als verfassungsge-
In der DDR war der Unfall eines Wehrdienstleisten- mäß bestätigt.
den einem Arbeitsunfall gleichgestellt. Deshalb hatten
die Betroffenen Anspruch auf eine Unfallrente aus der Eine Sonderregelung für NVA-Wehrpflichtige – für
allgemeinen Sozialversicherung der DDR und wurden die ich durchaus Sympathie habe – führte zu der Gefahr,
später in die entsprechenden Zweige der bundesdeut- dass die Rückkehr zur teilweisen Anrechnung dann auch
schen Sozialversicherung überführt. Weil dabei ein für andere Personengruppen in gleicher Weise angemes-
Durchschnitts-Jahresarbeitsverdienst zugrunde gelegt sen würde. Ich habe mich dennoch immer dafür einge-
wurde, ergab sich für Geringverdiener sogar ein gewis- setzt, dass geprüft wird, ob nicht bei gleichzeitigem Ar-
ser Vorteil. Anders war das bei Zeit- und Berufssoldaten. beitslosengeld II-Bezug zumindest der Schmerzensgeld-
anteil der Unfallrente erhalten bleiben kann – so wie bei
Sie waren durch das Sonderversorgungssystem der NVA
der früheren Arbeitslosenhilfe ein Grundrentenanteil
abgesichert und erhielten im Falle eines Dienstunfalls
nach dem Bundesverfassungsgericht anrechnungsfrei
eine Dienstbeschädigungsrente. Diese Dienstbeschädigungs-
blieb. Ich muss die Betroffenen aber um Verständnis da-
vollrenten nach der Versorgungsordnung der NVA wur-
für bitten, dass sich keine einfache Lösung der Frage
den mit dem Einigungsvertrag in die gesetzliche Renten-
aufdrängt, die nicht zu neuen Ungleichgewichten führen
versicherung überführt. Sie gelten als Invalidenrenten würde. Allein schon die Recherche der Zahl der Betrof-
und wurden damit zu Erwerbsunfähigkeitsrenten der ge- fenen ist schwierig, weil sie aus praktischen Gründen
setzlichen Rentenversicherung, die bei Erreichen der Al- gleichmäßig auf alle Unfallversicherungen verteilt und
tersgrenze in Altersrente umzuwandeln ist. nicht zentral erfasst wurden.
Das heißt, die Dienstbeschädigungen, die bei Wehr-
pflichtigen zu einer zusätzlichen Unfallrente führten, Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):
blieben bei den Zeit- und Berufssoldaten der NVA zu- Auf den Tag genau vor einem Jahr und fünf Monaten,
nächst ohne Ausgleich. Deshalb wurde für ehemalige am 2. Juli 2009, also in der vorigen Wahlperiode, stand
Angehörige der Sonderversorgungssysteme ein Dienst- das Thema unserer heutigen Debatte schon einmal zur
beschädigungsausgleich eingeführt, der in Höhe der Beratung an. Es geht erneut um die Verletztenrente von
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz gezahlt Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR. Wer
wird und ausschließlich den immateriellen Schaden ent- eine solche Rente bezieht und auf Arbeitslosengeld II
schädigt. angewiesen ist, steht schlecht da, denn die Verletzten-

Zu Protokoll gegebene Reden


8686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Martina Bunge


(A) rente wird vollständig auf das Arbeitslosengeld II ange- der Rentenüberleitung nicht in die Versorgung nach dem (C)
rechnet – anders bei Bundeswehrangehörigen, die we- Soldatenversorgungsgesetz aufgenommen worden. Un-
gen eines erlittenen Unfalls eine Wehrdienstbeschädig- fälle von Zeit- und Berufssoldaten der ehemaligen NVA
tenrente erhalten. Diese Rente gilt bis zur Höhe der werden über einen Dienstbeschädigungsausgleich abge-
Grundrente nach Bundesversorgungsgesetz als privile- wickelt. Unfälle von Wehrpflichtigen waren in der DDR
giertes Einkommen und kommt den Betroffenen – sinn- Arbeitsunfällen gleichgestellt und sind konsequenter-
vollerweise – zugute. weise in die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet
worden. Diese unterschiedliche Behandlung von Berufs-
Die derzeitige augenscheinliche Ungleichbehand- soldaten und Wehrpflichtigen ist zwar gerichtlich bestä-
lung hat bereits vor mehr als drei Jahren den Petitions- tigt, politisch aber durchaus zu hinterfragen.
ausschuss veranlasst, die Regelung für bei der NVA er-
littene Schädigungen „nicht für sachgerecht und für Ein Beispiel: Ein Mann erleidet im Rahmen des
verfassungsrechtlich bedenklich“ zu bewerten. Eine Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR,
Einschätzung, die sich der Bundestag zueigen machte, NVA, eine gesundheitliche Schädigung. Zu DDR-Zeiten
als er die entsprechende Petition an die Bundesregie- erhielt er eine Rente der Staatlichen Versicherung der
rung als Material überwies und den Fraktionen zur DDR. Er ist nun seit mehreren Jahren arbeitslos. Wäh-
Kenntnis gab. Aufgrund dessen legte meine Fraktion einen rend im Rahmen der Arbeitslosenhilfe zunächst ein Teil
Antrag vor. Wir wollten uns damals – und nun erneut – der Rente anrechnungsfrei geblieben ist, ist es mit der
nicht damit abfinden, dass eine Wehrdienstbeschädi- Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu
gung im Osten weniger wert ist als im Westen. einer vollen Anrechnung gekommen. Der Mann fühlt
sich hierbei ungerecht behandelt, da Zahlungen nach
Ein Blick in die damalige Debatte erklärt die Hoff-
dem Soldatenversorgungsgesetz für Schädigungen im
nungen, die sich Betroffene am Ende der 16. Wahl-
Rahmen des Dienstes bei der Bundeswehr als privile-
periode machten: Die Abgeordneten von FDP und Grü-
giertes Einkommen nicht zur Anrechnung kommen – zu
nen stimmten seinerzeit für unseren Antrag. Kollege
Recht, wie ich finde und wie es im Übrigen auch der
Heinz-Peter Haustein von der FDP stellte fest: „Wer
Deutsche Bundestag findet, dessen Petitionsausschuss
den Wehrdienst verweigerte, ging für zwei Jahre ins Ge-
bereits vor drei Jahren die Bundesregierung aufgefor-
fängnis. Somit hatten Wehrpflichtige keine Chance, dem
dert hat, eine gerechte Regelung der vergleichbaren
zu entgehen. Wir sollten die Menschen nicht noch beim
Sachverhalte zu erarbeiten.
ALG-II-Bezug gegenüber Bundeswehrpflichtigen be-
nachteiligen.“ Kollegin Maria Michalk von der CDU er- Für die Betroffenen sind die Unterschiede bei der
klärte ihre Bereitschaft, die Verletztenrenten in der kom- Einkommensberechnung erheblich. Die Verletztenrente
(B) menden – also in der jetzt laufenden – Wahlperiode nach dem Soldatenversorgungsgesetz ist als Grundrente (D)
„pragmatisch“ zu beraten. Sie plädierte für eine nach dem Bundesversorgungsgesetz eingestuft und stellt
„lösungsorientierte Herangehensweise im Sinne der be- damit privilegiertes Einkommen dar, das nicht ange-
troffenen ehemaligen NVA-Soldaten“. Mit unserem er- rechnet wird. Die Verletztenrente eines ehemaligen
neuten Antrag wollten wir das Thema in Erinnerung NVA-Wehrpflichtigen ist als Rente aus der gesetzlichen
bringen. Die Betroffenen haben keine Zeit zu verlieren. Unfallversicherung keine Grundrente im Sinne des Bun-
Der zweite vorliegende Antrag meiner Fraktion greift desversorgungsgesetzes und wird auch nicht als zweck-
eine gleichgelagerte Ungerechtigkeit auf. Hierbei geht bestimmte Einnahme eingestuft; deshalb wird sie ange-
es um den gleichzeitigen Bezug von Altersrente und Ver- rechnet. So entsteht die Situation, dass Verletztenrenten
letztenrente für frühere NVA-Angehörige. Auch in die- aus nahezu vergleichbaren Sachverhalten unterschied-
sem Falle erfolgt eine Anrechnung, während sie für frü- lich behandelt werden. Eine gerichtliche Anfechtung der
here Bundeswehrangehörige anrechnungsfrei gestellt Anrechnung scheiterte bislang an dem Umstand, dass
wird. Dass ausgerechnet Menschen, die durch erlittene tatsächlich unterschiedliche Rechtsgrundlagen bestehen
Schädigungen schon genug leiden und mit Beeinträchti- und damit ein Gleichheitsverstoß ausscheidet.
gungen leben mussten, in dieser Weise benachteiligt Den möglichen Befürchtungen über eine Ausweitung
werden, ist nicht länger hinnehmbar. der Freistellung auf alle Empfänger von Verletztenrente
Im federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales durch Schaffung eines Präzedenzfalls möchte ich entge-
haben alle Oppositionsfraktionen die Bundesregierung genhalten, dass die Gruppe der ehemaligen NVA-Wehr-
aufgefordert, dieses Problem zu lösen. Auch die Abge- pflichtigen während ihrer Dienstzeit, ebenso wie Wehr-
ordneten von Union und FDP sehen Handlungsbedarf. pflichtige bei der Bundeswehr, in einem besonderen
Ich appelliere an Sie: Stehen Sie zu Ihrem Wort und neh- Dienst- und Treueverhältnis zu ihrem Dienstherrn stan-
men Sie diese Aufgabe rasch in Angriff. den und sich schon deshalb von anderen Gruppen unter-
scheiden. Zudem ist der Wehrdienst, unabhängig von der
Bewertung zu DDR-Zeiten, nicht als normale Berufstätig-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ keit einzuordnen. Die Besonderheiten des Dienstverhält-
DIE GRÜNEN): nisses bei den Streitkräften sind mit anderen Tätigkeiten
Wehrdienstbeschädigungen bei Soldaten der Bundes- nicht zu vergleichen.
wehr und der ehemaligen NVA sind in unterschiedlichen
Rechtsgrundlagen geregelt. Bundeswehrsoldaten erhal- Für meine Fraktion und mich gibt es in der Sozial-
ten eine Versorgung nach dem Soldatenversorgungsge- politik und darüber hinaus einen ganz klaren Grundsatz:
setz. Ehemalige Angehörige der NVA sind im Rahmen Gleiches muss gleich behandelt werden, Ungleiches

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8687
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) nicht. Wir müssen also untersuchen, ob hier eine Un- der Justiz und zur Änderung weiterer Vor- (C)
gleichbehandlung von früheren Angehörigen der Natio- schriften
nalen Volksarmee, NVA, und der Bundeswehr vorliegt,
– Drucksache 17/3356 –
die nicht gerechtfertigt ist. Letztlich handelt es sich bei
einer Schädigung im Rahmen des Dienstes bei der NVA Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
um einen vergleichbaren Sachverhalt wie bei einer schusses (6. Ausschuss)
Wehrdienstbeschädigung im Rahmen des Dienstes bei
der Bundeswehr. Allein die Tatsache, dass diese Ansprü- – Drucksache 17/4064 –
che im Rahmen der Sozialunion in die gesetzliche Un- Berichterstattung:
fallversicherung überführt wurden, kann eine unter- Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
schiedliche Behandlung bei der Anrechnung als Dr. Edgar Franke
Einkommen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeit- Mechthild Dyckmans
suchende nach meiner Überzeugung, im Übrigen auch Halina Wawzyniak
der des Petitionsausschusses, nicht rechtfertigen. Der Ingrid Hönlinger
Petitionsausschuss hat diese Regelung für nicht sachge-
recht und für verfassungsrechtlich bedenklich erachtet.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Es liegt also ganz klar auf der Hand, dass es sich dem
Das Gesetz zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtli-
Sinne nach auch bei Zahlungen an die ehemaligen NVA-
nie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften
Angehörigen um Entschädigungen handelt, genauso wie
sieht Änderungen und Anpassungen in einigen Berufs-
es bei der Bundeswehr der Fall ist.
ordnungen – für Rechtsanwälte, Notare und Steuerbera-
Meine Fraktion plädiert dafür, eine lösungsorien- ter – vor, die in der Praxis teilweise schon lange gefor-
tierte Herangehensweise im Sinne der betroffenen ehe- dert wurden. So wird die nun vorgesehene Einführung
maligen NVA-Soldaten zu prüfen. Meines Erachtens einer dreimonatigen Genehmigungsfrist für Berufszu-
braucht es dafür zunächst eine verlässliche Datengrund- lassungen allgemein begrüßt. Dass wir hierbei für den
lage, aus der hervorgeht, wie viele Bürger betroffen Fall des Verstreichens der Frist auf eine Genehmigungs-
sind, einschließlich aller Kostenfragen. Auf dieser fiktion verzichten, trägt aus meiner Sicht den besonde-
Grundlage sollte das Anliegen fundiert beraten werden. ren Erfordernissen an die persönlichen Voraussetzungen
für den Zugang zu den einzelnen Berufsfeldern Rech-
Gleiche Sachverhalte müssen gleich behandelt wer- nung.
den. Die Verletztenrente der ehemaligen NVA-Angehöri-
gen darf genauso wie die Leistungen an Bundeswehran- Auf Betreiben der Unionsfraktion haben wir ferner in
den Regierungsentwurf eine Neuregelung im Wahlver-
(B) gehörige nach dem Soldatenversorgungsrecht nicht auf (D)
die Grundsicherung nach dem ALG II angerechnet wer- fahren der Rechtsanwaltskammern aufgenommen. Um
den. Deshalb plädieren wir für eine lösungsorientierte die erheblichen Probleme der Vergangenheit, bei denen
Herangehensweise im Sinne der betroffenen ehemaligen selbst nach bis zu sieben Wahlgängen oft keine kom-
NVA-Soldaten und stimmen dem Antrag der Linken zu. plette Besetzung der Vorstände der Rechtsanwaltskam-
mern erreicht wurde, zu lösen, wird künftig nach § 88
Abs. 3 Satz 3 BRAO ab dem dritten Wahlgang die bis da-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
hin erforderliche einfache Stimmenmehrheit ersetzt:
Wir kommen zur Abstimmung der Beschlussempfeh- Künftig ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die
lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf meisten Stimmen erhält. Damit schaffen wir ein effekti-
Drucksache 17/3734. Der Ausschuss empfiehlt unter ves Wahlrecht, dass die Arbeits- und Leistungsfähigkeit
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung der Selbstverwaltungskörperschaften gewährleistet.
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2326.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist Zwei Regelungen, die wir mit dem Gesetz treffen, ste-
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung hen im Vordergrund: die Neuregelung zum Pfändungs-
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions- schutzkonto in § 850 k Abs. 8 ZPO und die Verfahrensre-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktio- gelung zur Zulassung von Insolvenzverwaltern aus dem
nen. EU-Ausland in einem neuen Art. 102 a EGInsO.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Die teilweise vorgebrachte Kritik zu diesen beiden
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Regelungen war Gegenstand eines erweiterten Bericht-
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3217. Wer erstattergesprächs im Deutschen Bundestag in der ver-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist gangenen Woche. Dabei konnten die Sachverständigen
dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussemp- der Bundesrechtsanwaltskammer noch einmal ihre Be-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- denken zur europarechtlich notwendig gewordenen No-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfrak- velle zur P-Konto-Regelung des § 850 k ZPO deutlich
tionen. machen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Bisher hatte allein die Schufa das Privileg, mit Ban-
ken Informationen darüber auszutauschen, ob ein Kunde
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- bereits ein sogenanntes P-Konto führt und damit nicht
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes berechtig ist, ein weiteres solches Konto zu eröffnen; es
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in geht um die sogenannte Schufa-Klausel. Die damit ge-
8688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Elisabeth Winkelmeier-Becker
(A) schaffene zentrale Stelle hat die Missbrauchskontrolle zureichend geregelt. Eine differenzierte Rechtsprechung (C)
dabei klar erleichtert. Europarechtliche und daten- des Bundesverfassungsgerichts ändert nichts daran,
schutzrechtliche Vorgaben machen es nun erforderlich, dass Auswahllisten der Richter nicht mehr als eine Ge-
dass Banken in dieser Frage auch mit allen übrigen Aus- dankenstütze, ein Hilfskonstrukt in Ermangelung klarer
kunfteien zusammenarbeiten. Da der Gesetzgeber diese gesetzlicher Vorgaben sein können.
Notwendigkeit bei der letzen Novelle zu § 850 k Abs. 8
ZPO im vergangenen Sommer nicht erkannt hat, ist mit Die mit der Dienstleistungsrichtlinie EU-rechtlich
der nun vorliegenden Neuregelung zu Recht von einer vorgeschriebene einheitliche Stelle als Ansprechpartner
„Reparaturklausel“ in Hinblick auf die Gleichbehand- für Verwalter aus EU- und EWR-Raum zur Aufnahme in
lung die Rede. eine solche Vorauswahlliste führt Normen in ein wirt-
schaftliches Betätigungsfeld ein, das in der Bundesrepu-
Ob die Einbeziehung der übrigen Auskunfteien jedoch blik noch weitgehend ungeregelt ist. Dennoch meine ich,
in der Konsequenz auch zu einer Zersplitterung und da- dass die hier getroffenen rudimentären Regelungen für
mit Erschwerung des effektiven Informationsaustauschs Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug als vor-
zwischen Banken und Auskunfteien führt, wie teilweise läufig hingenommen werden können. Die Analyse, nach
befürchtet wird, muss abgewartet werden. Zwar sind tat- der den Verwaltern aus dem EU- und EWR-Ausland nun
sächlich praktische Schwierigkeiten denkbar, wenn eine in Ansätzen ein Zulassungsvorverfahren zur Verfügung
Bank erst bei einer Vielzahl von Auskunfteien anfragen steht, an dem die deutschen Verwalter nicht partizipie-
muss, um endlich sicher darüber Auskunft zu bekommen, ren können, ist zutreffend. Vonseiten des BMJ, aber auch
ob ein Kunde bereits ein Pfändungsschutzkonto führt. Je- von Praktikern wird allerdings nicht befürchtet, dass
doch ist dies angesichts der dominierenden Stellung der sich dies zu einem Wettbewerbsnachteil der deutschen
Schufa auf diesem Markt nicht zu erwarten. Verwalter auswirkt.
Auch schließen wir mit der Novelle ausdrücklich aus, Dennoch wirft diese Zulassungsregelung mit be-
dass Daten über das Bestehen eines P-Kontos zu ande- grenztem Anwendungsbereich ein Schlaglicht auf ein
ren Zwecken genutzt werden als zur Überprüfung der drängendes Anliegen dieser Wahlperiode: Wir müssen
Richtigkeit der Versicherung des Kunden, nach welcher zu klareren Qualifikationsvoraussetzungen und transpa-
eben noch kein Pfändungsschutzkonto auf seinen Namen renten Auswahlmechanismen kommen, die außerdem
geführt werde. Auch diese eindeutige Regelung dürfte mehr Raum für Gläubigerbeteiligung lassen. Vonseiten
dem Wettbewerb um die Information über das Bestehen des Bundesministeriums der Justiz ist in den Beratungen
eines P-Kontos an Schärfe nehmen und damit der be- der vergangenen Wochen deutlich gemacht worden, dass
fürchteten zersplitterten Informationslage zu bestehen- wir mit der Neuregelung des Art. 102 a EGInsO kein
den P-Konten entgegenwirken. Präjudiz für eine künftige Zulassungsordnung nach na- (D)
(B)
tionalem Recht schaffen.
Sollten sich die Befürchtungen einzelner Sachver-
ständiger allerdings bewahrheiten und sollte den Ban- Die „einheitliche Stelle“ leitet Anfragen ausländi-
ken die Missbrauchsbekämpfung dadurch erschwert scher Bewerber, die von Insolvenzgerichten als Insol-
werden, dass sie nicht oder nicht rechtzeitig an die venzverwalter benannt werden wollen, lediglich an diese
erforderlichen Informationen über das Bestehen von weiter. Dort entscheiden die Richter unverändert nach
P-Konten kommen, weil bei der Vielzahl der relevanten ihren Kriterien, ob sie dem Anliegen etwa mit Aufnahme
Auskunfteien der richtige Ansprechpartner nicht ersicht- in eine Vorauswahlliste entsprechen wollen, oder nicht.
lich ist, so werden wir als Gesetzgeber nicht untätig sein Diese Klarstellung halte ich für ganz entscheidend. An-
können und eine entsprechende gesetzliche Änderung gesichts der zurzeit in Beratung befindlichen mehrstufi-
vornehmen müssen. Denn eines ist klar: Durch die nun gen Insolvenzrechtsreform wäre es nicht hinnehmbar,
erforderlich gewordenen Anpassungen darf das Haupt- gewissermaßen beiläufig unter Umsetzung EU-rechtli-
anliegen des § 850 k Abs. 8 ZPO nicht in den Hinter- cher Vorgaben, grundlegende Richtungsentscheidungen
grund geraten: Der Schutz der Marktteilnehmer vor für ein künftiges nationales Zulassungsverfahren zu tref-
Missbrauch durch das Führen mehrerer Pfändungs- fen.
schutzkonten darf nicht an Effektivität verlieren. Ich bin
optimistisch, dass die Neuregelung diesen Praxistest be- Dr. Edgar Franke (SPD):
stehen wird.
Wir beraten heute die Umsetzung der Dienstleis-
Grundsätzliche Schwachstellen im nationalen Recht tungsrichtlinie in der Justiz. Durch die Richtlinie 2006/
werden durch die Änderung des Zugangs zum Insolvenz- 123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
verwalterberuf für Personen, die die Staatsangehörig- sind Rechtsanpassungen im Bereich der Justiz und in
keit eines anderen EU- oder EWR-Staats besitzen, deut- den Verfahren der Berufszulassung zu den rechtsbera-
lich. Wir schaffen für die genannten Verwalter eine tenden Berufen erforderlich.
einheitliche Stelle, an die sie sich bei Interesse für eine
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die zur
Verwaltertätigkeit wenden können. Diese Stelle leitet ih-
Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Rechtsände-
rerseits die Unterlagen an das zuständige Insolvenzge-
rungen im deutschen Recht vorgenommen werden. Da-
richt weiter. Auch führen wir für dieses Verfahren eine
rüber hinaus sollen weitere Anpassungen des Berufs-,
dreimonatige Entscheidungsfrist ein.
Verfahrens-, Gerichtsverfassungs-, Kosten und Marken-
Die Auswahl der Insolvenzverwalter durch die zu- rechts erfolgen, um aufgetretene Streitfragen zum
ständigen Gerichte in Deutschland ist mehr als nur un- Rechtsweg in verwaltungsrechtlichen Notarsachen, zum

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8689
Dr. Edgar Franke
(A) Mechanismus der Verhinderung von Missbräuchen beim sen Mitteilungen über die Existenz eines Pfändungskon- (C)
Pfändungsschutzkonto nach § 850 k Abs. 8 der Zivilpro- tos geben. Damit wird die – aus meiner Sicht – nicht
zessordnung und zur Amtsenthebung von Schöffen bei haltbare alte Regelung repariert, nach der die Auskunft
gröblicher Amtspflichtverletzung zu lösen. Gleiches gilt nur auf die Schufa Holding AG beschränkt war.
für auftretende Streitfragen bei den Gerichtskosten und
Anwaltsgebühren im neuen familienrechtlichen Verfah- Ganz wesentlich scheint mir an der Stelle allerdings
ren. der Hinweis zu sein, dass die Mitteilung durch das Kre-
ditinstitut auf Freiwilligkeit beruht. Eine Meldepflicht
Wie sie wissen, müssen EU-Richtlinien nach deut- besteht also nicht. Die Sorge mancher Fachleute, dass
schem Recht grundsätzlich durch ein formelles Gesetz in die bei den Auskunfteien vorhandenen Datenbestände
innerstaatliches Recht transformiert – oder besser ge- unter Umständen nicht aktuell sein könnten, teile ich
sagt: umgesetzt – werden. Genau das machen wir heute. nicht. Jedenfalls ist es aus meiner Sicht nicht notwendig,
Insgesamt betrifft die EU-Richtlinie im Bereich der Jus- eine Meldepflicht, etwa durch eine zusätzliche gesetzli-
tiz relativ geringfügige Rechtsanpassungen sowie Ände- che Regelung, einzuführen, um die Aktualität der Daten
rungen beispielsweise im Kostenrecht. Sie haben im We- zu gewährleisten. Vielmehr kann dieser Punkt beispiels-
sentlichen nur klarstellende Funktion oder gar nur weise Gegenstand des Vertragsverhältnisses zwischen
redaktionellen Charakter. den Kreditinstituten und den Auskunfteien sein. Für die
Ich möchte dennoch die Gelegenheit zum Anlass neh- Kreditinstitute kann dann insbesondere die Aktualität
men, auf einen Punkt etwas näher einzugehen, der, so der verfügbaren Datensätze einer Auskunftei ein Quali-
glaube ich, in dieser insgesamt naturgemäß eher forma- tätsmerkmal für die Entscheidung einer Zusammenar-
len Vorlage, für viele Bürgerinnen und Bürger von be- beit sein.
sonderem Interesse ist. Ich meine den Pfändungsschutz Zudem wäre eine Mitteilungspflicht des P-Kontos,
durch das sogenannte P-Konto. Die SPD hat die Einfüh- beispielsweise an die Bundesanstalt für Finanzdienst-
rung des Pfändungsschutzkontos zum 1. Juli dieses Jah- leistungsaufsicht (BaFin), mit erheblichem Verwal-
res ausdrücklich begrüßt. Denn es erlaubt Schuldnern, tungsaufwand der verschiedenen Kreditinstitute verbun-
auch bei Kontopfändung unbürokratisch über das ga- den. Gleichzeitig würde eine gesetzlich verankerte
rantierte Existenzminimum zu verfügen. Meldepflicht das Risiko des Gläubigers, sein Pfän-
Mit der heutigen Reform des Pfändungsschutzes, ins- dungsgesuch nicht befriedigt zu bekommen, nicht we-
besondere durch das Pfändungsschutzkonto, ist es not- sentlich verringern. Deshalb erscheinen mir die vorge-
wendig gewesen, weitere gesetzliche Regelungen zu tref- schlagenen Rechtsänderungen sachlich begründet. Die
fen, die einen Missbrauch verhindern. Durch die SPD-Fraktion stimmt diesem Gesetzentwurf insgesamt
(B) Änderung des § 850 k Abs. 8 Satz 3 und 4 ZPO ist ein zu. (D)
Weg beschritten, der verhindern soll, dass einzelne Per-
sonen mehrere Pfändungsschutzkonten bei unterschied- Mechthild Dyckmans (FDP):
lichen Kreditinstituten unterhalten können. Damit wird Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, setzen
unterbunden, dass diese Personen zum Nachteil der wir die europäische Dienstleistungsrichtlinie aus dem
Gläubiger mehrfachen Kontopfändungsschutz in An- Jahr 2006 im Bereich der Justiz ins deutsche Recht um.
spruch nehmen. Diese Missbrauchskontrolle geschieht Die Umsetzungsfrist ist Ende 2009 abgelaufen, das heißt
mit einem Informationsaustausch zwischen den Banken, es handelt sich hier um eine Hinterlassenschaft der frü-
die ein Pfändungsschutzkonto für ihre Kunden führen, heren Justizministerin, der es binnen drei Jahren nicht
und Auskunfteien. Mit dem hier vorliegenden Gesetzent- gelungen war, einen Gesetzentwurf zur Richtlinienum-
wurf soll dies optimiert und europäisch harmonisiert setzung vorzulegen, und das, obwohl in Deutschland
werden. wirklich nur geringe Anpassungen vorzunehmen sind.
Allerdings – und das ist aus meiner Sicht wesentlich – Es freut mich daher umso mehr, dass wir dies heute ab-
dürfen diese eingeführten Kontrollmechanismen nicht zu schließen können, dazu noch im weitgehenden Einver-
Abstrichen beim Schutz der Rechte der betroffenen Kon- nehmen der Fraktionen. Es zeigt einmal mehr, dass wir
toinhaberinnen und -inhaber führen. Dennoch ist es aus im Justizbereich meist alle an einem Strang ziehen.
meiner Sicht richtig und im Interesse der Gläubiger so-
wie der Schuldner, diese in § 850 k ZPO vorgenommene Doch nun zu den Änderungen im Einzelnen. Die
Richtlinienumsetzung erfordert vor allem Änderungen in
gesetzliche Änderung vorzunehmen.
den Verfahren der Berufszulassung zu den rechtsbera-
Bei Auskunftsverlangen von Kreditinstituten im Hin- tenden Berufen. Mit der Einführung einer 3-Monats-
blick auf die Bonität potenzieller Vertragspartner wen- Frist für die Zulassung zum Rechtsanwalts-, Patent-
den sich diese in der Praxis im Regelfall an die Schufa anwalts- und Wirtschaftsprüferberuf erhalten Bewerber
Holding AG; das ist Schutzgemeinschaft für allgemeine eine verlässliche Aussage darüber, wann sie mit ihrer
Kreditsicherung. Mit den in diesem Gesetzentwurf vor- Aufnahme in den jeweiligen Beruf rechnen können. Da-
genommenen Änderungen der ZPO werden die Banken bei haben wir jedoch bewusst von einer Genehmigungs-
allerdings ermächtigt, nicht nur die Schufa über die Ein- fiktion nach Ablauf der Frist abgesehen, um so die
richtung eines Pfändungsschutzkontos zu unterrichten. Rechtssuchenden vor eventuell nicht fachgerechter Be-
Denn nach diesem Gesetzentwurf können nunmehr Ban- ratung zu schützen. Zusätzlich ist es den Kammern in
ken und Sparkassen, die nicht mit der Schufa, sondern Ausnahmefällen gestattet, die Frist zu überschreiten,
mit anderen Auskunfteien zusammenarbeiten, auch die- wenn dies – etwa bei einer komplizierteren Zulassung ei-

Zu Protokoll gegebene Reden


8690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Mechthild Dyckmans
(A) ner neuen Berufsausübungsgesellschaft – erforderlich europarechtlichen Anforderungen entspricht und in den (C)
ist. Ebenso in den Bereich der Rechtsberatung gehört, verschiedenen Bereichen für mehr Rechtsklarheit und
dass künftig auch europäische Hochschullehrerinnen damit auch Rechtssicherheit sorgt.
und Hochschullehrer mit der Befähigung zum deutschen
Richteramt vor Verwaltungs- und Sozialgerichten sowie Jens Petermann (DIE LINKE):
dem Bundesverfassungsgericht auftreten können. Fer- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richtli-
ner erhalten nunmehr europäische Bewerber, die als In- nie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt
solvenzverwalter in Deutschland tätig werden wollen, in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Übersetzun-
Klarheit darüber, an wen sie sich in diesem Fall wenden gen fremdsprachiger Urkunden aus dem europäischen
müssen. Ausland sollen damit anerkannt und die Registereinsicht
Diese Regelung ist notwendig, da auch Insolvenzver- ausländischer Behörden im Rahmen der europäischen
walter unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fal- Verwaltungszusammenarbeit ermöglicht werden.
len. Sie sind Dienstleister in hoheitlichem Auftrag, ohne Die Linksfraktion begrüßt diese Zielstellung. Aller-
dabei selbst hoheitliche Gewalt auszuüben. Daher ist dings hat die Bundesregierung ohne erkennbare Not
auf sie die Ausnahmevorschrift des Art. 2 Buchstabe i sachfremde Regelungen in diesem Gesetzentwurf ver-
der Richtlinie nicht anwendbar. Mit der Einführung des steckt. Völlig herausgerissen aus dem Gesamtzusam-
Art. 102 a EGInsO wird aber weder eine Vorentschei- menhang, der in der Umsetzung der Richtlinie besteht,
dung für ein noch zu schaffendes deutsches Zulassungs- taucht eine Neuregelung im Gerichtsverfassungsgesetz
verfahren für Insolvenzverwalter getroffen, noch erfolgt auf, die die Amtsenthebung von Schöffinnen und Schöf-
eine Ungleichbehandlung von deutschen und europäi- fen wegen gröblicher Amtspflichtverletzungen vorsieht.
schen Bewerbern. Für die Beauftragung mit einem kon-
kreten Fall ist weiterhin der jeweilige Richter zuständig. Es ist geplant, § 51 Gerichtsverfassungsgesetz neu zu
Neben der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie bot besetzen. Damit soll eine Möglichkeit geschaffen wer-
sich dieses Gesetzgebungsverfahren dazu an, noch klei- den, eine Schöffin oder einen Schöffen seines Amtes zu
nere notwendige Anpassungen in verschiedenen anderen entheben, wenn sie ihre bzw. er seine Amtspflichten
Bereichen vorzunehmen. gröblich verletzt. Die Entscheidung darüber trifft ein
Strafsenat des örtlich zuständigen Oberlandesgerichts
Ich will nur auf einige davon kurz eingehen. Die erste auf Antrag einer Richterin oder eines Richters. Ein
Änderung betrifft das Pfändungsschutzkonto – P-Konto –, Rechtsmittel ist ausdrücklich nicht vorgesehen, was ich
das wir in der letzten Legislaturperiode eingeführt ha- für äußerst fragwürdig halte. Hier wird der Schöffin
ben. Um sicherzustellen, dass jede Person nur ein einzi- oder dem Schöffen jeglicher Rechtsschutz entzogen. So-
(B) ges Pfändungsschutzkonto führt, sieht § 850 k Abs. 8 lange über die Amtsenthebung nicht entschieden ist, (D)
ZPO vor, dass die Kreditinstitute die Führung eines sol- kann angeordnet werden, dass die Schöffin oder der
chen Kontos der Schufa Holding AG mitteilen dürfen Schöffe von der Sitzungsteilnahme ausgeschlossen wird.
und diese wiederum ihrerseits Kreditinstituten auf An- Auch diese Anordnung ist nicht anfechtbar und verwehrt
trag Auskunft über ein bestehendes Pfändungsschutz- dem Betroffenen jeglichen Rechtsschutz. Das ist wirklich
konto des Kunden erteilen darf. Mit der Änderung in ein seltsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und
§ 850 k ZPO werden nunmehr alle Auskunfteien gleich- gerade für unsere Rechtsordnung, die vom Prinzip des
berechtigt behandelt. Die Fraktionen waren sich einig, gesetzlichen Richters geprägt ist, ein geradezu unge-
dass die in der Beratung angesprochene sogenannte wöhnlicher Vorgang.
Monatsanfangsproblematik, die bei der Einrichtung des
P-Kontos auftreten kann und seit Einführung des P-Kon- Nicht nur die ausgeschlossene Rechtsschutzmöglich-
tos bereits zu Problemen geführt hat, noch einer geson- keit, sondern auch die Voraussetzungen der Amtsenthe-
derten Regelung bedarf. Hier hat das Justizministerium bung an sich sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
zugesagt, alsbald einen entsprechenden Änderungsvor- Denn die dehnbare und unbestimmte Formulierung
schlag vorzulegen. „gröblich“ ist mit Blick auf den Rechtsstaatsgrundsatz
nicht zu verantworten. Der Gesetzgeber muss bei derar-
Schließlich haben wir auf Bitten des Bundesrates ei- tigen Eingriffen die genaue Art der schwerwiegenden
nige Anpassungen vorgenommen. So schaffen wir im fortgesetzten Verstöße, welche laut Begründung als
Kostenrecht Übergangsvorschriften zur Höhe des Haft- gröbliche Amtspflichtverletzung ausreichen sollen, re-
kostenbeitrags, die bis zum Erlass entsprechender lan- geln. Aufgrund der Unbestimmtheit und dem daraus fol-
desrechtlicher Vorschriften anzuwenden sind. Auch füh- genden weiten Auslegungsspielraum lassen sich zu viele
ren wir eine Länderöffnungsklausel für die Regelung der unterschiedliche Lebenssachverhalte unter dieses Tatbe-
Zuständigkeit der Oberlandesgerichte in verwaltungs- standsmerkmal subsumieren, womit einem Missbrauch
rechtlichen Notarsachen ein. Tür und Tor geöffnet wird. Zum Beispiel könnte eine
Schöffin oder ein Schöffe des Amtes enthoben werden,
Außerdem vereinfachen wir das Wahlverfahren zum wenn ihre bzw. seine telefonische und postalische Er-
Vorstand der Rechtsanwaltskammern, das mit seinen reichbarkeit nicht sichergestellt ist.
bisherigen Mehrheitserfordernissen in der Vergangen-
heit zu Schwierigkeiten geführt hat. Nunmehr wird ab Wenn Sie mit Ihrer Regelung bezwecken wollen, Mit-
dem dritten Wahlgang die einfache Stimmenmehrheit glieder von verfassungsfeindlichen Parteien aus der
ausreichen. Ich denke, wir haben damit zügig und ein- Rechtssprechung zu entfernen, wie es jedenfalls die Be-
vernehmlich ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den gründung der Regelung vermuten lässt, dann schreiben

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8691
Jens Petermann
(A) Sie es doch auch bitte so konkret in das Gesetz. Auch ein über die Existenz von Pfändungsschutzkonten informie- (C)
Verweis auf die Verwendung der Begriffe „gröbliche ren, die dann ihrerseits anderen Kreditinstituten Aus-
Verletzung“ in bereits geltenden Gesetzen begründet kunft erteilen kann. Mit der Neufassung soll die Ein-
keine Legitimation. Vielmehr belegen sie, dass auch dort schränkung auf die Schufa aufgehoben werden. Auch
gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Mit der andere Auskunfteien sollen in das Informationssystem
Neubesetzung des § 51 Gerichtsverfassungsgesetz und zum Pfändungsschutzkonto einbezogen werden.
der bereits im Sommer verabschiedeten Änderung von
§ 33 Gerichtsverfassungsgesetz wird faktisch die Mög- Wir Grünen begrüßen und unterstützen diese Neufas-
lichkeit geschaffen, sich unliebsamer oder unbequemer sung. Insbesondere in ländlichen Gebieten arbeiten ein-
Schöffinnen und Schöffen schnell und einfach, ohne dass zelne Banken und regionale Sparkassen teilweise nicht
diese eine Möglichkeit zur Verteidigung haben, zu entle- mit der Schufa zusammen, sondern mit anderen Aus-
digen. Das ist wirklich kein Ruhmesblatt. kunfteien. Diesen Unterschieden wird mit der Neurege-
lung Raum geschaffen. Auch ist nicht nachvollziehbar,
Im Gesetzentwurf sich aber auch wichtige Regelun- warum die Schufa gegenüber allen anderen Auskunf-
gen, zum Beispiel für das Berufszulassungsverfahren zur teien, seien sie national oder seien sie europäisch tätig,
Rechtsanwaltschaft. Danach ist die Einführung einer derart bevorzugt werden soll. Hier ist Ausgewogenheit
Dreimonatsfrist zur vollständigen Bearbeitung eines Zu- wichtig.
lassungsantrages vorgesehen. Somit müssen junge Ju-
Weiter begrüßen wir Folgendes: Derzeit ist es mög-
ristinnen und Juristen nicht mehr über Gebühr auf ihre
lich, dass Geldinstitute ihren P-Konto-Kunden die Zu-
Zulassung als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt war-
stimmung dazu abnötigen, deren Daten für die Beurtei-
ten. Neben verfahrensrechtlichen Regelungen zur Insol-
lung ihrer Kreditwürdigkeit oder für die Berechnung von
venzverwaltervorauswahl ist eine Gleichstellung von
Score-Werten weiterzuverwenden. Das ist eine Nutzung
Rechtslehrerinnen und Rechtslehrern aus dem europäi-
von Daten über den ursprünglichen Zweck hinaus, die
schen Ausland mit Rechtslehrerinnen und Rechtslehrern
nicht notwendig ist. Diese Möglichkeit wird mit der
an deutschen Hochschulen im Hinblick auf die Prozess-
Neufassung des § 850 k Abs. 8 ZPO ausdrücklich ausge-
führungsbefugnis im deutschen Gerichtsverfahren vor-
schlossen. Damit wird der ordnungsgemäße Umgang
gesehen. Trotz einer Reihe sinnvoller Artikel, die zur
mit den Daten der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
Verbesserung der Rechtslage beitragen, ist aufgrund der
gewährleistet.
völlig unzureichenden Regelung der Amtsenthebung von
Schöffinnen und Schöffen eine Zustimmung zu diesem Im Zusammenhang mit dem Pfändungsschutzkonto be-
Gesetzentwurf nicht möglich. steht allerdings noch weiterer Handlungsbedarf. Dieser
stellt sich bei der sogenannten Monatsanfangsproblema-
(B)
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tik. Was verbirgt sich hinter dem Wort „Monatsanfangs- (D)
problematik“? Nach Auffassung einiger Finanzinstitute
Auf der Tagesordnung steht heute der „Gesetzentwurf sind Zahlungen nur in dem Monat vor der Zwangsvoll-
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Jus- streckung geschützt, in welchem sie auf das Pfändungs-
tiz und zur Änderung weiterer Vorschriften“. Der Ge- schutzkonto eingehen. Das bedeutet, dass zum Beispiel
setzentwurf umfasst die unterschiedlichsten Regelungen. Sozialleistungen, die schon am Ende des Vormonats für
Ich möchte mich mit meinen Ausführungen auf nur eines den kommenden Monat überwiesen worden sind, nach
dieser vielen Themen beschränken – das ist ein Thema, Auffassung einiger Banken teilweise nur einen Tag oder
das mir aus Sicht des einzelnen Bürgers und der einzel- zwei Tage dem Pfändungsschutz unterfallen. Eigentlich
nen Bürgerin besonders wichtig erscheint –: das Pfän- sollte hier der Wortlaut des § 850 k Abs. 1 Satz 2 ZPO
dungsschutzkonto, kurz: P-Konto. klar sein: Zahlungen, beispielsweise an SGB-II-Empfän-
Wir alle wissen: Ein P-Konto ist kein neues Bank- ger, die bereits Ende November überwiesen worden sind,
konto. Es ermöglicht dem Verbraucher, mit Banken oder jedoch für den Monat Dezember bestimmt sind, sollten
Sparkassen zu vereinbaren, dass ein bereits bestehendes auch bis Ende Dezember vom Pfändungsschutz umfasst
Girokonto als Pfändungsschutzkonto geführt wird. Das sein. Anscheinend verstehen einzelne Bankinstitute die
Geldinstitut muss dann dafür Sorge tragen, dass der Norm anders. Uns erreichen immer wieder Beschwerden
Pfändungsschutz gewahrt bleibt. Im Falle einer über diese Praxis. Im September dieses Jahres hat das
Zwangsvollstreckung gegen seinen Kunden darf das Justizministerium angekündigt, dieses Problem in An-
Geldinstitut den pfändungsfreien Betrag nicht an den griff zu nehmen. Wir sind auf die Neuregelung gespannt
Gläubiger auskehren. und werden die Diskussion darüber gerne mitgestalten.

Die Regelungen zum Pfändungsschutz finden sich in Zusammenfassend kann ich feststellen: Mit dem Ent-
§ 850 k ZPO. Abs. 8 dieser Vorschrift soll nun neu ge- wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungs-
fasst werden. Was verbirgt sich nun in § 850 k Abs. 8 richtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vor-
ZPO? Durch § 850 k Abs. 8 ZPO soll sichergestellt wer- schriften werden viele wichtige Teilbereiche zutreffend
den, dass jeder Bürger und jede Bürgerin nur ein einzi- geregelt. Wir werden diesem Gesetzentwurf deshalb zu-
ges und nicht mehrere Pfändungsschutzkonten führt. stimmen.
Denn natürlich kann jede Schuldnerin und jeder Schuld-
ner den Pfändungsfreibetrag auch nur einmal und nicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mehrmals in Anspruch nehmen. Bisher ist geregelt, dass Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Geldinstitute ausschließlich die Schufa Holding AG empfehlung auf Drucksache 17/4064, den Gesetzent-
8692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3356 in terstützung, liebe Kollegen der Grünen, sind deshalb mit (C)
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, uns nicht zu machen.
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
Die Länder haben im Rahmen der Verbraucherminis-
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
terkonferenz ihre Vorstellungen konkretisiert und ihren
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Wunsch nach einem Smiley-System bekräftigt: Die Län-
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
der wollen eine bundeseinheitliche Kennzeichnung. Hier
fraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
haben sie unsere volle Unterstützung. Das Letzte, was
Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Fraktion Die
wir gebrauchen können. ist noch ein weiterer föderaler
Linke.
verbraucherpolitischer Flickenteppich. Wie das Ergeb-
Dritte Beratung nis der Kontrollen transparent gemacht werden soll,
zum Beispiel durch Kochlöffel oder Kuchenstücke, ist
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem bisher noch unklar. Die Länderarbeitsgruppen wollen
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ihre Ergebnisse in den nächsten Wochen vorlegen. Fest
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf steht aber schon jetzt, dass alle Lebensmittelbetriebe
ist angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis diesem System unterworfen werden sollen, allerdings
wie bei der zweiten Beratung. mit einer stufenweisen Einführung: zunächst die Gastro-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: nomie, danach andere Betriebsarten.

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bei aller Unterstützung des Transparenzgedankens
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- steht für uns fest: Informationen müssen verständlich
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) und aktuell sein. Eine differenzierte Darstellung – etwa
stufenweise in Anlehnung an das bestehende Beurtei-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, lungssystem nach der Allgemeinen Verwaltungsvor-
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer schrift Rahmen-Überwachung – scheint daher eine gute
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lösung zu sein.
Lebensmittel-Smiley nach dänischem Vor- Zentrale Messlatte für den Einsatz ein neues Kenn-
bild bundesweit einführen zeichnungssystems bleibt für uns aber die Quantität der
Kontrollen. Das heißt: Nur bei demjenigen darf positiv
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike wie negativ deklariert werden, bei dem mehrere Kon-
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weite- trollergebnisse erzielt worden sind. Nur so können wir
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- dem Mangel einer Momentaufnahme begegnen. Das ist
(B) NIS 90/DIE GRÜNEN für meine Fraktion der Knackpunkt: Wer gestern noch (D)
Smiley-Kennzeichnungssystem bundesweit negativ gekennzeichnet wurde, sich aber verbessert,
verbindlich einführen muss zu Recht erwarten können, dass er zeitnah erneut
überprüft und bewertet wird.
– Drucksachen 17/3434, 17/3220, 17/3994 –
Dies können die Berliner Lebensmittelkontrolleure
Berichterstattung: beispielsweise nicht erfüllen. Im rot-rot regierten Berlin
Abgeordnete Peter Bleser sind SPD und Linke genau aus diesem Grund kläglich
Elvira Drobinski-Weiß mit dem Pankower Modell gescheitert. Hier hat sich ge-
Dr. Erik Schweickert zeigt, dass das sogenannte Smiley-System mit dem vor-
Karin Binder handenen Personal vor Ort nicht umsetzbar ist. Allein
Ulrike Höfken auf die 2 500 Betriebe in Berlin-Neukölln kommen nur
vier Lebensmittelkontrolleure. Die Konsequenz ist eine
Peter Bleser (CDU/CSU): drohende Klagewelle. Kein Wunder also, dass ein flä-
Ein Smiley an der Eingangstür als Hinweis darauf, chendeckendes Smiley-System oder „Ekellisten“ für
dass in Küche, Keller und Gastraum alles sauber ist? All ganz Berlin in den jeweiligen Stadtbezirken bisher auf
unsere Probleme in diesem Bereich sind gelöst? Nach großen Widerstand in den Bezirken stießen.
dem Weltbild der Grünen und Linken mag das so sein. Kurzum, das Berliner System zeigt genau die große
Die Welt ist aber nicht schwarz oder weiß, auch Grau- Gefahr des Systems: Kontrollen in Restaurants sind im-
zonen müssen wir im Blick behalten und hinterfragen. mer nur eine Momentaufnahme. Regelmäßige und zeit-
Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Die Union nah sich wiederholende Kontrollen sind unabdingbar,
sagt Ja zu mehr Transparenz. Restaurantgäste sollen auf um verbraucher- und wettbewerbsfreundlich zu sein. Bei
einen Blick erkennen, wie die Gaststätte bei der Lebens- einer Fokussierung auf die Kennzeichnung besteht im-
mittelkontrolle abgeschnitten hat. Smileys und damit mer die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung, weil nicht
wertende Modelle lehnen wir allerdings ab. alle Betriebe zu einem Stichtag kontrolliert und somit
zertifiziert werden können. Meine Warnung an die Län-
Eine Bemerkung vorneweg: Lebensmittelüberwa- der lautet deshalb, nur das zu versprechen, was sie in
chung ist und bleibt in Deutschland Ländersache. Wer der Praxis auch einhalten können. Ohne den Ausbau des
bestellt, bezahlt. Das ist nicht nur im Restaurant oder in Personals der Lebensmittelkontrolleure werden die ver-
der Kneipe so, sondern es ist auch hier unser Credo. heißungsvollen Ansätze der Verbraucherministerkonfe-
Ihre Forderungen nach mehr Geld und finanzieller Un- renz nicht umsetzbar sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8693
Peter Bleser
(A) Vergessen wir nicht: Die Gesetze im Bereich der Le- der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband gegen die (C)
bensmittelüberwachung und der -kontrollen in Deutsch- Einführung des Smiley-Systems wehrt und sich damit
land sind schon jetzt auf einem hohen Standard. Wirten, ausgerechnet vor die Minderheit der Schmuddelbetriebe
die sich nicht an die Regeln halten, drohen Bußgelder, stellt. Warum vertritt die DEHOGA nicht die Interessen
im schlimmsten Fall die Schließung des Betriebs. Kon- der großen Mehrheit ihrer Mitglieder, die ordentlich und
trolliert werden schon heute nach einem bestimmten korrekt wirtschaften? Warum ist die Angst vor Transpa-
System verschiedene Aspekte, etwa Sauberkeit, Lage- renz so groß?
rung der Waren oder Verarbeitung.
Die gleichen Fragen muss man an die Kolleginnen
Das Regelwerk besteht. Die Transparenz für den Ver- und Kollegen von CDU/CSU und FDP stellen. Es gab
braucher gilt es jetzt moderat und umsetzbar auszu- inzwischen mehrere Gelegenheiten, sich auch von hier
bauen. Statt sich aber wie die Opposition nur auf die aus, aus dem Bundestag heraus, für die Einführung ei-
Kennzeichnungsfrage zu versteifen, sollten wir auch an- nes Smiley-Systems starkzumachen. Bereits im Juni ha-
dere Aspekte zur Verbesserung der Lebensmittelsicher- ben wir unseren Antrag „Verbraucherinformationsge-
heit im Blick behalten. Wir brauchen vor allem einen setz zügig reformieren“ eingebracht, in dem wir die
Sachkundenachweis für Unternehmensgründer in der Smiley-Kennzeichnung fordern. Heute schließen wir
Gastronomie. Jeder kann bis heute ungeprüft einen Be- hier die Diskussion über zwei Anträge von Grünen und
trieb eröffnen. Kontrolle – Fehlanzeige! Die Konsequenz: Linken ab, die sich ebenfalls für die Smiley-Kennzeich-
Asia-Shops und Grillbuden an jeder Ecke. Hygiene ist nung aussprechen. Aber Sie von der Regierungskoali-
hier oftmals ein Fremdwort. Hier müssen wir ansetzen tion blockieren. Dabei kündigte Ministerin Aigner in den
und die Standards in der Branche anheben. Medien an, sich für die Smiley-Kennzeichnung einzuset-
zen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb
dafür ein, dass jeder, bevor er eine Gaststätte oder einen Inzwischen wurde eine Bund-Länder-Projektgruppe
Betrieb in der Lebensmittelbranche eröffnet, entweder eingerichtet, die über ein bundesweites System verhan-
in Form einer Ausbildung oder durch Seminarbesuche delt. Wir haben uns im Ausschuss darüber berichten las-
in den Bereichen Arbeitsrecht, Betriebswirtschaft und sen. Der Bericht war, wie inzwischen leider immer, sehr
Hygienevorschriften lernen muss. Das würde das Image dürftig und ergab nur ein unklares Bild. Denn mit Trans-
der Branche stärken und dem Verbraucher mehr Sicher- parenz hat diese Bundesregierung nicht nur an Gaststät-
heit geben, dass Besitzer von Dönerbuden und anderen ten ein Problem, sondern auch, wenn es um ihre Vorha-
Shops wissen, wie unsere Hygienestandards sind. ben geht. Was wir erfuhren, hört sich nicht gut an. Von
Die Union sagt mit Blick auf die Verbraucher Ja zu Darstellungen, die frei von Emotionalität gehalten wer-
(B) mehr Transparenz im Lebensmittelbereich, zu mode- den sollen, war die Rede. Vom dänischen Smiley-System (D)
raten, nicht wertenden und umsetzbaren Kennzeich- bleibt da wenig. Anscheinend gab es auch Überlegun-
nungssystemen und zu einem verpflichtenden Sach- gen, das System auf Positiv-Aussagen zu beschränken.
kundenachweis für Gastronomiebesitzer im Rahmen der Damit würde das dänische System endgültig ad ab-
Gewerbeaufsicht. Wir sagen Nein zu wertenden und dif- surdum geführt.
famierenden Kennzeichnungssystemen, solange die Doch nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
Chance der Betriebe auf zeitnahe Kontrollen nicht ge- einige Länder scheinen zu mauern. Laut Auskunft der
währleistet ist. Bundesregierung auf eine Anfrage von mir wird das dä-
nische Modell wegen der Kosten abgelehnt. Deshalb
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): habe ich nach der Höhe der Kosten gefragt, und wollte
Im April dieses Jahres ergab eine repräsentative Um- auch wissen, wie hoch die Ausgaben der öffentlichen
frage des Emnid-Institutes, dass 93 Prozent der Bürge- Hand insgesamt für die Lebensmittelüberwachung in
rinnen und Bürger eine Smiley-Kennzeichnung für Gast- Deutschland sind. Laut Antwort vom 5. November hat
stätten und Lebensmittelbetriebe haben wollen, die sie die Bundesregierung gar keine Kenntnisse über die
einfach, schnell und unkompliziert über den Hygienezu- Höhe der Kosten, weder über die für das Smiley-System
stand informiert. Wir meinen: Das ist ihr gutes Recht. in Dänemark noch die der Lebensmittelüberwachung in
Schließlich zahlen Bürgerinnen und Bürger mit ihren Deutschland. Doch dies hindert sie nicht, mit zu hohen
Steuergeldern die amtlichen Kontrollen. Da sollten sie Kosten zu argumentieren. Zwar liegt die Zuständigkeit
auch erfahren dürfen, was dabei herauskam. Die SPD für die Lebensmittelüberwachung bei den Ländern, doch
will Informationen und Kennzeichnungen, die all- was läuft denn eigentlich in dieser Bund-Länder-Pro-
tagstauglich sind und Verbrauchern wirklich nutzen. Wir jektgruppe, wenn man sich dort nicht einmal darüber
wollen die verpflichtende Smiley-Kennzeichnung nach austauscht, wie viel man in die Lebensmittelüberwa-
dänischem Vorbild für Gastronomie und Lebensmittel- chung investiert oder wie viele Kontrolleure man hat!
betriebe, die Verbraucher auf einen Blick und vor Ort
über Hygienekontrollergebnisse informiert. Die Praxis spricht eine deutliche Sprache, und zwar
für die Anwendung eines Smiley-Systems, welches sich
Diese Art von Transparenz nützt nicht nur Verbrau- am dänischen Modell orientiert. In der letzten Woche
cherinnen und Verbrauchern, sondern auch den Lebens- hatten wir Gelegenheit, das Lebensmittelaufsichtsamt
mittelbetrieben; denn für die große Mehrheit der sauber Pankow zu besuchen. Ich danke unserem Ausschussvor-
wirtschaftenden Betriebe ist der Positiv-Smiley ein Wett- sitzenden, dass er diesen Termin organisiert hat. Dort
bewerbsvorteil. Verwunderlich ist deshalb, warum sich hat man enorm positive Erfahrungen mit den Smileys

Zu Protokoll gegebene Reden


8694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Elvira Drobinski-Weiß
(A) gemacht. Denn die Veröffentlichung der Hygienezu- möchte er wissen, ob er dies bedenkenlos tun kann. Bis- (C)
stände hat eine solch abschreckende Wirkung, dass der lang gibt es für den Verbraucher aber keine Möglichkeit,
Anreiz, sich ordentlich zu verhalten und sauber zu wirt- die hygienischen Zustände einzuschätzen. Selbst in teu-
schaften, viel höher geworden ist. Berichtet wurde uns, ren Restaurants ergibt die Lebensmittelkontrolle näm-
dass es im Bezirk vor der Einführung der Smileys in lich bisweilen ein trauriges Ergebnis.
2008 111 Betriebsschließungen gab. Nach der Einfüh-
rung in 2009 sank die Zahl der Betriebe, die wegen an- Das Verbraucherinformationsgesetz ist für eine
haltend schlechter Hygienezustände geschlossen werden schnelle Orientierung ungeeignet. Denn die Verbrau-
mussten, auf 71. Ohne Smileys seien früher Bußgelder cher werden nicht erst eine Anfrage bei einer Behörde
für Verstöße einfach aus der Portokasse gezahlt worden, stellen und zwei Monate warten, bis die Antwort be-
und dann sei der Betrieb weitergelaufen wie zuvor. Mit scheinigt, dass in dem gewählten Restaurant ohne Sor-
Smileys müssen Schmuddelgastronomen damit rechnen, gen gegessen werden kann. Hier bringt das stark forma-
dass die Gäste wegbleiben, und das kann sich niemand lisierte VIG keinen Nutzen.
leisten. Der Verbraucher wünscht aber eben eine schnelle
Die Kosten für die Nachkontrollen bei Schmuddellä- Orientierung, und für diese Orientierung steht der Smiley
den zahlen übrigens derzeit die Steuerzahler. Zwar muss als eine äußerst effiziente Form. Nach einer Emnid-Um-
der Verursacher eine Gebühr entrichten, sie deckt aber frage wären 93 Prozent der befragten Bürgerinnen und
bei weitem nicht die Kosten der Nachkontrolle. Wenn Bürger glücklich über die Einführung des Smiley-Sys-
man es allerdings wie die Dänen regeln würde, könnte tems.
man für diejenigen, die einen Negativ-Smiley haben, die Das Smiley-System in der Gastronomie schafft auf
Möglichkeit schaffen, sich auf eigene Kosten nachkon- eine sympathische Art und Weise positive Anreize für
trollieren zu lassen, um den Negativ-Smiley wieder los- mehr Transparenz, mehr Hygiene und damit mehr Ver-
zuwerden. Damit käme Geld in die Kassen, mit dem die braucherschutz, ohne die Unternehmen an den Pranger
Lebensmittelaufsicht besser ausgestattet werden könnte. zu stellen. Denn im Wettbewerb werden gerade diejeni-
Der Leiter der Lebensmittelaufsicht in Pankow konnte gen Gastronomen durch den Smiley begünstigt, die eine
uns an vielen Fällen aus der Praxis verdeutlichen, dass gute Leistung und Qualität anbieten. Der Smiley hono-
dem Amt mit der Smiley-Kennzeichnung endlich eine riert also Leistung und bestraft mangelnde Hygiene.
wirksame Waffe im Kampf gegen Hygiene-Verstöße ge- Deshalb wird er auch von einer Mehrheit der Gastrono-
geben ist. All dies hat die Kolleginnen und Kollegen von men befürwortet, wie eine Studie der „Hotel- und Gast-
der CDU/CSU aber nicht interessiert. Von ihnen hat nie- stättenzeitung“ zeigte.
(B) mand die Gelegenheit zum Austausch mit Praktikern ge- Es kommt ja deshalb auch nicht von ungefähr, dass in (D)
nutzt; nicht ein einziger Abgeordneter von CDU oder Dänemark die Zahl der festgestellten Hygienemängel
CSU hat teilgenommen. nach der Einführung des Smileys deutlich reduziert wer-
Laut Empfehlung des Verbraucherausschusses sollen den konnte. Auch der Berliner Bezirk Pankow hat sehr
die Anträge von Grünen und Linken zur Einführung von gute Erfahrungen mit der Einführung des Smileys an
Smileys abgelehnt werden. Meine Fraktion lehnt die Aus- Gaststätten und einer Veröffentlichung von Negativlis-
schussempfehlung ab. Die Einführung des Smiley-Sys- ten im Internet gemacht. Die Zahl der Hygienesünder ist
tems nach dänischem Vorbild ist uns ein Anliegen. Auch auch dort signifikant zurückgegangen. Vor der Einfüh-
wenn die Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit die Ab- rung der Negativlisten im Jahr 2008 wurden in Pankow
lehnung der Anträge zur Smiley-Einführung erreicht: noch 111 Betriebe wegen grober Verstöße geschlossen,
Die Diskussion wird weitergehen. Mit dem Verbraucher- nach der Einführung im Jahr 2009 nur noch 71 Be-
informationsgesetz haben wir die Möglichkeit zur akti- triebe.
ven Verbraucherinformation geschaffen, und einige nut- Darum wollen wir ein Kennzeichnungssystem für
zen sie bereits tatsächlich. Allerdings brauchen wir ein Gaststätten einführen – wenn es nach den Liberalen
paar klarstellende Nachbesserungen am VIG. Doch bis- geht, am liebsten den Smiley nach dänischem Vorbild.
her mauert schwarz-gelb. Auch die Konferenz der Verbraucherminister der Länder
In Berlin werden ab Juli nächsten Jahres alle Bezirke hat dies im September einhellig beschlossen. Um die
ihre Gaststätten mit Smileys kennzeichnen. Es gibt be- Einführung eines Kennzeichnungssystems voranzutrei-
reits Überlegungen, nicht nur Gaststätten, sondern alle ben, wurde von der Länderarbeitsgemeinschaft eine
Lebensmittelbetriebe zu kennzeichnen. Wir gehen davon Projektgruppe eingesetzt, die nun erarbeitet, wie ein sol-
aus, dass sich das System durchsetzen wird. Immer mehr ches Kennzeichnungssystem aussehen sollte und welche
werden einsteigen; denn die Vorteile für die Verbrau- gesetzlichen Grundlagen dafür erforderlich sind. Den
cher, für die seriösen Unternehmen und für die Lebens- Damen und Herren aus den Oppositionsfraktionen sei
mittelüberwachung sind offensichtlich. Wir werden uns also gesagt, die Bundesregierung arbeitet an einer ent-
weiterhin für die Smileys und für eine aktive und all- sprechenden Regelung.
tagstaugliche Verbraucherinformation einsetzen. Dies sage ich vor allem im Hinblick auf die vorlie-
genden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
Dr. Erik Schweickert (FDP): Linken: Sie wollen hier drei Schritte vor dem ersten tun.
Wenn jemand Hunger bekommt und sich überlegt, Die Bundesregierung möchte mit den Ländern zu einer
zum Mittagessen in ein Restaurant zu gehen, dann effizienten und sinnvollen Regelung kommen und keinen

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8695
Dr. Erik Schweickert
(A) übereilten Schnellschuss vorlegen. Deshalb gibt es ja ten erst nach dem Essen besucht. Nur wer schon am Ein- (C)
auch die angesprochene Projektgruppe. Außerdem ar- gang eines Restaurants, einer Imbissbude oder eines
beitet die Bundesregierung intensiv an der Novellierung Lebensmitteldiscounters erfährt, wie es hinter der Theke
des Verbraucherinformationsgesetzes, in dessen Rah- zugeht, ist wirklich informiert und hat gut Lachen. Des-
men auch eine Regelung zur Kennzeichnung in der Gas- halb fordert Die Linke die Einführung des Lebensmittel-
tronomie diskutiert wird. Beide Bereiche müssen also Smileys nach dänischem Vorbild.
zusammen behandelt werden. Denn es ist doch absurd,
Das „Smiley-Modell“ hat drei wichtige Vorteile. Ers-
dass nach dem derzeitigen VIG zwar die schlecht arbei-
tens wird die Hygiene in der Gastronomie und in Betrie-
tenden Gastronomen im Internet veröffentlicht werden
ben, die Lebensmittel anbieten, verbessert, zweitens geht
dürfen, jene, bei denen alles vorbildlich ist, aber nicht.
der Aufwand der Kontrollbehörden mittelfristig zurück,
Allerdings stelle ich auch ganz klar fest, dass ich es und drittens schafft es Vertrauen bei den Kundinnen und
für einen Fehler hielte, die Verantwortung für die Um- Kunden. Das – im besten Fall freundliche oder bei er-
setzung des Smiley-Systems allein den Ländern zuzu- heblichen Mängeln traurige – Smiley-Symbol informiert
schieben. Es ist zwar richtig, dass die Lebensmittelüber- Verbraucherinnen und Verbraucher direkt am Eingang
wachung in der Zuständigkeit der Länder liegt. Ebenso des Geschäfts leicht erkennbar über die aktuellen Kon-
richtig ist es aber auch, dass eine bundeseinheitliche Re- trollergebnisse der Lebensmittelbehörden. Hinzu kom-
gelung nur im Zusammenspiel der Bundesregierung mit men ein Aushang im Betrieb und eine Auflistung im In-
den Ländern erfolgen kann. Es darf eben keinen Ver- ternet, die im Einzelnen Auskunft über gute oder
schiebebahnhof der Zuständigkeiten zwischen Bund und schlechte Bewertungen geben.
Ländern geben, bei dem der effiziente Verbraucher-
In Dänemark hat sich der Smiley bereits über viele
schutz auf der Strecke bleibt.
Jahre bewährt. Auch in unserer Hauptstadt wird das
Voraussetzung für die Umsetzung des Smiley-Systems Modell Mitte nächsten Jahres durch die Initiative der
ist allerdings die Neuorganisation der Lebensmittelkon- Verbraucherschutz-Senatorin der Linken, Katrin
trolle. Denn zum einen muss sichergestellt sein, dass Lompscher, berlinweit starten. Die Verbraucherschutz-
gute Gaststätten zeitnah einen Smiley erhalten, um Wett- ministerkonferenz der Länder hat sich im September
bewerbsnachteile zu vermeiden. Zum anderen müssen ebenfalls für ein bundesweit verbindliches Modell zur
Gaststätten, bei denen Beanstandungen vorlagen, nach Veröffentlichung von Ergebnissen der amtlichen Lebens-
Beseitigung der Mängel die Chance erhalten, eine Ne- mittelkontrollen mit einheitlichen Bewertungsmaßstä-
gativbewertung ebenfalls zeitnah wieder loszuwerden. ben ausgesprochen. Einzig die zuständige Bundesminis-
terin, Frau Aigner, kann sich nicht so recht für den
Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass keine Ab- Smiley erwärmen. Damit in der Öffentlichkeit dennoch
(B) kehr von der risikoorientierten Kontrolle erfolgt, das (D)
ein guter Eindruck entsteht, wendet sie einen Trick an:
heißt bereits auffällige Gaststätten weiterhin häufiger Sie schiebt den Ländern die Verantwortung zu – in der
kontrolliert werden als unauffällige Betriebe. Auch muss Hoffnung diese mögen recht lange um eine Entschei-
zwingend vermieden werden, dass durch einen Mangel dung ringen und das Modell verwässern.
an ausreichendem Kontrollpersonal nur noch Gaststät-
ten und keine Zulieferbetriebe – Kühlhäuser etc. – mehr Wir erwarten, dass die Bundesregierung handelt, in-
kontrolliert werden. Denn dem Verbraucher ist nicht ge- dem sie das Verbraucherinformationsgesetz ändert, statt
holfen, wenn am Ende zwar die Theken und Küchen der nur darüber zu reden. Die derzeitigen gesetzlichen Re-
Gaststätten sauber sind, aber das dort zubereitete gelungen bieten keine ausreichende Rechtssicherheit für
Fleisch gesundheitlich problematisch ist. die bundesweite Einführung des Smiley-Modells. Die
Linke fordert: Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der
Der Smiley in der Gastronomie kann, wenn er gut die verpflichtende Einführung des Smiley-Modells er-
eingesetzt ist, einen wirklichen Fortschritt für die Ver- möglicht und gleichberechtigt alle Lebensmittelbetriebe
braucherinnen und Verbraucher bringen. Er schafft einbindet. Schlecht bewertete Betriebe müssen die
Transparenz bei wenig Bürokratie und ohne zusätzliche Chance auf rasche Nachkontrolle haben, damit eine ne-
Kosten für die Betriebe. Allerdings setzt die Umsetzung gative Veröffentlichung gegebenenfalls beseitigt werden
des Smiley-Systems voraus, dass eine Neuorganisation kann. Machen Sie den Ländern einen Vorschlag, wie die
der Lebensmittelkontrolle erfolgt. Hierzu müssen der Kennzeichnung im Einzelnen aussehen soll, um die Ver-
Bund und die Länder zu einem klaren Konzept gelangen. braucherinnen und Verbraucher über die Kontrollergeb-
Dies geht nicht von heute auf morgen, ist aber derzeit in nisse der Lebensmittelbörden zu informieren.
Arbeit. Dabei werden sowohl die rechtlichen als auch
die finanziellen Aspekte eine Rolle spielen; denn wir Natürlich muss nach den Vorgaben „sehr gut“,
brauchen ein funktionales Gesamtkonzept und keine „gut“, „weniger gut“ und „schlecht“ unterschieden
Schnellschüsse. Den vorliegenden Anträgen werden wir werden. Beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Le-
als christlich-liberale Koalition daher nicht zustimmen. bensmittelsicherheit ist eine Internetplattform einzurich-
ten, auf der die von den Bundesländern übermittelten
Karin Binder (DIE LINKE):
Kontrollergebnisse der Lebensmittelüberwachungsbe-
hörden zeitnah veröffentlicht werden.
Wenn Sie wissen wollen, wie sauber in einem Restau-
rant die Küche ist, werfen Sie einen Blick in die Toilette. Frau Ministerin Aigner: Unterstützen Sie die Bundes-
Dieser Hinweis eines bekannten Küchenchefs ist ein gu- länder bei der zügigen Einführung des Smiley-Modells
ter Rat, aber wenig hilfreich, wenn man die Örtlichkei- aktiv, statt die Verantwortung auf andere zu schieben,

Zu Protokoll gegebene Reden


8696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Karin Binder
(A) und stellen Sie ausreichend Mittel im Bundeshaushalt waltungsverfahren aufrechtzuerhalten und damit eine (C)
bereit. So wird der Smiley eine saubere Sache. Machen Verschleppung der Auskunftsansprüche der Verbrauche-
Sie mit, damit alle Beteiligten auf den ersten Blick etwas rinnen und Verbraucher zu etablieren. Besonders wich-
zu lachen haben. tig ist eine Regelungsergänzung, die eine Bewertung und
Veröffentlichung der Kontrollergebnisse im Internet
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): oder in sonstiger öffentlich zugänglicher Weise zulässt.
Die einstimmige Vereinbarung der Verbrauchermi- Durch diese Einfügung wird die Möglichkeit geschaffen,
nisterkonferenz von Bund und Ländern für mehr Trans- die Verstöße in verschiedene Schweregrade einzuteilen.
parenz bei der Lebensmittelkontrolle im September ist Eine solche Veröffentlichung wird in Dänemark prakti-
als Erfolg zu bezeichnen. Erfolgreicher Vorreiter ist Däne- ziert und hat maßgeblich zu dem Erfolg der Kennzeich-
mark, das bereits seit 2001 durch die Einführung des nung beigetragen.
Smiley-Systems für mehr Schutz der Verbraucherinnen
Frau Aigner hat vor der Verbraucherministerkonfe-
und Verbraucher durch Transparenz bei der Lebensmit-
telüberwachung – vom Schlachthof bis zum Supermarkt renz zugesagt, bei Übereinstimmung der Länder das
und der Imbissstube – gesorgt hat. Seither müssen die Smiley-Projekt zu unterstützen, und steht nun in der Ver-
Kontrollergebnisse über ein mehr oder weniger „lächeln- antwortung, das Kennzeichnungssystem zum Erfolg zu
des“ Gesicht direkt an den Verkaufsstellen ausgehängt führen. Den gesetzlich zulässigen Handlungsauftrag hat
werden. Der Erfolg: Seit der Smiley-Einführung sank die Ministerin von den Ländern erhalten. Die Arbeits-
die Quote der Beanstandungen um 16 Prozent. In gruppe der Länder hat sich nämlich für ein bundesein-
Deutschland hat das Smiley-Modell in Berlin-Pankow heitliches Gesetz ausgesprochen und gegen einen Er-
vorgemacht, wie man endlich Verbraucherinnen und mächtigungsrahmen, der für die Verbraucherinnen und
Verbrauchern die Möglichkeit gibt, die schwarzen Verbraucher nur verwirrende unterschiedliche Ausge-
Schafe unter den Betrieben zu erkennen. staltungen in den Ländern hervorrufen würde.

Mit dem Verbraucherausschuss des Bundestages ha- Angebliche Kritik an der Kennzeichnung vonseiten
ben wir letzte Woche das Ordnungsamt – mit Veterinär- der Lebensmittelwirtschaft ist vorgeschoben und einsei-
und Lebensmittelaufsicht – gemeinsam mit dem grünen tig. Der Widerstand gegen das Smiley-Projekt ignoriert
Bezirksstadtrat Kirchner, Leiter der Abteilung für Öffentli- die Bedürfnisse der Verbraucher und ignoriert auch die
che Ordnung und Mitinitiator des Smiley-Projekts, Ber- erwiesene Praxistauglichkeit des Smileys. Der nationale
lin-Pankow besucht. Wir haben die erfreulichen Auswir- Smiley in Dänemark und das Smiley-Projekt in Berlin-
kungen des Projekts gesehen, aber auch die Defizite Pankow finden nicht nur bei Verbraucherinnen und Ver-
gezeigt bekommen. Diese beruhen hauptsächlich auf ei- braucher, sondern auch immer stärker bei den betroffe- (D)
(B)
ner fehlenden bzw. lückenhaften bundeseinheitlichen nen Akteuren aus der Wirtschaft großen Anklang. Der
Gesetzeslage. Smiley wird nicht als diffamierender Angriff auf die
An dieser Stelle ist Ministerin Aigner bei der Reform Gastronomie oder Ernährungswirtschaft, sondern als
des Verbraucherinformationsgesetzes gefordert, zügig Chance für einen positiven Wettbewerb der „Guten“ ge-
Rechtssicherheit für die Länder zu schaffen. Nur dann sehen. Auch der Bundesverband der Deutschen Lebens-
werden die Länder auch negative Funde veröffentlichen mittelkontrolleure spricht sich für die Umsetzung und
können, ohne einer ständigen rechtlichen Auseinander- die Machbarkeit des Smiley-Systems aus.
setzung mit den Unternehmen ausgesetzt zu sein. Bei der
Das Kennzeichnungssystem effektiviert die Verwal-
Regelung, die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse be-
tungsstruktur der Lebensmittelüberwachung. Ein sol-
trifft, muss sichergestellt werden, dass Betriebe durch
ches System kann bereits jetzt, auch unter dem Aspekt
eine Darlegungspflicht nicht mehr in der Lage sind, al-
der Kostenneutralität, besser und billiger als alle nach-
les pauschal als Geschäftsgeheimnis zu kennzeichnen.
Darüber hinaus muss die Möglichkeit geschaffen wer- träglichen Kontrollen die Lebensmittelsicherheit und
den, Informationen nach dem Verbraucherinformations- den ungetrübten Genuss in Restaurants, Imbissstuben,
gesetz auch während eines öffentlichen, laufenden Ge- aber auch in Handel und Handwerk unterstützen. Aus
richtsverfahrens zu erlangen. Dies verhindert, Verfahren diesem Grund akzeptieren wir nicht weiter, dass die
durch juristische Tricksereien in die Länge zu ziehen, Bundesministerin Aigner das Projekt im Schnecken-
zum Beispiel um unzureichende Ware in dieser Zeit noch tempo verfolgt – zulasten der Verbraucherinnen und
weiter produzieren zu können und somit unerlaubte Ge- Verbraucher. Das Land Berlin geht mutig voran und
winne auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbrau- wird ab Juni 2011 eine Smiley-Kennzeichnung einfüh-
cher zu erwirtschaften. Beispielsweise verhinderte ein ren. Das ist ein echtes Leuchtturmprojekt, an dem sich
Schinkenhersteller über fünf Jahre, für seine unerlaub- Ministerin Aigner und die anderen Länder ein Beispiel
ten Panschereien bestraft zu werden, und produzierte nehmen sollten. Wir fordern die Bundesregierung des-
munter weiter – ein Wettbewerbsvorteil zulasten der halb auf, die zum vollen Erfolg nötige unmissverständli-
Mitbewerber und Verbraucher. Im Verbraucherinforma- che Rechtsgrundlage im Verbraucherinformationsgesetz
tionsgesetz muss die Frist für die schriftliche Gelegen- zu schaffen und ein verpflichtendes, bundesweites Smi-
heit zur Stellungnahme Dritter an die allgemeine Rege- ley-System finanziell und organisatorisch zu unterstüt-
lung des Verwaltungsverfahrens – 14 Tage – angepasst zen. Dabei darf sich die Smiley-Kennzeichnung nicht
werden. Es besteht kein Grund, im Verbraucherinforma- nur auf positive Ergebnisse beschränken. Der von uns
tionsgesetz schärfere Regelungen als im normalen Ver- eingebrachte Antrag bietet dafür eine ideale Grundlage.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8697

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wicklungsländern. Angebaut werden dann Nahrungs- (C)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner mittel oder Energiepflanzen für den Export. So wird die
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die knappe Ressource Land zunehmend Spekulationsobjekt.
Linke auf Drucksache 17/3434 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Die Fraktion Die Linke fordert mit Ihrem Antrag die
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Bundesregierung auf, „dafür Sorge zu tragen, dass die
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung vor den
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Interessen von Investoren Vorrang hat und dass großflä-
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak- chige Landnahme in den Ländern des Südens nicht weiter
tion. eine Gefahr für die Ernährungssouveränität der Men-
schen dort bleibt“. Verlässliche Zahlen und Fakten zum
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- globalen Ausmaß großflächiger Landkäufe und -pachten
fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bünd- existieren bislang nicht. Zahlen, die veröffentlicht wer-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3220 abzulehnen. den, stammen in der Regel aus Pressemeldungen. Die
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist Weltbank kommt in ihrer Veröffentlichung „Rising Glo-
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussemp- bal Interest in Farmland – Can it yield sustainable and
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- equitable benefits?“ aus dem September 2010 zu dem
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- Ergebnis, dass allein in 2009 über rund 42 Millionen
tionen. Hektar landwirtschaftliche Fläche im Rahmen von Di-
rektinvestitionen verhandelt wurde.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Grundsätzlich hilft es Entwicklungsländern, wenn
Movassat, Jan van Aken, Christine Buchholz, neue Technologien eingeführt werden und die Produkti-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE vität steigt. Aber die derzeitige Praxis der Investitionstä-
LINKE tigkeiten birgt für die Entwicklungsländer Risiken: die
Verschärfung bestehender Landkonflikte, die Vertrei-
Keine großflächige Landnahme und Spekula- bung lokaler, auch indigener Bevölkerungsgruppen, die
tionen mit Land oder Agrarproduktion in den Rodung von Waldbeständen zur Ausdehnung von Anbau-
Ländern des Südens flächen oder die negativen Auswirkungen von Monokul-
– Drucksache 17/3541 – turen in Großplantagen. Notwendig sind deshalb Spiel-
regeln, die langfristig sicherstellen, dass das Ziel der
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Ernährungssicherheit nicht durch großflächige Land-
(B) Entwicklung (f) käufe und -pachten konterkariert wird. Hierfür setzt sich (D)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie die Bundesregierung in der bilateralen und multilatera-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und len Entwicklungszusammenarbeit ein. Dazu brauchen
Verbraucherschutz wir den Antrag der Linken nicht. Die Bundesregierung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
unterstützt in rund 30 Partnerländern in Afrika, Asien,
Lateinamerika und Südosteuropa ein breites Spektrum
Klaus Riegert (CDU/CSU): von Maßnahmen zum verbesserten Landmanagement.
Mit dem neuen strategischen Konzept „Entwicklung Damit beugen wir möglichen negativen Auswirkungen
ländlicher Räume und deren Beitrag zur Ernährungssi- großflächiger Landkäufe und -pachten vor.
cherung“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung will die Regierungs- Laos ist ein vorbildliches Beispiel. Im letzten Jahr-
koalition die Potenziale der ländlichen Räume in Ent- zehnt wurden dort Tausende Quadratkilometer Land an
wicklungsländern besser fördern. Dies bedingt den si- Investoren vergeben, ohne dabei Ausmaß und exakte
cheren Zugang zu Land in ländlichen Gebieten. Der geografische Position der Konzessionen zu dokumentie-
sichere Zugang zu Land ist eine Grundvoraussetzung ren. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unter-
zur Erreichung der Millennium Development Goals. Nur stützt seit Mitte 2008 die laotische Landbehörde bei der
wenn der Zugang zu Land gesichert ist, können Familien Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme von
in ländlichen Gebieten die Produktivität auf den zur Ver- bestehenden Investitionen in Land und beim Kartogra-
fügung stehenden Flächen steigern und so ihr Einkom- fieren aller Konzessionen und größeren Landverpach-
men erhöhen. Ein höheres Einkommen trägt zur Verbes- tungen.
serung der Ernährungssicherheit bei und reduziert
Für uns ist Transparenz eine entscheidende Grund-
Armut.
lage, Risiken und Chancen von Landakquisition besser
Land ist eine knapper werdende Ressource; sie steht einschätzen zu können. Das BMZ unterstützt maßgeblich
in Konkurrenz zu verschiedenen Nutzungsinteressen. die FAO-Initiative zur Erarbeitung der Voluntary Guide-
Vor diesem Hintergrund erleben wir seit geraumer Zeit lines on Responsible Governance of Tenure of Land and
verstärkt eine Entwicklung, die in internationalen other Natural Resources. Diese freiwilligen Leitlinien
Schlagzeilen auch als Landnahme oder Land Grabbing der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der
bezeichnet wird: Staatliche Akteure, private Investoren Vereinten Nationen, der FAO, sollen Staaten helfen, Zu-
aus Industrie- und Schwellenländern sowie inländische gangs- und Nutzungsrechte zu Land und anderen natür-
private Investoren sichern sich mittels langfristiger lichen Ressourcen nachhaltig zu gestalten und entspre-
Pacht- oder Kaufverträge große Agrarflächen in Ent- chende institutionelle Strukturen aufzubauen. Dies trägt
8698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Klaus Riegert
(A) auch dazu bei, die Korruption im Landsektor einzudäm- ren und einzudämmen gilt. Gleiches gilt auch für die (C)
men. Mit der Verabschiedung ist nach einem intensiven Spekulationen mit Land und der großflächigen Land-
Konsultationsprozess mit den Mitgliedstaaten, der Wirt- nahme in den Ländern des Südens. Die Welthungerhilfe
schaft und der Zivilgesellschaft im dritten Quartal 2011 stellt in einem Bericht fest: „Bis 2030 müsste die heute
zu rechnen. verfügbare landwirtschaftliche Fläche um 515 Millio-
nen Hektar wachsen, um eine ausreichende Produktion
Weiter bietet die Initiative Principles for Responsible von Agrar-, Energie- und Forsterzeugnissen zu sichern.“
Agricultural Investment that Respects Rights, Liveli- Das entspräche ungefähr der Hälfte der Fläche Euro-
hoods and Resources der Weltbank, UNCTAD, IFAD und pas. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versuchen
der FAO eine Orientierung für Investoren für sozial ver- staatliche Akteure, vor allem aber private Investoren aus
antwortliche Investitionen. Die Bundesregierung hat die Industrie- und Schwellenländern, sich mit langfristigen
Entwürfe der Initiative ressortübergreifend abgestimmt Pacht- oder Kaufverträgen große Agrarflächen in Ent-
kommentiert. Sie ist in den Prozess der weiteren Ent- wicklungsländern zur Eigenversorgung mit Nahrungs-
wicklung eng mit eingebunden. Sie verfolgt vor allem mitteln und Energiepflanzen zu sichern. Fast 90 Prozent
das Ziel einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit der Investitionen im Bereich Land Grabbing wird von
mit anderen Initiativen, wie beispielsweise mit den frei- privaten Kaufinteressenten getätigt.
willigen Leitlinien der FAO. Wie Sie sehen, handelt die
Bundesregierung. Dazu müssen wir sie nicht auffordern. Zwar hat es schon immer ausländische Landpacht
oder Landkäufe gegeben – neu sind jedoch Ausmaß und
Geschwindigkeit dieses Landerwerbs. Laut einer Studie
Dr. Sascha Raabe (SPD):
von FAO/IFAD wurden allein seit 2004 in nur fünf afri-
Noch immer liegt die größte entwicklungspolitische kanischen Ländern Vereinbarungen über mehr als
Herausforderung in der weltweiten Bekämpfung von 2,5 Millionen Hektar Land abgeschlossen. Schätzungen
Hunger und Armut. Aktuell leiden über 900 Millionen des International Food Policy Research Institut, des
Menschen an Hunger. Die Ursachen hierfür sind vielfäl- IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalb der letzten fünf
tig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölke- Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15 bis 20 Millio-
rung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten – vor- nen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche in Ent-
wiegend der Menschen in den asiatischen Schwellen- wicklungsländern getätigt wurden. Doch diese Ein-
ländern – zu einer Bedarfszunahme von Lebensmitteln. schätzung erscheint recht konservativ. Aktuell laufende
Zum anderen tragen der vermehrte Anbau von Bioener- Studien der Weltbank und anderer Organisationen deu-
gieträgern, die durch Erosion und Versalzung unwirt- ten darauf hin, dass es bereits weit großflächigere Land-
schaftlich gewordenen Flächen für die Landwirtschaft akquise gibt als angenommen. Die im Oktober 2008 von
(B) und die durch den Klimawandel hervorgerufenen Natur- der Nichtregierungsorganisation GRAIN veröffentlichte (D)
katastrophen zunehmenden Ernteausfälle zu einer Ver- Liste mit über 100 Fällen von käuflicher Landnahme
ringerung der fruchtbaren Landflächen und Produk- dürfte bereits deutlich überholt sein.
tionsmengen von Nahrungsmitteln bei. Die diesjährigen
Ernteausfälle in Russland und Pakistan bestätigen diese Mit ein Grund für diese rasante Entwicklung sind die
Entwicklung. auf den Finanzmärkten als Investment getätigten Land
Deals. Die Erwartung steigender Renditen bei Investi-
Zum einen führen alle diese Faktoren zu einem erhöh- tionen in Land scheint Anleger zu locken, die auf den
ten Bedarf an begrenzten Ressourcen wie Lebensmitteln Kaufpreis spekulieren. Schon jetzt werden erste Invest-
und pflanzlichen Energieträgern, zum anderen wird mentfonds aufgelegt, die Agrarflächen kaufen und durch
fruchtbares Land zu einem noch kostbareren Gut. Be- die zunehmende Landverknappung auf die Wertsteige-
gehrte Güter rufen Spekulanten auf die Tagesordnung, rung der jeweils erworbenen Flächen spekulieren. Es
die versuchen, sich am Bedarf knapper Güter zu berei- wird somit auf Kosten von Menschenleben spekuliert.
chern. Leider ist das nicht nur an den Finanzmärkten Denn das perfide dabei ist: Zielländer der Investoren
der Fall, sondern auch an den zur Ermittlung des Prei- sind insbesondere die Länder, in denen die Bevölkerung
ses für Grundnahrungsmittel zuständigen Warentermin- vorwiegend selbst von der Landwirtschaft lebt, gleich-
börsen. Die Nahrungsmittelkrise im Frühjahr 2008 war zeitig die Versorgung mit Nahrungsmitteln immer kriti-
ein erster großer Vorbote dessen, was zunehmend bei scher und aufgrund der Entwicklungen durch den Klima-
der Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen und damit wandel immer schwieriger wird. Länder wie Sudan oder
bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln zu beobachten Äthiopien gehören zu den größten Empfängern des UN-
sein wird. Finanzspekulanten an den Warenterminbör- Welternährungsprogramms. Gleichzeitig jedoch werden
sen, die kein wirkliches Kaufinteresse am Produkt ha- hier große Teile fruchtbaren Bodens verkauft. Der Groß-
ben, versuchen durch kurzfristige Käufe und Verkäufe teil der angebauten Produkte ist jedoch für den Export
mit der Preisentwicklung von Nahrungsmitteln den gro- bestimmt. Auf dem Binnenmarkt finden sich die Pro-
ßen Reibach zu machen. Das ist verwerflich und ethisch dukte nicht wieder und tragen damit auch nicht zur
nicht zu vertreten. Daher haben wir als SPD-Bundes- Wertschöpfung im Ursprungsland bei.
tagsfraktion mit einem Antrag – ich meine Drucksache
17/3413 – gegen diese Spekulationen ein Zeichen ge- Aber nicht nur der Export der Ware stellt langfristig
setzt. ein Problem für die dort lebende Bevölkerung dar. Oft-
mals werden beim Erwerb der Landflächen Landrechte
Aber es sind nicht nur die unverantwortlichen Speku- der lokalen Bevölkerung missachtet; die Einbindung
lationen an den Warenterminbörsen, die es zu kontrollie- oder eine Beteiligung der ansässigen Dorfgemeinschaf-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8699
Dr. Sascha Raabe
(A) ten oder Kleinbauern findet so gut wie nicht statt. Zum tionsprozesse und Urbanisierung erhöhen den Druck auf (C)
einen wird dabei durch den Anbau großflächiger Mono- die Ressource Land. Gleichzeitig verstärkt sich die Kon-
kulturen unter dem Einsatz von Düngemitteln und Pesti- kurrenz um begrenzt verfügbare landwirtschaftliche
ziden das ursprüngliche Ökosystem aus dem Gleichge- Nutzflächen durch steigende Nachfrage nach Nahrungs-
wicht gebracht; dadurch ist die Existenz vieler und Futtermitteln sowie Biomasse. Vor diesem Hinter-
einheimischer Pflanzen bedroht. Zum anderen werden grund hat sich ein Trend beschleunigt, der in internatio-
vorwiegend Ländereien erworben, bei denen eine Was- nalen Schlagzeilen auch als Landnahme oder Land-
serversorgung problemlos möglich ist. Durch den Kauf grabbing bezeichnet wird: Staatliche Akteure, private
oder die Pacht von Land gehen auch die an die Flächen Investoren aus Industrie- und Schwellenländern sowie
gebundenen Entnahme- und Nutzungsrechte für Wasser inländische private Investoren sichern sich mittels lang-
an die Investoren über, oder die entsprechenden Rechte fristiger Pacht- oder Kaufverträge große Agrarflächen
werden mitverpachtet. Damit erweitert sich das Problem in Entwicklungsländern, um dort Nahrungsmittel oder
der Landverknappung zunehmend auch auf die nutzba- Energiepflanzen für den Export anzubauen.
ren Wasserbestände.
Land wird außerdem zunehmend zu einem Spekula-
Das aufgezeigte Szenario verdeutlicht, wie schwierig tionsobjekt für Anleger. Das führt zu hohen Schwankun-
es ist, durch die rapide Zunahme von Land Grabbing gen auf dem Lebensmittelmarkt und trifft vor allem die
Hunger und Armut in der Welt erfolgreich zu bekämpfen. Armen, die den allergrößten Teil ihres Einkommens für
Dem unkontrollierten Landkauf muss der Riegel vorge- Nahrung ausgeben müssen. Allerdings haben dringend
schoben werden. Der vorliegende Antrag stellt daher benötigte Investitionen in die Landwirtschaft der Ent-
nicht zu Unrecht die besondere Bedeutung des Men- wicklungsländer jahrzehntelang gefehlt. Daher kann
schenrechts auf Nahrung in den Vordergrund. Das ist man die derzeitige Dynamik grundsätzlich als große
eine richtige und wichtige Forderung, die ich so mit- Chance begreifen. Kapital- und Technologietransfer
trage. Ebenso verhält es sich mit dem im Antrag enthal- unterstützen die landwirtschaftliche Produktionssteige-
tenen Passus bezüglich der Stärkung ländlicher klein- rung sowie Verbesserungen bei Marktzugang und In-
bäuerlicher Strukturen. frastruktur. Werden Direktinvestitionen in Land und
Landwirtschaft in Strategien der Armutsreduzierung
Was ich im vorliegenden Papier allerdings schmerz-
eingebunden, können zusätzliche Beschäftigungs- und
lich vermisse ist die Einbeziehung aller relevanten Di-
Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaf-
mensionen, die es beim Thema Land Grabbing zu beach-
fen werden.
ten gilt. Neben der menschenrechtlichen Komponente,
sind es vor allem Bedingungen sozialer und umweltpoli- Leider sieht die Realität jedoch anders aus und die
(B) tischer Natur. Auch die rechtliche Bindung von Investo- derzeitige Praxis der Investitionstätigkeiten in den Ent- (D)
ren an die Einhaltung sozialer und ökologischer Min- wicklungsländer birgt eine Reihe von Risiken, etwa eine
deststandards fehlt. Der Kauf von Landflächen muss Gefährdung der langfristigen Ernährungssouveränität,
umfassender an bestimmte Kriterien geknüpft werden. die Vertreibung lokaler Bevölkerungsgruppen, die Ver-
Menschenrechte sind dabei die wesentlichen, aber nicht schärfung bestehender Landkonflikte, die Rodung von
die einzigen Rechte, die es zu schützen gilt. Waldbeständen zur Ausdehnung von Anbauflächen oder
Ich sehe das Phänomen Land Grabbing darüber hi- die negativen Auswirkungen von Monokulturen in Groß-
naus als ein Puzzleteil im Themenfeld der ländlichen plantagen.
Entwicklung. Hier gehört es angesiedelt und in ein Kon- Was muss sich nun tun, damit wir das ändern können,
zept integriert, das die Probleme der ländlichen Ent- damit wir die sich bietenden Chancen nutzen und gleich-
wicklung umfassend beleuchtet und versucht, das Pro- zeitig die Risiken beherrschen können? Einer der wich-
blem an der Wurzel zu packen. Nur so haben wir eine tigsten Aspekte ist dabei die gerechte Teilhabe und Par-
Chance, gegen das menschenverächtliche Vorgehen vie- tizipation der lokalen Bevölkerung an der gesamten
ler Investoren erfolgreich anzukämpfen. Wertschöpfungskette. Das muss durchgesetzt werden.
Trotz aller negativen Seiten des Landkaufs, muss ver- Wir müssen außerdem darauf hinwirken, dass interna-
sucht werden die richtigen Steuerungsinstrumente zur tional transparente Vertragsverhandlungen die Regel
Verfügung zu stellen, um die positiven Effekte der Inves- werden, bei der alle Interessenvertreter unter Beachtung
titionen in Land zu nutzen. Uns muss es auf internatio- der bestehenden – auch non-formalen traditionellen –
naler Ebene gelingen, die Mitspracherechte und Beteili- Landnutzungsrechte vertreten sind. Die ökologische
gungen der betroffenen Bevölkerung rechtlich so Nachhaltigkeit muss Beachtung finden, und der Vorrang
auszugestalten, dass vor allem die lokalen Produzenten der lokalen Ernährungssicherheit vor jeder anderen
von der Zusammenarbeit profitieren. Lösungsansätze Verwendung darf nicht in Zweifel gezogen werden.
die in diese Richtung gehen, gilt es weiterzuentwickeln. Der sichere Zugang zu Land in ländlichen Gebieten
in Entwicklungsländern ist eine Grundvoraussetzung
Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): zur Erreichung der Milleniumsziele. Denn nur wenn der
Land ist eine immer knapper werdende Ressource Zugang zu Land gesichert ist, können Familien in länd-
und steht im Wettstreit verschiedener Nutzungsinteres- lichen Gebieten die Produktivität auf der zur Verfügung
sen. Anhaltendes Bevölkerungswachstum, Klimawandel stehenden Fläche steigern und so ihr Einkommen erhö-
und die damit einhergehende Probleme wie fortschrei- hen. Ein höheres Einkommen trägt zur Verbesserung der
tende Flächenversiegelung, Erosions- und Desertifika- Ernährungssicherheit bei und reduziert Armut.

Zu Protokoll gegebene Reden


8700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) Frauen in Entwicklungsländern besitzen trotz ihrer „Principles for Responsible Agricultural Investment (C)
bedeutenden Rolle in der Landwirtschaft und für die that Respects Rights, Livelihoods and Resources“ der
Versorgung der Familien weniger als 2 Prozent der Weltbank, UNCTAD, IFAD und der FAO eine Orientie-
Landfläche. Sicherer Zugang zu Land verbessert nicht rung für Investoren für sozialverantwortliche Investitio-
nur ihre ökonomische Situation, sondern stärkt auch nen. Die Bundesregierung hat die Entwürfe der Initia-
ihre soziale und politische Stellung in der Gesellschaft. tive ressortübergreifend abgestimmt kommentiert und ist
Ich könnte mir vorstellen, dass gerade die Kreditvergabe in den Prozess der weiteren Entwicklung eng mit einge-
zum Landkauf an Frauen eine gute Strategie in diesem bunden. Dabei verfolgt sie vor allem das Ziel einer en-
Zusammenhang ist. gen Abstimmung und Zusammenarbeit mit anderen Ini-
tiativen, beispielsweise mit den freiwilligen Leitlinien
Wir müssen entwicklungspolitische Ansätze entwi- der FAO.
ckeln, um negativen Auswirkungen zu begegnen und um
die Direktinvestitionen in Land nachhaltig zu nutzen. Die Bundesregierung unterstützt in rund 30 Partner-
Wir werden jedoch nicht wie Sie vorhaben, eine Hexen- ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Südost-
jagd auf Unternehmen zu veranstalten, die im Ausland europa ein breites Spektrum von Maßnahmen zum
investieren wollen. verbesserten Landmanagement und beugt damit mögli-
chen negativen Auswirkungen großflächiger Landkäufe
Menschrechtsverletzungen, die Vertreibungen von und -pachten vor. Ein vorbildliches Beispiel stellen die
Menschen aus ihrer Heimat, aus ihren Häusern und von Maßnahmen in Laos dar: Dort wurden im letzten Jahr-
ihren Feldern ist nicht hinnehmbar. Ich persönlich habe zehnt Tausende Quadratkilometer Land an Investoren
erst vor einigen Wochen mit einem Betroffenen aus Kam- vergeben, häufig zu unklaren Konditionen und mit nega-
bodscha gesprochen, dem Gleiches wiederfahren ist. tiven Auswirkungen auf Umwelt und die lokale Bevölke-
Die Aussage dieses Mannes hat mich persönlich sehr rung. Ausmaß und exakte geografische Position der
berührt und mir das Problem noch einmal ausdrücklich Konzessionen wurden dabei kaum dokumentiert. Die
vor Augen geführt. deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt seit
Wir wollen, dass deutsche Firmen im Süden investie- Mitte 2008 die laotische Landbehörde bei der Erstellung
ren, dort Aufbauhilfe leisten und ihr Know-how in die einer umfassenden Bestandsaufnahme von bestehenden
Länder transferieren. Es gibt unzählige Beispiele die be- Investitionen in Land und beim Kartografieren aller
legen, dass das funktionieren kann. Auch in den ärmsten Konzessionen und größeren Landverpachtungen. Die
Ländern unserer Welt. Daher werden wir den Dialog mit Schaffung von Transparenz ist eine entscheidende
Partnerregierungen, Investorenländern, Banken/Fonds Grundlage dafür, Risiken und Chancen von Landakqui-
und Firmen intensivieren. Wir werden die Zivilgesell- sition besser einschätzen zu können.
(B) schaft in ihrer Kontrollfunktion und Beteiligung bei Aus- (D)
Die Politik, die Unternehmen und die Menschen und
handlungsprozessen zu Vertragsvereinbarungen stärken Regierungen in den betroffenen Ländern müssen ge-
und eine belastbare Informationsgrundlage und Trans- meinsam mit unserer Unterstützung den Gedanken einer
parenz über Umfang, Konditionen und Wirkungen aus- gerechten Landverteilung mittragen!
ländischer Direktinvestitionen in Land in den beteiligten
und betroffenen Ländern schaffen. Wir werden die natio-
nalen Landpolitiken und die entsprechende Gesetzge- Niema Movassat (DIE LINKE):
bung inklusive des Aufbaus von Institutionen stärken Die Auswirkungen von Land Grabbing oder zu
und unterstützen. Deutsch „Landnahme“ in den Ländern des globalen Sü-
dens sind gravierend: Kleinbäuerinnen und Kleinbau-
Man kann Länder nicht von außen entwickeln; sie ern, Fischer und Nomaden werden durch die Landkäufe
müssen sich mit unserer Unterstützung nachhaltig aus ausländischer Unternehmen und Staaten teilweise ge-
sich heraus entwickeln. Legen wir unseren Firmen waltsam von ihrem Land vertrieben. Ihre Landrechte
Steine bei Investitionen im Süden in den Weg, kommen sind oft ungesichert, und ihr politisches Gewicht ist ver-
andere, autoritäre Regime mit mehr Geld, die im Gegen- glichen mit den Investoren gering.
satz zur Bundesregierung die Einhaltung der Menschen-
rechte nicht in den Vordergrund stellen. Angesichts der über 900 Millionen hungernden Men-
schen weltweit ist das Land Grabbing eines der derzeit
Das BMZ unterstützt maßgeblich die FAO-Initiative drängendsten Probleme der Entwicklungsländer. Alleine
zur Erarbeitung der „Voluntary Guidelines on Respon- in Afrika wurden laut dem International Food Policy Re-
sible Governance of Tenure of Land and other Natural search Institute bereits 20 Millionen Hektar Land entwe-
Resources“. Diese freiwilligen Leitlinien sollen Staaten der verkauft oder für einen Zeitraum von 30 bis 100 Jah-
darin unterstützen, Zugangs- und Nutzungsrechte zu ren verpachtet. Die ausländischen Käufer nutzen die
Land und anderen natürlichen Ressourcen nachhaltig zu erworbenen Flächen, um Pflanzen für Biokraftstoffe an-
gestalten, entsprechende institutionelle Strukturen auf- zubauen, um mit dem „Offshore Farmland“ die Lebens-
zubauen und damit auch die Korruption im Landsektor mittelversorgung ihrer Heimatländer sicherzustellen
einzudämmen. oder schlicht um damit zu spekulieren. Statt die Ernäh-
rungssituation im Erzeugerland zu verbessern, wird in
Mit der Verabschiedung dieser Initiative ist nach ei- großflächigen Monokulturen für den Export produziert.
ner intensiven Konsultation mit den Mitgliedstaaten, der
Wirtschaft und der Zivilgesellschaft im dritten Quartal Die fatalen Konsequenzen für die lokale Bevölkerung
2011 zu rechnen. Des Weiteren bietet die Initiative sind Armut, Elend und Hunger. Davon konnte ich mir bei

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8701
Niema Movassat
(A) einem Besuch in Madagaskar Anfang November selbst US-Dollar auf 4 Milliarden US-Dollar durch die Welt- (C)
ein Bild machen. In Madagaskar trat 2008 ein Gesetz in bank gegenüber. Ein grundlegendes Umsteuern in Rich-
Kraft, welches es ausländischen Investoren erstmals er- tung einer nachhaltigen, kleinbäuerlichen Landwirt-
laubt, auch riesige Landflächen für bis zu 99 Jahre zu schaft, die von Hunger betroffene Gruppen ins Zentrum
pachten. Obwohl der Inselstaat heute schon in großem stellt, ist damit in weite Ferne gerückt.
Umfang Nahrungsmittel importieren muss, hat sich die
südkoreanische Firma Daewoo die Rechte an 1,3 Millio- Damit Deutschland seiner Verantwortung für die Er-
nen Hektar Land gesichert. Dies entspricht rund der reichung des Ziels der Ernährungssouveränität zukünf-
Hälfte der fruchtbaren Agrarfläche Madagaskars. Die tig gerecht wird, fordert die Fraktion Die Linke in ihrem
allgemeine Entwicklung zeigt die Absurdität dieses Fal- Antrag ein Verbot von großflächiger Landnahme und
les: Die Ausgaben der afrikanischen Länder für Ge- Spekulationen mit Land oder Agrarproduktion in den
treideimporte sind seit 2008 insgesamt um ganze Ländern des Südens. Denn auch deutsche Unternehmen
130 Prozent gestiegen. Daewoo will in Madagaskar wie die Deutsche Bank mischen munter beim Land
ausschließlich für den südkoreanischen Markt produzie- Grabbing mit. Angesichts der Finanzkrise suchen sie
ren, obwohl es vor Ort massive Unterernährung gibt. nach neuen Finanzprodukten und haben erkannt, dass
Sollte dieser Deal tatsächlich in die Tat umgesetzt wer- neben Erdöl auch Agrarland und Wasser knappe Res-
den – derzeit liegt er auf Eis –, werden noch mehr Men- sourcen sind. Investitionen in die Landwirtschaft gewin-
schen dort hungern müssen. Das ist Kolonialismus im nen für sie zunehmend an Lukrativität. Nach dem „peak
neuen Gewand: mittels Kauf- und Pachtverträgen und oil“, dem Gipfel der Ausbeutung von Öl, droht inzwi-
wie immer auf Kosten der Armen. schen auch der „peak soil“, die grenzenlose Ausbeutung
des Bodens. Daher gilt: Nur wenn wir Auslandsdirektin-
Die Liberalisierung der Landmärkte und die Ab- vestitionen internationaler und deutscher Unternehmen
schaffung von Restriktionen für ausländische Investoren und Finanzinstitutionen in großflächigen Landkauf oder
sind wichtige Grundlagen vieler ähnlicher Land-Grab- Landpacht unterbinden, hat das Menschenrecht auf
bing-Deals. Die internationale Entwicklungszusammen- Nahrung zukünftig Vorrang vor den Interessen von In-
arbeit hat nicht zuletzt selbst die Weichen für diese kata- vestoren.
strophalen Entwicklungen gestellt. Auch die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit fördert durch ihre einsei- Angesichts fast einer Milliarde Hungernder steht es
tige Ausrichtung der Landpolitik auf technische und ad- für uns außer Frage, dass das Ziel der Ernährungssou-
ministrative Themen die beschriebenen Tendenzen. Ein veränität über den wirtschaftlichen Interessen von Un-
Beispiel dafür ist das Engagement der deutschen Durch- ternehmen stehen muss. Landpolitik muss sich primär an
führungsorganisation GTZ in Kambodscha. Dort unter- den Bedürfnissen der marginalisierten ländlichen Grup-
(B) stützt die GTZ zwar die Vergabe von Landtiteln. Besteht pen ausrichten. Großflächige Landnahmen konterkarie- (D)
aber Interesse an einem bestimmten Gebiet seitens zah- ren dies und gefährden somit direkt Menschenleben.
lungskräftiger Investoren oder lokaler Eliten, werden
häufig gar keine Landtitel vergeben. Weder GTZ noch Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
BMZ widersprechen dieser Praxis, obwohl die lokale
Die grüne Bundestagsfraktion hat frühzeitig erkannt,
Bevölkerung genau in diesen Fällen besonders von Ver-
dass das Thema Land Grabbing eine Riesenherausfor-
treibungen bedroht ist.
derung für viele Länder in Asien, Afrika und Lateiname-
Bereits 1968 hat sich Deutschland durch die Unter- rika, aber natürlich auch für uns Entwicklungspolitiker
zeichnung des Internationalen Pakts über wirtschaft- darstellt. Wir begrüßen, dass – nachdem wir in der letz-
liche, soziale und kulturelle Menschenrechte dazu ver- ten Legislaturperiode einen Antrag zu diesem Thema
pflichtet, das Menschenrecht auf Nahrung durch eingebracht haben – nun auch die Linke einen Antrag
nationale und internationale Zusammenarbeit durchzu- vorlegt und das Thema auf die Agenda des Bundestages
setzen. Dies bedeutet besonders, vorhandenen Zugang setzt.
zu Land und Wasser zu schützen, aktiv zur Verbesserung
des Zugangs zu Land für Kleinbäuerinnen und Klein- Beim Land Grabbing geht es um eine der essenziells-
bauern und Landlose beizutragen und traditionelle ten Ressourcen überhaupt, nämlich um die Ressource
Landnutzungen zu respektieren. Das aktuelle Land Boden, von der unser aller Existenz abhängt. Und der
Grabbing und die ihm zugrunde liegende Landpolitik große Run auf die Böden hat längst begonnen – mit zum
aber verschärft die Konflikte um Land und führt zu einer Teil schweren ökologischen und sozialen Folgen. Die
weiteren Konzentration von Land in den Händen einiger Leidtragenden sind vor allem diejenigen, die schon jetzt
weniger. in höchst schwierigen Umständen leben. Indem sie
Ackerland unter ihre Kontrolle bringen, verschärfen
Die G 8 haben sich beim Gipfel in Hokkaido 2008 für Großinvestoren die Machtasymmetrie zwischen bäuerli-
internationale Verhaltensregeln zusammen mit der Welt- chen Betrieben und Agrarkonzernen. Viele Kleinbauern
bank stark gemacht. Doch freiwillige Verhaltenskodizes und Kleinbäuerinnen sind in den letzten Jahren ihren
stellen keine Lösung dar. Zum einen haben sie in der Boden losgeworden. Die kleinbäuerliche und bäuerliche
Vergangenheit in den seltensten Fällen Menschenrechts- Landwirtschaft wird weiter geschwächt und damit die
verletzungen verhindert, zum anderen stellen sie die Existenzgrundlage von Milliarden Menschen zerstört.
Entwicklung nicht grundsätzlich in Frage. Der Erstel- Ich möchte an dieser Stelle nur eine Zahl nennen, die
lung freiwilliger Verhaltenskodizes steht die Aufsto- verdeutlicht, um welche Dimensionen es sich dabei han-
ckung der Gelder für das Agrobusiness von 3 Milliarden delt: Laut Weltbank gingen allein im Jahr 2009 circa

Zu Protokoll gegebene Reden


8702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Thilo Hoppe
(A) 45 Millionen Hektar Land an private Investoren, also an Einklang mit den relevanten Menschenrechtsprinzipien (C)
private Unternehmen. Das ist eine Fläche, die so groß und -instrumenten stehen müssen.
ist wie Deutschland und Österreich zusammen.
Wir begrüßen, dass die Linken in ihrem Antrag aus-
Vor drei Wochen hat die grüne Bundestagsfraktion führlich auf das in der Praxis oft bestehende Missver-
gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung hier in den hältnis zwischen den Interessen der Investoren einerseits
Räumen des Bundestages eine große zweitägige Konfe- und der Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung
renz mit dem Titel „BodenLos: Wem gehört das Land? andererseits eingehen. Interessant und prüfenswert fin-
Wer hat Zugang? Wie schützen wir es vor Spekulanten?“ den wir auch den Vorschlag der Linken, eine Kommis-
veranstaltet. Etwa 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sion einzusetzen, die ein alternatives deutsches Modell
haben sich mit der Land-Grabbing-Problematik – übri- für Investitionsabkommen ausarbeiten soll; auch ver-
gens nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenlän- dient der Ansatz Unterstützung, langfristig ein interna-
dern, sondern auch hier bei uns in Deutschland und Eu- tionales Investitionsregime für zukunftsfähige Entwick-
ropa – näher auseinandergesetzt. Wir haben mit Ex- lung im Rahmen der Vereinten Nationen aufzubauen.
perten wie Olivier De Schutter, Sonderberichterstatter
für das Menschenrecht auf Nahrung bei den Vereinten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nationen, und Alexander Müller, Vizedirektor der Welt- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
ernährungsorganisation, der FAO, sowie mit Vertrete- Drucksache 17/3541 an die in der Tagesordnung aufge-
rinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft und der Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
desregierung diskutiert, welche Maßnahmen notwendig verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
sind, um das Problem in den Griff zu bekommen. Sie sind Überweisung so beschlossen.
herzlich eingeladen, die Ergebnisse in unserer ausführ-
lichen Internetdokumentation nachzulesen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Im Parlament haben wir das Thema Land Grabbing Beratung des Antrags der Abgeordneten
bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit unse- Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
rem grünen Antrag „Landrechte stärken – Land Grab- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
bing in den Entwicklungsländern verhindern“ auf die NIS 90/DIE GRÜNEN
Tagesordnung gesetzt. Der Antrag wurde am 13. Mai
Blockade beim Bodenschutz aufgeben – EU
2009 im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen
und Entwicklung beraten – übrigens bei Abwesenheit
der Linken – und von der damaligen Großen Koalition – Drucksache 17/3855 –
mit der Begründung abgelehnt, dass beim Thema Land Überweisungsvorschlag: (D)
(B)
Grabbing für die „deutsche Entwicklungszusammenar- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
beit nur die Option bleibe, darauf zu vertrauen, dass alle Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Maßnahmen, die in Richtung gute Regierungsführung Verbraucherschutz
unternommen würden, erfolgreich sein werden“. Das
reicht sicherlich nicht aus, um diese gefährliche Ent- Ulrich Petzold (CDU/CSU):
wicklung in den Griff zu bekommen. Die schwarz-gelbe Der Boden ist eine für die Menschheit lebenswichtige
Koalition scheint die Thematik immerhin etwas ernster Ressource mit unverzichtbaren Funktionen als Nähr-
zu nehmen, vonseiten der Bundesregierung wurde den stofflieferant in der Land- und Forstwirtschaft, als Le-
Mitgliedern des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- bensraum unzähliger Organismen, als Wasserspeicher
menarbeit und Entwicklung zugesichert, dass Land und, was uns immer mehr ins Bewusstsein rückt, als
Grabbing in das neue BMZ-Konzept zur Entwicklung größter CO2-Speicher der Erde. In Erkenntnis dieser
der ländlichen Räume, das zurzeit vom BMZ finalisiert Bedeutung des Bodens hat sich die Bundesregierung
wird, noch aufgenommen wird. früh entschlossen, den Boden als Schutzgut anzuerken-
nen, und es ist richtig, wenn in dem heute zu beratenden
Wir haben in unserem Antrag klare Forderungen ge- Antrag festgestellt wird, dass wir in der Bundesrepublik
stellt, die immer noch hochaktuell sind und sich zum Teil mit dem deutschen Bodenschutzrecht Vorreiter in Eu-
auch in dem jetzigen Antrag der Linken wiederfinden. ropa sind. In der Kleinen Anfrage von Bündnis 90/Die
Hierzu zählt beispielsweise die Aufforderung an die Grünen zu Zielen und Maßnahmen des Bodenschutzes
Bundesregierung, den Prozess und die Ausarbeitung der wird auch richtig zitiert, dass die Regierung Kohl bereits
„Voluntary Guidelines on Responsible Governance of die Initiative ergriffen hat, das Bodenschutzrecht in ei-
Tenure of Land and other Natural Resources“ der FAO nem europäischen Rahmen zu verankern. Daraus entwi-
aktiv zu unterstützen. Dazu gehört auch die Aufforde- ckelte sich eine thematische Strategie für den Boden-
rung an die Bundesregierung, im Rahmen von bi- und schutz, die wiederum die Grundlage für erste Entwürfe
multilateralen Verhandlungen mit betroffenen Partner- für eine Bodenschutzrahmenrichtlinie bildete.
ländern Land Grabbing zu thematisieren und mit den
Regierungen dieser Partnerländer auf die Ausarbeitung Ja, Boden bedarf tatsächlich eines besonderen Schut-
umfassender Bodenpolitiken und Landnutzungspläne zes. Erosion, Austrocknung, Kontamination und Flä-
sowie redistributive Agrarreformen hinzuarbeiten. Auch chennutzung sind oftmals oder nur mit großem Aufwand
stimmen wir mit der Linken darüber überein, dass öf- behebbare Schädigungen, die die ökologischen, wirt-
fentliche und private Investitionen, die mit deutscher Be- schaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen
teiligung in Entwicklungsländern getätigt werden, im Funktionen des Bodens einschränken. Am sichtbarsten ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8703
Ulrich Petzold
(A) natürlich der Bodenverbrauch durch die zunehmende das unredlich. Selbstverständlich kann es auch nicht (C)
Flächennutzung für Siedlungs- und Verkehrsflächen. sein, dass europäische Staaten ihre Verantwortung für
Noch in den Jahren um 2000 wurden jeden Tag mehr als ihre Böden bei der EU abgeben und erwarten, dass eine
120 Hektar am Tag in Siedlungs- und Verkehrsflächen Sanierung von Altlasten auf Kosten der Gemeinschaft
umgewandelt, in Flächen, die insbesondere der Land- durchgeführt wird. So etwas könnte den Umwelt- und
und Forstwirtschaft entzogen wurden. Seit 2006 ist die- Agrarhaushalt weiter aufblähen. Hier ist Subsidiarität
ser Flächenverbrauch deutlich im Sinken begriffen. Im gefragt.
Jahr 2009 waren es noch ganze 78 Hektar, die pro Tag
dem Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen zum Es stellt sich bei all den Regelungen der Richtlinie
Opfer fielen, wobei Siedlungs- und Verkehrsflächen kei- schon die Frage, ob sich die damalige Bundesregierung
nesfalls mit versiegelten Flächen gleichgesetzt werden nach 1998, in einer Zeit, in der die thematische Strategie
dürfen. Ein erheblicher Anteil davon sind die unbebau- und damit die Grundlage der Richtlinie entwickelt
ten und nicht versiegelten Flächen, wie Grünflächen wurde, genügend für die Orientierung am erfolgreichen
und Sportflächen, die unter dem Begriff der Erholungs- und bahnbrechenden deutschen Bodenrecht eingesetzt
flächen zusammengefasst werden. Im Jahr 2008 mach- hat? Wenn ja, wie konnte dann eine so vom deutschen
ten diese Erholungsflächen 43 Prozent des Flächenver- Vorbild abweichende und an vielen Stellen deutlich da-
brauchs aus. Hochgerechnet auf dieses Jahr wären wir rüber hinausgehende Regelung entstehen? Hat es da
2009, bei Herausrechnung dieser oftmals ökologisch eventuell Versuche gegeben, grüne Wunschträume in
wertvollen Flächen aus den 78 Hektar Flächenver- Deutschland über Brüssel zu verwirklichen?
brauch, unserem Ziel, den Flächenverbrauch bis zum
Jahr 2020 auf 30 Hektar am Tag zu reduzieren, ein we- Dass die Richtlinie dann auch nur sehr strittig vom
sentliches Stück näher gekommen. EU-Parlament verabschiedet wurde und in der Kommis-
sion keine ausreichende Mehrheit fand, war nach den
Gerade mit der Erreichung dieses Zieles könnte vorhergehenden Diskussionen kaum verwunderlich,
Deutschland weiterhin seine Vorreiterposition im Bo- auch wenn ich das persönlich bedauert habe. Aber die
denschutz untermauern. Wir brauchen keine Sorge zu Kritik war nur allzu verständlich. Fehlende Subsidiari-
haben, beim Vergleich des Bodenschutzes in den euro- tät, zu weit gehende Einzelregelungen, in denen die Un-
päischen Ländern in Zukunft schlechter abzuschneiden. terschiede in den Boden- und Klimaverhältnissen in den
Alle Schwarzmalerei ist gerade auf diesem Gebiet fehl Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt werden, fehlende
am Platze. Die Bundesrepublik hat also überhaupt kei- Abstimmung mit bestehenden Regelungen auf dem Ge-
nen Grund, eine europäische Regelung, die sich nach biet der Landwirtschaft und des Wasserrechtes bei vor-
dem nachgewiesenermaßen effektiven deutschen Boden- handenen Überschneidungen waren die wichtigsten Kri- (D)
(B) schutzrecht ausrichtet, zu fürchten, sondern die deutsche
tikpunkte. So war die Befürchtung, dass die zehn
Wirtschaft wäre durchaus Nutznießer, wenn endlich alle unterschiedlichen Bodengefährdungen, zum Beispiel bei
nach gleich strengen deutschen Maßstäben wirtschaften
der Flächenkontamination, einer zusätzlichen Bürokra-
müssten. Doch ein Blick in den Entwurf der Boden-
tie Tür und Tor öffnen, nicht von der Hand zu weisen.
schutzrahmenrichtlinie, die vom EU-Parlament verab-
schiedet wurde, reicht, um die Vorurteile und Sorgen vie- In der Zwischenzeit hat es einen portugiesischen, ei-
ler unserer Bürger vor Regelungen aus Brüssel bestätigt nen tschechischen und einen französischen Kompromiss-
zu sehen: Neue, andersartige Berichtspflichten, neue, vorschlag gegeben. All diese Vorschläge liegen noch auf
andersartige Grundsätze und Kontrollen sowie Defini- dem Verhandlungstisch der Kommission. Andere Länder
tionen und Regelungen, die mit anderen Richtlinien würden es bevorzugen, wenn nur die thematische Strate-
nicht oder nur ungenügend kompatibel sind, finden sich gie zum Bodenschutz weiterentwickelt würde. Wer einen
hier wieder. Eindruck von den verstrickten Verhandlungen benötigt,
Es ist schon bedenklich, wenn für die Umsetzung der dem empfehle ich, einmal das Protokoll der Ratsarbeits-
Richtlinie eine zusätzliche jährliche Kostenbelastung für gruppe Umwelt vom 21. Januar 2010, aus dem jedem die
Bund, Länder und Kommunen in der Größenordnung ei- Uneinigkeit direkt anspringt, nachzulesen. Auch die
nes dreistelligen Millionenbetrages prognostiziert wird. Kommissionskonferenz zu diesem Thema am 23./24. Sep-
Unsere Bundesländer haben funktionierende Boden- tember in diesem Jahr hat keine mir ersichtlichen Fort-
beobachtungssysteme. So werden zum Beispiel in Sach- schritte gebracht. Die Behauptung, Deutschland spiele
sen-Anhalt an 70 Dauerbeobachtungsstellen durch vier bei diesem Thema den Bremser, ist nach diesen Protokol-
Behörden zyklische Untersuchungen zur Erfassung um- len aus der Luft gegriffen. Eine strikte Orientierung an
fangreicher Daten durchgeführt. Diesen Datenpool dem fortschrittlichsten Bodenrecht in der EU, dem deut-
durch Veränderungen in der Erfassung wertlos zu ma- schen, wie es die Grünen in ihrem Antrag selbst formu-
chen, wäre genauso sinnlos wie dessen deutliche Aus- lieren, und vernünftige subsidiäre Regelungen könnte
weitung. eine positive Wendung bringen; doch dazu ist die Zeit in
Brüssel scheinbar noch nicht reif genug.
Wenn einige südeuropäische Länder mit großen Bo-
dendegradationsproblemen es sich nicht zutrauen, in ih- Die unterschwellige Forderung des Antrages nach ei-
ren Ländern eigenständige Bodenschutzregelungen zu ner deutschen Führung in den Verhandlungen ist zu-
beschließen, und die EU als Sündenbock für kosten- rückzuweisen, da damit die Verhandlungen eher verkom-
intensive Umweltmaßnahmen aufbauen wollen, finde ich pliziert würden.

Zu Protokoll gegebene Reden


8704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Johannes Röring (CDU/CSU): was erreichen können, indem wir Ackerland im Gesetz (C)
Das deutsche Bodenschutzrecht ist im europäischen besonders unter Schutz gestellt und damit mit Grünland
Vergleich der Vorreiter im aktiven Schutz des Bodens und dem Wald gleichgestellt hätten. Darüber hinaus hät-
und der darin befindlichen Ressourcen. Unternehmen ten wir durch verbesserte Eingriffs- und Ausgleichsrege-
und Betriebe, Landwirte und Privatleute und alle ande- lungen effektiv Bodenschutz betreiben können. Aber da
ren, die mit dem Boden zu tun haben, müssen die stren- ist ja mit den Grünen nicht zu reden. Da wird – wie zum
gen Vorgaben achten. Dazu gehört auch, dass es um- Beispiel beim Artenschutz – eher gesetzlich eine weitere
fangreiche Dokumentations- und Kartierungspflichten Verschärfung, die über EU-Vorgaben hinausgeht, gefor-
gibt, die ein hohes Maß an Bürokratie und Verwaltung dert, anstatt einer Flexibilisierung zuzustimmen. Das
erfordern und sehr schnell zu übertriebenen Sanktionie- wäre praktizierter Bodenschutz gewesen, anstatt sich
rungen führen. jetzt mit Anträgen dafür einzusetzen, europäische Geset-
zesvorschläge aus der „Mottenkiste“ zu holen.
Wir haben hier im Parlament schon vor drei Jahren
heftig um den Punkt einer europäischen Bodenschutz- Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
rahmenrichtlinie diskutiert, und wir haben die damali- ich es grundsätzlich unterstütze, wenn man sich in Brüs-
gen Pläne der Europäischen Kommission abgelehnt. Die sel für einen europaweiten Bodenschutz einsetzt und dies
damals genutzten Argumente haben weiterhin ihre Gül- besonders in den Nationalstaaten tut, die ein nicht annä-
tigkeit. Aus meiner Sicht besteht keine Notwendigkeit für hernd so ausgeprägtes Bodenschutzregime haben wie
eine über die europäische Bodenschutzstrategie hinaus- wir in Deutschland. Mittel zum Zweck muss dann aber
gehende detaillierte europäische Regelung. Anders als eine europäische Bodenschutzstrategie und darf keine
bei Luft und Wasser gibt es innerhalb der EU beim Bo- Rahmenrichtlinie sein. Ich lehne es kategorisch ab, ord-
den eine sehr große Vielfalt, beispielsweise hinsichtlich nungspolitische Instrumente anzuwenden, die substan-
der Bodenarten, Bodenverhältnisse und der Lage und ziell keine Verbesserung der aktuellen Situation bei uns
Bewirtschaftung der Böden. Man sieht folglich, dass die bedeuten würden. Wir haben einen nationalen Rechts-
Probleme auf dem Gebiet des Bodenschutzes vor allem rahmen, der ein sehr hohes Schutzniveau garantiert.
durch regionale geografische und geologische Beson- Daran können sich andere Nationen gerne orientieren
derheiten bedingt sind. Ich möchte noch einmal betonen, und unsere Vorschriften und Gesetze adaptieren. Daher
dass mehr als 300 verschiedene Bodenarten europaweit lehnen wir den vorgelegten Antrag ab.
zu finden sind. Dies dokumentiert eindringlich, dass der
Schutz des Bodens primär eine nationale Aufgabe ist, da Ute Vogt (SPD):
vor Ort das Wissen über die regional unterschiedlichen
Strukturen existiert. Hier nun eine „europäische Scha- In Deutschland ist der Grund und Boden, auf dem wir
(B) blone“ anzulegen, halte ich für sehr ineffizient und auch leben und arbeiten, ja vielfach auch mythisch verklärt. (D)
nicht für zielführend. Denn zentral von Brüssel organi- In manchen Abschnitten unserer Geschichte wurde die-
sierte und gesteuerte Schutzsysteme bergen die große ser Mythos von den falschen politischen Kräften miss-
Gefahr, entweder am Bedarf vorbeizugehen oder belie- braucht. Das sollte uns aber nicht daran hindern, das
big zu werden. grundsätzlich positive Verhältnis der Deutschen zum Bo-
den für seinen Schutz zu nutzen. Ich bin sicher, eine
Ein zweiter sehr wichtiger Punkt ist – besonders für große Mehrheit erkennt die Notwendigkeit eines konse-
den deutschen Staat und die Wirtschaft – die zu erwar- quenten Bodenschutzes nicht nur an, sie unterstützt den
tende Kostenbelastung und zusätzliche Bürokratie, die Bodenschutz auch.
zwar in der Sache nichts bringen würde, aber ein weite-
rer Hemmschuh für den Wirtschaftsstandort darstellen Es ist ja auch eine Menge Bedenkliches, was wir dem
würde. Wir alle wissen, dass schon zahlreiche Vorschrif- Boden antun: Erosion, Verringerung der organischen
ten auf europäischer Ebene existieren, die besonders für Substanz, Kontamination, Verdichtung, Reduzierung der
die Landwirtschaft schon längst ins deutsche Recht ein- biologischen Vielfalt und Versiegelung. Die Boden-
gearbeitet sind und Wirkung erzielen. schutzrichtlinie geht diese Themen an. Deshalb ist sie
grundsätzlich richtig. Sie tut es allerdings auf eine äu-
An dieser Stelle möchte ich deshalb das Thema Land- ßerst bürokratische Weise. Da wird beispielsweise gefor-
wirtschaft und Bodenschutz besonders betonen. Die be- dert, eine Liste mit Tätigkeiten anzufertigen, die Boden-
reits vorhandenen Regelungen zur guten fachlichen Praxis verschmutzungspotenzial aufweisen können. Man kann
im Bodenschutzrecht, des landwirtschaftlichen Fach- natürlich endlose Aufstellungen dieser Art produzieren,
rechts sowie von „Cross Compliance“ stellten einen aber ein Zusatznutzen ergibt sich daraus nicht. Gele-
nachhaltigen Schutz landwirtschaftlicher Böden sicher. gentlich läuft die Richtlinie auch dem Subsidiaritäts-
Dies ist auch von der Landwirtschaft so gewollt, denn prinzip zuwider. Aus diesen Gründen haben frühere Re-
die Landwirtschaft hat ein ureigenes Interesse am Erhalt gierungen sich nicht in der Lage gesehen, ihr zuzu-
und der Steigerung der Bodenfruchtbarkeit. stimmen.
Das Bundesbodenschutzgesetz ist international vor- Das allerdings darf zweifellos kein Dauerzustand
bildlich. Nach wie vor ist allerdings das größte Problem bleiben – auch deshalb nicht, weil Deutschland beim
des Bodenschutzes, dass ein unverändert hoher Flä- Bodenschutz durch das Bundes-Bodenschutzgesetz im
chenverbrauch durch Siedlungs- und Verkehrsmaßnah- Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn schon recht
men stattfindet. Hier hätten wir im vergangenen Jahr bei weit ist. Viele Länder haben noch gar kein eigenständi-
der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes wirklich et- ges Bodenschutzrecht. Entsprechend unterschiedlich

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8705
Ute Vogt
(A) sind die Erfolge auf dem Weg zu einer nachhaltigen Bo- tung der Ressource Boden grenzüberschreitend auswir- (C)
dennutzung. Es muss ja, auch aus Wettbewerbsgründen, ken können und ein EU-einheitliches Vorgehen im Inte-
unser Interesse sein, dass überall in Europa ähnlich resse jedes Mitgliedstaates liegt. Eine europäische
hohe Schutzstandards gelten wie bei uns. Abgesehen Richtlinie eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, den
vom Wettbewerb gibt es auch aus umweltpolitischen Standard des Bodenschutzes europaweit anzuheben und
Gründen ein Erfordernis der Einigung. Denn die Schä- die Bodenschutzpolitik in manch anderen Mitgliedstaa-
digung der Böden außerhalb unserer Grenzen betrifft ten der Europäischen Union so zu verbessern.
uns angesichts der Tatsache, dass Böden beispielsweise
Kohlenstoff binden oder den Wasserhaushalt aufrechter- Aber warum soll sich Deutschland einem neuen Büro-
halten. Das sind alles keine Probleme, die an Länder- kratiemonster aus Brüssel aussetzen? Deutschland
grenzen halt machen. Ein europäischer Rechtsrahmen selbst hat schon strenge Standards – Cross Compliance
für den Bodenschutz ist deshalb notwendig. und die Regelung der „guten fachlichen Praxis“ sind
nur zwei Beispiele. Der Antrag der Grünen fordert diese
Es geht hier also nicht um das Ob, sondern um das hohen deutschen Standards als EU-Mindestnorm, au-
Wie. Dabei müssen wir auch berücksichtigen, dass der ßerdem verbindliche Zielvorgaben und Bodenschutz-
Bundesrat schon früher deutliche Kritik an der Richtli- standards für alle Mitgliedstaaten. Die Frage ist aber,
nie geäußert hat. Ich teile diese Kritik inhaltlich nicht, ob die deutschen Standards auf andere Länder ange-
aber wir müssen mit den Ländern in einen neuen Dialog wandt werden dürfen. Deutschland ist ein wohlhabender
dazu kommen. Wir dürfen das Thema nicht liegenlassen, Industriestaat. Ob und inwieweit solche Standards über-
sondern müssen an der Richtlinie arbeiten. Wir müssen tragbar sind, ist fraglich. Für andere Länder können die
die Subsidiarität stärken und die bürokratischen Aus- für Deutschland passenden Standards unter Umständen
wüchse der Vorlage zurückschneiden. Selbstverständ- gar nicht sinnvoll oder zu teuer sein.
lich sind alle Regelungen, die über das deutsche Recht
hinausgehen, zu prüfen. Aber das alles ist machbar. Es Wenn es eine europäische Bodenschutzrichtlinie ge-
gibt keinen Grund, die Richtlinie in Bausch und Bogen ben soll, dann bitte nur eine Rahmenregelung. Sie darf
abzulehnen. für unsere Kommunen aber keine Zusatzkosten verursa-
Deshalb muss auch die Bundesregierung wegkommen chen. Denn die EU-Regelung – so wie sie mit dem bishe-
von der plumpen Ablehnung der Richtlinie und sich rigen Richtlinienentwurf vorgeschlagen wird – ist nicht
stattdessen beim Feintuning der Richtlinie einbringen. zum Nulltarif zu haben: Ein Ende 2009 vorgelegtes Gut-
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Bundeskanz- achten des BMELV zeigt, dass mit einer neuen EU-Boden-
lerin aufhört, auf dem Bauerntag, so wie sie es 2009 ge- schutzrichtlinie erhebliche Kosten verbunden wären.
Die auf allen staatlichen Hierarchiestufen jährlich wie-
(B) tan hat, aus durchsichtigen politischen Gründen gegen derkehrenden Kosten werden für unser Land auf (D)
die Richtlinie zu polemisieren. Da erwarte ich mir mehr
Konstruktives und weniger Klientelpolitik. 320 Millionen Euro geschätzt, von denen rund 270 Mil-
lionen Euro allein auf die Kommunen zukämen. Allein
diese Summen sollten uns vorsichtig werden lassen.
Judith Skudelny (FDP):
Die Schaffung eines europäischen Ordnungsrahmens Viel wichtiger als immer mehr und immer strengere
für den Bodenschutz wird seit längerem kontrovers dis- EU-Regelungen zu erlassen, ist gerade im Umweltbe-
kutiert. Einen ersten Richtlinienentwurf gab es bereits reich, für eine bessere Umsetzung und Kontrolle beste-
2006. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte sich in der hender EU-Regelungen in anderen Staaten einzutreten.
letzten Legislaturperiode dafür ausgesprochen, die EU- Sonst produzieren wir weiterhin reine Papiermonster,
Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitzugestalten. Trotz die der Umwelt nichts nützen, aber die Kassen belasten.
fraktionsübergreifender Arbeitsgruppe ist es damals lei-
der nicht zu einem interfraktionellen Antrag gekommen.
Den Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Bundes- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
tagsdrucksache 16/4736 mit dem Titel „Bodenschutz- Die Linke teilt das Anliegen des Antrags der Grünen,
rahmenrichtlinie aktiv mitgestalten – Subsidiarität si- den Bodenschutz politisch zu stärken. Boden ist eine der
chern, Verhältnismäßigkeit wahren“ hatten dann alle wesentlichen, existenziellen Grundlagen der Mensch-
anderen Fraktionen – auch die der Grünen – im Plenum heit. Das Eigentum an Boden und die Verfügbarkeit da-
des Deutschen Bundestages abgelehnt. Damit hatte sich rüber war in allen menschlichen Gesellschaften eine der
Deutschland letztlich nicht inhaltlich gegenüber der sensibelsten Fragen. Wir dürfen nicht vergessen: Boden
EU-Kommission zum Richtlinienvorschlag geäußert. ist, zumindest in den Industriestaaten, nicht vermehrbar.
Im globalen Süden gehen traditionelle, regional ange-
Auch wenn es bisher keine weiteren Vorstöße von EU-
passte Nutzungs- und Bewässerungssysteme verloren,
Seite gab, sollten wir uns in dieser Wahlperiode eine
Boden fällt in Kriegsgebieten oder wegen fehlender
neue Meinung auf Grundlage der aktuellen Fakten bil-
technischer Ressourcen brach. Durch den Klimawandel
den.
beginnt diese Situation, sich zu verschärfen. Es gibt dra-
Deutschland selbst ist bereits sehr vorbildlich, was matische Ausweitungstendenzen der Wüsten. Die „Aus-
den Bodenschutz betrifft. Andere Länder haben noch beute“ aus der Bodennutzung, die Ernte, ist zwar stei-
Nachholbedarf. Man kann sich auf den Standpunkt stel- gerbar, wie die Industriestaaten in den vergangenen
len, dass man eine EU-weite Initiative braucht. Dafür Jahrzehnten gezeigt haben, es stellt sich aber immer
spricht, dass sich die negativen Effekte der Überbelas- drängender die Frage: zu welchem Preis?

Zu Protokoll gegebene Reden


8706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

Dr. Kirsten Tackmann


(A) Verglichen mit dieser zentralen Bedeutung des Bo- mischen Bedarf. Zudem konzentriert sich die Tierhal- (C)
dens und der Problemlage gehen wir immer noch recht tung immer mehr in bestimmten Regionen, zum Beispiel
sorglos mit dem Boden um. Das zu ändern, ist auch eine in Niedersachsen oder NRW. Verstärkt werden dort Flä-
Frage der Generationengerechtigkeit. Bodenschutz chen für Stallneubauten beansprucht, und zusätzlich
muss ein elementarer Politikbereich sein. Es gibt also wird Boden durch hohes regionales Gülleaufkommen
gute Gründe, für eine Bodenschutzrahmenrichtlinie auf belastet. In Ostdeutschland dagegen decken die Vieh-
EU-Ebene. dichten oft nicht den regionalen Bedarf an Wirtschafts-
dünger. Standortgerechte Tierhaltungsdichten gehören
Dass in Deutschland, formal gesehen, auf diesem Ge- also zu einem Bodenschutzmanagement.
biet schon viel erreicht wurde, ändert daran nichts.
Richtig ist, dass sich das deutsche Bodenschutzrecht im Manchmal wird heute auf dem Altar des Weltmarktes
internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. allzu leichtfertig das landwirtschaftliche Privileg des
Unter den politischen Kriterien für Nachhaltigkeit hat Bauens im Außenbereich überstrapaziert. Dabei stehen
der Schutz der Böden einen besonderen Wert. Doch wie die vielen geplanten Großanlagen für Millionen Hähn-
sieht die Realität als konkretes Ergebnis der Boden- chen, Hunderttausende Schweine oder Tausende Ziegen
schutzpolitik aus? Es ist alles andere als eine heile Welt. zu Recht besonders in der Kritik. Kein Wunder, dass un-
Auch in Deutschland sind wir weit davon entfernt, die terdessen die Privilegierung der Landwirtschaft nach
gesteckten Ziele im Bodenschutz zu erreichen. § 35 Baugesetzbuch infrage gestellt wird. Wir Linke sind
zwar nach wie vor der Meinung, dass das Problem an-
Ich möchte aus der Vielzahl von Problemen ein sehr ders als über das Baurecht geregelt werden muss, aber
zentrales Thema herausgreifen. Der Flächenverbrauch am Ende verspielt die Agrarwirtschaft selbst dieses Pri-
für Siedlungs- und Straßenbau ist in Deutschland nach vileg durch überzogene, in der Gesellschaft nicht akzep-
wie vor skandalös hoch. Laut „Indikatorenbericht tierte Vorhaben. Wer das Thema Bodenschutz ernst
2010“ zur Nachhaltigkeit des Statistischen Bundesamts nimmt, muss jetzt radikal umdenken. Das heißt, bei jeder
beträgt er 104 Hektar pro Tag. Das sind 100 Fußballfel- Umnutzung landwirtschaftlicher Flächen ist die Not-
der täglich, und das, obwohl die Bevölkerung schrumpft. wendigkeit konsequent zu hinterfragen und sind alterna-
Der Beirat zum Bodenschutz im Umweltbundesamt hat tiv Entsiegelungsoptionen ernsthaft zu prüfen. Natürlich
vor kurzem angesichts dieser Sachlage drastische For- müssen veraltete Stallanlagen irgendwann ersetzt wer-
derungen gestellt: eine schnelle Reduzierung des Flä- den, aber warum immer als Neubau auf unversiegelten
chenverbrauchs auf 30 Hektar, mittel- und langfristig Flächen?
auf 0 Hektar pro Tag. Wir diskutieren über solche Forde-
rungen schon sehr lange. Es muss endlich etwas passie- Fazit: der Flächenverbrauch muss radikal reduziert
(B) ren. Aus Sicht der Linken können wir nur noch über den werden. Bodenschutz geht uns alle an. Neben der politi- (D)
Weg dorthin diskutieren, aber nicht mehr über das Ziel. schen Stärkung auf europäischer Ebene ist eine konse-
quente Umsetzung des Bodenschutzes im eigenen Land
Mit rund der Hälfte der Fläche Deutschlands ist die vonnöten.
Landwirtschaft ein wichtiger Bodennutzer. Damit hat
die Landwirtschaft hohe Mitverantwortung. Boden-
schutz in der direkten landwirtschaftlichen Erzeugung Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ist dabei relativ einfach und im Grunde unumstritten. Die europäische Umweltpolitik weist in den letzten
Keine Bäuerin und kein Bauer kann Interesse daran ha- Jahren manchen Erfolg auf: Der Schutz der Umweltme-
ben, dass es in der Bewirtschaftung von Böden zu Ero- dien Luft und Wasser beispielsweise ist europaweit um-
sion und zur Minderung der Bodenfruchtbarkeit kommt. fassend und einheitlich geregelt. Davon profitieren wir
Auch die Steigerung des Humusgehalts im Boden ist im alle. Es gibt aber ein Umweltmedium, bei dem alle Ver-
ureigenen Interesse der nachhaltigen landwirtschaftli- suche einer europaweiten Regelung bisher gescheitert
chen Erzeugung und dient dabei sogar noch dem Klima- sind: den Boden. Daran ist die deutsche Bundesregie-
schutz. Zumindest bei bäuerlicher Bewirtschaftung ist rung nicht unschuldig. Die Kanzlerin der Großen Koali-
dieses Verständnis weit verbreitet, wenn auch die Rah- tion, Dr. Angela Merkel, trägt die Verantwortung dafür,
menbedingungen eines marktradikalen Agrarleitbildes sie hat Seit’ an Seit’ mit Präsident Sarkozy die fast fer-
ihnen die Spielräume zum Handeln immer mehr verengt. tige Bodenschutzrichtlinie 2007 scheitern lassen.
Umso mehr muss aber gelten: kein Bauernland in Spe-
kulantenhände! Sonst wird die Durchsetzung des Boden- Der Schutz von Europas Böden ist umwelt-, klima-
schutzes noch schwieriger. und nicht zuletzt wirtschaftspolitisch von hoher Bedeu-
tung. Ihre vielfältigen Funktionen sind elementar für
Die politischen Ziele sind klar; über die Mittel kann Mensch und Umwelt. Am Sonntag begehen wir zum
man sicherlich diskutieren. Die Landwirtschaft ist einer- neunten Mal den Internationalen Tag des Bodens; aber
seits Opfer des hohen Flächenverbrauchs; aber sie trägt bedauerlicherweise gibt es nicht viel zu feiern. Die Zu-
auch kräftig dazu bei. Die Frage ist durchaus berech- stände der europäischen Böden verschlechtern sich kon-
tigt: Müssen Neubauten für Ställe, Silos oder Biogasan- tinuierlich und die Flächenversiegelung nimmt stetig zu,
lagen auf noch unversiegelten Flächen im Außenbereich in Deutschland derzeit um circa 90 Hektar am Tag.
gebaut werden? Wir haben in Deutschland bereits Stall- Schadstoffbelastungen, Bodenverdichtung, Erosionen
kapazitäten für rund 13 Millionen Rinder, 27 Millionen durch Wind- und Wasser, abnehmender Humusgehalt,
Schweine und knapp 130 Millionen Stück Geflügel. Na- keines dieser Probleme haben wir bisher erfolgreich an-
hezu überall deckt die Erzeugung mehr als den einhei- gegangen. Wir brauchen hier endlich Erfolge. Dazu

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8707
Dorothea Steiner
(A) möchten wir mit unserem heutigen Antrag einen Anstoß den muss, lese ich die Forderungen in unserem Antrag (C)
geben. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu noch einmal vor: „Wir fordern die Bundesregierung auf,
handeln und sich für ein umfassendes europäisches Bo- ihre Blockadehaltung bei der Schaffung eines umfassen-
denschutzrecht einzusetzen. den europäischen Bodenschutzrechtes aufzugeben und
sich innerhalb der europäischen Union für eine sofor-
Aus Reihen der CDU und FDP hört man häufig, eine
tige Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Boden-
europäische Regelung habe keine positiven Auswirkun-
schutzrahmenrichtlinie einzusetzen; Wir fordern Frau
gen. In Deutschland habe man doch schon ein umfassen-
Merkel auf, sich innerhalb weiterer Verhandlungen für
des Bodenschutzrecht. Da kann ich nur sagen: Wer im-
eine EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie dafür einzuset-
mer noch in Grenzen von Nationalstaaten Umweltpolitik
zen, dass der deutsche Standard im Bodenschutzrecht
betreibt, scheint die letzten Jahre geschlafen zu haben.
auch als Mindeststandard auf der Ebene der Europäi-
Zerstörte Böden in unseren Nachbarländern wirken sich
schen Union eingeführt wird; und wir verlangen, dass
negativ auf Klima, Artenvielfalt und den Wasserhaushalt
sich die Bundesregierung innerhalb weiterer Verhand-
aus, und das grenzüberschreitend. Aber wenn schon die
lungen für eine EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie dafür
Umweltschutzargumente ihnen nicht einleuchten, dann
einsetzt, dass endlich verbindliche Ziele und klare Bo-
vielleicht die wirtschaftspolitischen. Für die Wettbe-
denschutzstandards festgelegt werden.“
werbsfähigkeit deutscher Unternehmen kann es doch
nur von Vorteil sein, wenn der deutsche Bodenschutz- Um ihre Bedenken ernst zu nehmen, Herr Götz, sollte
standard europaweit gilt und ein Umweltdumping ver- man vielleicht noch hinzufügen, dass die Bundesregie-
hindert wird. rung sich dafür einsetzen sollte, dass auf europäischer
Die Abgeordneten der CDU/CSU mögen unseren An- Ebene über den deutschen Standard hinausgegangen
trag ablehnen; aber dass sie ihn schon vor der Einbrin- wird. Dann brächte die Richtlinie auch Verbesserungen
gung in der Presse kommentieren, zeigt ja, wie auch ih- für den deutschen Bodenschutz. Wir sind gerne dabei,
nen das Thema unter den Nägeln brennt. Nur leider, wenn sie einen entsprechenden Änderungsantrag stel-
Herr Götz, scheinen Sie den Antrag nicht sehr genau ge- len. Natürlich unterstützen wir sie auch darin, die Bun-
lesen zu haben. Mir jedenfalls ist bis heute unklar, wie desregierung aufzufordern, bei den Verhandlungen auf
Sie zu der Behauptung kommen, dass mit unserem An- EU-Ebene sicherzustellen, dass die Kommunen nicht
trag die deutschen Kommunen um 273 Millionen Euro einseitig belastet werden. Ich hoffe, vor diesem Hinter-
jährlich belastet würden. Ich habe dazu ja bei Ihnen an- grund können auch Sie, Herr Götz, noch einmal über
gefragt; aber Ihre Antwort half mir auch nicht weiter. Ihre Einschätzung unseres Antrages nachdenken und
Sie verwiesen auf ein Gutachten zu den Kosten des sich gemeinsam mit uns für mehr Bodenschutz in Europa
EU-Vorschlages für eine Bodenschutzrichtlinie von einsetzen. Diesen nämlich brauchen wir dringend.
(B) 2006. Dieses Gutachten habe ich mir dann – auch wenn (D)
der Antrag alles fordert, nur nicht die sofortige Umset- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
zung des Kommissionsvorschlags von 2006 – natürlich Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
einmal angeschaut. Ich war doch enttäuscht über die Vorlage auf Drucksache 17/3855 an die in der Tagesord-
Undifferenziertheit der Analyse. Ihre angebliche Kos- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich
tenabschätzung ist wirklich sehr zweifelhaft. Die Auto- sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
ren selbst geben zu, es sei eine grobe Schätzung, die re- Überweisung so beschlossen.
alen Kosten würden nicht einmal ansatzweise abgebil-
det. Dass die wirklichen Kosten massiv von der Ausge- Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
staltung der nationalen Umsetzung abhängen, räumen ordnung. Ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie so
Sie selbst ein. Meine Schlussfolgerung: Was Sie mit Ih- lange ausgeharrt haben.
ren öffentlichen Äußerungen betreiben, ist billige Pole- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
mik, aber keine ernsthafte politische Auseinanderset- destages auf morgen, Freitag, 3. Dezember 2010, 9 Uhr,
zung. Ich vermute, Sie haben unseren Antrag nicht ein- ein.
mal vollständig gelesen, behaupten aber ohne jede Fak-
tenbasis, er sei unsinnig und teuer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.
Damit man sich nicht auf Grundlage der irrenführen-
den Einschätzungen des Herrn Götz eine Meinung bil- (Schluss: 21.27 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8709

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 02.12.2010 Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 02.12.2010

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 02.12.2010 Dr. Ratjen-Damerau, FDP 02.12.2010


Sabine Christiane

Bellmann, Veronika CDU/CSU 02.12.2010 Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 02.12.2010

Bülow, Marco SPD 02.12.2010 Scholz, Olaf SPD 02.12.2010

Burchardt, Ulla SPD 02.12.2010 Schreiner, Ottmar SPD 02.12.2010

Crone, Petra SPD 02.12.2010 Strothmann, Lena CDU/CSU 02.12.2010

Dyckmans, Mechthild FDP 02.12.2010 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 02.12.2010

Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 02.12.2010


* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Friedhoff, Paul K. FDP 02.12.2010

Fritz, Erich G. CDU/CSU 02.12.2010* Anlage 2


Glos, Michael CDU/CSU 02.12.2010* Erklärung nach § 31 GO
(B) (D)
Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 02.12.2010 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
DIE GRÜNEN über die Beschlussempfehlung zur Sammel-
übersicht 177 zu Petitionen (Tagesordnungs-
Gruß, Miriam FDP 02.12.2010 punkt 37 h)

Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 02.12.2010


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Ich lehne die Be-
Hörster, Joachim CDU/CSU 02.12.2010* schlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Aus-
schuss) – Sammelübersicht 177 zu Petitionen – auf
Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 02.12.2010 Drucksache 17/3924 ab, weil damit dem Anliegen der
DIE GRÜNEN Petition 3-17-11-2171-006312 aus Oelsnitz unter dem
Stichwort „Hilfe für Behinderte“ nicht Rechnung getra-
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 02.12.2010 gen wird.
DIE GRÜNEN
In dieser Petition fordern der Petent sowie 424 Mit-
Kunert, Katrin DIE LINKE 02.12.2010 zeichnende und 20 Personen, die die Petition mit einem
Diskussionsbeitrag unterstützten, die Umwandlung des
Lötzer, Ulla DIE LINKE 02.12.2010 persönlichen Budgets von einer einkommens- und ver-
mögensabhängigen in eine einkommens- und vermö-
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 02.12.2010 gensunabhängige Leistung.
DIE GRÜNEN
Der Petitionsausschuss kam mehrheitlich zur Ein-
Möller, Kornelia DIE LINKE 02.12.2010 schätzung, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil er
„die bestehenden Regelungen als geeignet und ausrei-
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 02.12.2010 chend an(sieht), der Vielfalt der gesundheitlichen Beein-
DIE GRÜNEN trächtigungen und der Lebenssituationen von behinder-
ten Menschen im Rahmen des Persönlichen Budgets
Nietan, Dietmar SPD 02.12.2010 gerecht zu werden. … In der Regel kommt es“ – so heißt
es in der Beschlussempfehlung – „für die Betroffenen
Petermann, Jens DIE LINKE 02.12.2010 nicht so weit, dass das gesamte die jeweilige Einkom-
mensgrenze überschreitende Einkommen als Eigenanteil
Pols, Eckhard CDU/CSU 02.12.2010 eingesetzt werden muss“.
8710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Diese Einschätzung teile ich nicht. Seit Jahren wird Für die Oppositionellen im Iran läuft die Zeit ab. (C)
genau dieser Punkt von Betroffenen immer wieder als ei- Anwälte, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivis-
ner der Hauptmängel bei der Teilhabesicherung benannt. ten, Journalistinnen und Journalisten und Bloggerinnen
Behindertenverbände fordern seit langem die Abschaf- und Blogger sind von willkürlicher Verhaftung, Folte-
fung der Einkommens- und Vermögensprüfung für Teil- rung und Vergewaltigung bedroht. Faire Gerichtspro-
habeleistungen. Deshalb werden die Fraktion Die Linke zesse können sie nicht erwarten. Auch ihre Familien und
und ich gegen diese Beschlussempfehlung stimmen. Freunde sind bedroht. Viele sehen sich daher zur Flucht
gezwungen. Diese Flüchtlinge haben sich unter schwers-
Dass die Fraktionen von CDU/CSU und FDP keinen ten Entbehrungen für eine friedliche, freiheitliche und
Grund sehen, das Anliegen zu unterstützen, verwundert
demokratische Entwicklung des Iran eingesetzt. Die
sicher niemanden. Dass aber auch die Fraktion der SPD
Bundesregierung hat zu Recht mehrfach bekundet, dass
das Anliegen der Petition ablehnt, verwundert schon.
sie diese Bemühungen unterstützt. Es ist daher ihre Ver-
Auf Veranstaltungen höre ich andere Verlautbarungen.
pflichtung, unbürokratisch, großzügig und schnell irani-
Aber man erinnert sich: Die SPD hatte – gemeinsam mit
Bündnis 90/Die Grünen – großen Anteil an den beste- sche Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
henden – und hier kritisierten – Rechtsgrundlagen für Die Bundesregierung hat mit der Aufnahme von ge-
das Persönliche Budget. rade einmal 50 Flüchtlingen ihre eigenen hehren Worte
untergraben. Das Zögern und Hinhalten gefährdet Leib
Warum sollte die Petition an die Bundesregierung als
und Leben von Menschen und nimmt der Kritik an der
Material und den Bundestagsfraktionen zur Kenntnis ge-
iranischen Regierung ihre Substanz.
geben werden, wie die Linke es forderte?
Es ist klar und dringend geboten, mehr als die vom
Das Persönliche Budget wurde am 1. Juli 2001 mit Bundesinnenminister bereits angekündigten 50 Flücht-
dem SGB IX eingeführt. Seit dem 1. Januar 2008 besteht linge aus dem Iran aufzunehmen. Die Bundesregierung
auf diese Leistungsform ein Rechtsanspruch. sollte sich hier an anderen westlichen Staaten orientie-
Trotz langer Erprobung, viel Werbung, Beratungshot- ren, die weitreichendere Maßnahmen ergriffen haben.
lines und begleitender Forschung ist das Persönliche Bud- Die USA (1 169), Kanada (255), Australien (89),
get bis heute kein Erfolgsmodell. Warum dies so ist, gibt Schweden (45), Großbritannien (5), Finnland (5), die
die Bundesregierung vor, nicht zu wissen. Dies wird unter Niederlande (4) und Frankreich (3) haben allein im Jahr
anderem in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Lin- 2009 bereits 1 575 iranische Flüchtlinge aus der Türkei
ken „Umsetzung der Leistungsform Persönliches Bud- im Rahmen eines Resettlement-Programms mit dem
get“, Drucksache 17/406 vom 6. Januar 2010, deutlich. UNHCR aufgenommen.
(B) Hängt es vielleicht damit zusammen, dass das Persön- Wir stimmen dem Antrag der SPD und unserer Frak- (D)
liche Budget wie auch andere Leistungen für Menschen tion zu, betonen aber, dass die Zeit für langwierige Prüf-
mit Behinderungen, die sie als Nachteilsausgleich benö- prozesse abgelaufen ist. Der Antrag der Grünen-Bun-
tigen, um am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, destagsfraktion vom 7. Juli dieses Jahres – Drucksache
eben nicht – wie in der Begründung behauptet – bedarfs- 17/2439 – legt die Gründe dafür ausführlich dar: Die
gerecht und einkommens- und vermögensunabhängig Verhältnisse im Iran und in der Türkei sind bekannt und
zur Verfügung gestellt wird? Meine Erfahrungen aus ei- vielfach bezeugt. Jetzt ist der Zeitpunkt für die Bundes-
ner Vielzahl von Gesprächen mit Betroffenen sprechen regierung gekommen, ihren Worten Taten folgen zu las-
dafür. sen.
Wer die UN-Behindertenrechtskonvention ernst neh-
men will – dazu haben sich der Bundestag und die Bun- Anlage 4
desregierung mit der Ratifizierung der Konvention ver-
pflichtet –, sollte also unbedingt diese Petition und Erklärung nach § 31 GO
weitere Meinungsäußerungen von Betroffenen zur Wir- der Abgeordneten Niema Movassat, Karin
kung des Persönlichen Budgets zur Kenntnis nehmen Binder, Sevim Dağdelen, Heidrun Dittrich,
und sie bei der Erarbeitung von gesetzlichen Grundlagen Heike Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Ulla
für eine bedarfsgerechte sowie einkommens- und vermö- Jelpke und Harald Koch (alle DIE LINKE) zur
gensunabhängige Teilhabesicherung – auch durch die Abstimmung über den Antrag: Menschen-
Gewährung von Persönlichen Budgets als einer mögli- rechtslage im Iran verbessern (Tagesordnungs-
chen Leistungsform – berücksichtigen.
punkt 7 a)
Neben dem kritikwürdigen Vorgehen der Opposi-
Anlage 3 tionsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die erst
einen gemeinsamen Antrag mit der Fraktion Die Linke
Erklärung nach § 31 GO vorbereitet, und dann den Regierungsantrag mitgezeich-
net haben, lehnen wir den oben genannten Antrag aus
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
folgenden Gründen ab:
(Köln), Agnes Malczak und Omid Nouripour
(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- Die Linke hat sich bereits in den Beratungen mit der
mung über den Antrag: Menschenrechtslage im SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen für den Fall
Iran verbessern (Tagesordnungspunkt 7 a) Aschtiani eingesetzt und die Verurteilung der Todes-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8711

(A) strafe weltweit gefordert. Wir wollen ein starkes Zeichen Anlage 5 (C)
setzen, um das Leben von Sakine Aschtiani zu schützen.
Diese wichtigen zwei Forderungen werden in dem An-
trag der vier Fraktionen konterkariert. Der Fall Aschtiani Erklärung nach § 31 GO
kommt nur als eine kleine Randbemerkung vor. Die
weltweite Abschaffung der Todesstrafe bleibt gänzlich der Abgeordneten Alexander Funk und Klaus-
unerwähnt. Das zeigt, dass es CDU/CSU, SPD, FDP und Peter Willsch (beide CDU/CSU) zum Antrag:
Bündnis 90/Die Grünen nicht ernsthaft um das Leben Irland unterstützen – Euro stabilisieren
von Frau Aschtiani geht.
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
Der Antrag „Menschenrechtslage im Iran verbessern“ ges gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
steht im Kontext der geopolitischen Eskalationsstrategie i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
gegen den Iran. Der Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP menarbeit von Bundesregierung und
und Bündnis 90/Die Grünen missbraucht den Fall der Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
zum Tode verurteilten Iranerin Aschtiani zu einer will- der Europäischen Union (Zusatztagesord-
nungspunkt 8)
kürlichen und in Teilen auch unseriösen Ansammlung
von Vorwürfen gegen den Iran insgesamt. Unseriös ist Hiermit teilen wir mit, dass wir uns dem Antrag der
dabei vor allem der wiederholte Bezug auf den Präsiden- Fraktionen der CDU/CSU und FDP „Irland unterstützen
ten Ahmadinedschad als Hauptverantwortlichen für die und den Euro stabilisieren“ nicht anschließen werden.
Menschenrechtsverletzungen. Diese gab es schon vor
der jetzigen Regierung, auch ohne Ahmadinedschad. Die Unsere Entscheidung ist eine logische Folge unserer
Kontinuität der Menschenrechtslage wird somit auf- grundsätzlichen Ablehnung gegenüber der „Griechen-
landhilfe“ und dem „Rettungsschirm für die Euro-
grund geopolitischer Interessen bewusst ausgeblendet.
Zone“. Bereits im Mai dieses Jahres haben wir unsere
Wir lehnen den Antrag ab, weil er sich für Sanktionen Bedenken gegenüber diesen Maßnahmen ausführlich
ausspricht und dabei lediglich fordert, dass diese „in ers- dargelegt“. An dieser Haltung hat sich nichts geändert –
ter Linie das Regime und nicht die Bevölkerung des im Gegenteil: Die Entwicklungen an den Finanzmärkten
Landes treffen“ sollen. Dass dies strukturell und prak- und Stellungnahmen renommierter Finanzexperten ha-
tisch unmöglich ist, ist spätestens seit den Sanktionen ben uns darin bestärkt.
gegen den Irak bekannt, womit diese Forderung die geo- So verweisen wir beispielsweise auf die Sonderaus-
strategische Motivation hinter diesem „Menschenrechts- gabe „Ein Krisenmechanismus für die Eurozone“ des ifo
(B) antrag“ weiter entlarvt. Schnelldienst vom Institut für Wirtschaftsforschung (D)
München, erschienen am 23. November 2010, in dem
Wir lehnen Forderungen nach Sanktionen im Falle anhand von Daten und Fakten überzeugend dargelegt
des Iran grundsätzlich ab. Ohnehin geht es beispiels- wird, dass die gegenwärtigen Turbulenzen nicht eine
weise bei den EU-Sanktionen nicht um die Durchset- Krise des Euro indizieren, sondern Konsequenzen mas-
zung von Menschenrechten, sondern erklärtermaßen ein- siver wirtschafts- und fiskalpolitischer Fehlentwicklun-
zig und allein darum, Druck im Zusammenhang mit dem gen der entsprechenden Länder sind.
– zivilen – Atomprogramm auszuüben. Iran hat aller-
dings nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag versto- Das Ausspreizen der Zinsen, das für viele als bedroh-
ßen, weshalb es auch in dieser Hinsicht keine Grundlage liche Krise erscheint, und in der Tat zur Belastung der
für Sanktionen gibt. kreditfinanzierten Staatsausgaben wird, war zu keinem
Zeitpunkt auch nur annähernd so groß wie vor der Ein-
Anstatt sich seriös für das Leben der Iranerin Aschtiani führung des Euro, vgl. ifo Schnelldienst, Seite 3. Wäh-
einzusetzen, werden Menschenrechte wieder einmal als rend indes die Länder in der Zeit vor Einführung des
Einfallstor genutzt, um andere politische Ziele durchzu- Euro die Chance hatten, durch Abwertung ihrer Wäh-
setzen. Dies untergräbt die Glaubwürdigkeit jeder Men- rung ihre Wettbewerbsfähigkeit und damit das Vertrauen
schenrechtspolitik. Dieser Antrag leistet damit vor dem der Märkte wiederherzustellen, sind sie nun gezwungen,
Hintergrund der konkreten Kriegsdrohungen gegenüber durch Preis- und Lohnkürzungen und eine Konsolidie-
Iran – wie sie erst jüngst durch Veröffentlichungen auf rung des öffentlichen Budgets real abzuwerten. Dieser
Wikileaks bestätigt wurden – einer Zuspitzung der ange- schmerzliche Weg ist aus unserer Sicht unausweichlich
spannten Situation Vorschub und ist deshalb gefährlich. und kann nicht über das ungerechtfertigte Verschenken
Der Antrag erinnert an Vorgänge und Kriegslegitima- der Bonität Deutschlands und des Vertrauens, das wir
tionsversuche, wie wir sie im Vorfeld des völkerrechts- genießen, abgewendet werden. Im Gegenteil: Der mas-
widrigen Feldzugs gegen den Irak erlebt haben. Wir sind sive Kapitaltransfer generiert – entgegen seinen Absich-
gegen einen neuen Krieg im Nahen und Mittleren Osten, ten – eine weitere Verschlechterung der Außenhandels-
der katastrophale und unkalkulierbare Konsequenzen für bilanzen der betroffenen Länder und befeuert zusätzlich
den ökonomischen Abwärtstrend, den zu stoppen er vor-
die Gesamtregion hätte, und wenden uns gegen jedwede
gibt.
ideologische Kriegsvorbereitung. Aus diesen Gründen
lehnen wir den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Ging es bei der „Griechenlandhilfe“ noch angeblich
FDP und Bündnis 90/Die Grünen „Menschenrechte im darum, die Liquidität eines Landes sicherzustellen, trifft
Iran verbessern“ – Drucksache 17/4011 – ab. diese Begründung auf Irland schon nicht mehr zu. Irland
8712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) muss sich nicht in den nächsten sechs Monaten am Kapi- Diesen Weg halten wir aus haushaltspolitischer Sicht (C)
talmarkt bedienen. für Deutschland für höchst gefährlich und mit unseren
europapolitischen und marktwirtschaftlichen Grund-
Sollten die Maßnahmen dazu dienen, die Märkte „zu überzeugungen unvereinbar. Wir marschieren sehenden
beruhigen“, kann man in den letzten Tagen, aber auch Auges in eine Transferunion, die man aus europapoliti-
schon nach der „Griechenlandhilfe“ erkennen, dass die- schen Gründen befürworten mag, die wir persönlich aber
ser Versuch gescheitert ist, ja scheitern musste. Einer weiterhin strikt ablehnen.
kurzfristigen Beruhigung der Märkte nach dem Be-
schluss zum Euro-Rettungsschirm folgte die Erkenntnis,
dass zehnjährige Anleihen nicht geschützt sind, und die Anlage 6
Spreads stiegen verständlicherweise wieder an. In der
Fehlentwicklung konsequent werden bereits Stimmen
laut, die eine dauerhafte Verstetigung des Rettungsschir-
mes fordern. Den Maßnahmen liegt insgesamt ein ver- Erklärung nach § 31 GO
zerrtes Bild marktwirtschaftlicher Dynamik und Psycho-
logie zugrunde: Wir erliegen der Illusion, über bereits der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele,
jetzt unüberschaubare Garantiesummen nachvollzieh- Winfried Hermann, Monika Lazar und
bare und der ökonomischen Realität angemessene Be- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (alle BÜND-
wertungsmaßstäbe – CDS-Anstieg, Zinsspreads – aus- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über
blenden zu können. Den Preis dieser Bemühungen wird die Beschlussempfehlung: Fortsetzung der Be-
der deutsche Steuerzahler mittelfristig und mindestens teiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
indirekt über steigende Zinslasten zu tragen haben. der EU-geführten Operation Atalanta zur Be-
kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias
Weiterhin wird oftmals von den Befürwortern der auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens
„Euro-Rettung“ argumentiert, man müsse das europäi- der Vereinten Nationen von 1982 und der Reso-
sche Bankenwesen retten. Sollte dies ein ernsthaftes Ar- lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816
gument sein, lehne ich es strikt ab, da dies ebenfalls (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Ok-
Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft außer tober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008,
Kraft setzt. Dies würde bedeuten, dass Finanzakteure Ge- 1897 (2009) vom 30. November 2009 und nach-
winne mitnehmen dürfen – die Verluste aber muss der folgender Resolutionen des Sicherheitsrates der
Steuerzahler tragen. So ist es zwar richtig, dass die Kurse Vereinten Nationen in Verbindung mit der Ge-
vieler (süd-)europäischer Anleihen gefallen sind; dem meinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates
(B) stehen aber Kursgewinne anderer, beispielsweise deut- der Europäischen Union vom 10. November (D)
scher Anleihen, gegenüber. Sollte eine Bank wirklich in 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates
eine finanzielle Schieflage aufgrund von Abschreibungen der Europäischen Union vom 8. Dezember
ihrer Staatspapiere kommen, halten wir eine direkte Ret- 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
tung für Banken im Notfall für sinnvoller. Dann könnte der Europäischen Union vom 30. Juli 2010 und
nach einer Verstaatlichung, Konsolidierung und einem dem erwarteten Beschluss des Rates der Euro-
späteren Verkauf der Bank dem Steuerzahler zumindest päischen Union vom 13. Dezember 2010 (Tages-
die Chance auf eine Gewinnbeteiligung ermöglicht wer- ordnungspunkt 11)
den. Viel wichtiger ist jedoch, dass es unserem Grundver-
Den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
ständnis widerspricht, dass der Staat die Risiken von
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Finanzakteuren übernimmt und diese ihre Gewinne ein-
Operation Atalanta lehne ich ab.
streichen können.
Erstens. Das Einsatzgebiet der Bundeswehr ist in dem
Nun zielt der konkrete Antrag auf eine Stabilisierung vorgelegten Antrag nicht ausreichend bestimmt festge-
des Euro ab. Die entsprechende Debatte ist weiterhin ge- legt. Es bleibt offen, in welchen Teilen des Indischen
prägt vom Nichtvorliegen konkreter Daten und Fakten Ozeans die deutschen Streitkräfte eingesetzt werden sol-
seitens der Bundesregierung: Bemessen sich Stabilitäts- len. Der Indische Ozean ist groß. Er reicht von Afrika bis
kriterien an der Inflationsrate des Euro, bezüglich des Indien und Australien.
Wechselkurses zum US-Dollar oder an möglichst mini-
malen Kursschwankungen? Auch diesbezüglich monie- In der Begründung des Antrags wird ausgeführt, dass
ren wir die für uns persönlich unklare wirtschaftliche „infolge der internationalen Maßnahmen zur Pirateriebe-
Folgenabschätzung, die mit sinkenden bzw. steigenden kämpfung vor der somalischen Küste die somalischen
Euro-Kursen verbunden ist. Piraten ihre Aktivitäten bis zu 1 300 Seemeilen weit in
den Indischen Ozean ausgedehnt haben.“ In den Aufga-
Diese Fragen und Überlegungen führen uns zu dem ben für die Bundeswehr wird die „Überwachung der Ge-
Schluss, dass es sich bei Fortführung der tadelnswerten biete vor der Küste Somalias“ genannt, ohne Festlegung,
Strategie nicht um eine unabweisliche Bewältigung einer wie weit die Gebiete vor der Küste reichen sollen – Nr. 3 c
Krise der Gemeinschaftswährung handelt, sondern da- des Antrags.
rum, betroffene Finanzakteure von den desaströsen Fol-
gen einer weiteren Kreditüberversorgung zu entlasten Das Einsatzgebiet der Operation Atlanta umfasst laut
und unseren Partnern in der Euro-Zone – am Markt nicht Antrag „zur See die Meeresgebiete innerhalb der Region
gerechtfertigte – niedrige Zinssätze zu garantieren. des Indischen Ozeans vor der Küste Somalias und be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8713

(A) nachbarter Länder. Innerhalb dieses Einsatzgebietes Zu Unrecht setzt die internationale Gemeinschaft fast (C)
wird auf Vorschlag des Oberkommandeurs ein zur Erfül- ausschließlich auf die Übergangsregierung TFG. Diese
lung seines Auftrages zweckmäßiges Operationsgebiet ist durch Machtmissbrauch und Korruption gekenn-
durch den Rat der EU bzw. dessen Gremium festgelegt.“ zeichnet. Sie wird von der Bevölkerung Somalias bis
Ob zu dem Einsatzgebiet der Bundeswehr beispielweise heute nicht als legitime Regierung akzeptiert. Ihre Ein-
die Meeresgebiete um die Seychellen oder vor der indi- flusssphäre ist auf nur wenige Teile der Hauptstadt be-
schen Küste gehören, bleibt ungewiss. schränkt.
Zweitens. Die Bundesregierung kümmert sich nicht Laut Antiterrorismuszentrum Gulf Research Centre
um die Ursachen der Piraterie vor der Küste Somalias. unterhalten die Islamisten, welche die Übergangsregie-
Fischer, denen von schwimmenden Fischfabriken im rung bedrohen, keine direkten Kontakte zu den Piraten.
Meer vor Somalia die Existenzgrundlage geraubt wurde, Im Gegensatz zu Abdullahi Yusuf Ahmed, dem Über-
wurden zu Piraten. Darüber ist die frühere Bundesregie- gangspräsidenten: Dieser schützt die Piraten gewollt
rung informiert gewesen und ausgegangen, als sie über oder unfreiwillig, denn er gehört zum Clan der Darod,
den Beginn der Beteiligung der Bundesmarine an der aus dem viele der Piraten stammen. Und Abdullahi
Operation Atlanta entschieden hat. Das Auswärtige Amt braucht dessen Milizionäre im Kampf gegen die Al-
hatte mir „einen erkennbaren Zusammenhang zwischen Shabaab-Islamisten.
Piraterie und illegaler Fischerei bestätigt“.
Stattdessen müssen Gespräche mit allen dazu bereiten
Von 2006 bis 2009 waren – nach der Antwort der Bun- Kräften des Landes geführt, lokale Autoritäten einge-
desregierung auf die parlamentarische Anfrage 17/1287 – im bunden und unterstützt sowie Hilfe und Entwicklungszu-
Indischen Ozean ein italienisches Ringwaden-Fischerei- sammenarbeit angeboten werden.
fahrzeug sowie, in einzelnen Jahren in unterschiedlicher
Erfolgreiche Beispiele in Südostasien machen vor,
Zahl, auch französische und spanische Fischereischiffe
wie eine effektive Antipirateriepolitik gestaltet werden
aktiv. Sie waren daran beteiligt, Fischgründe vor Soma-
kann. Durch konzertierte multilaterale Politiken, die so-
lia, die zu den ertragreichsten der Welt gehört hatten,
wohl die Strafverfolgung koordinierten als auch die sozio-
weitgehend leerzufischen. Eine 2009 veröffentlichte Studie
ökonomische Lage der Küstenbewohner und -bewohner-
der singapurischen Rajaratnam School of International
innen verbesserten, konnten Indonesien, Malaysia und
Studies besagt, dass vor der Küste Somalias jedes Jahr
Singapur die Piraterie in der Straße von Malakka nach-
Fisch für 90 bis 300 Millionen Dollar illegal gefangen
haltig reduzieren.
wird. Insgesamt sind laut Angaben der UNO-Ernäh-
rungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO 700 Schiffe Aber im Mandat von Atalanta und den übrigen Ope-
(B) aus aller Welt beteiligt, die in mehreren Fällen einheimi- rationen ist dies nicht enthalten. (D)
sche Fischer mit Hochdruckschläuchen, kochendem
Wasser und sogar Schusswaffen abgedrängt haben. Drittens. Zum Schutz der Versorgungsschiffe des
Welternährungsprogramms WEP ist der Einsatz einer
Inzwischen wird die Entführung von Handelsschiffen ganzen Armada von Kriegsschiffen und von bis zu 1 400
und deren Besatzungen mit anschließender Erpressung Soldaten der Bundeswehr nicht notwendig. Bisher
von zweistelligen Millionendollarbeträgen von den Ree- wurde lediglich ein Schiff des WEP im Jahr 2007, also
dereien von international vernetzten Syndikaten organi- vor Beginn der Operation Atalanta, tatsächlich entführt.
siert. Die Piraterie ist zu einem Wirtschaftszweig gewor- Das UN-Welternährungsprogramm wird viel stärker
den, durch den den Hintermännern in Somalia und am durch andere Faktoren gefährdet, etwa durch Korruption
Golf der überwiegende Teil der erpressten Summen zu- und Misswirtschaft. So soll nach dem Bericht der von
fließen. der UNO eingesetzten Beobachtergruppe für den UN-Si-
cherheitsrat etwa die Hälfte der Nahrungsmittelhilfen in
Auch wenn heute „Fischer nur in geringer Zahl,
falsche Hände kommen, nämlich 30 Prozent bei den Ver-
hauptsächlich aufgrund ihrer seemännischen Erfahrung,
teilerorganisationen oder WEP-Angestellten, 10 Prozent
in Aktivitäten der Piraten involviert sind“, wäre es Auf-
bei Transportunternehmen sowie 10 Prozent bei Milizen.
gabe der Bundesregierung, lokale und nationale Fische-
reirechte durchzusetzen. Der Kampf gegen die Raubfi- Schutz für diese WEP-Schiffe könnte in anderer
scherei könnte den Piraten zudem die angegebene Weise gewährt werden, etwa indem die Reedereien mehr
Legitimation für ihr verbrecherisches Handeln nehmen, Schutzvorkehrungen treffen und nach Möglichkeit be-
weil sie sich nicht mehr als Kämpfer gegen internatio- sonders gefährdete Bereiche meiden, solange keine Ver-
nale Kriminalität in Form von Raubfischerei ausgeben einbarungen mit der Küstenbevölkerung getroffen wer-
können. den konnten.
Die Durchsetzung von Fischereirechten, die Regene- Viertens. Die Operation Atalanta, an der die Bundes-
rierung der Fischbestände und die gezielte Unterstützung wehr weiter beteiligt ist, soll wichtige Handelswege si-
der früheren Fischer und ihrer Familien an der Küste So- chern. Dies ist nicht Aufgabe der Bundeswehr.
malias durch Versorgungs- und Entwicklungshilfe wäre
der bessere Beitrag zur Eindämmung der Piraterie. Durch das Seegebiet vor Somalia und vor allem den
Golf von Aden führt die wichtigste Handelsroute
Die Herstellung staatlicher Strukturen und Verwal- zwischen Europa, der arabischen Halbinsel und
tung könnte den rechtlosen Raum beseitigen, in dem die Asien. Deutschland hat als Exportnation an siche-
Piraterie blüht und sich immer weiter ausdehnt. ren Handelswegen großes Interesse, zumal es
8714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) gleichzeitig auf den Import von Rohstoffen ange- Rates der Europäischen Union vom 30. Juli (C)
wiesen ist, die zu einem großen Teil auf dem See- 2010 und dem erwarteten Beschluss des Rates
weg ins Land gelangen. der Europäischen Union vom 13. Dezember
2010 (Tagesordnungspunkt 11)
So steht es im Antrag der Bundesregierung. Darauf
hat der Bundesverteidigungsminister jüngst öffentlich Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
hingewiesen. wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen haben,
Piraterie gab es schon immer und gibt es noch heute und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und
auf vielen Meeren, ohne dass dies bisher ein Grund für Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem
einen Einsatz der Bundeswehr war. Im Jahr 2009 waren Engagement der im Rahmen der Operation Atalanta ein-
es weltweit nach Auskunft der Bundesregierung 455 Pi- gesetzten Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Famili-
raterievorfälle. Davon entfielen 155 auf den Golf von enangehörigen gilt unsere große Wertschätzung und zu-
Aden und 96 auf den Indischen Ozean. So war die Straße tiefst empfundener Dank.
von Malakka viele Jahre kaum passierbar, ohne von Pi-
raten bedroht zu werden. Aber deutsche Wirtschaftsinte- Die Gründe für unsere Enthaltung zum Antrag der
ressen waren wohl weniger betroffen. Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der Operation Ata-
Der Schutz von Handelswegen und des Imports von lanta möchten wir im Folgenden darlegen:
Rohstoffen ist nicht Aufgabe der Bundeswehr. Handels-
und Rohstoffkriege sind durch das Grundgesetz nicht ge- Der Bürgerkrieg und der Staatszerfall in Somalia be-
deckt. drohen die Sicherheit in der Region. Durch die Piraterie
sind die Seewege am Horn von Afrika ernsthaft gefähr-
Fünftens. Der riesige Militäreinsatz von über 50 det. Gemeinsames internationales Handeln ist erforder-
Kriegsschiffen ist kontraproduktiv. Durch den Einsatz lich. Es ist ein rechtsfreier Raum entstanden, in dem be-
der EU, NATO und von Schiffen vieler weiterer Natio- waffnete Milizen operieren und Waffenschmuggel in
nen wurde die Piraterie nicht beseitigt oder auch nur ein- großem Ausmaß stattfindet. Die somalischen Gewässer
gedämmt. Die Piraten sind dem Druck ausgewichen. Die entziehen sich der staatlichen Kontrolle und sind zu ei-
Zahl der Überfälle und Entführungen ist erheblich grö- nem Brennpunkt der internationalen organisierten Krimi-
ßer geworden. Derzeit befinden sich Hunderte von Men- nalität geworden. Das Fehlen einer Küstenwache wurde
schen in Geiselhaft. 29 Schiffe sind gekapert in der Hand von ausländischen Fischereiflotten in großem Umfang
der Piraten. Die Lösegeldsummen sind rapide gestiegen. für illegalen Fischfang genutzt und begünstigte die mas-
Das Operationsgebiet ist unendlich weit ausgedehnt sive Verklappung von Giftmüll vor der Küste Somalias.
(B) worden bis zu den Seychellen und nahe an die Küste In- Durch die Überfischung der Gewässer wurde den soma- (D)
diens. Ein Ende der Ausdehnung des Operationsgebiets lischen Fischern die Lebensgrundlage entzogen. Hierin
ist nicht abzusehen. Immer mehr Meeresgebiete und liegt auch eine von vielen Ursachen für die sich ausdeh-
Küstenregionen drohen in die Gewaltauseinandersetzun- nende Piraterie am Horn von Afrika, die die internatio-
gen einbezogen zu werden. nalen Seewege und die Lieferung von Nahrungsmitteln
für die Not leidende somalische Bevölkerung bedroht.

Anlage 7 Die Operation Atalanta ist völkerrechtlich legitimiert


und setzt auf multilaterales Handeln. Doch die Ursachen
Erklärung nach § 31 GO des zerfallenden Staatswesens in Somalia und der Pirate-
rie am Horn von Afrika lässt das vorgelegte Mandat au-
der Abgeordneten Agnes Malczak, Katja ßer Acht. Der Schutz der internationalen Seewege ist
Dörner, Uwe Kekeritz, Beate Müller-Gemmeke, eine kollektive Sicherheitsaufgabe und damit eine Auf-
Dorothea Steiner und Dr. Harald Terpe (alle gabe der Vereinten Nationen und der internationalen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung Staatengemeinschaft. Die Hohe See steht nach dem UN-
über die Beschlussempfehlung: Fortsetzung der Seerechtsabkommen von 1982 allen gleichermaßen zur
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte friedlichen Nutzung zu. Mit dem Mandat der Vereinten
an der EU-geführten Operation Atalanta zur Nationen und der Gemeinsamen Aktion und den Be-
Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Soma- schlüssen des Rates der Europäischen Union sind die
lias auf Grundlage des Seerechtsübereinkom- Völker- und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für
mens der Vereinten Nationen von 1982 und der eine deutsche Beteiligung nach Art. 24 Abs. 2 des
Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, Grundgesetzes erfüllt. Die multilaterale Operation Ata-
1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom lanta hat zum Schutz humanitärer Hilfslieferungen und
7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember zur Vereitelung von seeräuberischen Handlungen, be-
2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009 und waffneten Raubüberfällen und Geiselnahmen beigetra-
nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsra- gen.
tes der Vereinten Nationen in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Sie setzt jedoch lediglich am Symptom an. Mit einem
Rates der Europäischen Union vom 10. Novem- solchen Ansatz lässt sich das Problem der Piraterie aber
ber 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des nicht lösen. Neben Atalanta ist die internationale und
Rates der Europäischen Union vom 8. Dezem- deutsche Strategie einseitig auf die Unterstützung der
ber 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Übergangsregierung ausgerichtet, die aufgrund von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8715

(A) Machtmissbrauch und massiver Korruption von der so- Piraterie den Nährboden zu entziehen. Gezielte Ausbil- (C)
malischen Bevölkerung nicht als legitime Regierung So- dungs- und Beschäftigungsmaßnahmen für die somali-
malias anerkannt wird. Die Ursachen des zerfallenden sche Bevölkerung und eine Verstärkung der Versor-
Staatswesens in Somalia und der Piraterie am Horn von gungs- und Entwicklungshilfe sind hierbei unverzicht-
Afrika werden nicht im erforderlichen Maß bekämpft. bare Bestandteile. Der illegale Fischfang europäischer
Die bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass sich und asiatischer Fischtrawler und die illegale Müllentsor-
die Probleme weiter verschärfen. Der Alltag der Men- gung in somalischen Gewässern müssen wirksam unter-
schen ist von bitterer Armut, der Willkürherrschaft von bunden werden.
Milizen, Flucht und Gewalt geprägt.
Piraterie ist eine Form transnationaler organisierter
Die Probleme in Somalia werden so nicht gelöst. Der Kriminalität, das Kapern von Schiffen nur Teil komple-
Ausdehnung der Piraterie begegnet man lediglich mit ei- xer Strukturen und Prozesse. Um diese zu zerschlagen
ner Ausdehnung des Operationsgebietes, das im Mandat und die Drahtzieher im Hintergrund aufzuspüren, nützen
nicht näher definiert ist und dessen Größe sich daher zu- Kriegsschiffe und Aufklärungsflugzeuge wenig. Eine
nehmend der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen bewährte Methode zur Bekämpfung transnationaler or-
droht. ganisierter Kriminalität sollte auch bei der Pirateriebe-
Die Anzahl der Piratenangriffe hat sich seit Beginn kämpfung verstärkt umgesetzt werden: Geldwäsche von
der Militäraktion kontinuierlich erhöht, die Lösegeld- erpressten Lösegeldern der Piraten international wirk-
summen werden immer höher. Während die Piraterie im sam zu verfolgen. Bemühungen hierzu sind zwar in An-
Golf von Aden gesunken ist, stieg sie im Somalibecken sätzen vorhanden, müssen aber noch deutlich ausgebaut
und Indischen Ozean an. Der erweiterte Aktionsradius werden.
der Piraten führt zu einer ständigen Ausweitung des Die Mission setzt nicht bei den gesellschaftlichen Ur-
Mandatsgebietes von Atalanta. Die einseitige Konzen- sachen der Piraterie an. Der Ursprung der Piraterie liegt
tration auf die Symptombekämpfung birgt die Gefahr ei- nicht auf dem Meer, sondern auf dem Land. Würde die
ner zunehmenden Tendenz zu schnellen, aber nicht internationale Gemeinschaft mit dem gleichen Koopera-
nachhaltigen militärischen Antworten. Die Unbestimmt- tionswillen und Engagement, wie sie ihn bei der Opera-
heit des Operationsgebietes stellt zudem ein ernsthaftes tion Atalanta unter Beweis stellt, auch die Ursachen der
Problem für die Wahrung der parlamentarischen Kon- Piraterie bekämpfen, könnten deutlich größere Fort-
trolle von Einsätzen der Bundeswehr dar. schritte bei der Schaffung von Sicherheit in der Region
Es bedarf einer kohärenten Gesamtstrategie, in deren erzielt werden. Wir brauchen daher eine kohärente Ge-
Rahmen die EU-geführte Operation Atalanta eine not- samtstrategie, in der der Einsatz von Militär als eine
(B) wendige und sinnvolle Komponente sein kann. Im Vor- Komponente klar definiert und begrenzt ist. Hierzu ge- (D)
dergrund muss dabei die Eindämmung der Gewalt und hört auch, eine Perspektive für die Beendigung des Ein-
Suche nach einer politischen Lösung stehen. Deutsch- satzes von Anfang an mitzudenken. Trotz der Auswei-
land muss sich für einen nachhaltigen Friedensprozess tung der Operation Atalanta nimmt die Piraterie am
einsetzen, der alle gesprächsbereiten Gruppierungen in Horn von Afrika zu. Die Antwort darauf kann nicht im-
Somalia mit einbindet und einen Staatsaufbau von unten mer wieder eine weitere Ausdehnung des Militäreinsat-
her durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit als legi- zes sein, während die Lösung der Probleme aus den Augen
tim anerkannten lokalen Autoritäten unterstützt. Wichtig gerät. Einem Mandat für den Einsatz von Militär ohne
ist dabei, dass alle Konfliktparteien, einschließlich der so- die aufgezeigten zivilen Maßnahmen zur Bekämpfung
malischen Übergangsregierung, sowie die Friedensmis- der Wurzeln von Piraterie können wir daher nicht zu-
sion der Afrikanischen Union für Somalia, AMISOM, die stimmen.
Mindeststandards des humanitären Völkerrechts und
Menschenrechte achten.
Anlage 8
Zur Förderung des Friedens und Bekämpfung von Pi-
raterie gehört auch eine konsequente Entwaffnung. Dies Zu Protokoll gegebene Reden
beinhaltet auch, dem anhaltenden Waffenschmuggel ent-
schieden entgegenzuwirken und sich für eine strikte Ein- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
haltung des Waffenembargos unter Überwachung durch Verbesserung des Verbraucherschutzes bei Ver-
die Vereinten Nationen einzusetzen. Die Ausrüstungs- tragsabschlüssen im Internet (Tagesordnungs-
und Ausbildungsprogramme für bewaffnete Kräfte der punkt 14)
somalischen Übergangsregierung tragen zur Steigerung
des Gewaltniveaus in Somalia bei und sollten daher aus-
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Das leidige Thema
gesetzt werden. Die internationale Gemeinschaft und die
der sogenannten Internetabofallen beschäftigt uns leider
Bundesrepublik müssen in Somalia den Fokus stärker
seit geraumer Zeit. Wir haben hier beispielsweise im
auf Maßnahmen der Demilitarisierung, Demobilisie-
Juni dazu diskutiert. Unseriöse Anbieter richten Schäden
rung und Reintegration von bewaffneten Kämpfern rich-
in erheblicher Höhe an, indem Sie die Verbraucher über
ten.
die Unentgeltlichkeit von Dienstleistungen oder Waren
Für eine nachhaltige Ursachenbekämpfung ist zentral, täuschen. Die Geschädigten erfahren das zumeist zudem
durch Maßnahmen zur Armutsreduktion und die Eröff- erst Wochen später durch eine Rechnung. Den folgenden
nung von alternativen wirtschaftlichen Perspektiven der Inkassobriefen halten wenige stand.
8716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Sowohl Zivil-, Straf- als auch Wettbewerbsrecht bie- men, wenn der Verbraucher bis zu diesem Mausklick (C)
ten heute schon viele Möglichkeiten, um Abofallen im nicht hinreichend auf die Kosten hingewiesen wurde.
konkreten Einzelfall erfolgreich zu begegnen, ihnen
schadlos zu entkommen und Täter zu verfolgen. Die vor- Darüber hinaus ist der vorliegende SPD-Entwurf so
handenen Regelungen allein reichen aber nicht aus, um aufgebaut, dass die Wirksamkeit des Vertrages von den
die Verbraucher ausreichend zu schützen. Nötiges Wis- in der Norm geforderten Angaben abhängt. Es fehlt je-
sen fehlt oft. Es gibt Regelungslücken. Die christlich- doch daran, dass der Anbieter verpflichtet wäre, sein In-
liberale Koalition hat sich daher im Koalitionsvertrag ternetangebot entsprechend zu gestalten.
zum Handeln verpflichtet. Wir haben dabei von Anfang Der vorgelegte Referentenentwurf hat demgegenüber
an einen gemeinsamen europäischen Weg angestrebt. den Vorteil, dass er den Verbraucherschutzverbänden ein
Das war unser Handlungsziel, und das ist es angesichts präventives Tätigwerden ermöglicht, wenn die Seiten
der vor den Landesgrenzen nicht haltmachenden Schur- nicht entsprechend gestaltet sind, also unabhängig von
kereien noch immer. In den letzten Monaten mussten wir konkreten unwirksamen Vertragsschlüssen.
aber zunehmend erkennen, dass dieser Weg leider so
schnell nicht zu beschreiten ist, wie wir uns das wün- Die Angaben zur Entgeltlichkeit und zu den Gesamt-
schen. Zwar wollen die europäischen Partner, will entge- kosten sind im SPD-Entwurf nicht umfangreich genug.
gen den Behauptungen der Antragsteller auch EU-Kom- Der Referentenentwurf umfasst hier neben dem Gesamt-
missarin Reding mitziehen, schnell wird auf dieser preis auch etwaige Übersendungs- und Frachtkosten so-
Ebene aber wohl leider nichts passieren. wie die Darstellung der Laufzeit bei Dauerschuldverhält-
nissen.
Solange die von Ministerin Ilse Aigner in Europa an-
gestoßene, in unseren Augen absolut notwendige Voll- Der Deutsche Richterbund fuhrt in seiner zustimmen-
harmonisierung der europäischen Verbraucherschutzbe- den Stellungnahme zum Referentenentwurf zutreffend
stimmungen weitgehend nach dem Vorbild der bei uns aus, dass die neuen Regeln vor allem die Pflichten aus
bewährten Form aber auf sich warten lässt, halten wir der bestehenden Preisangabenverordnung vereinheitli-
Wort. Nun gibt es die nationale Lösung auf Zeit, der Re- chen. Schon jetzt hat eine Vielzahl von Anbietern ihren
ferentenentwurf des BMJ dazu liegt vor. Netzauftritt so gestaltet, wie es das neue Gesetz zukünf-
tig erfordert. Die Vorschrift richtet sich zielgenau gegen
Die sogenannte Button-Lösung wird kommen. Die unseriös Agierende; für seriöse Anbieter ist sie keine Be-
Anbieter sind damit verpflichtet, bei elektronisch ge- lastung. Auch das ist mir wichtig, Stichwort: Bürokratie-
schlossenen Verträgen durch einen hervorgehobenen und kosten.
deutlich gestalteten Hinweis über den Gesamtpreis einer
Daneben aber, das halte ich für genauso wichtig, ist es
(B) Ware oder Dienstleistung zu informieren. Darüber hi- (D)
naus müssen die Anbieter ihre Internetseiten so gestal- vorrangig unsere Aufgabe, die Verbraucher umfassend
ten, dass Verbraucher ihre Bestellung erst aufgeben kön- aufzuklären. Wir müssen sie bei der Informationsbe-
nen, nachdem sie durch Anklicken eines hierfür schaffung noch weitgehender unterstützen. Das ist die
einzurichtenden Buttons bestätigt haben, dass sie die eigentliche große Aufgabe der Politik.
Preisangabe zur Kenntnis genommen haben. Ein Vertrag
auf diesem elektronischen Wege kann danach nur wirk- Mechthild Heil (CDU/CSU): „Sollte bis zum Herbst
sam zustande kommen, wenn der Anbieter beide dieser nicht erkennbar sein, dass sich eine Button-Lösung auf
Voraussetzungen erfüllt hat. EU-Ebene abzeichnet, werden wir uns um eine nationale
Regelung bemühen“, so unsere Ministerin Ilse Aigner.
Diese Button-Lösung ist aber nicht die des heute zu Sie macht verlässliche Politik. Sie handelt. Sie ergreift
diskutierenden Entwurfs der SPD. Der SPD-Antrag geht die Initiative. Der Referentenentwurf liegt uns vor. Die
in die richtige Richtung, den konkreten Weg aber können SPD ist auf den Zug aufgesprungen. Schön, wir nehmen
wir aus gutem Grund nicht mitgehen. Die in der An- sie gerne mit.
tragsbegründung angesprochenen Regelungslücken lie-
gen schon nicht in der Weise vor, wie es die SPD be- Die Sachlage ist beschrieben: Kochrezepte, Horo-
hauptet. Ihre Ausführungen lassen auf die Annahme skoperstellung und ähnliche Dienste werden dem Nutzer
schließen, dass Verträge aus Internetkostenfallen immer angeboten. Oft steht ganz prominent auf der Seite „Gra-
wirksam zustande kommen würden und Verbraucher nur tis“, „Free“ oder „Kostenlos“. Und weiter unten steht
dann geschützt wären, wenn sie gegen solche vermeint- versteckt: „Kostenpflichtig“ oder: „Nur frei für die erste
lichen Verträge rechtzeitig vorgehen würden. Das ist von noch weiteren Sendungen“.
falsch.
Das Hinterhältige daran ist: Es handelt sich bei diesen
Bereits nach aktueller Rechtslage fehlt es den typi- Diensten um solche, die üblicherweise kostenlos zu be-
schen Abofallen an dem Zustandekommen eines entgelt- kommen sind. Mit dieser Erwartungshaltung übersieht
lichen Vertrages, da es an der Abgabe übereinstimmen- man leicht die geschickt versteckten Hinweise zu den
der Willenserklärungen der Parteien fehlt. Dazu gehört Kosten und der Laufzeit. Auch versierte Internetnutzer
unter anderem, dass sich beide Parteien vorher über die lassen sich so überrumpeln. Klar, diese Firmen legen es
wesentlichen Vertragsmerkmale einig geworden sind. Zu darauf an. Das ist ihre Geschäftsidee: Abkassieren, die
diesen gehören auch und insbesondere die mit dem Ver- wahren Bedingungen verschleiern, verstecken, ver-
trag verbundenen Kosten. Ein Vertrag kann demnach schweigen. Das ist kriminell. Da gibt es nichts zu be-
nicht wirksam durch einen Mausklick zustande kom- schönigen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8717

(A) Die Gesetzeslage ist klar. In den meisten dieser Fälle hinweg. Die im Ausland sitzenden Anbieter erreicht man (C)
muss der Verbraucher nicht zahlen, weil gar kein Vertrag mit einer nationalen gesetzlichen Lösung schwer. Eine
zustande gekommen ist, die AGB unwirksam sind oder europäische Lösung ist besser als ein deutscher Allein-
nicht ausdrücklich auf die AGB hingewiesen wurde. Bei gang. Deshalb unterstützen wir auch weiter die Initiative
Minderjährigen kommt sowieso nur mit Zustimmung der von Bundesministerin Aigner auf europäischer Ebene.
Eltern ein Vertrag zustande. Oft wird das Gebot von Treu Wir wünschen ihr viel Erfolg zum Vorteil aller Kunden.
und Glauben nicht eingehalten. Der Vertrag kann heute
nach geltendem Recht widerrufen werden, so lange bis Circa 276 000 Unternehmen betreiben Onlinehandel.
die Leistung vollständig erbracht ist. Es kann ein Verstoß Viele von ihnen haben ihre Seiten klar und übersichtlich
gegen die Preisangabenverordnung vorliegen. Hier kön- aufgebaut. Dies werden wir nicht mit weiteren Formvor-
nen Geldbußen bis zu 25 000 Euro verhängt werden. Zu- schriften belasten. Den wenigen aber, die kriminell un-
ständig sind die Länder. Es kann auch ein Verstoß gegen terwegs sind, Internetgeschäfte in Verruf bringen und
die Gewerbeordnung vorliegen, mit der Folge, dass so- von Kunden ungerechtfertigt Geld eintreiben, sagen wir
gar das Gewerbe untersagt werden kann. Bei Zuwider- den Kampf an. Wir unterstützen Verbraucher und Ver-
handeln können 5 000 Euro verhängt werden. Rechtsan- braucherinnen. Das macht die Bundesregierung mit ih-
wälte, die das Geld einfordern, können unter Umständen rem Referentenentwurf. Das ist christlich-liberale Poli-
haftbar gemacht werden. Auch Rechtsanwaltskosten tik.
können geltend gemacht werden. Sie merken, der Ver-
braucher ist ganz und gar nicht rechtlos! Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Heute be-
raten wir in zweiter und dritter Lesung den Gesetzent-
Das Problem ist nur: Welcher Verbraucher findet sich wurf meiner Fraktion zur Verbesserung des Verbrau-
in diesen „Abwehrmöglichkeiten“ zurecht? Dies alles cherschutzes bei Vertragsabschlüssen im Internet.
können natürlich Juristen gut beurteilen; aber der Ver- Diesen Gesetzentwurf haben wir bereits Anfang Juli
braucher ist selten Jurist. eingebracht. Unser Ziel ist es damit, der Abzocke im In-
Der Verbraucher fühlt sich hilflos, wenn erst einmal ternet schnell einen Riegel vorzuschieben. Wir alle wis-
eine Rechnung ist Haus geflattert ist und ihn ein Inkas- sen – und alle Fraktionen hier im Bundestag sind sich
sounternehmen einzuschüchtern versucht und versucht, darin einig –, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
Druck aufzubauen. Viele Verbraucher ärgern sich über Tausende von Verbraucherinnen und Verbrauchern wur-
ihre eigene Naivität genauso wie über die Aggressivität den bereits über Internetgeschäfte ausgenommen, über
und die offensichtliche Kriminalität der Anbieter – und den Tisch gezogen und übers Ohr gehauen. Monatlich
zahlen am Ende, weil sie keine andere Lösung wissen. verzeichnen die Verbraucherzentralen über 20 000 Be-
Dreistigkeit siegt über Gutgläubigkeit. Das werden wir schwerden von Menschen, die wortwörtlich in die Falle
(B) nicht länger hinnehmen. – in die Abzock- und Abofalle – getappt sind. (D)
Aber was kann der Verbraucher tun? Was können wir Wir wollen, dass ein im Internet geschlossener Ver-
tun? Jeder Verbraucher, der in eine Internetkostenfalle trag nur wirksam wird, wenn Verbraucherinnen und Ver-
getappt ist, sollte den guten Rat beherzigen, auf keinen braucher deutlich darauf hingewiesen wurden, dass ein
Fall zu zahlen, sondern zunächst sich zu informieren, Vertragsabschluss zustande kommt und Kosten entste-
seine rechtlichen Möglichkeiten kennenzulernen, Hilfe hen werden. Über einen separaten, besonders grafisch
zu suchen. Dies kann er zum Beispiel auf der Homepage hervorgehobenen Hinweis müssen die Kosten dargestellt
des Justizministeriums tun, oder er wendet sich an eine werden. Erst durch das Anklicken dieses sogenannten
der Verbraucherzentralen. Diese gehen dann gegebenen- Buttons kommt der Vertrag zustande, wird von den Ver-
falls gegen unlauteren Wettbewerb vor. Ordnungsgelder braucherinnen und Verbrauchern bestätigt, dass Einver-
bis zu 250 000 Euro sind möglich und Gewinne können ständnis mit einem Vertrag besteht. Damit wird Kosten-
abgeschöpft werden. Und er sollte vorsichtig sein und transparenz im Internet gewährleistet und es wird
Angebote im Internet gewissenhaft prüfen – wie das bei unseriösen und kriminellen Anbietern erschwert, Ver-
jedem anderen Angebot auch sinnvoll ist. braucherinnen und Verbraucher durch unklare oder ver-
steckte Preisangaben in Kostenfallen zu locken.
Aber Information und Hilfe allein reichen leider
manchmal nicht. Wie sonst wäre es möglich, dass auch Es gibt im World Wide Web viele seriöse und be-
geschäftlich gewiefte Menschen in die Abofalle tappen? währte kostenlose Angebote, seien es Rezeptdatenban-
Mit der sogenannten Button-Lösung gehen wir das Pro- ken, Routenplaner oder Gratissoftwareangebote. Höchst
blem in seinem Ursprung an. Die Lösung ist einfach, problematisch ist aber, dass es mehr und mehr dubiose
eindeutig und verbraucherfreundlich. Bevor es zu einem Anbieter gibt, die in ähnlicher Aufmachung Angebote
Vertrag kommt, muss der Anbieter einen Button, ein offerieren. Es wird der Eindruck erweckt, als sei die Sa-
übersichtlich gestaltetes Feld, bestätigen, anklicken, ab- che kostenlos, bei Nutzung des Angebotes aber schlägt
haken lassen. Dort muss er kurz und prägnant über die die Kostenfalle zu. Die Erfahrungen der Verbraucher-
Kosten und die Laufzeit des Geschäfts informiert werden. zentralen zeigen, dass sich selbst erfahrene Internetsur-
Dies hat zwei Vorteile: Erstens. Der Verbraucher macht fer auf Webseiten anmelden, um kostenlose Angebote zu
sich die Konsequenzen seines Tuns bewusst. Zweitens. nutzen oder an Gewinnspielen teilzunehmen. Tatsächlich
Wir erschweren den Versteckern, Verschweigern, Vertu- aber kommt mit der Anmeldung bereits ein Vertrag zu-
schern der wahren Vertragsbedingungen ihr Handwerk. stande.
Noch besser wäre es, wenn Europa mitziehen würde. Besonders verwerflich ist es, wenn sich solche Of-
Deutsche Verbraucher surfen auch über Landesgrenzen ferten an Kinder und Jugendliche wenden, etwa wenn
8718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) angeblich kostenlose Hausaufgabenhilfen angeboten Wir wollten der Untätigkeit der Bundesregierung und (C)
werden. Die kriminelle Energie der unseriösen Ge- ihrer ewigen Ankündigungsrhetorik nicht länger zusehen
schäftemacher kennt hier wirklich keine Grenzen. Dass und haben deshalb im Juli 2010 in unserer Fraktion den
Kosten entstehen, ist auf den ersten Blick nicht zu erken- Gesetzentwurf beschlossen, der heute zur Abstimmung
nen, sondern verbirgt sich versteckt im Kleingedruckten steht.
oder in den allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diesem
Missbrauch muss ein Riegel vorgeschoben werden. Am 14. Oktober haben wir die Bundesregierung ge-
fragt, wann die Verbraucherinnen und Verbraucher in
Mit der von uns vorgeschlagenen sogenannten But- Deutschland denn mit einem Regierungsentwurf rechnen
ton-Lösung wird diesen Praktiken die Grundlage entzo- können. Am 18. Oktober, also vier Tage nach unserer
gen, weil Verbraucherinnen und Verbraucher ein Feld Frage, hat das BMJ endlich einen ersten Entwurf veröf-
mit den Gesamtkosten noch einmal durch Anklicken be- fentlicht und in die Ressortabstimmung gegeben. War
stätigen müssen, also erkennen können, dass und welche das reiner Zufall, oder würden wir ohne unseren Gesetz-
Kosten entstehen. Warum, Frau Ministerin Leutheusser- entwurf und ohne unser beharrliches Nachfragen heute
Schnarrenberger und Frau Ministerin Aigner, haben Sie immer noch auf Aktivitäten der Bundesregierung war-
nicht schon lange gehandelt? Warum haben Sie monate- ten? Auf einen Beschluss des Bundeskabinetts warten
lang auf eine europäische Regelung vertröstet, obwohl wir leider noch immer! Und was macht eigentlich das
diese nicht vor Ende 2012 zu erwarten ist. Sie haben BMELV, außer auf Entwürfe aus dem BMJ zu warten?
wertvolle Zeit verstreichen lassen. Warum legten Sie erst Am 10. Dezember wird sich der EU-Wettbewerbsrat
am 29. Oktober einen ersten Referentenentwurf vor? mit dem Entwurf einer Verbraucherrechterichtlinie be-
Angesichts der Zahlen, die die Verbraucherverbände fassen und voraussichtlich einen Gemeinsamen Stand-
vorlegen – 20 000 Beschwerden monatlich und ein jähr- punkt verabschieden. Damit beginnt eine Stillhaltefrist,
licher Schaden im mehrstelligen Millionenbereich – ist die bis zu 18 Monate dauern kann. Wollen Sie wirklich
mir das unbegreiflich. Ich verstehe auch nicht, warum die Verbraucher noch weitere 18 Monate vertrösten?
die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der
FDP im Rechtsausschuss unserem Gesetzentwurf nicht Dass sich die Bundesregierung mit ihrer Arbeit so
zugestimmt haben, obwohl sie doch alle unseren Vor- lange Zeit lässt, kostet die Verbraucherinnen und Ver-
schlag unterstützen und das Gleiche fordern. Ich erin- braucher Millionen. Alleine in Baden-Württemberg ha-
nere und verweise hier auf die erste Lesung unseres Ge- ben sich im Jahr 2009 fast 12 000 Verbraucher bei der
setzentwurfes am 8. Juli 2010. Landesverbraucherzentrale beschwert. Weil windige Ge-
schäftemacher die Kostenfallentricks inzwischen auf
Frankreich hat die Button-Lösung. Dort sind Pro- Smartphones ausweiten, wird diese Zahl in 2010 rasant
(B) bleme mit Kostenfallen im Internet kaum noch ein weiter ansteigen. (D)
Thema. Der riesige kriminelle Abzocksumpf muss auch
in Deutschland so schnell wie möglich trockengelegt Liebe Regierungskoalition, heute haben Sie die Mög-
werden. Ich appelliere deshalb an Ihre Vernunft. Ich ap- lichkeit, den Verbraucherschutz im Internet zu stärken –
pelliere an Sie im Namen der Verbraucherinnen und Ver- oder aber wegen der Stillhaltefrist auf die lange Bank zu
braucher: Stimmen Sie hier und heute unserem Gesetz- schieben. Wenn sie dagegen stimmen, ist das nach mei-
entwurf zu! ner Auffassung Verbraucherabzocke durch Unterlassen.

Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Ob Kochrezepte, Stephan Thomae (FDP): Kostenfallen im Internet


Hausaufgabenhilfe oder Software – Hunderttausende sind ein Problem, das viele von Ihnen vielleicht aus Be-
von Verbrauchern in Deutschland sind im Internet schon richten von Freunden und Bekannten kennen. Vielleicht
in Kostenfallen getappt. Ein Vertragsschluss liegt bei ist es sogar schon dem einen oder anderen von Ihnen sel-
Kostenfallen in der Regel zwar gar nicht vor. Aber selbst ber passiert: Man surft im Internet auf der Suche nach
Juristen fällt die juristische Analyse oft schwer, ob der Informationen oder bestimmten Produkten und stößt da-
Verbraucher zahlen muss oder nicht. bei auf ein verlockendes Angebot. Oft werden zum Bei-
spiel bestimmte Softwareprogramme vermeintlich kos-
Zusätzlich wird oft mit Schufa-Einträgen und Inkas- tenfrei angeboten. Wer dann den entscheidenden Klick
sounternehmen gedroht. In der Entscheidungssituation, tätigt, um dieses Angebot anzunehmen, bekommt da-
sich jetzt erst einen Anwalt zu suchen oder doch zu zah- nach nicht selten Post von dem Unternehmen, in dem er
len, wählen Verbraucher oft das für sie einfachere: Sie aufgefordert wird zu zahlen. Es stellt sich dann nämlich
zahlen. heraus, dass das besagte Angebot eben doch nicht kos-
tenfrei war. Allerdings war der Hinweis auf entstehende
Das ist die Rechtswirklichkeit. Wir müssen die Re- Kosten nicht auf den ersten Blick erkennbar, weil er ent-
geln so formulieren, dass der Verbraucher erst gar nicht weder sehr klein oder kontrastarm oder erst viel weiter
in eine Falle tappt! Eine Button-Lösung ist für redliche unten auf der entsprechenden Internetseite zu finden
Anbieter kein Problem; deshalb sollten wir sie schnell war.
verabschieden.
Was die wenigsten aber wissen, ist, dass man die er-
„Alle wollen den Button – warum kommt er nicht?“ hobenen Forderungen der Unternehmen in aller Regel
Diese Frage stellte der Verbraucherzentrale Bundesver- getrost ignorieren kann. Denn ein rechtskräftiger Ver-
band im Juli 2010. trag, auf den eine solche Forderung gestützt werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8719

(A) könnte, ist in solchen Fällen in aller Regel nicht zustande Zudem löst der Gesetzentwurf der SPD nicht das Pro- (C)
gekommen. Ein solcher Vertrag setzt nämlich voraus, blem, dass das Internet keine Landesgrenzen kennt. Die
dass sich die Vertragsparteien über mindestens zwei beste deutsche Regelung zum Verbraucherschutz nützt
Dinge geeinigt haben: Worum geht es bei dem Vertrag, deutschen Verbrauchern nichts, wenn sie auf ausländi-
und welche Kosten kommen auf den Verbraucher zu? schen Internetseiten surfen und dort in Kostenfallen ge-
Das ist im täglichen Leben nicht anders. Wenn ich zum raten. Daher kann erfolgreicher Schutz vor Kostenfallen
Bäcker gehe, kaufe ich meine Brötchen auch erst dann, im Internet auf europäischer Ebene nur im Rahmen einer
wenn ich weiß, wie viel diese kosten sollen. europäischen Lösung erreicht werden. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion unterstützt daher ausdrücklich den von der
Das Problem bei den Unternehmen, die sich die Inter- Bundesregierung eingeschlagenen Kurs zu diesem
netabzocke zum Beruf gemacht haben, ist, dass sie ihre Thema. Denn die Bundesregierung hat das Problem
vermeintlichen Forderungen mit viel Druck einfordern. „Kostenfallen im Internet“ auch bei den Verhandlungen
Da werden Mahnschreiben von Anwälten oder Inkas- zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für
sounternehmen verschickt, mit denen die Verbraucher eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra-
zum Zahlen aufgefordert werden. Wer dann nicht über tes über Rechte der Verbraucher angesprochen. Die Bun-
das nötige juristische Sachverständnis verfügt, zahlt desregierung hat dabei für ein europaweit einheitliches
meist, allein schon um weiteren Ärger zu vermeiden. Vorgehen gegen Kostenfallen im Internet geworben.
Diesem Geschäftsmodell muss die Grundlage entzo- Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
gen werden. Der Gesetzentwurf der SPD geht zwar in äußern in Ihrem Gesetzentwurf die Sorge, dass eine Voll-
die richtige Richtung. Er ist uns Liberalen jedoch nicht harmonisierung des Verbraucherrechts auf europäischer
präzise genug. Um Kostenfallen im Internet zu vermei- Ebene immer weniger Fürsprecher finde. Daher benötigt
den, fordern wir, dass sich auf den Internetseiten der Un- man nach Ihrer Ansicht eine nationale Lösung. Diese
ternehmen ein separates Fenster öffnen muss, bevor es Sorge teile ich nicht. Denn wenn man sich vor Augen
zu einem eventuellen Vertragsschluss im Internet kom- hält, dass auch die anderen europäischen Mitgliedstaaten
men kann. In diesem gesonderten Fenster muss der Ver- mit Kostenfallen im Internet konfrontiert sind, bin ich
braucher genau über alle wesentlichen Vertragsmerk- guten Mutes, dass wir hier eine europäische Lösung fin-
male informiert werden. den können.
Dazu zählen erstens die Ware oder die Dienstleistung, Aus diesen Gründen kann die FDP-Bundestagsfrak-
die Gegenstand des Vertrages ist, zweitens sämtliche tion den Gesetzentwurf der SPD, trotz seiner guten An-
Kosten, die durch den Vertragsschluss verursacht wer- sätze, nicht unterstützen.
den, also der Preis für die Ware oder Dienstleistung so-
(B) wie gegebenenfalls anfallende Liefer- oder Versandkos- (D)
Dr. Erik Schweickert (FDP): Ein unbedarfter Klick
ten.
darf nicht weiterhin dazu führen, dass man auf einer In-
Diese beiden Punkte finden sich zwar auch im Ge- ternetseite eine Zahlungsverpflichtung eingeht. Diese
setzentwurf der SPD. Die FDP will aber noch einen Masche der Abzocker, bei der dem Verbraucher ver-
Schritt weiter: Geht es in dem Vertrag um regelmäßig steckte Kosten oder teure Abonnements untergejubelt
wiederkehrende Leistungen, also zum Beispiel um ein werden, muss ein Ende haben. Auch muss Schluss sein
Abo, wollen wir, dass der Unternehmer den Verbraucher damit, dass in unverständlichen und ellenlangen Allge-
in dem separaten Fenster drittens auch über die Mindest- meinen Geschäftsbedingungen zusätzliche Kosten ver-
laufzeit des Vertrages und vorgesehene Verlängerungen steckt werden, die für den Nutzer eines Internetangebots
informiert. Nur so kann der Verbraucher vor überra- nicht erkennbar waren.
schenden Vertragsabschlüssen wirksam geschützt wer- Der bisherige Rechtsrahmen hat nicht verhindert, dass
den. schwarze Schafe den unbedarften Verbraucher abge-
Dieses Ziel geht aus der von der SPD vorgeschlage- zockt haben. Denn so mancher Verbraucher weiß eben
nen Formulierung nicht eindeutig genug hervor. Der Ge- nicht, dass in vielen Abzockefällen gar kein wirksamer
setzentwurf der SPD sieht vor, dass ein entsprechender Vertrag zustande gekommen ist, da keine Einigung über
Vertrag nur wirksam werde, wenn der Verbraucher – ich den Preis erfolgte, insbesondere wenn vorher mit „free“
zitiere – oder „gratis“ geworben wurde. Dennoch werden die be-
trogenen Internetnutzer durch Zahlungsaufforderungen
vor Abgabe seiner Bestellung vom Unternehmer ei- und Inkassobüros so sehr bedrängt und eingeschüchtert,
nen Hinweis auf die Entgeltlichkeit und die mit dass viele am Ende doch einfach zahlen. Deshalb brau-
dem Vertrag verbundenen Gesamtkosten in deutli- chen wir einen wirksameren Schutz der Verbraucher vor
cher, gestaltungstechnisch hervorgehobener Form Abzocke im Internet. Bei Vertragsabschlüssen im Inter-
erhalten und die Kenntnisnahme dieses Hinweises net muss daher das verbindliche Bestätigungsfeld die
in einer von der Bestellung gesonderten Erklärung Regel werden. In diesem Ziel sind wir uns einig. Darum
bestätigt hat. ist die christlich-liberale Koalition auch dabei, eine ent-
sprechende Gesetzesänderung auf den Weg zu bringen.
Bei dieser Formulierung drängt sich mir der Eindruck
auf, sie sei bewusst unklar gehalten. In jedem Fall er- Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion
möglicht dieser Wortlaut Unternehmern, die von uns ge- zeigt darum zwar auch in die richtige Richtung, geht
forderte Form des Hinweises zu umgehen. aber noch nicht weit genug. Was heißt denn, dass Ge-
8720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) samtkosten „in deutlicher, gestaltungstechnisch hervor- sich uneinig. Davon zeugen unterschiedliche Urteile (C)
gehobener Form“ hervorgehoben werden sollen? Am trotz vergleichbarer Rechtslage.
Ende wird es doch so kommen, dass die schwarzen
Schafe weiterhin die entstehenden Kosten zu verbergen Es ist daher unsere Aufgabe als Politikerinnen und
Politiker, die Regelungen zu vereinfachen und zu ver-
versuchen, sei es durch eine willkürliche Platzierung des
schärfen.
Kostenhinweises, sei es durch eine kleine Schriftgröße.
Dies ist für den Verbraucher nur wenig effizient und ge- Der Gesetzentwurf der SPD ist ein Schritt in die rich-
genüber dem Jetztzustand kaum eine Verbesserung. tige Richtung: Ein Internetbutton, der die Kosten deut-
lich nennt, schafft Klarheit: Die Verbraucherinnen und
Was wir brauchen, ist eine Button-Lösung, die den Verbraucher müssen den Preis sehen und klar „Ja“ oder
Verbraucher nicht weiterhin in Kostenfallen tappen lässt. „Nein“ sagen können.
Wir brauchen ein wirkliches Bestätigungsfenster bei
Vertragsabschlüssen im Internet. Ich möchte ein separates Zugleich sagen wir: Der Button allein kann das Pro-
Fenster, das vor dem Vertragsschluss aufgeht. In diesem blem nicht lösen. Damit Unternehmen den Button nicht
Fenster sollen dann die Gesamtkosten stehen sowie ein bis zur Unkenntlichkeit kaschieren, brauchen wir ver-
Button zur Bestätigung. Durch das separate Fenster wird bindliche Vorgaben. Die Beweislast, dass ein Vertrag
der Verbraucher noch einmal viel deutlicher als bisher rechtsgemäß ist, muss bei den Unternehmen liegen.
auf den nahenden Vertragsabschluss aufmerksam ge- Haltlose Drohgebärden von Inkassounternehmen wären
macht. Durch das Klicken auf einen Bestätigungsbutton damit Vergangenheit. Gegen Anbieter, die Menschen in
muss dieser aktiv seine Zustimmung zu den Kosten ge- Kostenfallen locken, müssen wirksame Bußgelder ver-
ben. Ein Unterschieben verdeckter Kosten wird somit ef- hängt werden.
fizient vermieden.
Auch wenn der Gesetzentwurf der SPD Handlungsbe-
Effizienter Verbraucherschutz setzt auf Transparenz darf übrig lässt, stimmen wir als Linke zu. Der Internet-
und bessere Informationen. Der Gesetzentwurf der SPD button ist eine wichtige Verbesserung im Interesse von
trägt dazu aber leider nicht ausreichend dazu bei. Das Verbraucherinnen und Verbrauchern.
wundert mich nicht, denn sie hat es auch in elf Jahren Auch die Bundesregierung sollte sich ein Beispiel an
nicht fertiggebracht, eine vernünftige Lösung bei Ver- uns nehmen. Stimmen Sie ebenfalls zu! Noch im Koali-
tragsabschlüssen im Internet vorzulegen. Darum können tionsvertrag haben Sie sich für den Internetbutton ausge-
wir ihrem Antrag in der vorliegenden Form nicht zustim- sprochen. Wenn Sie heute hier zustimmen, könnte die
men. Regelung in Kraft treten, und Sie hätten ihr Koalitions-
versprechen sofort erfüllt.
(B) Caren Lay (DIE LINKE): Wenn Sie sich die Internet- (D)
seite www.routenplaner-service.de anschauen, wird Ihnen Packen Sie das Problem endlich an, und lassen Sie Ih-
– scheinbar kostenfrei – ein Routenplaner angeboten. ren Referentenentwurf nicht noch ewige Zeitschleifen
Doch bevor die gewünschte Route berechnet wird, müs- durch die Lobbyverbände drehen. Ich frage mich ohne-
sen Sie sich mit Ihren persönlichen Daten anmelden. Mit hin, warum Sie derart lang dafür gebraucht haben. Das
Ihrem Klick auf das Feld „Jetzt anmelden“ schließen Sie Problem ist längst bekannt und verursacht jährlich mehr-
dann ein Abo ab. Kosten: 96 Euro pro Jahr. Da sind Sie stellige Millionenschäden – zulasten von Verbraucherin-
schnell 200 Euro los, ehe Sie sich versehen haben. Das nen und Verbrauchern.
Abo gilt gleich für zwei Jahre. Kein Mensch kann die ganzen Ankündigungen der
Bundesregierung noch ernst nehmen. Fakt ist: Sie haben
Das ist nur ein Beispiel von vielen. Internetabzocke verbraucherpolitisch in dieser Legislatur noch nichts auf
hat viele Gesichter, um Tag für Tag von neuem Men- die Reihe gekriegt. Das muss sich endlich ändern.
schen in Kostenfallen zu locken. Mal wird mit Kochre-
zepten, Hausaufgabenhilfe oder Psychotests geködert.
Mal versprechen die Anbieter Gewinne, zum Beispiel Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Handys und Digitalkameras, um gezielt von den Kosten Verbraucherschutz ist ein Thema, das kontinuierlich den
abzulenken. wirtschaftlichen Veränderungen angepasst werden muss.
Wenn eine wesentliche Weiterentwicklung im Konsum-
Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen schätzt, bereich stattfindet, dann betrifft das viele Menschen. In
dass bundesweit monatlich 22 000 Beschwerden einge- einem solchen Fall müssen wir hier im Parlament darauf
hen. Das ist nur die Spitze. Hinzu kommt die hohe Zahl achten, dass sich diese Veränderung nicht zum Nachteil
an Menschen, denen eine Beschwerde zu aufwendig ist der Verbraucherinnen und Verbraucher entwickelt. Im
oder die unbemerkt auf Tricks hereinfallen. Bereich der Vertragsabschlüsse im Internet hat sich in
den letzten Jahren eine Vielzahl von Ungereimtheiten,
Grund für die leichte Abzocke im Internet ist die auch verbunden mit juristischen Nachspielen, einge-
mangelnde Preistransparenz. Juristisch scheint das Pro- stellt. Die Rückmeldungen der Verbraucherzentralen be-
blem geklärt. Die Kosten müssen schon länger klar an- legen das deutlich. Auch wir alle wissen: Internetkäufe
gegeben werden. Entscheidend ist aber, dass es in der haben ihre Risiken.
Praxis nicht funktioniert: Erstens. Die Unternehmen halten
sich nicht an die Regelungen. Zweitens. Die Verbrauche- Ich rede dabei nicht nur davon, dass ein älterer Herr in
rinnen und Verbraucher blicken bei den komplizierten Rostock, der soeben einen VHS-Internetkurs belegt hat,
Seiten häufig nicht durch. Drittens. Die Gerichte sind versehentlich ein Zweijahresabo von „Die Frau im Spie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8721

(A) gel“ bestellt hat oder davon, dass eine 16-Jährige in Bad Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Re- (C)
Teinach beim nächtlichen Surfen 130 Musiktitel down- formen und Novellen sind die Frucht mühsamer Arbeit
geloadet hat. Nein, es geht nicht nur um Einzelfälle, son- des Entgegenkommens und des schrittweise Vorange-
dern um ein ernstes Massenphänomen, übrigens mit der hens. Das Thema Lebenspartnerschaften ist hierfür ein
Folge, dass es Tausende gerichtsanhängige Streitigkeiten gutes Beispiel. Mit dem von der Bundesregierung einge-
gibt, mit entsprechenden Belastungen in der Justiz. brachten Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung ehebe-
zogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Le-
Tausende Menschen kaufen im Internet Waren und benspartnerschaften wollen wir das Dienstrecht wieder
Dienstleistungen ein, die sie eigentlich nicht wollen oder ein Stück zeitgemäßer gestalten. Wir werden also insbe-
nicht brauchen. Hier stimmt etwas an der Struktur nicht, sondere Lebenspartnerschaften im Bundesbesoldungs-
und deshalb müssen wir gesetzgeberisch tätig werden. gesetz in die Regelungen zum Familienzuschlag und zur
Was können wir tun? Wir können uns an den seriösen Auslandsbesoldung integrieren. Wir werden Lebenspart-
Anbietern im Internet orientieren. Was machen die seriö- ner nun auch im Beamtenversorgungsgesetz des Bundes
sen Anbieter im Internet? Sie vermeiden, dass ein einzi- sowie im Soldatenversorgungsgesetz bei der Hinterblie-
ger versehentlicher „Klick zu viel“ schon einen Kauf benenversorgung einbeziehen. Wir werden Lebenspart-
auflöst. Sie stellen Angebot und Preis transparent und ner im Bundesbeamtengesetz bei der Beihilfe berück-
offenkundig dar. Sie unterscheiden zwischen kosten- sichtigen, und im Gesetz über den Auswärtigen Dienst
freien und kostenpflichtigen Produkten, und sie stellen werden wir die Fürsorge auf den Lebenspartner der ent-
sich darauf ein, dass Menschen unterschiedlich kompe- sandten Beamtin oder des Beamten ausdehnen. Dies
tent in der Nutzung des Internets sind. Diese Firmen be- alles soll rückwirkend zum 1. Januar 2009 eingeführt
raten so, wie es früher in guten Geschäften auch der Fall werden. Auf der Ebene von Rechtsverordnungen werden
war. Wir Grünen wollen den Internethandel nicht unter- wir dies in separaten Vorschriften umsetzen, zum Bei-
binden. Seriöse Anbieter sollen diese Vertriebsform nut- spiel in der Auslandszuschlagsverordnung oder in der
zen können. Aber der Verbraucher und die Verbrauche- Bundesbeihilfeverordnung.
rin müssen vor unnötigen Kaufrisiken geschützt werden.
Wir wollen im Internet eine Good Practice einführen und In diversen Bundesländen, zum Beispiel in Hessen,
schwarzen Schafen keine Plattform bieten. Dafür setzen Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wurden bereits
wir Grüne uns ein. ehebezogene Regelungen auf verpartnerte Beamte über-
tragen. Ähnliche Anpassungen werden auch in Bayern
Wir alle wissen: Im Internet ist die Zeit zwischen op- zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Wir haben uns daher
tischem Reiz und Kaufklick extrem kurz. Im Lebensmit- im Gegensatz zu anderen Ländern, zum Beispiel Nord-
telgeschäft zum Beispiel ist das anders. Da kann ich rhein-Westfalen, dazu durchgerungen, die Umsetzung
(B) auch eine Ananasdose einmal in die Hand nehmen, jetzt voranzutreiben und keinesfalls so lange zu warten, (D)
schauen, wie viel Zucker darin ist und die Dose dann bei bis uns ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtshofs
Nichtgefallen wieder in das Regal stellen. Das muss oder des Europäischen Gerichtshofs dazu zwingt.
auch im Internet möglich sein. Wir sind deshalb der Mei-
nung, dass die sogenannte Button-Lösung für Vertrags- Parlamentarier haben sich mit den Entwicklungen im
abschlüsse im Internet einen richtigen Schritt darstellt. Meinungsbild unserer Gesellschaft proaktiv auseinan-
Wenn der Button kommt, dann sind dem Nutzer und der derzusetzen. Wer dies beim Thema Lebenspartnerschaf-
Nutzerin das Produkt und der Gesamtpreis klar. Er und ten macht, erkennt sehr schnell, dass sie längst Teil der
sie wissen dann: Jetzt wird es ernst; jetzt tippt der Ver- Realität unserer modernen Gesellschaft geworden sind,
käufer die Rechnung ein; jetzt kostet es cash. Die But- einer Gesellschaft, die sich an den individuellen Lebens-
ton-Lösung ist ein Verbraucherschutzinstrument, für das entscheidungen der Menschen ausrichtet. Konsequenter-
wir Grüne uns seit langem einsetzen. In diesem Sinne weise müssen wir deshalb auch Regelungen zu Lebens-
unterstützen wir den Gesetzentwurf der SPD zur Verbes- partnerschaften in das öffentliche Dienstrecht einfließen
serung des Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüssen lassen. Wie unchristlich wäre es für einen Staat, trau-
im Internet ernde Hinterbliebene einer Lebenspartnerschaft nicht zu
versorgen. Dieser Lebenspartner hat sich doch auch für
die Sicherheit und das Wohl unseres Staates eingesetzt.
Anlage 9 Mit unserem christlich-abendländischen Verständnis von
Ehe ist das für mich gleichwohl vereinbar. Auch der Vor-
Zu Protokoll gegebene Reden sitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof
Robert Zollitsch, hat sich am 18. Februar 2008 mit ent-
zur Beratung: sprechenden staatlichen Regelungen zur Lebenspartner-
– Entwurf eines Gesetzes zur Übertragung schaft einverstanden erklärt, soweit sie keine Gleichstel-
ehebezogener Regelungen im öffentlichen lung zur Ehe darstellen. Darauf haben wir bei diesem
Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften Gesetzentwurf geachtet, sodass uns zwei Dinge gelun-
gen sind:
– Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung
der eingetragenen Lebenspartnerschaften Wir übertragen im Dienstrecht die versorgungs- und
mit der Ehe im Bundesbeamtengesetz und in besoldungsrechtlichen ehebezogenen Regelungen auf
weiteren Gesetzen Lebenspartnerschaften. Aber vor allem setzen wir das
Rechtsinstitut der Ehe nicht mit anderen Formen
(Tagesordnungspunkt 17 a und b) menschlichen Zusammenlebens gleich. Die CDU/CSU-
8722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Fraktion wird also auch weiterhin die Besonderheit von die Hinterbliebenenversorgung. Das ist ein weiterer not- (C)
Ehe und Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft wendiger Schritt auf dem Weg zu unserem Ziel: der voll-
schützen und verteidigen. Deshalb lehnen wir die voll- ständigen Gleichstellung homosexueller Partnerschaf-
ständige Gleichstellung von Lebenspartnerschaften, wie ten. Dieses Ziel haben wir noch nicht erreicht, aber jeder
von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag gefordert, Schritt in die richtige Richtung ist gut.
aus Überzeugung ab.
Ich freue mich, dass die Union, die sich seit nunmehr
Wir lehnen den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen fast einem Jahrzehnt dagegen sträubt, Lebenspartner-
aber auch aus rechtlichen Gründen ab. Das Bundesver- schaften als gleichberechtigt anzuerkennen, sich endlich
fassungsgericht hat im Juli 2009 festgestellt, dass es dem zu diesem Schritt hat drängen lassen. Gratulation an die
Gesetzgeber freisteht, die Ehe gegenüber anderen Bezie- Kollegen und Kolleginnen von der FDP: Das ist uns in
hungsformen zu begünstigen. Hierfür bedarf es gemäß den letzten beiden Legislaturperioden nicht gelungen,
dem Urteil jenseits des Schutzes der Ehe aus Art. 6 weder im Bundesrat noch in der Großen Koalition.
Abs. 1 des Grundgesetzes eines hinreichend gewichtigen
Sachgrundes, der die Benachteiligung anderer Lebens- Ich erinnere mich noch gut an die Gespräche mit dem
formen rechtfertigt. Dieser gewichtige Sachgrund liegt CDU-geführten Bundesinnenministerium im Zuge der
für uns auf der Hand. Neuordnung des Dienstrechts, an denen ich als Gewerk-
schaftsvertreterin beteiligt war. Die Übertragung der
Meine sehr verehrten Damen und Herren von Bünd- eben genannten Regelungen war von der SPD als Teil
nis 90/Die Grünen, wir sind uns sicher einig, dass die der Dienstrechtsreform vorgesehen. Genau hierhin hätte
Vorgaben der Natur eine Richtschnur für die Logik unse- die Reform gehört. Aber Herr Schäuble hat sich mit
res Lebens sein sollten. Dann aber ist die Heterosexuali- Händen und Füßen dagegen gewehrt. Da war nichts zu
tät allen Lebens die allgemeine Normvorgabe für die machen.
Weitergabe des Lebens, wie sie sich in Jahrmillionen
entwickelt hat. So gibt es natürlicherweise bezüglich der Heute sieht die Lage allerdings anders aus. Mittler-
Funktion der Weitergabe des Lebens bereits keine weile haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als
Gleichstellung einer heterosexuellen Ehe mit einer auch – gerade vor fünf Wochen – das Bundesverwal-
homosexuellen Partnerschaft. Es handelt sich um voll- tungsgericht bestätigt, dass die Benachteiligung von Le-
kommen verschiedene Sachgegebenheiten. Dass es Le- benspartnerschaften in diesen Punkten diskriminierend
benspartnerschaften gibt, wird damit nicht bestritten. ist. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Urteile die
Aus ihnen kann aber nie Elternschaft entstehen. Deshalb Einsicht der Bundesregierung befördert haben.
werden wir Ehe und Familie nicht relativieren, indem
(B) wir andere Formen menschlichen Zusammenlebens in Dabei sollte der Fall so sonnenklar sein: Die Familie (D)
gleicher Weise ordnen. Die gesetzliche Anerkennung als ist staatlich begünstigt, und zwar deshalb, weil in ihr
gleichgeschlechtliche Ehe ist und bleibt für uns nicht Menschen auf Dauer Verantwortung füreinander über-
verfassungsgemäß. Ich verweise auf den Beschluss des nehmen. Sie stehen füreinander ein und leisten gegensei-
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Oktober 1993. tige Hilfe und Unterstützung in Situationen, in denen Al-
leinstehende gegebenenfalls auf Hilfe und Unterstützung
Es ist erklärtes Ziel der christlich-liberalen Koalition, des Staates angewiesen wären. Der Staat hat also hand-
den öffentlichen Dienst zukunftsfähig zu gestalten. Die feste Vorteile von einer solchen Verbindung. Ob es sich
hier eingebrachten Regelungen sind ein Mosaikstein, um dabei um zwei Personen unterschiedlichen oder gleichen
die Attraktivität der Bundesverwaltung als öffentlicher Geschlechts handelt, ob in Familien Kinder leben oder
Arbeitgeber wieder ein Stück voranzubringen. Wir ge- nicht, ist dabei unerheblich. Insofern ist es logisch, dass
währleisten mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregie-
die Lebenspartnerschaft genauso wie die Ehe begünstigt
rung unseren politischen Auftrag, Ehe und Familie be-
werden muss. Wird sie benachteiligt, stellt das eine Dis-
sonders zu schützen, erfüllen aber gleichzeitig die
kriminierung der Lebenspartnerschaft dar. Spätestens
Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern, im Dienst-
mit der Antidiskriminierungsrichtlinie von 2003 sollte
recht bestimmte ehebezogene Regelungen auf Lebens-
eigentlich erreicht werden, dass die Gleichstellung in
partnerschaften im Einklang mit unserer Verfassung zu
Recht und Gesetz umgewandelt werden muss. Schon da-
übertragen. Deshalb lehnen wir den Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen ab und stimmen dem Antrag der Bun- mals haben die Gewerkschaften Verdi und dbb Beamten-
desregierung zu. bund und Tarifunion gefordert, dass Lebenspartnerschaf-
ten von Beschäftigten im öffentlichen Dienst und von
Beamten und Beamtinnen der Ehe gleichgestellt werden.
Kirsten Lühmann (SPD): Im Jahr 2001 hat die
SPD-geführte Bundesregierung mit ihrem grünen Koali- Selbst die unionsgeführten Bundesländer, die die so-
tionspartner das Lebenspartnerschaftsgesetz verwirk- genannte Homo-Ehe anfangs noch mit einer Verfas-
licht. Damit hat sie einen Prozess in Gang gesetzt, im sungsklage verhindern wollten, haben mittlerweile ent-
Zuge dessen gleichgeschlechtliche Paare mit Eheleuten sprechende Regelungen für den öffentlichen Dienst ge-
gleichgesetzt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzent- troffen, mit einer Ausnahme: Die Union in Baden-
wurf der Bundesregierung sollen nun weitere ehebezo- Württemberg trägt immer noch unbeirrt die Fahne der
gene Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Ewiggestrigen vor sich her. Vielleicht sollte man ihr
Lebenspartnerschaften übertragen werden: der Ehegat- demnächst einmal etwas Zeit geben, ihre Positionen in
tenzuschlag, die Auslandsbesoldung, die Beihilfe und Ruhe zu überdenken und sich neu zu sortieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8723

(A) Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft im öffent- Dr. Stefan Ruppert (FDP): Mit dem vorliegenden (C)
lichen Dienst ist ein Schritt auf dem richtigen Weg; aber Gesetzentwurf der Bundesregierung geht die christlich-
es müssen noch weitere Schritte gegangen werden: Le- liberale Koalition einen entscheidenden Schritt in Rich-
benspartner und Eheleute unterliegen zwar den gleichen tung Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartner-
Pflichten, genießen aber nicht die gleichen Rechte. Le- schaften. Wir haben damit einen wichtigen Punkt aus dem
benspartner sind ebenso wie Eheleute im Falle einer Koalitionsvertrag umgesetzt. Mit dem „Gesetz über die
Scheidung unterhaltspflichtig, können aber das Ehegat- eingetragenen Lebenspartnerschaften“, Lebenspartner-
tensplitting nicht in Anspruch nehmen. Sie dürfen ein schaftsgesetz, vom 16. Februar 2001 wurde für gleichge-
Kind adoptieren, das der Partner oder die Partnerin aus schlechtliche Paare erstmals die Möglichkeit geschaffen,
einer vorherigen Beziehung mit in die Lebensgemein- eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen. Die
schaft bringt, sind aber nicht berechtigt, als Paar ein eingetragene Lebenspartnerschaft ist ein familienrechtli-
fremdes Kind zu adoptieren. Warum dürfen sie das ches Institut für eine auf Dauer angelegte gleichge-
nicht? schlechtliche Paarbindung. Dieser Definition folgend
müssen nun eingetragene Lebenspartnerschaften den
Verfechter traditioneller Geschlechterstereotypen be- Ehen gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung bezieht
fürchten den Untergang des Abendlandes, wenn Kinder sich nicht nur auf gleiche Pflichten, sondern ermöglicht
von gleichgeschlechtlichen Paaren aufgezogen werden. auch gleiche Rechte.
Dabei könnten sich selbst die größten Bedenkenträger
vom Gegenteil überzeugen, wenn sie einfach nur einmal Eine der Grundlagen für die Gleichstellung von ein-
die Realität in unserem Land anschauen. Die Universität getragenen Lebenspartnerschaften im Beamtenrecht ist
Bamberg hat in einer repräsentativen Studie empirische die Richtlinie 2000/78/EG der EU. Diese wurde am
Daten über sogenannte Regenbogenfamilien gesammelt 27. November 2000 vom Rat verabschiedet. Ihr Ziel ist
und ausgewertet. Ergebnis: Persönlichkeitsentwicklung es, einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung
sowie schulische und berufliche Entwicklung der betrof- der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf zu
fenen Kinder verlaufen positiv. Sie entwickeln sich ge- schaffen. Die Umsetzung der Richtlinie in nationales
nauso gut wie Kinder aus heterosexuellen Beziehungen. Recht hätte bis zum 2. Dezember 2003 erfolgen sollen.
Das Adoptionsrecht ist ein weiteres Recht, das den Le- Von 2000 bis 2003 war die rot-grüne Bundesregierung in
benspartnerschaften gewährt werden muss. der Verantwortung. Geschehen ist in dieser Zeit nichts.
Deutschland hat die Richtlinie schließlich durch das
Wir fordern die völlige Gleichstellung der Lebens- „Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur
partnerschaft mit der Ehe in allen Bereichen. Wir kämp- Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung“
fen weiter für dieses Ziel und haben auch in dieser Le- vom 4. August 2006 umgesetzt.
gislaturperiode wieder einen entsprechenden Antrag (D)
(B)
eingebracht. Ich appelliere an Sie, liebe Kollegen und Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun ebenfalls
Kolleginnen von der Union, sich den aktuellen gesell- einen „Gesetzentwurf zur Gleichstellung von eingetrage-
schaftspolitischen Erkenntnissen nicht zu verschließen nen Lebenspartnerschaften im Bundesbeamtengesetz und
und sich unserer Forderung anzuschließen. Wenn Sie so in weiteren Gesetzen“ vorgelegt. Es wäre besser gewe-
nicht über Ihren Schatten springen können, sondern nur sen, die Grünen hätten schon während ihrer Zeit an der
getrieben durch den Reformmotor Bundesverfassungs- Regierung dafür gesorgt, dass diese Gleichstellung im
gericht, dann reagieren Sie eben auf die Beschlüsse des Beamtenrecht vorangetrieben wird. Wir müssen nun aus-
Bundesverfassungsgerichts. Das oberste Gericht hat be- baden, was sie versäumt haben. Die christlich-liberale
reits 2002 festgestellt, dass die Verfassung die rechtliche Bundesregierung ist wieder einmal der Reparaturbetrieb
Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft zulässt. für die Versäumnisse während der rot-grünen Regie-
Es liegt in der Hand des Gesetzgebers, den rechtlichen rungszeit. Da wir aber inhaltlich dieselben Ziele verfol-
Unterschied zu beseitigen. Das Verfassungsgericht hat in gen, sollten wir nun zusammenarbeiten. Der vorliegende
den folgenden Jahren in einer ganzen Serie von Urteilen Gesetzentwurf der Bundesregierung ist sehr weitgehend
immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Benachtei- und wurde auch von Verbänden explizit gelobt. Eine voll-
ligung der Lebenspartnerschaft nicht gerechtfertigt wer- ständige Gleichstellung erfolgt insbesondere durch fol-
den kann durch den Verweis auf das Schutzgebot der gende Maßnahmen:
Ehe.
Im Bundesbesoldungsgesetz werden die ehebezoge-
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union, Sie nen Regelungen zum Familienzuschlag und zur Aus-
haben in Ihren Koalitionsvertrag mit der FDP geschrie- landsbesoldung auf Lebenspartnerschaften erstreckt. Im
ben: „Wir werden gleichheitswidrige Benachteiligungen Bundesbeamtengesetz werden Lebenspartner in die Vor-
im Steuerrecht abbauen und insbesondere die Entschei- schrift über die Beihilfe aufgenommen. Im Beamtenver-
dungen des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstel- sorgungsgesetz und im Soldatenversorgungsgesetz werden
lung von Lebenspartnern mit Ehegatten umsetzen.“ Also Lebenspartner in die Regelungen zur Hinterbliebenen-
nehmen Sie das Bundesverfassungsgericht beim Wort versorgung einbezogen. Im Gesetz über den Auswärtigen
und setzen Sie die Gleichstellung der Lebenspartner- Dienst werden die Vorschriften über die Fürsorge des
schaft um. Viele Länder in Europa haben dies bereits ge- Auswärtigen Amtes für die Ehegatten der ins Ausland
tan, und das ist gut so, damit die letzten Schranken fallen entsandten Beamten auf Lebenspartner ausgedehnt. Mit
und wir ein klares Signal setzen, dass Schwule und Les- dieser umfassenden Übertragung von ehebezogenen Re-
ben nicht nur toleriert, sondern auch als gleichwertig ak- gelungen auf eingetragene Lebenspartnerschaften im öf-
zeptiert werden. fentlichen Dienstrecht hat die christlich-liberale Bundes-
8724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) regierung einen wichtigen Schritt im Kampf gegen die tionsvertrages. Dort haben wir vereinbart, dass wir auch (C)
Benachteiligung von gleichgeschlechtlichen Lebenspart- im steuerlichen Bereich gleichheitswidrige Benachteili-
nerschaften getan. gungen eingetragener Lebenspartner abbauen werden.

Michael Kauch (FDP): In diesen Tagen setzt die Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Im Koalitionsver-
FDP-Fraktion im Bundestag weitere Projekte für die trag verpflichtete sich die Regierungskoalition dazu,
Rechte von Lesben und Schwulen um. Wir lösen unsere „gleichheitswidrige Benachteiligungen im Steuerrecht
Wahlversprechen ein und arbeiten Punkt für Punkt den abzubauen und insbesondere die Entscheidungen des
Koalitionsvertrag ab. Bereits jetzt – nach einem Jahr Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung von Le-
christlich-liberaler Koalition – hat die FDP in der Koali- benspartnern mit Ehegatten umzusetzen“. Diese Ver-
tion mit der Union mehr erreicht als die SPD in den letz- pflichtung geschah nicht aus freien Stücken; sie war eine
ten vier Jahren. Folge der Grundsatzentscheidung des Bundesverfas-
In der letzten Woche wurde mit den Stimmen von sungsgerichts vom 7. Juli 2009 zur Ungleichbehandlung
FDP und Union das Jahressteuergesetz verabschiedet. der eingetragenen Lebenspartnerschaft gegenüber der
Darin enthalten ist die Gleichstellung eingetragener Le- Ehe. Das Gericht bezog sich dabei auf den Gleichheits-
benspartner mit Ehegatten bei Grunderwerbsteuer und grundsatz des Grundgesetzes in Art. 3 Abs. 1 und
Erbschaftsteuer. Darüber hinaus hat der Bundestag am machte deutlich, dass eine Ungleichbehandlung der Le-
vergangenen Freitag den Bundeshaushalt 2011 verab- benspartnerschaft nicht durch den grundgesetzlichen
schiedet. Darin enthalten sind 10 bis 15 Millionen Euro Schutz von Ehe und Familie legitimiert ist. Darüber hi-
für die Magnus-Hirschfeld-Stiftung des Bundes. Diese naus müsse „ein hinreichend gewichtiger Differenzie-
soll durch Bildung und Forschung der Diskriminierung rungsgrund“ vorliegen, um Lebenspartnerschaften ge-
Homosexueller in Deutschland entgegenwirken. Zwei genüber der Ehe schlechterzustellen. Dieser Grund liegt
Anläufe hatte Rot-Grün dazu seit 2000 gemacht – sie ha- im öffentlichen Dienstrecht ganz offensichtlich nicht
ben es nicht erreicht, was wir nun schaffen. vor.

Nun also folgt die erste Lesung des Gesetzes zur Sie haben für den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf über
Gleichstellung von Lebenspartnern im Beamten-, Solda- ein Jahr benötigt. Jetzt sollen erst das Bundesbesoldungs-
ten- und Richterrecht sowie im Entwicklungshelfergesetz. gesetz, das Bundesbeamtengesetz und das Bundesversor-
Bereits vor Veröffentlichung der einschlägigen Gerichts- gungsgesetz so geändert werden, dass Lebenspartnerschaf-
urteile hatte die FDP in den Koalitionsverhandlungen ten gleichgestellt sind. Dies begrüße ich ausdrücklich.
dieses Projekt gegenüber der Union durchgesetzt. Doch der Gesetzentwurf ist halbherzig. Sie stellen ledig-
(B) lich rückwirkend zum 1. Januar 2009 gleich. Das Bundes- (D)
Das lassen wir uns auch nicht von den neidischen verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Gleich-
Grünen kleinreden. Denn die Grünen haben es in der rot- behandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften
grünen Koalition nicht geschafft, das zu realisieren. zur Ehe bei der „Erbschafts- und Schenkungsteuer“ eine
Beim Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz 2005 hatte rückwirkende Gleichstellung seit Inkrafttreten des Geset-
SPD-Innenminister Otto Schily noch erfolgreich Wider- zes im Jahr 2001 angemahnt. Dies sollte auch für den heu-
stand gegen die Reform geleistet. tigen Gesetzentwurf gelten.
Nun also beschließen wir, was längst überfällig war. Es gibt nicht ein bisschen Gleichbehandlung. Wir
Während gesetzliche Rentenversicherte beim Tod des sollten konsequent sein und rückwirkend seit Inkrafttre-
Lebenspartners seit 2005 eine Hinterbliebenenrente er- ten des Lebenspartnerschaftsgesetzes gleichstellen. Die
halten, ging bisher der Lebenspartner eines Bundesbe- Linke wird einen dementsprechenden Änderungsantrag
amten komplett leer aus. Eine himmelschreiende Unge- in den Bundestag einbringen.
rechtigkeit – und eine soziale Härte, die der Dienstherr
verursacht hatte, der doch eine besondere Fürsorge- Die rot-rote Berliner Landesregierung hat im Jahr
pflicht hat. Außerdem erfolgt nun bei Besoldung und 2008 die Diskriminierung von Lesben und Schwulen im
Beihilfe ebenfalls eine Gleichstellung mit verheirateten Beamtenrecht des Landes vollständig beendet, und sie
Kollegen. Das ist nur recht und billig, denn bei den war konsequent. Rot-Rot hat wenigstens rückwirkend
Pflichten sind die eingetragenen Lebenspartner ja schon zum Jahr 2003 gleichgestellt. Das Land Berlin bezog
längst mit Ehegatten gleichgestellt. sich mit dem Datum der Rückwirkung auf eine EU-
Wir Liberale meinen: Wer gleiche Pflichten hat, muss Richtlinie, in der Deutschland in diesem Jahr bindend
auch gleiche Rechte bekommen. Mit diesem Gesetzent- zur Gleichstellung aufgefordert wurde. Berlin hat damit
wurf wird ein weiterer Schritt zu diesem Prinzip ge- bereits vor dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungs-
macht. gerichts einen deutlichen Schritt zur Gleichstellung be-
schritten, sodass Lesben und Schwule gleichgestellt
Doch wir sind bei der Gleichstellung noch nicht am sind. Berlin war Vorreiter. Später folgten die Bundeslän-
Ende. Bei der Einkommensteuer und beim Adoptions- der Bremen, Hamburg, Brandenburg, Mecklenburg-Vor-
recht werden eingetragene Lebenspartner noch immer pommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen, Schles-
benachteiligt. Auch diese Diskriminierung muss ein wig-Holstein und Sachsen-Anhalt und sogar Bayern,
Ende haben. Daran werden wir im nächsten Jahr weiter- doch zumeist mit einer geringeren Rückwirkung und
arbeiten. Gerade bei der Einkommensteuer erinnern wir auch mit einigen Einschränkungen. 2001 war Deutsch-
den Koalitionspartner an die Bestimmungen des Koali- land mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz eines der fort-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8725

(A) schrittlichsten europäischen Länder in Bezug auf die Politisch ist Ihr Vorgehen ohnehin schäbig. Die FDP- (C)
Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Heute sind Fraktion und ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender
wir es nicht mehr. Mittlerweile haben viele EU-Staaten Kauch kündigt „Wochen der schwul-lesbischen Gleich-
die Gleichstellung viel konsequenter vollzogen. Wir stellung“ an, um vermeintliche Wohltaten zu feiern. Die
müssen jetzt noch die Gleichstellung im Einkommen- Wahrheit ist: Die schwarz-gelbe Koalition diskriminiert,
steuerrecht und das gemeinsame Adoptionsrecht für les- wo sie nur kann. Sie von der FDP haben gegen die Ein-
bische und schwule Paare angehen. führung der Lebenspartnerschaft gestimmt und Bayern,
Sachsen und Thüringen haben dagegen in Karlsruhe ge-
Die Gleichstellung von Lesben und Schwulen lässt klagt. Sie haben im Bundesrat über Jahre verhindert,
sich gesellschaftlich nicht mehr aufhalten. Doch die dass die Gleichstellung im Steuer- und Beamtenrecht
Linke möchte sie politisch konsequent vorantreiben. kommt. Es war Ihre schwarz-gelbe Politik, die Lebens-
Deshalb fordert die Linke, statt der umständlichen partnerschaft systematisch schlechterzustellen als die
Gleichstellung der Rechtsinstitute Ehe und Lebenspart- Ehe. Es ist Ihre Landesregierung in Baden-Württemberg,
nerschaft die Ehe vollständig für Lesben und Schwule zu die bis heute den lesbischen und schwulen Paaren sogar
öffnen. Wir benötigen kein gesondertes Rechtsinstitut das Standesamt verweigert.
für Lesben und Schwulen. Schweden, Norwegen, Spa-
nien, Island und Portugal haben diesen Weg beschritten. Peinlich ist auch Ihr Vorgehen bei der Gleichstellung
Die Ehe für alle Menschen zu öffnen, ist ein wirklich der Einkommensteuer. Wieder kündigt die FDP an, dass
konsequenter Weg. sie auf das Urteil des Verfassungsgerichts warten möchte.
Dabei weiß jeder, der lesen kann, wie das Gericht ent-
scheiden wird. Die Grundsätze sind doch längst klar: Ehe
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und eingetragene Lebenspartnerschaft sind juristisch ver-
Die Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, gleichbar, weil sie „eine auf Dauer übernommene, auch
der endlich die verfassungswidrige Ungleichbehandlung rechtlich verbindliche Verantwortung für den Partner“
der eingetragenen Lebenspartner gegenüber Ehepartnern begründen. Auch für Herrn Finanzminister Schäuble hat
im Beamtenrecht beendet. Sie hat sich damit sehr viel das Gericht die passende Antwort: „Ein Grund für die Un-
Zeit gelassen; denn das Bundesverfassungsgericht hat terscheidung von Ehe und eingetragener Lebenspartner-
diese Gleichstellung bereits in seinem Entscheid vom schaft kann nicht darin gesehen werden, dass typischer-
7. Juli 2009 angemahnt. Die Fraktion Bündnis 90/Die weise bei Eheleuten aufgrund von Kindererziehung ein
Grünen hat deswegen bereits im vergangenen Frühjahr anderer Versorgungsbedarf bestünde als bei Lebenspart-
einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, den wir nern. Nicht in jeder Ehe gibt es Kinder. Es ist auch nicht
heute ebenfalls zur Beratung einbringen. jede Ehe auf Kinder ausgerichtet.“ Schließlich stellte das
(B) Gericht fest: „In zahlreichen eingetragenen Lebenspart- (D)
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio- nerschaften leben Kinder.“ Herr Schäuble, sehen Sie es
nen: Obwohl Sie sich mit der Ausarbeitung dieses Ge- endlich ein: Ihre Ideologie des Abstandgebotes ist vom
setzentwurfes übermäßig viel Zeit gelassen haben, sind Verfassungsgericht zertrümmert worden!
Sie an mindestens einer Stelle erneut hinter den Vorgaben
der Gerichte zurückgeblieben. Das Verwaltungsgericht Am 9. November 2010 hat das Finanzgericht in Nie-
Wiesbaden hat Ihnen am 8. Oktober dieses Jahres klipp dersachsen geurteilt, dass die Benachteiligung beim Ein-
und klar gesagt, dass Sie rechtlich verpflichtet sind, min- kommensteuerrecht verfassungswidrig ist. Das Gericht
destens bis zum 2. Dezember 2003 rückwirkend gleich- anerkennt ausdrücklich, dass die eben zitierten Grund-
zustellen. Dies ist der Tag, an dem Deutschland die Anti- sätze und Ausführungen auf die Ungleichbehandlung im
diskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union Einkommensteuerrecht übertragbar sind. Sie sehen also:
hätte umsetzen müssen. In Ihrem Gesetzentwurf wollen Die nächste Klatsche des Bundesverfassungsgerichts ist
Sie die Betroffenen aber nur zum Anfang des Jahres 2009 absehbar. Ich fordere Sie auf: Ändern Sie endlich Ihre
gleichstellen – ein völlig willkürlich gewähltes Datum. Taktik und seien Sie einmal mutig! Sie können das Un-
Weiterhin wollen Sie also Menschen diskriminieren und vermeidliche ohnehin nur hinauszögern.
die ihnen zustehenden Rechte vorenthalten. Ihr Handeln
beruht ausschließlich auf dem Zwang durch das Verfas- Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
sungsgericht. Sie schaffen es noch nicht einmal, die ver- Bundesminister des Innern: Der Gesetzentwurf der Bun-
fassungs- und europarechtlichen Vorgaben umzusetzen. desregierung zur Übertragung ehebezogener Regelungen
Peinlich für die Liberalen, eine Blamage für konservative im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften
Rechtspolitiker! sieht eine Gleichstellung von Verpartnerten und Verhei-
rateten in zentralen Bereichen des öffentlichen Dienst-
Meine Damen und Herren von der Koalition, seit ei- rechts, insbesondere bei Besoldung, Versorgung und
nem Jahr führen Sie immer denselben Schneckentanz Beihilfe, ab dem 1. Januar 2009 vor. Mit den im Entwurf
auf. Erst verurteilt Sie das Verfassungsgericht, dann war- vorgesehenen gesetzlichen Änderungen kommt die
ten Sie bis zum letzten Moment und legen dann einen Gleichstellung für Beamte, Soldaten, Richter und Ver-
Gesetzentwurf vor, der unzureichend bleibt. Im parla- sorgungsempfänger des Bundes zum Abschluss.
mentarischen Verfahren obliegt es dann uns als Opposi-
tion, Sie auf Ihre handwerklichen Fehler hinzuweisen. Schon derzeit unterscheiden wichtige Teilbereiche
Dafür sind wir uns nicht zu schade. Aber ist es Ihnen des öffentlichen Dienstrechts, das Umzugskosten- und
nicht langsam peinlich? das Trennungsgeldrecht sowie das Sonderurlaubsrecht,
8726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) nicht mehr zwischen verpartnerten und verheirateten Be- die ehebezogenen Regelungen vor. In einigen Ländern (C)
amten. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, sieht der gibt es nur eine partielle, jedoch keine umfassende
Entwurf der Bundesregierung nun auch die Einbeziehung Gleichstellung. Nur in einigen Ländern gibt es bisher
von Lebenspartnerschaften in die ehe- und familienbezo- eine Gleichstellung, wie sie der Regierungsentwurf jetzt
genen Regelungen bei Besoldung, Versorgung und Bei- vorsieht.
hilfe vor. Im Einzelnen bedeutet dies:
Der Entwurf der Bundesregierung orientiert sich am
Im Besoldungsrecht werden Verpartnerte in die Rege- Koalitionsvertrag, in dem es heißt: Die familien- und
lungen zum Familienzuschlag einbezogen. Dies betrifft ehebezogenen Regelungen über Besoldung, Versorgung
vor allem den Familienzuschlag der Stufe 1, den soge- und Beihilfe werden auf Lebenspartnerschaften übertra-
nannten Verheiratetenzuschlag, der künftig verpartnerten gen. – Dies geschieht für die Zukunft und für einen maß-
genau wie verheirateten Besoldungsempfängern zusteht. vollen Zeitraum in der Vergangenheit und schafft damit
Rechtssicherheit für die Betroffenen.
Auch bei der Auslandsbesoldung werden die ehebe-
zogenen Regelungen des Bundesbesoldungsgesetzes
übertragen. Dies betrifft die Beamten, Soldaten und
Anlage 10
Richter in einer Lebenspartnerschaft, die ihren Dienst im
Ausland versehen. Sie erhalten künftig einen erhöhten Zu Protokoll gegebene Reden
Auslandszuschlag, wie ihn auch Verheiratete erhalten.
zur Beratung der Anträge:
Auch bei der Versorgung entfällt künftig die Differen-
zierung zwischen Verheirateten und Verpartnerten. Dazu – Schutz von Patientinnen und Patienten bei
werden hinterbliebene Lebenspartner von Beamten, der genetischen Forschung in einem Bioban-
Richtern und Soldaten im Beamtenversorgungs- und im ken-Gesetz sicherstellen
Soldatenversorgungsgesetz wie Witwen und Witwer ge- – Biobanken als Instrument von Wissenschaft
stellt. und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz
Auch im dritten, neben Besoldung und Versorgung prüfen und Missbrauch genetischer Daten
wichtigen Bereich, der Beihilfe, werden Lebenspartner und Proben wirksam verhindern
künftig genauso berücksichtigt wie Ehegatten. Mit der (Tagesordnungspunkt 18 a und b)
im Entwurf vorgesehenen Änderung im Bundesbeam-
tengesetz werden die notwendigen Voraussetzungen für
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Biobanken enthalten
eine entsprechende Änderung der Bundesbeihilfeverord-
von Menschen stammende erbsubstanzhaltige Materia-
nung geschaffen. Das Bundesministerium des Innern be-
(B) lien mit den dazugehörigen Daten, welche wiederum mit (D)
reitet diese Änderungen in der Beihilfeverordnung be-
personenbezogenen Angaben und gesundheitsbezogenen
reits vor.
Informationen verknüpft sind. Diese Datenbestände wer-
Daneben sieht der Entwurf schließlich auch Änderun- den für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung ge-
gen im Gesetz über den Auswärtigen Dienst vor. Hier- sammelt oder aufbewahrt. Dabei handelt es sich bei-
durch werden Lebenspartner den Ehegatten der deut- spielsweise um DNA-, Blut- oder Gewebeproben, die
schen Diplomaten im Ausland gleichgestellt. Damit zusammen mit Hintergrundinformationen der Spender
können künftig auch die Lebenspartner der Bediensteten verwaltet werden. Sie bilden die Grundlage für viele
die zahlreichen Fürsorgeleistungen des Auswärtigen neue Verfahren in der Wissenschaft und Medizin und
Amtes erhalten. Dazu zählen zum Beispiel Sprachkurse, sind damit ein wichtiger Bestandteil bei der Suche nach
mit denen das Auswärtige Amt auch die Angehörigen den Ursachen vieler Krankheiten und deren Behand-
seiner Bediensteten auf einen Auslandsaufenthalt vorbe- lungsmethoden. Die Forschung mit menschlichen Kör-
reitet. permaterialen ist kein Phänomen der Neuzeit; vielmehr
werden Körpersubstanzen schon seit vielen Jahrhunder-
Ich möchte daran erinnern: Der von der Bundesregie- ten für die Forschung gesammelt und ausgewertet. Ein
rung vorgelegte Gesetzentwurf ist das Ergebnis einer erheblicher Teil unseres heutigen medizinischen Wissens
längeren Rechtsentwicklung, die sehr differenziert und beruht auf Sammlungen von menschlichem Gewebe,
keineswegs immer gradlinig verlaufen ist. Bis in die also den Vorgängern der heutigen Biobanken.
obersten Gerichte waren die Fragen rund um die Einbe-
ziehung von verpartnerten Beamten in die ehebezogenen Neue Untersuchungsmöglichkeiten und das zuneh-
Regelungen des Dienstrechts sehr umstritten. Über rela- mend bessere Verständnis im Bereich der Genetik haben
tiv lange Zeit standen das Bundesverfassungsgericht und die Bedeutung von Biobanken noch einmal deutlich er-
das Bundesverwaltungsgericht der Gleichstellung im höht. Das bessere Verständnis des menschlichen Ge-
Dienstrecht eher ablehnend gegenüber. Beide Gerichte noms erweitert ihre Nutzungsmöglichkeiten erheblich.
haben erst vor kurzem ihre Rechtsprechung geändert. Zur Heilung zahlreicher Volkskrankheiten können in-
zwischen nicht nur äußere Faktoren, sondern auch Erb-
Auch ein Blick in die Länder, die ja seit der Föderalis-
anlagen als Ursachen der Krankheiten untersucht wer-
musreform das Recht ihrer Landesbeamten in eigener
den.
Zuständigkeit gestalten, ergibt bei weitem kein einheitli-
ches Bild: Einige Länder sehen bislang weder bei der Um diese Effekte untersuchen zu können, ist es aller-
Besoldung noch bei der Versorgung, noch bei der Bei- dings nötig, dass eine große Anzahl von Daten unter-
hilfe eine Einbeziehung von Lebenspartnerschaften in sucht wird. Deshalb entstehen immer größere Sammlun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8727

(A) gen, und die einzelnen Sammlungen vernetzen sich anderen Seite verlangen also eine übergreifende Be- (C)
immer besser untereinander. Ein aktuelles Beispiel einer schäftigung mit diesem wichtigen Thema.
großangelegten Biobank ist die als nationale Kohorte im
Dies sind nur einige Beispiele für ethische und recht-
Aufbau befindliche „Helmholtz-Kohorte“. In der Kohor-
liche Fragestellungen, die sich in diesem Zusammen-
tenstudie sollen 200 000 Menschen eingebunden und
hang ergeben. Auf weitere Probleme haben verschiedene
über 10 bis 20 Jahre medizinisch begleitet werden, um
Stellungnahmen, zuletzt des Deutschen Ethikrates im
Risikofaktoren für Volkskrankheiten zu entdecken und
Juni dieses Jahres, hingewiesen. Diese kommen zu dem
diesen vorbeugen zu können. Ähnlich große Biobanken
Schluss, dass eine gesetzliche Regelung im Bereich der
existieren bereits in Großbritannien und Norwegen, die Biobanken für die Forschung nötig ist. In seiner Stel-
bereits über 500 000 Proben erfasst haben. In Schweden lungnahme schlägt der Deutsche Ethikrat ein Fünf-Säu-
sind in der Nationalen Biobank bereits zwischen 50 und len-Konzept für die gesetzliche Regulierung von Bio-
100 Millionen Daten erfasst. banken vor. Ziel der Empfehlungen ist es, für den Schutz
Dies gilt insbesondere für meine Heimatstadt. Die der Persönlichkeitsrechte der Spender einen adäquaten
Universität Leipzig hat ein Forschungsprojekt im Kampf Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen und für die For-
gegen Volkskrankheiten mithilfe einer Biobank begon- schung mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Ich begrüße,
nen. Beim Leipziger Forschungszentrum für Zivilisati- dass der Deutsche Ethikrat zu Fragen der Biobanken in
onserkrankungen, LIFE, werden mehr als 100 Ärzte und der Forschung eine Stellungnahme abgegeben hat. Wir
Wissenschaftler der Universität sowie der Universitäts- werden diese bei den Überlegungen über die Weiterent-
medizin bis 2013 rund 25 000 Leipziger klinisch und bio- wicklung der Rahmenbedingungen berücksichtigen. Bei
analytisch untersuchen. Die knapp 40 Millionen Euro der Abwägung der verschiedenen Belange ist allerdings
teure Bevölkerungs- und Patientenstudie soll die Zusam- großes Augenmaß gefordert. Lassen Sie mich das an ei-
nigen Bespielen verdeutlichen.
menhänge zwischen genetischer Anlage, Stoffwechsel
und individueller Lebensführung in großem Umfang er- Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass die verwen-
forschen. Ziel ist es, Erkenntnisse über Ursachen und die dete Probe unverzüglich nach Erreichen des Forschungs-
unterschiedliche Ausprägung der wichtigsten Zivilisa- zweckes vernichtet werden wird und die gespeicherten
tionserkrankungen zu gewinnen. Besonderes Augen- Daten gelöscht werden. Diese „unverzügliche Lösung“
merk werden die Forscher auf Gefäßerkrankungen und steht, wie schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stel-
Herzinfarkt, Diabetes und Adipositas, Depression, De- lungnahme bemerkte, oftmals in direktem Widerspruch
menz, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Kopf- zur Forschungspraxis, da die zugrunde liegenden Daten
und Halstumore sowie Allergien und Stoffwechselstö- mitunter auch nach dem Erreichen des angestrebten For-
rungen richten. Ziel ist die Entdeckung neuer Ansätze schungsziels als wichtige Informationsquelle, gerade für
(B) (D)
für frühzeitige Prävention und Therapie. die Evaluierung und Weiterführung von im Forschungs-
prozess aufgetauchten Fragestellungen, von hoher Rele-
Ebenfalls ganz aktuell ist das vom Bundesministerium vanz bleiben können.
für Bildung und Forschung geförderte „Projekt-Portal im
Deutschen Biobanken-Register“, in dem die existieren- In diesem Rahmen gilt es auch, zu bedenken, dass
den Biobanken für die externe Forschungen zugänglich eine zu enge Eingrenzung der Verwendung im Zug der
gemacht werden. Hier haben sich unter Beteiligung des informierten Einwilligung der Probanden die For-
Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik, des schungsarbeit erheblich beeinträchtigen kann. Was nut-
TMF – Technologie- und Methodenplattform für die ver- zen dem Forscher Daten, die er nicht verwenden kann,
netzte medizinische Forschung e. V. –, und ihrer Partner weil sie einem zu spezifischen Zweck zugeordnet sind.
bisher 87 Biobanken registriert. Daher sind eine qualifizierte und einsichtige Information
der Spender und ein hoher Grad an Transparenz nötig,
Die steigende Größe der Biobanken, deren bessere um die Interessen sowohl der Spender als auch der For-
Vernetzung und der wissenschaftliche Fortschritt machen scher zu wahren.
aus den Biobanken einen ungemein wertvollen Daten- Offene Fragen gibt es auch bei dem sogenannten For-
und Wissensschatz für die Forschung. Allerdings hat dies schungsgeheimnis oder Biobankgeheimnis, welches den
auch zur Folge, dass die Datensätze immer individueller Strafverfolgungsbehörden auch nach richterlicher An-
werden, da der Informationsgehalt des menschlichen Ma- ordnung und bei schwersten Straftaten den Zugriff auf
terials nahezu unerschöpflich ist. Dies löst bei vielen Daten der Biobanken verwehren würde. Die Befürworter
Menschen Unbehagen aus. Sie befürchten, dass ihre Da- begründen die Notwendigkeit dieses Forschungsgeheim-
ten unkontrolliert verwendet werden. Aber auch Forscher nisses damit, dass nur über eine gesetzliche Zusicherung
und Betreiber von Biobanken fühlen sich einer Rechtsun- der ausschließlichen Verwendung der gespendeten Daten
sicherheit ausgesetzt. Denn die Frage der Voraussetzung zu Forschungszwecken Menschen dazu motiviert wer-
der Verwendung von Materialen ist in Deutschland um- den können, ihre Daten einer Biobank anzuvertrauen.
stritten.
An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass deut-
Die forschungspraktischen und rechtlichen Realitä- sche Biobanken bereits heute hohe Standards des Daten-
ten überschneiden sich auf diesem Gebiet. Eine ver- schutzes erfüllen und dass die beteiligten Forscher sehr
stärkte Zusammenarbeit der bestehenden Biobanken auf behutsam und verantwortungsbewusst mit den ihnen an-
der einen Seite und die zersplitterte Regelung durch vertrauten Daten umgehen. Im Übrigen wurden die
Standes- und Landesdatenschutzbestimmungen auf der Rechte des Zugriffs auf diese Proben durch Dritte wie
8728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Arbeitgeber und Versicherungen bereits im Gendiagnos- über die sogenannte Helmholtz-Kohorte zeigt. Aufgabe (C)
tikgesetz geregelt. Es besteht also für die Spender von des Deutschen Bundestages muss es daher sein, ergebnis-
menschlichem Material kein Grund zur Angst. Dass da- offen darüber zu diskutieren, wo und in welcher Form ein
rüber hinaus weitere vertrauensbildende Maßnahmen sicherer Rechtsrahmen insbesondere für den Aufbau und
sinnvoll sind, um die Forschung weiter zu fördern, die Nutzung von Biobanken geschaffen werden sollte.
scheint mir unbestritten.
Der Deutsche Bundestag hat sich in den vergangenen
Bei Überlegungen zu einem Forschungsgeheimnis und Jahren bereits mehrfach und aus unterschiedlichen Per-
einem damit verbundenen absoluten Ausschluss des Staa- spektiven mit der Anwendung der genetischen Diagnos-
tes halten dessen Kritiker allerdings die Frage dagegen, tik in Wissenschaft und Forschung befasst. In Zeiten der
ob damit nicht leichtfertig Möglichkeiten ausgelassen rot-grünen Regierungskoalition waren die Bemühungen
werden, schwerste Straftaten aufzuklären oder zu verhin- für ein Gendiagnostikgesetz, welches Regelungen für
dern. Es gehe ja nicht um eine undifferenzierte und breite die Forschung beinhalten sollte, bereits weit vorange-
Durchforstung von Biodatenbanken aus nichtigen Grün- schritten. Die Neuwahl verhinderte jedoch eine abschlie-
den, sondern um die Möglichkeit, in extremen Ausnah- ßende Beratung des damaligen Entwurfs. Es folgten die
mefällen zur Verteidigung hochrangiger Rechtsgüter bei- Beratungen der Großen Koalition für ein Gendiagnostik-
zutragen. Bevor hier eine Entscheidung getroffen werden gesetz. Schlussendlich wurde entschieden, Wissenschaft
kann, muss meines Erachtens eine sorgfältige Güterab- und Forschung aus dem Anwendungsbereich des Geset-
wägung stattfinden, welche die Rechtsgüter des Daten- zes ausdrücklich herauszunehmen. Der Grund hierfür
schutzes der Freiheit der Forschung, dem Schutz des In- war jedoch mitnichten, dass SPD und CDU/CSU hier
dividualrechts und der Verfolgung schwerster Straftaten keinen Regelungsbedarf sahen. Vielmehr waren sich die
gegenüberstellt. Koalitionspartner von damals einig, dass man zunächst
und zügig etwas für den Datenschutz im Bereich des Ar-
beits- sowie des Versicherungsrechts tun wollte.
René Röspel (SPD): Die Fortschritte in den vergan-
genen Jahren bei der Weiterentwicklung der Anwendung Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben anlässlich der
der genetischen Diagnostik waren rasant. Heute sind mit Schlussberatung des Gendiagnostikgesetzes öffentlich
bis vor kurzem noch undenkbarer Geschwindigkeit ge- und unmissverständlich betont, dass wir uns für eine in-
netische Analysen von einzelnen Personen, aber auch tensive Prüfung des gesetzlichen Regelungsbedarfs der
von ganzen Personengruppen möglich. Es ist nur eine Nutzung der genetischen Diagnostik in der Forschung
Frage der Zeit, bis Wissenschaft und Forschung das und hierbei insbesondere im Bereich der Biobanken ein-
„1 000 Dollar Genom“ ermöglichen werden. Wenn also setzen wollen. Mit dem heute vorliegenden Antrag setzen
(B) bald die Sequenzierung des gesamten Genoms eines wir diese Ankündigung um. Mit unserem Antrag nehmen (D)
Menschen für 1 000 Dollar möglich sein wird, so ist ab- wir zahlreiche nationale wie internationale Stellungnah-
sehbar, dass wir vor einer massiven Ausweitung der An- men von Expertenkommissionen und Organisationen auf.
wendung dieser Technologie in Wissenschaft und For- Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle lediglich auf den
schung, aber auch in der medizinischen Praxis stehen. Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung vom
Dezember 2006 hinweisen. Dieser ebenso fundierte wie
Wie so oft liegen jedoch auch bei der Anwendung von überzeugende Bericht kam zu dem Ergebnis, dass der Ge-
genetischen Diagnosemethoden die Chancen ebenso auf setzgeber für den Bereich der Biobanken eine Regelung
dem Tisch wie das Missbrauchspotenzial. Deutschland im Sinne eines Mittelweges finden müsse, „um sowohl
nimmt heute international eine starke Position in der Überregulierung als auch ‚Wildwuchs‘ bei der weiteren
Nutzung der genetischen Diagnostik in Wissenschaft Entwicklung zu vermeiden“. Genau diesen Weg wollen
und Forschung und hierbei insbesondere bei der Nut- wir mit unserem Antrag beschreiten.
zung sogenannter Biobanken ein. Als Biobanken werden
Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstan- Wir fordern die Bundesregierung auf, ergebnisoffen
zen wie Gewebe, Blut oder DNA bezeichnet, die mit zu prüfen, in welchen Punkten eine gesetzliche Rege-
personenbezogenen Daten und sonstigen Informationen lung zum Umgang mit genetischen Daten und Proben
verknüpft sind und medizinischen oder wissenschaftli- angebracht und zielführend sein würde. Darüber hinaus
chen Zwecken dienen. Der Großteil der existierenden fordern wir die Regierung auf, ein umfassendes Förder-
Biobanken wird derzeit zu Forschungszwecken genutzt. konzept für Biobanken in Deutschland aufzubauen. Es
ist zu begrüßen, dass die TMF, die Technologie- und
Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen ausdrücklich Methodenplattform für die vernetzte medizinische For-
diese führende Rolle Deutschlands sichern und durch schung, am 19. November 2010 angekündigt hat, ge-
eine gezielte Förderpolitik weiter vorantreiben. Wissen- meinsam mit zahlreichen Partnern eine zentrale deutsche
schaft und Forschung können aber nur dort von der Biobanken-Infrastruktur aufzubauen. Es ist auch aus-
Gesellschaft akzeptiert gedeihen, wo klare rechtliche drücklich zu begrüßen, dass das Bundesministerium für
Rahmenbedingungen sicherstellen, dass Missbrauch ver- Bildung und Forschung die Förderung einer „Nationalen
hindert und Datenschutz sichergestellt werden kann. Bis- Biomaterialbanken-Initiative“ auf den Weg gebracht hat.
her haben die in Deutschland tätigen Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler bei der Nutzung von Biobanken Es ist mir aber trotz dieser finanziellen Zusagen für
ein großes Verantwortungsbewusstsein an den Tag gelegt. eine verstärkte Vernetzung von Biobanken in Deutsch-
Dieses verantwortungsbewusste Handeln verhindert je- land nicht verständlich, warum die Bundesregierung trotz
doch nicht das Aufkeimen von Kritik, wie die Debatte aller nationalen wie internationalen Bemühungen um
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8729

(A) klare rechtliche Rahmenbedingungen für den Umgang stehung und den Verlauf von Krankheiten liefern, was (C)
mit genetischen Daten und Proben keinerlei Anstalten zur Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze oder wir-
macht, auch nur zu prüfen, ob eine gesetzliche Regelung kungsvollerer Methoden der Prävention führen kann. Aus
für Biobanken sinnvoll sein könnte. Man könnte fast diesen Gründen werden Biobanken zukünftig immer
glauben, die Bundesministerin für Bildung und For- mehr an Bedeutung gewinnen, und die Daten und deren
schung habe sich in dieser Frage nicht nur von der fach- Informationsgehalt werden differenzierter und somit in-
wissenschaftlichen, sondern auch von der gesellschaftli- dividueller. Umso wichtiger ist es, bestehende Daten-
chen Debatte abgekoppelt. Man darf gespannt sein, ob schutzlücken zum Schutz der Patienten und Probanden
das Bundesministerium für Bildung und Forschung hier zu schließen und entsprechende Rahmenbedingungen für
demnächst eine Initiative zeigen wird. Denn es kann nicht die Forschung festzulegen. Die diesbezüglichen Rege-
sein, dass zwar der Aufbau und die Vernetzung von Bio- lungen des Bundesdatenschutzgesetzes sind nach Aussa-
banken – richtigerweise – gefördert, die strukturellen gen des Bundesdatenschutzbeauftragten heute für den
Voraussetzungen etwa in Bezug auf einen hinreichenden Bereich der sicheren Verwahrung von Biodaten nicht
Datenschutz jedoch bestenfalls in Förderrichtlinien be- ausreichend. Daher müssen klare Rahmenbedingungen
schrieben werden. abgesteckt werden. Dabei ist es aus unserer Sicht beson-
ders wichtig, dass der Grundsatz der Freiheit der For-
Nun noch einige kurze Worte zum Antrag der Frak- schung nach Art. 5 Grundgesetz auch in einem künftigen
tion Bündnis 90/Die Grünen. Wir teilen die grundsätzli- Deutschen Biobankengesetz gewährleistet wird.
chen Überlegungen der Grünen zum Umgang mit geneti-
schen Daten und Proben. Allerdings fordern die Grünen Die Forschung an genetischen Daten und Biomateria-
bereits sehr konkret einen Gesetzentwurf mit zum Teil lien hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Es
detaillierten Anforderungen. So richtig und wichtig die handelt sich nicht mehr um einzelne Probensammlungen
Pläne der Grünen sind, die ihre Fraktion an einen sol- kleiner Institute, die von Wissenschaftlern zu begrenzten
chen Regelungsrahmen stellt, so sehr muss man sich Forschungszwecken verwendet werden; vielmehr wer-
doch fragen, ob wir parlamentarisch bereits hinreichend den die Sammlungen immer größer, und sie werden auch
diskutiert haben, wo und wie man diese Regelungen am elektronisch vernetzt. Wir sind der Auffassung – das
besten verorten sollte. Um es kurz und prägnant zu for- werden wir in einem eigenen Antrag zum Ausdruck
mulieren: Wir sehen unseren Antrag als Einstieg in eine bringen –, dass die Erhebung, Aufbewahrung und Ver-
ergebnisoffene Debatte über eine sinnvolle Ausgestal- wendung genetischer Daten und Proben im Bereich der
tung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Um- medizinischen Forschung explizit zu regeln sind, um ei-
gang mit genetischen Daten und Proben in Wissenschaft nerseits den Betroffenen Sicherheit hinsichtlich des Um-
und Forschung. Die Grünen hingegen scheinen die Auf- gangs mit ihren genetischen Daten und andererseits der
(B) fassung zu vertreten, dass bereits genug Expertisen vor- Forschung die notwendige Rechtssicherheit für ihre Ar- (D)
liegen, um in die konkrete Gesetzgebung einzusteigen. beit zu geben. Dieses Problem bedarf einer eigenständi-
Bei einigen Vorschlägen glaube ich aber, dass noch Klä- gen Lösung.
rungsbedarf besteht. Wir als SPD-Bundestagsfraktion
Die Prinzipien der Datensparsamkeit oder der Dezen-
wollen das Gespräch mit der Bundesregierung und den
tralität von Datenspeicherung können im Bereich einer
beteiligten Expertinnen und Experten suchen. Hierzu
Biobank für die Forschung nicht aufrechterhalten werden;
sollen auch die Beratungen unseres Antrages in den Aus-
denn erst die Vielzahl von Daten und deren Vernetzung
schüssen dienen.
sorgen für den Erkenntnisgewinn. Eine Anonymisierung
Wir sprechen, wenn wir über Biobanken diskutieren, der Daten und Proben ist in diesem Zusammenhang auch
über höchst persönliche Daten, die zumeist in einem en- nicht immer möglich und auch nicht gewünscht. Gefragt
gen Bezug zu einer Krankheit oder einer Krankheitsdis- ist daher eine Standardsetzung, die Sicherheit für die Be-
position stehen. Es wäre unverantwortlich, wenn der Ge- troffenen schafft, aber auch die notwendige Rechtssi-
setzgeber hier erst dann in eine Debatte über einen cherheit für die Forschung. Ein allgemeines Forschungs-
angemessenen Regelungsrahmen einsteigen würde, wenn geheimnis in Bezug auf Biobanken sollte gesetzlich
man in der Presse über Missbrauchsfälle liest. In dieser verankert werden. Damit wird sichergestellt, dass die
Einschätzung sind wir uns mit der Fraktion von Bünd- Proben und Daten nur im Rahmen der Einwilligung zu
nis 90/Die Grünen einig. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Forschungszwecken verwendet werden dürfen und vor
Fraktionen von CDU/CSU und FDP einer ergebnisoffe- jedem anderen Zugriff absolut gesichert sind. Natürlich
nen Beratung in den Fachausschüssen nicht verschließen gibt es heute schon ein großes Interesse an den Daten aus
werden. dem Bereich der Verbrechensbekämpfung. Diesem sollte
aber von vornherein ein Riegel vorgeschoben werden.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Biobanken Es freut mich, dass die Kollegen von der SPD und
sind für die Forschung eine wichtige Ressource für Da- von Bündnis 90/Die Grünen die Problematik erkannt ha-
ten und eine Kernstück für die Aufklärung von Ursachen ben. Jedoch sind die Forderungen im Antrag von Bünd-
und Mechanismen von zahlreichen Krankheiten. Allein nis 90/Die Grünen überzogen. Die Koalitionsfraktionen
die krankheitsbezogene Genomforschung kann durch werden in den kommenden Wochen dem Bundestag ei-
das umfangreiche Datenmaterial, das in den Biobanken nen Antrag vorlegen, um Rechtssicherheit für Betroffene
zur Verfügung steht, auch Faktoren wie Geschlecht, Le- und Forschung zu schaffen. Ich freue mich auf eine
bensstil, Gene und genetische Epidemiologien in ihre fruchtbare und zielführende Diskussion in den Aus-
Forschungen einbeziehen und Kenntnisse über die Ent- schüssen.
8730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seitdem meine Fraktion Meine Fraktion schließt sich daher der Auffassung (C)
beim Gesetzgebungsprozess zum Gendiagnostikgesetz der SPD und der Grünen an, dass bei Fragen des Zu-
angemahnt hatte, auch Regelungen zur Forschung mit ge- gangs und der Verwendung von Biobankdaten der
netischem Material anzugehen, drängt dieses Anliegen Schutz von Persönlichkeitsrechten geregelt werden
immer mehr. Zum einen machte der Deutsche Ethikrat in muss. Dabei reicht es nicht, auf den bestehenden Daten-
seiner Stellungnahme zu Humanbiobanken darauf auf- schutz zu verweisen. Zu den Hauptaufgaben eines mo-
merksam, dass sie zurzeit eine rasante Entwicklung dernen Datenschutzes gehört es, die Speicherung von
durchmachen. Bisher unterliegen die beispielsweise an Daten zeitlich genau zu begrenzen. Dahinter steht die Ein-
Uniklinika oder in gendiagnostischen Labors vorhande- sicht, dass noch so gut austarierte Regeln, wer zu ihnen
nen Probensammlungen keiner Qualitätskontrolle und Zugang hat, regelmäßig an Leckagen scheitern und dass
keiner Zugriffsregelung. Neben vielen Neugründungen nur das Löschen von Daten, nachdem sie ihren Zweck
weitet sich der Austausch der dort eingelagerten Zell- und erfüllt haben, wirklich sicher ist. Der Ethikrat kommt in
Gewebeproben bereits über Deutschland und Europa hi- seiner Expertise nun zu dem Schluss, dass es de facto
naus. Zum anderen macht das aktuelle Interesse der schwe- nicht möglich ist, die Nutzung der Proben und Daten
dischen Behörden, für Ermittlungsarbeiten der Polizei zeitlich zu begrenzen. Dem steht die digitale Ausbrei-
noch umfassender auf Bestände der schwedischen Natio- tung von Kopien, die schon aus Gründen der Datensiche-
nalen Biobank zuzugreifen, den politischen Sprengstoff rung der Bestände angelegt werden, entgegen. Vor allem
deutlich. aber spricht gerade das Interesse der Forschung dafür,
die Daten erstens möglichst gut zu vernetzen und sie
Biobanken sind ein stets wichtiger werdendes wissen- zweitens nicht sofort zu vernichten. Die Wissenschaft ist
schaftliches Werkzeug. Der Bund fördert die Vernetzung darauf angewiesen, dass sie für die kritische Überprü-
ihrer Bestände, die Synergien in der Grundlagenfor- fung der Ergebnisse oder auch für eine neue Fragestel-
schung möglich machen, und das hat unsere volle Unter- lung, die sich aus dem abgeschlossenen Projekt ergibt,
stützung. Forscher und Forscherinnen sind insbesondere weiter genutzt werden können.
bei der Erforschung von Volkskrankheiten wie Diabetes-,
Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf viele me- Was also kann der Ansatz sein, mit dem man beidem
dizinische Daten und Proben in Verbindung mit viel- gerecht wird, dem Erkenntnisfortschritt für Wissenschaft
schichtigen Daten der Probanden angewiesen. Eine und Patienten und der Wahrung der informationellen
große Rolle werden Biobanken auch für die junge Diszi- Selbstbestimmung und der Persönlichkeitsrechte? Der
plin der Epigenetik, also des Zusammenspiels von Ge- Nationale und der Deutsche Ethikrat haben dazu einen
nen mit Lebensweisen und Umweltfaktoren, spielen. Vorschlag gemacht, den meine Fraktion ausdrücklich un-
(B) terstützt, nämlich ein Forschungs- bzw. Biobankgeheim- (D)
Zugleich aber dringt die Einsicht durch, dass je viel- nis gesetzlich zu verankern. Dieses soll sicherstellen,
schichtiger die Daten werden, die Wissenschaftlerinnen dass Daten und Proben nur zu Forschungszwecken erho-
und Wissenschaftler im Zuge wiederholter Erhebungen ben und genutzt werden dürfen. Im Kern würde das Bio-
oder Recherchen sammeln, desto unverwechselbarer bankgeheimnis umfassen: die Schweigepflicht für alle
auch die Datensätze werden. Das heißt, man weiß immer Personen, die Zugriff zu Daten haben, ihr Zeugnisver-
mehr auch über das Leben von Personen, von denen man weigerungsrecht gegenüber allen Gerichten sowie das
zugleich extrem sensible medizinische Daten bis hin Verbot, die Biobankenbestände zu beschlagnahmen oder
zum genetischen Fingerabdruck lagert. Gerade letzteres, zum Zweck der Gefahrenabwehr zu verwenden. Als die
also genetisches Material, macht gängige Schutzinstru- andere tragende Säule begreift meine Fraktion genaue
mente wie Pseudonymisierung und Anonymisierung ex- Vorschriften zur informierten Einwilligung der Proban-
trem schwierig. den zum Zweck der Forschung, mit der Möglichkeit,
einzelne Zwecke auszunehmen oder alle global zu be-
Es wird also einfacher, Datenbanken mit persönlichen willigen. Zu prüfen wäre zudem, inwiefern ein Widerruf
Profilen nach bestimmten Rastern und Mustern anzule- möglich ist.
gen. Daran haben, wie wir aus der Debatte um geneti-
sche Tests wissen, immer auch Dritte Interesse, bei- Grundsätzlich befürworten wir beide vorliegenden
spielsweise Versicherungen, kommerzielle Konsum- Anträge, haben aber mit beiden jeweils ein Problem: Mit
forschungsstellen oder große Arbeitgeber. Zudem we- dem der SPD ein grundsätzliches, da sie Ausnahmen für
cken Datenbestände immer auch Begehrlichkeiten bei den Zugriff durch Strafermittlungsbehörden für denkbar
staatlichen Stellen, wie die Nutzung für die Strafverfol- hält. Das lehnen wir ab. Dennoch benennt der Antrag die
gung in Schweden zeigt. Für Deutschland will ich nur richtigen Eckpunkte in Richtung eines Biobankgeheim-
daran erinnern, dass die zentral gespeicherten Lkw- nisses. Der Antrag der Grünen enthält wiederum sehr de-
Mautdaten, die die Arbeit der Behörden des Verkehrs- taillierte Vorstellungen zu Einwilligung, Aufklärung und
ministeriums erleichtern sollten, bereits zur Fahndung Auskunft über Ergebnisse der Forschung an Probanden,
nach einem Gewaltverbrecher zweckentfremdet worden die wir ähnlich in anderen Zusammenhängen mittragen.
sind. Zurzeit sind Biobanken bei uns zwar dezentral an- Ob sie aber im Detail nicht an entscheidender Stelle die
gelegt, doch die anlaufende große Bevölkerungsstudie komplizierte Kommunikation in Forschungsprojekten
bei der Helmholtz-Gemeinschaft, die am Ende 200 000 behindern, sollte ein Beratungsprozess im Rahmen des
Personen umfassen soll, ändert die Dimensionen auch in Gesetzgebungsverfahrens zeigen. Daher unterstützen
Deutschland. wir das politische Anliegen beider Anträge. Ob wir am
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8731

(A) Ende aber beiden zustimmen können, wollen wir erst Bedingungen gerne als Proband zur Verfügung, wenn (C)
nach weiterer parlamentarischer Beratung entscheiden. die Proben noch nicht mal vor dem staatlichen Zugriffs-
recht beispielsweise bei der Strafverfolgung geschützt
sind? So verständlich so etwas aus Sicht der Ermitt-
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lungsbehörden sein mag, für die Wissenschaft kann es
NEN): Mit unserem Antrag für ein Biobanken-Gesetz
sich jedoch als außerordentlich problematisch erweisen.
fordern wir die Bundesregierung auf, endlich die Lücke
zu schließen, die seit der Verabschiedung des Gendia- Wir wollen die Probanden durch eine strikte Zweck-
gnostikgesetzes der schwarz-roten Koalition besteht. bindung davor schützen, dass ihre Daten über die For-
Während in diesem Gesetz Regelungen für Gentests zu schung hinaus genutzt werden – etwa durch den Arbeit-
medizinischen Zwecken, zur Klärung der Abstammung geber oder die Polizei. Dafür fordern wir ein Bio-
sowie für Bereiche des Arbeitslebens und der Versiche- bankengeheimnis. Zudem soll mit der Forschung nur be-
rungswirtschaft aufgenommen wurden, blieb der For- gonnen werden, wenn eine unabhängige Ethikkommis-
schungsbereich ausgenommen. Wir Grünen hatten da- sion das Forschungsvorhaben in einer schriftlichen Stel-
mals schon einen eigenen Gesetzentwurf erarbeitet, der lungnahme positiv bewertet hat. Nach Erreichung des
unter anderem Regelungsvorschläge für den For- Forschungsziels sollen die Daten gelöscht werden. Wei-
schungsbereich enthielt, und wir hatten dafür auch viel terhin müssen durch eine gesetzliche Regelung klare
Unterstützung in Anhörungen erhalten. Leider hat sich Standards im Umgang mit Daten von nichteinwilli-
die damalige Mehrheit dem nicht anschließen wollen. gungsfähigen Personen festgeschrieben werden.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für ein Bioban- Auch der Deutsche Ethikrat hat in seiner im Juni vor-
ken-Gesetz ein, in dem der Umgang mit genetischen gelegten Stellungnahme eine eigene Regelung empfoh-
Daten für die Forschung endlich geregelt wird. Dabei len, die „den spezifischen Anforderungen an den rechtli-
geht es uns darum, die Forschung mit genetischen Pro- chen Schutz der in Biobanken vorhandenen Proben und
ben zu fördern, sie auf eine rechtlich sichere Grundlage Daten Rechnung“ trägt. Damit die Empfehlungen des
zu stellen und damit die Ziele und Vorgehensweisen ge- Rates nicht immer nur im luftleeren Raum bleiben, müs-
genüber den betroffenen Personen transparent zu ma- sen wir die Konsequenzen daraus ziehen. Inzwischen ist
chen. Wir halten diese Forschung für notwendig und auch die SPD für eine gesetzliche Regelung, nachdem
sinnvoll; gerade deshalb ist eine gesetzliche Regelung sie dies in der Großen Koalition noch abgelehnt hatte.
wichtig. Die Zahl der Biobanken in Deutschland hat in Das finde ich gut, wenn ich auch nicht jede Passage des
den letzten Jahren stark zugenommen. Nun will das Antrags unterschreiben würde. Aber es geht in die glei-
Bundesministerium für Bildung und Forschung die Bio- che Richtung, und deshalb freue ich mich auf die Bera-
(B) bank der Helmholtz-Gemeinschaft mit Bundesgeldern tungen im Ausschuss für Bildung und Forschung und (D)
unterstützen. Geplant ist der Aufbau einer riesigen Da- hoffe, dass wir die anderen Kollegen noch überzeugen
tenbank mit Proben von insgesamt 200 000 Bürgerinnen können. Ich bitte um Unterstützung für unseren Antrag.
und Bürgern.
Spätestens jetzt ist es höchste Zeit für eine gesetzliche Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
Regelung. Dies wird nur möglich, wenn es eine Mehr- desministerin für Bildung und Forschung: Medizinische
heit des Bundestages will, denn die Regierung hält es Forschung ist seit jeher mit der Nutzung und Sammlung
nicht für notwendig. Bislang ist der Datenschutz so ge- biologischer Proben verbunden. Mit verbesserten Me-
ring, dass wir Gefahr laufen, dass das Vertrauen der Pro- thoden der Analyse und der Datenverarbeitung sind Bio-
banden schwindet und die Bereitschaft abnimmt, sich an materialbanken heute ein unverzichtbares Instrument der
wichtigen Studienprojekten zu beteiligen. Dies kann krankheits- und patientenorientierten Forschung. Bio-
nicht in unserem Interesse liegen. banken wirken als Multiplikator bei der Aufklärung von
Ursachen und Mechanismen zahlreicher Krankheiten.
Umfassende Regelungen zu Biobanken sind bislang
weder auf Landes- noch auf Bundesebene getroffen wor- In vielen wichtigen Forschungsinitiativen sind Bio-
den. Der Aufbau von Biobanken stellt eine erhebliche banken wichtige Bestandteile der Forschung. Zu nennen
Herausforderung für den Datenschutz und den Schutz sind etwa die vom BMBF geförderten Kompetenznetze
von Persönlichkeitsrechten dar. Diesen Problemen wer- in der Medizin, das BrainNet oder das Nationale Genom-
den die bestehenden rechtlichen Regelungen in Deutsch- forschungsnetz, NGFN.
land nicht gerecht. Durch die zunehmende nationale und Das Thema Biomaterialbanken, welches wir hier
internationale Vernetzung, die Kommerzialisierung und heute anlässlich der Anträge vonseiten der Kolleginnen
Institutionalisierung von Biobanken treten verstärkt da- und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
tenschutzrechtliche Probleme auf. Das kann dazu führen, der SPD-Fraktion erörtern, ist für die Forschung von
dass die Daten für Zwecke verwendet werden, in die die großer Bedeutung. Das BMBF begrüßt es daher sehr,
Probanden bei einer umfassenden Aufklärung nie einge- dass der Deutsche Ethikrat mit seiner im Juni 2010 ver-
willigt hätten. Sie haben derzeit kein Recht, auf Verlan- öffentlichten Stellungnahme dieses vielfach diskutierte
gen Auskunft über die wesentlichen, auf ihre Gesundheit Thema noch einmal vertieft aufgegriffen und für die ge-
bezogenen Erkenntnisse zu bekommen. Der Verkauf von sellschaftliche Diskussion aufbereitet hat.
Daten ist ebenso möglich wie der Austausch und die
Vernetzung von Biobanken, ohne dass es datenschutz- Wir sind uns einig, dass ein besonderes Augenmerk
rechtliche Regelungen gibt. Wer stellt sich unter solchen auf dem Schutz der Spender liegen muss. So darf es kei-
8732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) nen Missbrauch der gesammelten Proben und Daten ge- hat. Verschiedene internationale Richtlinien und Emp- (C)
ben. Ist ein solcher Missbrauch erkennbar, müssen die fehlungen, stellen Grundsätze zum Umgang mit For-
bestehenden Vorkehrungen überprüft werden. Bei den in schungsbiobanken auf. Zu nennen sind insbesondere die
Biobanken gespeicherten Informationen handelt es sich 2009 verabschiedeten OECD Guidelines on Human Bio-
um medizinisch sensible Daten; daher muss der Daten- banks and Genetic Resesarch Databases. Zu nennen ist
schutz einen hohen Standard erfüllen. Auch muss eine auch die Empfehlung des Europarates über Forschung
hinreichende Qualität der Biomaterialbanken sicherge- mit humanbiologischem Material, deren Überarbeitung
stellt sein. Schließlich muss die Nutzung der gespeicher- in den kommenden Jahren geplant ist.
ten Proben und Daten hinreichend transparent sein.
Mit der europäischen Biobankeninitiative BBMRI, an
Gleichzeitig gibt es ein grundsätzlich berechtigtes In- der Deutschland beteiligt ist, verfolgen die EU-Kommis-
teresse, das in den Biobanken liegende wissenschaftliche sion und die Mitgliedstaaten das Ziel, tragfähige Kon-
Potenzial ausschöpfen zu können, um die medizinische zepte zu entwickeln, wie eine nationale und internatio-
Forschung voranzubringen. Hierzu gehört es, wie auch nale Vernetzung vorhandener Bestände aus Biobanken
der Deutsche Ethikrat hervorhebt, dass die Verwendung als Forschungsinfrastruktur erreicht werden kann, um
der Proben und Daten nicht auf spezifische Forschungs- dem wachsenden Bedarf für viele Forschungsfragestel-
vorhaben beschränkt bleibt und die Weitergabe von Pro- lungen in größerem Umfang und hoher Qualität zu ent-
ben und Daten im Wissenschaftsbereich möglich ist. sprechen.
Wichtig ist es aus Sicht des BMBF, genau zu schauen, Mit gutem Grund hat die Bundesregierung im Gesetz-
auf welche Weise die angesprochenen Aspekte bereits gebungsverfahren zum Gendiagnostikgesetz auch unter
behandelt werden und welches Instrumentarium hierfür Hinweis auf die laufende Diskussion auf nationaler wie
zur Verfügung steht. So sind wir uns zum Beispiel einig auf internationaler Ebene derzeit von einer Regelung für
in dem Ziel, dass hinreichende Vorkehrungen gegen ei- den Bereich der Forschung abgesehen. Bei jeder Maß-
nen Missbrauch von genetischen Proben und Daten eta- nahme, die wir diskutieren, müssen wir die Auswirkun-
bliert sein müssen. Allerdings müssen wir sehr genau gen für die Forschung in Deutschland im Auge haben.
prüfen, welche Sachumstände es rechtfertigen, von einem Daher brauchen wir, ebenso wie in anderen Bereichen
Missbrauch von genetischen Proben und Daten zu spre- der modernen Biomedizin, eine fundiert geführte Dis-
chen. So haben wir im Rahmen der Diskussionen für das kussion, um im Konsens mit den gesellschaftlichen
Anfang des Jahres in Kraft getretene Gendiagnostikge- Gruppen sowie in Zusammenarbeit mit der Forschungs-
setz eine differenzierte Debatte in Bezug auf die Nut- landschaft die Möglichkeiten von Biobanken für die me-
zung genetischer Proben und Daten durch Versicherun- dizinische Forschung verantwortlich zu nutzen.
(B) gen und Arbeitgeber geführt. Wir sind dabei zu abgewo- Wir haben 2010 wichtige Fördermaßnahmen wie ins- (D)
genen Regelungen gekommen, die hier einen Miss-
besondere das Biomaterialbankenregister und die Natio-
brauch genetischer Proben verhindern. Die insbesondere
nale Biomaterialbanken-Initiative etabliert, um zur Ver-
vom DER vorgeschlagenen weiteren Schutzkonzepte zur
besserung von Qualität und Transparenz von Biobanken
Vertraulichkeit der genetischen Proben und Daten, zum
beizutragen. Die Bundesregierung wird sich weiterhin
Beispiel gegenüber Strafverfolgungsbehörden, müssen
aktiv an der – auch internationalen – Diskussion und
wir vor diesem Hintergrund sehr sorgfältig diskutieren
Weiterentwicklung verantwortungsvoller und gleichzei-
und dabei die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenhei-
tig innovationsfördernder Rahmenbedingungen beteili-
ten berücksichtigen.
gen.
Auch hat das BMBF bereits erste Schritte unternom-
men, um Qualität und Transparenz von Biobanken, die
wir alle für erforderlich halten, in Deutschland sicherzu- Anlage 11
stellen. Zu nennen ist die Förderung eines nationalen
Biomaterialbankenregisters seit März 2010. Es soll Zu Protokoll gegebene Reden
Kerninformationen über alle für die medizinische For- zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset-
schung relevanten Biobanken in Deutschland enthalten, zes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
wodurch ein effektiver und strukturierter Zugang zu die- (Tagesordnungspunkt 19)
ser nationalen Wissenschaftsressource möglich wird.
Das Register wird dazu beitragen, die deutschen Bioban-
ken national wie international besser sichtbar zu ma- Patricia Lips (CDU/CSU): Wir beschließen heute
chen, und es wird die Forscher dabei unterstützen, das „Fünfte Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuer-
gemeinsam Qualitätsstandards für Biobanken zu entwi- gesetzen“. Die Neuerungen basieren auf einer Richtlinie
ckeln. Zur Sicherstellung eines hohen Qualitätsniveaus der EU. Die darin enthaltenen Maßnahmen beinhalten
von Biomaterialbanken hat das BMBF außerdem im Juni für Deutschland im Wesentlichen zunächst keine gravie-
2010 eine Initiative gestartet zum Aufbau übergeordne- renden Änderungen: Mit einer Übergangsfrist werden
ter Strukturen an Standorten mit bereits vorhandenen Zigarren und Zigarillos, die Zigaretten vergleichbar sind,
Biomaterialbanken, Nationale Biomaterialbanken-Initia- künftig wie Zigaretten besteuert. Die Definition der
tive. Länge von Zigaretten bzw. von Tabakabfällen wird prä-
zisiert, und die Schnittbreite bei Feinschnitt wird herauf-
Zu berücksichtigen ist in der Diskussion schließlich gesetzt. Hinzu kommen Steuerbefreiungen zum Beispiel
die Dynamik, die das Thema auf internationaler Ebene bei der Branntweinsteuer und weitere redaktionelle Än-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8733

(A) derungen. Diejenigen Elemente, die die Biersteuer be- 2015 stufenweise stattfinden, beginnend ab Mai 2011 (C)
treffen, werden ausgegliedert und in einem späteren Ver- und endend 2015. Die Stufen fallen mit 4 Cent bis
fahren behandelt. 8 Cent je Zigarettenpackung pro Jahr sehr moderat aus.
Zum Vergleich: In den früheren Jahren entsprach dies
Was damit eher unspektakulär klingt – und auch war –, nahezu der Erhöhung bezogen auf eine Zigarette.
hat in den vergangenen Wochen dann doch zu einer wei-
teren Ergänzung geführt, die zeitweise lebhafte Diskus- Großen Verwerfungen innerhalb Deutschlands, also
sionen auslöste: einer Erhöhung der Tabaksteuer. Ich einer Abwanderung in günstigere Produkte wie Fein-
glaube, es wurde in den vergangenen Wochen deutlich, schnitt, soll entgegengewirkt werden, indem deren Steu-
dass uns diese Erhöhung nicht leichtgefallen ist und bis erbelastung nun proportional stärker ansteigt. Gleichzei-
zum Schluss auch umstritten war. Es bleibt jedoch fest- tig wird dort eine Umstellung der Mindeststeuer
zustellen, dass die größte Wirtschafts- und Finanzkrise vorgenommen. Die Spreizung bleibt, wird aber deutlich
der Nachkriegsgeschichte an den öffentlichen Haushal- verringert. Es wird eine Mindeststeuer bei Zigarren und
ten nicht spurlos vorbeigegangen ist. Die parlamentari- Zigarillos eingeführt, damit der Preisabstand von Ziga-
schen Beratungen zum Haushalt, die parallel stattgefun- retten bzw. Feinschnitt zu diesen Produkten nicht zu
den haben, machten deutlich, dass eine ursprünglich groß wird. Zudem soll es eine Mindeststeuer für Pfeifen-
geplante Mehrbelastung energieintensiver Unternehmen tabak geben. Dies geschieht, um die EU-weite Mindest-
nach Plänen des Kabinetts noch vor der Sommerpause steuer im Pfeifentabakbereich einzuhalten. Maßnahmen
zu einer massiven Gefährdung zahlreicher Arbeitsplätze der EU zur Anhebung der Mindeststeuer für Zigaretten
in diesem für unser Land wichtigen, industriellen Be- generell sollen, auch nach Angaben des Zollkriminalam-
reich geführt hätte. Insofern wurde nun beschlossen, tes, die legalen Grenzeinkäufe reduzieren. In diesem Zu-
dass diese Unternehmen zwar nach wie vor einen spür- sammenhang gilt mit der vorliegenden Richtlinie für
baren Beitrag zum „Sparpaket“ leisten, jedoch nicht Deutschland auch eine Mengenbeschränkung der legalen
mehr in der vollen Höhe. Es entstanden Einnahmeaus- Einfuhr von Zigaretten aus den Ländern, die diese EU-
fälle; das sprechen wir ganz offen an. Doch angesichts Vorgaben noch nicht umgesetzt haben.
der Notwendigkeit der Rückführung der Neuverschul-
Unser Ziel, die Steuereinnahmen bei Tabak zu verste-
dung – Stichwort: strukturelles Defizit –, vor dem Hin-
tigen und zu erhöhen, wurde in der Anhörung von na-
tergrund der Einhaltung der Schuldenbremse und zur Si-
hezu allen Fachleuten aufgrund dieser Strategie geteilt.
cherung beruflicher Existenzen sehen wir es als
Es ist ein Gesamtpaket und kann nur als solches zielfüh-
vertretbar an, die nun vorgelegte moderate Erhöhung der
rend sein. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Argument
Tabaksteuer durchzuführen.
vorwegnehmen, welches seitens Teilen der Opposition
Ich möchte bereits an dieser Stelle erwähnen: In der gerne bemüht wird: Eine große Zahl an Rauchern finde (D)
(B)
öffentlichen Anhörung am vergangenen Dienstag wurde sich gerade in den einkommensschwächeren Kreisen,
mehrheitlich deutlich, dass, wenn es schon zur Erhöhung und ausgerechnet diesen Personenkreis würden wir nun
kommen soll, der von uns vorgeschlagene Weg am ehes- proportional stärker belasten. Ich sage: Es ist geradezu
ten geeignet ist, das erstrebte Ziel auch zu erreichen. absurd, uns dieses sozialpolitische Argument vorzuwer-
Nun ist die Vorgehensweise nicht grundsätzlich neu: In fen – gar noch in Verbindung damit, betroffene Men-
den Jahren 2002 bis 2005, damals noch unter der Füh- schen würden in die „Illegalität“ getrieben werden –,
rung von SPD und Grünen, wurde die Tabaksteuer zur wenn gleichzeitig und allen voran ausgerechnet die Kol-
Konsolidierung an anderer Stelle erhöht. Was damals zur leginnen und Kollegen der Sozialdemokratie eine eigene
Begründung galt, muss auch heute grundsätzlich gelten Initiative starten, die am Ende eine Verdreifachung der
dürfen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es damals Steuer bei Feinschnitt zur Folge hätte. Das wäre die
nicht zu Mehreinnahmen kam. Im Gegenteil: Der Anteil größte Belastung derer, die sie vermeintlich „schützen“
illegal eingeführter oder produzierter Tabakprodukte ist will – von den unkalkulierbaren Marktverwerfungen mit
deutlich angestiegen und hat sich verfestigt. Ich komme absehbaren Folgen am Arbeitsmarkt und völlig unklaren
darauf noch einmal zurück. fiskalischen Auswirkungen ganz zu schweigen.

Gleichzeitig gab es Verwerfungen innerhalb Deutsch- Einen großen Schwerpunkt in der Diskussion und in
lands zwischen den einzelnen Tabakprodukten. Cross- der Anhörung bildete die illegale Einfuhr, also der
Border-Käufe, also legale Grenzkäufe, nahmen ebenfalls Schmuggel, und die illegale Produktion von Tabakwa-
zu. Der Anteil derer, die deshalb mit dem Rauchen auf- ren. Dabei waren die Meinungen der Fachleute durchaus
gehört oder als Jugendliche gar nicht erst angefangen ha- kontrovers in Bezug auf die Frage, inwieweit der
ben, blieb im Vergleich eher übersichtlich. Wir müssen Schmuggelanteil ursächlich mit dem Preis zusammen-
es natürlich begrüßen, wenn Menschen nicht rauchen hängt. Dennoch dürfen wir vor diesem Problem nicht die
oder aufhören. Aber die Forderung, drastische Erhöhun- Augen verschließen. Es ist ein Grundsätzliches und er-
gen durchzuführen, um diesem Ziel näherzukommen, fordert ein Handeln unabhängig von Steuererhöhungen.
wird zumindest vorrangig die oben genannten Punkte Ich sage dies ausdrücklich. Umso mehr ist zu begrüßen,
zur Folge haben. dass auf Einladung des zuständigen Finanzministeriums
erst kürzlich mit allen Beteiligten entsprechende Gesprä-
Ich betone es noch einmal: Auch damals war das Ziel che stattfanden. Dies wurde von vielen Seiten betont.
ein fiskalisches; es ging um erhoffte Mehreinnahmen, Ebenso hervorgehoben wurde die gute Zusammenarbeit
die aber ausblieben. Bleibt die Frage: Was ist diesmal auf europäischer Ebene, denn nur gemeinsam kann die-
anders? Die Steuererhöhung wird über mehrere Jahre bis sem Problem entgegengewirkt werden. Ich möchte an
8734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) dieser Stelle den zuständigen Behörden unsere Anerken- zählen kann, ist in den vergangenen Monaten aufgefal- (C)
nung und unseren Respekt vor ihrer Arbeit zum Aus- len, wie das von ihnen aufgelegte Sparpaket nach und
druck bringen. nach löchrig wie der sprichwörtliche Schweizer Käse ge-
worden ist. Überall, wo Wirtschaft oder Vermögende
Ich fasse zusammen: Die Änderungen bei Verbrauch- stärker in die Pflicht hätten genommen werden können
steuergesetzen, basierend auf einer Richtlinie der EU, in und müssen, ist fast nichts passiert. Vor gar nicht allzu
Verbindung mit einer moderaten Steuererhöhung auf Ta- langer Zeit haben Sie die Kernbrennstoffsteuer beschlos-
bakprodukte im Inland sollen die Einnahmen erhöhen sen. Die ohnehin viel zu knapp bemessene Steuer wurde
und stabilisieren. Ziel ist es auch, Planungssicherheit für gleich bei erster Gelegenheit durch einen vorgezogenen
Verwaltung, Handel sowie Industrie herzustellen. Es fin- Austausch von Brennelementen in Biblis unterlaufen.
det die Kompensierung von Einnahmeausfällen im
Haushalt statt; und dies trägt zum Erhalt von Arbeitsplät- Nicht die geringsten Abschläge hingegen wurden den
zen an anderer Stelle bei. Damit ist das vorrangige Ziel Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfängern bei
ein fiskalisches. Sollte diese Maßnahme jedoch auch den umfangreichen Leistungskürzungen gewährt. Da ha-
dazu beitragen, dass auch nur ein Mensch mit dem Rau- ben sie all das, was sie streichen wollten, auch wirklich
chen aufhört oder ein Jugendlicher erst gar nicht damit gestrichen – ohne Ausnahme! Von der Tabaksteuererhö-
anfängt, dann wird diese gesundheitspolitische Maß- hung werden wieder einmal besonders die ärmeren
nahme mindestens ebenso von uns begrüßt. Schichten betroffen sein. Die Anhörung hat einmal mehr
gezeigt, dass in jenen Bevölkerungsgruppen mit niedri-
gem Einkommen und schlechter Bildung am meisten ge-
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Ich kann mich noch
raucht wird.
sehr gut an die volltönenden Ankündigungen der FDP
erinnern: Steuerhöhungen wird es mit uns nicht geben. Hier wird erneut ein zentrales steuerpolitisches
Von mehr Brutto vom Netto war die Rede. Gerechtigkeitsproblem deutlich: Verbrauchsteuern – wie
die Tabaksteuer – sind von allen Menschen in gleicher
Offenbar waren ihre Steuerversprechen reine Wahl- Höhe und unabhängig von der Höhe der individuellen
kampftaktik, und der Koalitionsvertrag ist das Papier Einkommen zu zahlen. Arme zahlen so viel wie Reiche.
nicht wert, auf dem er geschrieben worden ist: Heute Mit jeder Erhöhung der Steuersätze steigt auch die
werden sie bei der Tabaksteuer eine lupenreine Steuerer- Belastung der Armen gegenüber den Reichen überpro-
höhung beschließen. Damit es möglichst wenige Men- portional an. Menschen mit hohen Einkommen sind es
schen merken, haben sie vorsorglich die heutige Debatte aber, deren Steuern seit Jahren systematisch gesenkt
zu einer entsprechend späten Zeit angesetzt. Dieses Ab- werden, sodass sich Deutschland im internationalen Ver-
ducken lassen wir ihnen aber nicht durchgehen. Wo im- gleich der Vermögens- und Kapitalertragsteuern mittler-
(B) mer es mir und meinen Fraktionskollegen möglich ist, (D)
weile streueroasenähnlich im untersten Mittelfeld be-
werden wir den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über wegt.
ihre einseitige und ungerechte Steuerpolitik berichten.
Darauf können sie sich verlassen. Unter der Überschrift „Subventionsabbau und ökolo-
gische Neuausrichtung“ sah das Sparpaket des Bundes-
Sonnenklar ist, wer die Tabaksteuererhöhung zu be- kabinetts vom Juni 2010 eine Reduzierung der Energie-
zahlen hat: die Verbraucherinnen und Verbraucher, ge- steuervergünstigungen der Wirtschaft im Umfang von
nauer gesagt: die Gruppe der Raucherinnen und Rau- jährlich 1,5 Milliarden Euro – 2011 war es genau 1 Mil-
cher. Der „Raucher“ als solcher hat in Deutschland und liarde Euro – vor. Nach massiven Protesten der betroffe-
in vielen anderen europäischen Ländern heutzutage fast nen Unternehmen entschloss sich die schwarz-gelbe Ko-
keine Lobby mehr. Sein Image ist schlecht. Darum eig- alition im Herbst 2010, das Einsparvolumen um über
net sich die Gruppe der Raucher auch so gut als Ziel- 500 Millionen Euro pro Jahr zu verringern.
gruppe für ihre Steuererhöhungen. Das Risiko, dass es
zu Solidarisierung durch nennenswerte Teile der Bevöl- Stattdessen wollen sie die Tabaksteuer in den nächs-
kerung kommen wird, ist gering. ten fünf Jahren schrittweise erhöhen. Ihr Vorhaben, die
Verbraucher zur Konsolidierung des Bundeshaushalts
Wes Geistes Kind die Erfinder der Tabaksteuererhö- heranzuziehen, ist mit erheblichen Unsicherheiten be-
hung sind, ist offenkundig: Das vorgelegte Tabaksteuer- haftet. Dies hat die Anhörung des Finanzausschusses be-
modell hat das Bundesfinanzministerium zusammen mit stätigt. Ihre Erwartungen basieren einzig und allein auf
Vertretern der Tabaklobby und des Handels entwickelt – der Hoffnung, dass die Steuererhöhungsschritte moderat
bereits Monate vor der Kabinettsklausur. Kein Wunder genug ausfallen, um keine nennenswerten Ausweichre-
also, dass dieses Gesetz von der Tabakindustrie gelobt aktionen der Verbraucher auszulösen. Wie bei früheren
wurde, werden doch praktisch alle wichtigen Ziele ver- Preiserhöhungen konnten die Sachverständigen nicht
fehlt: Die Steuermehreinnahmen werden kläglich sein, ausschließen, dass die Konsumenten auf geringer be-
und präventive Wirkungen zum Schutz der Menschen steuerte oder illegale Tabakwaren umsteigen oder sogar
vor den Folgen des Rauchens und Passivrauchens sind das Rauchen aufgeben.
nicht einmal in der Begründung zum Gesetz zu finden.
Verbesserter Jugendschutz: Fehlanzeige! Der verhaltene Beifall der Tabakwirtschaft für die
schrittweise Steuererhöhung überrascht mich nicht, bietet
Den Kollegen von der CDU/CSU und FDP geht es diese doch hinreichend Gelegenheit zur Preis- und
doch in allerster Linie darum, ihren Haushalt zu retten. Marktanteilsgestaltung. Auch für die organisierte Krimi-
Jedem, der auch nur halbwegs eins und eins zusammen- nalität, so die unmissverständliche Warnung der Zollge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8735

(A) werkschaft BDZ und des Zollkriminalamtes, werden die kommt die Opposition zu dem Ergebnis, dass die Erhö- (C)
„Gewinnchancen“ steigen. Nach den Erfahrungen bei hung nun doch nicht so hoch ausfallen darf, um eine Ab-
früheren Preiserhöhungen konnten und wollten die Sach- wanderung zu „Cross-Border-Einkäufen“, zum Schwarz-
verständigen nicht ausschließen, dass die Konsumenten markt und Schmuggelware zu verhindern.
auf geringer besteuerte oder illegale Tabakwaren umstei-
gen werden. Es war irritierend, dass gerade die Tabakin- Was denn nun? Erhöhung ja? Erhöhung nein? Erhö-
dustrie das Argument des zunehmenden Schmuggels ins hung vielleicht? Meine Damen und Herren von der Op-
Feld führte. Schließlich hat diese im letzten Jahr ihre position, wie hätten Sie es gerne, und was sind Ihre Prio-
Preise um ganze 8 Prozent erhöht. Damals war von zu- ritäten? Sie müssen sich schon entscheiden: Wollen Sie
nehmendem Schwarzhandel aber keine Rede. die Tabaksteuer zum Wohle von Jugendschutz und
Volksgesundheit einheitlich deutlich erhöhen und dies
Weil gerade die ärmeren Schichten von der Steueran- möglichst sofort in einem kräftigen Schritt, oder wollen
hebung betroffen sein werden, halten wir es für zwin- Sie zum Wohle der niedrigen Einkommensgruppen die
gend notwendig, die Angebote zur Suchtbekämpfung Steuer gar nicht beziehungsweise nur moderat erhöhen?
und Hilfen bei der Rauchentwöhnung zu verstärken. An- Beides zusammen geht nicht.
ders als die Lobbyvertreter waren sich die Wissenschaft-
Für uns steht fest, dass die jährlich vorgesehenen
ler einig, dass dieses Gesetz gesundheitspolitisch viel
Steuerschritte Herstellern, Industrie und Handel über
besser hätte wirken könnte, wenn die Steueranhebung
Jahre Planungssicherheit geben und für den Verbraucher
möglichst kurzfristig und in einem Schritt erfolgen
mit 4 Cent bis 8 Cent Erhöhung pro Packung jährlich zu-
würde. Ein Vorschlag, dem die schwarz-gelbe Koalition
mutbar sind. Feinschnitttabak wird stärker erhöht, um
wohl leider nicht folgen wird. Zu stark ist die Lobby!
die Differenz zum Zigarettenpreis zu verringern. Die Ex-
Für den Staat, unsere Gemeinschaft, wird die Rech- perten waren in der Anhörung überwiegend der Mei-
nung unter dem Strich kaum aufgehen: Die veranschlag- nung, dass wir die geplanten Steuermehreinnahmen
ten Steuermehreinnahmen, die bis 2015 auf 1 Milliarde durchaus realisieren können: Die moderaten Erhöhungen
Euro pro Jahr anwachsen sollen, werden nicht erzielt verhindern, dass die Konsumenten verstärkt auf
werden können; die exorbitanten Kosten für die Folgen Schmuggelware und legale Grenzeinkäufe ausweichen
des Rauchens bleiben uns erhalten. Ihrem Gesetzentwurf und dass die auf europäischer Ebene erreichte Anhebung
können wir daher auf keinen Fall zustimmen. der Mindeststeuern, die zur Verringerung des Preisunter-
schiedes zwischen einzelnen Staaten eingeführt wurde,
Dr. Birgit Reinemund (FDP): 90 Prozent der heuti- konterkariert wird. Auch sind nennenswerte Ausweich-
gen Gesetzesvorlage umfassen unstrittige technische bewegungen auf Billigprodukte bei diesen geringen Stei-
gerungen nicht zu erwarten.
(B) Änderungen zur Umsetzung von EU-Vorgaben. Eine (D)
kontroverse Diskussion entfachte sich lediglich an der Um noch auf die Aspekte Gesundheitspolitik und Ju-
geplanten Erhöhung der Tabaksteuer. Um nicht um den gendschutz einzugehen: Ich bin mir sicher, dass auf-
heißen Brei herumzureden: Laut Gesetzesbegründung grund der höheren Kosten der eine oder andere Jugendli-
dient diese Maßnahme in erster Linie fiskalischen Ziel- che mit dem Rauchen erst gar nicht angefangen wird.
setzungen. Sie leistet einen Beitrag zur Haushalts- Und wenn der eine oder andere erwachsene Raucher die
konsolidierung. Zusätzlich hat sie sicherlich positive Ne- Erhöhung zum Anlass nimmt, mit dem Rauchen aufzu-
beneffekte für den Jugendschutz und die gesundheitliche hören, haben wir mit dieser fiskalischen Maßnahme
Prävention. auch etwas für Jugendschutz und Gesundheit erreicht.
Die Erhöhung der Tabaksteuer in fünf Schritten, ver- Entfallen dadurch Steuereinnahmen, profitiert die Volks-
teilt über fünf Jahre, ist moderat. So wurde es von den wirtschaft dennoch aufgrund geringerer Folgekosten des
meisten Experten während der Anhörung am Dienstag Rauchens, das heißt durch weniger Krankheitskosten
bestätigt, wie auch die gesamte Vorlage begrüßt wurde – und durch eine höhere Lebenserwartung.
und zwar eindeutig und in erstaunlich großer Einmütig- Ich verhehle nicht, dass diese Steuererhöhung nicht
keit. Weniger eindeutig ist, was die Oppositionsparteien der Herzenswunsch der FDP-Bundestagsfraktion war.
eigentlich wollen. Aber sie leistet einen Beitrag zur Konsolidierung des
Haushaltes, ohne die betroffenen Verbraucher übermäßig
Einerseits wird diese Erhöhung als unzumutbar für
zu belasten. Das können wir mittragen.
sozial schwache Raucher kritisiert; deshalb, so die Op-
position, dürfe es diese Tabaksteuererhöhung eigentlich
gar nicht geben. Andererseits sorgt sich die Opposition Richard Pitterle (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
um den Jugendschutz. Deshalb kommt man zu dem Er- setzentwurf verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele:
gebnis, dass die Erhöhung der Steuer auf Feinschnitt Erstens werden Vorgaben der Europäischen Union für
deutlich höher ausfallen müsse, damit die Jugendlichen ein neues allgemeines Verbrauchsteuersystem in natio-
nicht mit selbstgedrehten Zigaretten in die Droge Niko- nales Recht umgesetzt.
tin einsteigen. Darüber hinaus macht man sich Gedanken
um die Volksgesundheit: Auch aus dieser Sicht sollte die Zweitens wird die notwendige Umsetzung des euro-
Tabaksteuer nicht moderat, sondern deutlich erhöht wer- päischen Rechts zum Anlass genommen, um politische
den. Und zum guten Schluss wird noch über die Folgen Zugeständnisse an die Unternehmerverbände im Bereich
der Steuererhöhung auf eine Ausweitung des Schwarz- der Ökosteuer über eine Erhöhung der Tabaksteuer zu
marktes und des Schmuggels nachgedacht. Hierbei finanzieren.
8736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010

(A) Der französische Schriftsteller Victor Hugo sagte ein- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So lang- (C)
mal: „Tabak verwandelt Gedanken in Träume.“ Die sam hat man sich daran gewöhnt: Wenn Schwarz-Gelb
Regierungskoalition will hier ihren Traum von Mehrein- ein Gesetz verabschieden will, gibt es entweder Zustim-
nahmen in ein Gesetz verwandeln. Im Gegensatz zur mung aus der Wirtschaft, oder das Gesetz wird nicht um-
FDP, die vor den Wahlen versprochen hatte, mit ihr gesetzt.
werde es keine Steuererhöhungen geben, sind wir nicht
grundsätzlich gegen Steuererhöhungen, wenn die Ver- Die mit dem vorliegenden Gesetz verbundene Erhö-
mögenden dieser Gesellschaft erreicht werden. Aber hung der Tabaksteuer ist das perfekte Beispiel dafür. Der
Deutsche Zigarettenverband unterstützt den Gesetzes-
Verbrauchsteuern zu erhöhen, ist sozial ungerecht, weil
entwurf von schwarz-gelb ausdrücklich. Und der BDI
diese von allen Menschen, unabhängig von der Höhe ih-
lacht sich leise ins Fäustchen. So etwas hat vor dieser
res Einkommens, zu zahlen sind. Mit der Erhöhung der
Regierung wohl noch keiner geschafft: die Tabaksteuer
Tabaksteuer verlagert Schwarz-Gelb die Finanzierung
zu erhöhen und ausgerechnet von denen bejubelt zu wer-
der Staatsaufgaben wieder einmal von der Wirtschaft auf
den, die eigentlich dagegen wettern müssten, nämlich
die Bürgerinnen und Bürger. Frau Bundeskanzlerin und von der Zigarettenindustrie. Das ist ein deutliches Indiz
wir Bundestagsabgeordnete werden mit der Erhöhung dafür, dass etwas faul ist im Staate Deutschland. Und tat-
weniger belastet als die Durchschnittsverdienerin und sächlich: Da ist etwas faul – und das mindestens in drei-
der Durchschnittsverdiener. Darum ist diese Erhöhung erlei Hinsicht. Erstens bleiben bei diesem Gesetz
nicht nur unsozial, sondern auch ungerecht. Meine Frak- gesundheitspolitische Fragen ganz bewusst und aus-
tion lehnt daher dieses Gesetz ab. drücklich unberücksichtigt. Das Gesundheitsministe-
In der Anhörung haben einige Sachverständige be- rium war nicht beteiligt – und das bei der Tabaksteuer,
gründet, warum eine Tabaksteuererhöhung geeignet dazu gehört schon gehörige Chuzpe. Zweitens ist dieses
Gesetz unsozial, denn Sie belasten mit diesem Gesetz er-
wäre, den Gesundheitsschutz zu stärken. Aber der
neut einkommensschwache Schichten, um die Wirt-
Gesundheitsschutz lag nicht in der Absicht von
schaft zu entlasten. Drittens zeigen Sie mit diesem
Schwarz-Gelb. Ich selbst bin ein überzeugter Verfechter
Gesetz, was dieser Koalition ihre vermeintlichen eige-
des Nichtraucherschutzes und nehme die Argumente
nen Prinzipien – nämlich „keine Steuererhöhungen“ –
zum Gesundheitsschutz ernst. Rauchen gefährdet die tatsächlich wert sind, wenn sie für die gesamte Gesell-
Raucherinnen und Raucher. Es schadet auch ihren Fami- schaft gelten sollen und nicht nur für Mövenpick: nichts.
lien und Freunden, die oft zum Passivrauchen gezwun-
gen werden. Die Tabaksteuererhöhung, wie sie im Ge- Zur gesundheitspolitischen Wirkung Ihrer Tabaksteu-
setz angelegt ist, ist jedoch der falsche Weg, den wir ererhöhung hat die Anhörung Erhellendes zutage geför-
(B) (D)
nicht akzeptieren. Selbst die Sachverständigen, die aus dert. Erstens, die Tabaksteuer kann ein sehr wirksames
Gründen des Gesundheitsschutzes eine Erhöhung der Instrument sein beim Nichtraucherschutz. Raucher und
Tabaksteuer befürworteten, kritisierten die Erhöhung in Raucherinnen reagieren auf Preisänderungen nachweis-
kleinen Schritten, wie im Gesetzentwurf vorgesehen. lich sehr stark mit Konsumänderungen. Ein wirklicher
Dies sei zwar „marktschonend“, habe aber die Konse- Nichtrauchereffekt, also ein starkes Sinken der Raucher-
quenz, dass möglichst wenige Leute deswegen aufhören, zahlen braucht aber ein klares Preissignal. Ein paar Cent
zu rauchen. Kein Wunder, dass die Tabaklobby für diese sind unterhalb der Wahrnehmungsschwelle für eine Ver-
Art der Tabaksteuererhöhung in der Anhörung öffentlich haltensänderung. Und welche Schlussfolgerung ziehen
gedankt hat. Sie von der Koalition daraus? Sie drehen die gesund-
heitspolitische Debatte von den Füßen auf den Kopf und
Die von Schwarz-Gelb geplante Erhöhung der Tabak- machen die Erhöhung peinlichst genau gerade so, dass
steuer bringt in keinem Fall die gewünschten Einnahmen auf jeden Fall niemand droht, mit dem Rauchen aufzu-
und wird die Ökosteuergeschenke an die Wirtschaft hören. Kein Wunder, dass Sie dafür Applaus von der Zi-
nicht kompensieren können. Auch die Sachverständigen garettenindustrie bekommen. Aber versündigt haben Sie
in der Anhörung haben dies bestätigt, sofern sie unab- sich damit an den Kindern und Jugendlichen, die Sie
hängig waren, und nicht zu dem Dutzend Vertretern der eben gerade bewusst nicht davon abhalten, mit dem Rau-
Tabakindustrie gehörten, die Schwarz-Gelb zu der An- chen anzufangen. Hierzu hätten Sie die Steuererhöhung
hörung eingeladen hatte. in ein oder zwei Schritten umsetzen können, sich dabei
allerdings gegen die Tabaklobby stellen müssen. Vor al-
Meine Damen und Herren von der Koalition, das von lem hätte Feinschnitt endlich genauso wie Zigaretten be-
Ihnen angestrebte fiskalische Ziel werden Sie nicht errei- steuert werden müssen. Denn gerade für junge Men-
chen. Sie werden auch keine gesundheitspolitischen schen gilt, dass sie erst gar nicht mit dem Rauchen
Wirkungen erzielen. Notwendig ist nämlich ein konse- beginnen oder dass sie damit wieder aufhören, wenn Ta-
quenter Nichtraucherschutz auf Bundesebene, der die bakprodukte schlagartig verteuert werden. Wer jedoch
Beschäftigten in den Betrieben vor Rauch schützt und als Kind oder Jugendlicher nicht zum Raucher wird,
das Rauchen nicht allein aufgrund von steigenden Kos- bleibt mit großer Wahrscheinlichkeit auch sein restliches
ten unattraktiv macht. Wer jedoch wie Sie nur an den In- Leben Nichtraucher. Kurz- und mittelfristig führt der ge-
teressen von Lobbyverbänden ausgerichtet ist, von dem sundheitspolitische Effekt sogar dazu, dass mit einem
kann man nicht erwarten, dass er sich ernsthaft um einen mutigen Erhöhungsschritt die Steuereinnahmen bei der
effektiven Nichtraucherschutz bemüht. Einkommensteuer und bei anderen Steuerarten steigen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Dezember 2010 8737

(A) Verantwortungsvoll wäre es aber auch gewesen, die Großkonzernen einknickt. Die Kanzlerin persönlich hat (C)
Steuermehreinnahmen nicht zur Subventionierung ener- die Erhöhung der Ökosteuer kassiert. BDI und Co. haben
gieintensiver Unternehmen, sondern für Präventions- gesiegt. Insgesamt 600 Millionen Euro war Ihnen von
und Entwöhnungsprogramme zu verwenden. Nachteil der Koalition dieser Zuruf wert. Damit spart die Wirt-
dieser Politik: Die Gewinnaussichten der Tabakindustrie schaft mehr als ein Drittel ihres ursprünglichen Beitrags
wären gefährdet. Sie spekulieren stattdessen im Einver- zum Sparpaket.
nehmen mit der Zigarettenindustrie lieber darauf, dass
Das führt mich zum dritten Punkt. Bisher konnte man
sich genug Nachwuchskonsumenten finden und die be-
ja zumindest der FDP eine gewisse Prinzipientreue bei
reits Süchtigen weiterrauchen. Und um dem Zynismus
ihrem Kernmantra, keine Steuern zu erhöhen, unterstel-
noch die Krone aufzusetzen, haben Sie aber natürlich zu-
len. Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag: „Was wir vor
vor den Hartz-IV-Empfängern die Zigaretten aus dem
der Bundestagswahl den Wählerinnen und Wählern ver-
Budget herausgerechnet. Im Jahr 2012 werden wir das
sprochen haben, gilt auch danach: Steuererhöhungen zur
gesundheitspolitische Desaster dieser Tabaksteuererhö-
Krisenbewältigung kommen für uns nicht in Frage.“
hung in dem uns dann vorliegenden Evaluationsbericht
„Mit uns gibt es keine Steuererhöhungen“, sagten
nachlesen können.
Merkel, Seehofer und Westerwelle nach der Sparklausur.
Mit Widerstand der Raucher gegen Ihre Pläne hatten Noch am vergangenen Wochenende verkündeten
Sie nicht zu rechnen. Problematischer sind da schon die Brüderle und Lindner, die versprochenen Entlastungen
Tabakunternehmen und deren Verbände. Deshalb haben würden bald kommen. Das Ergebnis bekommen wir nun
Sie das Gesetz so gestrickt, dass auch die Tabakkonzerne serviert. Steuersenkungen waren vor allem das Wahlver-
gut damit leben können. Sie nehmen dabei billigend in sprechen der FDP. Steuererhöhungen sind dessen real-
Kauf, dass sich die Menschen ihre Gesundheit ruinieren politische Umsetzung. Pünktlich zum Jahrestag, an dem
und die Kosten der Krankenversicherung in die Höhe ge- Sie die Tinte unter den Koalitionsvertrag gesetzt haben,
trieben werden. Hauptsache, das Haushaltsloch kann ge- der das Steuersenkungsmantra der FDP zum Motto der
stopft werden, ohne BDI, Philip Morris und Konsorten gesamten Regierung Merkel gemacht hat, haben Sie das
zu verprellen! erste Steuererhöhungsgesetz in der Koalitionsrunde am
26. Oktober beschlossen. Im Fall der Tabaksteuer er-
Das bringt mich zum zweiten Punkt. Ihre Tabaksteu-
klärte der parlamentarische Geschäftsführer der Union,
erpolitik dient nicht nur der Zigarettenindustrie. Sie ist
Altmaier, dass diese Steuererhöhung nicht als solche
vor allem ein Geschenk an den BDI. Ihr Sparpaket vom
zählt, weil sie nicht zur Krisenbewältigung gedacht sei.
Juni dieses Jahres hatte bereits eine erhebliche soziale
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, ich frage
Schieflage. Da legen Sie jetzt noch eins drauf. Nach dem
Sie: Für wie blöd halten Sie Ihre Wählerinnen und Wäh-
Motto „Rauchen für die Konzerne“ sollen Tabakkonsu-
(B) menten mit ihren Steuerzahlungen die Dreckschleudern ler eigentlich? (D)
der Industrie subventionieren. Der ursprünglich geplante Spätestens mit diesem Gesetz ist glasklar: Das einzige
Abbau der Ökosteuersubventionen war einer der weni- Prinzip, das bei Ihnen von Schwarz-Gelb noch gilt, ist:
gen Lichtblicke Ihres Sparpakets – auch wenn wir uns „Wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, darf bezah-
natürlich ein entschlosseneres Handeln gewünscht hät- len.“ Dabei ist es Ihnen völlig egal, was das für die
ten. An dieser Stelle stimmte die Richtung. Aber Sie op- Mehrheit der Bevölkerung bedeutet. Sie betreiben Ihre
fern einen der extrem seltenen guten Vorschläge von Ih- Politik zugunsten der mächtigsten Lobbies mit einer
rer Seite klientelistischen Interessen, für die einmal Schamlosigkeit, die Ihresgleichen sucht. Für mich lässt
wieder besonders Geringverdienende und Hartz-IV- das alles nur einen Schluss zu: Schwarz-Gelb wählen ge-
Empfänger zahlen werden. Ein Zuruf vom BDI-Präsi- fährdet Ihre Gesundheit – fangen Sie gar nicht erst damit
dent Keitel hat gereicht, damit Angela Merkel vor den an!
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ISSN 0722-7980

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