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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
77. Sitzung
Inhalt:
Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ein-
neten Dr. Heinz Riesenhuber . . . . . . . . . . . . 8413 A setzung einer Enquete-Kommission „Wachs-
tum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 8413 B nachhaltigem Wirtschaften und gesell-
schaftlichem Fortschritt“
(Drucksache 17/3990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8414 C
Tagesordnungspunkt 1:
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8414 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 8416 B
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Än- Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 8417 D
derung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8418 C
(Drucksachen 17/3958, 17/3982) . . . . . . . . . . 8413 A
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8419 D
Zur Geschäftsordnung Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 8420 C
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8421 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8413 C Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8423 A
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 8413 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 8424 A
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 2: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8425 A
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 8425 D
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einset- Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 8426 D
zung einer Enquete-Kommission „Wachs-
tum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8428 A
nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaft-
lichem Fortschritt in der Sozialen Markt-
wirtschaft“ Tagesordnungspunkt 3:
(Drucksache 17/3853) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8414 C
Befragung der Bundesregierung: Umwelt-
bericht 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8429 B
in Verbindung mit
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8429 B
Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8430 C
Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sabine Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister
Leidig, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abge- BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8430 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Mündliche Frage 29
Mündliche Frage 12 Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN)
Ausfuhrgenehmigung bei Kriegswaffen und
Beteiligung der Finanzinstitute in Deutsch- sonstigen Rüstungsgütern seit Amtsantritt
land an der Lösung der Schuldenkrise der Bundesregierung
Antwort Antwort
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8443 C BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8448 A
Zusatzfragen
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Zusatzfragen
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8444 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8448 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8444 D
Mündliche Frage 30
Mündliche Frage 17 Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN)
Anteil der Waffenexporte seit Amtsantritt
Besteuerung von Biokraftstoffen der soge- der Bundesregierung mit Projektierungen
nannten ersten Generation ab 1. Januar unter rot-grüner, schwarz-roter und schwarz-
2013 gelber Regierung
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Antwort Anlage 4
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8455 D Mündliche Frage 7
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Zusatzfragen DIE GRÜNEN)
Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 8456 A
Forderungen nach Einschränkung der Pres-
sefreiheit bei erhöhter Terrorgefahr
Zusatztagesordnungspunkt 2: Antwort
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär
nen der CDU/CSU und der FDP: Schlichtungs- BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8472 B
spruch zum Bahnprojekt Stuttgart 21 . . . . 8456 D
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 8456 D Anlage 5
Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . 0000 A
8457 D Mündliche Frage 9
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8459 A Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8459 D
Anpassung der Servicezeiten an Bahnhöfen
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ an die Bedürfnisse von Reisenden mit Mo-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8460 C bilitätseinschränkungen
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 8461 D Antwort
Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8463 A Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8472 C
Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8464 C
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8465 B
Anlage 6
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8466 C
Mündliche Frage 10
Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 8468 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8469 D Abschluss eines Steuerabkommens mit der
Schweiz unter Einbeziehung einer anony-
men Abgeltungsteuer
Anlage 1
Antwort
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 8471 A Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8472 D
Anlage 2
Mündliche Frage 1 Anlage 7
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Mündliche Frage 11
Heinz Paula (SPD)
Schadensersatzansprüche gegenüber Wertpa-
pierdienstleistungsunternehmen bei fehler- Erhalt des Zollstatus des Augsburger Flug-
hafter Anlageberatung hafens
Antwort Antwort
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8471 D BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8473 C
Anlage 3 Anlage 8
Mündliche Frage 6 Mündliche Frage 13
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Klaus Ernst (DIE LINKE)
Verfahren an Landwirtschaftsgerichten mit Kredite deutscher Banken an Spanien, Ir-
Bezug auf § 19 Grundstückverkehrsgesetz land und Portugal seit 2005
Antwort Antwort
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8472 A BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8473 D
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Anlage 9 Anlage 14
Mündliche Frage 14 Mündliche Frage 21
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) Gabriele Hiller-Ohm (SPD)
Anlage 11 Anlage 16
Anlage 17
Anlage 12
Mündliche Fragen 24 und 25
Mündliche Frage 19 Garrelt Duin (SPD)
Hans-Joachim Hacker (SPD)
Stärkung der Binnennachfrage und Steige-
Entwicklung eines sanften Tourismus in der rung des Wachstumspotenzials in Deutsch-
Region Kyritz-Ruppiner Heide land; Ausgleich der wirtschaftlichen Un-
gleichgewichte unter den EU-Staaten
Antwort
Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär Antwort
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8474 C Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8476 A
Anlage 13
Anlage 18
Mündliche Frage 20 Mündliche Frage 26
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) Doris Barnett (SPD)
Rückforderung der an die Deutsche Zen- Folgen der Verschiebung des Starts der Da-
trale für Tourismus gezahlten Bundesmit- tenabrufphase des elektronischen Entgelt-
tel mit zweckwidriger Verwendung nachweises (ELENA)
Antwort Antwort
Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär
BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8474 D BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8476 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 VII
Anlage 19 Anlage 23
Mündliche Frage 31 Mündliche Frage 40
Doris Barnett (SPD) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Gespeicherte Datensätze seit Einführung Maßnahmen auf EU-Ebene zur Stärkung
der Datenerfassungs- und -übermittlungs- der Rechte von Menschen mit Behinderung
verordnung im Jahr 1998 bzw. des Starts gemäß UN-Behindertenrechtskonvention
der Datenerhebungsphase des elektroni-
schen Entgeltnachweises und Zugriff auf Antwort
diese Datensätze Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8478 B
Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8476 D Anlage 24
Mündliche Frage 41
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Anlage 20
Förderung inklusiver Bildungssysteme
Mündliche Frage 32 Antwort
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
DIE GRÜNEN) BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8478 C
Umsetzung der Komplexleistung Frühför-
derung
Anlage 25
Antwort Mündliche Frage 42
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8477 A DIE GRÜNEN)
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention im Themenkom-
plex Bildung und Forschung
Anlage 21
Antwort
Mündliche Frage 33 Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8478 D
DIE GRÜNEN)
Evaluierung der Leistungen der Kranken- Anlage 26
versicherungsträger im Rehabilitations-
prozess Mündliche Frage 43
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
Antwort DIE GRÜNEN)
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Gemeinsames Lernen von behinderten und
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8477 B nicht behinderten Kindern
Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
Anlage 22 BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8479 B
Mündliche Fragen 38 und 39
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Anlage 27
DIE GRÜNEN)
Mündliche Fragen 44 und 45
Entwicklung der Arbeitslosenzahlen bei Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
Menschen mit Behinderung seit Inkrafttre- DIE GRÜNEN)
ten der UN-Behindertenrechtskonvention; Reform der Eingliederungshilfe und Be-
etwaige Planung eines Nachteilsausgleichs wertung des Mehrkostenvorbehalts nach
für Menschen mit Behinderung § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII
Antwort Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8477 C BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8479 C
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Anlage 28 Anlage 32
Mündliche Frage 46 Mündliche Fragen 55 und 56
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Anrechnung des Kindergeldes bei Eltern
von Erwachsenen mit Behinderungen bei Stärkere Berücksichtigung der unterschiedli-
Bezug von Eingliederungshilfe und Be- chen Lebenssituationen von Frauen und
schäftigung in einer Werkstatt für behin- Männern in den künftigen Berichten über
derte Menschen die Lage behinderter Menschen; aktuelle
Datenlage zu Menschen mit Behinderung
Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Antwort
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8479 D Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8481 C
Anlage 29 Anlage 33
Mündliche Fragen 47 und 48 Mündliche Fragen 57 und 58
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
Hilfen zur Existenzgründung für Behin- Maßnahmen zur Sicherung des Zugangs zu
derte gemäß UN-Behindertenrechtskonven- Dokumenten, Schulbüchern, E-Books, digi-
tion talen Bibliotheken, Nachschlagewerken,
Fernsehprogrammen, Filmen und anderen
Antwort kulturellen Aktivitäten gemäß Art. 30 Abs. 1
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär der UN-Behindertenrechtskonvention
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8480 B
Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8481 D
Anlage 30
Mündliche Fragen 49 und 50
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ Anlage 34
DIE GRÜNEN)
Mündliche Fragen 59 und 60
Umsetzung der Barrierefreiheit gemäß UN- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
Behindertenrechtskonvention auf Bundes- DIE GRÜNEN)
und Länderebene
Vorlage eines Aktionsplans zur Umsetzung
Antwort der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär sowie Einrichtung von Focal Points nach
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8480 C Art. 33 BRK
Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8482 C
Anlage 31
Mündliche Fragen 53 und 54
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Anlage 35
Umsetzung der Barrierefreie-Informations- Mündliche Frage 61
technik-Verordnung (BITV) gemäß UN-Be- Anette Kramme (SPD)
hindertenrechtskonvention und Schritte zur
Einführung der novellierten Verordnung Auswirkungen der Haushaltskürzungen in
BITV 2 Jobcentern bzw. Optionskommunen
Antwort Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8481 A BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8483 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 IX
Anlage 36 Antwort
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
Mündliche Frage 62
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8484 B
Anette Kramme (SPD)
Auswirkungen der Aufhebung der Ober-
grenze für befristet Beschäftigte in Jobcen- Anlage 41
tern auf die Zahl der Mitarbeiter und Mit- Mündliche Frage 69
arbeiterstunden Klaus Ernst (DIE LINKE)
Antwort Zuzug von Arbeitskräften aus osteuropäi-
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär schen EU-Staaten nach Inkrafttreten der
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8483 B Arbeitnehmerfreizügigkeit
Antwort
Anlage 37 Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8484 D
Mündliche Fragen 63 und 64
Bärbel Bas (SPD)
Kostendeckende Überweisung der Kran- Anlage 42
kenversicherungsbeiträge an Arbeitslosen- Mündliche Fragen 70 und 71
geld-II-Empfänger durch die Bundesagen- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
tur für Arbeit DIE GRÜNEN)
Antwort Rechte an der Marke „Informationsdienst
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär Holz“
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8483 C
Antwort
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
Anlage 38 BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8485 B
Mündliche Frage 65
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) Anlage 43
Streichung des Tarifvorbehalts im Arbeit- Mündliche Frage 72
nehmerüberlassungsgesetz zur Verhinde- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE)
rung von Lohndumping über ausländische
Tarifverträge Länder mit erhöhten Gebühren bzw. Steu-
ern für Transaktionen mit Nahrungsmit-
Antwort teln und Agrarrohstoffen
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8483 D Antwort
Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär
BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8485 C
Anlage 39
Mündliche Frage 66 Anlage 44
Sabine Zimmermann (DIE LINKE)
Mündliche Frage 73
Zusammenarbeit der Bundesagentur für Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
Arbeit mit ausländischen Leiharbeitsagen- DIE GRÜNEN)
turen
Beschaffung des Airbus A400M für die
Antwort Bundeswehr
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8484 B Antwort
Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 8485 D
Anlage 40
Anlage 45
Mündliche Fragen 67 und 68
Mündliche Frage 74
Werner Dreibus (DIE LINKE)
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
Bedingungen für das Tätigwerden von DIE GRÜNEN)
Leiharbeitsfirmen in Deutschland mit Sitz
Inhalte der geplanten Bundeswehrreform
in den 2004 der EU beigetretenen mittel-
und osteuropäischen Ländern und Anfor- Antwort
derungen für die eingesetzten Leiharbeiter Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 8485 D
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Anlage 46 Antwort
Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär
Mündliche Frage 75
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8487 B
Anlage 55 Antwort
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
Mündliche Fragen 89 und 90 BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8491 A
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Überprüfung des Bedarfsplans Straße durch
das BMVBS Anlage 60
Antwort Mündliche Frage 96
Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8489 D DIE GRÜNEN)
Barrierefreiheit im Bahnverkehr
Anlage 56
Antwort
Mündliche Fragen 91 und 92 Jan Mücke, Parl. Staatssekretär
Ulrike Gottschalck (SPD) BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8491 B
Anlage 64 Anlage 68
Mündliche Frage 100 Mündliche Frage 105
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Nicole Gohlke (DIE LINKE)
DIE GRÜNEN) Entwicklung der Studienanfängerquote 2010
gegenüber 2009
Vorbehalte des Landes Schleswig-Holstein
zur Bund-Länder-Nachrüstliste für Atom- Antwort
kraftwerke und Meldung der Länder zum Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
tatsächlichen Nachrüstbedarf einzelner An- BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8493 C
lagen
Antwort
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin Anlage 69
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8492 B
Mündliche Frage 106
Klaus Hagemann (SPD)
Kosten und weitere Verwendung des Wis-
Anlage 65 senschaftszuges
Mündliche Frage 101 Antwort
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
DIE GRÜNEN) BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8493 D
Auswirkungen des § 37 des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes auf die EEG-Umlage
Antwort Anlage 70
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin Mündliche Frage 107
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8492 C Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Atommülltransport aus dem Forschungs-
Anlage 66 zentrum Jülich nach Lubmin
(A) (C)
Redetext
77. Sitzung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sabine Leidig, Eva Bulling-Schröter, wei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sitzung ist wieder eröffnet.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Wachs-
Herr Kollege Koppelin möchte einen Antrag zur Ge- tum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu
schäftsordnung stellen. nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftli-
chem Fortschritt“
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
– Drucksache 17/3990 –
Herr Präsident! Wir haben in der FDP-Fraktion über
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beraten. Wir Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir den Antrag die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
(B) (D)
ablehnen. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Sie sind wahr-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
scheinlich nur nicht auf den Namen des Wirt-
schaftsministers gekommen!)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herren! Enquete-Kommissionen haben manchmal die
Herr Kollege Beck, bestehen Sie auf Ihrem Antrag? Eigenschaft, dass sie Schubladen füllen und beschweren.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich kann Ihnen schon heute an dieser Stelle sagen, dass
NEN]: Wir halten ihn aufrecht! Sie können ja das diesmal anders wird, und zwar deshalb, weil der
darüber abstimmen lassen! Voraussichtlich erste Erfolg der Enquete-Kommission, die wir heute ein-
wird sich die Mehrheit in diesem Hause durch- setzen wollen, eigentlich schon erzielt ist.
setzen!) Er ist deshalb erzielt, weil CDU/CSU, FDP, SPD und
Also: Der Kollege Beck hat für seine Fraktion den Grüne sich gemeinsam auf die Formulierung im Titel
Antrag gestellt, den Herrn Wirtschaftsminister Brüderle „Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftli-
zur folgenden Debatte herbeizurufen. Wer stimmt für chem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ eini-
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – gen konnten. Ich betone das deshalb so, weil damit ein
Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- klarer Rahmen abgesteckt ist; denn es geht darum, diese
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen Wege innerhalb eines Systems der sozialen Marktwirt-
abgelehnt. schaft zu suchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage denjenigen, die dem Thema kritisch gegen-
überstehen, dass der Ursprungsantrag von SPD und Grü-
Wir fahren nun mit Tagesordnungspunkt 1, der ersten nen, über den wir gemeinsam diskutiert und den wir
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten dann geändert haben, schon deshalb falsch war, weil ihn
Gesetzentwurfes zur Ermittlung von Regelbedarfen und jetzt die Linken wortwörtlich übernommen haben. Des-
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozial- halb war es nach meiner Auffassung gut, meine Damen
gesetzbuch, fort. und Herren, den Antrag in dieser Form zu ändern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8415
Dr. Georg Nüßlein
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Standards seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, auf einem (C)
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist ja guten Weg. Es muss in einer solchen Kommission darum
ein Superargument!) gehen, die Fortsetzung dieses Weges sinnvoll zu be-
schreiben, und es muss auch darum gehen, auszuloten,
– Wenn Sie den Einwand bringen, das sei ein Superargu- wo an dieser Stelle die Grenzen nationaler Politik sein
ment, dann müssen Sie vielleicht noch einmal darüber können. Wir sind keine Ökoinsel Deutschland, die die
nachdenken, ob diese Argumentation für Sie, Herr Welt retten kann. Wir müssen diese Dinge, eingebunden
Steinmeier, nicht bedeuten würde, sich wirtschaftspoli- in internationale Politik, vorantreiben.
tisch auf eine Stufe mit den Linken zu stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Entkopplung des Wachstums vom Ressourcen-
Es ist damit klar, dass die Enquete-Kommission zwei verbrauch ist für mich persönlich das Feld, von dem ich
Dinge nicht tun soll. Sie soll zum einen nicht systemkri- mir die größten Implikationen für die Politik verspreche.
tisch an der sozialen Marktwirtschaft herumkritteln, wie Ich formuliere das explizit so, weil ich nicht zu denen
das viele, insbesondere in der vergangenen Wirtschafts- gehöre, die meinen, wir sollten hier Wirtschaftsphiloso-
krise, getan haben. Das ist nicht ihr Auftrag. Es ist nach phie betreiben, sondern ich meine, wir sollten uns als
meiner Meinung auch nicht ihr Auftrag, Krisen- und Roh- Mitglieder des Deutschen Bundestages insbesondere
stoffendlichkeitsszenarien zu entwerfen, die am Ende eh überlegen, was dieses Thema für unser politisches Han-
falsch sind und nur Ökoapokalyptikern die Chance ge- deln bedeuten kann.
ben, daran anzuknüpfen und politisch daraus Kapital zu
schlagen. Wir haben im Antrag auch den Anspruch formuliert,
dass wir einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fort-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schrittsindikator entwickeln wollen. Das ist ein – das
neten der FDP) sage ich jetzt als Ökonom – hehres und großes Ziel. Das
Damit bin ich bei der Frage: Was soll und was kann Bruttoinlandsprodukt ist eine Zahl. Damit wird also logi-
eine solche Enquete-Kommission? Zunächst einmal soll scherweise nur Zählbares gemessen. Alles, was qualita-
sie – und das kann sie vermutlich auch – den Stellenwert tiv zu bewerten ist, also die Wohlstandsverteilung, die
von Wachstum und Wirtschaft in unserer Gesellschaft Zufriedenheit und ähnliche Dinge, ist damit nur andeu-
ausloten. Das ist unstrittig ein spannendes Thema, vor tungsweise und indirekt abzubilden; viele sagen auch,
allem unter dem Eindruck des demografischen Wandels. diese qualitativen Aspekte seien überhaupt nicht erfass-
Das Thema ist interessant, wäre aber noch spannender, bar. Deshalb macht es Sinn, sich darüber Gedanken zu
wenn wir es aus den Perspektiven „vor der Krise“, „wäh- machen.
(B) rend der Krise“ und „nach der Krise“ betrachten könn- (D)
Das tun im Übrigen auch andere. Sarkozy hat eine
ten. Man kann ja jetzt schon, auch in der Berichterstat- Kommission eingesetzt, die einen ähnlichen Indikator
tung der Medien, feststellen, wie sich das Bild vom entwickeln soll. Dieser gehören immerhin fünf Nobel-
Wachstum in diesen Zeiten verändert hat. Insofern wird preisträger an. Insofern wird das für unser 17-köpfiges
sich da auch im Laufe der drei Jahre, in denen wir uns Expertenteam ein spannender Wettbewerb. Ich bin ge-
mit diesem Thema beschäftigen werden, einiges tun. spannt, wer hier am Ende die Nase vorne hat. Notfalls
Ich wünsche mir, dass wir dieses Thema nicht mit allzu – das meine ich jetzt im Unterschied zu dem, was ich
viel Pessimismus angehen, insbesondere nicht mit Pessi- bisher gesagt habe, nicht ernst – können wir uns eine
mismus gegenüber dem technischen Fortschritt. Ich stelle Anleihe bei dem ehemaligen König von Bhutan nehmen,
nämlich fest, meine Damen und Herren, dass viele von der das Glück seines Volkes messen und sozusagen ein
uns immer wieder einer Fehleinschätzung aufsitzen und Bruttonationalglück ermitteln möchte. Wir können ge-
die Frage stellen: Wann kommt denn das Ende dieses spannt darauf sein, wie er das machen will.
Fortschritts? Die krasseste Fehleinschätzung hat 1899 (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Charles Duell, seinerzeit Chef des US-Patentamtes, for- Wie in Bayern! – Max Straubinger [CDU/
muliert, als er sagte: „Alles, was man erfinden kann, ist CSU]: In Bayern haben wir das schon!)
schon erfunden.“ Sie werden mir recht geben: Seit dieser
Zeit hat sich einiges entwickelt. Man sollte aus dieser – Wir haben in Bayern auf jeden Fall ein hohes Maß an
krassen Fehleinschätzung seine Lehren ziehen und die Zufriedenheit, an Wohlstand und auch an Wachstum.
Themen Technologie und Fortschritt mit einem gewissen Darauf sind wir stolz. Die auf der linken Seite des Hau-
Optimismus behandeln, die „German Angst“ – der Be- ses erwarten jetzt natürlich, dass ich sage: Das liegt an
griff ist mittlerweile weltweit bekannt –, die uns prägt, et- der CSU.
was in den Hintergrund rücken und stattdessen daran (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
glauben, dass sich technisch noch einiges tut. Es stimmt ja!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das tue ich jetzt nicht. Es ist so offenkundig, dass man es
nicht explizit betonen muss. Das liegt natürlich auch an
Wenn man über Technologie spricht, dann wird es
den Bayern, die fleißig arbeiten und unser Land schon
auch um die Frage gehen: Sind wir in der Lage, Wirt-
seit vielen Jahren voranbringen.
schaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkop-
peln? Auch da bin ich sehr optimistisch. Unsere Wirt- Was ich kritisch sehe und worüber man im Rahmen
schaft ist hier auf Grundlage hoher politisch gesetzter unserer Arbeit dann auch diskutieren wird, sind all die
8416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Fritz Kuhn
(A) in der Zeit von Ludwig Erhard und Konrad Adenauer le- Es sind schwierige und wichtige Fragen, die wir zu klä- (C)
ben. Das tun wir aber nicht. Ich behaupte, dass wir in ren haben. Deswegen ist es gut, dass wir die Enquete-
den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, Kommission heute einberufen.
was den sozialen Zusammenhalt und die soziale Gerech-
tigkeit angeht, trotz steigenden Wirtschaftswachstums Am Schluss meiner Rede möchte ich etwas zur Lin-
nichts hinzugewonnen haben. ken sagen. Sicherlich ist ein rot-grüner Antrag immer
besser, als wenn die Schwarzen und die Gelben ebenfalls
Sie haben gesagt: In die Enquete-Kommission gehört daran beteiligt sind; davon können Sie ausgehen, Frau
die soziale Marktwirtschaft. Wir haben uns dem ge- Kollegin. Wir sind trotzdem so vorgegangen, weil wir si-
beugt; aber eines müssen Sie jetzt beweisen, nämlich cherstellen wollen, dass auch Sie zwei Vertreter in diese
dass wir noch eine soziale Marktwirtschaft sind. Sie Enquete-Kommission entsenden können. Das wäre näm-
müssen vor allem auch erklären, wie es um das Soziale lich nicht der Fall gewesen, wenn wir anders vorgegan-
in Deutschland bestellt ist, wenn die Wirtschaft gerade gen wären. Ich appelliere an die CDU, den Firlefanz, mit
einmal nicht wächst. Das ist ein wichtiger Punkt. Bedeu- den Linken nicht zu reden, eines Tages zu überwinden,
tet unsere politische Verfassung, dass das Soziale nur bei Herr Altmaier. Denn sie haben das gleiche Mandat vom
Wachstum gesichert ist? Volk wie jeder von uns.
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Schauen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sich unseren Bundeshaushalt an!) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Oder schaffen wir eine soziale Mindestsicherung für Deswegen wäre es ganz gut, wenigstens bei solchen Sa-
alle, die auch dann greift, wenn die Wirtschaft gerade chen mit ihnen zu reden.
einmal nicht im quantitativen Sinne wächst?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das sind hochspannende Fragen, die eine zukunftsfähige Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Politik beantworten muss. Das Wort hat nun Bernhard Kaster für die CDU/CSU-
Das Wachstum, das durch das Bruttoinlandsprodukt Fraktion.
wiedergegeben wird, sagt nicht viel über den Wohlstand
aus. Wenn wir zwei, Herr Kollege, uns prügeln und Sie Bernhard Kaster (CDU/CSU):
ins Krankenhaus müssen, steigt das Bruttosozialprodukt, Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
(B) aber nicht der Wohlstand der Gesellschaft, und Ihrer und Kollegen! Der Einsetzungsbeschluss für diese neue (D)
schon gar nicht. Enquete-Kommission kann sich sehen lassen. Wir be-
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grüßen es ausdrücklich, dass es gelungen ist, in angeneh-
NEN und bei der CDU/CSU) men und konstruktiven Gesprächen zwischen den ein-
bringenden Fraktionen sehr schnell Einvernehmen über
Dieses einfache Beispiel zeigt, dass wir uns auf solche die Problembeschreibung und auch die Aufgabenstel-
Indikatoren nicht verlassen können, Herr Nüßlein. lung zu erzielen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])
Spannend ist, ob wir es schaffen, das Problem der Das ist nicht selbstverständlich. Aber es ist gut, dass ge-
ökologischen Knappheit und der Ressourcenknappheit rade diese Enquete-Kommission auf einer breiten parla-
durch den Glauben an mehr Ressourcenproduktivität mentarischen Basis steht.
und -effizienz zu lösen. Da macht man sich sehr schnell
Hoffnungen; aber die Zahlen geben dazu nicht immer Die großen Herausforderungen der Zukunft, die viel-
Anlass. Ich verweise auf eine Zahl aus dem aktuellen fältigen Fragestellungen und das Ziel, vor allem Hand-
Umweltbericht der Bundesregierung: Zwischen 2000 lungsempfehlungen über so umfangreiche Sachkomplexe
und 2008 und damit in einem Zeitraum, in dem das zu erarbeiten, bieten für uns als Parlament die Chance
Wachstum 12 Prozent betrug, ist die Abfallmenge in – da stimme ich Herrn Kollegen Steinmeier zu –, den
Deutschland um 15 Prozent zurückgegangen. Jetzt könnte Bürgern gegenüber deutlich zu machen, dass man Fra-
man sagen: Toll, die Effizienz siegt! Aber wird es in den gen der Zeit, die über die Legislaturperiode hinausgehen,
nächsten acht Jahren auch so sein? Oder frisst das jenseits der Tagespolitik hier im Bundestag behandelt.
Wachstum, das wir in diesen acht Jahren haben, wenn al- Aber – da stimme ich meinem Kollegen Dr. Nüßlein aus-
les gut geht, diesen Erfolg bei der Abfallreduktion oder drücklich zu – dabei müssen am Ende Ergebnisse he-
der Ressourcenproduktivität wieder auf? Das heißt, wir rauskommen.
brauchen sehr radikale Effizienzrevolutionen, wenn wir
tatsächlich etwas erreichen wollen, wenn wir mehr Wir, die Union, stehen bei diesem Thema mittendrin,
Wachstum im Sinne des Bruttoinlandsproduktes mit und deswegen laden wir Sie gerne ein, mit uns diese
deutlich weniger Ressourcenverbrauch, als es heute der Themen zu diskutieren: Wie definieren wir Wohlstand?
Fall ist, wollen. Wie nehmen wir Verantwortung für unsere Schöpfung
wahr? Wie viel und welches Wachstum wollen wir? In
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unserem Grundsatzprogramm heißt es:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8421
Bernhard Kaster
(A) Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist fester Bestandteil Fakt, dass in den letzten 20 Jahren bereits eine Entkopp- (C)
christlich-demokratischer Politik: Wir wollen unse- lung zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcen-
ren Nachkommen eine Welt bewahren und hinter- verbrauch eingetreten ist. Diese Entwicklung muss und
lassen, die auch morgen noch lebenswert ist. Die wird sich in den nächsten Jahren noch gravierend ver-
nachfolgenden Generationen haben ein Recht auf bessern.
wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Wohlstand
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und eine intakte Umwelt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die großen He-
Deshalb hat sich die christlich-liberale Koalition in ih-
rausforderungen sind beschrieben: die Wirtschaftsent-
rem Koalitionsvertrag zur sozialen Marktwirtschaft als
wicklung, die Finanzmärkte, die demografische Ent-
der zentralen wirtschaftspolitischen Leitlinie bekannt.
wicklung, das Thema Klimawandel und viele soziale
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Fragen. Die Enquete-Kommission sollte ihren Auftrag
auch dazu nutzen, deutlich zu machen, dass die Men-
Dieses Erfolgsmodell hat uns über Jahrzehnte wirt-
schen keinen Anlass haben, ängstlich in die Zukunft zu
schaftlichen Erfolg, Wohlstand und auch soziale Sicher-
blicken. Wir sollten einen optimistischen Blick nach
heit gebracht. Das Wirtschafts- und Sozialmodell der so-
vorn haben. Unser Land Deutschland ist stark, und wir
zialen Marktwirtschaft ist nicht von ungefähr gerade in können mit unseren Partnern in Europa und in der Welt
den letzten Jahren ein Exportschlager geworden. Des-
diese großen Aufgaben mit Optimismus angehen.
halb bildet dieses Erfolgsmodell die Leitplanken für die
Arbeit in dieser Enquete-Kommission. Das muss so sein. Wir, die Union, stehen für Wohlstand, nachhaltiges
Wirtschaften, gesellschaftlichen Fortschritt und Bewah-
Wirtschaft, Marktwirtschaft und soziale Marktwirt- rung der Schöpfung; und all dies auf den Grundlagen der
schaft brauchen Regeln, und das besonders in einer sozialen Marktwirtschaft. In diesem Sinne wünschen wir
Weltwirtschaft, in der sowohl riesige Absatzmärkte wie der Enquete-Kommission viel Erfolg. Schon jetzt richte
auch neue Marktteilnehmer – teils mit Standorten, an de- ich ein Wort des Dankes und des Respekts an all diejeni-
nen billig produziert wird – hinzugekommen sind. Es ist gen, die sich in dieser Enquete-Kommission mit viel Zeit
richtig: Wir stehen insgesamt vor großen Herausfor- und Engagement einsetzen.
derungen: die allgemeine Wirtschaftsentwicklung, die
Finanzmärkte, die demografische Entwicklung, die Staats- Vielen Dank.
verschuldung und auch die Auswirkungen des Klima-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
wandels. Herausforderungen sind aber dazu da, sich ih-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
nen zu stellen, und das nicht mit Ängstlichkeit und auch
GRÜNEN)
nicht mit ideologischen Scheuklappen.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Der Einsetzungsauftrag der Enquete-Kommission stellt Das Wort hat nun Peter Friedrich für die SPD-Frak-
die richtigen Fragen: Wie definieren wir Wachstum, tion.
Wohlstand, Wohlstandsperspektiven? Wie muss die (Beifall bei der SPD)
Wettbewerbsposition unserer deutschen Unternehmen
auf den Weltmärkten in der Zukunft sein? Wie entkop-
Peter Friedrich (SPD):
peln wir wirtschaftliches Wachstum mittels technischen
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Fortschritts vom Ressourcenverbrauch?
ren! Ich denke, der Zeitpunkt, zu dem sich der Bundes-
Wir, die Union, definieren Wachstum längst nicht tag entschließt, eine solche Enquete-Kommission einzu-
mehr quantitativ. Es geht nicht um Produktmengen, es richten, ist mit Sicherheit kein Zufall. Wir diskutieren zu
geht um Qualität und ihren Wert. Wir werden gerade mit einem Zeitpunkt über Wachstum, an dem wir zwar eine
Blick auf die junge Generation weiterhin ein qualitatives konjunkturelle Erholung feststellen, gleichzeitig aber
Wachstum brauchen. Wer daran zweifelt, der soll sich auch feststellen, dass die Krisen der letzten Jahre tiefe
nur zwei Herausforderungen stellen, nämlich der demo- Spuren hinterlassen haben. Es herrscht eine Vertrauens-
grafischen Entwicklung und der Staatsverschuldung. Da- krise in Bezug auf unsere Demokratie. Wir alle können
ran wird deutlich, dass wir weiterhin qualitatives Wachs- dies als Politiker und als Abgeordnete tagtäglich in unse-
tum brauchen. ren Wahlkreisen beobachten und nachvollziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Leidig Es herrscht aber auch eine massive Vertrauenskrise in
[DIE LINKE]: Wir haben kein qualitatives Bezug auf unsere Wirtschaft und auf unsere volkswirt-
Wachstum!) schaftlichen Entscheidungswege, die Art und Weise, wie
Entscheidungen zustande kommen, und welche Auswir-
Wir brauchen Wachstum; ein wirtschaftliches Wachs-
kungen sie zeitigen.
tum, das Beschäftigung fördert, ein wirtschaftliches
Wachstum, das den Sozialstaat sichert und finanziert, Es herrscht im Übrigen auch – auch das gehört zu den
und ein wirtschaftliches Wachstum, das unsere Schöp- Themen einer Enquete-Kommission – ein Vertrauensver-
fung bewahrt. Gerade Letzteres ist für uns eine sehr hohe lust gegenüber der Wissenschaft. Es ist nicht nur einmal
politische Verpflichtung. Unser ambitioniertes Energie- über die Prognosefähigkeit unserer Volkswirtschafts-
konzept bis 2050 ist ein Beispiel dafür. Bei allem Streit, lehre und Politikwissenschaft gesprochen worden. Des-
den wir über energiepolitische Fragen führen, bleibt der halb muss in der Enquete-Kommission auch die Frage
8422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Peter Friedrich
(A) eine Rolle spielen, welche Instrumente neben dem BIP dass mancher ökonomische Fortschritt, manche Innova- (C)
und welche Wege zur Erkenntnis wir in der Frage haben, tion zur Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbe-
wie sich Wachstum vollzieht und wie wir diese Form dingungen derjenigen führt, die Teil dieses Prozesses
von Wachstum, die wir wollen, nämlich ein wertvolles sind, am unteren Ende der Wertschöpfungskette sozusa-
Wachstum und solidarischen Fortschritt, bewertet und gen, dann stellen wir fest: Wachstum, das mit einer Ver-
auch vermittelt bekommen. rohung auf dem Arbeitsmarkt verbunden wird, ist nicht
zukunftsfähig.
Wir können also feststellen: Wir tun dies zu einem
Zeitpunkt, wo es, bezogen auf unser bestehendes Wirt- Für uns Sozialdemokraten war Arbeit ein Faktor bei
schafts- und Wohlstandsmodell, einen tiefgreifenden der Gründung unserer Partei. Sie ist elementarer Teil un-
Vertrauensbruch gibt. Über zwei Drittel der Deutschen seres Selbstverständnisses. Aber Arbeit ist trotzdem
haben Zweifel daran, dass ihre Lebensqualität steigt, nicht alles. Sie ist Teil eines größeren Ganzen. Dazu ge-
wenn die Wirtschaft wächst. hören auch die Familie, das Leben allgemein, Hobbys,
Freizeit und Ehrenamt. Es geht also auch darum, zu klä-
Wenn wir das verändern wollen, wenn wir verhindern ren: Wie können wir Wachstum erreichen und gleichzei-
wollen, dass unsere Wirtschafts- und Lebensweise ihren tig die Arbeit mit den Freiheiten, die die Menschen für
Kredit in der Bevölkerung verspielt, wenn wir es also sich wollen, mit den Lebensstilen, die sie wählen, mitei-
hinbekommen wollen, dass Wachstum und Fortschritt, nander in Einklang bringen?
also unsere Volkswirtschaft insgesamt, auch wieder mit
dem Volk versöhnt werden, dann brauchen wir eine De- Es schadet Mensch und Umwelt, wenn wir einen Sta-
batte darüber, wie wir dieses Modell gemeinsam neu de- tus nur darüber definieren, welches Maß an Ressourcen-
finieren können. Es darf nicht nur um die Ausrichtung verbrauch wir uns leisten können. Es schadet dem Zu-
auf Gewinnmaximierung gehen, sondern es muss auch sammenhalt von Familie und Gesellschaft, wenn Arbeit
darum gehen, wie Lebensqualität, Zufriedenheit, auch nur darüber definiert, wie viel Zeit in Leistung umge-
Glück, Herr Solms, Umwelt- und Ressourcenschutz so- setzt wird. Beides ist kein Zukunftsmodell.
wie soziale Sicherheit gleichberechtigt eine Rolle spie- Deswegen geht es in dieser Enquete-Kommission um
len können. Die Frage ist also, welche Wege des Wirt- eine Debatte um Lebensstile und Lebensziele. Es geht
schaftens wir beschreiten wollen. darum, wie wir wirtschaftliches Wachstum, ökologische
Wir haben vor und in der Finanzkrise erlebt, dass Nachhaltigkeit sowie Lebensziele und Lebenszwecke
manches, was uns als Wachstum gefreut hat, sich in miteinander verbinden können, sodass sich die Men-
Wahrheit als Luftschloss herausgestellt hat. Wir mussten schen dem Wachstum gewachsen fühlen.
(B) feststellen: Auch wenn das BIP wuchs, wuchsen keines- Eine der zentralen Fragen, die wir dabei berücksichti- (D)
wegs die Sicherheit und die Zufriedenheit der Men- gen müssen, ist übrigens – sie ist bisher nur knapp ange-
schen. Wir haben ein Wachstum erlebt, das von Gier und sprochen worden, nämlich von Frank-Walter Steinmeier –
Egoismus, anstatt von den Werten unserer Gesellschaft die Frage der Demokratie. Es muss uns gelingen, in die-
und übrigens auch unserer Verfassung, unseres Grundge- ser Enquete-Kommission auch darüber zu diskutieren,
setzes, getrieben war. welche Wege wir in der Politik finden, neue Wachstums-
Dem wollen wir als SPD das Ziel eines wertvollen pfade in der Bevölkerung zu verankern und die Bevölke-
Wachstums entgegensetzen. Es wurde schon viel da- rung auf diesem Weg mitzunehmen.
rüber gesprochen: Nicht immer dann, wenn das BIP Wir haben nicht nur Ökologie und Ökonomie mitei-
steigt, ist damit auch wirklich Fortschritt verbunden. nander zu versöhnen und dem Ganzen auch eine soziale
Nicht jede Renditesteigerung bedeutet tatsächlich auch Dimension zu geben. Vielmehr geht es auch um die
Wohlstandssteigerung. Deswegen werden gerade wir als Frage der Demokratie und den Kampf um das Primat der
SPD uns intensiv mit der Frage beschäftigen, welche Politik, damit die Politik in einem demokratischen Ver-
Perspektive Arbeit und Teilhabe haben, wenn wir über fahren die entscheidenden Faktoren bei der Entwicklung
andere Formen und neue Wege des Wachstums spre- von Ökonomie mitbestimmen kann. Wenn es uns nicht
chen. Wir wollen dafür streiten, dass es Löhne gibt, von gelingt, die Frage des Primats der Politik im Rahmen der
denen man leben kann, dass es Arbeit gibt, die nicht Demokratie ins Zentrum der Debatte um neues Wachs-
krank macht, dass es familienfreundliche Arbeitsbedin- tum zu stellen, dann werden wir vielleicht über Zu-
gungen gibt sowie gleiche Löhne für Frauen und Män- kunftsmärkte reden; aber wir werden keine Zukunftsfä-
ner. Es muss Schluss sein mit der Ausbeutung der Jünge- higkeit für die Menschen in diesem Land erreichen.
ren, der Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt. Es
muss Ausbildungs- sowie Arbeitsplätze für Ältere ge- Herzlichen Dank.
ben. Das alles brauchen wir – der demografische Wandel
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ist schon angesprochen worden –, wenn Wachstum, über
DIE GRÜNEN)
das wir in der Enquete-Kommission reden werden, bei
den Menschen ankommen soll. Es gilt also, nicht nur die
Arbeit wertzuschätzen, sondern auch die Personen, die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Menschen selbst, die diese Arbeit verrichten. Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Wenn wir uns anschauen, welche Zustände es in
Niedriglohnsektoren zum Teil gibt, wenn wir erkennen, (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8423
(A) Michael Kauch (FDP): Das zweite Beispiel: Ich kaufe gerne Biotomaten und (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Biokäse. Aber auch hier – einmal abgesehen davon, dass
glaube, der Kollege Friedrich überdehnt den Auftrag der das für mich keine Glaubensfrage ist – möchte ich ande-
Enquete-Kommission. Wenn man meint, alle Probleme ren Menschen nichts vorschreiben, in diesem Fall, dass
dieses Landes in der Enquete-Kommission diskutieren sie nur von Ökolandbau leben dürfen. Das ist, glaube
zu können, dann wird diese Kommission nie zu einem ich, der entscheidende Unterschied, auch zu den Grünen:
Ende kommen. Sie wollen nämlich, dass am Ende alle so leben, wie Sie
es für richtig halten.
Wenn es um nachhaltiges Wirtschaften geht, müssen
wir uns auf das konzentrieren, was der Nachhaltigkeits- (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
begriff im Besonderen umfasst, nämlich das Thema Ge- NEN]: Wir wollen nur nicht so leben wie Sie,
nerationengerechtigkeit. Ja, da geht es um Umwelt und Herr Kauch! Das ist doch Blödsinn! Was reden
Klima; es geht aber auch um Bildung und Forschung, Sie denn? Die liberale Partei sind wir und
um die Schuldenkrise in Europa und in Deutschland, um nicht Sie!)
Fehlanreize im Finanzsystem, die wir alle erlebt haben, Ich möchte, dass jeder und jede so leben kann, wie er
und ebenso um die Krise der Sozialversicherungssys- oder sie es für richtig hält, und dass wir gemeinsam in ei-
teme, die im Rahmen des Umlagesystems insbesondere nen Dialog über den richtigen Weg für dieses Land ein-
diejenigen unterstützt haben, die hier die größten Verän- treten.
derungen anmahnen.
(Beifall bei der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]:
Wir brauchen ökologische Leitplanken für das Wirt- Was für eine absurde Vorstellung!)
schaften. Sie sind notwendig, insbesondere bei den na-
türlichen Ressourcen, die nicht erneuerbar sind. Arten, Der Kollege Friedrich hat von Lebenszielen und Le-
die ausgestorben sind, werden nie wiederkommen. Aber benszwecken gesprochen und gleich danach gesagt: Wir
wir müssen auch sehen, dass es ökologische Fragen gibt, brauchen das Primat der Politik. – Nein, ich möchte
bei denen es um den optimalen Weg geht, um den Aus- kein Primat der Politik über Lebensziele und Lebens-
gleich zwischen ökologischen und ökonomischen Zie- zwecke von Menschen. Da ist die ureigene, persönliche
len. Es geht um die Lebensbedingungen der Kinder- und Entscheidung von Menschen gefragt. Hier ist die Trenn-
Enkelgeneration. Da sind wir uns, glaube ich, einig. linie zwischen den vermeintlich Liberalen, die sich nur
Aber ich muss als Liberaler die Frage stellen: Wer ent- so nennen, und den tatsächlich Liberalen. Es geht näm-
scheidet eigentlich was? Ich denke, wenn es um verant- lich um die Freiheit des einzelnen Menschen.
wortliches Wachstum geht, dann ist zunächst einmal der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(B) Einzelne gefragt, und das gilt auch für die Selbstverant- der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜND- (D)
wortung der Wirtschaft. Diese taucht in Ihren Modellen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie doch
kaum auf. Dahinter folgen ökonomische Anreize des mal was Intelligentes, Herr Kauch!)
Staates, und erst ganz am Schluss können wir über Ge-
bote und Verbote des Staates für dann immer noch unge- Meine Damen und Herren, Innovation und Technik,
löste Probleme reden, aber nicht anders herum. das sind die wirklichen Schlüssel zu einer Effizienz-
revolution in diesem Land. Nur mit einer Effizienzrevo-
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wir sind aber lution werden wir es schaffen, wirtschaftliches Wachs-
ziemlich am Schluss!) tum und Ressourcenverbrauch noch weiter zu
entkoppeln. Die Industrie hat hier in den letzten Jahren
Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges gesellschaftli-
erhebliche Erfolge erzielt, durch die Einführung der
ches Thema. Aber ich bestehe darauf, dass es eben ein
Kreislaufwirtschaft und durch Energieeinsparungen.
gesellschaftliches Thema ist. Der Staat ist nicht Vor-
Wir, die christlich-liberale Koalition, gehen mit unserem
mund der Bürger, auch nicht im Auftrag der Nachhaltig-
Energiekonzept bei der Steigerung der Energieeffizienz
keit.
und beim Ausbau der erneuerbaren Energien weiter als
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten jede Bundesregierung zuvor.
der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele geben: Ich habe Chancen durch Effizienz, nicht durch Verzicht: Das
mich entschieden, kein Auto zu haben. Ich fahre im ist ein Punkt, der uns erneut von den Grünen unterschei-
Wahlkreis mit Bus und Bahn. Aber ich weiß, dass es det. Sie sind immer skeptisch, wenn es um neue Techno-
Menschen gibt, die nicht in der Großstadt, sondern auf logien geht; wir nutzen die Chancen und Hoffnungen,
dem Land wohnen, wo die Bedingungen anders sind. Ich die mit diesen Technologien verbunden sind.
weiß, dass es auch Menschen gibt, die anders leben wol-
len. Ich möchte nicht ihnen allen vorschreiben, dass sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ebenfalls ihr Auto abschaffen. der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegenteil! Sie
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind für fossile und atomare Energien! Wir
NEN]: Das will doch keiner!) sind für erneuerbare Energien!)
Schon gar nicht möchte ich, dass der Staat versucht, sie Wohlstandsindikatoren neben dem Bruttoinlands-
auf diese Weise zu beeinflussen. produkt sind wichtig: Wir brauchen qualitative Indikato-
8424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Michael Kauch
(A) ren, die unsere Wachstumssicht beeinflussen. Diese sem Land – ohnehin Wohlstand nur für wenige bringt, (C)
neuen Indikatoren können den Indikator des Bruttoin- dafür aber Armut und Abhängigkeit für viele, aus ökolo-
landsprodukts ergänzen, aber nicht ersetzen. Denn alle gischen Gründen am Ende ist, dann stellen sich jede
qualitativen Indikatoren sind anfällig für politische Will- Menge unbequemer Fragen, nicht nur an Systemgläu-
kür: Wer legt die Kriterien fest? Wer gewichtet sie? Wer bige, sondern auch an Grüne, Linke oder Gewerkschaf-
misst sie? – Ich erinnere deshalb daran: Im Zusammen- ten: Ist der Kapitalismus überhaupt in der Lage, auf
hang mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wurde Wachstum zu verzichten,
bereits ein Indikatorensystem entwickelt. Ich würde
mich freuen, wenn die Enquete-Kommission diese Ar- (Zuruf von der LINKEN: Nein! – Dr. Georg
beit, die in diesem Land bereits geleistet worden ist, in Nüßlein [CDU/CSU]: Können wir auf Kapita-
ihre Arbeit einfließen lassen würde. lismus verzichten, Frau Kollegin?)
Vielen Dank. oder braucht er das Wachstum? Ist der Drang nach Pro-
fitmaximierung nicht der Motor und Schmierstoff des
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wachstums? Wie drosselt man einen solchen Motor?
Sollten wir ihn drosseln können und wollen? Wie wären
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die sozialen Auswirkungen zu stemmen?
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sehr gute
tion Die Linke.
Frage!)
(Beifall bei der LINKEN)
Schließlich wären gravierende Strukturbrüche zu er-
warten.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Diese Strukturbrüche erfordern eine mutige Politik
jedem Jahr wird verkündet, zu welchem Zeitpunkt keine der Verteilung von oben nach unten,
erneuerbaren Rohstoffe mehr zur Verfügung stehen, weil
(Beifall bei der LINKEN)
die Menge, die ein Planet in jedem Jahr zur Verfügung
stellen kann, bereits verwendet worden ist. Das entspre- höchstwahrscheinlich in einem Ausmaß, das wir uns
chende Datum wird vom Global Footprint Network er- heute gar nicht vorstellen können. Einen zarten Vorge-
mittelt. In diesem Jahr treiben wir schon seit dem schmack auf das Ausmaß der Strukturbrüche bekommt
21. August Raubbau an der Erde. man beim Thema energetische Gebäudesanierung. Sie
Aus diesem Grund unterstützt auch die Linke aus- ist ökologisch unverzichtbar, aber zunächst ziemlich
(B) drücklich die Einsetzung einer Enquete-Kommission teuer. Die Bundesregierung will die Kosten für die ener- (D)
zum Thema Wachstum. Es muss aber klar sein – ich getische Gebäudesanierung auf die Menschen abwälzen,
möchte hier warnen –: Die Nachhaltigkeits- und sodass Warmmieten unter Umständen drastisch steigen
Wachstumsdebatte ist im Kern ökologisch; denn es könnten; aber das wollen die Leute natürlich nicht. Das
geht – das wurde schon gesagt – um die Grenzen unseres ist übrigens ein Grund, warum der Entwurf eines Klima-
Umweltraumes. Diese Grenzen werden permanent über- schutzgesetzes in Berlin gerade gescheitert ist.
schritten, sei es durch die Belastung mit Treibhausgasen Zudem steht die Frage im Raum, wie sich Beschäfti-
oder den Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen. gung künftig organisieren lässt, wenn die Produktivität
Deshalb ist es eine zentrale Frage, ob es qualitatives steigt, das Wachstum aber ausbleibt. Das geht wahr-
Wachstum – also Wachstum ohne zusätzlichen Ressour- scheinlich nur über eine drastische Umverteilung von
cenverbrauch – tatsächlich dauerhaft geben kann oder ob Arbeit und Einkommen, und zwar in einer Dimension,
dies nur eine gefährliche Illusion ist. die dieses profitorientierte Gesellschaftssystem eindeu-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) tig überfordern wird.
Ich sage Ihnen: Ich tendiere eher zu Letzterem. Denn ich Es gibt also genügend Fragen. Aus diesem Grund ha-
glaube, es ist notwendig, den Verbrauch von Ressourcen ben wir einen Antrag eingebracht. Wir fanden eigentlich
auf 20 Prozent des heutigen Verbrauchs zu reduzieren. auch den ursprünglichen Antrag von SPD und Grünen
gut, aber wir finden es schade, dass Sie nicht den Mut
(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE hatten, mit uns gemeinsam einen Antrag einzubringen.
LINKE]) Wieder einmal haben Sie von SPD und Grünen sich mit
Ich glaube deshalb nicht, dass wir den Problemen ge- CDU/CSU und FDP quasi zu einer Großen Koalition zu-
recht werden, wenn wir uns in erster Linie um einen sammengetan. Das tut uns leid.
neuen Wohlstandsindikator oder um eine neue Unterneh- Das wird eine spannende Debatte. Es gibt viel zu
menskultur kümmern. Ich befürchte, dass uns solche De- streiten. Packen wir es an!
batten nutzlos Zeit kosten werden, Zeit, die uns fehlen
wird, um an den wirklichen ökologischen, sozialen und (Beifall bei der LINKEN)
ökonomischen Herausforderungen bei diesem Problem
zu arbeiten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass das Modell Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion
einer Wachstumsgesellschaft, die global – auch in die- Bündnis 90/Die Grünen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8425
(A) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf der anderen Seite gibt es das bestehende Gesell- (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schaftssystem, aus dem immer wieder die Notwendig-
wollen heute eine Enquete-Kommission „Wachstum, keit des Wachstums für den Staatshaushalt und die Sozi-
Wohlstand, Lebensqualität“ initiieren. Herr Kauch, das alsysteme abgeleitet wird. Da herrscht praktisch ein
Wort „Enquete“ steht für Befragung. Es geht darum, Fra- Wachstumszwang. Die Kanzlerin Angela Merkel hat das
gen zu stellen. Es geht nicht darum, die ideologischen vor ungefähr einem Jahr mit den Worten beschrieben:
Sprüche, die wir immer hören, hier hinauszuposaunen, Ohne Wachstum ist alles nichts.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Aus diesem Wachstumszwang müssen wir uns lösen;
bei der SPD und der LINKEN) denn was heißt das für eine Gesellschaft, die eine demo-
grafische Entwicklung wie die unsere hat, für eine Ge-
sondern darum, uns selbst und unsere Positionen infrage sellschaft, in der die Zahl der Menschen sinkt? Was heißt
zu stellen und offen zu sein für die Fragen und Positio- das für die Sozialsysteme? Es geht doch gerade darum,
nen der anderen. Lösungen zu finden, mit denen auch ohne Wachstums-
Ich finde es spannend, dass wir die Begriffe Wachs- zwang die Sozialsysteme in diesem Land sicher sind.
tum, Wohlstand und Lebensqualität genommen haben Auch darum geht es bei dieser Enquete-Kommission.
und den Begriff Wachstum an den Anfang gesetzt ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ben. Ich finde es gut, dass die Kollegen Solms und sowie des Abg. Peter Friedrich [SPD])
Kaster sehr intensiv auf den Begriff Wachstum einge-
gangen sind. Für mich scheint dieser Begriff der ent- Die Entkoppelung der ökologischen Seite, der Res-
scheidende und der spannende zu sein. Unabhängig da- sourcen vom Wachstum ist natürlich ganz wichtig. Auch
von, dass man natürlich nicht immer alle Positionen da müssen wir fragen: Werden die Effizienzgewinne
teilen muss, ist es interessant, zu sehen, dass wir mo- nicht wieder aufgebraucht? Natürlich sind wir effizienter
mentan intensiv über die Notwendigkeit von Wachstum, geworden, zum Beispiel bei der Stromproduktion, aber
aber durchaus auch über die Grenzen von Wachstum dis- diese Effizienzgewinne werden ganz häufig durch mehr
kutieren. Zwischen diesen Punkten müssen wir einen Begehrlichkeiten aufgefressen. Der neue Kühlschrank
Spagat hinbekommen. Das macht diese Enquete-Kom- wird in die Küche gestellt und der alte Kühlschrank läuft
mission so spannend. im Keller weiter. Das führt am Ende zu mehr Stromver-
brauch. Es geht also auch darum, zu fragen: Können wir
Der Begriff Wachstum ist gerade in der jetzigen Phase eine Entkopplung vom Wirtschaftswachstum erreichen,
ein sehr aktueller Begriff. Wenn wir uns die Finanzkrise und wie können wir dies schaffen?
anschauen, stellen wir fest, dass das Streben nach mehr
Profit und mehr Wachstum die gesamte Weltwirtschaft Müssen wir nicht zum Beispiel auch Fragen nach der
(B) (D)
an die Grenze des Abgrunds gebracht hat. Das müssen Lebensqualität, dem Lebensstil und den Konsummus-
wir uns klarmachen. So kann das nicht bleiben. Da muss tern stellen? Das heißt, wir müssen Wohlstand definie-
sich etwas ändern. ren. Wir müssen danach fragen, wie wir Lebensqualität
für die Menschen definieren können, wenn wir Ökologie
Oder nehmen Sie zum Beispiel die Klimakrise: Die vom Wachstum abkoppeln. Wir haben also viele Fragen
Klimakrise kann unsere Lebensgrundlage vernichten. an diese Enquete.
Sie kann all das vernichten, was wir brauchen, um über-
haupt leben zu können. Auch hierzu sage ich: Ein Ich möchte zum Schluss meiner Rede an eine Enquete
Wachstum um des Wachstums willen darf es nicht ge- erinnern: die Enquete „Schutz der Erdatmosphäre“. Sie
ben. hat in diesem Bundestag Großes geleistet. Sie hat Ergeb-
nisse erzielt, durch die national wie international viel
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verändert wurde. Ich wünsche dieser neuen Enquete,
sowie der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] dass ihre Mitglieder ähnlich viel Weitsicht und Weisheit
[SPD]) haben und dass sie genauso erfolgreich sein wird. Wir
Sehen wir uns zum Beispiel die Ressourcenverknap- als Grüne werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu
pung an: Wir haben eben von den Tiefseeölbohrungen leisten.
gehört. Man dringt in immer tiefere Tiefen vor, um über- Danke schön.
haupt noch an Öl zu kommen. Bestimmte Produkte er-
zielen aufgrund der Ressourcenverknappung inzwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sehr hohe Preise. Das macht doch deutlich: Auf einer be- sowie bei Abgeordneten der SPD)
grenzten Erde kann es kein unbegrenztes Wachstum ge-
ben. Deshalb müssen wir zu einer ganz anderen Diskus- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sion kommen. Das Wort hat Matthias Heider für die CDU/CSU-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Fraktion.
der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU)
Es gibt also gute Gründe, Wachstumsversprechen und
Wachstumsziele kritisch zu hinterfragen. Eine der Fra- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU):
gen der Enquete-Kommission wird sein: Wie viel und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
welches Wachstum können wir uns leisten? Diese Frage Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Höhn, es gibt in
müssen wir beantworten. der Tat einen kritischen Ansatz für die Untersuchung,
8426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
NEN): Da wir inzwischen mehr als die Hälfte der für die Be-
Sehr geehrter Herr Minister, in Ihrem Umweltbericht fragung vorgesehenen Zeit verbraucht haben, aber noch
loben Sie insbesondere das CO2-Gebäudesanierungspro- mehr als die Hälfte der Fragesteller nicht zu Wort ge-
gramm und das Marktanreizprogramm. Sie schreiben kommen ist, erlaube ich mir die Anregung, dass wir es
zum Beispiel, dass das Marktanreizprogramm mit vielleicht mit etwas knapperen Fragen und ähnlich kur-
423 Millionen Euro Investitionen von rund 3 Milliarden zen Antworten versuchen sollten.
Euro ausgelöst hat. Wie kommt es dann dazu, dass aus- Die nächste Frage hat der Kollege Lenkert.
gerechnet das Marktanreizprogramm zeitweise komplett
gestoppt wurde und jetzt stark gekürzt worden ist und
Ralph Lenkert (DIE LINKE):
dass auch das Gebäudesanierungsprogramm extrem ge-
Herr Minister, Sie sprachen vorhin davon, dass pro
kürzt worden ist? Wie kommt es dazu, und wieso findet
Tag immer noch 94 Hektar versiegelt werden. Sie möch-
das in dem Bericht keine Erwähnung?
ten, dass dieser Wert auf 30 Hektar sinkt. Mich interes-
siert, welche konkreten Maßnahmen die Bundesregie-
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, rung plant, um dieses Ziel zu erreichen. Unsere
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Bevölkerungszahl ist rückläufig; trotzdem versiegeln wir
Das muss man differenzieren. Erstens. Das Marktan- immer mehr Flächen. Planen Sie spezielle Förderpro-
reizprogramm wurde schon immer durch die Erlöse aus gramme, um Verkehrs- und Industriebrachen zu renaturi-
dem CO2-Zertifikatehandel finanziert; das ist seine Fi- sieren, also der Natur wieder zur Verfügung zu stellen?
nanzgrundlage. Das können Sie gerne noch einmal nach-
prüfen. Wegen der Wirtschaftsrezession ist der CO2-Zer- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
tifikatepreis in den Keller gegangen und deutlich Naturschutz und Reaktorsicherheit:
niedriger geworden. Dadurch haben sich die Erlöse aus Was die Versiegelung angeht: Das ist viel zu viel. Es
dem CO2-Zertifikatehandel verringert, sodass entspre- war aber auch schon mehr: Zu früheren Zeiten wurden
chend weniger Mittel zur Verfügung stehen, um das pro Tag 110 Hektar Flächen neu verbraucht. Jetzt sind
Marktanreizprogramm zu finanzieren. wir bei 94 Hektar angekommen. Wir planen selbst-
verständlich Maßnahmen und haben auch konkrete Ziel-
Gerade weil es ein solch großer Erfolg ist, haben wir vorgaben, um zu einer Reduzierung des täglichen
dafür gesorgt, dass wir im Rahmen des Energiekonzep- Flächenverbrauchs zu kommen. Dabei spielt das Bun-
tes – außerhalb dieser jährlichen Verteilungskämpfe mit desprogramm Wiedervernetzung eine Rolle. Hinzu
ihrer Gefahr von Stop and Go – nunmehr ein gesetzli- kommt die Ausweisung von Naturschutzflächen, die für
(B) ches Sondervermögen mit einem Numerus clausus von (D)
eine Versiegelung natürlich nicht zur Verfügung stehen.
Förderzwecken zur Verfügung haben – wozu auch das Es gibt also ein Bündel von Maßnahmen.
Marktanreizprogramm zählt –, um eine verlässliche und
gut finanzierte Grundlage für ein stetiges Marktanreiz- Es ist absolut richtig, zu sagen: Das ist eine schwie-
programm zu haben. Das Programm wird im nächsten rige Aufgabe, die nicht in einem einzigen Ressort zu
Jahr um, ich glaube, 40 Millionen Euro erhöht. Die wirk- leisten ist. Es ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe von
lich gute Finanzausstattung des Energie- und Klima- Regierungen, also nicht nur eine Aufgabe der Bundesre-
fonds wird sich ab 2013 ergeben, wenn alle Zusatzerlöse gierung, sondern auch von Landesregierungen. Sehr viel
aus dem Zertifikatehandel in diesen Fonds einfließen. hängt zusammen mit Flächennutzungen durch Länder
Das bedeutet eine verlässliche Finanzierungsgrundlage, und Kommunen; Verkehrsplanungen sind bei weitem
die ab 2013 beim heutigen CO2-Preis ungefähr 3 Milliar- nicht allein Sache des Bundes. Es ist also ein vielschich-
den Euro pro Jahr ausmachen wird. Das macht den Un- tiges Problem.
terschied deutlich. Die Finanzierungsschwankung, die es
gegeben hat, führt zu Stop and Go. Es ist nun einmal so, Präsident Dr. Norbert Lammert:
dass Ausgaben an Einnahmen geknüpft sind. Genau die- Hans-Josef Fell stellt die nächste Frage.
sen Schwankungen vorzubeugen, ist der strukturelle
Vorteil des Energie- und Klimafonds. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister Röttgen, gestatten Sie mir, bevor ich zu
Zum Gebäudesanierungsprogramm. Das war insbe-
meiner Frage zur KWK komme, eine kleine Korrektur:
sondere als ein Konjunkturprogramm vorgesehen und
Das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien
hat sich als solches absolut bewährt. Es war aber befris-
wurde aus der Kompensation der Besteuerung des Öko-
tet bis Ende 2009 und sollte dann nicht fortgesetzt wer-
stroms finanziert. Das hat es nämlich viel früher gegeben
den, weil es als Konjunkturprogramm verstanden wurde.
als die CO2-Zertifikatserlöse, und es konnte deswegen
Wir verstetigen das Gebäudesanierungsprogramm, weil
nicht daraus finanziert werden.
wir der Überzeugung sind, dass hier wirkliche Energie-
effizienzpotenziale schlummern. Darum wird dieses Pro- Zu meiner Frage zur Kraft-Wärme-Kopplung. Deren
gramm ein Dauerinstrument der Effizienzgewinnung, umweltpolitischer Nutzen ist allseits anerkannt, auch im
der Energieeinsparung und der Modernisierung in unse- Umweltbericht der Bundesregierung. Jetzt hat die Bun-
rem Gebäudebestand, das ebenfalls dauerhaft und ver- desregierung das Impulsprogramm für Mini- und Mikro-
lässlich aus dem Energiefonds durch einen eigenen KWK eingestellt. Es wird weder im Energiekonzept
Energieeffizienzfonds finanziert wird. noch im Koalitionsvertrag an relevanter Stelle genannt.
8434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Hans-Josef Fell
(A) Auch die Steuervergünstigungen für Fernwärme wurden Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, (C)
zusammengestrichen. Vor diesem Hintergrund frage ich Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Sie: Von welchem Wachstum des Bereichs Kraft- Vielleicht darf ich auf die Frage so antworten, dass
Wärme-Kopplung im kommenden Jahr geht die Bundes- wir uns an die Debatte erinnern, als ich den Vorschlag
regierung aus? der Vergütungsabsenkung für die Photovoltaik gemacht
habe. Es gab ein wildes Geschrei in den Fraktionen von
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, SPD und Grünen. Es hieß, die Branche werde plattge-
Naturschutz und Reaktorsicherheit: macht und kaputtgemacht, dies sei der Anschlag auf das
EEG und auf die erneuerbaren Energien und, und, und.
Erst einmal: Wir beide überprüfen das. Der Zertifika-
tehandel war die Finanzgrundlage für das Marktanreiz- Die Situation heute ist, dass wir mit der gesamten
programm. Der Preis ist gesunken. Vielleicht können Branche der erneuerbaren Energien inklusive der Solar-
Ihnen das Ihre Fraktionskollegen aus dem Haushaltsaus- wirtschaft ernsthaft und offen darüber reden, dass die
schuss – ich weiß nicht, ob einer von ihnen da ist – be- Entwicklung gerade im Bereich der Photovoltaik weiter-
stätigen. Ich verweise auf die Debatte im Haushaltsaus- hin so positiv ist und dass sich die Produktionskapazitä-
schuss. Wir können es jetzt wahrscheinlich nicht klären. ten nicht nur national, sondern insbesondere in China
Wir beide können uns aber vornehmen, das zu recher- weiter so dynamisch entwickeln, dass wir im Interesse
chieren. des Erhalts des EEG und der sozialen Akzeptanz sowie
der Netzstabilität in ernsten Gesprächen darüber sind,
Aus diesem Grund gibt es eine geringere Finanzaus- wie wir in einem zielorientierten, anspruchsvollen, aber
stattung. Darum musste eine Priorisierung vorgenom- vernünftigen Tempo und an der richtigen Stelle zu einem
men werden zugunsten anderer Maßnahmen, die noch Ausbau der erneuerbaren Energien kommen.
wirksamer sind als das wirksame Mini-KWK-Pro-
gramm. Es ist einfach so: Wenn die Mittel begrenzt sind, Darum noch einmal mein Appell, den ich schon ver-
muss man Prioritäten setzen. Die wirksamsten Maßnah- schiedentlich gemacht habe: Wer die Erneuerbaren will,
men sind ergriffen worden, und die wirksamen Maßnah- der sollte bedenken, dass sie der sozialen Akzeptanz be-
men – ich habe das Mini-KWK-Programm sehr ge- dürfen. Er muss Differenzkosten unter Kontrolle haben,
schätzt – sind der Begrenztheit der finanziellen Mittel und er muss die wirksamen Erneuerbaren fördern. Er
zum Opfer gefallen. Wir wollen das Marktanreizpro- muss auch Förderbetrag und Produktionsbeitrag in Rela-
gramm weiter ausdehnen. tion zueinander setzen. Er muss Produktionskapazitäts-
entwicklungen in China sehen, die wir mit dem EEG
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – mit dem Geld des deutschen Stromverbrauchers – fi-
(B) NEN]: Aber welches Wachstum?) nanzieren. Daher gibt es – so glaube ich – keine Grund- (D)
lage für den Ansatz, dass jemand etwas zerstören will;
– Dazu kann ich Ihnen keine Prognose geben. selbst die Branche sieht das nicht so.
Darum mache ich keine Aussage zu der von Ihnen er-
Präsident Dr. Norbert Lammert: fragten Ankündigung, dass ich das von Ihnen Erwähnte
Dirk Becker, bitte die nächste Frage. klipp und klar sagen möge. Ich sage Ihnen: Wir sind mit
der Branche im Gespräch, um zu einer vernünftigen
Dirk Becker (SPD): Weiterentwicklung zu kommen. Das möchte ich mit der
Branche machen, weil ich die Erneuerbaren unter Ein-
Vielen Dank. – Herr Minister Röttgen, Sie haben be- schluss der Photovoltaik möchte. Ich glaube aber, wir
reits eben in der Beantwortung der Frage von Herrn sollten hier zu einer vernünftigen Weiterentwicklung
Schwabe das EEG angesprochen: Im kommenden Jahr kommen, und wir dürfen nicht die Gefahr übersehen,
stehe eine Überprüfung an, für 2012 sei eine Novelle ge- dass scheinbar guter Wille zu einer echten Gefährdung
plant. Herr Bareiß aus der CDU/CSU-Bundestagsfrak- des weiteren Ausbaus wird.
tion – er ist immerhin energiepolitischer Koordinator –
hat Sie in einem Schreiben quasi aufgefordert, beim
Thema PV bereits zum 1. Januar 2011 eine Veränderung Präsident Dr. Norbert Lammert:
vorzunehmen. Diese Änderung solle gegebenenfalls Frau Menzner.
rückwirkend in Kraft gesetzt werden. Mit Blick auf die
weitere Entwicklung sei zu prüfen, ob es gerade beim Dorothee Menzner (DIE LINKE):
Thema PV sinnvoll sei, die jetzt geltende Regelung um- Herr Minister, Sie schreiben im Umweltbericht ganz
zugestalten – weg vom „atmenden Deckel“ hin zum richtig, dass rund 70 Prozent der in Deutschland genutz-
„festen Deckel“ – und womöglich eine Quote einzufüh- ten fossilen Energie importiert wird, und führen weiter
ren. Herr Bareiß stellt den Einspeisevorrang im weiteren aus – ich zitiere das wörtlich –: Die Gefahr sozialer
Zusammenhang gerade mit Blick auf die fluktuierenden Spannungen und internationaler Konflikte wächst. – Das
Erneuerbaren durchaus infrage. Meine konkrete Frage: ist also ein Sachverhalt, der weit mehr als nur Umwelt-
Sagen Sie heute klipp und klar: „Es bleibt beim Fahr- oder Energiepolitiker beschäftigen müsste.
plan, Erfahrungsbericht EEG im Frühjahr, eine Novelle
zum 1. Januar 2012; vorher wird es keine weiteren Ver- Wenn ich das richtig sehe – gerade auch mit Blick auf
änderungen geben, und es bleibt beim Einspeisevor- Laufzeiten –, gibt es bei Kernbrennstoffen eine 100-pro-
rang“? zentige Importquote. Trifft diese außenpolitische Ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8435
Dorothee Menzner
(A) schätzung aus Ihrer Sicht hier nicht zu? Oder ist diese Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
doch deutliche Abhängigkeit anders zu werten? Liebe Kolleginnen und Kollegen, die für die Befra-
gung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist jetzt er-
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, schöpft. Ich schlage vor, dass wir wegen der Relevanz
Naturschutz und Reaktorsicherheit: des Themas die bei mir bisher notierten Meldungen – es
handelt sich um sechs Kolleginnen und Kollegen – noch
Sie haben völlig recht, wir importieren knapp drei behandeln und das zulasten des Zeitbudgets der an-
Viertel unserer Energie: Öl, Kohle – der Anteil der hei- schließenden Fragestunde geht. Darf ich Ihr Einver-
mischen Steinkohle ist minimal – und eben auch Uran. ständnis voraussetzen? – Gut.
Die Strategie, sowohl Energieeffizienz zu forcieren als
auch erneuerbare Energien zu entwickeln, zielt auch da- Ich habe die Wortmeldungen der Kollegen Bollmann,
rauf ab, die Importabhängigkeit mit all ihren außenpoli- Ostendorff, Ott und Göppel sowie der Kolleginnen
tischen oder auch sicherheitspolitischen Implikationen Kurth und Bulling-Schröter notiert und schließe damit
zu reduzieren und auf heimische Wertschöpfung zu set- die Liste der Fragesteller. Ich möchte noch darauf hin-
zen. Das ist wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpoli- weisen, dass sich die Fragen und Antworten sicherlich
tisch sinnvoll, aber es hat auch den Aspekt von Sicher- ein bisschen straffen lassen.
heit, den Sie ansprechen. Dieser bezieht sich auf die
Kollege Bollmann.
Energiequellen, die ich genannt habe. Darum ist die
Kernenergie im Energiekonzept übrigens auch keine Zu-
kunftsoption, sondern ein Übergang. Gerd Bollmann (SPD):
Herr Minister, ich komme zur Kreislaufwirtschaft zu-
rück. In Ihrem Bericht steht:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kollegin Höhn. Inhaltlich wird die Kreislaufwirtschaft an der neuen
fünfstufigen Hierarchie der Abfallrahmenrichtlinie
ausgerichtet …
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Minister, ich möchte eine Frage zur Energieeffi- Das heißt, die stoffliche Verwertung hat eindeutig Vor-
zienz stellen. Wir haben gerade in der Diskussion über rang vor der energetischen Verwertung. Nun zu meiner
die Enquete-Kommission festgestellt, dass wir mehr für Frage: Warum ist dann in dem Referentenentwurf, der
die Ressourceneffizienz tun müssen. Wir stellen fest, demnächst zur Notifizierung nach Brüssel geht, die Rede
dass wir bei der Energieeffizienz nicht gut sind. Die EU- von der Gleichstellung von stofflicher und energetischer
Verwertung bei Abfällen mit einem Heizwert oberhalb
(B) Vorgaben sind sehr schwer einzuhalten, obwohl man sie von 11 000 Kilojoule? (D)
sich noch ehrgeiziger vorstellen könnte. Fakt ist, dass die
EU-Richtlinie schwach umgesetzt worden ist. Das ist of-
fensichtlich auch Ihre Meinung; denn – ich zitiere Sie – Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. März Naturschutz und Reaktorsicherheit:
dieses Jahres haben Sie gesagt, Sie wollen zu einem spä- Es gibt den Vorrang der stofflichen Verwertung. Aber
teren Zeitpunkt ein echtes Effizienzgesetz auf den Tisch man muss ein Abgrenzungskriterium finden. Das ist
legen. Das ist ein Dreivierteljahr her. Von daher frage ich eben das Abgrenzungskriterium, das dort angewendet
Sie: Wann können wir damit rechnen, dass Sie uns das wird.
vorlegen?
(Gerd Bollmann [SPD]: Warum
11 000 Kilojoule?)
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie haben völlig recht. Wir haben gesagt: Wir kom- Kollege Ostendorff.
men unserer Umsetzungspflicht nach. Die haben wir
selbstverständlich auch erfüllt. Die Effizienzziele, die
wir uns setzen, werden wir in dem Energiekonzept ver- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ankern, und darauf werden wir auch die Maßnahmen NEN):
gründen. Herr Minister, am 18. November hat der neue EU-
Agrarkommissar Ciolos die Vorschläge dazu vorgelegt,
Ich habe Ihnen eben das Ziel genannt: bis 2050 Hal- wie die EU-Agrarpolitik bis 2020 aussehen soll. Wir ha-
bierung des Primärenergieverbrauchs. Dazu brauchen ben deutlich vernommen, dass es um Ökologisierung
wir eine erhöhte Steigerung der Effizienz: von 1,7 Pro- geht, um Greening, wie er es nennt, sowohl der ersten als
zent auf 2,1 Prozent pro Jahr. Auf der Basis des Kon- auch der zweiten Säule. Wir haben bisher noch keine
zepts, das wir gerade erst beschlossen haben, werden wir Hinweise darauf, wie das Umweltministerium sich dazu
die Instrumente diskutieren und beschließen, die zu dem verhält. Wie sehen Sie die einzelnen Bausteine, die uns
Ziel führen. Wir haben eben zum Beispiel über die Ge- als Agrarumweltmaßnahmen in der Agrarpolitik bisher
bäudesanierung gesprochen. Die Verstetigung des Ge- begleitet haben? Wo werden Sie sich positionieren? Gibt
bäudesanierungsprogramms ist eines der Effizienzpoten- es von Ihrer Seite schon Aussagen dazu? Natura 2000,
ziale. Aber es gibt solche Potenziale auch in anderen Wasserrahmenrichtlinie, das sind zum Beispiel Punkte,
Bereichen. die der Agrarkommissar ausdrücklich benannt hat. Wo
8436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Friedrich Ostendorff
(A) sehen Sie die zukünftig verankert? Welche Maßnahmen brennungsmotors beschleunigt. Wir haben bei den Neu- (C)
wollen Sie aus Ihrer Sicht gefördert wissen? zulassungen einen CO2-Ausstoß von, wenn ich es richtig
im Kopf habe, im Schnitt rund 145 Gramm.
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Nein! Der ist ein bisschen höher! –
Aus der Sicht des Umweltministeriums, der Umwelt- Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
politik zeigt genau das die Akzentverschiebung, die Sie NEN]: 160!)
angesprochen haben. Es gibt ein neues Kriterium für die
Rechtfertigung von gesellschaftlicher Unterstützung; so – Nein, bei den Neuzulassungen sind es im Schnitt
will ich „Beihilfe“ einmal nennen. Ich glaube, dass ge- 145 Gramm. Diese Zahl habe ich jedenfalls im Kopf;
sellschaftliche Unterstützung nicht für die Vergangen- aber nageln Sie mich nicht darauf fest. – Im Zentrum
heit, für vergangene Produktionsanteile und -quoten, so- steht natürlich die Entwicklung von Elektromobilität auf
zusagen historisch, zu bemessen ist, sondern danach diesem Gebiet. Ich habe in meinem Eingangsstatement
bemessen werden muss, welcher gesellschaftliche oder erwähnt, dass die Elektromobilität aufgrund der wach-
ökologische Mehrwert durch landwirtschaftliche Pro- senden Bedeutung sowohl des Güterverkehrs als auch
duktion geleistet wird. Wenn wir einen besonderen Bei- des Personenverkehrs eine ganz besondere klimaschutz-
trag zur Landschaftspflege, zum Naturerhalt, mit dem politische Relevanz erhält.
man über die Erfordernisse reiner Wirtschaftlichkeit hin-
ausgeht, wollen, dann ist es berechtigt, finde ich, dass Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Landwirt, der eine solche zusätzliche Leistung er- Kollege Göppel.
bringt, von der Gesellschaft eine Gegenleistung dafür er-
hält. Es geht sozusagen um die Honorierung eines ge- Josef Göppel (CDU/CSU):
sellschaftlichen Beitrages und damit um die Abkehr von
Herr Minister, der Haushaltsausschuss hat die Zuwei-
einer Prolongierung, der Verlängerung, historischer Pro-
sung der Kyritzer Heide an das nationale Naturerbe be-
duktionsquoten. Das ist der Paradigmenwechsel, der aus
schlossen. Freuen Sie sich über dieses Geschenk, und
Sicht der Umweltpolitik zu erfolgen hat.
sind Sie mit mir der Meinung, dass andere Flächen, die
aus fachlicher ökologischer Sicht in zweijähriger Arbeit
Präsident Dr. Norbert Lammert: sorgfältig ausgewählt wurden, deshalb nicht zurückste-
Kollege Ott. hen dürfen?
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
(B) Herr Minister, die Geschichte der Umweltpolitik in (D)
Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Deutschland ist lang; sie geht zurück bis zum damaligen Ich denke, bei dieser Entscheidung gibt es noch Dis-
Innenminister Genscher. Ebenso lang ist aber die Ge- kussionsbedarf. Insbesondere das Land Brandenburg hat
schichte der Überschätzung der deutschen Umweltpoli- hier andere Vorstellungen. Ich glaube, darüber muss wei-
tik. Wir werden das in Cancún nächste Woche erleben. ter gesprochen werden.
Nach einem internen Bericht der EU-Kommission, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Rich-
des Commission Staff Working Paper im Environment tig! Das war nämlich nicht abgestimmt mit
Policy Review von 2009, liegt Deutschland innerhalb Brandenburg, Herr Minister!)
der EU 27 praktisch überall nur im Mittelfeld. Es gibt
eine Kategorie, nämlich „Ressourcen und Abfall“, bei
Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Deutschland wirklich spitze ist. In allen anderen Ka-
tegorien liegt es nur im Mittelfeld. Auffallend ist insbe- Frau Kurth.
sondere: Bei den durchschnittlichen CO2-Emissionen
der neu zugelassenen Pkw belegt Deutschland den Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
21. Platz von insgesamt 27. – Was sind Ihre Pläne, um GRÜNEN):
das zu verbessern? Denn natürlich ist der Autoverkehr Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zum Bundes-
zentral für die Erreichung der Klimaziele. programm „Biologische Vielfalt“. Damit die Mittel ab-
gerufen werden können, bedarf es einer genauen Defini-
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, tion der Förderkriterien. Wann können wir mit dieser
Naturschutz und Reaktorsicherheit: Definition und der Ausgestaltung des Bundesprogramms
Nach meinem Eindruck haben Sie sich in dem Jahr konkret rechnen?
unserer Zusammenarbeit bislang nicht so richtig an der
Überschätzung der gegenwärtigen Umweltpolitik betei- Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
ligt; aber das kann sich ja in Zukunft ändern. Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Zunächst einmal muss das Bundesprogramm be-
(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schlossen werden. Das haben wir erst in der letzten Sit-
NEN]: Wir wollten eher Sie darauf aufmerk-
zungswoche, also vor wenigen Tagen, hier im Deutschen
sam machen!)
Bundestag gemacht. Damit stehen jetzt die Mittel bereit.
Ich habe den Verkehrsbereich eben bewusst genannt. Der gesellschaftliche Dialog über die Kriterien und die
In den letzten Jahren hat sich die Optimierung des Ver- Mittelverwendung hat schon Mitte dieses Jahres begon-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8437
Bundesminister Dr. Norbert Röttgen
(A) nen. Die Umsetzung wird im Jahre 2011 erfolgen. Wir beratung sonstige Fragen an die Bundesregierung? – (C)
haben zwar schon Dezember; aber wir werden dieses Auch das ist nicht der Fall.
Programm einschließlich Kriterien und Mittelverwen-
dung mit breiter gesellschaftlicher Einbindung umset- Dann rufe ich nunmehr Tagesordnungspunkt 4 auf:
zen. Fragestunde (2 Stunden)
– Drucksachen 17/3947, 17/3988 –
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die letzte Frage hat Frau Bulling-Schröter. Zunächst rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 unserer Richt-
linien die dringliche Frage auf:
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Trifft die Meldung zu, wonach die Europäische Zentral-
bank, EZB, und eine Mehrheit der Länder der Euro-Zone da-
Herr Minister, aufgrund der Krisenjahre 2008 und rauf drängen, dass nach Irland nun auch Portugal binnen kür-
2009 konnte überproportional CO2 eingespart werden. In zester Frist einen Antrag auf Finanzhilfen aus dem Euro-
dem Bericht heißt es „übererfüllt“; das ist positiv. Meine Rettungsschirm stellt, und wie steht die Bundesregierung zu
Frage lautet: Was machen wir mit den überschüssigen einer derartigen Forderung?
Emissionsrechten? Sie können sie verkaufen oder still- Für die Beantwortung steht der Parlamentarische
legen. Wenn Sie sie verkaufen, werden sie wieder rele- Staatssekretär Steffen Kampeter zur Verfügung.
vant. Wenn wir sie stilllegen, können wir unseren Füh-
rungsanspruch als Klimanation weiterentwickeln. Was
also wird mit diesen überschüssigen CO2-Zertifikaten Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
geschehen? desminister der Finanzen:
Herr Kollege Maurer, der Bundesregierung liegen
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
diesbezüglich keine Informationen vor. Ich stelle fest,
Naturschutz und Reaktorsicherheit: dass Portugal derzeit mit einem ehrgeizigen Maßnah-
menpaket zur Haushaltskonsolidierung bemüht ist, die
Ich glaube nicht, dass wir überschüssige Zertifikate Märkte vertrauensbildend zu beruhigen und auf diese
haben werden, wenn wir klimaschutzpolitisch erfolg- Art und Weise zu einer Stabilisierung der Euro-Zone ins-
reich sind. 2013 wird eine neue Handelsperiode begin- gesamt beizutragen.
nen. Sie wird sich auf weitere Industriesektoren und die
gesamte Energiebranche erstrecken. Das heißt, hier fin-
det eine konsequente Weiterentwicklung statt. Aber wir Präsident Dr. Norbert Lammert:
können nicht permanent in das Börsensystem des Handels Zusatzfrage? – Bitte schön, Kollege Maurer.
(B) mit CO2-Zertifikaten eingreifen. Wenn wir erfolgreich (D)
sind, dann im Rahmen dieses sich fortentwickelnden Ulrich Maurer (DIE LINKE):
Systems. Wir können nicht permanent Preisfestsetzun-
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Tatsache,
gen vornehmen oder einen Entzug von CO2-Emissions-
dass die Zinsaufschläge, die andere Staaten für Staatsan-
zertifikaten.
leihen zu zahlen haben – Griechenland, Portugal, Irland,
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Den Cap Spanien, Italien und Belgien –, nach Installation des Ret-
senken!) tungsschirms und nach Zusage eines Rettungspakets für
Irland weiter gestiegen sind? Würden Sie dies als Aus-
– Es handelt sich, nebenbei bemerkt, um einen europäi- weis der Erfolglosigkeit des Rettungsschirms ansehen,
schen Cap. – Ich glaube, wir brauchen in einem solchen oder wie erklären Sie sich das?
System Verlässlichkeit; denn man stellt sich darauf ein,
auch auf den Preis.
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Übrigens nehme ich mir grundsätzlich nicht vor, desminister der Finanzen:
durch eine Wirtschaftsrezession zu einer Reduzierung Herr Kollege Maurer, die Bundesregierung ist der
der CO2-Emissionen zu kommen. Ich glaube, dass eine Auffassung, dass die Verwerfungen auf den internationa-
Wirtschaftsrezession andere negative Folgen hat. Es ist len Währungs- und Devisenmärkten ohne die Verwen-
nicht der richtige Ansatz, die Rezession durch Preiserhö- dung des Rettungsschirms sehr viel größer wären und
hungen bei den CO2-Emissionszertifikaten zu verschär- dass der Einsatz des Euro-Rettungsschirms trotz der – da
fen. Die niedrigeren CO2-Emissionen sind ein Kollate- teile ich Ihre Auffassung – nicht zufriedenstellenden ak-
ralnutzen der Wirtschaftsrezession; in Zukunft müssen tuellen Entwicklung eine richtige Maßnahme war und
wir die Reduzierung der CO2-Emissionen auf andere bleibt.
Weise erreichen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Präsident Dr. Norbert Lammert: Eine weitere Zusatzfrage.
Ich schließe damit die Befragung der Bundesregie-
rung zum Bericht aus der heutigen Kabinettssitzung.
Ulrich Maurer (DIE LINKE):
Gibt es Fragen zu anderen Themen der Kabinettssit- Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Äußerun-
zung? – Das ist offenkundig nicht der Fall. Gibt es jen- gen des Wirtschaftsweisen Professor Bofinger? Ich zi-
seits der erfolgten Berichterstattung oder der Kabinetts- tiere aus einer aktuellen Reuters-Meldung:
8438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Ulrich Maurer
(A) Der Wirtschaftsweise … fordert von Deutschland bindet uns nicht von der Pflicht zum Einsatz für weitere (C)
mehr Einsatz zur Rettung des Euro. stabilisierende Maßnahmen.
„Die Risiken für den Euro sind enorm groß“,
warnte Bofinger … „Wo dieser Flächenbrand Präsident Dr. Norbert Lammert:
stoppt, weiß niemand.“ In Deutschland müsse man Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
sich fragen, ob man den Euro weiter haben wolle.
… „Will man die Beziehung fortsetzen oder nicht? Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Und wenn man sie fortsetzen will, muss man sich
Herr Staatssekretär, in einem Fernsehgespräch bei
engagieren.“
Maischberger hat Ihr Bundeswirtschaftsminister mir, als
Teilen Sie die damit verbundene Kritik des Wirtschafts- wir über Portugal und Irland sprachen, gesagt, auch die
weisen an der Bundesregierung? spekulierenden Gläubigerbanken würden, wenn man
schon die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
die Rentnerinnen und Rentner zur Sanierung belastet, in
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
angemessenem Maße herangezogen. Daraufhin haben
desminister der Finanzen:
ein weiterer Gesprächspartner, ein Börsenmakler, und
Herr Kollege Maurer, wir schätzen die Hinweise nicht ich gesagt, das gehe gar nicht. Wer hatte recht? War das,
nur dieses Experten, sondern auch vieler anderer wirt- was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, heiße
schaftspolitischer Experten. Diese Kritik teilen wir aber Luft? Oder war meine Annahme richtig?
nicht. Ich möchte nur in diesem Maße auf die Äußerun-
gen von Professor Bofinger eingehen.
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin per- desminister der Finanzen:
sönlich haben sich in den letzten Wochen nicht nur mit Herr Kollege Dehm, leider sieht sich die Bundesre-
dem deutsch-französischen Gipfel und dem darauf fol- gierung außerstande, Gespräche, an denen sie nicht aktiv
genden Beschluss des Europäischen Rates an die Spitze teilgenommen hat – in diesem Fall geht es um meine
der Bewegung der Euro-Stabilisierung gesetzt; der Bun- Person –, zu kommentieren.
desfinanzminister hat bereits im Frühjahr eine umfas-
sende Debatte über Ergänzungen zum Stabilitäts- und Der Sachverhalt ist so: An den aktuellen Stabilisie-
Wachstumspakt und zu den europäischen Verträgen be- rungsmaßnahmen für Irland können Sie ablesen, dass
gonnen. Ich glaube deshalb, dass die Bundesregierung nicht nur die irische Regierung durch Einbeziehung des
im internationalen Kontext keinen Vergleich scheuen Pensionsfonds und anderer Rücklagen aus irischen öf-
(B) muss, wenn es um ihren Einsatz für die Stabilität der fentlich-rechtlich verwalteten Geldern einen Beitrag ge- (D)
Währung geht, mit der wir hier in Deutschland zahlen leistet hat, sondern auch der private Sektor – zum Bei-
und mit der wir einen Großteil unseres Exportes absi- spiel die privaten Anleger bei der Anglo Irish Bank –
chern. einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der irischen
Volkswirtschaft geleistet hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich möchte darüber hinaus darauf hinweisen, dass
Kollege Hunko. aufgrund der Initiative der Bundesregierung im interna-
tionalen Bereich bis Dezember Vorschläge erarbeitet
Andrej Hunko (DIE LINKE): werden, die eine umfassendere Beteiligung des privaten
Vielen Dank. – Als der Euro-Rettungsschirm im Mai Sektors an den Kosten solcher Ungleichgewichte und
dieses Jahres geschaffen wurde, erklärte die Bundes- Währungskrisen ermöglichen, als das in dem bisher gel-
kanzlerin, dass auf diese Weise gewährleistet werde, tenden Rechtsregime möglich war. Die Diskussion da-
dass der Schirm niemals gebraucht würde, da die Speku- rüber wird unter dem Oberbegriff der kollektiven Hand-
lation nun beendet sei. Die einfache Formel war: Der lungsklauseln, der Collective Action Clauses, geführt.
Rettungsschirm ist da, damit er nie benutzt wird. – Jetzt Die Bundesregierung unterstützt und begleitet aktiv die
wird in Europa schon über die Frage diskutiert, was zu Forderung nach diesen Collective Action Clauses. Ich
tun ist, wenn die Mittel des Rettungsschirms gänzlich denke, wir werden das Parlament Ende Dezember um-
aufgebraucht sind. Wie erklären Sie sich diese Fehlein- fassend über den nächsten Schritt auf diesem Weg unter-
schätzung? Halten Sie wie wir die Strategie der Bundes- richten können.
regierung für gescheitert?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- Vielen Dank. – Weitere Nachfragen dazu liegen nicht
desminister der Finanzen: vor.
Nein, Herr Kollege Hunko, durch die Strategie der Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beant-
Bundesregierung – das habe ich im Rahmen meiner Ant- wortet ist, rufe ich nun die eingereichten Fragen in der
worten auf die vorangegangenen Fragen bereits ausge- üblichen Reihenfolge, die Sie der Tagesordnung entneh-
führt – wird der Euro insgesamt stabilisiert, obgleich ich men können, auf.
nicht verhehlen möchte, dass wir die aktuellen Entwick-
lungen in der vergangenen Woche mit Interesse, teil- Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
weise auch mit Sorge beobachtet haben. Aber dies ent- ministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8439
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (C)
Stadler zur Verfügung. ministerin der Justiz:
Frau Kollegin Hönlinger, da ich die Besetzungsliste
Die Frage 1 des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick nicht dabeihabe, schlage ich vor, dass ich diese Frage
wird schriftlich beantwortet. schriftlich beantworte.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Ingrid Hönlinger
auf: Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wann ist mit Abschlussberichten bzw. Beschlüssen auf Danke schön.
exekutiver Ebene zur Zukunft des Betreuungsrechts, das heißt
sowohl auf Ebene der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vorbe-
reitung auf die Justiziministerkonferenz als auch auf Ebene Präsident Dr. Norbert Lammert:
der interdisziplinären Arbeitsgruppe im Bundesministerium Weitere Zusatzfrage?
der Justiz, zu rechnen, und wird die Bundesregierung noch in
dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Reform des
Betreuungsrechts in den Deutschen Bundestag einbringen? Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. – Die UN-Behindertenrechtskonvention spielt im
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Zusammenhang mit dem Betreuungsrecht eine große
ministerin der Justiz: Rolle. Inwieweit wird in den beiden Arbeitsgruppen, die
bestehen, auf dieser Basis diskutiert?
Zu der Frage der Kollegin Hönlinger darf ich Folgen-
des mitteilen: Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Beteiligung des Bundesjustizministeriums, die im Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Jahr 2006 zur Beobachtung und Analyse der tatsächli- ministerin der Justiz:
chen Entwicklungen im Betreuungsrecht eingesetzt wor- Selbstverständlich spielen internationale Konventio-
den ist, hat im Juni 2009 zur Konferenz der Justizminis- nen eine Rolle. Vorgaben daraus werden in die Arbeit
terinnen und Justizminister ein Bündel von Maßnahmen der Arbeitsgruppe einfließen. Sie haben meinen Ausfüh-
empfohlen, mit denen auf der Ebene der Rechtsanwen- rungen zu der schriftlich eingereichten Frage schon ent-
dung, also ohne weitere Gesetzesänderungen, die Quali- nommen, dass derzeit noch unsicher ist, ob es zu einer
tät der Betreuung verbessert und weitere Kostensteige- Gesetzesinitiative kommt. Die Arbeit konzentriert sich
rungen verhindert werden können. Eine besondere sehr darauf, Verbesserungen zu entwickeln, die man un-
Bedeutung kommt dabei der Stärkung der ehrenamtli- terhalb von Gesetzesänderungen vornehmen kann.
chen Betreuung zu, etwa durch intensivere Unterstüt-
(B) zung der Betreuungsvereine, durch flächendeckende Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Vernetzung aller Beteiligten und durch ausreichende Ich rufe Frage 3 der Kollegin Ingrid Hönlinger auf:
Ausstattung der Betreuungsbehörden.
Wie begründet die Bundesregierung die geplante Fest-
Auf Wunsch der Konferenz der Justizministerinnen schreibung der Besuchshäufigkeit im Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts
und Justizminister hat das Bundesministerium der Justiz (Bundestagsdrucksache 17/3617) vor dem Hintergrund der
im Dezember 2009 den Vorsitz einer Arbeitsgruppe zum Empfehlung aus dem Evaluationsbericht zum Zweiten Be-
Betreuungsrecht übernommen. Ziel dieser interdiszipli- treuungsrechtsänderungsgesetz, wonach die Faktoren zur
nären Arbeitsgruppe ist es, im Sinne der Beschlüsse der Qualität gesetzlicher Betreuung erst noch eruiert werden
JuMiKo aus den vergangenen Jahren zu prüfen, ob und müssten, und welche Konsequenzen bezogen auf die pauscha-
lierte Leistungsvergütung hätte eine gesetzlich vorgeschrie-
gegebenenfalls wie das Betreuungsrecht weiterentwi- bene Besuchshäufigkeit?
ckelt und verbessert werden kann.
Diese Arbeitsgruppe hat mittlerweile viermal getagt. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
Weitere Termine sind vorgesehen. Ob die Bundesregie- ministerin der Justiz:
rung in dieser Legislaturperiode neben dem Entwurf ei- Zu dieser Frage darf ich Ihnen mitteilen, dass hier
nes Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und wahrscheinlich ein Missverständnis vorliegt; denn in
Betreuungsrechts einen Entwurf eines Gesetzes zur Re- dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vormund-
form des Betreuungsrechts in den Deutschen Bundestag schafts- und Betreuungsrechts auf Drucksache 17/3617 ist
einbringen wird, kann heute noch nicht prognostiziert eine Regelung der Besuchshäufigkeit und damit eine
werden. Festschreibung der persönlichen Kontakte des Betreuers
zu seinem Betreuten gar nicht vorgesehen. Das, was in
der Frage angesprochen wird, betrifft die Mündel, aber
Präsident Dr. Norbert Lammert:
nicht die Betreuten.
Zusatzfrage?
Weil die Häufigkeit der persönlichen Kontakte bei
Berufsbetreuern rückläufig ist, hat sich allerdings die
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frage gestellt, ob im Betreuungsrecht eine entspre-
Ich bedanke mich für die Beantwortung. Uns würde chende Regelung getroffen werden sollte. Diese Frage
noch interessieren, wer Mitglied der interdisziplinären wurde von der schon genannten vom BMJ eingesetzten
Arbeitsgruppe ist und welche Auswahlkriterien angelegt interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Überprüfung des
wurden. Betreuungsrechts nach intensiver Diskussion verneint.
8440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (C)
Das freut mich, weil wir schon aus verschiedenen ministerin der Justiz:
Oberlandesgerichtsbezirken gehört haben, dass die Be- Herr Kollege Lischka, das Bundesministerium der
treuungen auf 50 gedeckelt werden sollen. Von daher ist Justiz hat sich bereits seit den 1980er-Jahren als wohl
Ihre Antwort sehr interessant. erstes Ressort selbstkritisch mit seiner Geschichte aus-
einandergesetzt, und zwar auch mit personellen Kontinui-
Ich möchte noch eine Nachfrage stellen. Es gibt einen täten nach 1945. Ich darf folgende Beispiele nennen:
Evaluationsbericht des Instituts für Sozialforschung und 1984 publizierte das Bundesministerium der Justiz die
Gesellschaftspolitik. Inwieweit fließt dieser in die Arbeit kritische Broschüre Justiz im nationalsozialistischen
der Arbeitsgruppe ein? Deutschland. 1987 förderte das BMJ eine wissenschaft-
liche Untersuchung zur Rolle des Reichsjustizministeri-
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ums im Dritten Reich, und zwar die Abhandlung von
ministerin der Justiz: Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich, 1933–1940,
Auch hier gilt das, was ich vorhin gesagt habe: Er- Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. Das
kenntnisse aus der Praxis und der Wissenschaft werden Buch gilt mittlerweile als Standardwerk zu dem Thema.
natürlich in dieser Arbeitsgruppe verwertet. – Derzeit ist 1989 erstellte das BMJ die Wanderausstellung und den
ein Schwerpunktthema der Arbeitsgruppe die Strukturre- Katalog Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und
form des Betreuungsrechts. Dies beinhaltet auch die Nationalsozialismus. Diese Ausstellung ist in eigener
Frage, ob Aufgaben, die bisher bei den Betreuungsge- Regie des Bundesjustizministeriums entstanden, be-
richten angesiedelt sind, auf Betreuungsbehörden über- gleitet durch einen wissenschaftlichen Beirat von Exper-
tragen werden sollten. Bei diesem Punkt zeichnet sich ten.
als Mehrheitsmeinung ab, dass man es bei der bisherigen
Rechtslage belassen sollte. Ich kann das, glaube ich, etwas abkürzen; denn wir
haben eine längere Liste zusammengetragen. Wissens-
Insgesamt ist zu sagen: Das Betreuungsrecht ist in der wert für Sie ist sicherlich noch Folgendes: In der Aus-
jetzigen Form Anfang der 90er-Jahre geschaffen wor- stellung und im Katalog Im Namen des Deutschen Volkes –
den. Es ist also ein relativ junges Rechtsgebiet. Es gab Justiz und Nationalsozialismus nimmt die Zeit nach
meines Wissens schon drei größere Novellen. Daran se- 1945 knapp ein Drittel des Umfangs ein. Das ist deswe-
hen Sie, dass wir laufend beobachten, welchen Verbesse- gen wichtig, weil dort auch exemplarische Fälle perso-
rungsbedarf es gibt, und dann im Parlament entspre- neller Kontinuitäten im Bundesjustizministerium ge-
chende Vorschläge machen. nannt werden, nämlich Generalbundesanwalt Fränkel
und seine Mitwirkung an Todesurteilen sowie Ministerial-
(B)
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rat Maßfeller als Kommentator des „Blutschutzgeset- (D)
zes“.
Ich habe noch eine Nachfrage zu den Stundensätzen.
Diese sind ja immer ein Thema in der Diskussion über Diesen Beispielen können Sie entnehmen, dass das
das Betreuungsrecht. Inwiefern wird über eine Anpas- Bundesministerium der Justiz sich seiner Historie ge-
sung der Stundensätze oder der pauschalierten Stunden- stellt hat.
zahlen nachgedacht?
Ich sage auch ganz klar zum Ende dieser Antwort:
Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Justiz und
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- im Bundesjustizministerium selbst gibt es heute keiner-
ministerin der Justiz: lei Zweifel daran, dass während der NS-Diktatur die Jus-
Ihre Ausgangsfrage bezog sich ja darauf, ob die Be- tiz und das damalige Reichsjustizministerium an zahlrei-
suchshäufigkeit gesetzlich festgeschrieben wird. Daraus chen Verbrechen mitgewirkt haben. Ebenso unstreitig ist
könnte man Folgerungen auch für die Vergütung ziehen. die sogenannte zweite Schuld der bundesdeutschen Jus-
Da diese Frage aber zu verneinen war, ergibt sich daraus tiz, nämlich ihr Versagen bei der juristischen Aufarbei-
keine zwangsläufige Notwendigkeit für Änderungen. tung und der personellen Erneuerung nach 1945. Das sei
Unabhängig davon hat Ihre Fraktion dazu meines von unserer Seite in aller Klarheit hier festgestellt.
Wissens eine Kleine Anfrage mit verschiedenen Frage- (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele
stellungen aus dem Bereich der Vergütung gestellt. Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
darf auf die Beantwortung, die bevorsteht, verweisen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zusatzfragen?
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Burkhard Lischka
auf:
Burkhard Lischka (SPD):
Worin bestand die „umfassende Untersuchung“ zur Rolle
des Justizministeriums während der NS-Zeit, und was sind die Vielen Dank, Herr Staatssekretär Stadler, für diese
wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung, auf die ein Antwort. Mich würde interessieren, ob im Zusammen-
Sprecher des Bundesministeriums der Justiz in einem Beitrag hang dieser Aufarbeitung und der Studien vor allen Din-
zu Forderungen nach der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
von Bundesministerien gegenüber der tageszeitung (17. No-
gen aus den 80er-Jahren, die Sie angesprochen haben,
vember 2010) verwiesen hat, um dann auszuführen, dass ermittelt wurde, wie viele Mitarbeiter mit nationalsozia-
„kein weiterer Handlungsbedarf“ bestehe? listischer Vergangenheit eigentlich im BMJ weiterbe-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8441
Burkhard Lischka
(A) schäftigt wurden. Gibt es auch dazu Erkenntnisse? Gibt ob die Rechtsprechung den mit der Unterhaltsrechts- (C)
es möglicherweise sogar Namenslisten? reform 2008 verfolgten Zielen auch gerecht wird. Der-
zeit analysieren wir die Rechtsprechung zur Befristung
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- und Begrenzung von Unterhaltsansprüchen in den Fäl-
ministerin der Justiz: len, in denen die Ehe lange vor Inkrafttreten der Reform
Herr Kollege Lischka, das ist mir bei der Vorberei- geschlossen worden ist. Hier ist in der Tat zu prüfen, ob
ein Nachjustieren angezeigt ist. Ein Ergebnis dieser Prü-
tung nicht präsent gewesen. Ich lasse gerne nachprüfen,
fung kann man aber nicht vorwegnehmen.
ob es auch hierüber Informationen gibt. Jedenfalls gab es
vielfältige schriftliche historische Auseinandersetzungen
mit der NS-Zeit, übrigens beginnend – das will ich hier Christine Lambrecht (SPD):
nicht unterschlagen – durch den allseits hochgeschätzten Herr Staatssekretär, der BGH hat in seiner Entschei-
seinerzeitigen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, dung nicht etwa ehebedingte Nachteile, sondern die
den früheren Vorsitzenden der Sozialdemokratischen nacheheliche Solidarität zugrunde gelegt. Deswegen
Partei. Ob der von Ihnen genannte Inhalt gegebenenfalls meine Rückfrage: Wird der Schwerpunkt auch bei die-
mit bearbeitet worden ist, müsste ich noch prüfen lassen. sen Erwägungen eher auf die nacheheliche Solidarität
gelegt? Wie sind die Überlegungen hierzu?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Weitere Zusatzfrage? Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
ministerin der Justiz:
Burkhard Lischka (SPD): In der Tat – da haben Sie völlig recht – gibt es im Un-
Herr Staatssekretär, Sie haben angesprochen, dass ein terhaltsrecht zwei tragende Gesichtspunkte, die, zumin-
dest teilweise, in einem Spannungsverhältnis zueinander
Großteil der Aufarbeitung in den 80er-Jahren erfolgt ist.
stehen: auf der einen Seite den Grundsatz der Eigenver-
Nun ist in der historischen Forschung ein Zeitraum von
antwortlichkeit der beiden früheren Ehepartner nach ei-
30 Jahren durchaus ein erheblicher Zeitraum, weil auch
ner Scheidung, auf der anderen Seite den von Ihnen zu
neue Quellen und neue Archive zugänglich gemacht Recht genannten Grundsatz der nachehelichen Solidari-
werden. Vor diesem Hintergrund: Halten Sie eine wei- tät.
tere Bearbeitung dieses Themas für erforderlich, gerade
auch deshalb, weil es neue Quellen und Archive gibt, die Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung,
auch zu neuen Erkenntnissen führen könnten? die freilich keine abschließende ist, weil der konkrete
Fall zur Ermittlung weiterer Umstände des Einzelfalls an
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden ist, den
(B)
ministerin der Justiz: Gesichtspunkt der nachehelichen Solidarität erkennbar (D)
Herr Kollege Lischka, meinen umfangreichen Aus- sehr stark gewichtet. Das ist im Unterhaltsrecht aller-
dings schon in der Reform der sozialliberalen Koalition
führungen, die ich aus Zeitgründen sogar gekürzt habe,
in den 70er-Jahren so angelegt worden. Aus diesem
konnten Sie entnehmen, dass sich das Bundesministe-
Grund, glaube ich, bestand bei der Verabschiedung die-
rium der Justiz seiner Nazivergangenheit, besser gesagt, ser Reform, die seit 2008 gilt, Einigkeit in diesem Haus,
der Tätigkeit des Reichsjustizministeriums in der NS- dass man eine Regelung finden muss, die es ermöglicht,
Zeit, bereits sehr umfassend gestellt hat. Selbstverständ- dass die Gerichte möglichst alle Umstände des Einzel-
lich sind wir jederzeit bereit, Hinweisen auf weiße Fle- falls einbeziehen: eine lange Ehedauer, die Umstände
cken in der Forschung, wenn es diese gibt, nachzugehen. und Voraussetzungen, unter denen eine Ehe geschlossen
Im Moment besteht der Eindruck – diese Debatte ist worden ist, welche Unterhaltsregelungen zu diesem
mittlerweile seit einigen Wochen im Gange –, dass ge- Zeitpunkt gegolten haben usw. usf.
rade dieses Ministerium betreffend schon eine sehr sorg-
fältige Aufarbeitung erfolgt ist. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die Rechtspre-
chung zu beobachten und sie daraufhin zu überprüfen,
ob aufgrund dieser Rechtslage praktikable und dem Wil-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
len des Gesetzgebers entsprechende Ergebnisse erzielt
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Christine Lambrecht werden. Für eine abschließende Beurteilung ist es aber
auf: noch zu früh, weil die letzte Reform erst kurze Zeit zu-
Sieht sich die Bundesregierung unter anderem angesichts rückliegt. Wir werden zu gegebener Zeit über unsere
der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2010
(XII ZR 202/08) zur Dauer des Unterhaltsanspruchs von
Analyse berichten.
Frauen, die in der Ehe über Jahre Haushaltsführung und Kin-
dererziehung übernommen haben, zu einer gesetzlichen Klar- Christine Lambrecht (SPD):
stellung oder gar Gesetzesänderung im Bereich des Unter-
haltsrechts veranlasst? Zu der Formulierung „zu gegebener Zeit“ noch eine
Rückfrage. Die Frau Ministerin hat beim „Forum Unter-
haltsrecht“ des DAV angekündigt, dass man die Recht-
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
sprechung zu dieser Fragestellung auswerten und dann
ministerin der Justiz: gegebenenfalls Rückschlüsse auf gesetzgeberische Maß-
Ich darf für die Bundesregierung feststellen, dass wir nahmen ziehen möchte.
selbstverständlich die Sorgen und Ängste von lange ver-
heirateten Ehegatten, die eine „traditionelle Ehe“ gelebt Deswegen meine Frage: Bis wann ungefähr können
haben, sehr ernst nehmen. Wir beobachten daher genau, wir mit einer solchen Auswertung rechnen?
8442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- und der Strafverfolgung derzeit vor. So haben die Bun- (C)
ministerin der Justiz: desministerien der Justiz und des Innern beispielsweise
Es ist genau so, wie Sie es darstellen. Wir streben an, Ende September 2010 einen gemeinsamen Workshop
die Auswertung noch im ersten Halbjahr des nächsten zur Klärung praktischer, technischer und finanzieller
Jahres vorzulegen. Man kann aber heute nicht vorhersa- Fragen im Zusammenhang mit der Speicherung von
gen, dass wir Ihnen dann Gesetzesänderungen werden Telekommunikationsverkehrsdaten durchgeführt. Daran
vorschlagen müssen. Möglicherweise reicht der geltende waren zahlreiche Telekommunikationsunternehmen, deren
Gesetzesrahmen – im Sinne der genannten Grundsätze, Verbände, Datenschutzbeauftragte, Vertreter der Wissen-
die das Unterhaltsrecht prägen – zu den passenden Ein- schaft und weitere Interessierte beteiligt. Auch dabei
zelfallentscheidungen. Auf alle Fälle ist es das Ziel, Sie – damit schließe ich die etwas umfängliche Antwort –
nicht mehr allzu lange auf die Auswertung warten zu las- hat sich gezeigt, welch schwierige Probleme etwa tech-
sen, sondern sie im ersten Halbjahr 2011 vorzulegen. nischer Art, zum Beispiel bei der Verschlüsselung der
Daten, eine etwaige Neuumsetzung der Richtlinie auf-
Präsident Dr. Norbert Lammert: wirft.
Weitere Zusatzfragen sehe ich dazu nicht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Frage 6 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird Bitte schön, Frau Dr. Högl.
schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 7 des Kollegen
Volker Beck.
Dr. Eva Högl (SPD):
Dann rufe ich die Frage 8 der Kollegin Dr. Eva Högl Herr Staatssekretär, ganz herzlichen Dank für Ihre
auf: Antwort. Ich habe noch eine Nachfrage. Die Problema-
Wann legt die Bundesregierung ihren Vorschlag für eine tik, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungs-
neue Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdaten- gerichts ergibt, nämlich dass die gegenwärtige oder bis-
speicherung vor, und welche Kriterien zum Grund und zur her praktizierte Vorratsdatenspeicherung unwirksam ist
Dauer der Speicherung wird diese voraussichtlich erhalten?
und gestoppt wurde, ist eine nationale Problematik in
Deutschland. Vielleicht können Sie noch einmal ganz
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- kurz erläutern, warum Sie dennoch die Evaluierung der
ministerin der Justiz: europäischen Richtlinie, die wir, wie Sie gesagt haben,
Frau Dr. Högl, wie Sie wissen, ist die Richtlinie 2006/ ohnehin umsetzen müssen, abwarten wollen und welche
24/EG gegenwärtig Gegenstand einer Bewertung durch Erkenntnisse Sie sich von dieser Evaluierung für die not-
die Organe der Europäischen Union. Art. 14 dieser wendige deutsche Umsetzung versprechen.
(B) Richtlinie gibt vor, dass die Kommission dem Europäi- (D)
schen Parlament und dem Rat eine Bewertung der An- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes-
wendung dieser Richtlinie sowie ihrer Auswirkungen ministerin der Justiz:
auf die Wirtschaftsbeteiligten und die Verbraucher vor-
Frau Kollegin Dr. Högl, das Parlament hat zur Zeit
legt, um festzustellen, ob die Bestimmungen der Richtli-
der Großen Koalition nur deshalb einen Beschluss zur
nie gegebenenfalls geändert werden müssen. Mit dem
Vorratsdatenspeicherung gefasst, weil dies durch eine
Abschluss dieser Evaluation ist nach jüngsten Informa-
Richtlinie der Europäischen Union vorgegeben war. Zu-
tionen aus der Kommission im nächsten Quartal zu rech-
vor hatte sich nämlich nach meiner Erinnerung der ge-
nen. Im aktuellen Arbeitsprogramm kündigt die Kom-
samte Deutsche Bundestag in einem anderen Beschluss
mission eine Bewertung und Überarbeitung der
einstimmig gegen die Einführung der Vorratsdatenspei-
Richtlinie an.
cherung gewandt, er war dann aber an die Umsetzung
Auch wenn diese Evaluierung, über die ich jetzt be- der Richtlinie gebunden.
richtet habe, die europarechtliche Verpflichtung zur in-
Nun haben wir die Situation, dass diese Richtlinie
nerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie nicht suspen-
auch innerhalb der Europäischen Union zunehmend kri-
diert, so erscheinen doch angesichts der vor dem
tisch gesehen wird. Die zuständige Kommissarin, Frau
Abschluss stehenden Evaluation und Bewertung der
Reding, hat sich im Rechtsausschuss des Deutschen
Richtlinie durch die Europäische Kommission sowohl
Bundestages – Sie waren zugegen – als erklärte Gegne-
Planungen zu einem Zeitrahmen für eine etwaige Neure-
rin der Vorratsdatenspeicherung geoutet. Es gibt mehrere
gelung als auch diesbezügliche inhaltliche Festlegungen
europäische Länder, die die Richtlinie nicht umgesetzt
verfrüht. Angaben zum Verfahren und zum Zeitplan für
haben. Manche haben sie umgesetzt, was aber, wie in
eine erneute Umsetzung setzen zudem voraus, dass das
Deutschland, von deren eigenem Verfassungsgericht
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010
wieder aufgehoben worden ist. Die Debatte auf europäi-
und die daraus zu ziehenden konkreten Konsequenzen
scher Ebene ist insgesamt also sehr im Fluss.
für das nationale Recht umfassend geprüft sind, um ab-
schätzen zu können, welche Maßnahmen konkret zur Er- Ein Punkt kommt hinzu: Inzwischen ist die europäi-
füllung der gegebenenfalls zu überarbeitenden Richtlinie sche Grundrechtecharta in Kraft getreten, die nun auch
eingeleitet werden müssen. in die Evaluierung einfließen muss.
Diese Prüfung der Entscheidung des Verfassungsge- Unter diesen veränderten Umständen gegenüber den
richts nimmt die Bundesregierung unter besonderer Be- Vorgaben, die der Gesetzgeber zur Zeit der Großen Ko-
rücksichtigung der Erfordernisse der Gefahrenabwehr alition hatte, erscheint es uns zweckmäßig, vor weiteren
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8443
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
(A) nationalen Aktivitäten die Entwicklung in Europa im gen oder durch Kreditausfall an der Lösung der Schuldenkrise (C)
Auge zu behalten. beteiligt werden, und welche konkreten Schritte wird die Bun-
desregierung kurzfristig und zeitnah unternehmen, um der
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Forderung der Bundeskanzlerin Rechnung zu tragen, die Fi-
NEN]: Sehr gut!) nanzindustrie solle beim Lösen der Schuldenkrise Verantwor-
tung übernehmen (Handelsblatt, 24. November 2010)?
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Herr Kollege Ströbele, ich darf nur darauf verweisen,
ministerin der Justiz: dass wir den Finanzsektor durch die Einführung der
Die Bundesregierung hat dort über die markante Ent- Bankenabgabe, mit der ein Restrukturierungsfonds fi-
scheidung, wenn ich das so formulieren darf, des Bun- nanziert wird, stärker zu den Kosten der Bewältigung
desverfassungsgerichts vom 2. März 2010 vorgetragen von Bankenschieflagen heranziehen werden. Deutsch-
und wird dies auch weiter tun. Ich kann mich an kaum land hat sich auch auf der G-20-Ebene erfolgreich dafür
einen Fall erinnern, dass das Verfassungsgericht gesagt eingesetzt. Es ist jetzt in Seoul beim G-20-Gipfel bestä-
hat, eine Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, sei tigt worden, dass die Eigenkapitalvorschriften für Ban-
von einer bisher nie gekannten Streubreite und erzeuge ken wesentlich verschärft werden, damit die Banken in
das diffuse Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Zukunft mit dem für ihre Transaktionen notwendigen Ei-
(B) genkapital ausgestattet sind. (D)
Das Bundesverfassungsgericht hat uns auch aufgege-
ben, dass wir nicht beliebig Datensammlungen großer Sie fragen auch danach, inwieweit zum Beispiel im
Quantität anlegen können. Wir verweisen in der Debatte Hinblick auf Griechenland und Irland bei der Lösung,
in Europa also auf diese klare Rechtsprechung des Bun- die jetzt auf europäischer Ebene mit dem IWF vorange-
desverfassungsgerichts, durch die gleichwohl, damit das bracht worden ist, der Finanzsektor Verantwortung über-
nicht falsch ankommt, eine Neuregelung nicht gänzlich nimmt. Ich darf Ihnen im Hinblick auf das, was jetzt in
ausgeschlossen wird. Die Karlsruher Richter stehen dem Irland auf den Weg gebracht worden ist, zum Beispiel
aber offenkundig sehr kritisch gegenüber. mitteilen, dass in Irland der Finanzsektor auch dadurch
beteiligt wird, dass bei der Restrukturierung des Banken-
Darüber hinaus tragen wir dort natürlich auch über sektors die Einbeziehung des Privatsektors bereits gege-
die praktischen Erfahrungen vorher, während der Gel- ben ist. So sind die Aktionäre der Banken in Irland durch
tung und seither vor. die Hilfe praktisch enteignet worden. Es ist beabsichtigt,
für die Gläubiger nachrangiger Bankanleihen hohe Ab-
Präsident Dr. Norbert Lammert: schläge zu machen. Bei der schon seit längerem voll-
Die Frage 9 des Kollegen Winfried Hermann wird ständig verstaatlichten Anglo Irish Bank kam es bereits
schriftlich beantwortet. für einen Teil der nachrangigen Anleihen zu einem Ab-
schlag von 80 Prozent.
Mit Dank an den Kollegen Stadler kommen wir nun
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Fi- Sie wissen, Herr Kollege Ströbele, dass es der Bun-
nanzen. Für die Beantwortung der Fragen steht der Kol- desregierung in den vergangenen Monaten auf europäi-
lege Staatssekretär Koschyk zur Verfügung. scher Ebene gelungen ist, die europäischen Partner
Die Frage 10 des Kollegen Dr. Schick und die davon zu überzeugen, dass sich aus dem derzeitigen
Frage 11 des Kollegen Paula werden schriftlich beant- europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus aus
wortet. EFSM und EFSF – das sind die beiden Instrumente, die
uns jetzt auf europäischer Ebene für die Bewältigung der
Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Ströbele auf: Krise im Hinblick auf Griechenland und Irland zur Ver-
Warum hat die Bundesregierung bisher nicht die Gewäh- fügung stehen – ein auf Dauer angelegter Krisenbewälti-
rung von Garantien und Krediten in Milliardenhöhe aus Steuer- gungsmechanismus entwickeln soll, um die Gefährdun-
mitteln an Staaten wie jetzt an Irland und vorher an Griechen-
land oder an Finanzinstitute in Deutschland von Auflagen und
gen für die Finanzstabilität der Euro-Zone insgesamt
Bedingungen abhängig gemacht, dass die privaten Geldhäu- auch in Zukunft abwenden zu können. Dabei ist die Be-
ser, die von solchen Hilfen letztlich profitieren, durch Zahlun- teiligung des Privatsektors als ein wesentliches Element
8444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
GRÜNEN): desminister der Finanzen:
Ist es richtig, dass erst ab dem Jahr 2013, also in Sie wissen, Herr Kollege, dass zum Beispiel das
knapp drei Jahren, tatsächlich die Chance besteht, dass Engagement des Bundes bei der Commerzbank vorsieht,
beispielsweise die deutschen Großbanken in Anspruch dass, wenn die Commerzbank in einer stabileren Situa-
genommen werden könnten? tion ist, die Beteiligung des Bundes an der Commerz-
bank entsprechend verzinst werden muss.
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- Bei der HRE ist es so, dass der Bund inzwischen Voll-
desminister der Finanzen: eigner dieses Instituts ist. Da ist es uns in einer der
Die Rechtslage ist so, dass die gegenwärtig auf euro- schwierigsten Transaktionen der deutschen Finanzge-
päischer Ebene eingerichteten Instrumente – sowohl schichte gelungen, die sogenannten schlechten Assets,
EFSM als auch EFSF, der Rettungsschirm, die Zweckge- die problematischen Dispositionen in der Bank, in eine
sellschaft – die Einbeziehung des privaten Sektors nicht sogenannte Bad Bank auszulagern. Dabei bleibt es das
vorsehen. Es war, als im Hinblick auf Griechenland drin- Bemühen der Bundesregierung, durch ihren Einfluss die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8445
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(A) HRE nach Abspaltung der schlechten Assets durch die Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C)
Bad Bank wieder in die Gewinnzone zu bringen und sie desminister der Finanzen:
dann so früh wie möglich zu veräußern, damit das, was Herr Kollege Fell, die Frage, ob Bioreinkraftstoffe bei
zur Stabilisierung dieser Bank notwendig war, für den dem geplanten Wegfall der Steuerbegünstigung ab 2013,
Steuerzahler zurückgewonnen werden kann. wie Sie sagen, unterkompensiert sind, würde sich aus
Sicht der Bundesregierung nur dann stellen, wenn neben
Präsident Dr. Norbert Lammert: der steuerlichen Förderung keine weiteren Förderinstru-
Die Frage 13 des Kollegen Ernst, die Frage 14 der mente bestehen würden. Das ist aber bei Biokraftstoffen
Kollegin Schmidt (Eisleben) sowie die Fragen 15 und 16 aufgrund der Quotenverpflichtung und der daraus fol-
der Kollegin Krellmann werden schriftlich beantwortet. genden garantierten Nachfrage nach Biokraftstoffen
gerade nicht der Fall. Die steuerliche Förderung von
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Hans-Josef Fell Bioreinkraftstoffen wurde lediglich für einen Über-
auf: gangszeitraum beibehalten, um den ursprünglich auf den
Beabsichtigt die Bundesregierung, die derzeitige Rege- Reinkraftstoffmarkt ausgerichteten Anbietern eine Um-
lung beizubehalten, wonach Biokraftstoffe der sogenannten stellung auf den Beimischungsmarkt zu ermöglichen.
ersten Generation ab 1. Januar 2013 in gleicher Höhe besteu-
ert werden wie die Erdölderivate Benzin und Diesel, und, falls
Nach Meinung der Bundesregierung besteht für ein dau-
nein, welche konkreten Pläne hat die Bundesregierung, eine erhaftes Nebeneinander unterschiedlicher Fördermaß-
sogenannte Unterkompensation bei der steuerlichen Förde- nahmen kein Bedarf.
rung von Biodiesel und Pflanzenöl zukünftig zu vermeiden?
(A) Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun- Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C)
desminister für Wirtschaft und Technologie: desminister für Wirtschaft und Technologie:
Diese Frage habe ich schon eben indirekt angespro- Herr Kollege Barthel, ich habe schon gesagt, dass wir
chen. Wir wissen, dass in letzter Zeit Rohstoffe für die Rohstoffagentur gegründet haben. Sie ist am 4. Ok-
Hochtechnologien im Fokus stehen. Das sind insbeson- tober 2010 eröffnet worden. Diese Agentur baut das
dere die seltenen Erden. Die Volksrepublik China ist Rohstoffinformationssystem auf. Das ist sehr wichtig,
hierbei mit einem Marktanteil von über 95 Prozent der weil derzeit auf dem Markt eine völlige Intransparenz
weltgrößte Produzent und Exporteur. Allerdings ist seit herrscht. Wir sind auch im Wirtschaftsausschuss schon
einigen Jahren die Höhe der Exporte der seltenen Erden darauf eingegangen, dass sowohl die Bundeskanzlerin
aus China aufgrund des gestiegenen und weiter anstei- als auch der Bundeswirtschaftsminister bei Gesprächen
genden Energieverbrauchs Chinas und der Exportbe- in China diese Probleme angesprochen haben. Sie wer-
schränkungen rückläufig. Für das Jahr 2011 rechnen wir den Verständnis dafür haben, dass ich hier keine Details
mit einer weiteren Reduzierung der Exportquote. nennen kann. Wir sind in der Europäischen Union aktiv.
Wir sind auf die Wirtschaft zugegangen. Bundeswirt-
Deshalb ist die internationale Bergbauindustrie be- schaftsminister Brüderle hat beim BDI-Rohstoffkon-
müht, neue Gewinnungskapazitäten außerhalb Chinas gress die Strategie vorgestellt. Er hat aber auch klar
verfügbar zu machen. Ich habe die Zahl bereits genannt: gesagt, dass wir nicht vorhaben, als Staat Rohstoffsiche-
Momentan liegt der Marktanteil Chinas bei 95 Prozent. rung zu betreiben, sondern dass wir, wie ich das schon
Wir gehen aber davon aus, dass weniger als 65 Prozent vorhin gesagt habe, die Industrie flankierend unterstüt-
der Vorkommen in China zu finden sind. Mit der Inbe- zen wollen.
triebnahme neuer Produktionskapazitäten ist voraus-
sichtlich erst ab dem Jahr 2012 zu rechnen. Das betrifft Wir müssen übrigens auch in Deutschland schauen,
insbesondere Australien und die USA, möglicherweise wo es bei uns Vorkommen gibt – das wird die Rohstoff-
– allerdings in geringerem Umfang – auch Vietnam und agentur ebenfalls leisten; es geht nicht nur um seltene
Indien. Versorgungsengpässe bei seltenen Erden können Erden, es geht auch um andere Rohstoffe – und welche
daher unter Berücksichtigung dieser Explorations- und Einschränkungen es bei der Nutzung gibt. Das betreiben
Bergbauaktivitäten in den kommenden Jahren nicht aus- wir momentan sehr massiv. Wir sind schon ziemlich weit
geschlossen werden. gekommen.
Rohstoffpartnerschaften sind eine Möglichkeit, die
Rohstoffbezugsquellen zu sichern, und zwar unter der Präsident Dr. Norbert Lammert:
Voraussetzung – ich habe das schon genannt –, dass die Eine Zusatzfrage des Kollegen Grund.
(B) Industrie konkrete rohstoffwirtschaftlich und rohstoff- (D)
politisch bedeutsame Projekte vorschlägt. Dann ist die Manfred Grund (CDU/CSU):
Bundesregierung bereit, diese Projekte politisch zu flan- Herr Staatssekretär, teilen Sie zum Ersten meine Ein-
kieren und mit den Förderländern gezielte bilaterale schätzung, dass die deutsche Industrie und auch der
Rohstoffabkommen abzuschließen. deutsche Staat zu lange blauäugig geglaubt haben, man
könne seltene Erden und Rohstoffe zu bezahlbaren Prei-
Präsident Dr. Norbert Lammert: sen am Weltmarkt kaufen und brauche keine nationale
Ihre Nachfrage. Strategie zur Sicherung von seltenen Rohstoffen und
dem Zugang zu ihnen?
Klaus Barthel (SPD): Zum Zweiten. Sie haben in Ihren Antworten darauf
Herr Staatssekretär Burgbacher, das ist alles schön verwiesen, dass die Volksrepublik China 95 Prozent der
und gut, aber: Wenn Sie mit dem Anspruch antreten, Ausfuhr seltener Erden weltweit zur Verfügung stellt,
eine Rohstoffstrategie zu präsentieren, dann sollte diese und das bei einem Vorkommen von vielleicht 65 Prozent
Strategie nicht nur Deskription und Beobachtung dessen, auf dem Territorium der Volksrepublik China. Ist es rich-
was gerade passiert, beinhalten. Ihre Antworten befassen tig, dass Lagerstätten in Australien und in den USA, die
sich mit der Beschreibung dessen, was passiert, was wir vor Jahrzehnten noch zur Förderung von seltenen Erden
schon längst wissen und was bereits niedergeschrieben betrieben worden sind, in den letzten Jahrzehnten ge-
steht. Eine Strategie sollte auch aktives Handeln beinhal- schlossen wurden, weil Angebote zu niedrigeren Preisen
ten. vorhanden waren, und dass die Schließung dieser Lager-
stätten ursächlich für den jetzigen Lieferengpass ist?
Ich möchte von Ihnen genauer wissen: Wie weit sind
Sie beispielsweise mit Ihrer Rohstoffagentur vorange- Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun-
kommen? Wie weit sind Sie bei der Frage, die deutschen desminister für Wirtschaft und Technologie:
Interessen, wie es in der Strategie beschrieben ist, klar zu
Herr Kollege Grund, ich beantworte beide Fragen
benennen und Aktivitäten im Bereich Rohstoffhandel
gerne zusammen, weil sie zusammengehören.
politisch zu flankieren? Über die Beschreibung dieser
Probleme sind wir uns einig. Mich interessiert, wie weit Es ist richtig, dass sich nicht nur Deutschland, son-
Sie in Ihrem aktiven Handeln gekommen sind. Wenn Sie dern auch viele andere Länder aus der eigenen Förde-
mir bitte sagen könnten, was das Wirtschaftsministerium rung weitgehend zurückgezogen haben. Es ist richtig,
bzw. die Bundesregierung in diesem Bereich konkret dass etwa die Förderung seltener Erden in den USA auf-
macht. gegeben wurde. Jetzt wird versucht, diese Förderung
8448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
In den politischen Grundsätzen der Bundesregierung Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüs- Vielen Dank. – Wenn Sie sagen, dass diese Zahlen der
tungsgütern, die seit dem Jahr 2000 unverändert gelten, Bundesregierung gar nicht im Einzelnen vorliegen, dann
ist festgelegt, dass die Bundesregierung dem Deutschen stellt sich aber die Frage, wie es sein kann, dass Minister
Bundestag jährlich einen Rüstungsexportbericht vor- Westerwelle zu der Aussage „Jede Waffe, die derzeit ins
legt. Der Bericht für 2009 wird dem Parlament in Kürze Ausland exportiert wird, wurde nicht von dieser Regie-
vorgelegt werden. rung projektiert, sondern im Schnitt in den sieben Jahren
von Rot-Grün“ kommt? Wie konnte er zu dieser Aus-
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sage kommen, wenn diese Zahlen gar nicht vorliegen?
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Antwort, die
ich, ehrlich gesagt, auch befürchtet hatte. – Wie Sie zu Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun-
Recht gerade gesagt haben, warten wir immer noch auf desminister für Wirtschaft und Technologie:
den Rüstungsexportbericht 2009, und es ist jetzt das Das ist ganz einfach zu beantworten. Diese Bundesre-
Ende des Jahres 2010. Meine Frage daher: Hält die Bun- gierung ist etwas mehr als ein Jahr im Amt. Wie ich Ih-
desregierung es im Rahmen der parlamentarischen Kon- nen gesagt habe, zeigen alle Erfahrungen, dass diese
trolle für angemessen, dass wir über die Beantwortung Prozesse viel langfristiger sind und nicht von dieser
der hier konkret gestellten Fragen voraussichtlich in Bundesregierung projektiert wurden; insofern stimmt
zwei Jahren werden diskutieren können? Oder sieht die diese Aussage.
Bundesregierung eine Möglichkeit, diese Zahlen zeitnah
vorzulegen? Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gut, vielen Dank. – Ich habe eine weitere Rückfrage.
Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun- Verstehe ich Sie richtig, dass Ihre Antwort dahin gehend
desminister für Wirtschaft und Technologie: zu verstehen ist, dass allein durch den Zeitablauf Geneh-
Frau Kollegin Keul, die Bundesregierung strebt an, migungen aus rot-grüner Zeit möglich waren und nicht,
den Rüstungsexportbericht noch vor Weihnachten dem weil Rot-Grün überdurchschnittlich viele Waffenexporte
Deutschen Bundestag zu übersenden. genehmigt hätte?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8449
Katja Keul
(A) Aber meine spezielle Frage aus aktuellem Anlass ner Werkstatt für behinderte Menschen ermöglicht wer- (C)
wäre ein Bezug auf das Jahr 2008. Ich wüsste gern auf- den muss.
grund der aktuellen Veröffentlichungen im Spiegel, in-
wieweit die Bundesregierung Kenntnis davon hat, dass Die dritte Bemerkung: Das Vorliegen von Werkstatt-
eine private amerikanische Firma 2008 unter wissentli- fähigkeit als Voraussetzung für eine Aufnahme in eine
chem und willentlichem Verstoß gegen das deutsche Ex- Werkstatt für behinderte Menschen bedarf einer einzel-
portrecht ohne Genehmigung Hubschrauber über Eng- fallbezogenen Feststellung. Hierzu gehört auch die Pro-
land und die Türkei nach Afghanistan verbracht hat. gnose, dass der behinderte Mensch nach der Teilnahme
an der Maßnahme im Berufsbildungsbereich, für deren
Förderung im Rahmen der beruflichen Ersteingliederung
Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun- die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist, in der Lage
desminister für Wirtschaft und Technologie: sein wird, eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleis-
Zu Ihrer ersten Frage noch einmal die deutliche Fest- tung zu erbringen. Die Bundesregierung geht davon aus,
stellung: Das war keine Wertung, sondern das ergibt sich dass die verantwortlichen Behörden in Nordrhein-West-
eindeutig aus dem Ablauf. falen dies bei den Entscheidungen über die Aufnahme
Zur zweiten Frage: Ich bitte um Verständnis, dass ich behinderter Menschen in Werkstätten berücksichtigt ha-
das nicht aus der hohlen Hand beantworten kann. Das ben.
können wir aber gern nachliefern.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Präsident Dr. Norbert Lammert: NEN):
Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende dieses Ge- Ich möchte nachfragen: Sieht die Bundesregierung
schäftsbereichs. die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Änderung
des § 136 Abs. 2 SGB IX, sodass es künftig nicht mehr
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- die Sozialhilfeträger sind, die darüber entscheiden, ob
ministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung die Menschen werkstattfähig sind oder nicht?
steht der Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel zur
Verfügung. Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
Die Frage 31 der Kollegin Doris Barnett, die Frage 32 Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
der Kollegin Katja Dörner und die Frage 33 der Kollegin Ich darf hier nochmals betonen: Die Bundesregierung
Birgitt Bender werden schriftlich beantwortet. hält die in § 136 SGB IX gestellten Anforderungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben in einer Werkstatt für behin-
Ich komme zur Frage 34 der Kollegin Müller-Gem- derte Menschen für sinnvoll. Die Bedürfnisse schwerst- (D)
(B) meke:
behinderter Menschen können die Werkstätten als Ein-
Wie wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, dass richtungen der beruflichen Teilhabe und Rehabilitation
künftig auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die
bislang nicht das Kriterium der sogenannten Werkstattfähig-
mit ihrem primär hierauf ausgerichteten Angebot und
keit nach § 136 Abs. 2 SGB IX erfüllen, gemäß Art. 27 der Fachpersonal nicht mit erfüllen.
UN-Behindertenrechtskonvention das Recht mit anderen auf
Arbeit erhalten, und wie bewertet die Bundesregierung das Zu den Aufgaben der Werkstätten gehört auch, wirt-
Vorgehen der beiden Landschaftsverbände in Nordrhein- schaftliche Arbeitsergebnisse zu erstreben, um den be-
Westfalen, die den Begriff der Werkstattfähigkeit sehr weit hinderten Menschen ein Arbeitsentgelt zahlen zu kön-
auslegen und somit auch Menschen mit sehr hohem Unterstüt- nen. Bei Aufnahme der genannten Personengruppe
zungsbedarf einen Werkstattarbeitsplatz zur Verfügung stel-
len?
könnten Werkstätten nicht mehr in der Lage sein, Ar-
beitsentgelte in der gesetzlich festgelegten Höhe zu zah-
Bitte schön. len. Daher kann ich Ihrem Anliegen nicht entsprechen.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: NEN):
Die erste Bemerkung dazu: Die Werkstätten als Ein- Vielen Dank. – Ich habe noch eine Nachfrage: Inwie-
richtungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Ein- fern war diese Problematik Gegenstand der Bund-Län-
gliederung in das Arbeitsleben bieten Menschen, denen der-Arbeitsgruppe zur Fortentwicklung der Eingliede-
dies wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht rungshilfen?
oder noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allge-
meinen Arbeitsmarkt möglich ist, eine angemessene be-
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
rufliche Bildung, um in eine Beschäftigung zu kommen.
Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Das ist die Funktion der Werkstätten.
Was Sie ansprechen, ist natürlich immer ein Thema.
Die zweite Bemerkung: Art. 27 der UN-Konvention Ich möchte deshalb noch auf Folgendes hinweisen: Die
über die Rechte von Menschen mit Behinderung stellt hier genannte Personengruppe ist nicht unversorgt. Die
kein absolutes Recht der Personengruppe behinderter Menschen werden in Einrichtungen, sogenannten Tages-
Menschen auf Arbeit fest. Aus der UN-Konvention lässt förderstätten, gefördert, die auch unter dem Dach der
sich deshalb kein Anspruch darauf herleiten, dass auch Werkstätten angesiedelt sein können. Wir beide wissen
schwerstbehinderten Menschen unabhängig von ihrer – wir interessieren uns ja für solche Themen –, dass man
Leistungsfähigkeit Teilhabe am Arbeitsleben etwa in ei- in solchen Fällen von „Einrichtungen unter dem verlän-
8450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis der Werk-
stattbeschäftigten bedeutet, dass die arbeitsrechtlichen
Herr Fuchtel, ich komme aus Nordrhein-Westfalen
Schutzvorschriften anzuwenden sind, insbesondere Ar-
und habe schon Arbeitsbereiche für Menschen mit einem
beitszeit, Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
sehr hohen Unterstützungsbedarf gesehen. Ich bin der
Dagegen sind die Verpflichtungen, die üblicherweise zu
Auffassung, dass es einen Unterschied macht, ob man
unter dem „verlängerten Dach einer Werkstatt“ beschäf- einem Arbeitsverhältnis gehören, nicht anwendbar, etwa
tigt ist oder ob man direkt in den Arbeitsprozess einge- die Verpflichtung, in einer bestimmten Zeit eine be-
bunden ist. Meine Frage lautet: Ist die Bundesregierung stimmte Leistung zu erbringen. Hier handelt es sich um
nicht der Ansicht, dass der Begriff der wirtschaftlichen arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse, die den beson-
Leistung so unbestimmt ist, dass bei einer zeitgemäßen deren Schutzinteressen der behinderten Menschen die-
Gesetzesauslegung oder Gesetzesschöpfung nach der nen; aber daraus leitet sich auch die Differenzierung bei
neuen UN-Konvention auf ihn verzichtet werden kann der Mitbestimmung ab.
und der Begriff der Teilhabe in diesem Fall, für diese be-
sondere Personengruppe, in den Vordergrund zu stellen Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist? NEN):
Vielen Dank, Herr Fuchtel. – Auch wenn ich hin und
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der wieder nicke, wenn ich einen Begriff kenne, heißt das
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: nicht, dass ich da ganz Ihrer Meinung bin.
(B) (D)
Ich möchte nochmals betonen, dass diese Unterschei-
dung, auch wenn sie schwierig ist, erforderlich ist und Ich möchte nachfragen: Werkstattbeschäftigte fühlen
dass es bei der Beurteilung natürlich auf den Einzelfall sich in der Regel als ganz normale Mitarbeiterinnen und
ankommt. Ich bin in jüngerer Zeit in Einrichtungen ge- Mitarbeiter, die morgens pünktlich erscheinen, ihre Ar-
wesen, in denen selbst Autisten einer Beschäftigung zu- beit verrichten und bis zum Ende ihrer Arbeitszeit blei-
geführt werden. Wenn sie einer Beschäftigung zugeführt ben. Was spricht dann dagegen, dass Werkstatträte den
werden können, dann muss man im Einzelnen prüfen, ob Betriebsräten gleichgestellt werden?
es um eine Teilhabe am Arbeitsleben geht. Das wird im-
mer im Einzelfall beurteilt werden müssen. Die gene- Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
relle Aufgabe der Kriterien planen wir nicht. Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Zunächst einmal kann ich Ihre Beurteilung voll bestä-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tigen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Ich rufe die Frage 35 der Kollegin Müller-Gemmeke Werkstätten in ganz besonderer Weise pflichtbewusst
auf: sind. Das kann ich auch bei meinen vielen Begegnungen
mit diesen Menschen feststellen.
Wird die Bundesregierung zur Umsetzung von Art. 27
Buchstabe c der UN-Behindertenrechtskonvention § 139 SGB IX
sowie die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung, WMVO, da-
Ich habe eben versucht, Ihnen darzustellen, dass es
raufhin evaluieren, wie echte Mitbestimmungsrechte der Werk- sich hier um eine arbeitnehmerähnliche Situation han-
statträte verwirklicht werden können, und wie bewertet die delt, aus der sich für uns diese Differenzierung ergibt.
Bundesregierung den Status des „arbeitnehmerähnlichen Rechts- Das heißt aber nicht, dass diese Arbeit nicht auch Unter-
verhältnisses“ nach § 139 SGB IX vor dem Hintergrund der stützung finden würde. Ich möchte darauf hinweisen,
Konvention?
dass die Bundesregierung die Werkstattbeschäftigten
beim Aufbau einer überregionalen Struktur auf Bundes-
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der und Landesebene unterstützt. Im Oktober dieses Jahres
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: hat das Deutsche Rote Kreuz unter Beteiligung der Cari-
Hierzu muss ich wieder etwas ausholen. Die in den tas begonnen, in einem Netzwerk die Vorstandsarbeit der
Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderungen Bundesvereinigungen der Vertretungen zu koordinieren.
stehen in der Regel nicht in einem abhängigen Arbeits- Dafür werden derzeit aus Mitteln des Ausgleichsfonds
verhältnis mit den dafür geltenden Rechten und Pflich- beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales immer-
ten, sondern in einem arbeitnehmerähnlichen Arbeits- hin 200 000 Euro zur Verfügung gestellt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8451
(A) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- litation zu gewährleisten –, und wie bewertet die Bundesre- (C)
NEN): gierung vor diesem Hintergrund die Vorschläge der Arbeits-
und Sozialministerkonferenz zur Weiterentwicklung der Ein-
Vielen Dank. – Ich habe eine weitere Nachfrage: In gliederungshilfe, wonach die zentrale Steuerungskompetenz
welchem Rechtsverhältnis werden künftig Menschen mit im Rehabilitationsprozess auf die Sozialhilfeträger übergehen
Behinderungen stehen, die Werkstattleistungen in Form soll?
des Persönlichen Budgets in Anspruch nehmen, um ei-
nen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
bekommen? Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Kollege, ich stelle fest, dass die Umsetzung der
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der UN-Behindertenrechtskonvention für uns eine wichtige
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: sozialpolitische Aufgabe ist. Wir werden in dieser Legis-
Wir haben auch dafür derzeit noch keine Änderungen laturperiode – ich habe das bereits ausgeführt – einen
vorgesehen. Diese Fragen, bei denen es um einen Grenz- entsprechenden Aktionsplan aufstellen. In diesem Zu-
bereich, um die Integration in den allgemeinen Arbeits- sammenhang werden wir natürlich auch über die Instru-
markt, geht, sind natürlich immer in der Diskussion. Al- mente des Sozialgesetzbuchs IX sprechen, weil sie eine
lerdings gilt dieser Status, solange diese Menschen den zentrale Rolle spielen. Hier kann ich Ihnen mitteilen,
Status eines Mitarbeiters der Werkstatt haben, auch be- dass die Bundesregierung das Bestreben der Arbeits-
züglich Mitbestimmungsfragen. und Sozialministerkonferenz unterstützt, dass die Träger
der Sozialhilfe in Fällen, in denen die Leistungen der So-
Präsident Dr. Norbert Lammert: zialhilfe im Vordergrund stehen, die leistungsträgerüber-
greifende Gesamtverantwortung für die Steuerung und
Kollege Kurth hat noch eine Zusatzfrage. Koordinierung individuell erforderlicher Rehabilitati-
ons- und Teilhabeleistungen – von der Bedarfsermittlung
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über die Bedarfsfeststellung bis zur Wirkungskontrolle –
Herr Staatssekretär, genau in diesem Grenzbereich se- übernehmen.
hen wir Probleme. Es handelt sich um Mitarbeiter, die in
einem regulären Betrieb arbeiten, ein sogenanntes Per- Ich will dazu noch einen Satz sagen, damit keine Er-
sönliches Budget, in der Regel als Lohnkostenzuschuss, wartungen aufkommen, die revolutionären Charakter ha-
erhalten und sich gar nicht mehr im Kontext der ge- ben könnten: Mit dieser Gesamtsteuerungsverantwor-
schützten Werkstatt befinden. Sie sind also in der Regel tung wäre keine Verlagerung der Zuständigkeiten
– das ist schon beim Außenarbeitsplatz der Fall – doch anderer Sozialleistungsträger auf die Träger der Sozial-
(B) dazu gezwungen, etwa ein bestimmtes Arbeitsergebnis hilfe verbunden. (D)
in einer bestimmten Zeit zu erwirtschaften. Sieht die
Bundesregierung denn nicht zumindest an dieser Stelle, Vizepräsidentin Petra Pau:
beim Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt – we-
Ihre erste Nachfrage, bitte.
nigstens im Falle des Persönlichen Budgets und mögli-
cherweise auch bei den sogenannten Außenarbeitsplät-
zen –, Handlungsbedarf, die Regelung des Status zu Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
überdenken und den arbeitnehmerähnlichen Status auf- Ich würde gerne die abschließende Klarstellung auf-
zugeben? greifen; auch Herr Bahr aus dem Gesundheitsbereich ist
ja anwesend. Im Beschlussentwurf der Arbeits- und
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Sozialminister ist vorgesehen, dass der Träger der So-
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: zialhilfe, der nach Sozialgesetzbuch IX die Gesamtsteu-
Sie wissen, dass wir gerade an einem Aktionsplan zur erung übernehmen soll, „bei leistungsträgerübergreifen-
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention arbei- den Bedarfskonstellationen im Auftrag und im Namen
ten. In diesem Zusammenhang werden natürlich alle der anderen Beteiligten – auch vorrangigen – Leistungs-
Fragestellungen, auch Fragen zu den Schnittstellen, träger handeln kann“, also als Beauftragter. Das bedeu-
sorgfältig geprüft. Dem möchte ich in keiner Weise vor- tet, dass der Sozialhilfeträger in gewisser Weise für an-
greifen und hier nicht die Linie vertreten, dass Verände- dere Rehabilitationsträger, unter anderem für die
rungen zu erwarten sind. Ich kann nur sagen, dass wir gesetzliche Krankenversicherung, Entscheidungen tref-
mit dieser Materie sehr sorgfältig umgehen und es viele fen könnte. Im Beschlussentwurf der Arbeits- und So-
Aspekte gibt, die es abzuwägen gilt. Das alles werden zialministerkonferenz heißt es weiter:
wir, wie ich vorhin schon ausgeführt habe, nicht ver-
Alle in Betracht kommenden Leistungsträger sind
nachlässigen.
zur Teilnahme an der Hilfeplankonferenz verpflich-
tet.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich rufe die Frage 36 des Kollegen Kurth auf: Wie steht die Bundesregierung zu dieser Position?
Weist sie dies zurück und, wenn ja, warum? Wenn nein,
Welche Rolle spielt nach Ansicht der Bundesregierung das
Neunte Buch Sozialgesetzbuch bei der Umsetzung der UN-
wie soll dann Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit der
Behindertenrechtskonvention – insbesondere die Verpflich- verschiedenen Rehabilitationsträger sichergestellt wer-
tung, trägerübergreifend einheitliche und koordinierte Rehabi- den?
8452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der abhängiges Bundesteilhabegeld für Menschen mit Behinde- (C)
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: rung einzuführen, das wesentliche Nachteilsausgleiche zu-
sammenfasst, und wie bewertet die Bundesregierung die
Auch dazu nehme ich gerne Stellung. Soweit im Ein- nunmehr gehäuft auftretenden Anträge der Sozialhilfeträger
zelfall die Leistungen der Sozialhilfe im Vordergrund bei den Familienkassen auf Auszahlung des – anteiligen –
stehen – „im Vordergrund stehen“ will ich unterstreichen –, Kindergeldes für volljährige und dauerhaft voll erwerbsge-
soll der Träger der Sozialhilfe bei leistungsträgerüber- minderte Empfängerinnen und Empfänger von Grundsiche-
rungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Bu-
greifenden Bedarfskonstellationen die Aufgaben einer ches Sozialgesetzbuch?
Koordinierungsstelle übernehmen und Leistungen für
hilfesuchende Menschen mit Behinderungen wie aus ei- Bitte, Herr Staatssekretär.
ner Hand erbringen. Die Träger der Sozialhilfe sollen
unter Einbindung der Menschen mit Behinderung im Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
Auftrag und im Namen der anderen Sozialleistungsträ- Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
ger handeln können, ohne Leistungsentscheidungen an Im ersten Teil der Frage 37 geht es um das sogenannte
deren Stelle treffen zu können. Die Rolle des Trägers der Bundesteilhabegeld, das vom Deutschen Verein für öf-
Sozialhilfe wäre vergleichbar mit der Rolle des Beauf- fentliche und private Fürsorge schon länger gefordert
tragten im Verfahren zur Ausgestaltung trägerübergrei- wird. Ich darf Ihnen ganz kurz antworten: Beim Bun-
fender Persönlicher Budgets entsprechend den einschlä- desteilhabegeld gibt es aus unserer Sicht nichts wirklich
gigen Vorschriften der Budgetverordnung. Neues.
Näheres ist noch nicht geklärt. Das muss natürlich Im zweiten Teil Ihrer Frage geht es um die Abzwei-
noch geklärt werden. In diese Richtung wird zurzeit dis- gung von Kindergeld zur Deckung der Sozialhilfeauf-
kutiert. wendungen. Hierzu gab es in jüngerer Zeit neue Ent-
scheidungen des Bundesfinanzhofs. In Teilen der
Vizepräsidentin Petra Pau: Fachwelt entstand so die Befürchtung, dass sich daraus
Die zweite Nachfrage. in der Praxis erhebliche Änderungen ergeben könnten.
Aus unserer Sicht verhält es sich so, dass sich keine
grundsätzliche Rechtsänderung anbahnt. Das stellt auch
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
derjenige fest, der das Urteil genau liest.
Sieht die Bundesregierung denn nicht das Risiko, dass
der Sozialhilfeträger als beteiligter Kostenträger, also als
beteiligte Partei im Verfahren, seine Steuerungsfunktion Vizepräsidentin Petra Pau:
ausnutzt, indem er bei finanzwirksamen Entscheidungen Erste Nachfrage, bitte.
(B) darauf hinwirkt, dass diese nicht vorrangig ihn, sondern (D)
andere Leistungsträger betreffen? Wäre es insofern nicht Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sinnvoller, eine von den Kostenträgern unabhängige Herr Staatssekretär Fuchtel, der Bundesregierung ist
Steuerungsstelle einzurichten, wie das vom Prinzip her aber bekannt, dass es Sozialhilfeträger gibt, die Hilfe-
im SGB IX bei den gemeinsamen Servicestellen einmal empfänger bzw. deren Angehörige anschreiben und ver-
angedacht war? suchen, das Urteil in diesem Sinne auszulegen?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Das Problem ist der Fachwelt natürlich bekannt. Da- Ja. Vielleicht trägt die heutige Debatte dazu bei, so et-
mit muss man umgehen. Deswegen habe ich hier ganz was zurückzudrängen.
deutlich ausgeführt, dass diese Funktion ohne Leistungs-
entscheidung anstelle anderer erfolgen soll. So kann
zwar das, was Sie zu bedenken geben, natürlich weiter- Vizepräsidentin Petra Pau:
bestehen und ist in der Praxis nicht immer auszuschlie- Ihre zweite Nachfrage, bitte.
ßen. Das ist aber als eine Möglichkeit zu akzeptieren, da-
mit wir hier auf diesem Weg vorankommen. Dass man in Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
diesem Bereich nicht alle Probleme so wunderbar und Die zweite Nachfrage betrifft die Idee des Teilhabe-
lupenrein beseitigen kann, dass es nicht zu Konflikten geldes. Sie sagen: Da gibt es nichts wirklich Neues. Im-
kommt, ist uns allen bekannt. Deshalb müssen wir einen merhin böte ein Teilhabegeld in der Form, wie es dem
Weg gehen, der gewährleistet, dass die Probleme, die Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge
entstehen können, nicht auf dem Rücken der betroffenen vorschwebt, die Möglichkeit einer gewissen finanziellen
Menschen ausgetragen werden. Die Menschen müssen Beteiligung des Bundes, die sicherlich auch eine Voraus-
eine Lösung bekommen, mit der sie leben können. setzung für eine Einigung bei der Neuordnung der Ein-
gliederungshilfe ist. Sieht die Bundesregierung nicht die
Vizepräsidentin Petra Pau: Gefahr, dass dadurch, dass bestehende finanzielle Nach-
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Kurth auf: teilsausgleiche zurzeit Stück für Stück gekürzt werden
Inwiefern gibt es innerhalb der Bundesregierung Überle-
– GEZ-Gebührenbefreiung, Blindengeld und dergleichen –,
gungen, analog zu den Empfehlungen des Deutschen Vereins die nötige Manövriermasse, die den Kern eines neuen
vom 8. Dezember 2004 ein einkommens- und vermögensun- Teilhabegeldes bilden könnte, verloren geht?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8453
(A) Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der rigem Recht können sich nur für Versicherte ergeben, die (C)
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr in Erwerbsminde-
Ich darf auf das quantitative Element zu sprechen rungsrente gehen. Auch die maximale Abschlagshöhe
kommen. Schon im Jahr 2004 hat der Deutsche Verein von 10,8 Prozent bleibt unverändert. Im Jahr 2009 sind
für öffentliche und private Fürsorge dargestellt, dass das knapp 175 000 Personen in Erwerbsminderungsrente ge-
Teilhabegeld den Bund 1,38 Milliarden Euro kosten gangen. Darunter waren knapp 13 000 Personen – das
würde. Das war im Jahr 2004. Angesichts der zwischen- sind 7,4 Prozent – im Alter von 60 bis 64 Jahren.
zeitlichen Entwicklungen würde eine Einführung dieses
Teilhabegeldes also auf gar keinen Fall weniger kosten, Da das zukünftige individuelle Rentenzugangsverhal-
sondern wir müssten mit höheren Kosten rechnen. ten nicht bekannt ist, kann über die Anzahl der von der
geänderten Regelung in Zukunft betroffenen Personen
Hierzu muss ich Ihnen sagen: Das wäre eine neue So- keine Aussage gemacht werden. Zudem hängt die An-
zialleistung, die sich nicht am individuellen behinderten- zahl der von der Anhebung des Referenzalters betroffe-
spezifischen Bedarf orientiert und zum Beispiel auch fi- nen Personen davon ab, bei wie vielen Rentenzugängen
nanziell bessergestellten Menschen mit Behinderungen ab dem Alter 60 bei der Berechnung der Abschläge das
genauso zugutekäme. Ich kann nicht erkennen, dass es in bisherige Referenzalter von 63 Jahren angelegt wird,
unserer Gesellschaft einen Trend gibt, pauschale Zahlun- weil 35 bzw. 40 Pflichtjahre – Letzteres gilt ab dem Jahr
gen in neuer Form wiederaufleben zu lassen. Ich kann 2024 – vorliegen.
mir auch nicht vorstellen, dass man das dem Steuerzah-
ler irgendwie plausibel machen kann. Eine Rückkehr zu der Altersgrenze von 63 – darauf
bezieht sich Ihre Frage – ist nicht möglich. Die weiter
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steigende Lebenserwartung und die gleichzeitig sinken-
NEN]: Schade, dass ich keine Nachfrage mehr den Geburtenzahlen – hiermit komme ich zu dem
habe!) Thema, das in dieser Woche hier im Parlament noch eine
Rolle spielen wird – machen die stufenweise Anhebung
Vizepräsidentin Petra Pau: der Altersgrenze zu einer wichtigen Maßnahme, um die
Das tut mir leid; es ist Ihnen nicht möglich, hierzu Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung stabil hal-
noch eine Nachfrage zu stellen. ten und das Niveau der Rente sichern zu können. Deswe-
gen ist aus unserer Sicht keine Veränderung vorgesehen.
Die Fragen 38 und 39 der Kollegin Pothmer, die Fra- Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es auch aufgrund
gen 40 und 41 des Kollegen Sarrazin, die Fragen 42 und des Arbeitskräftemangels notwendig ist, dass wir diesen
43 der Kollegin Hinz (Herborn), die Fragen 44 und 45 Weg gehen. Die besondere Situation der schwerbehin-
der Kollegin Haßelmann, die Frage 46 des Kollegen derten Menschen wird auch künftig besonders berück- (D)
(B) Seifert, die Fragen 47 und 48 der Kollegin Andreae so-
sichtigt, indem zwar die Altersgrenze für den abschlags-
wie die Fragen 49 und 50 der Kollegin Wagner werden freien Bezug von Altersrenten grundsätzlich auf
schriftlich beantwortet. 67 Jahre angehoben wird, aber schwerbehinderte Men-
Ich rufe Frage 51 des Kollegen Dr. Wolfgang schen die abschlagsfreie Altersrente schon mit 65 Jahren
Strengmann-Kuhn auf: beantragen können. Somit wird auch künftig der zwei-
jährige, bisher bekannte Abstand zur Regelaltersgrenze
Welche Zahlen liegen der Bundesregierung vor, wie viele
Menschen von der Heraufsetzung der abschlagsfreien Regel-
beibehalten.
altersgrenze für Erwerbsminderungsrente und Rente wegen
Schwerbehinderung betroffen sein werden, und wie bewertet Vizepräsidentin Petra Pau:
die Bundesregierung den Vorschlag, die Altersgrenze für
diese Personengruppen wieder auf 63 Jahre abzusenken? Ihre erste Nachfrage, bitte.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: DIE GRÜNEN):
Auf Ihre Frage möchte ich Folgendes antworten: Die Vielen Dank für die Antwort, Herr Fuchtel. – Bei ge-
Altersgrenze für den abschlagsfreien Beginn der Alters- sunden Menschen kann man ja vortrefflich über die An-
rente für schwerbehinderte Menschen wird ab dem Jahr- hebung der Altersgrenze streiten. Das werden wir dann
gang 1952 stufenweise von 63 auf 65 Lebensjahre ange- morgen hier im Plenum auch tun. Bei der Rente mit 67
hoben. Die Altersgrenze für eine frühestmögliche sind wir ja durchaus eher beieinander. Ich finde aber, bei
Inanspruchnahme wird analog vom 60. auf das 62. Le- Erwerbsgeminderten und Schwerbehinderten stellt sich
bensjahr erhöht. Es ist damit zu rechnen, dass im Jahr die Situation ganz anders dar.
2009 – das bezieht sich auf Ihre Frage nach der Anzahl
Erwerbsminderung sucht man sich nicht aus. Und um
der Betroffenen – gut 80 000 Personen auf diese Weise
dem Fachkräftemangel zu begegnen, auf den Sie verwie-
in Rente gegangen sind. Das entspricht hier ungefähr
sen haben, nützen die Erwerbsgeminderten ja auch rela-
9,3 Prozent der Versichertenrentenzugänge.
tiv wenig. Auch bei Schwerbehinderten handelt es sich
Das Referenzalter für die Berechnung von Abschlä- um eine spezielle Gruppe. Sehen Sie es nicht auch so,
gen bei Renten wegen Erwerbsminderung wird ebenfalls dass es nicht zumutbar ist, dass Angehörige dieser
stufenweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben. Gruppe länger arbeiten sollen? Die Erwerbsgeminderten
Für Rentenzugänge in jüngeren Jahren ergeben sich können ja gar nicht länger arbeiten; für diese stellt die
keine Veränderungen. Höhere Abschläge als nach bishe- Rente mit 67 tatsächlich eine reine Rentenkürzung dar.
8454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Vizepräsidentin Petra Pau: prüfen und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen. Grund- (C)
Haben Sie eine Nachfrage? – Sie verzichten. sätzlich geht es darum, beteiligte Partner möglichst im
Vorfeld dafür zu sensibilisieren, bei der Wahl von Ko-
Die Fragen 53 und 54 des Kollegen Dr. Konstantin operationspartnern usw. darauf zu achten, dass sich auch
von Notz, die Fragen 55 und 56 der Kollegin Monika diese der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der
Lazar, die Fragen 57 und 58 der Kollegin Tabea Rößner, Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Daher
die Fragen 59 und 60 des Kollegen Tom Koenigs, die wird in bestimmten Förderprogrammen auch verlangt,
Fragen 61 und 62 der Kollegin Anette Kramme, die dass Träger geförderter Maßnahmen eine Bestätigung
Fragen 63 und 64 der Kollegin Bärbel Bas, die abgeben, nach der sie sich zur Grundordnung bekennen
Fragen 65 und 66 der Kollegin Sabine Zimmermann, die und eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Ar-
Fragen 67 und 68 des Kollegen Werner Dreibus und die beit leisten. Die Bestätigung soll auch für die Gefahren
Frage 69 des Kollegen Klaus Ernst werden schriftlich sensibilisieren, die sich aus einer Zusammenarbeit mit
beantwortet. extremistischen Strukturen für das Engagement für Tole-
Damit kann ich mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär, ranz und Demokratie entwickeln können, zumal viele
bedanken. Träger beklagen, dass extremistische Strukturen versu-
chen, Organisationen zu unterwandern und für ihre Zwe-
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- cke zu missbrauchen.
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz. Ich kann Ihnen auf Nachfrage gern solche sowohl aus
dem rechten als auch aus dem linken Spektrum nennen.
Die Fragen 70 und 71 der Kollegin Cornelia Behm
und die Frage 72 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
Vizepräsidentin Petra Pau:
werden schriftlich beantwortet.
Sie verzichten auf Nachfragen.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Dann kommen wir zur Frage 79 der Kollegin Daniela
Kolbe:
Die Fragen 73 und 74 des Kollegen Omid Nouripour Welche Gründe haben die Bundesregierung dazu bewo-
werden schriftlich beantwortet. gen, das in dem Schreiben des Parlamentarischen Staatssekre-
tärs bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- und Jugend, Dr. Hermann Kues, vom 15. November 2010 an
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend erwähnte Projekt „Wir fahren nach Berlin – gegen
Die Frage 75 der Kollegin Katja Dörner und die Linksextremismus“ des Trägers Junge Union als Modellpro-
(B) Fragen 76 und 77 der Kollegin Caren Marks werden jekt auszuwählen, und welche Vorbildwirkung verspricht sich (D)
schriftlich beantwortet. die Bundesregierung von „Wir fahren nach Berlin – gegen
Linksextremismus“?
Ich rufe die Frage 78 der Kollegin Daniela Kolbe auf:
Sind der Bundesregierung Organisationen bekannt, die Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
nachweislich eine den Zielen des Grundgesetzes nicht förder- Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
liche Arbeit verrichten und gleichzeitig in der Vergangenheit gend:
aus Mitteln des Bundes, etwa aus dem Programm „Vielfalt tut
gut“ oder dessen Vorgängerprogramm, gefördert wurden, und, Die Antwort auf Ihre Frage: Das Bundesministerium
wenn ja, welche sind das? für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert das
Projekt „Wir fahren nach Berlin – gegen Linksextremis-
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats- mus“ des Bundesverbandes der Jungen Union im Rah-
sekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung. – Bitte. men der Initiative „Demokratie stärken“, die präventiv
gegen islamischen Extremismus und Linksextremismus
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der vorgeht. Die Initiative „Demokratie stärken“ richtet sich
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- mit pädagogischen Mitteln an Jugendliche. Auf diese
gend: Weise wollen wir erreichen, dass verfestigte Überzeu-
Ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen: Träger, gungen und Zugehörigkeiten aufseiten der Jugendlichen
die nachweislich eine den Zielen des Grundgesetzes und jungen Erwachsenen gar nicht erst entstehen. Die
nicht förderliche Arbeit verrichten, sind von der Förde- Maßnahmen sollen das Verständnis für Demokratie,
rung grundsätzlich ausgeschlossen. Da sie ausgeschlos- Menschenwürde und Toleranz stärken und extremisti-
sen sind, sind der Bundesregierung folglich auch keine schen Tendenzen entgegenwirken.
Träger bekannt, die bei Vorliegen entsprechender Er-
kenntnisse gefördert worden sind. Wenn im Nachgang Das Projekt der Jungen Union ist dem Themen-
zu einer Förderentscheidung Erkenntnisse gewonnen cluster 1 „Bildungsprojekte mit jungen Menschen“ mit
wurden, dass verantwortliche Personen des geförderten besonderem Fokus auf die Bereiche Kultur, Religion,
Trägers Kontakte zu extremistischen Organisationen un- Identität, Demokratie und Menschenrechte durch inter-
terhalten haben, sind Konsequenzen gezogen worden. religiöses Lernen, Partizipationsprojekte, politische Bil-
Ein Beispiel ist der Träger Muslimische Jugend, der dung zu gesellschaftpolitischen Fragen, Projekte zu
auch hier schon Gegenstand der Debatte war. Demokratieverständnis und Menschenrechten des Pro-
gramms der Initiative „Demokratie stärken“ zuzuordnen
Die Bundesregierung wird ähnliche Vorgänge nach und ist eines von zurzeit 26 Projekten, die bereits begon-
Vorliegen entsprechender Erkenntnisse auch weiterhin nen haben oder in Kürze beginnen werden. Ziel des Pro-
8456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich sehe in seiner Ablehnung im konkreten Fall von
Stuttgart 21 einen deutlichen Widerspruch zu seiner For-
Ich rufe Sie auf: Bekennen Sie sich, meine Damen derung, die Bevölkerung stärker bei Entscheidungen
und Herren von CDU/CSU und FDP! Denn eines darf über Großprojekte einzubeziehen.
nicht das Ergebnis des gelungenen Demokratieexperi-
ments sein, nämlich dass Sie den sogenannten Stresstest (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sind Sie
für den geplanten Bahnknoten bis über den 27. März hi- jetzt dafür oder dagegen?)
nauszögern und nicht sagen, wie Sie die möglichen Wenn Geißler tatsächlich die Bürger stärker einbeziehen
Mehrkosten finanzieren wollen. Denn dann würden die will, hätte er dies doch gerade bei einem solchem Kon-
Menschen in Baden-Württemberg erneut getäuscht. Ich fliktthema wie Stuttgart 21 empfehlen müssen, wie es
habe berechtigte Gründe, das hier zu sagen. ihm Herr Dr. Schmid vorgezeichnet hat. Im Übrigen be-
Im ZDF etwa sagte Herr Mappus – ich zitiere –: legen zwei Rechtsgutachten genau diesen Weg.
(B) Ich kann im Moment noch nicht erkennen, wo Es freut mich, dass sich jetzt auch die baden-württem- (D)
500 Millionen Mehrkosten notwendig sein sollten. bergische Landtagsfraktion der Grünen für eine Volksab-
stimmung ausgesprochen hat, nachdem sie sich im
Es könne auch möglich sein, dass gar keine Mehrkosten Landtag noch der Stimme enthalten hat.
– ich betone: gar keine – entstehen. Frau Gönner sagte
heute Morgen, wenige Stunden nach dem Schlichter- Ein letztes Wort zum Schlichterspruch. Die SPD teilt
spruch: die Auffassung ausdrücklich, dass Stuttgart 21 nur dann
einen Sinn hat, wenn gleichzeitig die Neubaustrecke
Das Schweizer Unternehmen, das den Stresstest Ulm-Wendlingen verwirklicht wird.
durchführen soll, hat bereits gesagt, sie sehen nicht
das neunte und zehnte Gleis als notwendig an. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Seid
Ihr eigentlich noch dafür?)
Wenige Stunden – ich hätte fast gesagt: Minuten –
nach dem Schlichterspruch hieß es: Die Dauer des Doch während der Schlichterphase hat Bundesverkehrs-
Stresstests ist laut der Landesverkehrsministerin schwer minister Ramsauer seinen Bedarfsplan für die Infrastruk-
zu schätzen, es würde aber mehrere Monate dauern. tur in Deutschland veröffentlicht. Dabei zeigte sich, dass
Weiterhin wurde über eine Äußerung von Herrn Kefer seine Pläne weit größer sind als seine finanziellen Mittel.
von der Deutschen Bahn AG berichtet: Die Ergebnisse Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Bekennen Sie
des in der Schlichtung vereinbarten Stresstests zur Leis- sich! Setzen Sie Prioritäten und sagen Sie, was dafür
tungskapazität des geplanten Bahnknotens werden Kefer wegfällt, oder aber erhöhen Sie Ihren Etatansatz!
zufolge erst Mitte kommenden Jahres vorliegen.
Auch hier gilt: Alles auf den Tisch und alle an einen
Sie spielen auf Zeit. Unterlaufen Sie nicht den Tisch! Tun Sie dies nicht, steht fest: Am 27. März 2011
Schlichterspruch! Ergebnisse müssen vor der Landtags- werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger dies, da bin
wahl auf den Tisch, meine sehr geehrten Damen und ich mir sicher, nicht durchgehen lassen. Dieser Stress-
Herren. test, meine Damen und Herren von FDP und CDU, steht
Ihnen noch bevor.
(Beifall bei der SPD – Thomas Strobl [Heil-
bronn] [CDU/CSU]: Sehr gerne!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Bundesregierung in Person von Herrn Ramsauer (Beifall bei der SPD – Thomas Strobl [Heil-
lässt die Mehrkosten prüfen, doch es gibt kein Wort über bronn] [CDU/CSU]: Für was steht jetzt die
die Pflicht des Bundes, für diese Kosten einzustehen. Ich SPD? Seid ihr dafür oder dagegen?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8459
(A) Vizepräsidentin Petra Pau: gemacht wurden, werden geprüft und durchgerechnet. (C)
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Döring das Wenn Sie den Schlichtungsprozess genau verfolgt ha-
Wort. ben, wissen Sie, dass die Bahn mehrfach darauf hinge-
wiesen hat, dass Reserven in der Finanzierung von Stutt-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gart 21 eingerechnet sind. Man kann nach wie vor viele
der CDU/CSU) Dinge innerhalb des bestehenden Finanzierungsrahmens
realisieren. Es hat keinen Zweck, jetzt Finanzierungsver-
Patrick Döring (FDP): einbarungen für Dinge zu verlangen, die weder konkret
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! noch berechnet und gezeichnet sind oder für die viel-
Nachdem wir schon einige Debatten über dieses Thema leicht sogar das Planfeststellungsverfahren verändert
hier, wie ich finde, durchaus verantwortungsbewusst und werden müsste. All das muss man sich anschauen. Das
konstruktiv geführt haben, muss ich mich doch über die tun wir verantwortungsbewusst. Wir erwecken aber
vorangegangene Rede des Kollegen sehr wundern. nicht den Eindruck, wir hätten es schon immer gewusst
oder wüssten jetzt, wer das für uns macht. Ich weiß, was
(Zuruf von der CDU: Wir uns auch!) Sie uns dann vorwerfen würden. Wir gehen jedenfalls
Ich persönlich glaube, dass es nach diesem erfolgrei- verantwortungsbewusst mit dem Ergebnis dieses
chen Projekt, nach diesem langwierigen Faktenfindungs- Schlichtungsverfahrens um.
verfahren und nach den Ergebnissen, die jetzt auf dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Tisch sind, klug ist, nicht den Eindruck zu erwecken,
man hätte über Dinge sprechen sollen, die nicht Auftrag Ich will aber auch nach vorne schauen. Die Politik
der Schlichtungskommission waren. Es wäre für eine kann zwei Lehren aus diesem Verfahren ziehen. Wir alle
verantwortungsbewusste Fraktion in diesem Haus auch haben bemerkt, dass die Planungen beschleunigt werden
klug, sich keine Fantasiezahlen zu eigen zu machen. müssen; hier besteht Verbesserungsbedarf. Ich glaube,
wir alle in diesem Haus können zusammen mit den Bun-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) desländern für eine deutliche Beschleunigung von Plan-
Es wäre vor allen Dingen gut, von einem früheren Kolle- feststellungsverfahren sorgen und sie transparenter ma-
gen, der in dieser Angelegenheit eine große Leistung chen.
vollbracht hat, nicht zu verlangen, Dinge zu empfehlen, Wir sollten dafür werben, zu Beginn großer Infra-
die rechtlich nicht durchsetzbar sind, liebe Kolleginnen strukturprojekte die Bürger zu befragen und sie abstim-
und Kollegen. men zu lassen, ähnlich wie es in der Schweiz beim Gott-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hard-Basistunnel erfolgt ist. Es ist ebenfalls vorstellbar,
(B) die Anhörungen im Rahmen der Planfeststellungsverfah- (D)
Es ist einfach unvernünftig und wird der Arbeit und ren zu Verfahren mit echter Bürgerbeteiligung unter Lei-
der Mühe der Gegner von Stuttgart 21 wie auch des tung eines neutralen Moderators weiterzuentwickeln. Ich
Schlichters nicht gerecht, wenn wenige Minuten nach finde, man kann aus dem Mediationsverfahren zu Stutt-
dem Schlichterspruch zu weiteren Protesten aufgerufen gart 21 lernen. Man darf ganz sicher nicht den Fehler
und davon ausgegangen wird, dass das alles nichts ge- machen, ein solches Verfahren bei jeder Ortsumgehung
bracht hat. Das bringt uns doch in der Sache nicht weiter. anzuwenden. Aber vor großen infrastrukturpolitischen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Entscheidungen sollten wir die Möglichkeiten, die bei
der CDU/CSU) Stuttgart 21 deutlich geworden sind, nutzen und den
Dialog mit den Bürgern offensiv suchen.
Ich habe das Gefühl, dass die Beteiligten in diesem
Schlichtungsverfahren mit ihrer Rolle verantwortungs- Die Bundesrepublik Deutschland muss sich für ihre
voller umgehen als die linke Seite dieses Hauses heute. Infrastrukturplanungen nicht schämen und sucht die Be-
Ich finde es nicht angemessen, dass schon jetzt, bevor teiligung der betroffenen Menschen. Das ist ein gutes
überhaupt eine einzige Prüfung der Vorschläge stattfin- Ergebnis der jetzt zu Ende gegangenen Schlichtung, wie
den konnte und bevor entschieden wurde, ob ein oder ich finde. Wir sollten gemeinsam an der Realisierung
zwei Gutachter den Stresstest durchführen, verlangt dieses guten und leistungsfähigen Infrastrukturprojekts
wird, alles müsse nun schnellstmöglich und sofort pas- Stuttgart 21 arbeiten.
sieren. Ich hätte gerne die Rede des Kollegen Lange hier Vielen Dank.
gehört, wenn die Bahn schon wüsste, welcher Gutachter
das bis Februar berechnen soll. Dann hätten Sie uns vor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
geworfen, wir würden im Schweinsgalopp ein Gefällig-
keitsgutachten in Auftrag geben. Das ist doch scheinhei- Vizepräsidentin Petra Pau:
lig, was hier passiert. Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Leidig das Wort.
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen Sie dem Ticker entnehmen, wie die Firma
heißt!)
Sabine Leidig (DIE LINKE):
Das Gleiche gilt im Hinblick auf die sich in der Dis- Werte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
kussion befindlichen Mehrkosten. Die Vorschläge, die fürchte, dieser Schlichterspruch ist ein Lehrstück der
8460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Sabine Leidig
(A) ganz besonderen Art. Die Bürgerinnen und Bürger haben Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
nämlich gelernt, dass sie zwar mitreden und mitdiskutie- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
ren können, dass sie aber dann, wenn es um Mitbestim- lege Hermann das Wort.
mung und Entscheidungen geht, in die Zuschauerrolle
verbannt werden. Ist also der Souverän doch kein
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Citoyen, sondern ein TV-Konsument? Ich finde das Er-
gebnis, das bei diesem Schlichtungsprozess herausge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
kommen ist, ziemlich bedrückend. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion! Sie haben ausdrücklich angesprochen,
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ich wie wir auf den Schlichterspruch von Heiner Geißler re-
glaube, sie fängt gleich an, zu weinen!) agiert haben. Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Auch
wir schätzen die Leistung des Schlichters Heiner Geißler
Ich versichere Ihnen: Die Leute, die in Stuttgart mo- außerordentlich. Das habe ich ihm auch persönlich ge-
natelang auf die Straße gegangen sind, fühlen sich be- sagt. Daran kann kein Zweifel bestehen.
schissen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten über Monate auf
der Straße gestanden, Sie hätten mit all der Kraft Ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Argumente und Ihrer Überzeugung durchgesetzt, dass Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das
nach Jahren endlich ein Prozess der Transparenz ange- passt aber nicht ganz zusammen! Wieder nicht
stoßen wird und endlich die Fakten auf den Tisch kom- konsequent!)
men. Das war mühsam. Zehntausende haben über Mo- Allerdings war diese Schlichtung von Anfang an als
nate hinweg diesen Schritt durchgesetzt, erzwungen. Fachschlichtung und nicht als Ergebnisschlichtung ge-
Denn es wurde ihnen nicht angeboten, über dieses Pro- dacht, und es war völlig klar, dass sein Entscheid bzw.
jekt zu diskutieren, seine Empfehlung am Ende nicht bindend sein kann,
(Birgit Homburger [FDP]: Doch! Selbstver- sondern diese höchstens auf der psychologisch-politi-
ständlich!) schen Ebene für eine weitere Entwicklung sorgen kann;
denn er kann keine Entscheidung fällen, deren daraus
sondern die Diskussionen wurden durch die Demonstra- entstehenden Kosten andere, beispielsweise der Bund,
tionen und das bürgerschaftliche Engagement, das die bezahlen müssen. Insofern bleibt die Politik gefragt. Die
Leute auf der Straße gezeigt haben, durchgesetzt. Politik muss entscheiden.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring Wir nehmen den Schlichterspruch von Heiner Geißler
[FDP]: Zerrbild des Prozesses!) ernst. Wir sind enttäuscht, weil wir etwas anderes erwar-
(B) tet hätten. Auch darüber kann überhaupt kein Zweifel (D)
Was wir bei dieser Schlichtung, die sich über viele bestehen. Aber wenn Sie den Text in voller Länge und
Runden erstreckt hat, zur Kenntnis genommen haben, genau lesen, dann werden Sie sich wundern. Sie, die für
waren unheimlich viele neue Tatsachen, die auch dem Stuttgart 21 sind, können mit diesem Text nicht glück-
Parlament bis dahin unbekannt waren. Ich will Ihnen lich werden. Heiner Geißler hat nicht gesagt, wir müss-
noch etwas sagen: Der Schlichterspruch besagt im Kern ten Stuttgart 21 bauen, weil das das bessere Projekt sei,
auch, dass Stuttgart 21 ein schlechtes, ein unnützes und sondern deshalb, weil es so weit fortgeschritten sei.
ein viel zu teures Projekt ist und dass das Alternativmo-
dell viel sinnvoller wäre. Herr Geißler sagt in seinem Heiner Geißler hat weiterhin gesagt, er könne
Schlichterspruch, dass er trotzdem dafür ist, dass das Stuttgart 21 nur als Stuttgart-21-plus gutheißen. Zu die-
schlechte, unsinnige und milliardenteure Projekt umge- sem Plus gehört eine ganze Reihe von bedeutenden Be-
setzt wird, weil die Bahn es erzwingt, indem sie mit ei- dingungen. Die erste Bedingung ist: Nur wenn ein
ner Klage droht, und weil die Herrschenden nicht bereit Stresstest bestanden wird und der neue Bahnhof 30 Pro-
sind, den besseren Argumenten nachzugeben. zent mehr Leistung in den Spitzenzeiten erbringen kann
als der bisherige Kopfbahnhof, dann kann er dem Pro-
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die jekt zustimmen. Weitere Bedingungen sind: Nur wenn
Bahn sind „die Herrschenden“? Um Gottes ein neuntes und ein zehntes Gleis gebaut werden, kann
Willen!) er zustimmen.
Das ist ein demokratischer Skandal. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das
hat er ausdrücklich so nicht gesagt! Das ist
(Beifall bei der LINKEN) falsch zitiert!)
Wenn die Macht immer am längeren Hebel sitzt, dann Nur wenn am Flughafen zweigleisig kreuzungsfrei ein-
ist die Demokratie verloren. Ich sage Ihnen: Wir werden geschleift wird, nur wenn die Gäubahn nicht abgebaut,
das nicht zulassen, und die Leute werden es sich nicht sondern erhalten und neu eingeschleift wird, nur wenn
gefallen lassen. Wir werden weiter auf die Straße gehen Barrierefreiheit garantiert wird, nur wenn ein besseres
und mit allen friedlichen Mitteln für volkswirtschaftliche Sicherheitskonzept erarbeitet wird, nur wenn die unterir-
Vernunft und dafür eintreten, dass das Volk der Souverän dischen Sicherheitsstollen barrierefrei sind und man si-
ist und nicht Herr Geißler, und schon gar nicht die Bahn. cher herauskommt, kann er zustimmen. Wenn Sie alle
diese Bedingungen erfüllen wollen, dann müssen Sie
(Beifall bei der LINKEN) dieses Projekt zu einem erheblichen Teil neu planen, ein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8461
Winfried Hermann
(A) neues Planfeststellungsverfahren beginnen und ganz fehlte Planung und für ein besseres Konzept, nämlich für (C)
neue Rechnungen aufmachen. K 21.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das
Patrick Döring [FDP]: Das weißt du jetzt ist die Dagegen-Partei, jawohl! – Weitere Zu-
schon alles!) rufe von der CDU/CSU: Immer dagegen!)
Es ist keine Kleinigkeit, ein neuntes und zehntes Gleis – Im Moment schreien Sie dagegen.
zu bauen. Alle Experten sagen, dass diese Forderungen
in der Summe mindestens 500 Millionen Euro Mehrkos- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir schreien
ten ausmachen, wahrscheinlich sogar 1 Milliarde Euro. nicht! Wir reden nur laut!)
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Noch eine Anmerkung zum Demokratieverfahren.
sind doch Mondzahlen!) Herr Döring, ich gebe Ihnen in einem Punkt grundsätz-
lich recht: Es ist völlig aberwitzig, dass wir am Ende ei-
Wenn man das alles ernst nimmt, dann stellt sich natür- nes langen Prozesses solche grundsätzlichen Debatten
lich die Frage: Wer soll das bezahlen? Dann stellt sich führen. Das liegt daran, dass unser Planungsrecht voll-
auch die Frage: Wird die Bahn, die gesagt hat, dass sie kommen falsch gewickelt ist. Zukünftig müssen wir bei
bei 4,5 Milliarden Euro aussteigt, wirklich aussteigen, Großprojekten schon zu Beginn eine offene Debatte füh-
wenn das Projekt 500 Millionen Euro mehr kostet? Dann ren, alle Alternativen offenlegen, durchrechnen und da-
reißt sie nämlich die Latte. Wird der Bund bei seiner rüber in der Gesellschaft diskutieren. Dann muss es zur
Aussage bleiben, dass er nicht mehr als bisher zahlt? – Entscheidung kommen, und dann muss die Finanzierung
Wer soll dann diese Finanzierungslücke schließen? abgesichert werden. Wenn sich die Bevölkerung dann
für ein Projekt entscheidet, dann kann man sich an die
Kommen wir zur Neubaustrecke. Da sieht es noch
Feinplanung begeben und das Planfeststellungsverfahren
schlimmer aus. Bei der Neubaustrecke ist nicht annä-
im Detail angehen. Das wäre der richtige Weg, das wäre
hernd so gründlich geprüft worden, aber es ist klar ge-
die Konsequenz.
worden, dass ein hohes Kostenrisiko vorliegt. Das trägt
alleine der Bund. Der Bundesverkehrsminister weiß Wir brauchen ein anderes Planungsrecht, wir brau-
ebenso gut wie ich, dass er nicht die 2,8 Milliarden Euro chen eine andere Planungskultur, damit wir zukünftig zu
im Etat hat, die jetzt als Kosten für die Strecke anfallen, einem demokratischen Verfahren bei Groß-, aber auch
sondern nur 950 Millionen Euro, die sich auf die 2-Mil- bei kleineren Projekten kommen.
liarden-Euro-Kalkulation gründen. Die anderen 900 Mil-
(B) lionen Euro sind, genauso wie sämtliche Mehrkosten, Vielen Dank. (D)
noch nicht finanziert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zusammenfassend muss man sagen: Vieles ist noch
nicht finanziert. Das wirft gravierende neue Fragen auf Vizepräsidentin Petra Pau:
und wird neue Debatten auslösen. Wer jetzt sagt „Wir Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Stefan
machen weiter; schön, dass es dieses Schlichtungsge- Kaufmann das Wort.
spräch gegeben hat; wir haben gelernt; wir werden es zu-
künftig anders machen“, der hat eben nicht gelernt. Man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
muss jetzt ernsthaft eine neue Wirtschaftlichkeitsberech-
nung durchführen. Dann wird man mit ziemlicher Si- Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU):
cherheit feststellen müssen, dass dieses Projekt nicht Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
wirtschaftlich ist. Es ist und bleibt ein politisch durchge- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern war
drücktes Projekt, das aber verkehrlich und wirtschaftlich ein guter Tag für Deutschland und für meinen Wahlkreis
nicht sinnvoll ist. Stuttgart I, weil erstens ein wichtiges Infrastruktur- und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsprojekt nach einer in dieser Intensität noch nie
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) dagewesenen Vorabprüfung als sinnvoll und plausibel
bestätigt wurde und weil wir zweitens in Stuttgart ein
Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Kirchturm- völlig neues öffentliches Verfahren mit großem Gewinn
projekt in Baden-Württemberg: Es werden Milliarden für die Demokratie abgeschlossen haben. Vor diesem
eingefordert, ohne dass es für das Gesamtsystem einen Hintergrund begrüße ich den gestrigen Schlichterspruch
Nutzen hat. Wir Grüne sind als Bahnpartei schon immer ausdrücklich.
gegen dieses Projekt gewesen.
Um es vorwegzunehmen: Die Schlichtung weist am
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Im- Ende keine Gewinner und keine Verlierer aus. Alle Sei-
mer dagegen!) ten haben viel gelernt. Die Schlichtung hat maßgeblich
zu einer Versachlichung und Deeskalation beigetragen.
– Ja, dagegen, weil wir für eine bessere Bahn sind; dage- Vor allem aber wurde verloren gegangenes Vertrauen in
gen, weil wir für „oben bleiben“ sind; dagegen, weil wir Politik und Projektträger zurückgewonnen.
dieses Konzept für nicht durchführungsfähig halten, weil
es nichts taugt und weil es schlechter ist als der Kopf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bahnhof. Das ist der Punkt. Wir sind gegen eine ver- neten der FDP)
8462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
Ute Kumpf
(A) Volksentscheid nach dem ganzen Verfahren durchführt, Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
aber einiges ist natürlich der CDU-Regierung im Lande Der Kollege Simmling hat für die FDP-Fraktion das
geschuldet, die – was die Planungszeit, die Transparenz Wort.
und die richtigen Informationen anbelangt – ein bisschen
geschlampt hat; das sage ich ganz vornehm. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Uwe Beckmeyer
(A) – Nein, nicht ein bisschen dagegen, Herr Strobl! Wofür Diese Frage wird uns zukünftig bei der Beratung hier im (C)
sind Sie denn? Sind Sie für Projekte, die am Ende un- Deutschen Bundestag beschäftigen müssen. Wenn wir
wirtschaftlich sind, oder nicht? Das ist doch die ent- nämlich den Gedanken der Transparenz unterstützen
scheidende Frage, vor der Sie sich momentan drücken. – Sie tun das, wir auch – und ihn hier hegen und pflegen
und weiterentwickeln wollen, dann muss das in erster Li-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nie für das deutsche Parlament und seine Ausschüsse gel-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ten.
Sie sind im Grunde eine parteipolitische Kampfma-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
schine, die sagt: Egal was es kostet, wir machen das. –
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Diese Position hatten wir schon einmal. Wir werden das
im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ich komme zum Schluss. Wir werden dafür sorgen,
des Deutschen Bundestages verfolgen dass Sie hier zukünftig nicht mehr mit der Streusand-
büchse hantieren. Wir wollen in dieser Frage Klarheit,
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bes-
Effizienz und Sicherheit erreichen. Dann können wir das
ser eine klare Position als Zickzack!)
Projekt in neuer Form bewerten.
und von der Bundesregierung und auch von der Deut-
Herzlichen Dank.
schen Bahn AG endlich Klarheit diesbezüglich bekom-
men. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe an dieser Stelle schon häufig darauf hinge-
wiesen: Die Deutsche Bahn AG hat in Bezug sowohl auf
den Aufsichtsrat als auch auf den Vorstand einen Corpo- Vizepräsidentin Petra Pau:
rate-Governance-Beschluss gefasst, und ich erwarte, Das Wort hat der Kollege Lange für die Unionsfrak-
dass der Vorstand sich daran hält. Die Deutsche tion.
Bahn AG ist ein betriebswirtschaftlich agierendes Unter- (Beifall bei der CDU/CSU)
nehmen, das genau schauen muss, wie es mit seinen In-
vestitionen umzugehen hat.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
(Patrick Döring [FDP]: Das sieht schon das Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
Aktiengesetz vor!) gen! Zukunft braucht Wege. Stuttgart 21 ist ein Gleis in
Wir werden uns anhören, was Herr Dr. Kefer dazu aus- die Zukunft. Heiner Geißler hat mit seinem Schlichter-
führen wird. spruch die Weichen auf Zukunft gestellt. Es geht um
(B) eine Entscheidung für die kommenden Generationen. (D)
Als Letztes möchte ich einen Appell an Sie richten: Bahnprojekte dieser Größenordnung waren schon immer
Im Laufe des Schlichtungsverfahrens ist eine Menge an Generationenentscheidungen. Stuttgart-21-plus ist ein
Informationen öffentlich geworden, die den Ausschüs- Bahnprojekt mega-plus.
sen und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages
bisher vorenthalten worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben es heute schon ein paarmal gehört: Es gibt
NEN]: So ist es!) bei dem Schlichterspruch keine Gewinner und Verlierer.
Ich glaube, Heiner Geißler hat hier einen salomonischen
So geht es nicht weiter. Spruch gesprochen. Ihm gebührt nicht nur dafür der
Dank der Beteiligten, sondern ihm gebührt auch der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dank unseres Hauses und der jungen Generation dafür,
DIE GRÜNEN)
dass er uns nicht aus dem Auge verloren hat.
Ich kann an dieser Stelle nur alle Beteiligten auffordern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn
– Ministerium, Bundesregierung und Deutsche Bahn AG –,
Wunderlich [DIE LINKE]: Der Dank der Jun-
uns Abgeordneten in der Zukunft alle Informationen auf
gen Union!)
den Tisch zu legen, damit wir sie offen und ehrlich be-
werten können. – Danke für diese Einschätzung. So jung bin ich leider
nicht mehr. – Auf dem Weg der neuen Sachlichkeit sind
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Was hat der
viele Aufgaben und Verpflichtungen mitgegeben wor-
Tiefensee gemacht? – Thomas Strobl [Heil-
den. Ich glaube, diese Anstrengungen haben sich ge-
bronn] [CDU/CSU]: Wie lange war denn das
lohnt.
Ministerium in SPD-Hand in den letzten Jah-
ren?) Sie haben vorhin bezweifelt, dass wir das, was aufge-
geben wurde, ernst nehmen. Sie können sicher sein, dass
– Herr Tiefensee hat keine Papiere unterdrückt. Aber uns
wir das ernst nehmen. Kollege Hermann, erlauben Sie
wurden die Papiere, die jetzt offengelegt worden sind,
mir, dass ich Ihren Parteikollegen Boris Palmer zitiere,
bisher vorenthalten mit dem Argument, die Deutsche
der heute auf n-tv gesagt hat, dass er im Rahmen der
Bahn AG sei ein eigenständiges wirtschaftliches Unter-
Schlichtung Vertrauen zu Herrn Kefer von der DB ge-
nehmen, das dem Deutschen Bundestag gegenüber keine
funden hat. Angesichts dieses Vertrauens können Sie
Berichtspflicht habe. Das ist falsch.
doch jetzt nicht sagen, dass hier etwas nicht ernst ge-
(Patrick Döring [FDP]: Es gibt Aktienrecht!) nommen wird. Vielmehr sollten Sie, nachdem Sie Heiner
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8467
Ulrich Lange
(A) Geißler ins Spiel gebracht haben, das Votum respektie- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
ren. NEN]: Auch Ihrer! Das war eine Große Koali-
tion!)
(Florian Pronold [SPD]: Wer zahlt denn die
Mehrkosten?) der viele Jahre lang das Verkehrsministerium innehatte.
Ich möchte nochmals Boris Palmer zitieren, der Ihnen in Er führte die Unterlagen und hat den Vertrag unterschrie-
diesem Interview ausdrücklich widerspricht und sagt: ben.
„Heiner Geißler hat Hervorragendes geleistet.“ Ich ap- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das erste Kabinett
pelliere an Sie: Akzeptieren auch Sie diese Leistung. Merkel war das! – Christian Lange [Back-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nang] [SPD]: Das war die Frau Bundeskanzle-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wer zahlt rin! Da müssen Sie einmal ins Bundeskanzler-
es denn jetzt? Sagen Sie etwas dazu!) amt gehen!)
Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Kolle- Stellen Sie sich hier also nicht so hin und sagen Sie
gin Kumpf, mir ist klar, dass Ihre Gemütslage nicht nach nicht, Sie hätten von all dem nichts gewusst. Sonst muss
Stille Nacht ist. So hilflos, wie Sie hier agieren, gleicht ich fragen, wie die Kommunikation in Ihrem eigenen
Ihre Gemütslage auf dem Abstellgleis vielleicht eher ei- Haus lief.
nem Es geht eine Träne auf Reisen.
Was die Menschen von uns erwarten, ist, dass wir als
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Vertreter einer repräsentativen Demokratie den Mut ha-
ist Claudia Roth!) ben, zu entscheiden und die Entscheidungen durchzuset-
zen, und damit für Verlässlichkeit in unserem Rechts-
Mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen. staat sorgen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Wie Sie hier ar- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da-
gumentieren, Herr Lange, ist wenig geist- rauf kommt es an!)
reich!) Mit Volksbefragungen
Ich muss einen Satz zum Kollegen Hermann sagen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hat die
Sie haben den baden-württembergischen Kirchturm an- CSU ganz schlechte Erfahrungen gemacht!
gesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Wir in Bayern, Das kann ich mir vorstellen!)
wir in Augsburg und München, freuen uns auf
(B) Stuttgart 21, auf die Magistrale. Der Süden freut sich. allein lösen Sie so ein Problem nicht. Ich erinnere Sie (D)
Heiner Geißler, herzlichen Dank für diesen Schlichter- nur an Dresden.
spruch.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich erin-
(Lachen des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD] – nere Sie nur an das Rauchverbot in Bayern! Da
Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat die CSU ganz schlechte Erfahrungen ge-
NEN]: Das geht aber zulasten Bayerns! Dann macht! Da haben die Bürger es der CSU ge-
wird in Bayern nichts mehr gebaut!) zeigt!)
– Sie werden es sehen. Da ist die Volksbefragung nicht so gelaufen, wie Sie sich
Liebe Kollegin von der Linken, Sie bestreiten die de- das gedacht haben. Volksbefragungen sind kein Allheil-
mokratische Legitimation und sagen: Die armen Leute mittel.
stehen auf der Straße und demonstrieren, aber am Ende
wird gegen das Volk entschieden. Ich kann Ihnen nur sagen: Kommen Sie zum Schlich-
terspruch zusammen. Wir nehmen ihn ernst. Kommen
(Ute Kumpf [SPD]: So arm sind die gar nicht!) Sie auf das Gleis Zukunft. Steigen Sie ein in den Zug
„Stuttgart 21“. Fahren wir gemeinsam auf diesem Gleis
Schauen Sie sich die Umfragen an: Die Mehrheit in Ba- in die Zukunft.
den-Württemberg ist für Stuttgart 21, die Mehrheit in
Stuttgart ist für Stuttgart 21. Herzlichen Dank.
(Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Glauben Sie doch nicht, dass nur Ihre Meinung die Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gleis 9
Mehrheitsmeinung ist. oder Gleis 10?)
(A) Steffen Bilger (CDU/CSU): (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Dann machen (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie die Befragung!)
Ich muss mich in dieser Debatte schon sehr wundern. Eine deutliche Mehrheit gibt es in der Region Stuttgart,
(Florian Pronold [SPD]: Wir auch!) wo sich die Bürger besonders intensiv mit den Fakten
beschäftigen.
Worum geht es Ihnen eigentlich? Geht es Ihnen darum,
die Wirtschaftlichkeit des Projektes Stuttgart 21 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schlechtzurechnen und damit das Projekt zu gefährden? Im Übrigen kann ich nur dazu raten, sich einmal genau
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ha- mit diesen Umfrageergebnissen auseinanderzusetzen.
ben doch die Aktuelle Stunde beantragt!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir beschäftigen uns
Oder geht es um die Verbesserungen, die in den Schlich- mit dem Projekt!)
tungsverhandlungen erzielt wurden? Das, was Sie hier Als Baden-Württemberger will ich dies verdeutlichen,
betreiben, ist doch keine verantwortungsvolle Politik. weil auch hier im Bundestag immer wieder – auch heute –
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ein anderer Eindruck vermittelt wurde. Bei der Neubau-
neten der FDP – Thomas Strobl [Heilbronn] strecke Wendlingen–Ulm ist noch viel eindeutiger, dass
[CDU/CSU]: Sehr richtig! – Ute Kumpf die Mehrheit dafür ist: 41 zu 17 Prozent. Diese Zahlen
[SPD]: Was machen Sie, wenn die Proteste sollten sich alle, die von Baustopp und von einer Volks-
weitergehen?) abstimmung in einem halben Jahr reden, ganz genau vor
Augen halten.
Dass sich die Atmosphäre in den letzten Wochen ver-
Liebe Kollegen von der SPD-Fraktion, auch ich kann
ändert hat – ich darf daran erinnern, dass wir in der letzten
Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass Ihr durchsichtiges
Aktuellen Stunde zu Stuttgart 21 auch über den Polizei-
Manöver, mit der Forderung nach einer Volksbefragung
einsatz diskutiert haben –, ist in der Tat ein Verdienst von
Terrain zu gewinnen, nicht belohnt wurde.
Heiner Geißler und der Schlichtungsgespräche, die wir
sicherlich alle mit Spannung verfolgt haben. Mein Dank (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wer zahlt
gilt ausdrücklich allen, die sich an diesen Gesprächen be- denn jetzt? Verraten Sie uns das einmal! Zahlt
teiligt haben. Bis auf die sogenannten Parkschützer, die der Bund? Mal ein ehrliches Wort!)
bei der Stuttgarter Bevölkerung nach wochenlangem
Dauercampen mittlerweile eher als Parkverschmutzer be- Nur 5 Prozent der Befragten sehen die SPD als die Partei
kannt sind, haben auch alle relevanten Vertreter der Geg- an, die bei Stuttgart 21 ihre eigene Meinung am besten
(B) wiedergibt. (D)
ner teilgenommen.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie unterschätzen (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
das komplett! – Winfried Hermann [BÜND- NEN]: Jetzt sagen Sie einmal etwas zur Sa-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Bilger! – Sabine che!)
Leidig [DIE LINKE]: Sie haben keine Ah- Lieber Christian Lange, es gibt eine Finanzierungs-
nung! Das ist das Schlimme, dass Sie über vereinbarung für Stuttgart 21. Diese Finanzierungsver-
Dinge reden, von denen Sie keine Ahnung ha- einbarung beinhaltet einen Puffer. Daher sollten wir hier
ben!) jetzt nicht spekulieren, welche Summen zusätzlich auf-
– Das können Sie aus Frankfurt alles gut beurteilen, Frau gebracht werden müssen. Darüber werden wir im Ver-
Leidig. kehrsausschuss noch sprechen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte Sie von den Sozialdemokraten auffordern:
Stehen Sie zu Ihrer ursprünglichen Position für
Der Erfolg der Schlichtungsgespräche zeigt sich für Stuttgart 21.
uns Befürworter auch daran, dass mittlerweile nicht
mehr diejenigen die öffentliche Meinung bestimmen, die (Ute Kumpf [SPD]: Haben wir doch gesagt!)
am lautesten schreien. Jeder interessierte Bürger konnte Viele Sozialdemokraten haben jahrelang überzeugend
sich sein eigenes Bild machen. für Stuttgart 21 gekämpft. Verwerfen Sie dieses Hirnge-
spinst einer Volksabstimmung.
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aber Sie haben
sich kein Bild gemacht! Das ist das Dumme an (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Klare
der Sache!) Ansagen! Das wollen die Bürger! Gleis 9 und
10, wer zahlt? Keine Silbe!)
– Ich habe mir sehr wohl ein Bild gemacht.
Da schon so viel Geld investiert wurde, hat es jetzt,
Auch wenn viele der Gegner, Sie eingeschlossen, Jahre zu spät, keinen Sinn, darüber abstimmen zu lassen,
Frau Leidig, immer wieder behauptet haben, sie hätten ob Stuttgart 21 gebaut werden soll oder nicht. Auch das
die Mehrheit des Volkes hinter sich, zeigt sich doch zum ist ein klares Ergebnis der Schlichtung.
wiederholten Male – auch jetzt, in den jüngsten Umfra-
gen von Spiegel und ZDF –, dass eine knappe Mehrheit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
der Baden-Württemberger für Stuttgart 21 ist. neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8469
Steffen Bilger
(A) Noch ein Hinweis von mir als Baden-Württemberger: (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: (C)
Vor allem die Grünen haben immer wieder behauptet, Hört! Hört!)
wegen Stuttgart 21 fehle das Geld für andere Projekte im Das ist ein klassisches Eigentor; so hat es auch die Lan-
Land. despresse kommentiert.
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
NEN]: So ist es! Rheintalbahn kann nicht ge- Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das
baut werden!) ist jetzt auch gegen Baden-Württemberg!)
– Sie nennen das Stichwort. – Sie haben versucht, die Einmal mehr sind die Grünen dagegen, diesmal sogar
Bürger gegeneinander auszuspielen, im Fall der Rhein- gegen mehr Lärmschutz. Wer so agiert, sollte aufhören,
talbahn Badener gegen Württemberger. Hier im Plenum von der Regierungsbank zu träumen.
und im Verkehrsausschuss haben wir vielfach über die Nachdem der Schlichter gesprochen hat, sollten wir
Rheintalbahn gesprochen, dieses andere große und von das Gesagte ernst nehmen. Auch ich bin den Grünen
der Bevölkerung kritisch begleitete Schieneninfrastruk- durchaus dankbar, dass sie Schlichtung und Schlichter
turprojekt in Baden-Württemberg. Eigentlich sind wir ins Gespräch gebracht haben; das war eine gute Idee.
uns alle einig, dass an der Rheintalbahn mehr Lärm- Aber nach der notwendigen Versachlichung der Debatte
schutz benötigt wird. Dazu gehört aber auch das Be- ist es jetzt nötig, den Schlichterspruch anzuerkennen und
kenntnis, dass mehr Lärmschutz mehr Geld kosten wird. umzusetzen. Lassen Sie uns diesen Prozess auch im
Deutschen Bundestag konstruktiv begleiten.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das gilt
auch für Gleis 9 und 10! Keine Silbe dazu!) Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Das Land Baden-Württemberg hat sich bereit erklärt,
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wieder
hierbei entstehende Mehrkosten mitzufinanzieren. Alle
nicht gesagt, wie es bezahlt wird!)
Fraktionen des baden-württembergischen Landtags un-
terstützen diese Position, nur eine ist dagegen: die Frak-
tion der Grünen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
Dagegen-Partei!) ordnung.
(B) Da fragt man sich, was mit den Grünen los ist. Vor Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (D)
lauter Begeisterung für den Kampf gegen Stuttgart 21 destages auf morgen, Donnerstag, den 2. Dezember
haben die Grünen kundgetan, es sei nicht zulässig, dass 2010, 9 Uhr, ein.
das Land Baden-Württemberg Stuttgart 21 mitfinanziert.
Die Sitzung ist geschlossen.
Dabei haben sie völlig übersehen, dass das aber auch für
die Rheintalbahn gelten müsste. (Schluss: 18.32 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8471
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(A) geschädigten Anleger ergeben. Ist nämlich eine Bera- Die Bundesregierung versteht die zitierte Äußerung (C)
tung zu dokumentieren und wird diese Dokumentations- als Appell an die Medien, den Sicherheitserfordernissen,
pflicht verletzt, so greifen zugunsten des Gläubigers die bei einer konkreten Gefährdungslage bestehen, in
(hier also des Anlegers) nach der Rechtsprechung Be- sachlich gebotener Weise Rechnung zu tragen.
weiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr ein.
Aus einer fehlenden oder unvollständigen Dokumenta- In Wahrnehmung der Presse- und Informationsfreiheit
tion kann dann auf eine – teilweise – unterbliebene Bera- müssen die Medien selbst entscheiden, welche Bericht-
tung geschlossen werden. Der Schuldner (hier also der erstattung sie insoweit verantworten können.
Anlageberater) muss dann nachweisen, doch ordnungs-
gemäß beraten zu haben. Dies gilt auch, wenn die Doku-
mentation in sich unschlüssig ist. Bei einem verspätet er- Anlage 5
stellten Beratungsprotokoll wird es auf die Umstände
Antwort
des Einzelfalles ankommen, ob dies einer fehlenden Do-
kumentation gleichgestellt werden kann. Dies wird bei des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage
einer erst bei Schadenseintritt nachgereichten Dokumen- des Abgeordneten Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
tation eher zu bejahen sein als bei einer nur kurzfristig DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 9):
verzögerten Übersendung des Protokolls. Plant die Bundesregierung, bei einer Reform des Fahrgast-
Die geschilderten Beweislastgrundsätze ermöglichen rechtegesetzes eine Regelung aufzunehmen, mit der die Ser-
vicezeiten an Bahnhöfen an die Bedürfnisse von Reisenden
der Rechtsprechung damit bei Verletzung der Dokumen- mit Mobilitätseinschränkungen angepasst werden, und, wenn
tationspflicht den Besonderheiten des konkreten Einzel- nein, warum nicht?
falles Rechnung tragende, sachgerechte Entscheidungen.
Die Fahrgastrechte sind im Jahr 2009 umfassend auf
europäischer und nationaler Ebene geändert und erwei-
Anlage 3 tert worden. Die Bundesregierung hält es für geboten,
zunächst die Erfahrungen mit den neuen Regeln abzu-
Antwort warten. Erst dann soll entschieden werden, ob und in
des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage welchem Umfang das Fahrgastrechtegesetz reformiert
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) werden soll. Vor diesem Hintergrund überprüft das Bun-
(Drucksache 17/3947, Frage 6): desministerium der Justiz derzeit die Rechte von Bahn-
Wie viele Verfahren gab es in den vergangenen 24 Mona- kunden.
ten nach Kenntnis der Bundesregierung an Landwirtschafts-
gerichten mit Bezug auf § 19 des Grundstücksverkehrsgeset-
(B) zes, und in wie vielen Fällen wurde für ein Vorkaufsrecht der Anlage 6 (D)
landwirtschaftlich ortsansässigen Betriebe entschieden?
Die Bundesregierung verfügt über statistische Anga- Antwort
ben zu der Anzahl der gerichtlichen Verfahren in Land- des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
wirtschaftssachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit pro des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
Jahr. Diese Zahlen liegen bis einschließlich 2009 vor. Im DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 10):
Jahr 2009 gab es ausweislich der vom Bundesamt für Jus-
Inwiefern hält die Bundesregierung den von ihr angestreb-
tiz herausgegebenen „Zusammenstellung der Geschäfts- ten Abschluss eines Steuerabkommens mit der Schweiz unter
übersichten der Amtsgerichte für das Jahr 2009“ bundes- Einbezug einer anonymen Abgeltungsteuer vor dem Hinter-
weit 11 622 derartige Landwirtschaftssachen. Nähere grund der Aussagen des EU-Steuerkommissars Algirdas
Angaben zum Gegenstand und Ergebnis dieser Verfahren Semeta (Neue Zürcher Zeitung, 16. Oktober 2010) und des
liegen der Bundesregierung nicht vor. italienischen Finanzministers Giulio Tremonti (Tages-Anzei-
ger, 17. November 2010) für vereinbar mit der einstimmig im
Ecofin-Rat vereinbarten EU-Position, mit Drittstaaten den auto-
matischen Informationsaustausch in Steuerfragen anzustreben?
Anlage 4
Die Bundesregierung teilt das Ziel der Europäischen
Antwort Union, den Informationsaustausch mit Drittstaaten im
des Parl. Staatssekretärs Dr. Max Stadler auf die Frage Bereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen so weit wie
des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ möglich zu verbessern. Dies gilt auch für die beschlosse-
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 7): nen weitergehenden Steuerverhandlungen mit der Schweiz.
Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund Bekanntermaßen gehen Deutschland und die Schweiz da-
der These „Wenn die Presse darüber berichtet, welche Orte bei von unterschiedlichen Standpunkten aus, die nur im
besonders gefährdet sind, dann kann das unter Umständen ein Kompromissweg angenähert und zur Deckung gebracht
Anreiz für Terroristen sein. Die Presse muss dazu verpflichtet werden können. Das Ergebnis dieses Prozesses muss ab-
werden, sich zurückzuhalten, wenn die Gefährdungslage wie
jetzt hoch ist.“ – vergleiche die Aussage des Vorsitzenden des gewartet werden.
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Siegfried
Kauder (Villingen-Schwenningen), in der Saarbrücker Zei- Ziel der Verhandlungen ist insbesondere, Lösungs-
tung vom 24. November 2010 – Forderungen, wegen der Ter- möglichkeiten für das Problem der bisher unversteuerten
rorgefahr die Pressefreiheit einzuschränken, und sieht die Kapitalanlagen deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz
Bundesregierung Anlass, bei einer hohen Gefährdungslage zu finden. Dies betrifft einerseits das in der Vergangenheit
die Presse zu einer Einschränkung ihrer Berichterstattung zu
verpflichten bzw. auf eine diesbezügliche Selbstverpflichtung nicht besteuerte Kapital, andererseits die daraus erzielten
der Medien hinzuwirken? laufenden Erträge. Gegenstand der Verhandlungen wird
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8473
(A) unter anderem die Kombination von Elementen einer Ab- In diesem Grundsatzverfahren hat der BFH nach Aus- (C)
geltungsbesteuerung mit einem erweiterten Informa- kunft der Geschäftsstelle entschieden, die Klage des Be-
tionsaustausch sein. Dieser soll nach deutscher Auffas- treibers des Flugplatzes Lahr abzuweisen. Die Übersen-
sung über den OECD-Standard hinausgehen, der ja im dung der Urteilsgründe steht allerdings noch aus. Da
kürzlich unterzeichneten Revisionsprotokoll zum Dop- nach Auffassung des BMF die Entscheidung unmittelbar
pelbesteuerungsabkommen bereits vereinbart worden ist. die Organisationshoheit der Zollverwaltung betrifft, wird
ihr auch für andere Flugplätze grundsätzliche Bedeutung
Mit dieser Zielsetzung befindet sich die Bundesregie- beigemessen. Ich darf Ihnen versichern, dass keine Ent-
rung im Einklang mit der Politik der Europäischen scheidung über den Flugplatz Augsburg vor einer umfas-
Union, insbesondere den Beschlüssen des ECOFIN-Ra- senden Auswertung der Urteilsgründe getroffen wird.
tes, die keine Festlegung allein auf die Vereinbarung des
automatischen Informationsaustausches mit Drittstaaten Der Flughafen Memmingerberg ist mit Wirkung von
vorsehen. EU-Kommissar Šemeta hat im Hinblick auf heute an zum Zollflugplatz bestimmt worden. Zuvor er-
die geplanten deutsch-schweizerischen Verhandlungen folgte eine Erhebung der zollrelevanten Flugbewegun-
ausdrücklich betont, dass eine Ausdehnung der Amts- gen. Das dort erreichte Maß hat in den Jahren 2007 bis
hilfe, die über den OECD-Standard hinausgeht, stark mit 2009 erheblich zugenommen. Die Einrichtung einer ei-
genständigen Zolldienststelle sowie der damit verbunde-
dem von der EU verfolgten Ziel übereinstimmt, einen
nen Infrastruktur ist erforderlich geworden, um dem ge-
möglichst breiten Informationsaustausch zu fördern,
genwärtigen hohen Verkehrsaufkommen an diesem
NZZ Online vom 31. Oktober 2010.
Standort hinreichend Rechnung tragen zu können.
Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass das zwischen Ich betone daher ganz ausdrücklich, dass die Bestim-
der EU und der Schweiz geschlossene Zinsbesteuerungs- mung des Flughafens Memmingerberg zum Zollflug-
abkommen innerhalb seines sehr begrenzten Anwen- platz in keinerlei Abhängigkeit zum Flugplatz Augsburg
dungsbereiches bisher keinerlei Informationsaustausch, erfolgt ist.
sondern nur einen anonymen Steuereinbehalt vorsieht.
Demgegenüber enthält die für die EU-Mitgliedstaaten Für die Entscheidung über die Bestimmung eines
verbindliche EU-Zinsrichtlinie das Prinzip des automati- Flugplatzes zum Zollflugplatz sind allein die tatsächli-
schen Informationsaustauschs mit der für eine Über- chen Verhältnisse vor Ort, das verwaltungsseitige Inte-
gangszeit möglichen – und nur noch von Österreich und resse an einer bestmöglichen und effizienten Aufgaben-
Luxemburg in Anspruch genommenen – Ausnahme ei- erledigung sowie spiegelbildlich die Bedürfnisse der
nes Steuereinbehalts. Hieran wird der Spielraum deut- ansässigen Wirtschaft maßgeblich.
lich, der für Verhandlungen mit Drittstaaten besteht.
(B) Anlage 8 (D)
Anlage 7 Antwort
Antwort des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
des Abgeordneten Klaus Ernst (DIE LINKE) (Druck-
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die sache 17/3947, Frage 13):
Frage des Abgeordneten Heinz Paula (SPD) (Druck-
Welche deutschen Banken haben Kredite an das König-
sache 17/3947, Frage 11): reich Spanien, Irland und die Portugiesische Republik verge-
Wird der Zollstatus des Augsburger Flughafens erhalten ben, und wie hat sich der Bestand an Verbindlichkeiten dieser
bleiben, und gibt es einen Zusammenhang zwischen einer Banken in den genannten Ländern seit 2005 entwickelt?
Aufwertung des Allgäu Airports Memmingerberg zum Zoll-
flughafen und einer etwaigen Aberkennung des Zollstatus für Nach einer Veröffentlichung der Bundesanstalt für Fi-
den Augsburger Flughafen? nanzdienstleistungsaufsicht sind zum 15. November 2010
1 929 Kreditinstitute in Deutschland zum Geschäftsbe-
Die Zollverwaltung ist verpflichtet, ihre Tätigkeit trieb zugelassen. Es ist praktisch unmöglich, im Rahmen
wirtschaftlich auszuüben und ihre Ressourcen ökono- einer Fragestunde sämtliche Institute, die Kredite an das
misch einzusetzen. Die Bestimmung eines Flughafens Königreich Spanien, Irland und die Portugiesische Re-
zum Zollflugplatz bedeutet, dass dort jederzeit Dritt- publik ausgereicht haben, einzeln zu benennen.
landswaren ankommen können und bedingt die Einrich-
tung eines Grenzzollamts mit allem personellen, organi- Eine aggregierte Darstellung der Entwicklung der
satorischen und infrastrukturellen Aufwand – zum Kreditvergabe an die genannten Länder ist möglich und
Beispiel Schichtbetrieb. könnte schriftlich nachgereicht werden. (Angesichts der
für die Beantwortung verfügbaren Zeit war eine sofor-
Der Zollstatus des Flugplatzes Augsburg wurde von tige Vorlage nicht möglich.)
den Bundesfinanzdirektionen Nord und Südost im März
2010 geprüft. Danach hat das zollrelevante Flugaufkom-
men auf dem Flugplatz Augsburg in den Jahren 2007 bis Anlage 9
2009 kontinuierlich abgenommen.
Antwort
Unter welchen Voraussetzungen die Bestimmung eines
Flughafens zum Zollflugplatz versagt werden darf, ist des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage
Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem Bundesfinanz- der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD)
hof gewesen. (Drucksache 17/3947, Frage 14):
8474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Wie können selbstständig arbeitende Assistenten von ren durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, und in welchem (C)
Menschen mit Behinderung, die aus den Leistungen im Rah- Umfang wird die Bundesregierung bei zu erwartendem Mehr-
men eines Persönlichen Budgets ihres Klienten finanziert aufwand zusätzliches Personal einstellen?
werden und diese privat anbieten, diese Leistungen gleichbe-
rechtigt mit gemeinnützigen Diensten der Wohlfahrtspflege Da keine Prüfungen zur Einhaltung von Mindestar-
ohne Umsatzsteuerbefreiung anbieten, und muss im Sinne des beitsbedingungenverordnungen nach dem Arbeitnehmer-
Wunsch- und Wahlrechts die Mehrwertsteuer von der bewilli- Entsendegesetz für die Leiharbeitsbranche vorgesehen
genden Behörde eingerechnet werden, wenn der Mensch mit sind, erübrigt sich insoweit die Schätzung eines Prüfauf-
Behinderung eine Assistenz durch einen privaten selbstständi-
gen Anbieter verlangt? wandes der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, ebenso wie
die Frage nach zusätzlichem Personal.
Privat gewerbliche Unternehmer, die Betreuungs- oder
Pflegeleistungen an Menschen mit Behinderung erbrin-
gen, können ihre Leistungen, gleichberechtigt mit ge- Anlage 12
meinnützigen Diensten der Wohlfahrtspflege, umsatz-
steuerfrei anbieten, auch wenn ein Teil ihrer Leistungen Antwort
aus Geldern des Persönlichen Budgets finanziert wird. des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage
Voraussetzung ist, dass die entsprechende Steuerbefrei- des Abgeordneten Hans-Joachim Hacker (SPD)
ungsvorschrift, § 4 Nr. 16 Umsatzsteuergesetz, prüft. (Drucksache 17/3947, Frage 19):
Sofern selbstständig arbeitende Assistenten von Men- Welche Chancen sieht die Bundesregierung für die Ent-
schen mit Behinderung vollständig aus Geldern des Per- wicklung eines sanften Tourismus in der Region Kyritz-Rup-
piner Heide nach der Entscheidung des Haushaltsausschusses
sönlichen Budgets finanziert werden, sieht das Umsatz- des Deutschen Bundestages, die nahezu komplette Fläche des
steuergesetz keine Steuerbefreiung dieser Leistungen Truppenübungsplatzes in das Nationale Naturerbe zu übertra-
vor. gen?
Soweit ein Persönliches Budget erbracht wird, gelten Gemäß der föderalen Struktur in der Bundesrepublik
die gleichen umsatzsteuerlichen Regelungen wie bei an- Deutschland liegen die Entwicklung und die Gestaltung
deren Sozialleistungen. Begünstigend kann sich gerade des Tourismus in der Zuständigkeit der Bundesländer.
bei Persönlichen Budgets auch die sogenannte Klein- Für den Truppenübungsplatz Wittstock, der zur Gänze
unternehmerregelung des § 19 UStG auswirken: Wird im brandenburgischen Teil der Kyritz-Ruppiner Heide
die Leistung von einem Unternehmer, dessen Umsatz, liegt, gibt es nach Angaben des Landes Brandenburg ak-
zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, im vor- tuell noch kein konkretes touristisches Nutzungsvorha-
angegangenen Kalenderjahr 17 500 Euro nicht überstie- ben. Bei einer zukünftigen touristischen Nutzung muss
gen hat und im laufenden Kalenderjahr voraussichtlich neben der Berücksichtigung der Belange des Nationalen
(B) 50 000 Euro nicht übersteigen wird (Kleinunternehmer) Naturerbes vor allem die öffentliche Sicherheit im Hin- (D)
erbracht, wird die Umsatzsteuer nicht erhoben. blick auf die hohe Belastung der Liegenschaft mit Alt-
munition im Vordergrund stehen. Derzeit besteht ein Be-
tretungsverbot.
Anlage 10 Für die Ausweisung einer Liegenschaft als Nationales
Antwort Naturerbe ist unter anderem ein sehr hoher Naturschutz-
wert Voraussetzung. Flächen des Nationalen Naturerbes
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage sind dauerhaft für den Naturschutz zu sichern. Eine be-
der Abgeordneten Jutta Krellmann (DIE LINKE) grenzte touristische Nutzung wäre nur möglich, soweit
(Drucksache 17/3947, Frage 15): dies mit dem vorrangigen naturschutzfachlichen Zweck
Wie wird die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sicherstellen, in Einklang zu bringen ist.
dass ausländische Leiharbeitsagenturen die Mindestbestim-
mungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz einhalten,
und inwiefern ist nach Ansicht der Bundesregierung ein So-
zialdumping aufgrund unterschiedlicher Sozialabgaben und Anlage 13
Steuern der verschiedenen EU-Mitgliedsländer möglich?
Antwort
Für die Leiharbeitsbranche gibt es keine Verordnung
des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Fra-
über Mindestarbeitsbedingungen nach dem Arbeitnehmer-
gen der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm (SPD)
Entsendegesetz. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der
(Drucksache 17/3947, Frage 20):
Zollverwaltung kann insoweit keine Einhaltung sicher-
stellen. In welcher Form wird die Bundesregierung die 353 500 Euro
an Bundesmitteln, die von der Deutschen Zentrale für Touris-
mus, DZT, laut Prüfung des Bundesrechnungshofs von 2006
bis 2009 zweckwidrig und unwirtschaftlich eingesetzt wur-
Anlage 11 den, zurückfordern, und wird die Bundesregierung diese Mit-
tel in vollem Umfang für die Förderung des Tourismus einset-
Antwort zen?
des Parl. Staatssekretärs Hartmut Koschyk auf die Frage Die Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, wird vom
der Abgeordneten Jutta Krellmann (DIE LINKE) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mit
(Drucksache 17/3947, Frage 16): rund 27 Millionen Euro jährlich gefördert. Die Förderung
Wie hoch schätzt die Bundesregierung den zusätzlichen der DZT erfolgt als Fehlbedarfsfinanzierung (Finanzie-
Aufwand für Prüfungen von ausländischen Leiharbeitsagentu- rungsart). Bei einer Fehlbedarfsfinanzierung erfolgt die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8475
(A) Förderung in der Höhe, in der Bedarf besteht, der nicht Anlage 15 (C)
anderweitig gedeckt werden kann. Überschüssige Mittel
Antwort
sind am Jahresende an den Zuwendungsgeber zurückzu-
zahlen. Nach der Prüfung des Bundesrechnungshofes, des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage
BRH, wurden Mittel in Höhe von 353 500 Euro zweck- des Abgeordneten Manfred Nink (SPD) (Drucksache
widrig und unwirtschaftlich eingesetzt. Diese wurden ge- 17/3947, Frage 22):
genüber der DZT per Bescheid im Jahre 2009 widerrufen Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass anhaltende
und zurück gefordert. Die Mittel wurden von der DZT be- und enorme makroökonomische Ungleichgewichte und Diffe-
reits zurück überwiesen und sind dem Bundeshaushalt renzen in der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere
zugeflossen. der Euro-Staaten, die Anfälligkeit der europäischen Wirtschaft
erhöhen und das Funktionieren der Währungsunion beein-
trächtigen können, und welche konkreten wirtschaftspolitischen
Maßnahmen hinsichtlich der Steigerung der Binnennachfrage
Anlage 14 und des Wachstumspotenzials, die von EU-Mitgliedstaaten
mit Leistungsbilanzüberschüssen erwartet werden, hält sie für
sinnvoll?
Antwort
Es hat sich gezeigt, dass Schwächen in der Wettbe-
des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage werbsfähigkeit und Versäumnisse bei Strukturreformen
der Abgeordneten Gabriele Hiller Ohm (SPD) (Druck- neben einer mangelhaften Haushaltspolitik ein ganz we-
sache 17/3947, Frage 21): sentliches Problem in einigen Mitgliedstaaten darstellten
In welcher Höhe an Bundesmitteln wurde bzw. wird die und immer noch darstellen. Solche Probleme können
Arbeit der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für – wie wir erfahren mussten – in der Tat ein Risiko für die
Alle e. V., NatKo, in den Jahren 2007, 2008, 2009, 2010 und Stabilität insbesondere des Euro-Raums darstellen. Dies
2011 gefördert, und in welcher Form unterstützt die Bundes-
regierung die Weiterentwicklung der NatKo zu einem Kom-
dürfen wir nicht mehr zulassen. Die Bundesregierung
petenzzentrum für barrierefreies Reisen? hat sich deswegen auf EU-Ebene neben einer Stärkung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts vor allem für ein
Das Bundesministerium für Gesundheit hat 2007 bis neues Verfahren zur Überwachung makroökonomischer
2010 Projekte der Nationalen Koordinationsstelle Tou- Ungleichgewichte eingesetzt. Mit Beschluss des Europä-
rismus für Alle e. V., NatKo, gefördert : ischen Rates vom 28. und 29. Oktober 2010 und der An-
nahme der Vorschläge der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe
2007 1 Projekt: Höhe der Zuwendung 121 158 Euro haben wir wesentliche Teile unserer Vorschläge auch auf
2008 1 Projekt: Höhe der Zuwendung: 119 790 Euro EU-Ebene durchgesetzt. Die Vorschläge sehen insbeson-
dere eine Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
(B) (D)
2009/2010 Zweijahresprojekt in 2009 mit 89 245,10 Euro sowie ein neu zu etablierendes Verfahren zur Überwa-
und in 2010 mit 93 314 Euro chung makroökonomischer Ungleichgewichte vor. Die
Bundesregierung sieht vor allem die Staaten mit Schwä-
2009 1 Projekt: Höhe der Zuwendung: 17 490 Euro chen in der Wettbewerbsfähigkeit in der Pflicht, Refor-
men zügig umzusetzen. Das entbindet aber nicht die
2010 1 Projekt: Höhe der Zuwendung: Staaten mit einer hohen Wettbewerbsfähigkeit von ihrer
15 987,51 Euro Verantwortung, notwendige Strukturreformen zu verfol-
Für das Jahr 2011 hat NatKo beim BMG einen Antrag gen.
auf Projektförderung gestellt, der zurzeit geprüft wird.
NAtKo hat beim Bundesministerium für Wirtschaft Anlage 16
und Technologie, BMWi, einen Förderantrag gestellt, Antwort
der zurzeit geprüft wird. Der Projektstart ist für Dezem-
ber 2010 geplant. des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage
des Abgeordneten Manfred Nink (SPD) (Drucksache
Eine endgültige Förderzusage für die Projekte ab 17/3947, Frage 23):
2011 kann durch die Bundesregierung erst nach Inkraft- Wie bewertet die Bundesregierung die Schaffung einer
treten des Bundeshaushaltes 2011 erfolgen. einheitlichen politischen Autorität, die legitimiert ist, wirtschafts-
politische Entscheidungen im Gesamtinteresse zu treffen – ver-
Im Dezember 2008 wurde das Bundeskompetenzzen- gleichbar der Europäischen Zentralbank für geldpolitische
trum Barrierefreiheit gegründet. Sein Ziel ist die Umset- Entscheidungen –, und wie schätzt die Bundesregierung die
zung des Bundesgleichstellungsgesetzes, insbesondere Möglichkeiten ein, eine europäische Wirtschaftsregierung
rechtlich und demokratisch zu legitimieren?
die Herstellung umfassender Barrierefreiheit für alle
Menschen mit Behinderungen. In die Themenfelder des Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf EU-
Bundeskompetenzzentrums, das vom Bundesministe- Ebene ganz bewusst dafür entschieden, die Abstimmung
rium für Arbeit und Soziales gefördert wird, ist der Tou- der Wirtschaftspolitiken auch weiterhin nach einem zwi-
rismus eingeschlossen. Das Bundeskompetenzzentrum schenstaatlichen Koordinierungsverfahren zu konzipie-
arbeitet eng mit der NatKo und den Behindertenverbän- ren, das auf verantwortungsvoller Zusammenarbeit der
den zusammen. Die NatKo bringt ihre Kompetenz auf Mitgliedstaaten basiert. Die Verfahren zielen darauf ab,
dem Gebiet des barrierefreien Tourismus in die Tätigkeit an die Eigenverantwortlichkeit der Staaten für sich und
des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit ein. Europa zu appellieren und sie zu stärken. Auch die Bun-
8476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) desregierung hat sich immer klar zum Subsidiaritätsprin- Zu Frage 25: (C)
zip und zur Eigenverantwortung bekannt. Ein zentrali-
Der Staat hat geeignete Rahmenbedingungen zu set-
sierter Ansatz würde diesem Ziel zuwiderlaufen. Dies
zen, damit sich unternehmerische Freiheit zum Wohl der
sehen auch die Mitgliedstaaten der EU mehrheitlich so.
Konsumenten entfalten kann. Eine Leistungsbilanz ist
Insofern stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Um-
vor allem das Ergebnis von Marktprozessen. Die Wettbe-
setzung bzw. Ausgestaltung einer solchen zentralen
werbsfähigkeit der deutschen Unternehmen ergibt sich
Steuerung nicht.
vor allem aus ihren Spezialisierungsvorteilen in der glo-
balen Wirtschaft und einer moderaten Lohnpolitik im
Rahmen der Tarifautonomie. Sie ist nicht das Ergebnis
Anlage 17
staatlicher Einflussnahme.
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Fra- Anlage 18
gen des Abgeordneten Garrelt Duin (SPD) (Drucksache
17/3947, Fragen 24 und 25): Antwort
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die des Parl. Staatssekretärs Ernst Burgbacher auf die Frage
Binnennachfrage und das Wachstumspotenzial in Deutsch-
land nachhaltig zu steigern vor dem Hintergrund, dass der Eu- der Abgeordneten Doris Barnett (SPD) (Drucksache
ropäische Rat den Bericht der Arbeitsgruppe „Wirtschaftspo- 17/3947, Frage 26):
litische Steuerung“ – Van-Rompuy-Arbeitsgruppe – gebilligt Welche Folgen hat nach Einschätzung der Bundesregie-
hat, in dem es in Nr. 33 unter anderem heißt: „In den Mitglied- rung die angekündigte Verschiebung des Starts der Datenab-
staaten mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen hingegen sol- rufphase des elektronischen Entgeltnachweises, ELENA, für
len politische Maßnahmen darauf abzielen, die Strukturrefor- Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen bzw. betroffene Be-
men zu ermitteln und durchzuführen, mit denen diese Staaten hörden, und welche zusätzlichen Belastungen ergeben sich für
ihre Binnennachfrage und ihr Wachstumspotenzial steigern die Bundesländer infolge der damit geplanten, verlängerten
können“? Anschubphase?
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in die-
sem Zusammenhang, die gegebenen makroökonomischen Un- Die vom Koalitionsausschuss beschlossene Verschie-
gleichgewichte dauerhaft zu verringern, ohne die Wettbe- bung des verpflichtenden Datenabrufs macht eine Ände-
werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu schwächen, und rung der gesetzlichen Regelungen zum ELENA-Verfahren
welche zusätzliche Abstimmung und Koordinierung der Wirt- erforderlich. Die konkreten, damit im Zusammenhang
schaftspolitiken hält die Bundesregierung auf europäischer
Ebene für erforderlich? stehenden Fragen werden derzeit innerhalb der Bundes-
regierung geprüft. Ich bitte Sie daher um Verständnis,
(B) Zu Frage 24: dass ich das Ergebnis der Prüfungen nicht vorwegneh- (D)
men kann.
Der deutschen Wirtschaft ist es gelungen, einen Groß-
teil des krisenbedingten Rückgangs des Bruttoinlands-
produkts wieder wettzumachen. Die Bundesregierung Anlage 19
rechnet in ihrer Herbstprognose mit einem BIP-Wachs-
tum von 3,4 Prozent. Damit wächst die deutsche Wirt- Antwort
schaft im Jahr 2010 etwa doppelt so schnell wie der des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Durchschnitt der Europäischen Union. Das Wachstum Frage der Abgeordneten Doris Barnett (SPD) (Druck-
wird sich im kommenden Jahr moderat fortsetzen. Die sache 17/3947, Frage 31):
Binnennachfrage trägt im Jahr 2010 voraussichtlich mit Welche Meldeverfahren, das heißt welche und wie viele
mehr als zwei Dritteln bzw. im Jahr 2011 mit fast drei Datensätze, werden seit der Einführung der Datenerfassungs-
Vierteln zum Wachstum bei. und -übermittlungsverordnung im Jahr 1998 bzw. des Starts
der Datenerhebungsphase des elektronischen Entgeltnachwei-
Die wirtschaftliche Erholung ist insbesondere ein Be- ses durchgeführt und gespeichert, und wer erhält Zugriff auf
schäftigungsaufschwung. Die Beschäftigung hat den höchs- diese Datensätze?
ten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht. Dies führt zu
Seit der Einführung einer statistischen Erfassung im
höheren Arbeitseinkommen und stützt die binnenwirt-
Jahre 2001 wurden im Rahmen der Datenerfassungs- und
schaftliche Erholung. Gleichzeitig verläuft die Teuerung
-übermittlungsverordnung circa 1 166 Millionen Daten-
moderat. Die realen Nettolöhne und -gehälter je Arbeit-
sätze bei der Datenstelle der Deutschen Rentenversiche-
nehmer nahmen vor diesem Hintergrund im Jahr 2010 um
rung verarbeitet. Im Rahmen des ELENA-Verfahrens wur-
2,7 Prozent zu. Dies ist der höchste Zuwachs seit 18 Jah-
den circa 366 Millionen Datensätze verarbeitet.
ren. Weitere fiskalische Maßnahmen sind nicht zielfüh-
rend, um die Binnennachfrage zu stimulieren oder den Einen Zugriff auf die Daten haben im Rahmen der Da-
Leistungsbilanzüberschuss abzubauen. Sie würden ledig- tenerfassungs- und -übermittlungsverordnung nur die au-
lich zu steigender Staatsverschuldung führen. Vielmehr torisierten Stellen, das heißt die Träger der Kranken-,
zielt die Wirtschaftspolitik darauf ab, das Wachstumspo- Pflege-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung.
tenzial der deutschen Wirtschaft zu stärken. Die Bundes- Die speziell in Branchen mit hohem Schwarzarbeitsanteil
regierung richtet ihre Wirtschaftspolitik an den ordnungs- durch eine Sofortmeldung erfassten Daten können außer-
politischen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft aus dem von den Behörden der Finanzkontrolle Schwarz-
und setzt die richtigen Rahmenbedingungen, um private arbeit abgefragt werden. Im Rahmen des ELENA-Verfah-
Investitionen in Deutschland zu stärken. rens werden nur die Behörden, die für die Beantragung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8477
(A) von Wohn-, Eltern- und Arbeitslosengeld zuständig sind, Arbeitsleben und Leistungen zur Teilhabe am Leben in (C)
im Zusammenwirken mit dem Antragsteller auf die Daten der Gemeinschaft. Die Krankenkassen setzen als ein
zugreifen können. Rehabilitationsträger neben anderen das SGB IX ein. Im
Rahmen dieses Umsetzungsprozesses hat die Bundesre-
gierung auch einzelne neue Instrumente wissenschaftlich
Anlage 20 untersuchen lassen. So hat die Bundesregierung zum
Beispiel eine Studie zur „Umsetzung des Betrieblichen
Antwort Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX,
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die Forschungsbericht 374, zur „Begleitung und Auswer-
Frage der Abgeordneten Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ tung der Erprobung trägerübergreifender Persönlicher
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 32): Budgets“, Forschungsbericht 366, zur „Einrichtung und
Welche Informationen hat die Bundesregierung aus dem Arbeitsweise Gemeinsamer Servicestellen für Rehabili-
runden Tisch mit zuständigen Rehabilitationsträgern, den tation“ sowie zu „Vergütungsstrukturen in der Früh-
Leistungserbringern und Verbänden behinderter Menschen förderung behinderter und von Behinderung bedrohter
zur Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung erhalten, Kinder“ in Auftrag gegeben. Zurzeit läuft ein For-
und welche weiteren Schritte plant die Bundesregierung, um
die entstandenen Probleme bei der Umsetzung der Komplex- schungsvorhaben „Prozesskettenanalyse in den Berei-
leistung zu beseitigen? chen trägerübergreifendes Persönliches Budget und
Gemeinsame Servicestellen“, um eine spürbare Verbes-
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und serung der Servicequalität für potenzielle Budgetnehme-
das Bundesministerium für Gesundheit haben mit einem rinnen und Budgetnehmer durch Optimierung der
gemeinsamen Rundschreiben an die Spitzenverbände der Geschäftsprozesse zu erreichen und den Auftrag zur trä-
zuständigen Rehabilitationsträger im Juni 2009 klarstel- gerübergreifenden Beratung aus einer Hand durch die
lende Hinweise für die Umsetzung der Komplexleistung Gemeinsamen Servicestellen konsequent umzusetzen.
Frühförderung gegeben. Das gemeinsame Rundschreiben
wurde sowohl von den Betroffenenverbänden als auch
von den Rehabilitationsträgern begrüßt.
Anlage 22
Ein Jahr nach Versendung des Schreibens wurden
vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales rund Antwort
1 000 Fragebögen an Frühförderstellen bundesweit ver- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
sandt. Diese Daten liegen inzwischen vor und bilden die Fragen der Abgeordneten Brigitte Pothmer (BÜND-
Grundlage, um in Fachgesprächen mit allen Beteiligten NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 38
(B) zu klären, ob und inwieweit die Hinweise des gemeinsa- und 39): (D)
men Rundschreibens vor Ort angekommen sind und ob Wie haben sich die Arbeitslosenzahlen der Menschen mit
es zu Fortschritten bei der Umsetzung der Komplexleis- Behinderung im Vergleich zur allgemeinen Arbeitslosenzahl
tung Frühförderung gekommen ist. seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention entwi-
ckelt – aufgelistet nach Monat und Geschlecht –, und wie be-
In einem ersten Schritt haben sich am 16. November wertet die Bundesregierung diese Entwicklung vor dem Hin-
2010 die zuständigen Fachreferate im Bundesministe- tergrund des Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention,
rium für Arbeit und Soziales und im Bundesministerium wonach die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Be-
hinderung auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit an-
für Gesundheit mit Vertretern von Leistungserbringern deren in Bezug auf Arbeit anerkennen?
und Leistungsträgern auf Bundesebene sowie einer Ver-
treterin des Beauftragten der Bundesregierung für die Plant die Bundesregierung einen allgemeinen und dauer-
haften Nachteilsausgleich im Sinne eines Minderleistungsaus-
Belange behinderter Menschen zu einer ersten Analyse gleiches für Menschen mit Behinderung, und wie bewertet die
getroffen. Zu Beginn des nächsten Jahres werden Bund- Bundesregierung ebensolche Bemühungen auf der Ebene der
Länder-Gespräche stattfinden, um gemeinsam das wei- Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur Zukunft der Ein-
tere Vorgehen abzustimmen. gliederungshilfe?
Zu Frage 38:
Anlage 21 Bei der Entwicklung der Arbeitslosigkeit insgesamt
Antwort und von schwerbehinderten Menschen gibt es seit Jahren
erkennbar zeitversetzte Verläufe. So baut sich die Ar-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die beitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinderungen
Frage der Abgeordneten Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ deutlich langsamer auf. Dies liegt vor allem in den beson-
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 33): deren Kündigungsschutzverfahren begründet. Auf der
Wird die Bundesregierung im Zuge des zehnjährigen Be- anderen Seite erfolgt der Beschäftigungsaufbau bei die-
stehens des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, SGB IX, eva- sem Personenkreis allerdings auch zeitverzögert.
luieren, inwiefern die Krankenversicherungsträger ihrer Ver-
antwortung im trägerübergreifenden Rehabilitationsprozess Die Arbeitslosigkeit allgemein und schwerbehinderter
nachgekommen sind, und, wenn nein, warum nicht?
Menschen ist 2009 bedingt durch die Auswirkungen der
Mit dem SGB IX wurde der Grundstein für ein bür- Wirtschaftskrise angestiegen. Bei der Gesamtarbeitslo-
gernahes Rehabilitations- und Teilhaberecht gelegt. Es sigkeit war bei jahresdurchschnittlicher Betrachtung eine
schafft einheitliche Regelungen zu Leistungen zur medi- Zunahme um 4,8 Prozent auf 3 423 283 zu verzeichnen.
zinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Demgegenüber stieg die Arbeitslosigkeit schwerbehin-
8478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) derter Menschen lediglich um 2,0 Prozent auf 167 379. Der Nationale Aktionsplan wird in einem eigenen (C)
Der Anteil schwerbehinderter Menschen an der Gesamt- Handlungsfeld „Internationale Zusammenarbeit“ auch
arbeitslosigkeit lag 2009 bei 4,9 Prozent gegenüber die Zusammenarbeit mit der EU bei der Umsetzung der
5,0 Prozent in 2008. Konvention explizit ansprechen.
In diesem Jahr sinkt die allgemeine Arbeitslosigkeit Der Nationale Aktionsplan soll im März 2011 vom
deutlich, aber auch die Zahl schwerbehinderter Arbeits- Kabinett verabschiedet werden.
loser verminderte sich seit Jahresbeginn bis Oktober.
Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte sich dieser posi-
tive Trend in absehbarer Zeit fortsetzen. Anlage 24
Zu Frage 39: Antwort
Erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen in den des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
allgemeinen Arbeitsmarkt einzugliedern und ihnen im Frage des Abgeordneten Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
Bedarfsfall die hierfür erforderliche Hilfe gegebenen- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 41):
falls unbefristet zur Verfügung zu stellen, ist keine Auf- Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung auf der
gabe der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen Grundlage der Entschließung des Rates der Europäischen
der Sozialhilfe. Der Sachverhalt ist insoweit auch nicht Union vom 20. November 2010 (2010/C 316/01) ergreifen,
Gegenstand von Beratungen in der von der Arbeits- und um die unter Nr. 28 Buchstabe a beschlossene Förderung in-
Sozialministerkonferenz eingesetzten Bund-Länder-Ar- klusiver Bildungssysteme auf allen Ebenen umzusetzen?
beitsgruppe „Weiterentwicklung der Eingliederungs- Die Anstrengungen zur Förderung inklusiver Bil-
hilfe für behinderte Menschen“. dungssysteme sind vor allem in der Bildungspraxis und
Soweit sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe und im damit insbesondere von den Ländern zu unternehmen.
Weiteren die Arbeits- und Sozialministerkonferenz mit Die Bundesregierung sichert hier im Rahmen ihrer Zu-
Fragen der Förderung der Teilhabe wesentlich behinder- ständigkeit zu, die Länder und Träger in diesem Prozess
ter Menschen am Arbeitsleben befassen, stehen Alterna- zu unterstützten und die Forschung und den internationa-
tiven zu einer Beschäftigung voll erwerbsgeminderter len Austausch dazu zu fördern.
Personen in Werkstätten für behinderte Menschen im
Blickpunkt. Dabei ist unter anderem auch daran gedacht, Forschungsaktivitäten und Maßnahmen des Bundes
in geeigneten Fällen Lohnkostenzuschüsse zur Unter- mit spezifischem Fokus auf die inklusive Teilhabe von
stützung von Beschäftigungen auf dem allgemeinen Ar- Menschen mit Behinderungen werden in folgenden Be-
reichen unternommen: Bildungsforschung, frühe Kind-
(B) beitsmarkt vorzusehen. heit/frühkindliche Bildung, Übergang in den Beruf, Stu- (D)
Eine Beschränkung auf geeignete Fälle berücksichtigt, dieren mit Behinderung sowie im europäischen und
dass es sich bei den in Rede stehenden behinderten Men- internationalen Transfer.
schen ausnahmslos um Personen handelt, die als voll er-
werbsgemindert im Sinne der einschlägigen Vorschriften Wegen der genannten Zuständigkeit der Länder im
des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (gesetzliche Ren- Bildungsbereich liegt ein wichtiger Schwerpunkt der
tenversicherung) gelten und insoweit nur ausnahmsweise Maßnahmen der Bundesregierung zur Förderung inklu-
für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf siver Bildung im Bereich der Bewusstseinsbildung. Bei-
Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes in Be- spiele sind hier die Broschüre „Wegweiser für Eltern
tracht gezogen werden können. zum Gemeinsamen Unterricht“ des Behindertenbeauf-
tragten und der Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam
leben – gemeinsam lernen“ sowie der „Jakob Muth-Preis
Anlage 23 für inklusive Schule“ ebenfalls des Behindertenbeauf-
tragten, der Bertelsmann-Stiftung und der Deutschen
Antwort Unesco-Kommission.
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Darüber hinaus prüft die Bundesregierung derzeit,
Frage des Abgeordneten Manuel Sarrazin (BÜND-
welche weiteren Maßnahmen zur Umsetzung des Art. 24
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 40):
der UN-Behindertenrechtskonvention und damit auch
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung im Rat der zur Förderung inklusiver Bildungssysteme im Sinne der
Europäischen Union voranbringen, um die Rechte von Men-
schen mit Behinderung gemäß der UN-Behindertenrechtskon- Ratsentschließung in den Nationalen Aktionsplan der
vention auch im Rahmen der Europa-2020-Strategie umzuset- Bundesregierung zur Umsetzung der Konvention aufge-
zen? nommen werden können.
Möglichkeiten zur Unterstützung der Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention auf Ebene der Euro-
päischen Union allgemein, im Rahmen der EU-2020- Anlage 25
Strategie oder durch Unterstützung einzelner Maßnah- Antwort
men der Behindertenstrategie der Kommission werden
von den Ressorts derzeit auch im Zusammenhang mit des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
der Erstellung des Nationalen Aktionsplans zur Umset- Frage der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn) (BÜND-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 42):
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8479
(A) Welche Bereiche aus dem Themenkomplex Bildung und Anlage 27 (C)
Forschung wird die Bundesregierung voraussichtlich in den
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- Antwort
vention aufnehmen, und in welcher Form hat bisher diesbe-
züglich ein Austausch zwischen dem Bundesministerium für des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Arbeit und Soziales und dem Bundesministerium für Bildung Fragen der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜND-
und Forschung stattgefunden? NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 44
Die Umsetzung der UN-Konvention im Bildungsbe- und 45):
reich obliegt in erster Linie den für Bildungsfragen zu- Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund
des Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention – selbstbe-
ständigen Ländern. stimmtes Leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft – den
Mehrkostenvorbehalt nach § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, und
Die Bundesregierung wird die Länder und die Träger mit welchen Vorschlägen brachte sich die Bundesregierung in
hierbei im Rahmen ihrer Zuständigkeiten weiterhin un- die Arbeit der Bund-Länder-Unterarbeitsgruppe IV – „Sozial-
terstützen. Dabei konzipiert die Bundesregierung ihre raum/Angebotsgenerierung“ – zur Reform der Eingliede-
rungshilfe ein?
Aktivitäten im Bereich Bildung und Forschung grund-
sätzlich so, dass die Teilhabe aller an Bildung und le- Wann wird die Bundesregierung auf der Grundlage des
Beschlusses der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur Re-
benslangem Lernen verfolgt wird. form der Eingliederungshilfe vom 24./25. November 2010 ei-
nen konkreten Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag
Darüber hinaus sollen in den Nationalen Aktionsplan einbringen, und welche gesetzlichen Schritte plant die Bun-
spezielle bildungspolitische Maßnahmen für Menschen desregierung in diesem Zusammenhang zur Herstellung eines
mit Behinderungen voraussichtlich in den Bereichen Bil- inklusiven Sozialraums?
dungsforschung, frühe Kindheit/frühkindliche Bildung,
Übergang in den Beruf, Studieren mit Behinderung sowie Zu Frage 44:
internationale Zusammenarbeit aufgenommen werden. Nach den von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Wei-
terentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen
Die Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Bil- mit Behinderungen“ der ASMK erarbeiteten Eckpunkte
dung und Forschung sowie für Familie, Senioren, Frauen für die Reformgesetzgebung „Weiterentwicklung der
und Jugend stehen hierbei in einem engen Austausch in Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen“
Form von Ressortsgesprächen, schriftlichen Abfragen soll – als Folge der Personenzentrierung – die Charakte-
und Fachtagungen. risierung von Leistungen der Eingliederungshilfe als am-
bulante, teilstationäre und stationäre Maßnahmen aufge-
geben werden. Da § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII an diese
Anlage 26 Charakterisierung anknüpft, würde diese Bestimmung
(B) obsolet. Als Folge davon enthält das Eckpunktepapier (D)
Antwort jedoch die noch zu klärende Frage, ob Ober- und Unter-
grenzen des Bedarfs und der Leistungen definiert wer-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die den können.
Frage der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn)
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Für die Gestaltung des Sozialraums sind die Kommu-
Frage 43): nen zuständig. Wegen der mittelbaren Auswirkungen auf
die Leistungen der Eingliederungshilfe hat sich der Bund
Welche bewusstseinsbildenden Maßnahmen gemäß Art. 8 auch an der Unterarbeitsgruppe IV beteiligt.
der UN-Behindertenrechtskonvention wird die Bundesregie-
rung in dieser Legislatur ergreifen, die vermitteln, dass unter
bestimmten Voraussetzungen alle Kinder von einem gemein- Zu Frage 45:
samen Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern
profitieren? Die Bundesregierung wird – entsprechend des
ASMK-Beschlusses – auf der Grundlage der Eckpunkte
Die Bundesregierung hat bereits bewusstseinsbil- und auf der Basis einer zwischen Bund und Ländern ein-
dende Maßnahmen im Sinne der Art. 8 und 24 der UN- vernehmlich festzustellenden Verständigung über die
Konvention ergriffen. Beispiele sind hier die Broschüre finanziellen Folgen der strukturellen Veränderungen ei-
„Wegweiser für Eltern zum Gemeinsamen Unterricht“ ner Reform einen Arbeitsentwurf für ein Gesetz zur
sowie der „Jakob Muth-Preis für inklusive Schule“ des „Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe“ so recht-
Behindertenbeauftragten. zeitig vorlegen, dass dieses Gesetzgebungsverfahren in
dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ab-
Bewusstseinsbildung wird auch über die Weiterbil- geschlossen werden kann.
dungsinitiative „Frühpädagogische Fachkräfte“ sowie
den Expertenkreis „Inklusive Bildung“ der Deutschen Für die Gestaltung des inklusiven Sozialraums hat die
Unesco-Kommission, in dem die Bundesregierung ver- Bundesregierung keine Gesetzgebungskompetenz.
treten ist, gefördert.
Darüber hinaus prüft die Bundesregierung derzeit, Anlage 28
welche weiteren Maßnahmen der Bewusstseinsförde-
Antwort
rung in den Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
rung zur Umsetzung der Konvention aufgenommen wer- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
den können. Dazu gehört zum Beispiel die „Landkarte Frage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)
der inklusiven Beispiele“ des Behindertenbeauftragten. (Drucksache 17/3947, Frage 46):
8480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Wie bewertet die Bundesregierung das Abzweigen des tionsämter zusätzlich gefördert werden. Die Bundesre- (C)
Kindergeldes zuungunsten der Eltern von Erwachsenen mit gierung hatte in der Antwort auf die genannte Kleine
Behinderung, die Grundsicherungsleistungen nach dem Vier-
ten Kapitel SGB XII beziehen und in Werkstätten für behin- Anfrage 16/9272 angeboten, dass die für die Fragen der
derte Menschen, WfbM, arbeiten, obwohl den Eltern dennoch Existenzgründung und für die Belange behinderter Men-
zusätzliche behinderungsbedingte Aufwendungen entstehen schen zuständigen Ministerien Beschwerden nachgehen
(siehe auch www.kobinet-nachrichten.org vom 6. November würden, wenn die bestehenden Existenzgründungsbera-
2010 „Geänderte Hartz-IV-Sätze benachteiligen behinderte
Menschen“ und die dazugehörigen diversen Leserbriefe)?
tungsstellen die Belange behinderter Menschen nicht hin-
reichend berücksichtigten. Solche Beschwerden sind an
Eine rechtliche Bewertung von Einzelfällen aus der die Ministerien nicht herangetragen worden. Die Bundes-
Sozialhilfepraxis ist der Bundesregierung wegen der ver- regierung sieht daher den Auftrag aus der UN-Konven-
fassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung nicht mög- tion durch das geltende Förderinstrumentarium als erfüllt
lich. Der Bund hat auch kein Weisungsrecht gegenüber an.
den gesetzesausführenden Ländern und Kommunen.
Allgemein weise ich darauf hin, dass der Bundesge- Zu Frage 48:
setzgeber in den Vorschriften des Zwölften Buches So- Eine Übersicht über Stellen mit speziellen Existenz-
zialgesetzbuch eine klare Wertentscheidung getroffen gründungsberatungen für behinderte Menschen liegt der
hat, wonach die Heranziehung von grundsätzlich unter- Bundesregierung nicht vor.
haltsverpflichteten Eltern zu den nicht unerheblichen
Aufwendungen eines Sozialhilfeträgers für Leistungen
an volljährige behinderte Kinder im Regelfall auf
Anlage 30
31 Euro in 2010 begrenzt bleiben soll. Der Sozialhilfe-
träger ist verpflichtet, in jedem Einzelfall zu überprüfen, Antwort
ob ein eventueller Antrag auf Abzweigung des Kinder-
geldes nach § 74 des Einkommensteuergesetzes mit die- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
sem erklärten Willen des Gesetzgebers in Übereinstim- Fragen der Abgeordneten Daniela Wagner (BÜND-
mung steht. NIS 90/DIE GRPÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen
49 und 50):
Zweifelsfrei kommt in den Fällen, in denen den Kin-
dergeldberechtigten unterhaltsrechtliche bzw. behinde- Sieht die Bundesregierung bundesgesetzlichen Ände-
rungsbedarf aufgrund der Regelungen des Art. 9 der UN-Be-
rungsbedingte Aufwendungen für das volljährige behin- hindertenrechtskonvention, und, wenn ja, wie sieht dieser
derte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes aus?
entstehen, eine Abzweigung an den Sozialhilfeträger
(B) Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass im Jahr 2010 (D)
nicht in Betracht. ausschließlich im Bundesland Rheinland-Pfalz Zielvereinba-
rungen zur Herstellung von Barrierefreiheit gemäß § 5 des
Behindertengleichstellungsgesetzes abgeschlossen wurden,
und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
Anlage 29 hieraus?
Antwort
Zu Frage 49:
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die Fra-
gen der Abgeordneten Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Die Koalitionsparteien haben beschlossen, die Behin-
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 47 und 48): dertenrechtskonvention der Vereinten Nationen mit ei-
Wie möchte die Bundesregierung Art. 27 Buchstabe f der nem eigenen Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
UN-Behindertenrechtskonvention nachkommen, mit dem sich rung umzusetzen. Bei der Umsetzung der Konvention
die Bundesregierung verpflichtet hat, „Möglichkeiten für geht es um eine umfassende Teilhabe von Menschen mit
Selbständigkeit, Unternehmertum, die Bildung von Genossen-
schaften und die Gründung eines eigenen Geschäfts zu för-
Behinderungen und um ein Leben in Selbstbestimmung.
dern“, und zu welchen neuen Erkenntnissen ist die Bundesre-
gierung in den vergangenen zwei Jahren seit Beantwortung
Bei der Entwicklung des Nationalen Aktionsplans
der Kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wurden von Anfang an die Verbände behinderter Men-
„Existenzgründung für Menschen mit Behinderungen“ (Bun- schen einbezogen. In enger Abstimmung mit Ihnen wur-
destagsdrucksache 16/9272) bei der Frage gekommen, ob die den Handlungsfelder und Querschnittsthemen entwi-
Belange behinderter Menschen bei der Existenzgründungsbe- ckelt, die Herzstück des Aktionsplans werden sollen. Ein
ratung angemessen berücksichtigt werden?
wesentliches Querschnittsthema ist dabei die Barriere-
In welchen Bundesländern gibt es nach Informationen der freiheit in Art. 9 der Behindertenrechtskonvention.
Bundesregierung spezielle Existenzgründungsberatungen für
Menschen mit Behinderung, und wie werden diese finanziell
gefördert?
Die Bundesregierung hat und wird weiterhin im Rah-
men der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans zur
Zu Frage 47: Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention die
besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen
Die Fördermittel des Bundes zur Gründung einer auch im Bereich Barrierefreiheit einbeziehen. Die Bun-
selbstständigen Existenz (zum Beispiel KfW-Darlehen) desregierung prüft derzeit, welche konkreten Maßnah-
stehen schwerbehinderten Menschen genauso zur Verfü- men und Projekte zur Umsetzung des Art. 9 der UN-Be-
gung wie Menschen ohne Behinderung. Darüber hinaus hindertenrechtskonvention und damit zur Herstellung
können schwerbehinderte Menschen durch die Integra- der Barrierefreiheit in den Aktionsplan der Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8481
(A) rung zur Umsetzung der Konvention aufgenommen wer- gibt es zu dem vorgelegten Entwurf noch letzten Ab- (C)
den können. stimmungsbedarf. Die hieran beteiligten Häuser arbeiten
intensiv an einer Lösung, um die Verordnung in Kürze
Zu Frage 50: verabschieden zu können. Im Anschluss daran muss
noch das Notifizierungsverfahren der Europäischen
Zur Umsetzung von Barrierefreiheit außerhalb des öf- Kommission aufgrund der „EG-Richtlinie über ein In-
fentlich-rechtlichen Bereichs wurde mit dem Behinderten- formationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und
gleichstellungsgesetz das Instrument der Zielvereinbarung technischen Vorschriften“ durchlaufen werden. Das No-
geschaffen, mit dem anerkannte Behindertenverbände tifizierungsverfahren dauert bis zu drei Monate. Nach
mit Unternehmen bzw. Unternehmensverbänden über Abschluss der Notifizierung kann die novellierte Verord-
die Herstellung von Barrierefreiheit in Verhandlung tre- nung in Kraft treten.
ten können. Mit Hilfe von Zielvereinbarungen können
sich die Vertragspartner eigenverantwortlich über kon-
krete und verhältnismäßige Regelungen einigen und ei- Anlage 32
gene Lösungen für unterschiedliche gesellschaftliche
Bereiche finden, die für behinderte Menschen wichtig Antwort
sind. Die Bundesregierung hat somit keinen Einfluss
darauf, wo und in welcher Weise Zielvereinbarungen ab- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
geschlossen werden. Fragen der Abgeordneten Monika Lazar (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 55 und 56):
Wie weit ist die Bundesregierung in ihren Plänen, in den
Anlage 31 künftigen Berichten über die Lage behinderter Menschen und
die Entwicklung ihrer Teilhabe „noch stärker als bisher auf
Antwort die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen und
Männern sowie die Auswirkungen der getroffenen Maßnah-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die men auf beide Geschlechter einzugehen“ (Bundestagsdruck-
sache 17/2595)?
Fragen des Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Was kann die Bundesregierung zum jetzigen Zeitpunkt
Fragen 53 und 54): über die in Auftrag gegebene Vorstudie zur aktuellen Daten-
lage zu Menschen mit Behinderung sagen, die zugleich eine
Inwiefern übernimmt die Bundesregierung eine koordinie- wissenschaftliche Konzeption für ein neues Berichtswesen
rende Rolle auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene bei entwerfen soll?
der vollständigen Umsetzung der Barrierefreien Informa-
(B) tionstechnik-Verordnung, BITV, als ein bedeutsames Instru- Die Bundesregierung hat Ende September 2010 eine (D)
ment zur Umsetzung des Art. 9 der UN-Behindertenrechtskon- Vorstudie zur Neukonzeption des Behindertenberichts in
vention für den Informations- und Kommunikationssektor?
Auftrag gegeben. In der Leistungsbeschreibung der Vor-
Welche Schritte hat die Bundesregierung bislang unter- studie wird explizit auf den Genderaspekt hingewiesen.
nommen, um die bereits novellierte Verordnung, die soge-
nannte BITV 2, abgestimmt einzuführen, und welches weitere Die Vorstudie wird der Bundesregierung im Februar
Vorgehen plant sie?
vorliegen. Auf dieser Grundlage wird dann die Neukon-
zeption des Behindertenberichts vorbereitet. Die Bundes-
Zu Frage 53: regierung wird dabei einen Schwerpunkt auf den Gen-
Das Behindertengleichstellungsgesetz bzw. die da- deraspekt legen.
nach erlassene Barrierefreie-Informationstechnik-Ver-
ordnung waren Vorbilder für die Länder. Die meisten
Länder haben die Verordnung des Bundes eins zu eins Anlage 33
übernommen. Zur praktischen Umsetzung der Verord-
nung hat sich das BMAS an Informationsveranstaltun- Antwort
gen beteiligt oder diese selbst durchgeführt. Darüber hi- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
naus wurden bzw. werden zwei Projekte gefördert, die Fragen der Abgeordneten Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
über barrierefreie Informationstechnik mit dem Schwer- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 57 und 58):
punkt barrierefreies Internet informieren, Hilfestellun-
gen bei der Gestaltung barrierefreier Internetseiten an- Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen,
um gemäß Art. 30 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonven-
bieten sowie Standards und Prüfverfahren entwickeln, tion den Zugang zu Dokumenten, Schulbüchern, E-Books, di-
mit denen die Barrierefreiheit von Internetseiten und in- gitalen Bibliotheken und Nachschlagewerken zu sichern, und
nerbetrieblichen Intranetseiten und -anwendungen durch inwiefern wird die Bundesregierung Entwickler, Anbieter und
den sogenannten BITV-Test bundesweit einheitlich beur- Vertreiber der entsprechenden Informationssysteme, die für
teilt werden kann. die Ausbildung und berufliche Teilhabe behinderter Men-
schen unbedingt erforderlich sind, bei etwaigen Maßnahmen
beteiligen?
Zu Frage 54:
Wie möchte die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit
den Ländern sicherstellen, dass Menschen mit Behinderung
Der Entwurf der überarbeiteten Barrierefreie-Infor- gemäß Art. 30 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention
mationstechnik-Verordnung wurde den Ressorts der Bun- Zugang unter anderem zu Fernsehprogrammen, Filmen und
desregierung zur Abstimmung zugeleitet. Gegenwärtig anderen kulturellen Aktivitäten haben?
8482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) drücklich nicht ausgeschlossen. Die Bundesregierung er- schäftigten Mitarbeitern in den jeweiligen Jobcentern bei- (C)
mutigt gleichzeitig die Länder ausdrücklich zur Benen- spielsweise im Rahmen einer Schwangerschafts- oder Krank-
heitsvertretung zeitlich befristet beschäftigte Mitarbeiter
nung von eigenen Anlaufstellen für Angelegenheiten der angerechnet werden?
Durchführung der Konvention. Einige Länder haben be-
reits solche Stellen benannt. Wie in der Antwort auf Ihre schriftliche Frage im Ok-
tober 2010 – veröffentlicht in der Bundestagsdrucksache
17/3565 – dargestellt, ist es bereits langjährige Praxis,
Anlage 35 dass im Rahmen einer Elternzeit- oder Krankheitsvertre-
tung befristet beschäftigte Mitarbeiter auf die für die
Antwort Bundesagentur für Arbeit geltende Befristungsober-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die grenze angerechnet werden. Dem Bundesministerium
Frage der Abgeordneten Anette Kramme (SPD) (Druck- für Arbeit und Soziales liegen keine Angaben vor, wie
sache 17/3947, Frage 61): viele befristet beschäftigte Mitarbeiter bei der Bundesa-
gentur für Arbeit in den Jobcentern im Rahmen einer
Wie wirken sich nach den dem Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales vorliegenden Informationen die Kürzungen Schwangerschafts-, Elternzeit- oder Krankheitsvertre-
im Bundeshaushalt 2011 – im Vergleich zum Bundeshaushalt tung beschäftigt sind.
2010 – beim Eingliederungstitel – Leistungen zur Eingliede-
rung in Arbeit – und den Verwaltungskosten für die Durchfüh-
rung der Grundsicherung für Arbeitssuchende in den einzel-
nen Jobcentern bzw. Optionskommunen aus, und um welchen
Anlage 37
Betrag – absolut und prozentual – reduzieren sich die vor Ort
in dem jeweiligen Jobcenter bzw. der jeweiligen Optionskom-
Antwort
mune zur Verfügung stehenden Mittel sowohl für den Einglie- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
derungstitel als auch die für Verwaltungskosten?
Fragen der Abgeordneten Bärbel Bas (SPD) (Druck-
Es ist zutreffend, dass sich die im Bundeshaushalt für sache 17/3947, Fragen 63 und 64):
2011 zur Verfügung stehenden Eingliederungs- und Ver- Wie begründet die Bundesregierung ihre Pläne, privat
waltungsmittel im Vergleich zu den im Jahr 2010 zur Ver- krankenversicherte Empfänger von Arbeitslosengeld II, ALG
fügung stehenden Mitteln verringern werden. Der neue II, in die gesetzliche Krankenversicherung, GKV, zu überfüh-
Mittelansatz trägt einerseits den zwingenden Vorgaben ren, um das Kostendeckungsproblem zu lösen, Bericht Frank-
furter Allgemeine Zeitung vom 25. November 2010, Seite 11,
zur Reduzierung von Ausgaben des Bundes Rechnung. und warum senkt die Bundesregierung nicht den Basistarif der
Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Entwicklung privaten Krankenversicherung für ALG-II-Empfänger auf die
der Arbeitslosigkeit infolge des konjunkturellen Auf- Höhe des Zuschusses, den die Bundesagentur für Arbeit für
schwungs bisher insgesamt positiver als erwartet ausge- gesetzlich krankenversicherte ALG-II-Empfänger an die
(B) fallen ist. GKV zahlt? (D)
Was spricht aus Sicht der Bundesregierung dagegen, dass
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Jobcen- die Bundesagentur für Arbeit für privatversicherte ALG-II-
ter – gemeinsame Einrichtungen und zugelassene kom- Empfänger einen kostendeckenden Beitrag an die Kranken-
kassen überweist, und wie steht die Bundesregierung zur For-
munale Träger – auch im kommenden Jahr die Wirksam- derung, auch für gesetzlich krankenversicherte ALG-II-Emp-
keit des Mitteleinsatzes weiter steigern können. Wegen fänger den Kassen einen kostendeckenden Beitrag zu
der verbesserten Arbeitsmarktlage und dem wirtschaftli- überweisen?
cheren Mitteleinsatz erwartet die Bundesregierung, dass
trotz sinkendem Budget für Eingliederung und Verwal- Die Fragen betreffen jeweils mögliche Lösungs-
tung die Zahl der Integrationen in den ersten Arbeits- varianten zur Schließung der sogenannten Beitragslücke
markt im kommenden Jahr steigen wird. in der privaten Krankenversicherung von Arbeitslosen-
geld-II-Beziehern. Sie werden deshalb gemeinsam be-
Die genaue Höhe der Eingliederungs- und Verwal- antwortet.
tungsmittel, die den einzelnen Jobcentern im Jahr 2011
zur Verfügung stehen werden, wird erst im Rahmen der Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass diese
Eingliederungsmittel-Verordnung 2011 festgelegt. We- Beitragslücke dringend geschlossen werden muss. In
gen des Fehlens statistischer Daten können zum gegen- den Fragen werden drei grundsätzlich denkbare Lö-
wärtigen Zeitpunkt noch keine konkreten Angaben ge- sungsvarianten dargestellt. Die Bundesregierung prüft
macht werden. derzeit, welche Lösungsmöglichkeit die Interessen aller
Beteiligten am besten berücksichtigt. Die hierzu erfor-
derlichen Abstimmungen sind noch nicht abgeschlossen.
Anlage 36
Antwort Anlage 38
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die Antwort
Frage der Abgeordneten Anette Kramme (SPD)
(Drucksache 17/3947, Frage 62): des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Frage der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE
Wie wirkt es sich von der Zahl der Mitarbeiter bzw. der
Mitarbeiterstunden her – absolut und prozentual – in den ein-
LINKE) (Drucksache 17/3947, Frage 65):
zelnen Jobcentern bzw. Optionskommunen aus, dass entgegen Welche Erkenntnisse hat die Bundesministerin für Arbeit
der in der Vergangenheit üblichen Praxis auf die Obergrenze und Soziales zu der Aussage veranlasst, mit der EU-Freizü-
für den Anteil der maximal zulässigen Zahl an befristet be- gigkeit ab dem 1. Mai 2011 könnte „über ausländische Tarif-
8484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) verträge Lohndumping zu uns transportiert“ werden – Braun- Unter welchen Voraussetzungen können in Anbetracht der (C)
schweiger Zeitung, 24. November 2010, und wäre es ein momentanen Regelungen zur EU-Dienstleistungsfreiheit und
denkbarer Weg, diesem Problem mit einer Streichung des Tarif- angesichts der Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügig-
vorbehalts im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu begegnen? keit derzeit Leiharbeitsfirmen mit Sitz in den 2004 der EU
beigetretenen mittel- und osteuropäischen Ländern in
Einige Vertreter der Sozialpartner befürchten, dass es Deutschland tätig werden, und welche Anforderungen gelten
durch das Einwirken ausländischer Tarifverträge mit für die eingesetzten Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
Niedrigstlöhnen aus den neuen Mitgliedstaaten, sowie mer (bitte danach unterscheiden, welche Staatsangehörigkeit
sie haben, ob sie ihren Wohnsitz in Deutschland oder in den
die neue Möglichkeit zur Beschäftigung von Arbeitneh- Herkunftsländern haben bzw. ob sie eine Arbeitsgenehmigung
mern aus diesen Staaten bei inländischen Zeitarbeitsun- für Deutschland haben)?
ternehmen zu Lohnverwerfungen in der Branche kom- Was ändert sich bezüglich der oben geschilderten Proble-
men könnte. Die Bundesregierung beobachtet daher die matik ab dem 1. Mai 2011?
Entwicklungen in der Zeitarbeitsbranche auch vor dem
Hintergrund der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Zu Frage 67:
acht, im Jahr 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten
ab Mai 2011 sehr genau. Verleiher mit Sitz im Ausland benötigen für die Über-
lassung von Arbeitskräften nach Deutschland eine Ver-
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales hat leiherlaubnis der Bundesagentur für Arbeit, BA. Verlei-
hierzu einen Vorschlag unterbreitet und Gesprächsbereit- hern, die Betriebe, Betriebsteile oder Nebenbetriebe
schaft signalisiert. Der Vorschlag zur Einführung einer außerhalb von EWR-Staaten haben, kann eine Verleih-
Lohnuntergrenze zielt auf die Vermeidung von Lohn- erlaubnis nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz,
dumping und Missbrauch des Instruments Zeitarbeit AÜG, nicht erteilt werden. Verleiher mit Sitz in einem
zum Schutz der Branche und aller in Deutschland tätigen 2004 der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen
Zeitarbeitskräfte, unabhängig davon, ob diese bei einem Staat, EU-8, können bis 1. Mai 2011 ausschließlich Alt-
Zeitarbeitsunternehmen im In- oder Ausland angestellt Unionsbürger nach Deutschland verleihen, da insoweit
sind. die Übergangsregelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit
Allerdings ist innerhalb der Bundesregierung hierzu zu beachten sind. Allerdings können diese Verleihfirmen
noch keine abschließende Entscheidung getroffen wor- grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen wie in
den. Deutschland ansässige Verleiher von der Gleichstel-
lungsverpflichtung durch einen ausländischen Tarifver-
trag abweichen, soweit dieser bestimmten Mindestanfor-
Anlage 39 derungen an einen deutschen Tarifvertrag vergleichbar
ist. Dies folgt aus den gemeinschaftsrechtlichen Grund-
(B) Antwort freiheiten. (D)
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Frage der Abgeordneten Sabine Zimmermann (DIE Zu Frage 68:
LINKE) (Drucksache 17/3947, Frage 66): Mit dem Auslaufen der Übergangsbestimmungen
Inwiefern arbeitet derzeit die Bundesagentur für Arbeit zum 1. Mai 2011 benötigen Staatsangehörige der EU-8
– Regionaldirektionen und Agenturen – mit Leiharbeitsfirmen
zusammen, die nicht in Deutschland ansässig sind – bitte auch
für eine Beschäftigung in Deutschland keine Arbeitsge-
Form und Umfang nennen –, und wie werden die Regional- nehmigung mehr. Es ist nicht mehr möglich, bestimmte
direktionen bzw. Arbeitsagenturen ab dem 1. Mai 2011 mit Tätigkeiten inländischen Arbeitnehmern vorzubehalten
ausländischen Leiharbeitsagenturen zusammenarbeiten? oder freie Stellen mit diesen vorrangig zu besetzen.
Innerhalb der Bundesagentur für Arbeit koordiniert Auch entfällt die Überprüfung der BA auf ungünstigere
die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung, ZAV, die Arbeitsbedingungen gegenüber inländischen Arbeitneh-
Zusammenarbeit zwischen Unternehmen der Zeitarbeits- mern. Die Öffnung erfasst den bisher umfassend ausge-
branche und den Dienststellen der Bundesagentur für schlossenen Zugang von Zeitarbeitnehmern, sowohl im
Arbeit. Die Art und der Inhalt der Zusammenarbeit hat Wege der Beschäftigung bei inländischen Zeitarbeitsun-
die Bundesagentur für Arbeit in einer Musterkoopera- ternehmen als auch der grenzüberschreitenden Überlas-
tionsvereinbarung beschrieben. Die Kooperationsverein- sung aus dem EU-Ausland an inländische Entleiher.
barungen wurden nach Auskunft der Bundesagentur für
Arbeit ausschließlich mit Zeitarbeitsunternehmen mit
Betriebssitz in Deutschland geschlossen. Es bestehen Anlage 41
keine Vereinbarungen mit Unternehmen dieser Branche Antwort
mit Betriebssitz im Ausland. Auch liegen keine entspre-
chenden Anträge vor. des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die
Frage des Abgeordneten Klaus Ernst (DIE LINKE)
(Drucksache 17/3947, Frage 69):
Anlage 40 Auf welcher Grundlage geht das Vorstandsmitglied der
Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, davon aus, dass im
Antwort Zuge der am 1. Mai 2011 in Kraft tretenden Arbeitnehmerfrei-
zügigkeit „künftig jährlich zwischen 100 000 und 140 000 Ar-
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Fuchtel auf die beitskräfte“ aus den acht osteuropäischen EU-Staaten zeitwei-
Fragen des Abgeordneten Werner Dreibus (DIE lig oder dauerhaft einen Arbeitsplatz in Deutschland suchen
LINKE) (Drucksache 17/3947, Fragen 67 und 68): werden, und teilt die Bundesregierung die Auffassung von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8485
(A) Heinrich Alt, dass dies ein „Einschnitt insbesondere für die Anlage 43 (C)
neuen Länder“ darstellt (vergleiche zum Beispiel WELT
ONLINE „100.000 Arbeitskräfte aus Osteuropa erwartet“ Antwort
vom 20. November 2010)?
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Frage
Zu den Auswirkungen der vollen Freizügigkeit liegen der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE)
dem BMAS keine eigenen konkreten Erkenntnisse vor. (Drucksache 17/3947, Frage 72):
Das von Herrn Alt genannte Szenario erscheint nicht un- In welchen Ländern und in welcher Höhe werden nach
realistisch, wobei Migrationsprognosen allgemein als Kenntnis der Bundesregierung erhöhte Gebühren bzw. Steu-
schwierig und unsicher gelten. Vermutlich wird die Zu- ern für Transaktionen mit Nahrungsmitteln oder Agrarrohstof-
wanderung aus den EU-8 zwar steigen, jedoch ist kein fen erhoben?
„Ansturm“ zu erwarten. Hiergegen sprechen auch Er- Zu dieser Fragestellung liegen der Bundesregierung
fahrungen anderer Mitgliedstaten und Entwicklungen in keine Erkenntnisse vor.
der Übergangszeit – wirtschaftlicher Aufholprozess der
neuen Mitgliedstaaten; Wanderung in andere Mitglied-
staaten; Nutzung bisheriger Zugangswege nach Deutsch- Anlage 44
land. Nicht abschließend voraussagen lässt sich jedoch,
inwieweit sich die Verschlechterung der wirtschaftlichen Antwort
Lage in den bisher bevorzugten Zielländern – Großbri-
tannien, Irland – sowie die noch bestehenden Lohnunter- des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die
schiede auf das Wanderungsverhalten auswirken Fragen des Abgeordneten Omid Nouripour (BÜND-
können. Konkrete Aussagen über die Arbeitsmarktent- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 73):
wicklung in Ostdeutschland lassen sich vor diesem Hin- Wie ist die Beschaffung des A400M für die Bundeswehr
bis 2014 und dessen volle Einsatzbereitschaft im Jahr 2018
tergrund derzeit nicht treffen. mit der Aussage des Bundesministers der Verteidigung ent-
sprechend seinen Äußerungen anlässlich der Bundeswehrta-
Das BMAS ist weiter der Auffassung, dass eine ge- gung 2010 in Dresden vereinbar, wonach jeder Rüstungs- und
wisse Steigerung der Attraktivität Deutschlands für Be- Beschaffungsprozess vom Ziel her zu betrachten ist, und wel-
schäftigungen mit mittlerem Qualifikationsniveau, die che Alternativen zum Beschaffungsprojekt A400M wurden
eine Berufsausbildung voraussetzen, durch Wegfall der geprüft?
Vorrangprüfung eintreten kann. Für Hochqualifizierte Es ist gegenwärtig noch nicht endgültig entschieden,
mit Hochschulabschluss dürfte die volle Freizügigkeit wann und mit welchem Inhalt das Kabinett mit dem
wenig Auswirkungen haben, da diese Personengruppe Thema Bundeswehrreform befasst werden soll.
bereits heute nahezu die volle Freizügigkeit hat.
(B) (D)
Anlage 45
Anlage 42
Antwort
Antwort
des Parl. Staatssekretärs Christian Schmidt auf die Frage
des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerd Müller auf die Fragen des Abgeordneten Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE
der Abgeordneten Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 74):
GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 70 und 71): Welche konkreten Punkte der geplanten Bundeswehrre-
Welche Pläne für die Rechte an der Marke „Informations- form sollen am 9. Dezember 2010 durch das Kabinett der
dienst Holz“, die der Holzabsatzfonds gehalten hat, hat die Bundesregierung beschlossen werden, und wann plant die
Bundesregierung im Zusammenhang mit der Abwicklung des Bundesregierung den Deutschen Bundestag über die konkre-
Holzabsatzfonds? ten Inhalte zu informieren?
Führen die Pläne der Bundesregierung unter Umständen Die aktuellen Anforderungen an Material und Aus-
dazu, dass die Nutzung der Marke durch die Forst- und Holz- rüstung aus den Einsätzen erfordern schnellere Entwick-
wirtschaft, die den Wert dieser Marke in den zurückliegenden
Jahrzehnten durch eigene finanzielle Beiträge geschaffen hat,
lungs- und Beschaffungsprozesse. Dieses entspricht
womöglich nur gegen eine Nutzungsgebühr möglich ist oder auch der Beurteilung der Strukturkommission, die Emp-
die Marke von ihr meistbietend erworben werden muss? fehlungen hierzu ausgesprochen hat.
Im Falle des von Ihnen angesprochenen A400M han-
Zu Frage 70:
delt es sich um ein laufendes Projekt, mit dem nun
Der Holzabsatzfonds ist verpflichtet, seine Vermö- – trotz der bedauerlichen Programmverzögerungen – die
gensgegenstände bestmöglich zu verwerten. Das gilt bestehende Fähigkeitslücke zügig geschlossen wird. Die
grundsätzlich auch für die Marke „Informationsdienst Transportluftfahrzeuge A400M werden bereits bei Aus-
Holz“. lieferung in vorläufigen Standards über nutzbare Fähig-
keiten insbesondere im strategischen Einsatzspektrum
Zu Frage 71: verfügen. Die in der Vergangenheit von der Industrie un-
terschätzte Komplexität des Projekts macht diesen ge-
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einer Verwer- stuften Fähigkeitsaufwuchs erforderlich. Der Luftwaffe
tung von Vermögensgegenständen im Rahmen eines werden daher auch bereits vor dem Jahr 2018 Fähigkei-
Bieterverfahrens ein angemessener Preis ermittelt und ten mit A400M bereitstehen, die über das derzeitige
vom Erwerber auch zu entrichten ist. Spektrum hinausgehen.
8486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Vor der Entscheidung zur Realisierung des Transport- tendem Recht auf zwei Jahre gestreckt haben, und ist das (C)
luftfahrzeugs A400M im Jahr 2003 wurden Unter- Fehlen eines Bestandsschutzes nach Auffassung der Bundes-
regierung rechtskonform?
suchungen zu Alternativen durchgeführt. Diese Unter-
suchungen umfassten sowohl die Deckung der Stellt die Bundesregierung sicher, dass diejenigen Eltern-
geldbezieherinnen und -bezieher, die von der Möglichkeit des
Fähigkeitslücke über eine Mischflotte, als auch die Be- Widerspruches Gebrauch machen und die Streckung des El-
schaffung der Antonov AN 70. Die Entscheidung für terngeldes auf 24 Monate rückgängig machen, ihre bestehen-
den A400M war nicht unerheblich von sicherheitspoliti- den Ansprüche im Bezugsjahr 2010 auch in voller Höhe unab-
schen sowie wirtschafts-, rüstungs- und europapoliti- hängig vom Zeitpunkt der Zahlung erhalten können, und,
wenn nein, warum nicht?
schen Argumenten geprägt. In der Gesamtbetrachtung
wurde die bereits im Jahr 2000 angekündigte und im
Jahr 2003 getroffene Entscheidung auf A400M als dem Zu Frage 76:
bedeutendsten europäischen Rüstungsprojekt bestätigt. Die Bundesregierung hat sich vor dem Hintergrund
der Einsparbemühungen im Rahmen des Haushaltsbe-
gleitgesetzes entschieden, von einer Stichtagsregelung,
Anlage 46 nach der die Änderungen erst für Geburten ab 1. Dezem-
ber 2011 wirksam würden, abzusehen. Ändern sich bei
Antwort
einer laufenden Leistung die rechtlichen Verhältnisse für
des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die die Zukunft, sind Vertrauenschutzgesichtspunkte nicht
Frage der Abgeordneten Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ verletzt.
DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 75):
Wie ist der Stand der Erarbeitungen zu „Optionen für eine Zu Frage 77
Neugestaltung der Verantwortungsbereiche von Kinder- und
Jugendhilfe und Sozialhilfe“, und welche Ergebnisse ergab Die Bundesregierung prüft die Nichtberücksichtigung
die intensive Prüfung einer „Zuständigkeitskonzentration bei nachgezahlter Elterngeldbeträge wegen Widerrufs der
der Kinder- und Jugendhilfe“ – sogenannte große Lösung –, Verlängerungsoption als Einkommen in der Grundsiche-
welche die Bundesregierung Bezug nehmend auf Kinder und rung für Arbeitsuchende auf gesetzlicher oder unterge-
Jugendliche mit und ohne Behinderung in ihrer Stellung-
nahme zum 13. Kinder- und Jugendbericht angekündigt hat? setzlicher Ebene für Fälle, in denen Beträge für Lebens-
monate, die vor dem 1. Januar 2011 begonnen haben, erst
Das Bundesfamilienministerium und das Bundes- nach dem 31. Dezember 2010 nachgezahlt werden, wenn
arbeitsministerium arbeiten eng zusammen und bringen der Widerruf bis zum 31. Dezember 2010 erfolgte.
sich aktiv in die neue gemeinsame Arbeitsgruppe der Ar-
beits- und Sozialministerkonferenz, ASMK, und der Ju-
(B) gend- und Familienministerkonferenz, JFMK, ein, die Anlage 48 (D)
sich unter Beteiligung der kommunalen Spitzenver-
bände, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landes- Antwort
jugendämter und der Bundesarbeitsgemeinschaft der des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Fragen der
überörtlichen Sozialhilfeträger im neuen Jahr vertieft mit Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
der Thematik befassen wird. Die Arbeitsgruppe wird DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 80 und 81):
2011 der ASMK und der JFMK einen qualifizierten
Inwieweit sind nach Ansicht der Bundesregierung pflege-
Zwischenbericht vorlegen. bedürftige Menschen nach dem Elften Buch Sozialgesetz-
Bei der Zusammenführung der Eingliederungshilfe buch, SGB XI, auch Menschen mit Behinderung nach der
UN-Behindertenrechtskonvention, und wie wird sicherge-
für behinderte Kinder und Jugendliche unter dem Dach stellt, dass die für das Jahr 2011 angekündigte Pflegereform
des SGB VIII – der sogenannten großen Lösung – han- und die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs den
delt es sich um ein großes und schwieriges Projekt, das Inhalten der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht?
mit erheblichen finanziellen, personellen und strukturel- Wie möchte die Bundesregierung die Schnittstellenpro-
len Verschiebungen verbunden wäre. Die Realisierung bleme zwischen dem SGB XI und dem SGB XII beheben, die
der Großen Lösung würde eine immense Herausforde- sich unter anderem in der Regelung zu § 43 a SGB XI wider-
spiegeln, wonach Bewohnerinnen und Bewohnern stationärer
rung, insbesondere für die Kommunen als örtliche Trä- Einrichtungen der Eingliederungshilfe die umfängliche Inan-
ger der Kinder- und Jugendhilfe darstellen. Daher ist das spruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI erschwert
Vorhaben auch im Kontext mit den Arbeiten der Ge- wird, und inwiefern wird die Bundesregierung einen neuen
meindefinanzkommission zu sehen. Pflegebedürftigkeitsbegriff vorschlagen, der diese existieren-
den Schnittstellenprobleme beseitigt?
(A) Zum jetzigen Zeitpunkt ist es jedoch noch zu früh, die Gesundheitsdienstleistungen „so gemeindenah wie mög- (C)
Frage nach der Verbindung des Pflegebedürftigkeitsbe- lich“ anzubieten.
griffs mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu be-
antworten. Die 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat
festgestellt, dass die Weiterentwicklung der Eingliede-
Zu Frage 81: rungshilfe ihre volle Wirkung nur dann entfalten kann,
wenn sie sozialräumlich unterstützt wird. Daher ist es für
Es sind noch keinerlei Festlegungen über die Inhalte die 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz bedeutsam,
einer Pflegereform getroffen worden, sodass über Maß- die inklusive Sozialraumgestaltung zu fördern. Deshalb
nahmen im Einzelnen noch keine Auskunft gegeben hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe im Rahmen der
werden kann. Unterarbeitsgruppe IV „Ambulante Wohnformen/Am-
bulantisierung/Bedingungen für ein selbstbestimmtes
Leben“ ein Begleitprojekt „Förderung der inklusiven So-
Anlage 49 zialraumgestaltung“ initiiert. Im Rahmen dieses Begleit-
Antwort projektes wurde auch die Förderung der inklusiven So-
zialraumgestaltung in den Landkreisen thematisiert.
des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage der
Abgeordneten Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 82): Anlage 51
Welche Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung
von Menschen mit Behinderung sind der Bundesregierung be- Antwort
kannt, und wie verhalten sich diese zum „Recht auf ein
erreichbares Höchstmaß an Gesundheit, Habilitation und Re- des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage der
habilitation“ gemäß den Art. 24 und 26 der UN-Behinderten- Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE)
rechtskonvention? (Drucksache 17/3947, Frage 84):
Menschen mit Behinderungen haben zum Teil spezifi- Welche Konsequenzen und welcher gesetzgeberische
sche Bedürfnisse und Bedarfe in der gesundheitlichen Handlungsbedarf – wie vom Patientenbeauftragten der Bun-
Versorgung. Dem wird in der gesetzlichen Krankenversi- desregierung, Wolfgang Zöller, bei den Rosenthaler Gesprä-
chen des AOK-Bundesverbandes geäußert und bei einem
cherung Rechnung getragen. Das Fünfte Buch Sozialge- Scheitern der Gespräche der Selbstverwaltung ab Ende No-
setzbuch sieht ausdrücklich in § 2a vor, dass den beson- vember 2010 angekündigt; vergleiche Ärzte Zeitung online
deren Belangen chronisch Kranker und behinderter vom 12. November 2010 – ergeben sich für die Bundesregie-
Menschen Rechnung zu tragen ist. Adressat dieser Rege- rung aus der neuerlichen Entwicklung, die zum Abbruch der
Gespräche zu den Pflegetransparenzvereinbarungen führte,
(B) lung sind dabei insbesondere die für die konkrete Leis- vergleiche Pressemitteilung des Bundesministeriums für Ge- (D)
tungserbringung Verantwortlichen, also alle Leistungser- sundheit vom 24. November 2010, und daraus, dass keine,
bringer und die Krankenkassen. Diese haben bei ihrer wie in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die
konkreten Tätigkeit darauf zu achten, dass die Belange Linke „Transparenz der Pflegequalität“, Bundestagsdrucksa-
behinderter Menschen im Sinne von mehr Teilhabe be- che 17/3372 zu Frage 9 beschriebene, konstruktive und ziel-
führende Mitarbeit aller Vereinbarungspartner der Pflege-
rücksichtigt werden. Dies entspricht den Anforderungen Transparenzvereinbarung ambulant und stationär – PTVA,
der Art. 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonven- PTVS – zu erwarten ist, welche aber für eine Weiterentwick-
tion. lung der sogenannten Pflegenoten auf Grundlage des Einstim-
migkeitsprinzips notwendig ist?
(A) SGB V für Arzneimittel, die Therapiestandard für die Deutschen Bundestag jüngst beschlossenen ausgabenbe- (C)
Behandlung schwerwiegender Erkrankungen sind. Eine grenzenden Regelungen in der GKV keinerlei Erhöhun-
Krankheit ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich gen von Zuzahlungen oder Praxisgebühren oder Ein-
ist oder wenn sie auf Grund der Schwere der durch sie schränkungen des Leistungskatalogs vorsehen.
verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf
Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Ein Arzneimittel gilt als
Therapiestandard, wenn der therapeutische Nutzen zur Anlage 54
Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem all-
gemein anerkannten Stand der medizinischen Erkennt- Antwort
nisse entspricht. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat
eine verbindliche Liste von Wirkstoffen in nicht ver- des Parl. Staatssekretärs Daniel Bahr auf die Frage der
schreibungspflichtigen Arzneimitteln erstellt, die als Abgeordneten Dr. Martina Bunge (DIE LINKE)
Standardtherapeutika bei bestimmten Erkrankungen (Drucksache 17/3947, Frage 88):
weiter verordnet werden dürfen. Diese Liste wird regel- Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem Ge-
mäßig überprüft und an neue Erkenntnisse angepasst. spräch des Bundesministers für Gesundheit mit Hebammen-
vertreterinnen am 9. November 2010, und welche konkreten
Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die Honorar-
Grundsätzlich werden rezeptfreie Arzneimittel somit situation der Hebammen – bitte die Maßnahmen mit einem
von den Krankenkassen gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Zeitplan vorlegen – zu verbessern?
SGB V nicht bezahlt. Damit ist nicht in jedem Falle eine
höhere finanzielle Belastung verbunden, denn für ver- Da der Bundesminister für Gesundheit, BMG, die
schreibungspflichtige Arzneimittel auf Kassenrezept ist Sorgen der in der Geburtshilfe tätigen freiberuflichen
mindestens eine Zuzahlung in Höhe von 5 Euro zu leis- Hebammen sehr ernst nimmt, hat er am 9. November
ten. Daneben können Versicherte aufgrund der Preisfrei- 2010 mit Vertreterinnen der Hebammenverbände erneut
gabe bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein Gespräch über die aktuelle Situation geführt. Als Er-
durch Preisvergleiche bei verschiedenen Apotheken oder gebnis dieses Gespräches wurde unter anderem verein-
Internetapotheken auch durch den Austausch in ver- bart, zu den Auswirkungen der gestiegenen Haftpflicht-
gleichbare, günstigere Arzneimittel weitere Kosten spa- prämien auf die Vergütungssituation der Hebammen und
ren. die Versorgung mit Hebammenleistungen zunächst die
Datengrundlage zu verbessern. Hierzu wird das Bundes-
ministerium für Gesundheit in enger Abstimmung mit
Zu Frage 87:
den Hebammenverbänden ein entsprechendes Gutachten
Der Bundesregierung ist der Weltgesundheitsbericht erstellen lassen, um Details zu den mit der Prämienerhö-
(B) 2010 der Weltgesundheitsorganisation, WHO, bekannt. hung in Zusammenhang stehenden Vergütungs- und Ver- (D)
In ihrem diesjährigen Weltgesundheitsbericht legt die sorgungsfragen zu ermitteln.
WHO dar, wie Länder die Finanzierung der Gesund-
Um die Behandlungsposition der Hebammen bei
heitsversorgung so gestalten können, dass schnellere künftigen Vergütungsverhandlungen zu stärken und eine
Fortschritte auf dem Weg zu universeller Absicherung stärkere Berücksichtigung der Haftpflichtprämien bei
im Krankheitsfall möglich sind bei gleichzeitiger nach- den Gesamtkosten der Hebammen zu erreichen, wird zu-
haltiger Sicherung bereits erzielter Erfolge. dem im Rahmen des für 2011 anstehenden Gesetzes zur
Als weltweit großes Hindernis auf dem Weg zu uni- Verbesserung der ambulanten Versorgung auch eine Än-
verseller Absicherung im Krankheitsfall sieht die WHO derung des § 134 a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
die in vielen Ländern bestehende Abhängigkeit von Di- (SGB V) geprüft.
rektzahlungen im Moment der Inanspruchnahme medizi-
nischer Versorgung und das grundsätzliche Fehlen von
Risikoteilungs- und Vorauszahlungsansätzen. Der Welt- Anlage 55
gesundheitsbericht spricht sich nicht gegen begrenzte
Antwort
Zuzahlungen, Eigenanteile, Selbstbehalte und sonstige
Gebühren aus. Die WHO weist darauf hin, dass diese des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Fragen des
Zahlungsformen weniger als 15 bis 20 Prozent der ge- Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE
samten Gesundheitsausgaben eines Landes ausmachen GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 89 und 90):
sollten, um finanzielle Katastrophen und Verelendung
Welche Untersuchungen umfasst die kürzlich vorgestellte
infolge direkter Zahlung nicht erstatteter Behandlungs- Bedarfsplanüberprüfung durch das Bundesministerium für
kosten abzuwenden. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung neben den bereits veröf-
fentlichten Berichten, und welche Kosten haben diese Unter-
Daten der OECD belegen, dass Zuzahlungen und pri- suchungen verursacht?
vate Ausgaben für die Gesundheit in Deutschland im in- In welcher Form soll das für Einzelprojekte des Bedarfs-
ternationalen Vergleich sehr moderat ausfallen und deut- plans Straße vorgesehene Projektmanagement ablaufen, das
lich unter den oben genannten Werten liegen. In Entwicklungsprozesse zu Projektnutzen und -kosten kontinu-
Deutschland betragen die Zuzahlungen (einschließlich ierlich beobachtet und bewertet (vergleiche Schlussbericht
Fernstraßen, veröffentlicht durch das Bundesministerium für
der Praxisgebühr), die in der GKV erhoben werden, le- Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am 11. November 2010),
diglich rund 2,8 Prozent der dort anfallenden Gesamt- und aus welchem Grund wurde die Veröffentlichung der Be-
ausgaben. Die Fragestellung verkennt, dass die vom darfsplanüberprüfung erst jetzt vorgestellt?
8490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Zu Frage 89: vereitelten Anschlägen mit Luftfrachtbomben hat das (C)
Luftfahrt-Bundesamt unangekündigte Kontrollen bei
Neben den bereits veröffentlichten Berichten zur Luftfrachtunternehmen verstärkt durchgeführt. Dazu ge-
Überprüfung der Bedarfspläne für die Bundesschienen- hören sowohl die großen Versender als auch kleinere
wege und die Bundesfernstraßen umfassen die Bedarfs- Unternehmen aus ganz Deutschland. Bis zum 24. No-
planüberprüfungen keine weiteren Untersuchungen. Für vember 2010 wurden insgesamt 63 bekannte Versender
die Bedarfsplanüberprüfung waren für den Teil Straße durch das Luftfahrt-Bundesamt überprüft. Mit unange-
gutachterliche Leistungen in Höhe von rund 115 000 Euro meldeten Besuchen wollen wir Schwachstellen aufspü-
erforderlich, für den Teil Schiene in Höhe von rund ren und umgehend beseitigen. Unternehmen, die unseren
1,4 Millionen Euro. Sicherheitsauflagen nicht genügen, wird die Lizenz ent-
zogen. Wir wollen die Sicherheit der Lieferkette weiter
Zu Frage 90: verbessern – gemeinsam mit den Unternehmen.
Primäre Aufgabe eines Projektmanagements ist die Die festgestellten Mängel waren in 23 Fällen leichter
Schaffung von Kostentransparenz in den einzelnen Pha- sowie in fünf Fällen mittlerer Natur:
sen der Straßenplanung und Baudurchführung und eine
realitätsnähere Einschätzung entstehender Kosten. Das In 19 Fällen erfolgte die Vorlage von Schulungsnach-
Kostenmanagement soll langfristig als Planungsinstru- weisen der Mitarbeiter nicht wie vorgeschrieben (leich-
ment und Instrument der Erfolgskontrolle nutzbar ge- ter Mangel), in vier Fällen wurden organisatorische
macht werden. Maßnahmen zu Verbesserung des Zugangs zur Betriebs-
stätte gefordert (leichter Mangel), in zwei Fällen waren
Im Einzelnen ist vorgesehen:
die Lagerräume von Luftfracht während der Betriebszei-
Verbesserung der Kostenschätzungen für einen zu- ten nicht ordnungsgemäß verschlossen (mittlerer Man-
künftigen Bundesverkehrswegeplan und den Bedarfs- gel), in einem Fall fehlte der Nachweis einer Zuverläs-
plan für die Bundesfernstraßen durch ein qualifiziertes sigkeitsüberprüfung (mittlerer Mangel), in zwei Fällen
Projektmeldeverfahren sowie durch Kosten-Nutzen-Be- wurden bauliche Veränderungen eingefordert (mittlerer
rechnungen auf der Basis aktueller Marktpreise. Mangel).
Kontinuität der Kostenkontrolle durch die Vorgabe ei- Den Unternehmen wurde auferlegt, die Unzulänglich-
ner klaren Kostenstruktur, die von der Bedarfsplanung keiten unverzüglich abzustellen.
bis zur Fertigstellung eines Vorhabens gespannt werden
soll, um die Nachvollziehbarkeit der Kostenentwicklung Die leichten Mängel geben keinen ernsthaften Anlass
(B) eines Projektes zu gewährleisten. zur Sorge und können kurzfristig behoben werden. Auch (D)
bei den mittleren Mängeln konnten durch strenge Aufla-
Kostenprüfstationen sollen zukünftig noch stärker mit gen bis zur endgültigen Behebung sichere Übergangslö-
Genehmigungs- bzw. Freigabeschritten in der Planung sungen, wie zum Beispiel die Bewachung der Fracht,
und Bauvorbereitung gekoppelt werden und sich auch umgesetzt werden. Darüber hinaus wird die Aufsichtstä-
auf die Bauausführung und Abrechnung beziehen, so- tigkeit des LBAs über die betroffenen Unternehmen ver-
dass eine Kontinuität in der Kostenermittlung vom Be- stärkt.
darfsplan bis zur Abrechnung gegeben ist.
Die Überprüfung der Bedarfspläne ist unmittelbar vor
ihrer Vorstellung abgeschlossen worden. Anlage 57
Antwort
Anlage 56 des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des
Abgeordneten Hans-Joachim Hacker (SPD) (Druck-
Antwort sache 17/3947, Frage 93):
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Fragen der Wann beabsichtigt die Bundesregierung vor dem Hinter-
Abgeordneten Ulrike Gottschalck (SPD) (Drucksache grund der Entscheidung deutscher Luftfahrtunternehmen,
17/3947, Fragen 91 und 92): Flugverbindungen und Flugflotten zu verringern, sowie des
Ausbaustopps für den Flughafen Hahn die offensichtlich ne-
Wie konkret greift der Bundesminister für Verkehr, Bau gativen Auswirkungen der als „Insellösung“ gestalteten deut-
und Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, gegen Sicherheits- schen Luftverkehrsteuer auf ihre Wirkung hin zu untersuchen,
mängel im Luftfrachtbereich durch sogenannte bekannte Ver- und welche Kriterien wird sie dafür zugrunde legen?
sender durch, und wie viele der 65 000 „bekannten Versen-
der“ wurden bisher durch das Luftfahrt-Bundesamt, LBA, auf Die Bundesregierung wird die Auswirkungen der
Sicherheitstauglichkeit überprüft?
Luftverkehrsteuer auf die Luftverkehrswirtschaft auf-
Wie vielen „bekannten Versendern“ wurde die Sicher- merksam beobachten. Gemäß § 19 Abs. 4 Luftverkehr-
heitslizenz entzogen, und wie viele „bekannte Versender“
wurden mit welchen Maßnahmen abgemahnt?
steuergesetz legt die Bundesregierung dem Deutschen
Bundestag bis zum 30. Juni 2012 einen Bericht über die
Deutschland erfüllt bei der Luftfrachtsicherheit hohe Auswirkungen der Einführung des Luftverkehrsteuerge-
Standards. Dennoch müssen wir wachsam bleiben, um setzes auf den Luftverkehrssektor und die Entwicklung
größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Nach den der Steuereinnahmen aus der Luftverkehrsteuer vor.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8491
(A) Anlage 58 schluss. Die Veröffentlichung ist Anfang des Jahres 2011 (C)
zu erwarten.
Antwort
Die Herstellung der Barrierefreiheit nach dem Pro-
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des Ab- gramm aus dem Jahre 2005 umfasste eine Vielzahl von
geordneten René Röspel (SPD) (Drucksache 17/3947, Maßnahmen, die in der Regel in größere Baumaßnah-
Frage 94): men oder die Gestaltung von Fahrzeugen integriert sind
Welche Konsequenzen oder Probleme hätten bei der Ha- und in diesen Fällen in der Rechnungslegung nicht sepa-
varie der Ostseefähre „Lisco Gloria“ entstehen können oder rat ausgewiesen werden. Eine Auflistung der anteiligen
könnten bei einem vergleichbaren Unglück entstehen – so-
wohl für das Brückenbauwerk wie auch für den Schifffahrts-
Investitionen bei Bahnanlagen und Fahrzeugen zur Her-
verkehr –, wenn die Fehrmarnbelt-Querung bereits existiert stellung der Barrierefreiheit im Bahnverkehr der letzten
hätte? fünf Jahre mit Angaben über den Anteil an Bundesmit-
teln bei der Finanzierung liegt der Bundesregierung da-
Hypothetische Fragen werden von der Bundesregie- her nicht vor. Im Übrigen erhält die Deutsche Bahn AG
rung nicht beantwortet. keine Bundesmittel für die Beschaffung von Fahrzeugen.
Anlage 59 Anlage 61
Antwort Antwort
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des Ab- der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
geordneten Heinz Paula (SPD) (Drucksache 17/3947, Frage des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND-
Frage 95): NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 97):
Wird das Programmgebiet Augsburg des Bundesprogram- Wie bewertet die Bundesregierung die Äußerung des Bun-
mes „Soziale Stadt“ trotz der beschlossenen Haushaltskürzun- desministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
gen auch über das Jahr 2010 hinaus weiterhin mit Mitteln des Dr. Norbert Röttgen: „Wir waren geistig nicht ausreichend
Bundes gefördert und, wenn ja, in welchem Umfang? aufs Regieren vorbereitet, wir nicht, und zusammen mit der
FDP schon gar nicht“ (Stern vom 25. November 2010, dapd
Die Bundesregierung bekennt sich im Rahmen ihrer vom 24. November 2010)?
finanziellen Möglichkeiten ausdrücklich zur Städte-
bauförderung und möchte die Kommunen auch in Zu- Bei der Äußerung im Stern vom 25. November 2010
kunft bei der Bewältigung des wirtschaftlichen, sozialen, handelt es sich um eine private und parteipolitische Äu-
demografischen und ökologischen Wandels unterstützen. ßerung, die nicht der Bewertung durch die Bundesregie-
(B) Nach Maßgabe der aktuellen Beschlusslage wird der rung unterliegt. (D)
Bund den Ländern entsprechende Finanzhilfen in Höhe
von insgesamt 455 Millionen Euro für das Jahr 2011 be-
reitstellen. Bund und Länder werden der guten partner- Anlage 62
schaftlichen Tradition folgend gemeinsam mit den kom- Antwort
munalen Spitzenverbänden die Umsetzung des durch
den Deutschen Bundestag beschlossenen Mittelumfan- der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
ges intensiv erörtern. Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 98):
Hierbei wird die Verantwortung über die Fördermit-
Welches Schiff soll nach Informationen der Bundesregie-
telzuweisung zugunsten der einzelnen Kommunen auf- rung für den möglichen Seetransport von hochradioaktiven
grund ihrer originären Aufgabenzuständigkeit jedoch in Brennelementen von Ahaus in das russische Majak genutzt
der alleinigen Hand der Länder liegen. werden, und wie bewertet sie dabei die Sicherheit des mögli-
chen Transportschiffs „MCL Trader“, welches am 17. Mai
2008 aufgrund von Trunkenheit des Kapitäns auf eine Sand-
bank vor Bornholm auflief?
Anlage 60
Es ist zutreffend, dass in der vom Bundesamt für
Antwort Strahlenschutz, BfS, am 23. September 2010 erteilten
des Parl. Staatssekretärs Jan Mücke auf die Frage des Beförderungsgenehmigung als Beförderungsmittel das
Abgeordneten Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE Seeschiff „MCL Trader“ eingetragen ist. Für dieses
GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 96): Schiff wurden vom Antragsteller dem BfS alle notwen-
digen Unterlagen, insbesondere das erforderliche „INF-
Ist der Bundesregierung bekannt, wann die Deutsche Bahn Zertifikat“, vorgelegt.
AG ein zweites Eisenbahnprogramm nach dem Behinderten-
gleichstellungsgesetz bzw. der Eisenbahn-Bau- und Betriebs- Was die Zuverlässigkeit des Personals betrifft, ist
ordnung vorlegen wird, und wie hoch war der Anteil an
Bundesmitteln – Auflistung der letzten fünf Jahre – bei der Fi-
durch eine Nebenbestimmung in der Beförderungsge-
nanzierung von Investitionen zur Herstellung der Barrierefrei- nehmigung geregelt, dass durch eine schriftliche Bestäti-
heit im Bahnverkehr? gung die Zuverlässigkeit der verantwortlichen Personen
beim Seetransport nachgewiesen ist.
Nach Auskunft der Deutsche Bahn AG stehen ihre Ar-
beiten zum zweiten Programm gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 ff. Im Übrigen steht das Seeschiff „MCL Trader“ derzeit
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung kurz vor dem Ab- aus betrieblichen Gründen nicht zur Verfügung. Die Ver-
8492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) wendung eines geeigneten Schiffs einer dänischen Ree- Anlage 65 (C)
derei wurde beantragt.
Antwort
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
Anlage 63 Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜND-
Antwort NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 101):
Liegen der Bundesregierung Abschätzungen vor, ob eine
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die intensivere Anwendung des § 37 des Erneuerbare-Energien-
Frage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜND- Gesetzes, EEG, absehbar zu einer höheren EEG-Umlage füh-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 99): ren könnte, und, falls ja, auf welche Höhe belaufen sich diese
Abschätzungen?
Plant das BMU, sich vor seiner Entscheidung über den be-
antragten Transport der 951 abgebrannten Rossendorfer Die Auswirkungen der Inanspruchnahme von § 37
Brennelemente von Ahaus ins russische Majak vor Ort, also Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, „Grünstromprivi-
in Majak, ein Bild von den Verhältnissen zu machen – gege-
benenfalls auch durch Institutionen wie die Gesellschaft für
leg“, auf die EEG-Umlage hängen zum einen davon ab,
Anlagen- und Reaktorsicherheit –, und bis wann will die Bun- für welches Potenzial an Strom aus erneuerbaren Ener-
desregierung nach aktueller Planung spätestens über die Ge- gien mit Anspruch auf EEG-Vergütung bei einer be-
nehmigung des Transports entscheiden? stimmten Höhe der Umlage eine Nutzung von § 37 EEG
wirtschaftlich wäre, und zum anderen vom Grad der tat-
Die hier angesprochene Thematik wurde heute, am
sächlichen Nutzung dieses Potenzials. Prognos und das
1. Dezember 2010, ausführlich im Ausschuss für Um-
Institut für Energie Leipzig gehen in ihren Studien, die
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Deutschen
der Festsetzung der EEG-Umlage 2011 durch die Über-
Bundestages beraten.
tragungsnetzbetreiber zugrunde liegen, bei einer Umlage
Für das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz von 3,53 Cent/Kilowattstunde, ct/kWh, von einem Poten-
und Reaktorsicherheit, BMU, ist entscheidend das Vor- zial von rund 37 Terawattstunde, TWh, EEG-Strom aus,
liegen der schadlosen Verwertung. Das BMU braucht, der im Rahmen des Grünstromprivilegs wirtschaftlich
um dies bejahen zu können, – neben dem Gutachten der genutzt werden könnte. Unter der Annahme, dass dieses
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit mbH, Potenzial zu etwa einem Drittel genutzt wird, und be-
GRS, und weiteren Berichten – auch ein Bild der örtli- rücksichtigend, dass durch das 50-Prozent-Kriterium in
chen Verhältnisse. Über den Zeitpunkt der Entscheidung § 37 EEG theoretisch die doppelte Strommenge in den
insbesondere zur Erteilung der Genehmigung nach der Genuss der Befreiung von der Umlage kommen kann,
setzen sie für 2011 eine Strommenge von 24,66 TWh als
(B) Atomrechtlichen Abfallverbringungsverordnung, AtAV, umlagebefreit nach § 37 EEG an. Dadurch wird der
(D)
können noch keine Aussagen getroffen werden.
nichtprivilegierte Letztverbrauch, auf den die EEG-Dif-
ferenzkosten umgelegt werden, entsprechend reduziert,
Anlage 64 sodass die EEG-Umlage für die Betroffenen steigt. Die-
ser Effekt beträgt nach den Prognosen der Übertragungs-
Antwort netzbetreiber 2011 erst etwa 0,1 ct/kWh. Es ist aber
davon auszugehen, dass bei Konstanz der aktuellen
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die rechtlichen Rahmenbedingungen das unter § 37 EEG
Frage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (BÜND- nutzbare Potenzial nach und nach tatsächlich ausge-
NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 100): schöpft wird. Hinzu kommt, dass dieses Potenzial mit
Hat der zuständige Abteilungsleiter des Landes Schles- steigender Umlage weiter steigen würde.
wig-Holstein dem Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit, BMU, seine Vorbehalte im Hin- In ihrer am 15. November 2010 vorgelegten Mittel-
blick auf die Bund-Länder-Nachrüstliste für Atomkraftwerke fristprognose rechnen die Übertragungsnetzbetreiber ent-
nach dem 5. September 2010 per Brief, Fax oder E-Mail mit- sprechend bis 2015 mit einer aufgrund von § 37 EEG
geteilt – bitte mit Angabe des Datums –, und liegen dem
BMU aus einzelnen Bundesländern bereits erste Informatio- umlagebefreiten Strommenge von 76 TWh, das heißt
nen zum tatsächlichen Nachrüstbedarf einzelner Anlagen etwa einer Verdreifachung gegenüber 2011. Die hieraus
ganz konkret – es wird um eine klare Aussage gebeten und resultierende Erhöhung der EEG-Umlage könnte – je
nicht um einen erneuten Verweis auf Bundestagsdrucksache nach Entwicklung der sonstigen umlagerelevanten Para-
17/3394, Frage 1 – im Zusammenhang mit den in der Liste
enthaltenen Maßnahmen vor oder nicht?
meter – durchaus eine Größenordnung von etwa 0,5 ct/kWh
erreichen.
Ja, der zuständige Abteilungsleiter des Landes
Schleswig-Holstein hat dem Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, BMU, Anlage 66
seine Vorbehalte im Hinblick auf die Bund-Länder-
Nachrüstliste für Atomkraftwerke am 10. September Antwort
2010 per E-Mail mitgeteilt.
der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die
Im Rahmen der Diskussion der Liste hat ein Bundes- Fragen der Abgeordneten Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
land erste Informationen zum Umsetzungsbedarf über- DIE GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 102
mittelt. und 103):
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8493
(A) Kann die Bundesregierung ausschließen, dass die gehäuf- Bereits im Studienjahr 2009 lagen die tatsächlichen (C)
ten Krebsfälle in der Umgebung des Forschungsendlagers Studienanfängerzahlen deutlich oberhalb der dem Hoch-
Asse II auf die dortige Atommülllagerung zurückzuführen
sind? schulpakt zugrunde liegenden KMK-Prognose. Bund und
Länder haben darauf reagiert und entsprechende finanzi-
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
Erkenntnissen über gehäufte Krebsfälle in der Nähe der Asse II? elle Vorsorge getroffen. Rund 400 Millionen Euro hat al-
lein der Bund hierfür zusätzlich in den Jahren 2011 bis
Bei den berichteten erhöhten Krebsraten in der Um- 2013 eingeplant. Auch für die zusätzlichen Studienan-
gebung des Endlagers Asse handelt es sich um zwei fänger des Studienjahres 2010 will die Bundesregierung
Krebsarten, Leukämie und Schilddrüsenkrebs, wobei die Vorsorge treffen.
Erhöhung der Leukämiehäufigkeit nur bei Männern, die
von Schilddrüsenkrebs nur bei Frauen gefunden wurde. Darüber hinaus engagiert sich die Bundesregierung
Der berichtete Anstieg an Krebsfällen bezieht sich auf für eine Qualitätsverbesserung der Hochschullehre, die
zwei aus einer Vielzahl von untersuchten Krebsarten. allen Studierenden zugutekommt. Mit dem Qualitätspakt
Die Daten beziehen sich auf das Gebiet der Samtge- wird die Bundesregierung bis 2020 rund 2 Milliarden
meinde Asse, die im Landkreis Wolfenbüttel liegt. Im Euro in bessere Studienbedingungen investieren.
Landkreis selbst sind die Daten unauffällig.
Bei den vorliegenden Daten handelt sich dabei um die Anlage 68
Analyse zum Auftreten von Krebsfällen in einer kleinen
Region, die zwangsläufig, da es sich bei den gefundenen Antwort
Krebsfällen um seltene Erkrankungen handelt (weniger
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
als 10 Fälle pro 100 000 Einwohner), starken statisti-
der Abgeordneten Nicole Gohlke (DIE LINKE) (Druck-
schen Schwankungen unterliegt.
sache 17/3947, Frage 105):
Die Strahlenbelastung in der Umgebung der Asse Wie entwickelt sich im Zusammenhang mit der vom Sta-
wird seit 1966 lückenlos erfasst. Nach den vorliegenden tistischen Bundesamt veröffentlichten Studienanfängerquote
Untersuchungsergebnissen der Umgebungsüberwachung das Verhältnis von Studienanfängerinnen und Studienanfän-
kann der beobachtete Anstieg in der Samtgemeinde Asse gern zur Zahl der Hochschulzugangsberechtigten im gleichen
Alter, und welchen Einfluss hat die Zahl der sogenannten Bil-
nicht durch die Strahlenbelastung aus der Asse erklärt dungsausländerinnen und Bildungsausländer einerseits und
werden. Um den beobachteten Anstieg mit Strahlung er- die Einbeziehung zusätzlicher Bildungseinrichtungen in die
klären zu können, müsste nach den vorliegenden wissen- Statistik andererseits auf die Entwicklung der Studienanfän-
schaftlichen Kenntnissen über die Entstehung der entspre- gerquote von 2010 gegenüber 2009?
chenden Krebserkrankungen die Dosis etwa 10 000-mal Für das Studienjahr 2010 liegt derzeit die Schnellmel-
(B) höher sein als beobachtet. (D)
dung des Statistischen Bundesamts vor, die eine erste In-
Weiterhin ist bei derartigen Auswertungen davon aus- formation über die Entwicklung der Studierenden gibt
zugehen, dass aufgrund der statistischen Nachweisver- und nur eine grobe Gliederung enthält. Eine differen-
fahren in einer bestimmten Zahl von Gemeinden alleine zierte Analyse sowie ein detaillierter Vergleich zwischen
aufgrund des statistischen Zufalls Erhöhungen in Er- den beiden Studienjahren 2010 und 2009 sind daher zum
krankungsraten gefunden werden. jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich.
Die Bundesregierung ist an einer schnellen Klärung In den vorläufigen Zahlen sind Bildungseinrichtun-
der Sachlage interessiert und bietet dem Land Nieder- gen, die – ähnlich wie bei der Umwandlung der Berufs-
sachsen ihre Unterstützung bei der Bewertung der nun akademien in Baden-Württemberg zu Hochschulen – in
beobachteten erhöhten Krebshäufigkeiten an. 2010 erstmals zu Hochschulen dazugerechnet werden
könnten, nicht enthalten. Es handelt sich daher im Vor-
jahresvergleich um einen echten Anstieg. Auch doppelte
Anlage 67 Abiturjahrgänge durch die Umstellung der Gymnasien
auf G8 wirken sich kaum aus, da in 2010 nur Hamburg
Antwort einen doppelten Abiturientenjahrgang hat.
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
der Abgeordneten Nicole Gohlke (DIE LINKE) (Druck-
sache 17/3947, Frage 104): Anlage 69
Welche Korrekturen im Rahmen des Hochschulpaktes II Antwort
plant die Bundesregierung im Hinblick auf die Berücksichti-
gung der tatsächlichen Durchschnittskosten pro Studienplatz des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
und mit Rücksicht auf die Tatsache, dass die im Rahmen des des Abgeordneten Klaus Hagemann (SPD) (Drucksa-
Hochschulpaktes I vorgesehenen Studienanfänger-/Studienan-
fängerinnenzahlen deutlich übertroffen wurden?
che 17/3947, Frage 106):
Wie soll der 7 Millionen Euro teure Wissenschaftszug un-
Mit dem Hochschulpakt 2020 sorgen Bund und Län- ter Angabe des Einsatzortes und des Starttermins im Hinblick
der für ein bedarfsgerechtes Studienangebot. Damit er- auf die Antwort zu meiner schriftlichen Frage 140 auf Bun-
halten die jungen Menschen und auch die Hochschulen destagsdrucksache 17/2892 nunmehr verwendet bzw. einge-
setzt werden, und wie hoch sind die Bewachungs- und Unter-
eine verlässliche Perspektive. Die zusätzlichen Studien- haltungskosten für den Zug unter Berücksichtigung der
anfänger des Studienjahres 2010 sind Teil des Hoch- Aufwendungen der Deutschen Bahn AG seit Stilllegung des
schulpakts 2020. Science Trains sowohl insgesamt als auch pro Monat?
8494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) Die weitere Verwendung des Sonderzuges der Wis- Zu Frage 108: (C)
senschaftsausstellung „Expedition Zukunft“ liegt in der
Verantwortung der Max-Planck-Gesellschaft, MPG. Der Am 2. November 2010 fand der zweite Runde Tisch
Zug wurde durch das Bundesministerium für Bildung zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der
und Forschung, BMBF, auf Antrag der MPG von Juli Entwicklungszusammenarbeit im Bundesministerium
2008 bis Juni 2010 im Rahmen eines Förderprojektes fi- für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,
nanziert. Entsprechend liegt die Entscheidung über eine BMZ, statt. Die anwesenden Vertreterinnen und Vertre-
weitere Verwendung nach Ablauf der Förderung bei der ter der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und des
MPG. Die Ausstellungseinbauten sind Eigentum der Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenar-
MPG. Es besteht für die MPG ein achtjähriges Nut- beit und Entwicklung erarbeiteten gemeinsam Vor-
zungsrecht an den Wagen und den Loks, deren Eigentü- schläge für konkrete Maßnahmen zur Umsetzung des
merin die Deutsche Bahn AG ist. Art. 32 der VN-Behindertenrechtskonvention.
Die Erarbeitung einer Strategie hat unter Berücksich-
Das BMBF unterstützt die MPG bei ihrem Ziel den
tigung der Ergebnisse dieses Runden Tisches bereits be-
Zug im Ausland einzusetzen. Die Verhandlungen dauern
gonnen. Es ist beabsichtigt, die grundlegenden Elemente
allerdings noch an.
dieser Strategie im Rahmen eines weiteren Runden Ti-
Seit dem Ende der Wissenschaftsausstellung im No- sches in 2011 vorzustellen und zu erörtern.
vember 2009 sind bis einschließlich Oktober 2010 Kos- Parallel zum BMZ-gesteuerten Prozess zur Umset-
ten für Abstellung und Bewachung des Sonderzuges in zung des Art. 32 erstellt die Bundesregierung unter Fe-
Höhe von 429 600 Euro entstanden. Im Rahmen des derführung des BMAS einen Aktionsplan zur Umset-
BMBF-Förderprojektes wurden bis Mai 2010 die Ab- zung der gesamten Behindertenrechtskonvention. Auf
stellungskosten in Höhe von 212 274 Euro finanziert. Intervention des BMZ und der Zivilgesellschaft wird es
Seitdem trägt die MPG die monatlichen Kosten von etwa in diesem nationalen Aktionsplan ein eigenes Kapitel zur
38 000 Euro. Aktuell bemüht sich die MPG intensiv um „Internationalen Zusammenarbeit“ geben. Am 4. No-
eine kostengünstigere Lösung für Parken und Bewa- vember 2010 fand im BMAS unter Beteiligung des BMZ
chung des Ausstellungszuges. ein Maßnahmenkongress zum nationalen Aktionsplan
statt, der der Partizipation der Zivilgesellschaft im direk-
ten Dialog mit Vertreterinnen und Vertreten der staatli-
Anlage 70 chen Institutionen diente. Fragen der Entwicklungszu-
sammenarbeit wurden auch im Rahmen dieser
Antwort Veranstaltung explizit angesprochen.
(B) (D)
des Parl. Staatssekretärs Thomas Rachel auf die Frage
des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE Zu Frage 109:
GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Frage 107): Das Sektorvorhaben „Menschen mit Behinderungen“
Trifft es zu, dass – wie Medien in Mecklenburg-Vorpom- verfügt über 1 Million Euro für die dreijährige Laufzeit,
mern berichten – am 16. Dezember 2010 oder zu einem ande- Juli 2009 bis Juni 2012. Personell verfügt das Sektorvor-
ren Zeitpunkt Atommüll aus dem Forschungszentrum Jülich haben über zwei feste Mitarbeiter. Darüber hinaus ent-
nach Lubmin transportiert werden soll, und, wenn ja, um wel-
che Abfälle/Mengen handelt es sich konkret?
sendet die Christoffel-Blindenmission, CBM, pro Jahr
eine Mitarbeiterin bzw. einen Mitarbeiter an das Sektor-
Ein Transport von radioaktivem Abfall von Jülich vorhaben. Aktuell wird das Sektorvorhaben durch einen
nach Lubmin ist derzeit weder für Dezember 2010 noch Praktikanten personell verstärkt.
sonst geplant.
Grundsätzlich können aus dem Haushalt 2011 behin-
derten-spezifische und inklusive Vorhaben über die Titel
Private Träger und Kirchliche Träger, im Bereich Res-
Anlage 71 sortforschung sowie in der bilateralen Zusammenarbeit
umgesetzt werden. Der Betrag der bereitgestellten Mittel
Antwort
wird sich abhängig von entsprechenden Anträgen der
der Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp auf die Fragen Nichtregierungsorganisationen und Bewilligungen im
des Abgeordneten Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE kirchlichen Förderverfahren, vom Ergebnis bilateraler
GRÜNEN) (Drucksache 17/3947, Fragen 108 und 109): Regierungsverhandlungen sowie vom konkreten Bedarf
an wissenschaftsbasierter Politikberatung in diesem Be-
Welchen Zeitplan hat sich die Bundesregierung für die reich ergeben.
Entwicklung einer Strategie gesetzt, um die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit im Sinne des Art. 32 der UN-Be-
hindertenrechtskonvention zu gestalten, und in welcher Weise
wird die Zivilgesellschaft daran beteiligt werden? Anlage 72
Mit welchen Mitteln – personell und finanziell – ist das
GTZ-Sektorvorhaben „Menschen mit Behinderungen“ ausge-
Antwort
stattet, und welche weiteren Mittel werden für Maßnahmen
und konkrete Projektvorhaben zur Inklusion von Menschen
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen des
mit Behinderung in der deutschen Entwicklungszusammen- Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich (SPD) (Drucksache
arbeit im Haushalt 2011 bereitgestellt? 17/3947, Fragen 110 und 111):
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010 8495
(A) Was hat die Bundesregierung bisher über konsularische (1), die Stärkung der Zivilgesellschaft (2) und die Um- (C)
Betreuungsmaßnahmen hinaus unternommen, um dem deut- setzung der EU-Menschenrechtsleitlinien (3).
schen Staatsangehörigen Erdoğan Akhanli nach seiner Ver-
haftung in der Türkei zu helfen, und was hat sie bisher unter- Projekte werden auf Länderebene durch die EU-Dele-
nommen, um die Gründe für die Verhaftung Erdoğan gationen in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft, den
Akhanlis in Erfahrung zu bringen?
EU-Mitgliedstaaten und anderen Geldgebern identifi-
Beabsichtigt die Bundesregierung, eigene Beobachter zum
bevorstehenden Prozess gegen Erdoğan Akhanli zu entsen-
ziert. Die EU-Delegationen sind für die Ausschreibung
den, und hat sie bereits organisatorische Schritte unternom- und für das lokale Management der Projekte verantwort-
men, um ihm eine kontinuierliche Prozessbeobachtung durch lich. Die Bundesregierung wird von der EU-Kommis-
die deutsche Botschaft in Ankara sicherzustellen? sion zur Mehrjahresstrategie, 2007 bis 2010, und zum
jährlichen Aktionsplan konsultiert.
Zu Frage 110:
Bei der Festlegung der geografischen Förderschwer-
Seit Bekanntwerden seiner Inhaftierung wird Herr punkte stellen die EU-Delegationen jährlich Listen von
Akhanli von der zuständigen Auslandsvertretung inten- Ländern/Regionen auf, in denen die Aktionen Effizienz
siv konsularisch betreut. Die Bundesregierung steht da- versprechen. Das heißt, der Spielraum für zivilgesell-
rüber hinaus in Kontakt mit den Anwälten, die schaftliches Handeln muss vorhanden sein, damit mittels
Herr Akhanli für seine strafrechtliche Verteidigung aus- Menschenrechts- und Demokratieprojekten die Organi-
gewählt hat. sationsstruktur und der Einfluss der Zivilgesellschaft, zu
gesellschaftlichem Wandel beizutragen, gestärkt werden
Die Bundesregierung hat des Weiteren mehrfach können.
hochrangig und gegenüber verschiedenen türkischen
Stellen auf die besonderen Umstände des Falles und auf Im Strategiepapier, 2007 bis 2010, sind für die Länder
die große Besorgnis, die Herrn Akhanlis Inhaftierung in der Europäischen Partnerschaft und für den Mittleren
Deutschland hervorgerufen hat, hingewiesen. Osten 35 Prozent für Ziel 1 und 30 Prozent für Ziel 2 an-
gesetzt. Dies ist deutlich mehr als zum Beispiel in La-
Auf Nachfrage erhielt die Bundesregierung am teinamerika mit jeweils 15 Prozent.
7. September 2010 von der türkischen Regierung Aus-
kunft über die Herrn Akhanli von der türkischen Justiz Die Staaten des Golfkooperationsrates befinden sich
vorgeworfenen Straftaten. nicht auf dieser Liste. Es ist der Bundesregierung nicht
bekannt, ob Förderanträge zivilgesellschaftlicher Orga-
Zu Frage 111: nisationen aus diesen Staaten eingereicht wurden. Laut
Projektliste der EU-Kommission wurde 2009 und 2010
Ja. Es ist beabsichtigt, dass ein Konsularbeamter des jeweils ein Projekt in der Republik Jemen durchgeführt.
(B) Deutschen Generalkonsulats in Istanbul den Prozess re- Für das Königreich Saudi-Arabien liegt keine Angabe (D)
gelmäßig beobachtet. vor.
Da die Verhandlung in öffentlicher Sitzung stattfin- Die Bundesregierung wird die Möglichkeit einer stär-
det, sind darüber hinaus keine organisatorischen Vorbe- keren Berücksichtigung von Menschenrechtsorganisatio-
reitungen notwendig. nen aus Saudi-Arabien und den Staaten des Golfkoopera-
tionsrates im EU-Rahmen aufnehmen.
Anlage 73
Anlage 74
Antwort
Antwort
des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Frage der
Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck- des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Frage der
sache 17/3947, Frage 112): Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck-
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass aus sache 17/3947, Frage 113):
dem europäischen Finanzinstrument für Demokratie und Womit wird vonseiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Menschenrechte zwar zahlreiche oppositionelle Gruppen und begründet, dass Angaben darüber, an welchen Einrichtungen
Organisationen in den ALBA-Staaten bezuschusst werden, und durch wen bislang im Rahmen der EU-Mission EUJUST
aber nicht eine Menschenrechtsorganisation aus dem König- LEX irakische Richter, Polizei- und Justizvollzugsbeamte in
reich Saudi-Arabien und den anderen Staaten des Golfkoope- Europa ausgebildet wurden, und insbesondere darüber, ob
rationsrates, und welchen Einfluss hat die Bundesregierung auch weibliche Personen im Rahmen von EUJUST LEX aus-
auf die Mittelvergabe in den jeweiligen Staaten ausgeübt? gebildet wurden, als „Verschlusssache – Nur für den Dienst-
gebrauch“ eingestuft und damit der Öffentlichkeit vorenthal-
Das Europäische Instrument für Demokratie und ten werden?
Menschenrechte, EIDHR, finanziert mit einem Gesamt-
volumen von jährlich circa 100 Millionen Euro vorran- Die nicht veröffentlichten Teile des Antworttextes zur
gig, das heißt zu 90 Prozent, Projekte, die durch die lo- Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke auf Bundestags-
kale und internationale Zivilgesellschaft durchgeführt drucksache 17/3785 zur deutschen Beteiligung an
werden. EUJUST LEX stützen sich auf Berichte der Mission, die
mit dem EU-eigenen Geheimhaltungsgrad „restricted“
62 Prozent des Budgets entfallen auf die ersten drei eingestuft sind. Dieser bezieht sich auf alle Dokumente
thematischen Förderziele des EIDHR, das heißt auf die und Informationen, deren nicht autorisierte Verbreitung
Förderung von Menschenrechten und Grundfreiheiten nachteilig für die Interessen der EU oder eines bzw.
8496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 1. Dezember 2010
(A) mehrerer ihrer Mitgliedstaaten sein könnte und ent- fassungsgerichtshof als verfassungsgemäß angesehen (C)
spricht der deutschen Einstufung „VS – Nur für den worden, Entscheidung vom 9. Juli 2002. Die der jetzigen
Dienstgebrauch“, VS-NfD. Fassung des § 13 Nr. 2 BWG vorangegangene Regelung,
die den Ausschluss vom Wahlrecht an die Anordnung ei-
Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
ner Pflegschaft wegen geistigen Gebrechens knüpfte, ist
materiellen und organisatorischen Schutz von Ver-
vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtspre-
schlusssachen, VSA, sind nichtdeutsche Verschlusssa-
chung als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung
chen, zu deren Schutz sich die Bundesrepublik Deutsch-
und als vereinbar mit dem Grundsatz der Allgemeinheit
land vertraglich verpflichtet hat, mit dem deutschen
der Wahl angesehen worden, vergleiche BVerfGE 67,
Geheimhaltungsgrad, der dem zugeordneten nichtdeut-
146, 147 f.; 36, 139, 141 f.
schen Geheimhaltungsgrad entspricht, zu kennzeichnen.
Die Bundesregierung kann die betreffenden Auskünfte
bezüglich anderer EU-Mitgliedstaaten daher nicht ohne
deren vorherige Einwilligung veröffentlichen. Anlage 76
(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980