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Plenarprotokoll 17/123

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

123. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: (Fortsetzung) Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14460 A


a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14461 A
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes-
haushaltsplans für das Haushaltsjahr Einzelplan 04
2012 (Haushaltsgesetz 2012)
(Drucksache 17/6600) . . . . . . . . . . . . . . . . 14443 A Bundeskanzleramt
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 14462 A
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 14467 D
(Drucksache 17/6601) . . . . . . . . . . . . . . . . 14443 B
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14474 B
Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14480 D
Einzelplan 05
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Auswärtiges Amt
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14484 D
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14488 B
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14443 B
Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 14492 B
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . 14445 A
Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 14495 A
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister
AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14445 B Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14497 A
Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 14446 D Bernd Neumann, Staatsminister bei der
Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14499 C
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 14448 B
Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14501 A
Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 14450 C
Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 14502 B
Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14451 D Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14503 A
Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 14453 C
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14454 B
Einzelplan 14
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14455 D
Bundesministerium der Verteidigung
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 14456 D
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14458 A BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14504 C
Klaus Brandner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14458 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14506 C
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 14508 D Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14530 D
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14510 D
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . 14531 D
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14513 A Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14533 A
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14534 D
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14514 A
Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14535 B
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 14515 C
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14535 D
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . 14516 D
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14537 D
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 14517 A
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14539 B
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14517 C
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14539 C
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14519 A Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14539 D
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14520 B
Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14540 D
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14521 C
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 14541 C
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14523 A Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14543 B
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14543 C
Einzelplan 23
Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14543 C
Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . 14544 B
Dirk Niebel, Bundesminister Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14544 C
BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14523 B
Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14545 C
Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14525 A
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14526 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14546 C
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14528 B
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14530 B Anlage
Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14530 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 14547 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14443

(A) (C)

Redetext

123. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Außenpolitik und mit Europa und mit der Generalde-
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. batte befassen werden, sondern am heutigen Tage wird
auch, wie wir alle wissen, in Karlsruhe eines der Funda-
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
mente der deutschen Außenpolitik, auch eines der Fun-
begrüße Sie herzlich zur Fortsetzung unserer Haushalts-
beratungen – Tagesordnungspunkt 1 –: damente unserer Staatsräson verhandelt werden, und es
wird ein Urteil zu Europa verkündet werden.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Deswegen will ich hier vorab sagen: Die Konstanten
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das der deutschen Außenpolitik sind bereits in der Präambel
Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012) des Grundgesetzes aufgeschrieben worden, nämlich dem
Frieden in der Welt in einem geeinten Europa zu dienen.
– Drucksache 17/6600 – In einem geeinten Europa dem Frieden der Welt zu die-
Überweisungsvorschlag: nen! Deutsche Außenpolitik hat ein klares Fundament
(B) – das ist die Europäische Union –, und deutsche Außen- (D)
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- politik ist Friedenspolitik. Beides sind auch die Konstan-
regierung ten der Außenpolitik dieser Bundesregierung.
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
– Drucksache 17/6601 –
Wir alle spüren, dass es nicht nur in Deutschland, son-
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
dern auch in ganz Europa Debatten über Europa, über
die Zukunft Europas gibt. Ich glaube, dass Europa ge-
Für die heutige Aussprache haben wir gestern insge- rade in Zeiten, wo es gefordert ist, wo es auch herausge-
samt eine Redezeit von acht Stunden beschlossen. fordert wird, Freunde braucht, die sich klar zu Europa
Ich hatte gestern bereits auf eine Änderung im Ablauf und zur Zukunft Europas bekennen. Die Frage ist aller-
der Behandlung der Einzelpläne aufmerksam gemacht. dings: Wie soll Europa nach dieser Krise aussehen? Die
Die Fraktionen haben vereinbart, jetzt den Geschäftsbe- europäische Integration war immer auch eine Abfolge
reich des Auswärtigen Amtes und anschließend den Ge- von europäischen Krisen, aus denen politische Konse-
schäftsbereich des Bundeskanzleramtes zu beraten. – quenzen gezogen worden sind. Immer ist ein Integra-
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann kön- tionsschritt auch durch Herausforderungen in Europa ge-
nen wir so verfahren. tan worden. Es ist nie anders gewesen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Meine Damen und Herren, das ist die entscheidende
Amtes, Einzelplan 05, auf. Weggabelung, vor der wir derzeit stehen. Werden wir
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, diese Krise in Europa, diese Schuldenkrise in Europa mit
Dr. Guido Westerwelle. mehr Europa oder mit weniger Europa beantworten?
Werden wir denen nachgeben, die in ganz Europa auf
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eine Renationalisierung der Politik setzen, oder werden
wir Europa stärken, indem wir die Fehler der Vergangen-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- heit korrigieren? Es war ein Fehler der Vergangenheit,
wärtigen: dass im Jahre 2004 das Schuldenmachen in ganz Europa
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- leichter gemacht worden ist. Dass Sie als rot-grüne Bun-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist desregierung damals den Stabilitätspakt aufgeweicht
nicht nur ein Tag, an dem wir uns hier in Berlin mit der haben, das war der größte historische Fehler in der
14444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) Nachkriegsgeschichte. Dass Sie ihn im Jahre 2011 wie- Eine Schuldenkrise kann man nicht mit immer neuen (C)
derholen wollen, ist in Wahrheit unerträglich. Schulden bekämpfen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Lachen bei Abgeordneten der SPD) Aber auch nicht mit Steuersenkungen!)
Sie haben mit dieser Haltung die Axt an die Wurzel sondern eine Schuldenkrise bekämpft man nur, indem
Europas gelegt. Das wird mittlerweile sogar von denen man die Wettbewerbsfähigkeit erhöht; denn eine Wäh-
als eine Fehlentscheidung zugegeben, die damals Ver- rung ist nur so stark, wie die Volkswirtschaften stark
antwortung getragen haben. Meine Damen und Herren, sind, die dahinter stehen.
dass Sie im Jahre 2004 geglaubt haben, das Schuldenma-
chen müsse erleichtert werden, wenn man ein guter (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Europäer sein will, ist das eine. Dass Sie uns aber genau Meine Damen und Herren, es ist ein enormer Erfolg,
dieses gescheiterte Rezept in diesem Jahr für die Zukunft dass wir es gegen den Willen der Opposition geschafft
wieder empfehlen, nämlich das Schuldenmachen zu er- haben, dass mehr und mehr Staaten in Europa Schulden-
leichtern, ist das andere. Diesen historischen Fehler zu bremsen in ihre nationalen Verfassungen aufnehmen
wiederholen, das wäre unverzeihlich. Deswegen wird wollen. Ich erinnere mich, welche Haltung Sie zu Be-
die Bundesregierung diesen Weg nicht gehen. Wir wol- ginn unserer Regierungszeit hatten: Uferloses Schulden-
len keine Schuldenunion in Europa, wir wollen eine Sta- machen, das war Ihr Rezept.
bilitätsunion in Europa. Das ist unser Kompass.
(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch Unsinn!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Sie haben erklärt, weniger Schulden machen und Haus-
Ich erinnere mich noch sehr genau an die erste De- haltskürzungen, das sei gefährlich für die Wirtschaft und
batte, die wir hier über das Thema Griechenland und die für die Arbeitsplätze.
Notwendigkeit der Hilfspakete geführt haben. Ich weiß
noch, dass Sie sich damals hier hingestellt und gesagt (Widerspruch bei der SPD)
haben: Ihr habt Griechenland nicht schnell genug gehol-
fen; weil ihr zu lange und zu garstig die Hand auf eure Ich kann nur eines sagen: Es ist ein Glücksfall, dass die
Kasse gehalten habt, ist Griechenland überhaupt erst in Bundesregierung diesen Einflüsterungen der Opposition
diese Schwierigkeiten gekommen. – Mittlerweile sehen nicht gefolgt ist.
Sie, wie falsch Sie auch vor anderthalb Jahren gelegen (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
haben; denn inzwischen ist man in ganz Europa der
(B) Überzeugung, dass man einer Schuldenkrise nicht mit Dass wir vor allen anderen auf solide Haushaltspolitik (D)
neuen Schulden begegnen kann. Nur die deutsche Oppo- gesetzt haben,
sition hat es nicht begriffen,
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Zuruf von der SPD: So ein Schmarren!) NEN]: Die FDP vorneweg!)
weil Sie nur eines können: Schulden machen. Das ist das war eine gute Entscheidung. Ausdrücklich danke ich
Ihre Antwort für Europa, und das ist ein Fehler. dafür auch denen in der Regierung, die dem Koalitions-
partner angehören. Ich freue mich, dass wir diesen Weg
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gemeinsam gegangen sind. Solide Haushaltspolitik ist
Widerspruch bei der SPD) die Antwort auf die Schuldenkrise.
Als wir vor etwas mehr als einem Jahr begonnen ha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
ben, auch in anderen europäischen Hauptstädten darauf chen bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von
zu dringen, zu einer soliden Haushaltspolitik zurückzu- der LINKEN)
kehren,
– Bei allem Respekt: Die Zwischenrufe von SPD und
(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Grünen kann man ja noch hinnehmen. Aber wenn Sie,
GRÜNEN]: Erst mal zu Hause anfangen!) meine Damen und Herren von der Linkspartei, dazwi-
die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Budgets zu schenrufen,
kürzen, da war das aus Ihrer Sicht eine Politik, die die (Uta Zapf [SPD]: Peinlich!)
Konjunktur gefährdet. Heute sieht man, was die Kon-
junktur und die Wirtschaft wirklich gefährdet, nämlich möchte ich eines sagen: In der Debatte gestern habe ich
zu viel Schulden in zu kurzer Zeit. Das ist verantwor- Ihnen, Frau Kollegin Lötzsch, zugehört. In jeder Sitzung
tungslose Politik, und deswegen war es richtig, dass die des Auswärtigen Ausschusses, an der ich teilnehme, ma-
Bundesregierung den Staaten in Europa Hilfe angeboten chen Sie uns Vorhaltungen in Bezug auf die deutsche
hat, die in Not und Schwierigkeiten sind. Aber ebenso Außenpolitik, die angeblich mangelnde Werteorientie-
richtig ist es, dass wir verlangen und auch erwarten dür- rung und die Menschenrechte.
fen, dass jedes Land in Schwierigkeiten die eigenen
Hausaufgaben bei den Reformen erledigt. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
berechtigt! – Wolfgang Gehrcke [DIE
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) LINKE]: Zu Recht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14445
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
(A) Ich will Ihnen mit Blick auf den Rest der heutigen De- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- (C)
batte eines dazu sagen: Wer an Fidel Castro Liebesbriefe wärtigen:
schreibt, Ich kann Ihnen nur so viel sagen: In der deutschen
Außenpolitik wird jedenfalls nicht mit einem Unter-
(Zurufe von der LINKEN: Oh!) schriftenautomaten signiert.
soll uns in der Außenpolitik nichts, aber auch gar nichts (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
erzählen.
Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Aus dieser
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sache lassen wir Sie nicht heraus.
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist
billig, sehr billig!) Meine Damen und Herren, nach Ihren Zwischenrufen
möchte ich zum Thema zurückkommen. Wie werden wir
den nächsten Integrationsschritt gehen? Das ist das Ent-
Präsident Dr. Norbert Lammert: scheidende, worum es jetzt geht. Deswegen ist es wich-
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der tig, dass wir gerade eine gemeinsame Haltung mit
Kollegin Lötzsch? Frankreich vertreten: Wir rüsten uns für die Zukunft, in-
dem wir eine stärkere Koordinierung der Wirtschafts-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- und Finanzpolitik mit klaren Regeln beschließen, die ei-
wärtigen: ner neuen Verschuldungskrise einen festen Riegel vor-
schiebt.
Aber bitte, gerne.
Ich habe eingangs gesagt: Die deutsche Außenpolitik
(Zurufe) hat mit Europa nicht nur ein festes Fundament, sondern
sie hat natürlich auch, schon in der Präambel des Grund-
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): gesetzes angelegt, eine Ausrichtung hin zur Friedens-
politik. Gerade jetzt, wo sich der 11. September zum
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus den
zehnten Mal jährt, wissen wir, wie wichtig es ist, zu er-
hinteren Reihen kommt der Zwischenruf „Austausch
kennen: Politische und diplomatische Lösungen sollten
von Liebesbriefen!“. Das wird jetzt sicher nicht gesche-
immer da angestrebt werden, wo dieses möglich ist. Nie-
hen; es sind auch Zwischenbemerkungen möglich.
mand kann daraus herauslesen, Deutschland oder die
Bundesregierung sei nicht bereit, international Verant-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- wortung zu übernehmen. Wir haben in der Afghanistan-
(B) wärtigen: Politik gezeigt, dass wir Verantwortung übernehmen. (D)
Darauf lege ich auch Wert, aus verschiedenen Grün- Damit der politische Prozess erfolgreich sein kann und
den. damit das Konzept gelingen kann, waren wir sogar be-
reit, Anfang dieser Legislaturperiode den Aufwuchs von
(Heiterkeit) Truppen in Afghanistan zu beschließen. Das ist aus un-
serer Sicht der richtige Weg.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Gleichzeitig sagen wir: Zehn Jahre nach Beginn des
Herr Kollege Westerwelle, nicht nervös werden! Einsatzes in Afghanistan ist es das erklärte Ziel der Bun-
desregierung, dass wir uns eine Abzugsperspektive
erarbeiten. Aber es soll eine Abzugsperspektive in Ver-
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- antwortung sein. Deswegen werden wir auch hier den
wärtigen: Ratschlägen der Opposition nicht nachgeben und nicht
Nein. Ich möchte Ihnen versichern, Frau Kollegin, schon jetzt gewissermaßen ankündigen, was wir an
dass ich in Ihrer Anwesenheit noch nie nervös war. Rückführungen wo und in welchem Monat beschließen
werden. Das wäre eine Gefährdung der Soldaten, die
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) jetzt in Afghanistan im Einsatz sind.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsinn!)
Lieber Herr Kollege Westerwelle, ich biete Ihnen fol- Deswegen machen wir es nicht, auch wenn Sie es wün-
gendes Geschäft an: schen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition.
(Zurufe von der FDP und der CDU/CSU: Oh! –
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: In aller (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Öffentlichkeit!) Es war ein verheerender Terrorschlag, der verhee-
Ich ziehe den Brief an Fidel Castro zurück, wenn Sie da- rendste wahrscheinlich, der uns in der Geschichte getrof-
für sorgen, dass der Panzerdeal mit Saudi-Arabien zu- fen hat. Deswegen werden wir jetzt, zehn Jahre danach,
rückgezogen wird. zum Ende dieses Jahres als Gastgeber der Afghanistan-
Konferenz unseren Beitrag dazu leisten, dass wir es
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der schaffen, den politischen Prozess der Aussöhnung und
FDP und der CDU/CSU: Oh!) Reintegration voranzubringen.
14446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) Dazu zählt eine entscheidende Nachricht und ein kla- nen. Wir können nicht einfach nur sagen: Der Tourismus (C)
res Signal an unsere Partner in Afghanistan selbst – übri- kommt wieder in Gang; wir bauen die Energieinfrastruk-
gens auch an unsere Verbündeten –, nämlich dass wir tur wieder auf. – Das wird nicht reichen. Transforma-
auch dann zu unserer Verantwortung stehen, wenn die tionspartnerschaft heißt auch: Wer sich in dieser Region
Kampftruppen der internationalen Gemeinschaft nicht in Richtung Demokratie auf den Weg macht, weiß, dass
mehr in Afghanistan sind. Das heißt: Unsere afghani- wir ihn dabei wirtschaftlich unterstützen werden – durch
schen Partner müssen wissen, dass wir auch nach dem Investitionen, aber auch durch leichteren Marktzugang
Jahre 2014 unsere Verantwortung für Afghanistan nicht in Europa.
vergessen. Das ist wichtig, wenn der politische Aussöh-
nungsprozess erfolgreich sein soll. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Was ist denn da
Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, aber passiert?)
auch der Polizisten und der vielen zivilen Helferinnen
und Helfer in Afghanistan ist schwer und gefährlich. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass viele
Dies wurde uns in diesen Tagen wieder in schrecklicher Probleme noch ungelöst sind. Ich denke an Syrien, ich
Weise vor Augen geführt. Das Schicksal unserer beiden denke natürlich auch an die Lage östlich unseres Landes,
Landsleute, die seit Tagen in der Region Parwan ver- in Belarus. Auch das darf nie vergessen werden, obwohl
misst wurden, erfüllt uns mit tiefer Trauer. Ich muss Ih- die Aufmerksamkeit im Moment woanders liegt.
nen, nachdem ich heute Nacht darüber von unseren Mit- Zum Schluss möchte ich Ihnen noch etwas sagen zu
arbeitern informiert worden bin, leider sagen: Nach einer dem, was im September vor uns liegt und auf uns zu-
ersten Überprüfung durch deutsche Vertreter muss ich kommt, nämlich zur Frage der Nahostpolitik. Die früh-
bedauerlicherweise bestätigen, dass es sich bei den vor- zeitige Festlegung auf eine bestimmte Option in der
gestern aufgefundenen Toten mit an Sicherheit grenzen- Frage der Anerkennung eines palästinensischen Staates
der Wahrscheinlichkeit um die beiden vermissten deut- brächte weit mehr Risiken als Nutzen. Deswegen wird
schen Staatsangehörigen handelt. Ihr Tod macht uns alle die Bundesregierung das auch nicht tun. Wir werden die
betroffen. Wir trauern mit den Angehörigen und Freun- Zeit bis New York nutzen, um auf alle Parteien im Sinne
den der beiden Deutschen. unserer Leitlinien einzuwirken und einen Korridor für
Ich möchte diese Rede auch zum Anlass nehmen, ei- eine möglichst konstruktive, in die Zukunft gerichtete
nen herzlichen Dank zum Ausdruck zu bringen für all Lösung zu definieren. Das heißt:
diejenigen, die weltweit, auch in Afghanistan – ob in Erstens. Die Befassung der Vereinten Nationen soll
Uniform, ob nicht in Uniform –, für unser Land eintre- uns dem Ziel von direkten Verhandlungen näher bringen
(B) ten. Wir wissen um ihre gefährlichen Einsätze, um das, und nicht davon entfernen. (D)
was sie an Bedrohungen aushalten müssen, und um den
Verzicht, den ihre Familien erleiden müssen. Wir sind Zweitens. Die Art der Befassung der Vereinten Natio-
dankbar dafür und versammeln uns mit Respekt hinter nen sollte stets die Gefahr gewalttätiger Eskalationen
den Verstorbenen und ihren Angehörigen. verringern und nicht erhöhen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Drittens. Eine geschlossene Haltung der Europäi-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schen Union ist das Ziel. Sie vergrößert auch unsere
bei Abgeordneten der LINKEN) Möglichkeiten.

Meine Damen und Herren, wir spüren, dass wir welt- Viertens. Auch die besondere Qualität unseres Ver-
weit eine Umbruchlage haben. Die Globalisierung, die hältnisses zu Israel werden wir bei all dem, was wir tun,
als ein ökonomischer Prozess begonnen hat, ist mehr stets mitbedenken; denn auch das ist Staatsräson für
und mehr auch eine Globalisierung der Werte geworden, Deutschland.
der Ansichten geworden, der Rechtsstaatlichkeit gewor- Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
den. Das ist eine der erfreulichsten Entwicklungen unse-
rer Zeit. (Anhaltender Beifall bei der FDP und der
CDU/CSU)
Wir haben den Ländern Nordafrikas und der arabi-
schen Welt eine Transformationspartnerschaft angebo-
ten. Nachdrücklich sage ich: Das gilt nicht nur für die Präsident Dr. Norbert Lammert:
Länder, die sich durch Revolution – wie in Tunesien und Das Wort erhält nun der Kollege Gernot Erler für die
Ägypten – auf den Weg gemacht haben; es gilt auch für SPD-Fraktion.
die anderen Länder, zum Beispiel jetzt für Libyen. Ich
(Beifall bei der SPD)
will aber auch hinzufügen: Es wird nicht ausreichen, di-
rekt zu helfen, auch beim Aufbau der Zivilgesellschaf-
ten; sondern mindestens genauso wichtig ist, dass die Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):
Menschen, die für Demokratie eingetreten sind, auch se- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
hen, dass es für sie eine Verbesserung der persönlichen Herr Außenminister, ich habe vor, tatsächlich über Ihre
Lebenschancen mit sich bringt. Außenpolitik zu sprechen.
Wir werden in Europa noch diskutieren müssen, wenn (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan
es zum Beispiel darum geht, dass wir unsere Märkte öff- Liebich [DIE LINKE])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14447
Dr. h. c. Gernot Erler
(A) Sie haben eben den Beweis dafür erbracht, dass Sie auch ßenpolitik stärker ausrichten. In diesem Lichte erschien (C)
nach zwei Jahren noch immer nicht in diesem Amt ange- die Konstellation vom 17. März – die Entfernung von
kommen sind, Paris, London und Washington und die Abstinenz ge-
meinsam mit China und Russland – plötzlich nicht mehr
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das wird
als unglücklicher Umstand, sondern sie war gewollt; das
er auch nicht mehr schaffen!)
war der Beginn einer Neuorientierung der deutschen Au-
obwohl Sie den Titel tragen. Insbesondere die erste ßenpolitik. Als dann nach fünf schwierigen Monaten die
Hälfte Ihres Auftretens war eine Zumutung für dieses libyschen Rebellen mithilfe der NATO das Gaddafi-
Hohe Haus. Regime endlich vertreiben konnten, haben Sie diesen
späten Erfolg nicht etwa anerkannt, sondern für Ihre
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nichtmilitärische Sanktionspolitik reklamiert – eine neue
der LINKEN) Provokation, speziell der Verbündeten, aber auch allge-
Herr Außenminister, lange Zeit ist Ihre Außenpolitik mein des gesunden Menschenverstandes.
von einer Mehrheit der Kommentatoren als konturlos
Herr Westerwelle, damit haben Sie das Fass zum
und ohne Wirkung kritisiert worden. Das war zutreffend,
Überlaufen gebracht, selbst in Ihrer eigenen Partei. Herr
aber noch nicht besorgniserregend. Seit März dieses Jah-
Rösler zog die Reißleine und hat Sie zum Außenminister
res hat sich das geändert. Inzwischen sind Sie zur Perso-
auf Bewährung degradiert – ein echtes Novum in der
nifizierung einer deutschen Außenpolitik von befrem-
deutschen politischen Kultur;
dender Gestalt und verhängnisvoller Wirkung geworden.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben durchgesetzt, dass sich Deutschland am
17. März im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ent- denn plötzlich liegt die Richtlinienkompetenz für die
halten hat, als es um den Schutz der libyschen Zivilbe- deutsche Außenpolitik beim FDP-Vorsitzenden und
völkerung ging. nicht mehr im Kompetenzzentrum am Werderschen
Markt.
(Birgit Homburger [FDP]: Weil wir das ableh-
nen mussten! Da steckt viel Überzeugung da- Wenn man sich das Ganze anschaut, muss man sagen:
hinter!) Vor allen Dingen ist es ein Tiefpunkt, dass die jetzt aus
dem Hut gezauberte Reorientierung der deutschen Au-
Dabei haben Sie Deutschland in einer noch nicht dage- ßenpolitik auf neue Kraftzentren der Welt Ihre Politik er-
wesenen Weise gleichzeitig von so wichtigen Verbünde- klären sollte. Dieser Kurswechsel war als gar nichts an-
(B) ten wie den Vereinigten Staaten, Frankreich und Groß- deres als eine nachträgliche Plausibilitätserklärung für (D)
britannien entfernt. Das von Ihnen verweigerte Ja zur die Entscheidung des 17. März verstehbar, die im In-
Resolution 1973 hat nachweislich dazu geführt, dass ein und Ausland eine katastrophale Diskussion zur Verläss-
bevorstehendes Massaker an der Zivilbevölkerung von lichkeit Deutschlands als Partner ausgelöst hat.
Bengasi, einer Stadt mit 700 000 Einwohnern, erst in
letzter Minute verhindert wurde. In welche gefährliche Ecke uns diese schiefe Bahn
geführt hat, kann man daran sehen, dass sich gleich zwei
(Widerspruch bei der FDP – Dr. Bijan Djir-Sarai ehemalige Bundeskanzler, Helmut Kohl und Helmut
[FDP]: Wie war denn Ihre Position!) Schmidt, veranlasst sahen, in genau dieser Situation das
Die Problematik dieser Entscheidung ist seither in der Wort zu ergreifen. Diese Wortmeldungen, liebe Kolle-
deutschen Öffentlichkeit ausreichend diskutiert worden. ginnen und Kollegen, waren nicht beiläufig; hinter ihnen
Auf Ihre Haltung hat das keinerlei Wirkung gehabt. Der wurde eine echte Sorge spürbar, nämlich die um den
Begriff „Einsicht“ taucht in Ihrem Reaktionsrepertoire Grundkonsens in der Außenpolitik der Bundesrepublik,
offensichtlich grundsätzlich nicht auf. der jahrelang parteiübergreifend gegolten hat.
Ich möchte mich deshalb auf einen anderen Punkt Deutschland, mit seiner Verantwortung für zwei Welt-
konzentrieren, nämlich darauf, dass Sie in der Folge Ih- kriegskatastrophen im vergangenen Jahrhundert als his-
rer Entscheidung die ganze deutsche Außenpolitik auf torisches Gepäck und als stärkstes und bevölkerungs-
die schiefe Bahn gebracht haben. Das fing damit an, dass reichstes Land Europas muss bei der Selbstintegration in
Sie am 17. März ein innenpolitisches Kalkül – den Blick die beiden großen kollektiven Systeme, nämlich in die
auf die Wahlen vom 27. März – zur Grundlage Ihrer Ent- westliche Allianz und die Europäische Union, immer vo-
scheidung gemacht haben. Je offensichtlicher dieses rangehen.
Kalkül nicht aufging, desto rascher sind Sie auf dieser (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
schiefen Bahn vorangeeilt. Um dem wachsenden Recht- Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
fertigungsdruck zu begegnen, fingen Sie an, unsere Ver- NEN])
bündeten, die sich zu einem militärischen Vorgehen ent-
schlossen hatten, quasi von außen zu kritisieren. Als das Diese Selbstintegration bedeutet eine bewusste Ein-
auch nicht weiterhalf, präsentieren Sie einer ziemlich schränkung unserer Souveränität, bedeutet die gewollte
sprachlosen Öffentlichkeit plötzlich eine Neuorientie- Unterordnung im Kollektiv mit einer starken Rolle unse-
rung der deutschen Außenpolitik: Die Welt habe sich rer Partner und bedeutet Verzicht auf jeden Sonderweg.
verändert, es gebe neue Kraftzentren, etwa um China Ich finde es schon erstaunlich, dass Sie hier von Kon-
und Russland, und auf diese müsse sich die deutsche Au- stanten deutscher Außenpolitik reden und gar nicht mer-
14448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) ken, dass Sie in den letzten Monaten der größte Beschä- Macht gewinnen, und Europa wird zugleich relativ an (C)
diger dieser Konstanten gewesen sind. Macht verlieren –, der wird sehr schnell zu dem Schluss
kommen: Es geht um nicht weniger als die Selbstbe-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
hauptung Europas.
Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das
Nur in der Befolgung dieser Prinzipien hat Deutschland Abendland ist in Gefahr!)
nach 1945 seinen Weg zurück in die europäische Völker- Es geht darum, dass wir unsere Werte und unser Gesell-
familie gefunden; darauf haben die beiden Bundeskanz- schafts- und Wirtschaftsmodell nicht nur wahren, son-
ler hingewiesen. Nur so konnte ein Vertrauen bei unse- dern diese auch für andere Länder attraktiv sind. Es geht
ren westlichen und östlichen Nachbarn aufgebaut um eine eigenständige Rolle Europas in der Welt, um
werden, ohne das es nie zu einer Wiedervereinigung ge- unsere Gestaltungsfähigkeit und unsere Gestaltungs-
kommen wäre. Nur so wird Deutschland seiner Mitver- kraft. Wir brauchen in Europa Geschlossenheit, Hand-
antwortung für ein starkes und handlungsfähiges Europa lungsfähigkeit und Stärke. Wir brauchen mehr Europa.
gerecht.
„Mehr Europa“ bedeutet beispielsweise die Gründung
Verlässlichkeit und Vertrauen kann man verspielen, einer echten europäischen Wirtschaftsregierung der
vertändeln durch Beliebigkeit und Unberechenbarkeit, Euro-Zone. Das heißt, wir brauchen eine immer diszipli-
durch unvorbereitete Neuorientierungen der deutschen niertere Koordinierung und stärkere Harmonisierung der
Außenpolitik. Herr Außenminister, bitte nehmen Sie zur Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir brauchen nicht nur
Kenntnis, dass weder die deutsche noch die internatio- eine Schuldenbremse. Vor allem aber müssen die Länder
nale Öffentlichkeit Ihnen zutraut, all das wieder zurecht- der Euro-Zone in die Lage versetzt werden, Verstöße ei-
zubiegen. nes Landes gegen die Regeln der Wirtschafts- und Wäh-
(Beifall bei der SPD) rungsunion, die den Euro-Ländern insgesamt schaden,
rechtzeitig korrigieren zu können, das heißt, im Zusam-
Wir haben Sie in der Sache kritisiert; aber Ihre eige- menwirken mit EZB, IWF und EU-Kommission auf
nen Leute haben Sie gnadenlos in Ihrer Funktion demon- wichtige Haushaltsentscheidungen und Maßnahmen zur
tiert. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden
(Zuruf von der SPD: Das stimmt! – Zuruf von Landes durchgehend und durchgreifend Einfluss neh-
der FDP: Blödsinn!) men zu können, wie wir es bei Griechenland getan ha-
ben. Wenn wir finanzielle Hilfe gewähren, dann muss
Ihre liberalen Freunde waren es, die Sie zu einem Au- die Gegenleistung dafür die durchsetzbare und nachprüf-
(B) ßenminister auf Abruf degradiert haben. Da schließt sich bare Verpflichtung zu einer Stabilitätspolitik und zu (D)
der Kreis zum 17. März: Wieder steht ein kurzfristiges strukturellen Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfä-
innenpolitisches Kalkül hinter der Entscheidung Ihrer higkeit sein.
Parteifreunde, Sie noch ein Weilchen Außenminister
sein zu lassen. Ich kann das nur als äußerst deprimierend Wir brauchen also mehr politische Union, damit Eu-
bezeichnen, für Sie, für das kompetente und engagierte ropa mit einer gestärkten Wirtschafts- und Währungs-
Amt, dem Sie vorstehen, und für Deutschlands Ansehen union seine Interessen gegenüber der übrigen Welt ange-
in Europa und der Welt. sichts der globalen wirtschafts- und finanzpolitischen
Herausforderungen vertreten kann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt nur einen logischen Schluss aus dieser verhee-
renden Bilanz: die Aufforderung an Sie, endlich selber Mit dem Vorschlag, eine Wirtschaftsregierung einzuset-
die Konsequenzen zu ziehen und nicht zu warten, bis zen, haben die Bundeskanzlerin und der französische
dies andere für Sie tun. Staatspräsident in gemeinsamer Verantwortung für Eu-
(Beifall bei der SPD) ropa in schwieriger Zeit Führung bewiesen.
„Mehr Europa“ heißt weiterhin, Polen mittelfristig
Präsident Dr. Norbert Lammert: voll in die deutsch-französische Führungsverantwortung
Dr. Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für einzubeziehen, sodass aus dem Führungsduo ein echtes
die CDU/CSU-Fraktion. Führungstrio wird. Voraussetzung dafür ist die Mitglied-
schaft Polens in der Euro-Zone. Polen ist ein eindrucks-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) volles Beispiel dafür, wie sich ein Land von den Lasten
jahrzehntelanger sozialistischer Fehlentwicklungen be-
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): freien und zu einem starken, wettbewerbsfähigen Wirt-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kri- schaftspartner entwickeln kann. Ich bin mir sicher, dass
senhafte Entwicklungen wie die derzeitige Finanzkrise gerade in einer größer und differenzierter gewordenen
sollten immer Anlass zur Selbstbesinnung sein: Warum EU Polen als Mitglied im Führungstrio in seiner Verant-
brauchen wir Europa? Welche Konsequenzen müssen wir wortung für die gesamte Union auch mit Blick auf die
daraus ziehen? Wer den rasanten Aufstieg Chinas und neuen östlichen Mitglieder seinen Beitrag leisten wird,
seine zunehmende Macht in der Welt sieht – auch andere sodass divergierende Interessen besser überwunden wer-
Staaten wie Indien oder Brasilien werden deutlich an den können. Ich denke, ein solches Mehr an Europa liegt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14449
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) ganz im Sinne größerer Geschlossenheit und Handlungs- CSU unterstützt die Bundesregierung in ihren zahlrei- (C)
fähigkeit Europas. chen Initiativen, gerade auch auf europäischer Ebene,
um den Wandel in Ägypten und Tunesien zu flankieren.
Es ist gut, dass Polen während seiner Präsidentschaft
die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Genauso bedeutsam ist für uns die Zukunft Libyens;
voranbringen will; denn auch hier brauchen wir dringend denn es liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
mehr Europa. Der NATO-Einsatz in Libyen hat deutlich Wir müssen auch Libyen das Angebot einer Transforma-
gezeigt, welche gravierenden Mängel durch Sparzwänge tionspartnerschaft machen, die die führende Rolle der
nicht nur bei Munition und Durchhaltefähigkeit entstan- EU bei der Unterstützung des demokratischen Wandels
den sind. in Libyen gewährleistet.
(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Sosehr es auch gilt, nach vorne zu schauen, noch ein
Wort zur deutschen Nichtbeteiligung am militärischen
Es wird deshalb kein Weg daran vorbeiführen, auf der Vorgehen der NATO in Libyen: Die Bundesregierung hat
Grundlage der Gent-Initiative möglichst bald zu ent- sich aufgrund der aus ihrer Sicht unabsehbaren Risiken
scheiden, wo wir Fähigkeiten mit anderen teilen wollen, nicht an den militärischen Operationen der NATO betei-
wo wir Fähigkeiten übernational mit anderen einbringen ligt. Die Bundeskanzlerin hat aber von Beginn der Luft-
wollen und auf welche Fähigkeiten wir national aus Kos- schläge an gesagt, dass Deutschland in diesem Konflikt
tengründen verzichten wollen, weil andere sie verläss- nicht neutral ist und dass wir die Ziele der Resolution
lich und günstiger bereitstellen. 1973 vorbehaltlos unterstützen. Wir sind froh, dass sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unsere Bedenken nicht bestätigt haben.
Ohne ein solches Pooling und Sharing wird es angesichts (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Dafür musste
knapper Kassen keine eigenständige europäische Vertei- man sich nicht enthalten!)
digungspolitik geben, und ohne eine europäische Vertei- Die Entsendung von Bodentruppen war nicht notwendig.
digungspolitik wird Europa ein entscheidendes Instru- Der Einsatz wurde nicht als Intervention des Westens
ment für seine Selbstbehauptung in der globalisierten missverstanden, es gab keine Demonstrationen gegen
Welt fehlen. Deshalb brauchen wir auch hier mehr die Luftschläge und die NATO in der arabischen Welt.
Europa.
(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sie wissen gar
„Mehr Europa“ heißt auch, das Verhältnis zur Türkei nicht, was da los ist!)
neu zu gestalten. Mit Kroatien wurden in den letzten
sechs Jahren die Beitrittsverhandlungen über 35 Kapitel Das Vorgehen der NATO war letztlich mitentscheidend
für den Fall Gaddafis.
(B) beendet. In derselben Zeit wurde mit der Türkei nur ein (D)
einziges Kapitel vorläufig abgeschlossen. Die Verhand- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
lungen drohen im Sande zu verlaufen. Das aber würde BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zu einer erheblichen Entfremdung in den Beziehungen
zur Türkei führen. Das kann nicht in unserem Interesse Deshalb danken wir unseren Bündnispartnern, allen vo-
sein; ran den USA, Frankreich und Großbritannien, die die
maßgebliche Last dieses Einsatzes getragen haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP und des Abg. Tom Koenigs (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

denn wir haben nicht nur angesichts des Umbruchs in Den Sieg über Gaddafi und damit seine Freiheit aber hat
der arabischen Welt das Interesse, so eng wie möglich das libysche Volk errungen. Auch das ist ganz wichtig.
mit der Türkei zusammenzuarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Uta Zapf [SPD]: Jetzt kommt er drauf!) Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und
die Geheimdienste!)
Dem sollten wir in unseren Beziehungen zur Türkei
Rechnung tragen. Nach dem Fall Gaddafis sind die Herausforderungen
in Libyen viel größer als in Tunesien und Ägypten:
Was die Beitrittsverhandlungen betrifft, könnte des- Staatliche Strukturen müssen gänzlich neu aufgebaut
halb zunächst ein Zwischenziel angestrebt werden, bei- werden, und die Stämme müssen einbezogen werden.
spielsweise eine spezifische, auf die gemeinsamen Mög- Viel ausgeprägter als in den Nachbarländern haben sich
lichkeiten und Interessen ausgerichtete Anbindung, traditionelle Strukturen erhalten. Der Wiederaufbau
vergleichbar mit dem Europäischen Wirtschaftsraum. muss rasch angegangen werden. Nun gilt es zuallererst,
Das 2005 vereinbarte Ziel einer möglichen Vollmitglied- die Not der kriegsgeplagten libyschen Bevölkerung zu
schaft gilt weiterhin. Im Bereich der Außen- und Sicher- lindern. Es ist deshalb richtig, dass die Bundesregierung
heitspolitik sollte die EU mit der Türkei allerdings schon 1 Milliarde Euro aus eingefrorenen Auslandsgeldern des
heute intensiver und institutionell so eng wie möglich alten Regimes sofort freigegeben hat und die EU einen
zusammenarbeiten und sie darin einbeziehen. Teil ihrer Sanktionen umgehend aufgehoben hat.
„Mehr Europa“ bedeutet auch, dass wir mehr denn je Ferner muss die Übergangsregierung nun umgehend
ein außenpolitisch kohärentes Vorgehen der EU in unse- einen demokratischen Fahrplan vorlegen und umsetzen,
rer unmittelbaren Nachbarschaft brauchen. Die CDU/ also einen Prozess der nationalen Einigung, Versöhnung
14450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Andreas Schockenhoff


(A) und Anstrengung einleiten, eine Verfassung erarbeiten Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
und zudem zu einem geeigneten zukünftigen Zeitpunkt Stefan Liebich ist der nächste Redner für die Fraktion
Parlamentswahlen durchführen. Wenn nicht Deutschland Die Linke.
und die EU, wer sonst könnte hier Expertise einbringen?
(Beifall bei der LINKEN)
Deutschland wird Hilfe beim Aufbau von Strukturen
in der Bildung, im Gesundheitswesen und bei der Grenz-
sicherung leisten. Ebenso können bei entsprechenden Stefan Liebich (DIE LINKE):
Anfragen aus Libyen zivile Missionen, etwa im Sicher- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
heitssektor oder beim Aufbau des Justizwesens, von der Guido Westerwelle hat leider den Großteil seiner Rede-
EU mit deutscher Beteiligung entsandt werden. zeit hier für eine Parteitagsrede genutzt, um seine eige-
nen Leute hinter sich zu versammeln. Er hat zur Außen-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beobachten mit politik und zum Haushalt nur sehr wenig gesagt. Dabei
großer Sorge die Entwicklungen in Syrien. Präsident gibt es hier viel, über das man diskutieren sollte; denn
Assad führt einen brutalen Unterdrückungskrieg gegen beides befindet sich in einer gewaltigen Schieflage. Sie
das syrische Volk. Assad ist für uns kein Partner mehr. setzen auf das Militär und kürzen die Mittel für frieden-
Deutschland hat sich bereits auf EU-Ebene erfolgreich schaffende Maßnahmen. Wir finden das falsch. Ja, Herr
für weitreichende Sanktionen gegen dieses Unterdrü- Westerwelle, Sie haben recht: Wir haben dem in jeder
ckungsregime eingesetzt. Ausschusssitzung und in jeder Plenarsitzung widerspro-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, und wir werden das weiterhin tun.
NEN]: Herr Schockenhoff, was ist denn mit (Beifall bei der LINKEN)
dem Ölembargo? Ende November!)
Wenn man einen Blick in den Haushalt wirft, dann
Das Ölembargo der EU ist ein wichtiger Schritt. Es ist muss man feststellen, dass auf der einen Seite bei der
allerdings skandalös, wenn sich die umfassende Umset- auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, dem Teil der
zung aufgrund bestimmter Lieferverträge eines italieni- Außenpolitik, der der Verständigung zwischen den Men-
schen Konzerns bis Mitte November verzögert. Die EU schen verschiedener Nationalitäten dient, gekürzt wurde.
muss zeigen, dass sie es mit den Sanktionen ernst meint. Unter der Überschrift „Strukturelle Neupositionierung“
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden die Mittel für die Deutsche Welle um 2 Millio-
neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE nen Euro und für das Goethe-Institut um 4 Millionen
GRÜNEN) Euro gekürzt. Die Mittel für Abrüstung und Rüstungs-
kontrolle werden gekürzt. Dabei gibt es hier weltweit ge-
(B) (D)
Die Vorfälle an der israelisch-syrischen Grenze im nug zu tun. Auf der anderen Seite werden 170 Millionen
Frühjahr dieses Jahres, die jüngsten Spannungen im Si- Euro mehr für Auslandseinsätze der Bundeswehr einge-
nai und der zuletzt wieder intensivere Beschuss israeli- plant; insgesamt zahlen wir dafür inzwischen mehr als
scher Städte aus dem Gazastreifen mahnen, dass die his- 1 Milliarde Euro. Sie wollen zusätzliches Geld für den
torischen Veränderungen nicht zu weniger Sicherheit für Ausbau des NATO-Hauptquartiers und den Ausbau des
Israel führen dürfen. Gerade wegen der vielen Unwäg- sogenannten zivilen Arms der NATO. Wozu braucht ein
barkeiten in Israels Nachbarländern sind Fortschritte im Militärbündnis einen zivilen Arm? Warum wird das
Friedensprozess notwendig, um Stabilität zu fördern und Geld nicht der zivilen OSZE gegeben?
einen positiven Impuls für die gesamte Region zu geben.
Einseitige Schritte, sei es der Gang der palästinensischen (Beifall bei der LINKEN)
Seite vor die UN-Generalversammlung oder der Bau von Diese Prioritätensetzung ist absurd. Hier werden wir Än-
weiteren israelischen Siedlungen, bergen nur die Gefahr derungen beantragen.
einer Verschärfung der Lage und bringen uns einer Lö-
sung nicht näher. Die Anerkennung eines palästinensi- Die Haushaltsdebatte ist immer auch eine Gelegen-
schen Staates kann nur die Folge von Verhandlungen heit für eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die
sein. Politik in unserem Land. Diese ist im Bereich der Au-
ßenpolitik dringend erforderlich. Die Leser der Süddeut-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Seit schen Zeitung haben sich im März dieses Jahres erstaunt
40 Jahren!) die Augen gerieben, als sie lesen durften, dass der ehe-
Hier muss die EU zu einer gemeinsamen Haltung kom- malige Außenminister Fischer, Mitglied von Bünd-
men. nis 90/Die Grünen, „Scham für das Versagen unserer Re-
gierung“ und der „roten und grünen Oppositionsführer“
Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir empfand.
mehr Europa, mehr politische Integration in Europa,
mehr Handlungsfähigkeit und mehr politische Gestal- (Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Der
tungskraft, wenn wir Subjekt und nicht Objekt der glo- meinte seine Regierung!)
balen Entwicklungen sein wollen. Ende August teilte er via Spiegel mit, dass das Verhalten
Herzlichen Dank. der Bundesregierung „ein einziges Debakel, vielleicht
das größte außenpolitische Debakel seit Gründung der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrepublik“ sei.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14451
Stefan Liebich
(A) Worin bestand die Katastrophe, die Abgeordneten sident Karzai im März dieses Jahres die NATO gebeten (C)
von CDU/CSU, SPD – das haben wir eben wieder bei hat, die Bombardements einzustellen. Das und nicht die
Herrn Erler gehört – und Bündnis 90/Die Grünen so un- Enthaltung bei der Libyen-Abstimmung ist das größte
endlich peinlich ist und den sogenannten Parteifreunden Debakel der deutschen Außenpolitik.
des Außenministers ein willkommener Anlass zu sein
(Beifall bei der LINKEN)
scheint, ihn endlich zum Rücktritt zu drängen? Es war
die Entscheidung, einer Beteiligung an einem Bürger- Die Bundesregierung hat im UN-Sicherheitsrat an-
krieg nicht zuzustimmen. Es war die Entscheidung, deut- ders abgestimmt als die Regierung der Vereinigten Staa-
sche Soldatinnen und Soldaten nicht erneut in ein militä- ten. Das darf sie. Der vom Berliner rot-roten Senat zum
risches Abenteuer mit offenem Ausgang zu schicken. Es Ehrenbürger ernannte Egon Bahr sagte 2003 mit Blick
war die Entscheidung, bei einer vorhersehbaren Fehl- auf das deutsche Nein zum zweiten Irakkrieg, dass man,
interpretation der Charta der Vereinten Nationen und der statt den USA hinterherzulaufen, selbstbewusst den ei-
Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht genen Weg gehen solle. Unterschiede müssten nicht
mitzumachen. Natürlich sind wir alle froh, dass ein Dik- Gegnerschaft sein. Recht hat er.
tator weniger im Amt ist. Aber heiligt dieses Ergebnis
jedes Mittel? Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, die
NATO hat einen militärischen Sieg gegen einen Diktator
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Wolfgang Götzer errungen, und wir waren nicht dabei. Aus meiner Sicht
[CDU/CSU]: Was ist mit Castro?) ist das kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Deutsch-
Es war nach wenigen Tagen der NATO-Bombardierung land kann auf bessere Weise sehr viel Schlimmes verhin-
klar, dass es um mehr geht als um den Schutz von Zivi- dern und sehr viel Gutes tun.
listen, wie vom Sicherheitsrat beschlossen. (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
Was passiert wohl mit der Zivilbevölkerung in einem LINKE])
Krieg? Herr Schockenhoff, Amnesty International hat Was machen die Gewehre von Heckler & Koch in
beiden Konfliktparteien Folter vorgeworfen. Wir wissen Gaddafis Palast? Was haben deutsche Panzer in Saudi-
gar nicht, wie viele Menschen den Truppen Gaddafis, Arabien zu suchen, was deutsche Polizeiknüppel bei
denen der Rebellen und den Bomben der NATO zum Mubaraks Sicherheitskräften?
Opfer gefallen sind. Die Rebellen selbst sprechen von
50 000 Toten. Dass Deutschland daran nicht beteiligt ist, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
soll das größte außenpolitische Debakel seit dem Zwei- Richtig!)
ten Weltkrieg sein? Da fallen mir ganz andere Beispiele Beenden wir die deutschen Waffenexporte! Beenden wir
(B) ein, die Ausstattungs- und Ausbildungshilfen für Diktaturen! (D)
(Beifall bei der LINKEN) Beenden wir das am besten generell! Das ist der beste
Beitrag, den Deutschland zur Schaffung einer friedlichen
die Entscheidung des Bundestages von 1998 zum Bei- Welt leisten kann.
spiel, gänzlich ohne völkerrechtliche Legitimierung die
Weichen für eine Bombardierung von Belgrad zu stellen. Danke schön.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Dieser erste Kriegseinsatz in der jüngeren deutschen Ge-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
schichte war ein Tabubruch. Damals, Herr Erler, ist die
Außenpolitik auf die schiefe Bahn geraten. Das Wort erhält nun der Kollege Frithjof Schmidt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ein weiteres Beispiel ist der Afghanistan-Krieg. Nach Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den unentschuldbaren Terrorangriffen auf New York und NEN):
Washington und der Ermordung Tausender stand Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Deutschland an der Seite der Vereinigten Staaten. Bun- Kollegen! Herr Außenminister, die Hälfte der Legisla-
despräsident Johannes Rau sagte vor 200 000 Berlinerin- turperiode ist um, und was ist Ihre Bilanz? Die Kom-
nen und Berlinern unter riesigem Beifall: „Hass darf uns mentarlage im In- und Ausland ist eindeutig: Deutsch-
nicht zum Hass verführen. Hass blendet.“ land verliert in der Welt dramatisch an Ansehen. Das ist
der Kern Ihrer Bilanz, und das ist für einen deutschen
(Zurufe von der LINKEN: Genau! – Richtig!) Außenminister wirklich einzigartig.
Die Regierung Schröder/Fischer/Schily/Künast re-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
agierte anders. Unter der Überschrift „Uneingeschränkte
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Solidarität, das heißt auch militärischer Beistand“ führte
sie Deutschland in einen seit zehn Jahren andauernden In seltener Deutlichkeit haben altgediente Staatsmän-
Krieg, in dem sich in diesem Moment über 5 000 deut- ner aus unterschiedlichen Lagern die Außenpolitik Ihrer
sche Soldatinnen und Soldaten befinden. 52 haben dort Regierung – man muss es so sagen – vernichtend kriti-
bereits ihr Leben gelassen, mit ihnen 2 600 weitere Sol- siert. Deutschland gilt unter Schwarz-Gelb als schwer
daten und mehr als 30 000 afghanische Zivilisten, und es berechenbar. Als Außenminister, Herr Westerwelle, sind
geht immer weiter, und das, obwohl der afghanische Prä- Sie persönlich dafür verantwortlich, die Politik unseres
14452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Frithjof Schmidt


(A) Landes im Ausland zu vermitteln und zu erklären. An (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
dieser Aufgabe scheitern Sie. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Herr Westerwelle, Sie haben kürzlich gesagt, es rei- Die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland
che in der heutigen Welt nicht mehr, „alte Partnerschaf- waren immer überzeugte und vor allem überzeugende
ten“ zu pflegen, sondern man müsse auch „die neuen Europäer. Sie, Herr Westerwelle, brechen mit dieser Tra-
Kraftzentren der Welt ernst nehmen und neue strategi- dition: keine große Rede, keine Vision, keine Idee zu Eu-
sche Partnerschaften aufbauen“. Das ist richtig. Unsere ropa. Ich will gerne zugeben: Ein Außenminister hat es
Politik muss den dynamischen Veränderungen in der in Zeiten des Lissabon-Vertrages schwerer, als Taktgeber
Welt Rechnung tragen. Das Problem ist nur: Sie haben der Europapolitik zu fungieren. Aber bei Ihnen frage ich
das in den Zusammenhang mit der deutschen Enthaltung mich schon, ob Sie überhaupt noch im Orchester sitzen.
im Sicherheitsrat zur Libyen-Resolution gestellt. Wie
sollen unsere Partner in Europa und den USA das denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
verstehen? Sie relativieren so die bewährten Partner- und bei der SPD)
schaften der letzten Jahrzehnte Dabei gibt es gerade bei der gemeinsamen europäi-
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Kriegspartner- schen Außenpolitik dringend zu erledigende Aufgaben.
schaft!) Auf dem Westbalkan schwelen Konflikte vor sich hin.
Hier wären europäische Initiativen unbedingt erforder-
und stellen ihnen dann China, Russland und Indien ge- lich. Doch die EU ist in zentralen Punkten wie der Aner-
genüber. Das ist beispielhaft für Ihr politisches Problem: kennung des Kosovo zerstritten und handlungsunfähig.
Sie wollen die wachsende Bedeutung der Schwellenlän- Hier, Herr Westerwelle, könnte Deutschland eine trei-
der zu Recht ansprechen, aber Sie finden dafür weder bende und produktive Rolle spielen. Wir würden uns
den richtigen Ton noch die richtigen Worte noch den sehr freuen, wenn Sie hier einmal liefern würden.
richtigen Zusammenhang.
Meine Damen und Herren von der Koalition, der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Außenminister ist natürlich nicht alleine für Fehler ver-
sowie bei Abgeordneten der SPD) antwortlich. Die Probleme erwachsen aus einer grundle-
Zurück bleibt dann ein diplomatischer Scherbenhau- genden außenpolitischen Konzeptionslosigkeit dieser
fen nach dem anderen. Ich frage mich schon, was Sie un- Regierung. Dafür trägt die Bundeskanzlerin mindestens
ter einer strategischen Partnerschaft verstehen. Wir sind ebenso sehr die Verantwortung wie der Außenminister.
überzeugt, dass eine solche Partnerschaft mehr sein
Eine weitere Bemerkung zur Libyen-Politik ist hier
muss als schlichte machtpolitische Kooperation mit ei-
(B) nem großen Land. Partnerschaft setzt doch eine breite nötig. Wir haben die deutsche Enthaltung im Sicher- (D)
heitsrat damals kritisiert, weil sie ein falsches politisches
Basis von gemeinsamen Grundüberzeugungen und Posi-
Signal an Gaddafi bedeutet hat, nicht aber die Position
tionen voraus. Deswegen sollten wir diesen Begriff nicht
der Bundesregierung, keine deutschen Truppen in den
inflationär verwenden, und das tun Sie.
Einsatz in den Luftraum über Libyen zu schicken. Dazu
Sie vermitteln den Eindruck, dass es Ihnen vor allem stehe ich nach wie vor. Aber man kann sich doch freuen,
darum geht, der deutschen Außenpolitik größtmöglichen wenn der Einsatz der NATO nach vielen Schwierigkei-
nationalen Spielraum zu verschaffen. Das ist der falsche ten und auch Überdehnungen der UN-Resolution
Weg. Notwendig ist eine engere Einbindung Deutsch- schließlich gut ausgeht und der brutale Diktator gestürzt
lands in die europäische Außenpolitik. Das wäre dann wird.
auch der richtige Weg, um neue strategische Bündnisse
zu schmieden, die die Schwellenländer einbeziehen, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was ist da-
nicht allein, sondern im europäischen Gespann. ran gut? – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
Sie glauben, das ist vorbei?)
Aber, Herr Westerwelle, die Europapolitik ist bisher
ohnehin nicht Ihr Feld. Europa, die Europäische Union Man sollte dabei die Verdienste der NATO würdigen. Ihr
ist für Deutschlands Zukunft von schicksalhafter Bedeu- Problem war und ist doch, dass Sie das nicht ohne Nach-
tung. Die Europäische Union steht heute auf dem Spiel. hilfe zum Ausdruck gebracht haben. Auch hier haben
Sie muss entschieden und offensiv verteidigt werden. Sie nicht den richtigen Ton und die richtigen Worte ge-
Wir brauchen mehr europäische Integration. Der deut- funden. Das kann und darf sich der Chef der deutschen
sche Außenminister sollte hierfür ein begeisterter und Diplomatie eben nicht leisten.
entschlossener Vorkämpfer sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die weitere Unterstützung des arabischen Frühlings
In entscheidenden Fragen, wie der Schaffung des Eu- gehört jetzt ins Zentrum deutscher und europäischer Au-
ropäischen Stabilitätsmechanismus, haben Sie Rücken- ßenpolitik. Die Solidarität mit dem syrischen Volk und
deckung aus der Opposition. Aber wo sind Sie denn in seinem mutigen Kampf gegen die Assad-Diktatur muss
diesen Auseinandersetzungen seit über einem Jahr zu hier ganz vorne stehen. Da ist es kaum zu fassen, dass
finden? Wo stehen Sie denn? Man muss glauben, das die EU erst jetzt ein Ölembargo gegen Syrien beschlos-
Auswärtige Amt hätte jegliche Zuständigkeit hierfür mit sen hat. Der Diktator massakriert sein Volk, und über
Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag abgegeben. Monate wird ihm nicht einmal der Ölverkaufshahn zuge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14453
Dr. Frithjof Schmidt
(A) dreht. Es ist ein Skandal, dass das Embargo erst Mitte Dr. Rainer Stinner (FDP): (C)
November wirklich greifen wird. Herr Präsident, mein Name ist Rainer Stinner und
nicht Erwin Lindemann. – Herr Präsident! Liebe Kolle-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ginnen und Kollegen! Die Debattenbeiträge der Opposi-
und bei der SPD) tion haben ein bedenkliches Phänomen gezeigt, das man
Wenn Italien hier blockiert, weil es Versorgungseng- medizinisch als retrograde Amnesie bezeichnet, nämlich
pässe hat, dann muss europäisch ausgeholfen werden. Vergesslichkeit. Sie machen die Vergesslichkeit, die Sie
Da muss es doch eine Initiative zur Lösung geben. Hier in den letzten sechs Monaten an den Tag gelegt haben,
hätte Deutschland sich entschiedener und sichtbarer ein- zum Zentrum Ihrer Kritik an dieser Bundesregierung.
setzen müssen. Herr Erler, Sie haben in Ihrer Vorlesung hier die Bun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desregierung sehr deutlich kritisiert und gesagt, dass die
sowie bei Abgeordneten der SPD) Libyen-Entscheidung falsch gewesen sei. Herr Schmidt,
auch Sie sind leider diesem Phänomen verfallen und ha-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die arabischen Län- ben gesagt, Sie hätten damals die Entscheidung der Bun-
der, die den ersten Schritt in die Freiheit gemacht haben, desregierung kritisiert.
stehen nun vor großen Herausforderungen. Europa muss Ich darf Sie einmal mit der Realität konfrontieren:
jetzt handeln. Daher muss sich die Bundesregierung in- Herr Trittin hat am 18. März 2011 gesagt, Deutschland
tensiv für den Abbau der EU-Agrarzölle einsetzen. Auch habe gemeinsam mit Brasilien und Indien richtig rea-
die derzeitige europäische Abschottungspolitik gehört giert, indem es sich der Stimme enthalten habe – Herr
beendet. Die EU muss ihre Grenzen, ihre Arbeitsmärkte Trittin von den Grünen.
und ihre Universitäten für Menschen aus den sich demo-
kratisierenden Ländern Nordafrikas öffnen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Gabriel hat am 18. März dieses Jahres gesagt – dies
sowie bei Abgeordneten der SPD) war auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Herrn
Trittin; beide haben Deutschlands Enthaltung gelobt –,
Meine Damen und Herren von der Koalition, eine ab- er habe Verständnis für die Haltung Deutschlands bei der
schließende Bemerkung: Im Einzelplan des Auswärtigen Abstimmung. Wenn man wie Deutschland Sorge vor ei-
Amtes haben Sie im letzten Jahr eine ganze Reihe von ner militärischen Eskalation habe, sei eine Enthaltung
Kürzungen vorgenommen, unter anderem im Bereich nur folgerichtig. Herr Gabriel sagte auch:
der Krisenprävention und bei den humanitären Maßnah-
men. Dieses Jahr nehmen Sie diese Kürzungen nun teil- Ich kann die Skepsis nachvollziehen, deshalb ist die
(B) weise wieder zurück. Das ist gut. Aber eine Linie, eine Enthaltung richtig. (D)
Konzeption ist für mich beim besten Willen nicht er- Heute, sechs Monate später, stellen Sie sich hierhin,
kennbar. Das ist gerade in Bereichen wie der Krisenprä- Herr Erler und Herr Schmidt, und machen das zum Zen-
vention, wo es um den Aufbau nachhaltiger Strukturen trum Ihrer Kritik deutscher Außenpolitik.
geht, wirklich kontraproduktiv. Leider zeigt also selbst
der Haushalt in seinen Einzelheiten, wie unberechenbar (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Nein, die
die Politik dieser Regierung ist. Folgen!)

Mit dieser Halbzeitbilanz, Herr Minister Westerwelle, Meine Damen und Herren, wer soll diese beiden Par-
sind Sie ein Totalausfall für Ihre Koalition und leider teien noch ernst nehmen, zumal die beiden großen Pro-
auch für unser Land. tagonisten der Sozialdemokratischen Partei, die Herren
Gabriel und Steinmeier, der Debatte heute vorsichtshal-
Danke für die Aufmerksamkeit. ber ferngeblieben sind – vielleicht um nicht mit ihrer da-
maligen Einschätzung konfrontiert zu werden?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
In diesem Zusammenhang muss ich ein Zitat des Grü-
Präsident Dr. Norbert Lammert: nen-Politikers Cohn-Bendit wiedergeben – mit Verlaub,
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Götzer für Herr Präsident, hoffentlich auch mit Ihrer nachträglichen
die CDU/CSU. Genehmigung, wenn Sie es gehört haben –, der bezüg-
lich der Außenpolitik der Grünen gesagt hat:
(Jörg van Essen [FDP]: Nein, Rainer Stinner!)
Ich spreche von Grünen-Politikern, von Jürgen
– Es wäre ja gut, wenn mir das auch einer sagte. Trittin, Omid Nouripour und anderen Klugschei-
ßern.
(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Wir haben
getauscht!) Herr Präsident, ich entschuldige mich für die Wortwahl.
Aber das ist die Wortwahl der Grünen gewesen.
Dann erhält jetzt der Kollege Rainer Stinner das Wort,
und der Kollege Götzer kommt einvernehmlich später an Meine Damen und Herren, das ist die Qualität, mit
die Reihe. – Bitte. der wir hier im Deutschen Bundestag, mit der die deut-
sche Öffentlichkeit und mit der die Damen und Herren
(Beifall bei der FDP) links oben von der Presse von der deutschen Opposition
14454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Rainer Stinner


(A) konfrontiert werden. Wenn Sie das berücksichtigen, Insofern stellt sich die Frage: Was tun Sie gegen die- (C)
dann können Sie doch nicht im Ernst einen Anspruch da- sen Trend? Wie erläutern Sie den Bundesbürgern, dass
rauf erheben, für Deutschland eine bessere Außen- und es wichtig ist, sich innerhalb von Institutionen und Re-
Sicherheitspolitik zu gestalten. Nein, Sie haben deutlich geln zu bewegen, was letztlich zum Wohle Deutschlands
bewiesen, dass Sie das nicht können. gehört?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diese Herausforderungen stellen sich. An diesen He-
der CDU/CSU) rausforderungen sind Sie aber zumindest in den letzten
zwei Jahren gescheitert. Es geht nicht um die Reden, die
Deshalb stelle ich abschließend völlig einvernehmlich Sie gegen die Renationalisierung halten; es geht viel-
für die beiden Koalitionsfraktionen und die Bundes- mehr um das Handeln.
regierung fest: An der klaren Einbettung Deutschlands
ins westliche Bündnis und an der klaren Orientierung an In der Europapolitik – das wird sich auch gleich in der
Werten und Zielen deutscher und europäischer gemein- Generaldebatte zeigen – hat nicht nur der Bundesaußen-
samer Politik lassen wir nichts deuteln, auch nicht von minister, sondern die gesamte Bundesregierung versagt,
inkompetenten Oppositionspolitikern. was die Rolle Europas angeht. Die Bundeskanzlerin hat
2009 den Abgeordneten im US-Kongress gesagt – einige
(Widerspruch bei der SPD) von uns waren seinerzeit dabei –:
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt wird sich Deutschland steht in dieser Welt in festen Bündnis-
auch in Zukunft auf der Basis dieser klaren Werteorien- sen und Partnerschaften; deutsche Sonderwege sind
tierung gestalten. grundsätzlich keine Alternative deutscher Außen-
Herzlichen Dank. politik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diese Rede wird in Washington immer wieder gele-
der CDU/CSU) sen, und Ihr Handeln wird daran gemessen. Was Libyen
angeht, waren wir nicht an der Seite unserer Partner. Das
ist nicht nur Ihr Versagen, sondern das Versagen der ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: samten Bundesregierung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der
SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich nenne ein drittes Beispiel. Die Bundeskanzlerin
hat sehr früh eine Option beiseitegeschoben, die im Hin-
blick auf die geplante UN-Resolution im September in
(B) Dr. Rolf Mützenich (SPD): (D)
den Vereinten Nationen wichtig gewesen wäre, nämlich
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Druck auf die israelische Regierung zu erhalten, da-
Herr Bundesaußenminister, ich finde, dass in den letzten mit es wieder zu Friedensverhandlungen kommt.
Wochen nicht ganz fair mit Ihnen umgegangen worden
ist. Sie haben eine Menge Pfeile auf sich gezogen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
damit offensichtlich von dem Komplettversagen der ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
samten Bundesregierung abgelenkt, die nämlich auch Die Bundeskanzlerin schiebt diese Option beiseite. Sie
den außenpolitischen Herausforderungen nicht gerecht erschweren die Einigung bei den Konsultationen mit den
geworden ist. Deswegen glaube ich – das ist vielleicht europäischen Außenministern am Wochenende, weil
ein Trost für Sie –: Das Komplettversagen der gesamten Deutschland in dieser Frage nicht richtig gehandelt hat.
Bundesregierung ist blamabel für die deutsche Außen- Das ist das Komplettversagen.
politik.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben in Ihrer
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rede auf Afghanistan Bezug genommen. Sie wissen,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass die Sozialdemokratische Partei der Politik, die sei-
Die schlimmen Fehler, die in den vergangenen Wo- nerzeit in London kreiert worden ist, bisher gefolgt ist.
chen gemacht worden sind, Herr Bundesaußenminister, Bestandteil dieser Politik war aber auch, dass Sie gesagt
sind das eine. Große Sorgen macht mir aber, dass Sie auf haben, bis 2015 würden die Kampftruppen aus Afgha-
Trends, die es innerhalb der deutschen Gesellschaft gibt, nistan zurückgezogen, und wir würden im nächsten Jahr
offensichtlich nicht rechtzeitig und allenfalls mit Des- damit beginnen. In Ihrer Rede heute hörte sich das an-
interesse eingehen. ders an.

Ich würde gerne auf eine Allensbach-Umfrage einge- Sie gefährden den innenpolitischen Konsens, wenn
hen, über die im Juli 2011 in der Frankfurter Allgemei- Sie das nicht einhalten, was Sie vor einigen Monaten im
nen Zeitung berichtet wurde. Ich zitiere: Deutschen Bundestag gesagt haben. Daran werden wir
Sie messen.
Auch die Überzeugung, es sei notwendig, Deutsch-
land in internationale Bündnisse einzubinden, Ich finde, das Komplettversagen der Bundesregierung
scheint allmählich zu erodieren. muss benannt werden. Wir haben viele verantwortliche
Minister, die der deutschen Außenpolitik in den vergan-
Ich denke, das muss uns allen, auch dem gesamten Deut- genen Monaten Schaden zugefügt haben. Ein Beispiel ist
schen Bundestag, große Sorgen machen, Herr Minister. Herr Niebel. Ich empfand es als einen Skandal, als er in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14455
Dr. Rolf Mützenich
(A) der Zeit auf die Frage, ob die Lieferung von Panzern an Union zündelt und den Chauvinismus in dieser Region (C)
Saudi Arabien mit der Menschenrechtspolitik der Bun- wieder aufleben lässt. Es gehört Mut dazu, dem entge-
desregierung übereinstimme, geantwortet hat: „Die Sta- genzutreten. Das weiß ich. Aber, Herr Bundesaußen-
bilisierung einer Region trägt durchaus dazu bei, die minister, ich verlange von Ihnen, den Mut aufzubringen,
Menschenrechte zu wahren …“ – Von welchen Men- mit der ungarischen Regierung darüber zu reden, welche
schenrechten in Saudi Arabien reden Sie eigentlich? Was Bedeutung sie der Minderheitenpolitik im Rahmen der
sollen denn dort Panzer positiv bewirken? Europäischen Union beimisst. Das gilt auch für die Me-
dienpolitik. Das anzusprechen, gehört zu einer mutigen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutschen Außenpolitik. Ich finde, die Bundeskanzlerin
DIE GRÜNEN) hätte sich dazu äußern müssen.
Das ist der eigentliche Skandal. Ich hätte mir von der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundeskanzlerin deutlichere Worte dazu gewünscht. Das DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
betrifft auch die Begründung für die Lieferung, die nach- LINKEN)
her wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist. Sie haben
gesagt, die israelische Regierung habe Sie ermutigt, die Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzige Konti-
Panzer nach Saudi Arabien zu liefern. nuität besteht in den Widersprüchen der von Ihnen be-
triebenen deutschen Außenpolitik. Matthias Naß von der
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Zeit hat von seinen Reisen in die verschiedenen Haupt-
GRÜNEN]: Stimmt gar nicht!) städte im Juli das Resümee mitgebracht: „Ratlos stehen
Weil einige mutige Kollegen aus Ihren Reihen nach- die Freunde vor der neuen deutschen Unberechenbar-
gefragt haben, hat sich herausgestellt, dass das gar nicht keit.“
stimmt. Das erinnert an eine Situation, die wir schon ein-
mal erlebt haben. Man beruft sich auf Israel zur Recht- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
fertigung einer politischen Handlung. Es gab schon ein- Herr Kollege.
mal eine ähnliche Begebenheit bei der CDU/CSU,
nämlich als es um jüdische Vermächtnisse gegangen ist. Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Es ist ein Skandal, dass Argumente angeführt werden, Herr Bundesaußenminister, es ist nicht der Kompass,
die in der Realität keine Grundlage haben. Das zeigt das der Ihnen fehlt; denn der Kompass ist lediglich ein In-
Komplettversagen der gesamten Bundesregierung. strument. Was Ihnen fehlt, sind Einsichten, Ernsthaftig-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten keit und Mut. Das ist bedauerlich, aber wohl nicht mehr
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des zu ändern.
(B) Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) (D)
Vielen Dank.
Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir unabhängig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
von der Libyen-Entscheidung gewünscht, dass Sie deut- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Diether
lich gemacht hätten, wie die Haltung der Bundesregie- Dehm [DIE LINKE])
rung in den Vereinten Nationen zu der Schutzverantwor-
tung, der Responsibility to Protect, ist. Sie sind im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sicherheitsrat, und der Sicherheitsrat wird die Rolle der Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang
Schutzverantwortung im Rahmen des Völkerrechts aus- Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
gestalten müssen. Nach der Libyen-Entscheidung stellt
sich insbesondere die Frage, welche Instrumente man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den Vereinten Nationen an die Hand gibt, um dieser
Schutzverantwortung gerecht zu werden. Die Delegation Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU):
an andere Institutionen ist offensichtlich falsch. Deshalb Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
müssen wir eine Diskussion anstoßen – das ist insbeson- Wir alle spüren im Moment ganz besonders, dass sich
dere Ihre Aufgabe –, wie mit der Schutzverantwortung Europa in der größten Bewährungsprobe seit Unter-
umgegangen wird und welchen Beitrag deutsche Außen- zeichnung der Römischen Verträge befindet. Die Bewäl-
politik in der Zukunft dazu leisten will. Diesen Grund- tigung der Schuldenkrise einiger Euro-Länder bedeutet
satzfragen widmen Sie sich überhaupt nicht. Ich hätte weit mehr als das Sichern unserer gemeinsamen Wäh-
mir gewünscht, dass das heute in Ihrer Rede eine Rolle rung und auch weit mehr als das Sichern unserer Wirt-
gespielt hätte. schafts- und Exportchancen. Es geht vor allem darum,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europa als eine politische Gemeinschaft zu erhalten. Wir
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) würden einen großen Fehler begehen, wenn wir es zulie-
ßen, dass durch die Schuldenkrise ein Schaden an eben-
Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Ich schätze Ih- dieser Europäischen Gemeinschaft entsteht.
ren Versuch in den letzten Monaten, die Lage auf dem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Balkan zu beruhigen und die Spannungen durch Koope-
ration, durch Gespräche und das Zusammenführen der Europa ist zuallererst ein bedeutender Garant für Frie-
Kontrahenten zu entschärfen. Das reicht aber nicht, ins- den. Sich für den Fortbestand eines friedlichen Europas
besondere dann nicht, wenn an der Grenze zum ehemali- einzusetzen, ist eine Grundlinie deutscher Außenpolitik.
gen Jugoslawien ein Mitgliedstaat der Europäischen Die deutsche Außenpolitik ist eingebettet in die interna-
14456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Wolfgang Götzer


(A) tionale Staatengemeinschaft und geschieht primär in Ab- für möglich gehalten hätte. Wie sich die Lage in den ein- (C)
stimmung mit der Europäischen Union. zelnen Ländern letztlich entwickeln wird, ist noch im-
mer nicht absehbar. Gemeinsam mit den Partnern der EU
Dies bedeutet aber nicht, dass wir in der Schulden-
müssen und werden wir den Wandel in den Ländern
krise unbegrenzt für Euro-Staaten einstehen, die sich
Nordafrikas zielorientiert, bedarfsgerecht und partner-
nicht solidarisch verhalten. Wer Teil dieser erfolgreichen
schaftlich unterstützen. Der Demokratisierungsprozess
Europäischen Gemeinschaft sein will, muss auch solida-
in der arabischen Welt ist nicht nur für die Menschen vor
risch gegenüber seinen Nachbarn sein. Es darf keine un-
Ort von größter Bedeutung, sondern liegt auch im deut-
begrenzte Einstandspflicht der Euro-Länder geben. Eine
schen und europäischen Interesse. Klar muss aber auch
Transferunion lehnen wir deshalb ab.
sein: Finanzielle Unterstützungsleistungen der EU müs-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sen zukünftig viel stärker als bislang von politischen und
der FDP) rechtsstaatlichen Reformen abhängig gemacht werden.
Noch etwas möchte ich aus gegebenem Anlass sagen: Dass nun auch die Tage der Gaddafi-Herrschaft vor-
Wir werden keinesfalls unsere nationale Souveränität bei sind, ist dem mutigen Kampf der Aufständischen in
und damit letztlich auch unsere nationale Identität aufge- Libyen, aber auch dem militärischen Eingreifen unserer
ben. Damit es ganz klar ist: Die CSU und insbesondere NATO-Partner zu verdanken. Die Tatsache, dass sich
die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag möch- Deutschland nicht an dem militärischen Einsatz beteiligt
te keine Vereinigten Staaten von Europa. hat, darf nicht mit Neutralität verwechselt werden.
Bündnistreue ist und bleibt eine der obersten Maximen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der deutschen Außenpolitik.
der FDP – Uta Zapf [SPD]: Warum denn
nicht?) Wir werden an der Seite der Bündnispartner bei dem
politischen Übergang Libyens in Richtung Demokratie
So denkt übrigens auch die übergroße Mehrheit der
und Rechtsstaat aktiv mitwirken. Außerdem werden wir
Deutschen.
Libyen beim Wiederaufbau der Wirtschaft und Infra-
Die europäischen Staaten sind Ausdruck der Vielfalt struktur unterstützen, und wir werden medizinische
und des kulturellen Reichtums Europas. Die Europäi- Hilfe leisten. Sollte es eine Anfrage der Bündnispartner
sche Union beruht auf der Gemeinschaft gleichberech- geben, wird auch die Beteiligung der Bundeswehr an ei-
tigter und souveräner Staaten. Für uns gilt deshalb, dass ner möglichen UNO-Friedensmission in Libyen kon-
der Grundsatz der Subsidiarität das am besten geeignete struktiv geprüft werden.
Ordnungsprinzip für die Aufgabenverteilung auf die ver-
schiedenen Ebenen in der Europäischen Union ist. Jede Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genauso wie in
(B)
weitere Übertragung von Kompetenzen auf die Europäi- den letzten Jahrzehnten wird die deutsche Außenpolitik (D)
sche Union darf nur mit Zustimmung des Bundestages auch in Zukunft wertorientiert und interessengeleitet
und des Bundesrates erfolgen. sein. Neben einer aktiven Europapolitik bleibt die Bünd-
nisorientierung eine wichtige Säule deutscher Außen-
Dennoch steht es außer Frage, dass wir in Zukunft un- politik. Deutschland steht zum Bündnis, Herr Kollege
sere Interessen in der Welt nur im europäischen Rahmen Erler, und wird auch in Zukunft seinen Beitrag leisten.
zur Geltung bringen können. Wir wollen und wir brau-
chen ein Europa, das immer weiter zusammenwächst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die EU muss dabei eine in sich gefestigte Wertegemein-
schaft innerhalb verlässlicher Grenzen sein. Deshalb Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
darf ihre Integrationskraft nicht überfordert werden. Das Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm von der
bedeutet für die Frage der EU-Erweiterung: Mit dem Fraktion Die Linke.
eingeleiteten Beitritt Kroatiens ist aus meiner Sicht bis
auf Weiteres die Aufnahmefähigkeit der Europäischen (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth
Union an ihre Grenzen gelangt. [Kyffhäuser] [FDP]: Salonmarxist!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Deshalb sagen wir ein klares Nein zu einem Beitritt der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Türkei. Westerwelle, Frau Merkel, Sie haben bisher noch keine
Griechen gerettet, sondern nur die Besitzer griechischer
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Schuldverschreibungen. Das ist die Wahrheit.
Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
Der Kollege Schockenhoff hat keinen Beitritt gefordert,
und den wird es mit uns auch nicht geben. Sie haben nicht die Spareinlagen der kleinen Leute bei
uns gerettet, sondern Josef Ackermann, der Sie berät und
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
den Sie Geburtstag im Kanzleramt feiern lassen. Der
GRÜNEN]: Das schauen wir mal!)
Ackermann/Merkel-Kurs zwingt die südeuropäischen
Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld in der deut- Konjunkturen in die Knie und auf die Knie. Aber wenn
schen Außenpolitik ist nach wie vor Nordafrika. Seit Griechenland und Spanien fallen, wenn Sie die Euro-
Monaten sind wir Zeugen gewaltiger Umwälzungen in Zone nicht halten können, dann können Sie auch unsere
der arabischen Welt, die vor einem Jahr noch niemand Exportkonzerne einsargen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14457
Dr. Diether Dehm
(A) Meine Damen und Herren, während Deutschlands Karlsruhe zu gehen. Und auch dies wird nicht erfolglos (C)
Bürger morgen wieder für Ackermann und die Finanz- bleiben.
haie mit gut 253 Milliarden Euro bürgen sollen, schlie-
ßen in Kommunen Schwimmbäder und Kulturzentren. Als ich letzte Woche ein Deutschlandfunk-Zitat von
Überall wird städtische Daseinsvorsorge in dieser Not zu Ihnen, Frau Merkel, auf den Nachdenkseiten von
Cashflow gemacht, in die Privatisierung getrieben. „Pri- Albrecht Müller gelesen habe, habe ich erst gedacht, da
vare“ ist Lateinisch und heißt „rauben“. Aber die Ge- muss der Albrecht Müller einer Stimmparodistin auf den
meinden sind unser Zuhause und kein Fraß für Finanz- Leim gegangen sein. Ich zitiere einmal mit Genehmi-
haie. gung des Präsidenten:

(Beifall bei der LINKEN) Wer leben ja in einer Demokratie,

Statt Schuldverschreibungen, meine Damen und Her- – danke schön –


ren, brauchen wir Nachfrage in den Verbrauchertaschen. und das ist eine parlamentarische Demokratie,
Städte und Gemeinden müssen wieder kaufkräftig wer-
den. So müssen auch Löhne und Renten steigen. Das ist – auch hier: danke schön für die Belehrung –
das Antikrisenkonzept, das Ihnen neuerdings sogar kon- und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des
servative Ökonomen vorrechnen. Parlaments,
Was glauben Sie denn, warum Frank Schirrmacher, – auch für diese tolle Erkenntnis danke ich –
Herausgeber der größten konservativen Zeitung in
Deutschland, der FAZ, vor drei Wochen schrieb; er und insofern werden wir Wege finden, wie die par-
fürchte, die Linken hätten recht? lamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird,
(Beifall bei der LINKEN) – und das lassen Sie sich jetzt bitte ganz langsam auf
dem Hirn zergehen –
Deutsche Billiglohnjobs sind der Motor immer tiefer
in die Krise hinein. Solange in Deutschland als einzigem dass sie trotzdem auch marktkonform ist.
und größtem EU-Land die Reallöhne weiter derart sin-
ken – in den vergangen zehn Jahren um 4,5 Prozent – Ich wiederhole: Die parlamentarische Mitbestimmung so
und die Exportüberschüsse steigen, solange die Länder gestalten, dass sie marktkonform ist.
Süd- und Osteuropas sich weiter verschulden müssen, Frau Merkel, es gibt hier in diesem Deutschen Bun-
weil deutsche Lohnpresser diese Märkte immer schneller destag – da muss ich auch Kolleginnen und Kollegen an-
mit Produkten aus immer billigerer Arbeit, hergestellt in derer Fraktionen in Schutz nehmen – noch ausreichend
(B) höchster Produktivität, überschwemmen, wird die Krise Kolleginnen und Kollegen, die gar nicht daran denken, (D)
immer schlimmer. sich hier marktkonform zu verhalten, sondern sich viel-
War da nicht mal die Rede von einer Finanztrans- mehr demokratisch verhalten
aktionsteuer? War da nicht mal was mit der Krisenbetei- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
ligung privater Gläubiger und Großzocker? Das wurde FDP)
auf die freiwillige Basis abgeschoben, so als ob man den
Marder im Blutrausch bitten könnte, sich selbst die – das werden Sie von der FDP wahrscheinlich nie be-
Maulsperre einzuziehen. greifen –, weil es noch Millionen Dinge und Menschen
auf dieser Welt gibt, die wir nicht den Märkten unterord-
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck nen dürfen.
[CDU/CSU]: Guten Morgen!)
(Beifall bei der LINKEN)
War da nicht mal was mit der Erhöhung der Risikode-
ckung der Großzocker, was selbst der Internationale Die wie ein Gottesurteil beschworenen bzw. wie ein
Währungsfonds erst vergangene Woche gefordert hat? Olymp angebeteten Finanzmärkte bestehen in Wahrheit
Die Deutsche Bank hat hartes Eigenkapital von 30 Mil- aus fünf Großbanken und drei Ratingagenturen. Und
liarden Euro bei einer Bilanzsumme von 2 000 Milliar- dann gehören noch dem Hauptaktionär der Deutschen
den Euro. So sieht die nächste Zeitbombe aus. Bank, Blackrock, zwei von den drei größten Ratingagen-
turen. Blackrock ist also das Verbindungsglied zwischen
Das Bundesverfassungsgericht soll ja wohl alle Be- Deutscher Bank und den Ratingagenturen. So sind die
schwerden zurückgewiesen haben. Aber beim Bundes-
sogenannten Finanzmärkte aufgestellt, denen Sie parla-
verfassungsgericht haben wir gelernt, genauestens in die
mentarische Entscheidungen unterordnen wollen. Mit
Auflagen hineinzuschauen. Ich greife dem nicht vor, diesen fünf Großbanken und diesen drei Ratingagentu-
wenn ich sage: Wer eine umfassende parlamentarische
ren gehen Kolleginnen und Kollegen, gehen Demokra-
Kontrolle der EFSF, der anderen Pakete ablehnt und
tinnen und Demokraten in diesem Land nicht konform.
sagt, diese sei nicht möglich, weil die Finanzmärkte im- Sie gehen nach Karlsruhe, sie gehen auf die Straße. Wir
mer schnellere Entscheidungen forderten, der ist ein
werden diese Bankenmacht brechen müssen, wenn uns
Gegner unserer Verfassung.
unsere Demokratie, wenn uns unser Parlament, wenn
(Beifall bei der LINKEN) uns unser Leben lieb ist.
Wer beim Änderungsgesetz die parlamentarische Mit- (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
wirkung beschneidet, zwingt auch die Linke, erneut nach [CDU/CSU]: Die rote Fahne weht voran! –
14458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Diether Dehm


(A) Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Rotfront, den Euro beweisen. Aber der Bürger trennt hier kaum. (C)
Genosse!) Mancher hat uns die Einführung des Euro, der oft immer
noch sarkastisch „Teuro“ genannt wird, nie verziehen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und misst uns deshalb besonders streng an den damali-
Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann von der gen Versprechungen.
CDU/CSU-Fraktion. Was haben wir dem entgegenzuhalten? Systematische
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Regelbrüche und kaum wirksames Kontrollieren und
neten der FDP) Sanktionieren. Oftmals werden Euro-Skeptiker oder
Euro-Kritiker als Feinde der europäischen Idee hinge-
stellt. Von Bundespräsident Wulff oder Bundesbankprä-
Veronika Bellmann (CDU/CSU):
sident Weidmann kann man das ganz sicher nicht sagen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Auch mein persönlicher Standpunkt ist zwar immer
und Kollegen! Zweifelsohne leben wir in einer politi- Euro-kritisch, richtet sich aber nie gegen die europäische
schen Zeitenwende. Europa steht nicht an einem Schei- Integration. Ich möchte ein Europa, das mehr ist als eine
deweg, sondern Europa steht an einem Entscheideweg: Freihandelszone, das aber nicht eine Vergemeinschaf-
Ja zu mehr Europa oder Ja zu weniger Europa? Kollege tung der Schulden und schon gar nicht Euro-Bonds un-
Schockenhoff hat diese Frage für die CDU/CSU-Frak- terstützt;
tion schon beantwortet: Ja zu mehr Europa.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Haushalterisch bzw. vom Einsatz der Finanzmittel her der FDP)
gesehen war die Finanz- und Wirtschaftskrise wohl eine
Art Jahrhunderthochwasser. Die Bewältigung der Staats- denn diese nehmen den letzten wirtschaftlichen Anreiz
schuldenkrise kommt einem Tsunami gleich. Einige kri- für solides Haushalten. Ich möchte auch erst dann eine
tische Vorhersagen von Sachverständigen vor Einfüh- Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion und
rung des Euro sind jetzt eingetreten. Auch derzeit gibt es das damit verbundene Abtreten nationaler Souveränitäts-
wieder Sachverständige und Experten, die Entwick- rechte, wenn sich die EU durch das Einhalten ihrer eige-
lungsszenarien aufzeigen und alternative Handlungsan- nen Verträge und Vereinbarungen dafür würdig erwiesen
sätze zu den von den Euro-Staaten installierten Ret- hat. Diesen Beweis ist die Gemeinschaft bisher noch
tungsschirmen vortragen. Die Vorschläge reichen von schuldig geblieben.
einer neuen europäischen Verfassung, also vom Staaten-
bund zum Bundesstaat, über ein Kerneuropa, also Auf- Deshalb ist es richtig, einen kritischen Blick auf die
spaltung in einen Nord- und in einen Süd-Euro, bis zu ei- Europäische Union zu behalten, die starke Mitwirkung
(B) nem Schuldenschnitt und einem Austritt aus der des Deutschen Bundestages – auch ohne ein Urteil des (D)
Währungsunion. Bundesverfassungsgerichts, das übrigens soeben alle
Klagen und Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen
Manchen Experten scheinen die Gipfelbeschlüsse hat – bei allen europäischen Entscheidungen einzufor-
zwar realpolitisch sinnvoll, aber ökonomisch manchmal dern und realpolitische Entscheidungen zu treffen, die in
zweifelhaft, Beispiel Griechenland-Paket. Mit einem er- Verantwortung für künftige Generationen ökonomisch
weiterten EFSF sollen Staatsdefizite finanziert und Zeit vernünftig und vertretbar sind. Es gibt immer einen An-
für Strukturreformen gekauft werden. Wurde diese Zeit fang für das Bessere. Um mit Wolfgang Schäuble zu
bisher genutzt? Wurde tatsächlich gerettet? So lautet sprechen: Europa muss man richtig machen.
auch das Fazit eines Ökonomen des Bundesverbandes
der mittelständischen Wirtschaft: Sicher ist nur, dass Danke.
volkswirtschaftliche Realitäten langfristig immer stärker (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
sind als realpolitisches Wunschdenken. – Diese Diskre- neten der FDP)
panz, die es zwischen diesen beiden Punkten immer wie-
der gibt, hat den Akzeptanzschwund und den Vertrau-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ensverlust der Bürger gegenüber Europa verstärkt.
Vorbei ist die Euphorie über ein freizügiges Europa, über Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner von der
Reisen ohne Grenzkontrollen. SPD-Fraktion.

Zu selbstverständlich ist auch der Frieden geworden, (Beifall bei der SPD)
der Gott sei Dank schon 60 Jahre in Europa herrscht.
Angesichts der Zukunftsängste spielt das bei den Bür- Klaus Brandner (SPD):
gern leider keine große Rolle mehr. So manche Richt- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
linie aus der Europäischen Union und so manche Stan- Damen und Herren! Zunächst gestatten Sie mir, dass ich
dards – wir können die Stichpunkte ja nennen: den Berichterstattern aller Fraktionen und insbesondere
Glühbirnenverbot oder Krümmungsgrad der Gurke; Sie den Mitarbeitern des Haushaltsreferats des Auswärtigen
alle wissen, dass es viele ähnliche Dinge gibt – haben die Amtes für die konstruktive, verlässliche und offene Zu-
Bürger als Schikane der europäischen Bürokratie emp- sammenarbeit in den letzten zwei Jahren danke. Diese
funden. Der Umgang mit der Staatsschuldenkrise kommt offene Zusammenarbeit, die vor allem von Kontinuität
bei vielen noch hinzu. Dabei ist europäische Integration und Verlässlichkeit geprägt war, ist etwas, was man lei-
nicht auf Gedeih und Verderb mit einer Währungsunion der, sehr geehrter Herr Minister – der zurzeit auf Wan-
verbunden, wie erfolgreiche europäische Länder ohne derschaft ist –, von Ihnen nicht sagen kann.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14459
Klaus Brandner
(A) Gewichtige Persönlichkeiten wie zum Beispiel der schenrechte werden um 18 Prozent erhöht. Das sind (C)
Altbundeskanzler Helmut Kohl, der 16 Jahre zusammen wichtige Veränderungen.
mit zwei Ihrer Parteikollegen den außenpolitischen Kurs
der Bundesrepublik vorgegeben hat, bringt es auf den Beim Stichwort Nordafrika möchte ich noch auf einen
Punkt: Der Bundesregierung fehlt der außenpolitische wichtigen Punkt zu sprechen kommen, der mir sehr am
Kompass. Das haben Sie, Herr Außenminister, leider ge- Herzen liegt. Der Titel „Transformationspartnerschaften
rade wieder bestätigt. Denn die Rede, die der Bundes- Nordafrika/Naher Osten“ zur Unterstützung des demo-
außenminister hier heute zu seinem eigenen Haushalt ge- kratischen Wandels in der Region wird für das Jahr 2012
halten hat, war alles andere als eine Rede über den und für das Jahr 2013 jeweils mit 50 Millionen Euro aus-
Haushalt des Auswärtigen Amtes oder eine Bilanz der gestattet. Ich konnte mich selbst überzeugen, welch
deutschen Außenpolitik. Vielmehr war es eine Bewer- wichtige Beiträge unsere Mittlerorganisationen, die Stif-
bungsrede als Parteivorsitzender. tungen und die NGOs zum Aufbau der Zivilgesellschaft
und zur Förderung des demokratischen Wandels in
(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD]) Ägypten leisten.
80 Prozent der Rede waren Partei- und Finanzpolitik, Zu Beginn der Umbrüche in der arabischen Welt habe
und höchstens 20 Prozent waren Außenpolitik. Das ich zusammen mit Günter Gloser die schnelle Entsen-
zeigt: Sie empfinden die Debatte über Ihren eigenen Etat dung von Sozialreferenten in diese Region gefordert. Ich
als unwichtig. Das scheint Ihrer Ansicht nach, Herr freue mich heute, dass der Minister diese Idee aufgegrif-
Minister, etwas für die kleinen Leute, die die Dollars und fen hat und dass in Kürze zumindest der erste Sozialrefe-
Euros zusammenkramen, zu sein; aber es eignet sich rent nach Kairo entsandt wird. Denn aus meiner Sicht
nicht zur Beratung in diesem Hohen Hause. kommt es nicht nur darauf an, Maschinen, Autos und
Anlagen zu verkaufen. Zu einer werteorientierten Au-
Und das bestätigt sich im Übrigen sehr deutlich, wenn ßenpolitik gehört vielmehr auch, dass sozialpolitische
wir auf die Entwicklung des Etats des Auswärtigen Am- Werte weitergegeben werden. Dazu brauchen wir Men-
tes blicken. Sie fahren mit Ihrem Etat einen ungeheuerli- schen, die diese Prozesse vor Ort flankieren.
chen Schlingerkurs, Herr Minister. Darüber ist heute
noch nicht gesprochen worden. Schauen wir uns einmal (Beifall bei der SPD)
die entsprechenden Zahlen an: Trotz dieser positiven Aspekte muss gesagt werden,
Im Haushalt des Jahres 2010 gab es ein Plus von dass der Haushalt nach wie vor eine Reihe von altbe-
166 Millionen Euro; das sind 5,2 Prozent mehr. In 2011 kannten Problemen und Fragen aufwirft:
gab es ein Minus von 91 Millionen Euro; das entspricht Erstens. Die zusätzlichen ODA-anrechenbaren Son-
(B) 2,8 Prozent weniger. In 2012 soll es wieder ein Plus von dermittel in Höhe von 140 Millionen Euro stehen nur für (D)
203 Millionen Euro geben; das sind 6,5 Prozent. In der das Jahr 2012 zur Verfügung. Ich frage mich, wie es da-
Vorausschau ist laut der Finanzplanung für das Jahr 2013 nach weitergehen soll. Von dem Auf und Ab und dem
wieder mit einem Minus von 180 Millionen Euro zu Zickzackkurs habe ich bereits gesprochen.
rechnen, also 5,4 Prozent weniger. Mit einem solchen
Zickzackkurs kann man keine planbare und solide Au- Zweitens. Für den Stabilitätspakt Afghanistan müssen
ßenpolitik machen. Verlässlichkeit – das müssen wir Ih- auch in diesem Jahr wieder 90 Millionen Euro allein aus
nen, Herr Außenminister, sagen – sieht anders aus. Sie dem Etat des Außenministeriums aufgebracht werden.
muss man auch an den Haushaltszahlen ablesen können. Wir wissen – und stehen ganz klar dazu –, dass der
Rückzug noch in diesem Jahr beginnen muss. Dieser mi-
(Beifall bei der SPD) litärische Rückzug wird zusätzliche zivile Aktivitäten
nach sich ziehen. Sie, Herr Minister, werden die Frage
Ich komme zurück zum Haushaltsentwurf 2012. Die beantworten müssen, wo die Finanzierung dieser Aktivi-
sozialdemokratische Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass täten vorgesehen ist
der Etat um 203 Millionen Euro steigen soll; das sind
6,5 Prozent mehr. Dies war nach dem Kahlschlag im (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
letzten Jahr auch dringend notwendig. Gravierende Fehl- GRÜNEN]: Stimmt!)
entwicklungen, die es im vergangenen Jahr gegeben hat,
und welche Vorkehrungen getroffen werden, dass sie in
werden mit diesem Haushaltsentwurf wieder korrigiert.
ausreichendem Maße sichergestellt ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz deutlich sa-
gen: Sie erfüllen damit die zentralen Forderungen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
SPD aus dem letzten Jahr. Dies ist ein schönes Ergebnis. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
So stehen für Maßnahmen zur Sicherung von Frieden
und Stabilität einschließlich humanitärer Hilfsmaßnah- Drittens. Für das prestigeträchtige Sonderprogramm
men 83 Millionen Euro mehr zur Verfügung als im ver- der Bundesregierung im Bereich Forschung und Bildung
gangenen Jahr. stehen 12 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese Mittel
sind allgemein etatisiert. Aber im Haushalt des Auswär-
Konkret sind für die zivile Krisenprävention und die tigen werden ganz erhebliche Teile davon zweckent-
Friedenserhaltung 32 Prozent mehr geplant. Für humani- fremdet, um Haushaltslöcher zu stopfen. Das ist nicht in
täre Hilfe im Ausland sind 28 Prozent mehr Mittel ver- Ordnung, und das zeigt: Dieser Haushalt ist nach wie vor
anschlagt als bisher. Die Mittel für Maßnahmen zur unterfinanziert; auch wenn insgesamt gesehen 2012 ein
Demokratisierungshilfe und für die Förderung der Men- deutlicher Aufwuchs zu verzeichnen ist.
14460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Klaus Brandner
(A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das vergan- beständig anschwellenden Strom von Vertriebenen und (C)
gene Jahr hat es insgesamt überdeutlich gezeigt: Ent- Flüchtlingen weltweit. Hier kann man erkennen, dass
wicklungen wie die internationale Finanzkrise oder Er- Außenpolitik und Innenpolitik intensiv miteinander ver-
eignisse mit epochalem Charakter wie die Umbrüche in zahnt sind. Der jährlich erscheinende Flüchtlingsbericht
der arabischen Welt stellen gerade das Auswärtige Amt der Vereinten Nationen zeigt, dass die Zahl der Flücht-
vor außerordentliche Herausforderungen. Das Auswär- linge weltweit Ende 2010 über 43 Millionen Menschen
tige Amt sieht sich in einer stark wachsenden Verantwor- beträgt.
tung.
Insgesamt setzt sich damit eine seit 2005 sehr beunru-
Gerade deshalb sind Verlässlichkeit und finanzielle higende Entwicklung fort. Wir müssen leider erkennen:
Planbarkeit gefragter denn je. Deshalb muss Schluss sein Auch im Jahr des 60-jährigen Bestehens der Genfer
mit dem Zickzackkurs. Die deutsche Außenpolitik Flüchtlingskonvention ist diese Frage nach wie vor
braucht endlich wieder einen Kompass, an dem sie sich brandaktuell. Aber jeder, der glaubt, dass dieses welt-
orientiert und der Verlässlichkeit von Deutschland aus in weite Flüchtlingselend – und jedes einzelne Schicksal
die Welt ausstrahlt. kann einem das Herz im Leibe herumdrehen – in Europa
oder in Deutschland behoben werden könne oder auch
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nur zu lindern wäre, der irrt ganz fundamental.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Wer auch immer fordert, allen Mühseligen und Bela-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
denen dieser Welt hier in Deutschland ein Bleiberecht zu
geben, der vergeht sich am Ende an unserer Demokratie
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und kippt Wasser auf die Mühlen der Antidemokraten
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der hier im Lande. Wir können nur den tatsächlich Verfolg-
CDU/CSU-Fraktion. ten Asyl gewähren. Für Wirtschaftsflüchtlinge und Bür-
gerkriegsvertriebene reichen unsere Möglichkeiten ganz
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
einfach nicht aus.
der FDP)
(Uta Zapf [SPD]: Das ist doch gelogen!)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Die in den 90er-Jahren mühsam vereinbarte Asyl-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rechtsänderung hat ihren tiefen Sinn und ihre Berechti-
ren! In dieser Debatte ist viel von Skandalen geredet gung bis zum heutigen Tag, wenn uns unsere Demokra-
worden. Nicht die Libyen-Entscheidung war ein Skan- tie am Herzen liegt und wir nicht rechtsradikalen Kräften
dal. Ich unterstreiche sie ganz ausdrücklich. den Boden bereiten wollen. Es reicht nicht aus, ein guter
(B) Ein Skandal – wie wir in dieser Woche nachlesen Mensch zu sein und zu fordern, unser Asylrecht aufzu- (D)
konnten – war die Entscheidung der rot-grünen Bundes- weichen. Diese guten Menschen öffnen nämlich sehen-
regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer, den Auges den Menschenhändlern dieser Welt Tür und
Deutschland mit seiner Bundeswehr nach Afghanistan Tor und stärken antidemokratische Kräfte.
zu schicken, und zwar gegen den erklärten Willen der (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben sich aufge- Dummes Zeug!)
drängt. Heute müssen wir die Suppe auslöffeln, und wir
werden das verantwortungsvoll tun. Es lohnt sich wirk- Zudem wird heutzutage mit Menschenhandel mehr Geld
lich, einmal all das nachzulesen, was damals vor sich ge- verdient als mit Drogenhandel.
gangen ist.
Unweigerlich stellt sich natürlich die Frage: Wie kön-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen wir helfen und unterstützen? Das muss vor Ort
geschehen; das macht die Bundesregierung. Durch Au-
Außenpolitik ist auch Menschenrechtspolitik. Bei all ßenpolitik kombiniert mit Entwicklungspolitik und För-
dem, was sich heute im nordafrikanischen Raum an be- dermaßnahmen kann man erreichen, dass dort vor Ort
grüßenswerten Revolutionen tut, muss sich aber erst die Not gelindert wird. Es muss im Rahmen unserer be-
noch erweisen, wie und in welcher Qualität am Ende den scheidenen deutschen Möglichkeiten machbar sein, vor
Menschenrechten zur Durchsetzung verholfen wird. Ich Ort zugunsten der Flüchtlinge und Vertriebenen zu han-
glaube, mancher wird sich später angesichts dessen, was deln. Jedes Lager, das aufgelöst werden kann, ist ein
dabei herauskommt, noch die Augen reiben. Plus für die Menschen, die in diesen Lagern ihre Zu-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist flucht gefunden haben und dahinvegetieren.
richtig!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Einhaltung von Menschenrechten ist für alle Län-
der ein ethisches Fundament für eine demokratische, In Deutschland lassen sich diese Probleme nicht lösen.
kulturelle und sogar für eine wirtschaftliche Entwick- Vor diesem Hintergrund danke ich der Bundesregie-
lung. Es ist Teil auch deutscher Außenpolitik. Das inten- rung ausdrücklich, dass ihre Außenpolitik immer mit
sive Engagement der deutschen Bundesregierung und Menschenrechtspolitik verknüpft ist.
dieses Parlaments für Menschenrechte ist ein wesentli-
cher Teil einer wertegeleiteten Außenpolitik. Danke schön.
Zu den brennenden und wirklich zutiefst bewegenden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und verstörenden Fragen gehört der Umgang mit dem neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14461

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erinnern, dass sich nicht nur die Menschenrechtslage in (C)
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt diesem Land immer weiter verschlechtert hat, sondern
erteile ich das Wort dem Kollegen Ruprecht Polenz von dass auch die Bedrohung, die von dem ungebremsten
der CDU/CSU-Fraktion. Nuklearprogramm und der ungebremsten ballistischen
Raketenrüstung ausgeht, nach wie vor nicht gebannt ist.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland nimmt zusammen mit den Ländern im Si-
neten der FDP) cherheitsrat nach der Formel „E 3 plus 3“ eine wichtige
Funktion wahr. Ich wünsche der Bundesregierung Er-
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): folg, dass man doch noch zu einer Lösung kommt, die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die die Iraner davon überzeugt, dass der Besitz von Nuklear-
Haushaltsdebatte bietet traditionell die Möglichkeit einer waffen, auch von der Kapazität her, nicht ihrer Sicher-
Generalaussprache, auch einer Standortbestimmung. Ich heit dient und die Region in einen nuklearen Rüstungs-
denke, dass kein Ereignis in den letzten zehn Jahren die wettlauf stürzen kann.
außenpolitische Situation auf der Welt so stark beein- Die wichtigste Konsequenz aus den Ereignissen des
flusst und verändert hat wie der 11. September 2001. Wir 11. September ist aus meiner Sicht die weltweite Ver-
erinnern uns jetzt daran, zehn Jahre, nachdem die An- dunkelung des Islambildes. Das ging bis in unsere eige-
schläge auf das World Trade Center und auf das Penta- nen Debatten hinein, wie die schrecklichen Diskussio-
gon in Washington eine unglaubliche Sprengkraft entwi- nen auf dem traurigen Höhepunkt der Sarrazin-Debatte
ckelt haben. Die Anschläge selbst und die Reaktionen gezeigt haben. Das Miteinander mit den Muslimen ist
darauf haben die letzten zehn Jahre weltweit geprägt. durch die Verdunkelung des Islambildes vergiftet.
Wir haben heute in einigen Beiträgen wieder über Ich möchte die heutige Debatte zum Anlass nehmen,
Afghanistan gesprochen. Ich darf daran erinnern: Wenn darauf hinzuweisen, dass wir uns nicht von den falschen
die Taliban seinerzeit Bin Laden ausgeliefert hätten Analysen Huntingtons, der schon 1993 über den „Kampf
– das war das Begehren der internationalen Gemein- der Kulturen“ geschrieben hat, den Blick auf den arabi-
schaft –, wäre die ganze Entwicklung, auch in Afghani- schen Frühling trüben lassen dürfen.
stan, anders verlaufen. Wir kennen die Geschichte, wir
kennen die Opfer, an die wir heute noch einmal erinnert (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
haben, auch die Kosten. Wir sind jetzt, nach zehn Jahren, DIE GRÜNEN)
dabei, uns langsam militärisch aus Afghanistan heraus- Die Menschen in Arabien sind für Freiheit, Arbeit und
zulösen. Ich halte dabei die Leitlinie „Übergabe in Ver- Würde und gegen autoritäre Machthaber und ungerechte
antwortung“ für richtig. Herr Mützenich, deshalb kann Herrschaft auf die Straße gegangen. Bin Laden hat ge-
(B) man keine Kalenderdaten angeben. Man muss es als ei- (D)
sagt, wir können ungerechte Herrschaft nur durch Ge-
nen Prozess mit materiellen Kriterien verstehen; denn walt loswerden. Deswegen ist der Erfolg der arabischen
sonst wäre es in der Tat verantwortungslos. Freiheitsbewegung die größte Niederlage für Bin Laden.
Der Außenminister hat zu Recht darauf hingewiesen, (Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul
dass nach dem Ende des militärischen Engagements mit [SPD] sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜND-
Kampftruppen weiteres Engagement und weitere Hilfe NIS 90/DIE GRÜNEN])
für Afghanistan nötig sein werden. Das Ganze wird aber
– da sollten wir uns nichts vormachen – nur funktionie- Deshalb ist es so wichtig, dass diese Bewegung zum Er-
ren, wenn zwei politische Prozesse, die noch nicht voll- folg führt. Das hat auch unmittelbare Bedeutung für die
endet sind, zum Erfolg führen: zum einen der Prozess in Auseinandersetzung, die wir unter der Überschrift
Afghanistan selbst, also die Verständigung der verschie- „Kampf gegen den Terrorismus“ geführt haben.
denen Kräfte innerhalb des Landes, zukünftig in Frieden Wir haben im Sicherheitsrat immer wieder Anlauf ge-
miteinander auszukommen, zum anderen der regionale nommen, um beim Thema Syrien voranzukommen. Da-
Prozess, sodass die Nachbarn Afghanistan nicht länger für möchte ich der Bundesregierung danken. Leider ist
als ihr Hinterland, als ihr Spielfeld für Machtprojektio- ein weiteres Vorgehen an der Haltung Chinas und Russ-
nen und Furcht voreinander missbrauchen. lands gescheitert, aber auch Indien und andere Länder
Wir haben uns hier viel vorgenommen. Deutschland wollten bisher noch nicht einsehen, dass der internatio-
wird in wenigen Wochen Gastgeber einer weiteren gro- nale Druck auf Syrien zunehmen muss. Ich hoffe, dass
ßen Afghanistan-Konferenz sein, wo genau hierfür von dieser Debatte und der weiteren Politik der Bundes-
wichtige Impulse gesetzt werden sollen. Ich wünsche Ih- regierung Signale ausgehen, die dazu führen, dass auch
nen, Herr Außenminister, viel Erfolg bei dieser wichti- die Syrer ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen
gen Konferenz. Ich weiß, wie sorgfältig Sie und das können. Dann hätten wir einen wichtigen Schritt getan.
Auswärtige Amt diese Konferenz gegenwärtig vorberei- Wir werden am Ende der Woche debattieren, welche
ten. Chancen es gibt, dass der Prozess zwischen Israelis und
Palästinensern vielleicht doch noch vorankommt. Die
Der 11. September hat auch zum Irakkrieg geführt. Bundesregierung treibt das aktiv voran. Ich bedanke
Infolge des Irakkrieges kam es zu Machtverschiebungen mich dafür. Die Generalaussprache hat gezeigt: Deutsch-
in der Region mit einer unerwünschten Nebenfolge, land in einem geeinten Europa für den Frieden in der
nämlich der Stärkung des Iran. Weil wir lange nicht Welt – das ist die richtige Leitlinie für die deutsche Au-
mehr darüber gesprochen haben, möchte ich heute daran ßenpolitik.
14462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Ruprecht Polenz
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (C)
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Das gefällt Ihnen jetzt nicht ganz so gut. Das weiß ich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch, doch!)
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich Wenn das alles so toll ist, wie Herr Schäuble das ges-
liegen nicht vor. tern gesagt hat – Herr Fricke hat das mit seinem halb-
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanz- starken Auftritt von dieser Stelle aus auch noch unter-
lerin und des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04. stützt –,
Als erster Redner hat das Wort der Fraktionsvorsit- (Otto Fricke [FDP]: Das muss Sie aber
zende der SPD-Fraktion, Dr. Frank-Walter Steinmeier. ziemlich getroffen haben!)
(Beifall bei der SPD) warum steht die Koalition dann so da?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker
Frau Bundeskanzlerin, bei aller Schärfe der Aus- Kauder [CDU/CSU]: Warum stehen Sie so
einandersetzung gehört es Gott sei Dank immer noch zur schlecht da?)
politischen Kultur unseres Landes, dass wir uns jenseits
der Rolle und jenseits der Funktion, die wir im politi- Wenn das alles so toll ist und Sie alle miteinander so
schen Betrieb innehaben, achten und respektieren. In der tolle Hechte sind, warum werden dann nicht schon
vergangenen Woche hat uns die Nachricht vom Tod Ih- längst die Sockel für Ihre Denkmäler gebaut?
res Vaters erreicht. Das ist ein tiefer Einschnitt. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
möchte Ihnen im Namen der gesamten Bundestagsfrak-
tion unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Baustellen sehe ich viele, nur keine, bei denen es um
Heldenverehrung geht. Das kann ich Ihnen schon jetzt
(Beifall)
sagen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Dennoch: Es ist Haushalts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
woche, und Demokratie – das wissen Sie alle – verlangt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
nun einmal den Wettstreit zwischen Regierung und Op- Volker Kauder [CDU/CSU]: Heldenverehrung
position. Es ist Aufgabe der Opposition, die Regierung ist in der Demokratie auch nicht angesagt!)
(B) (D)
zu kontrollieren, Fehler und Versagen aufzuzeigen und Verehrt worden sind Sie allenfalls für das, was Sie vor
Finger in Wunden zu legen. Sie können erwarten, dass der Wahl versprochen haben, aber nicht für das, was Sie
wir das mit Ernsthaftigkeit tun. Nur eines geht nicht, ver- getan haben. Sie haben massenhaft Enttäuschung hinter-
ehrter Herr Finanzminister, verehrter Herr Schäuble: Sie lassen. Die Leute trauen Ihnen nichts mehr zu. Sie trauen
können sich nicht wie gestern hier an das Rednerpult be- Ihnen so, wie Sie jetzt dastehen, noch nicht einmal zu,
geben und sagen: Seht her! Alles prima! Toller Haushalt! dass Sie so bis 2013 weiterstolpern. Nicht einmal das,
Wir haben die Arbeitslosigkeit reduziert! Wir haben den meine Damen und Herren!
Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Klatschen Sie nicht zu früh. – Wen meinen Sie eigent- Herr Schäuble, ganz ernsthaft: Sie persönlich verbie-
lich mit „wir“, Herr Finanzminister? gen sich doch ein bisschen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bei- NEN]: Ein bisschen?)
fall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der
FDP) wenn Sie auf die gemeinsamen Leistungen dieser Koali-
tion hinweisen. Ich will Ihren persönlichen Beitrag in
– Schön, dass Sie an dieser Stelle auch klatschen. den vergangenen Jahren überhaupt nicht bestreiten, aber
Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass Ihr seit zwei was bitte ist denn der Beitrag Ihres Koalitionspartners?
Jahren anhaltendes tägliches Koalitionschaos auch nur (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
im Geringsten einen Beitrag dazu geleistet hat? GRÜNEN]: Tja!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Wo war die FDP in der Krise nach der Pleite von
DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/
Lehman Brothers? Was hat die FDP zur Überwindung
CSU]: Ist in den letzten zwei Jahren die Ar-
der Krise getan? Sie mögen vielleicht, da Sie sich in der
beitslosigkeit gestiegen?)
Koalition befinden, ein bisschen nachsichtiger sein, Herr
Wenn die Konjunktur gut läuft und die Steuereinnahmen Schäuble. Ich hingegen habe nichts vergessen. Hier sa-
wieder fließen, dann nicht wegen dieser Regierung, son- ßen sie alle, Herr Brüderle, Herr Westerwelle und der
dern trotz dieser Regierung. Das wissen alle in diesem ganze Rest der FDP, und haben gegen alles gestimmt,
Lande. was uns aus dieser Krise herausgeführt hat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14463
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dann hieß Ihre Botschaft: Der Rettungsschirm wird nie (C)
DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Was? gebraucht. – Dann kamen Irland und Portugal. Dann war
Nein!) die Wirtschaftsregierung Teufelszeug. – Seit dem letzten
Treffen von Frau Merkel mit Herrn Sarkozy gilt das Ge-
Wenn eine Partei keinen Grund hat, stolz zu sein auf
genteil.
diese wirtschaftliche Lage und diesen Haushalt, dann ist
das die FDP. An das Tollste sei ebenfalls erinnert: An der Forde-
(Abg. Otto Fricke [FDP] meldet sich zu einer rung nach der Besteuerung von Finanzmärkten haben
Zwischenfrage – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Sie noch vor gut einem Jahr in diesem Haus mögliche
DIE GRÜNEN]: Mario Barth meldet sich!) gemeinsame Mehrheiten scheitern lassen. Heute sind Sie
unserer Meinung, nur die FDP fällt Ihnen in bewährter
Die ganze Wahrheit ist – auch das kann ich Ihnen an Form in den Rücken. Das ist die Wahrheit.
dem heutigen Tage nicht ersparen –: Wenn es Deutsch-
land heute besser geht als den meisten unserer europäi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schen Nachbarn – das weiß inzwischen jeder außerhalb DIE GRÜNEN)
der Regierungsfraktionen –, dann – sagen Sie es ruhig; Ich weiß nicht, ob Sie es selbst merken, aber keine Ih-
Sie wissen es doch auch –, weil wir unsere Hausaufga- rer Botschaften hat länger als sechs Monate gehalten.
ben lange vor den anderen gemacht haben und weil wir Das ist der tiefere Grund für den Verlust von Glaubwür-
einen sozialdemokratischen Kanzler hatten, der gesagt digkeit. Gestern sagten Sie mit scheinbar ganz großer
hat: Erst das Land und dann die Partei. Klarheit: Mit uns gibt es keine Euro-Bonds. Sie dürfen
(Beifall bei der SPD) sich am Ende nicht wundern, wenn dies in der Öffent-
lichkeit geradezu als die Ankündigung von gemeinsa-
Ich gönne es Ihnen allen ja, weil es dem Land guttut. In men Anleihen verstanden wird.
Wahrheit ernten Sie aber die Früchte dessen, was Sie nie
gesät haben. So ist es doch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Schäuble, ich sage in aller Fairness: Diese kom-
men; zum Beispiel mit dem Gesetz, das Sie selbst in die-
Herr Schäuble, ein Zweites zu Ihrer Rede von gestern: sem Deutschen Bundestag über den EFSF vorlegen. Es
Ich stelle – das wissen Sie – Ihre europapolitische Hal- eröffnet die Möglichkeit, dass eine europäische Einrich-
tung nicht infrage. Ich füge ausdrücklich hinzu: Das un- tung – nicht die EZB – Anleihen auf dem Sekundärmarkt
terscheidet Sie wohltuend von vielen anderen in den Re-
ankauft. Was ist das anderes als genau solche gemein-
(B) gierungsfraktionen. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Ich same Anleihen? (D)
bin erstaunt, mit welchem Selbstbewusstsein Sie hier
vortragen, was in der Europapolitik angeblich richtig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und was angeblich falsch ist. Herr Schäuble, wenn eines des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
in der ganzen Republik aufgefallen ist, dann, dass diese
Regierung vieles hat, nur keine gemeinsame Linie in der Herr Schäuble, ich sage es noch einmal: Dass dies
Europapolitik. Die hat sie nun wirklich nicht. dort steht, werfe ich Ihnen nicht vor. Ich glaube auch,
dass ein solches Instrument gebraucht wird. Dass Sie
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aber gestern von diesem Pult aus noch einmal so tun, als
DIE GRÜNEN) seien Sie der letzte aufrechte Kämpfer gegen eine ge-
Vermutlich ist das der tiefere Grund dafür, dass Sie, meinschaftliche Haftung, ist Ausdruck der Unwahrhaf-
Herr Schäuble, sagen – das haben Sie auch gestern ge- tigkeit, über die ich rede.
sagt –: Bloß nichts überstürzen. Sie werben hier für eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Politik der kleinen Schritte. Was wir erleben, ist aber DIE GRÜNEN)
keine Politik der kleinen Schritte. Das ist eine Politik des
periodischen Dementis. Das ist Ihre Europapolitik. Ich verstehe die Not, die man als Regierung manch-
mal hat, wenn es darum geht, die eigenen Leute bei der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stange zu halten. Herr Schäuble, ich bin mir aber ganz
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sicher, dass Sie wissen, dass Sie den Menschen etwas
Ich werfe Ihnen gar nicht vor, dass Sie immer mit vormachen, wenn Sie – wie gestern noch einmal – ge-
sechs Monaten Verzögerung auf die Linie gehen, die wir meinsame Anleihen völlig tabuisieren und Euro-Bonds
in diesem Parlament vertreten haben. in jeglicher Form ausschließen. Auch dies sei an dieser
Stelle gesagt: Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sagen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker wenn Sie – wie gestern hier – die Behauptung aufstellen,
Kauder [CDU/CSU]: Quatsch! Das wäre ja die SPD sei für die unkonditionierte Einführung dieses
furchtbar!)
Instruments. Ich gebe Ihnen gern noch einmal meine In-
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eine kleine Er- terviews dazu. Ich sage Ihnen: Das geht nur dann, wenn
innerungshilfe geben: Vor gut einem Jahr hieß Ihre Bot- Durchgriffsmöglichkeiten auf das Ausgabeverhalten je-
schaft: Keinen Cent für Griechenland. – Daraus wurden ner Staaten bestehen, die Hilfe in Anspruch nehmen. Le-
Milliarden Euro. sen Sie das bitte im Spiegel nach.
(Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall von der SPD)
14464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Sind Sie Spiegel-Leser? – Ich vermute: ja. Herr Deshalb verzichte ich auf diese Aufzählung; ich er- (C)
Westerwelle, lesen Sie es bitte nach. spare es Ihnen ja. Ich mache etwas ganz anderes. Mir
geht es jetzt gar nicht darum, Ihr Handeln noch einmal
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Eher
im Einzelnen in Erinnerung zu rufen, auszuleuchten und
nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Herr
zu bewerten. Je länger ich Sie alle, die Regierungsfrak-
Westerwelle könnte auch etwas lernen! – Zu-
tionen und die Regierung, miteinander werkeln sehe,
rufe von der FDP)
desto mehr wird mir klar, dass nur eines noch schlimmer
– Das ist vielleicht Ihre Alternative. Ich würde nicht die ist als Ihr Handeln,
Bundeswehr schicken, aber ich würde vielleicht auf ver-
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie dran-
tragliche Anpassungen setzen.
kämen! – Heiterkeit und Beifall bei der CDU/
(Rainer Brüderle [FDP]: Kavallerie!) CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat ge-
sessen!)
Das sagt Ihr Finanzminister auch.
und das ist Ihr Nichthandeln. – Herr Kauder, dass Ihre
Herr Schäuble, ich verstehe Ihre Rede von gestern
Fraktion so viel Kauderwelsch redet, wundert mich
hier in diesem Parlament, jedenfalls den Teil, der an die
nicht.
Opposition gerichtet war, überhaupt nicht. Natürlich ist
es auch einem Finanzminister nicht verboten, den politi- Wir befinden uns mitten in der tiefsten Existenzkrise
schen Gegner zu beschimpfen, wie Sie das getan haben. der Europäischen Union, wir leiden an den Folgewirkun-
Die Frage, die ich Ihnen stelle, ist nur: Ist das am Ende gen einer Finanzkrise, die 2008 begonnen hat und nicht
wirklich klug? Ich habe angenommen, dass Ihr Bemühen zu Ende ist. Das alles verlangt Tatkraft der Regierung.
hier im Bundestag darauf gerichtet sei, eine möglichst Aber Sie sitzen auf Ihren Händen und streiten, im Kern
breite Mehrheit unter den Fraktionen zu finden. Wenn es ja nicht einmal mit der Opposition, sondern untereinan-
Ihnen darum geht und wenn es Ihnen um Europa geht, der; das war bis vorgestern Abend und bei der Probeab-
dann müssten Sie hier in diesem Parlament eigentlich stimmung ganz offenbar.
anders auftreten, dann müssten Sie um Zustimmung
werben. Ob das besser gelingt, wenn Sie diejenigen, die Ich erinnere mich an vergleichbare Debatten, die wir
Ihnen für die EFSF Unterstützung signalisiert haben, im letzten Jahr hier zweimal geführt haben. Herr Kauder,
auch noch vor den Kopf stoßen, das mag Ihr Geheimnis auch da haben Sie sich zu Wort gemeldet. Sie haben ge-
bleiben. Sie werden im Zweifel wissen, was Sie tun. Ich sagt, es provoziere, wenn ich hier sage, dass das Nicht-
sage Ihnen nur: Die Rede, die Sie gestern hier gehalten handeln gefährlich ist und dass man die EZB in eine Si-
haben, hätten Sie im eigenen Koalitionsausschuss halten tuation bringt, handeln zu müssen, weil Regierungen
(B) sollen. Da sind Belehrungen notwendig, hier nicht! nicht handeln. Das haben Sie damals gesagt. Schauen (D)
Sie sich einmal heute das Ergebnis an!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Sigmar Gabriel [SPD]: Ja!)
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anleihen im Wert von weit über 120 Milliarden hat die
Das sieht er nicht anders!) EZB aufgekauft. Warum? Weil politische Entscheidun-
So weit zu der gestrigen Einbringung. gen der Regierungen, auch der deutschen Regierung,
fehlten, weil Mut fehlte und es keine Führung gab. Das
Nun ist es natürlich verführerisch, in dieser Haus- ist das Problem, in dem wir uns befinden.
haltswoche noch einmal die ganze Bilanz dieser Regie-
rung – vom Hoteliersprivileg über Guttenberg bis zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Skandal des Beitragsstopps für die Arbeitgeber bei der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Krankenversicherung – anzuführen. Aber ich will mich Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich sage Ihnen
nicht lange damit aufhalten. Das sind Fehlleistungen am nachher, wie es wirklich ist!)
Stück dieser Bundesregierung. Würde ich damit begin- Vor einem Jahr haben Sie noch so getan, als sei es
nen, käme ich zu nichts anderem mehr. Ich habe es von Ausdruck von besonderer Klugheit oder gar Strategie.
diesem Pult aus auch schon mehrfach getan. Das Urteil Ich sage Ihnen: Aus meiner Sicht gab es wahrscheinlich
der Öffentlichkeit steht längst fest. Ich ahne, was Ihnen auch wegen des Ausfalls der Regierungen gar keine Al-
am meisten wehtut – Sie wissen es –: Keine Bundes- ternative für die EZB. Aber eines bleibt am Ende sicher:
regierung hat jemals eine so katastrophale Halbzeit- Das, was im letzten Jahr durch die Politik der EZB ge-
bilanz abgeliefert wie Sie. Sie haben es zigfach in den schehen ist, ist der Aufbau von gemeinsamen Risiken
Zeitungen gelesen: Das ist die schlechteste Regierung und gemeinsamer Haftung. Das ist durch Nichthandeln
seit Jahrzehnten. geschehen. Wir werden als Deutscher Bundestag nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einmal die Möglichkeit haben, dazu irgendetwas zu sa-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE gen oder in einem Ausschuss Entscheidendes dazu zu
GRÜNEN) beraten. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie viele Neu-
starts brauchte Herr Schröder? Jedes Jahr hat Damit bin ich nur bei dem Punkt, dass Nichthandeln
es einen Neustart gegeben!) etwas kostet. Nichthandeln hat aber vor allen Dingen ei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14465
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) nen politischen Preis, und dieser politische Preis ist Ver- Das ist eine Bringschuld der Regierungsfraktionen, (C)
trauen. Diesen Preis zahlt nicht nur eine Regierung in keine Holschuld der Opposition.
Agonie; deshalb dürfen Sie auch nicht allein darüber
verfügen. Was hier vielmehr bedroht ist, das ist das Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
trauen in Demokratie, wenn eine Regierung seit einem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Jahr so orientierungslos herumstolpert. Es darf Sie nicht Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben wir
wundern, dass 74 Prozent der Deutschen die Politik doch schon längst zugesagt! Herrje!)
– nicht nur die Regierung, sondern die Politik – nur noch Die Zeitenwende, in der wir sind, dürfte auch an Ih-
als Getriebene der Märkte sehen. Drei Viertel der Deut- nen nicht ganz vorbeigegangen sein. Früher haben Sie
schen trauen weder Regierung noch Parlament, also der sich über Attac und manch anderen Globalisierungsgeg-
Politik insgesamt, zu, über die Geschicke unseres Lan- ner aufgeregt. Nervös, mindestens nachdenklich müsste
des wirklich zu befinden. Sie doch machen, wenn Menschen wie Jürgen Heraeus
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist oder Franz Fehrenbach die Politik auffordern – am letz-
richtig!) ten Wochenende geschehen –: Legt doch endlich mal
diese wild gewordenen Finanzmärkte an die Kette!
Das ist der alarmierende Befund, meine Damen und Her-
ren. Über den müssen wir hier in diesem Hause reden, (Sigmar Gabriel [SPD]: Ja!)
über nichts anderes.
Zu denken geben müsste Ihnen auch, wenn Vermögende
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in ganz Europa plötzlich dazu aufrufen: Besteuert uns!
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Ich weiß nicht, ob Sie es merken, Herr Kauder: Außer
GRÜNEN) Ihnen gibt es in ganz Europa keine einzige Regierung,
Ich sage Ihnen voraus: Das hat Konsequenzen für Re- die trotz Verschuldung in dieser Situation noch Steuer-
gierungspolitik. Wenn es uns nicht gelingt, wieder Re- senkungen verspricht. Das gibt es in Europa nicht!
geln an die Stelle von Regellosigkeit zu setzen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:
Es gibt auch kein einziges Land in Europa, das
wenn es uns nicht gelingt, Vernunft und Verantwortung so gut dasteht wie wir, Herr Steinmeier! Das
wieder zu Maßstäben in der Politik zu machen, dann gibt es auch nicht!)
bleiben die Leute bei den Wahlen zu Hause, und das geht
an die Grundfesten der Demokratie. Das dürfen wir nicht Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Politik und
zulassen, alle miteinander, unabhängig davon, ob wir ei- Märkten, bei der ich bin, und die Selbstzweifel, die es
(B)
ner Regierungsfraktion oder der Opposition angehören. diesbezüglich offensichtlich auch im bürgerlichen Lager (D)
gibt, sind das, was Frank Schirrmacher bei seinem jüngs-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Aufsatz in der FAZ umgetrieben hat. Ich erwarte ja
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE gar nicht von Ihnen, dass Sie sagen:
GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
Die Regeln gab es mal!) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Linke
Wie behauptet sich Politik gegen Märkte, die jedes hat recht!)
Maß, jede Mitte verloren haben? Das Recht muss doch Die Linke hat immer recht. – Das würde ja nicht einmal
wohl den Markt regeln und nicht umgekehrt. ich sagen. Aber es sollte Ihnen doch zu denken geben,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zustim- wenn Schirrmacher zu dem Ergebnis kommt, dass der
mung bei Abgeordneten der LINKEN) Zusammenbruch der Marktideologie nicht nur die FDP,
sondern auch die CDU zu leeren Hüllen gemacht hat und
Da gibt es einige bei Ihnen, die von Freiheit sprechen, dass diese naive Marktgläubigkeit dazu geführt hat, dass
aber nicht sagen, dass ohne Regeln die Freiheit für die Sie Ihr Wertegerüst schon lange vor der Finanzkrise ab-
meisten vor die Hunde geht. Das ist doch das Problem. gegeben und entleert haben. Da nützt Ihnen auch die Be-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rufung auf die Großväter der sozialen Marktwirtschaft,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf Walter Eucken oder Müller-Armack, nichts. Das ist
alles Geschichte, meine Damen und Herren. Aber das ist
Ich habe das so verstanden: Um diese Ordnung der nicht Ihre Orientierung in der Gegenwart. Das ist Ihr
Freiheit geht es auch im heutigen Urteil des Bundesver- Problem.
fassungsgerichts. Darum geht es auch bei den Beteili-
gungsrechten des Parlaments im Hinblick auf die EFSF. (Beifall bei der SPD)
Weil das eine Kernfrage ist, die das Selbstverständnis
Dieses seit Herbst 2008 fortgesetzte Marktversagen,
dieses Hauses berührt, erwarten wir von Ihnen, Herr
das wir erleben, bedeutet den Komplettverlust Ihres poli-
Kauder und Herr Brüderle, dass Sie gemeinsam mit uns,
tischen Koordinatensystems. Die Wirklichkeit hat sich in
mit den Oppositionsfraktionen, nach Lösungen suchen,
diesen drei Jahren radikal verändert. In dieser neuen und
die von einer breiten Mehrheit in diesem Hause getragen
veränderten Wirklichkeit finden Sie sich ganz offenbar
werden können.
nicht mehr zurecht. Sie irren von Raum zu Raum wie in
(Otto Fricke [FDP]: Wo ist denn Ihr einem schlechten Science-Fiction-Film, aber Sie finden
Vorschlag?) nicht in die Realität zurück. Das ist der Punkt.
14466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wann gab es die letzte deutsche Initiative zur Regulie- (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung der Finanzmärkte? Warum hören wir nichts davon?
Wo ist die Liste mit den Hochrisikoprodukten, die vom
Das, was sich verändert, findet auch außerhalb unse-
Markt müssen? Wo ist der Vorschlag zur Einhegung der
rer Grenzen statt. Die Gewichte, die Achsen verschieben unersättlichen Hedgefonds?
sich. All das habe ich auch hier im Deutschen Bundestag
schon beschrieben. Weil das so ist und weil auch ein gro- Warum unternehmen Sie nichts gegen den Hochfre-
ßes und reiches Land wie Deutschland allein in dieser quenzhandel, der sich in der Börsenpraxis durchfrisst?
Welt nicht mehr zurechtkommt, verstehe ich nicht, dass Schon jetzt macht dieser Handel 40 Prozent des Umsat-
Sie zwischen europäischen Lippenbekenntnissen auf der zes an der Frankfurter Börse aus. Verantwortungslose
einen Seite und europaskeptischen Stammtischparolen Logarithmen entscheiden in Zehntelsekunden über Mil-
auf der anderen Seite hin- und herschwanken. liardenanlagen, aber kein lebendiger Mensch trägt mehr
Verantwortung. Was lassen wir da mit uns machen? Wa-
(Beifall bei der SPD)
rum lassen wir das laufen? Sie sonnen sich da im Ver-
Letzte Woche war bei uns Jacques Delors zu Gast. Er weis auf das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen.
ist keiner derjenigen, die sagen: Früher war alles richtig, Aber es passiert darüber hinaus nichts.
und wir haben alles besser gemacht. – Aber eines hat er
Verehrter Herr Schäuble, das ist nicht die Wahrneh-
interessanterweise schon gesagt: Das, was wir gegen-
mung der Verantwortung, die Sie haben. Wir müssen zu-
wärtig erleben, ist nicht die erste Krise der Europäischen
rück zu Regeln auf den Finanzmärkten – und die gibt es
Union. Nach dem Zusammenbruch des Systems von
nach wie vor nicht.
Bretton Woods waren wir in einer ähnlichen Situation.
Damals haben sich Helmut Schmidt und Valéry Giscard (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
d’Estaing zusammengesetzt und haben die Vorausset- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
zungen für ein neues Währungssystem in Europa Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])
geschaffen. Als Helmut Kohl und andere für eine ge-
meinsame Währung, für den Euro, kämpften, war die Stattdessen handeln Sie mit der Schweiz ein Abkom-
Mehrheit der Europäer noch dagegen. Ich sage damit men aus, von dem jedenfalls ich glaube, dass es jedes
nur: Europa braucht, um voranzukommen, diese Art von Rechtsempfinden eines Steuerzahlers mit Füßen tritt.
Mut und Ideen. Dieser Regierung fehlt es an beidem. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das ist der Punkt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frankreich hat schon erklärt, dass es zu solchem Ab-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lasshandel nicht bereit ist – die Vereinigten Staaten (D)
(B)
Die FTD gehörte nicht immer zu meiner Lieblings- ebenso. Die USA haben der Schweiz gerade ein Ultima-
lektüre. Ich kann mich daran erinnern, dass sie 2009 für tum gestellt. Aber wir segnen das offenbar alles ab und
Sie Wahlkampf gemacht hat. In dieser Woche habe ich verzichten, wie ich gehört habe, sogar vertraglich auf das
erstaunliche Wandlungen zur Kenntnis genommen: nicht Recht, anonymen Hinweisen nachzugehen. Und die
nur, dass in dieser Zeitung massenhaft von der Enttäu- Schweizer Banken reiben sich die Hände.
schung über diese Regierung zu lesen war, sondern auch, Herr Schäuble, ich weiß nicht, ob Sie sich einmal die
dass sie sich, was die europapolitischen Positionen an- Presseerklärung der Schweizerischen Bankiervereini-
geht, weitgehend an unserer Seite befindet. Sie sagt: Wir gung angeschaut haben. Dort heißt es mit Blick auf das
brauchen eine klare Orientierung, um aus dieser Krise Abkommen mit Deutschland: Der Finanzplatz Schweiz
herauszukommen. Wir brauchen eine Roadmap für eine hat mit dem Abkommen einen Meilenstein in seiner
Währungsunion, die diesen Namen wirklich verdient. – Wachstumsstrategie 2015 gesetzt. Die derzeitige wirt-
Das ist richtig, weil wir in den vergangenen Krisen nur schaftliche und regulatorische Entwicklung lassen für
auf diese Weise Resignation und Stillstand immer wie- die Finanzbranche auf eine anspruchsvolle Zukunft
der überwunden haben. Der Befund für heute ist: Das schließen. – Was „anspruchsvolle Zukunft“ heißt, steht
europäische Schiff treibt orientierungslos herum. Alle auch noch in dieser Presseerklärung: Man wolle jetzt
Welt wartet auf Berlin. Aus Berlin kommen dröhnendes „neue margenträchtige Produkte im Bereich Hedge
Schweigen und Streit in der Koalition. Das wird nicht Funds oder Private Equity aus der Schweiz“ anbieten.
reichen. Das ist das Ergebnis dieses Abkommens.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Schäuble, Sie können diesen Weg gerne gehen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Aber ich sage Ihnen voraus: Die Mehrheit von Bundes-
Volker Kauder [CDU/CSU]: Meinen Sie tag und Bundesrat werden Sie dabei nicht an Ihrer Seite
Wowereit?) haben.
Dröhnendes Schweigen auch bei der Regulierung der
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie
Finanzmärkte. Herr Kauder, ich sage es einmal positiv:
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Wir in der Großen Koalition waren uns über einen Satz
GRÜNEN)
einig: kein Produkt, kein Akteur, kein Finanzplatz ohne
Aufsicht! Das haben wir damals gesagt. Die Frage ist ja Aber auch das passt am Ende alles ins Bild. Wir ha-
nur: Was ist daraus geworden? Herr Schäuble, was ist ben uns ja monatelang auch in diesem Haus über die
aus der ehrgeizigen Agenda von Pittsburgh geworden? Frage der Gläubigerhaftung bzw. Gläubigerbeteiligung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14467
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) gestritten, also über den Beitrag, den Banken bei der Es gibt viel zu tun. Das ist von einer Regierung anzu- (C)
Entschuldung von Notlagenstaaten zu leisten haben. packen, auch von dieser. Wenn sie das nicht tut, dann sei
Und Sie lassen sich von Herrn Ackermann und dem die Konsequenz klar bezeichnet: Wer das verweigert und
Bankenverband einen Vorschlag zur Gläubigerhaftung hier keine entschiedene Politik macht, der bereitet die
aufschwatzen, der am Ende doch nichts als reiner Etiket- größte sozialpolitische Umverteilung seit Jahrzehnten
tenschwindel ist. vor. Dann werden dem Steuerzahler weiterhin Lasten
Wenn Sie die Wirtschaftspresse gelesen haben, wis- aufgebürdet und diejenigen geschont, die sich in den
sen Sie: 30 Prozent Wertberichtigung waren bei den letzten Jahren bereichert haben. Das geht so nicht. Das
Banken lange eingepreist. Sie treffen jetzt eine gemein- treibt die Menschen in die Wahlenthaltung.
same Vereinbarung der europäischen Staaten, nach der Was mit dem Hotelprivileg begann, das setzt sich mit
es nur 20 Prozent werden. Besser hätte das Geschäft für der Schonung der Gläubigerbanken bei Ihnen fort. Es
die Banken gar nicht sein können. geht aber nicht um den täglichen kleinkarierten partei-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!) politischen Streit. Richten Sie den Blick auf die europäi-
sche Nachbarschaft! Wenn Sie das nicht anpacken und
Ich sage Ihnen: Das kann und darf nicht das letzte Wort hier nichts tun, dann hantieren Sie mit sozialpolitischem
gewesen sein. Sonst verstehe ich die Welt nicht mehr. Sprengstoff. Das sollte Ihnen bewusst sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) GRÜNEN)
Das ist alles schon schwer genug auszuhalten. Aber Meine Damen und Herren, wer auch immer nach Ih-
wenn sich alle diejenigen, die für dieses Desaster auch
nen regiert, übernimmt ein schweres Erbe. Ich kann
noch mitverantwortlich sind, jetzt hinstellen und nach
nicht verstehen, dass in dieser Situation, in der wir zu
dem Motto „Haltet den Dieb!“ auf den verschwenderi-
Recht über Verschuldung diskutieren, nicht auch auf das
schen Staat schimpfen, dann fehlt mir jede Gelassenheit.
Die Wahrheit ist doch eine ganz andere. Zuerst hat der eigene Land geschaut wird. Ich verstehe nicht und kann
Staat die Banken gerettet, und jetzt schwingen sich die nicht billigen, dass in einer Situation, in der wir noch
Finanzmärkte zum Richter über die Staaten auf. 2008 nicht entscheidend von unserem Schuldenstand herun-
hatten wir unter Peer Steinbrück gesamtstaatlich schon terkommen, weiterhin gegenüber der Öffentlichkeit,
einen ausgeglichenen Haushalt. Ohne den Bankenret- nein, gegenüber der eigenen Klientel mit Sperenzchen
tungsschirm säßen viele dieser Besserwisser in Nadel- wie Steuersenkungen gearbeitet wird.
streifen heute auf der Straße, meine Damen und Herren. (Christian Lindner [FDP]: Nordrhein-West-
(B) falen! Die Sozialdemokraten sind Deutsch- (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lands Griechen!)
Mir geht es überhaupt nicht um Banker-Bashing. Es Es bleibt dabei: Sie haben keine klare Sicht auf eine
gibt viele gute Leute darunter. Aber ein wenig Innehal- komplett veränderte Wirklichkeit. Sie finden sich nicht
ten, ein wenig Nachdenklichkeit – – darin zurecht. Sie haben auch keine Sprache dafür. Es
heißt immer noch: „Steuern runter!“, „Mehr Netto vom
(Otto Fricke [FDP]: Bei den Landesbanken!) Brutto“ und „Markt statt Staat“. Sie haben immer noch
– Herr Fricke, die Antwort, nur auf die Landesbanken zu die falsche Sprache. Sie haben das falsche Programm,
verweisen, ist zu einfach. Natürlich sind sie auch ein und Sie haben das falsche Personal.
Problem; das gebe ich zu. Sie sind aus der Zeit gefallen. Sie haben den Kontakt
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch da zur Wirklichkeit verloren. Für Deutschland ist jeder Mo-
gibt es zu wenig Kontrolle!) nat, den dieses Drama früher zu Ende geht, ein Gewinn.
Aber was ich über die Banker sage, gönne ich auch Ih- Herzlichen Dank.
nen: Ein bisschen Innehalten, ein bisschen Nachdenk-
lichkeit und manchmal ein bisschen Demut – das dürfte (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall
nicht zu viel verlangt sein. beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Wort hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.
Das haben wir von Ihnen gelernt, als Sie im
Bundeskanzleramt waren! Da haben wir De- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mut gelernt! Von Ihnen und vom Schröder!)
Es sollte erst recht nicht von denjenigen zu viel verlangt Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
sein, die sich in den letzten Jahrzehnten als Heerscharen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
von Chefvolkswirten, Finanzmarktexperten und Anlage- Meine Damen und Herren! Herr Steinmeier, nach Ihrer
beratern getummelt haben und denen nur eines gemein- Rede ist es dringend Zeit, die Dinge wieder ein bisschen
sam ist, nämlich dass sie sich alle geirrt haben und nichts zu ordnen.
wussten, als es darauf angekommen ist.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei der SPD) der FDP – Widerspruch bei der SPD)
14468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) Ihre Rede war konfus. Anders kann ich das nicht be- 41 Millionen Menschen in Deutschland haben Arbeit. (C)
schreiben. Wir arbeiten daran, Deutschland nach vorn zu Der Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Jobs in
bringen. Das ist unsere Aufgabe, den vergangenen zwei Jahren beträgt rund 1 Million.
Wir haben in verschiedenen Regionen Vollbeschäfti-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Merkt bloß keiner!) gung. Ich sage Ihnen: Wir geben uns mit der Zahl von
und darüber werden wir jetzt sprechen. unter 3 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden, wir wol-
len Arbeit für alle. Dass wir die Jugendarbeitslosigkeit
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und halbieren konnten, ist ein Beispiel dafür, was man schaf-
der FDP) fen kann. Daran werden wir weiter arbeiten.
Seit mehr als drei Jahren bestimmt die internationale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Finanz- und Wirtschaftskrise täglich die Schlagzeilen.
Sie beeinflusst die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt Wir haben bei der Krisenbewältigung – der Beitrag
nicht nur bei uns, sondern weltweit. Sie beeinflusst den der Großen Koalition dazu soll gar nicht geschmälert
Alltag der Menschen, und sie beeinflusst natürlich auch werden – eines gesehen, was für uns alle, die wir hier sit-
die Arbeit von Regierung und Parlament. zen, eine unglaublich gute Botschaft ist: Politik kann ge-
stalten, Politik kann abfedern, Politik kann etwas bewe-
Was mit einer Bankenkrise begann, setzte sich in ei-
gen.
ner Krise der realen Wirtschaft fort. Diese wurde durch
Konjunkturprogramme abgefedert. Heute haben wir eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
verstärkte Verschuldung der Staaten. Das genau ist das
Umfeld, in dem die christlich-liberale Bundesregierung Das genau ist soziale Marktwirtschaft: Es ist uns ge-
innerhalb von zwei Jahren ein Arbeitsprogramm bewäl- lungen, für Menschen Brücken zu bauen und Leitplan-
tigt hat, von dem man mit Fug und Recht sagen kann: ken einzuziehen, um die Dinge zu ordnen.
Das hätte bei anderen für mehr als eine Legislaturpe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
riode gereicht.
Ich sage ganz klar: Das, was uns bei der realen Wirt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schaft gelungen ist, ist uns bei der internationalen
Wir können heute sagen: Deutschland geht es im Finanzwirtschaft noch nicht gelungen. Deshalb ist die
Sommer des Jahres 2011 gut. Das ist Grund zur Freude. Beunruhigung der Menschen auch verständlich. Sie sa-
gen: Es gibt etwas, das durch politisches Handeln nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ausreichend gezähmt ist. Es gibt international nicht die
Wenn wir uns die wirtschaftliche Lage anschauen, dann Leitplanken, die wir von der erfolgreichen sozialen
(B) stellen wir fest: 2009 Wirtschaftseinbruch von 5,1 Pro- Marktwirtschaft in Deutschland kennen. – Deshalb muss (D)
zent, letztes Jahr Rekordwachstum von 3,7 Prozent. daran gearbeitet werden.
Auch in diesem Jahr werden wir ein gutes Wachstum ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ben. Wir haben das Vorkrisenniveau wieder erreicht –
schneller, als wir dachten. Bei allen Warnsignalen be- Es ist einiges erreicht worden. Wir sind national
züglich der Weltwirtschaft können wir sagen: Wir sehen vorangegangen. Wolfgang Schäuble hat gemeinsam mit
keine Anzeichen für eine Rezession. Das, was wichtig der ganzen Bundesregierung ein Gesetz zur Restruktu-
ist, auch für Europa, ist: Deutschland ist wieder die rierung der Banken eingebracht; wir haben es verab-
Wachstumslokomotive in der Europäischen Union. Auch schiedet. Ähnliches muss auch weltweit kommen. Es
darauf können wir stolz sein. Wir leisten damit unseren gibt immer noch das Problem – das wird beim G-20-
Beitrag. Gipfel wieder ein Thema sein –, wie wir die Banken, die
so groß sind, dass sie bei einem Zusammenbruch einen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
riesigen Schaden anrichten, so restrukturieren können,
Was viel wichtiger ist, als dass es nur der Wirtschaft dass kein Schaden für die internationale Öffentlichkeit
gut geht, ist, dass es den Menschen besser geht. Wir entsteht.
konnten den Aufschwung so gestalten, dass er den Men-
schen zugutekommt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt sta- (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE
bil unter 3 Millionen. Nun muss man nicht nachkarten, LINKE])
aber man wird es wenigstens sagen dürfen, dass mein Wir haben die Bankenabgabe eingeführt, damit in Zu-
geschätzter Vorgänger versprochen hat, die Zahl der Ar- kunft nicht der Steuerzahler zahlen muss. Wir haben in
beitslosen auf 3 Millionen zu senken, er aber mit 5 Mil- Europa verschiedene Regelungen eingeführt, die ich
lionen Arbeitslosen aus dem Amt geschieden ist, wohin- nicht alle aufzählen will. Dass wir bis heute keine euro-
gegen die christlich-liberale Koalition die Zahl der päische Richtlinie zum Derivatehandel haben, ist ein
Arbeitslosen auf unter 3 Millionen senken konnte. Das Manko. Deutschland macht Druck, und das werden wir
ist die Wahrheit. auch weiterhin tun.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Da müssen
Sie aber weit zurückgehen, um einen Erfolg Aber zur Wahrheit gehört auch: Finanzmärkte arbeiten
aufzuweisen! – Zuruf des Abg. Dr. Diether international. Deutschland ist dabei eine wichtige
Dehm [DIE LINKE]) Stimme; die bringen wir ein. Aber allein können wir es
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14469
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) nicht entscheiden, und deshalb sind wir froh über jeden, und es ist überhaupt nicht abzusehen, wie dieses Land (C)
der mit uns gemeinsam Druck macht. jemals die Schuldenbremse erreichen will.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vor der In Baden-Württemberg war das erste Regierungshandeln
Bundestagswahl gesagt: Deutschland soll stärker aus der von Grün-Rot, 180 neue Stellen im Staatsapparat zu
Krise herauskommen, als es hineingegangen ist. Wir schaffen. Von Berlin und Bremen, rot-rot und rot-grün
können heute sagen: Wir haben unser zentrales Wahlver- regiert, möchte ich überhaupt nicht sprechen.
sprechen gehalten. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wo Sie den
Mist eingefahren haben! Landowsky! Reden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sie mal über Landowsky!)
Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Ich sage: Machen Sie doch dort, wo Sie Verantwortung
Deutschland geht es so gut wie lange nicht. Jetzt, in bes- tragen, erst einmal Ihre Hausaufgaben, und dann kom-
seren Zeiten, geht es darum, die Fundamente zu stärken. men Sie zurück. Das wäre die richtige Arbeitsreihen-
Das zentrale Thema ist die Haushaltskonsolidierung. Da folge.
gab es gestern hier ein bisschen Geschrei. Wir hatten im
Jahre 2010 die Furcht – weil wir die Krise auch mithilfe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von Steuergeldern bewältigt haben –, ein Defizit von Meine Damen und Herren, in normalen Zeiten würde
86 Milliarden Euro zu haben. Wir können froh sein, dass ich jetzt darüber sprechen, wie wir die Fundamente der
es in diesem Jahr 30 Milliarden Euro sein werden und Zukunft bauen, wie wir Wachstum fördern, in Bildung
dass es im nächsten Jahr 27 Milliarden Euro sein sollen. und Forschung investieren, den Zusammenhalt unseres
Das heißt, wir sind auf einem guten Weg. Landes stärken. Ich würde über maßvolle Steuerentlas-
Es war richtig, die Schuldenbremse einzuführen. Wir tungen sprechen, weil es der Steuergerechtigkeit ent-
können in diesem Jahr die Defizitkriterien wieder einhal- spricht, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ten. 1,5 Prozent gesamtstaatliches Defizit, das ist ein gu- am Wachstum über mehr Erwerbslohn beteiligt werden.
tes Ergebnis, auch für Europa. Aber wir dürfen uns Ich würde über unser Energiekonzept sprechen, darüber,
nichts in die Tasche lügen: Mit 83 Prozent gesamtstaatli- wie wir das durchsetzen – mit einem Monitoring –,
cher Verschuldung haben wir noch einen weiten Weg vor (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
uns, um die 60-Prozent-Grenze der Maastricht-Verträge NEN]: Ohne Wärmedämmung!)
wieder zu erreichen. Da ist die vielleicht nicht so beach-
über Forschung und Bildung, wofür wir so viel ausgeben
(B) tete, aber trotzdem wichtige Aussage, dass wir mit (D)
80,5 Prozent jetzt die Trendumkehr von 83 Prozent er- wie keine Bundesregierung jemals zuvor.
reichen werden, mindestens so wichtig wie das tempo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
räre gesamtstaatliche Defizit. Denn es geht darum – das
ist das eigentliche Thema –: Wie können Staaten die ak- Ich würde über die Pflegereform sprechen, die wir in den
kumulierte Verschuldung über Jahrzehnte wieder ab- nächsten Monaten auf den Weg bringen, über die Demo-
bauen? grafiestrategie, die die Antwort auf die Fragen des ver-
änderten Altersaufbaus – das große nationale Problem –
Es war richtig, dass wir im vergangenen Jahr ein Zu- gibt, über die Reform der Bundeswehr und darüber, wie
kunftspaket für den mittelfristigen Finanzplanungszeit- wir die Kommunen entlastet haben, indem wir die
raum mit 80 Milliarden Euro Einsparungen aufgelegt ha- Grundsicherung übernehmen.
ben. Das war nicht leicht. Darüber gab es auch
Diskussionen; aber es war richtig. Wir haben gezeigt: Wir leben aber nicht in normalen Zeiten. Deshalb
Sparen geht, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Es ist sage ich: Wir stehen vor Herausforderungen, die man ge-
richtig und gut, dass wir die Schuldenbremse einhalten. trost historisch nennen kann. Ich will nicht sagen, ob es
die schwerste oder eine der schweren Herausforderun-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen Europas ist; aber wir können sagen: Deutschland
geht es gut. Wir wissen jedoch: Deutschland kann auf
Nun ist es so – das mag für Sie ärgerlich sein –, dass Dauer nicht erfolgreich sein, wenn es nicht auch Europa
Sie im Bund nicht an der Regierung beteiligt sind. Aber gut geht.
Sie könnten Ihren nationalen Beitrag zur Zukunft
Deutschlands dort leisten, wo Sie Verantwortung tragen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was ist denn da mit Schuldenabbau? Nordrhein-West- Mit so einer Regierung kann man nicht erfolg-
falen: verfassungswidriger Haushalt, einmal beklagt, reich sein!)
einmal für unrichtig erklärt; sofort folgt der nächste ver- Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind zentraler
fassungswidrige Haushalt. Teil der Europäischen Union. Deutschlands Zukunft ist
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was ist mit untrennbar mit der Zukunft Europas verbunden. Nach
Hessen? Wer regiert denn da? Und in Nieder- Jahrhunderten langer Kriege war die europäische Eini-
sachsen?) gung Garant und Schrittmacher für eine dauerhafte Aus-
söhnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass
Rheinland-Pfalz: In der Regierungszeit von Herrn Beck dies erfolgreich gelungen ist, war alles andere als selbst-
sind zwei Drittel der Gesamtschulden angehäuft worden, verständlich. Auf dieser Grundlage konnte der Wiederauf-
14470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) bau eines zerstörten Kontinents gelingen, auch mithilfe Vor zehn Jahren haben wir eine stabile Währung ver- (C)
des Marshallplans der Amerikaner in einer ganz schwie- sprochen. Das Versprechen ist gehalten. Die Inflations-
rigen Situation. Auf dieser Grundlage konnte transatlan- rate ist in diesen zehn Jahren geringer als in den letzten
tische Partnerschaft entstehen. Auf dieser Grundlage zehn Jahren der D-Mark. Eine christlich-liberale Koali-
konnten die Völker Europas nie da gewesenen Wohl- tion, damals unter der Führung von Helmut Kohl, Hans-
stand erwirtschaften. Auf dieser Grundlage konnte die Dietrich Genscher und Theo Waigel, hat unter Mühen
Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Einigung und in kontroversen Diskussionen in Europa den Stabili-
Europas stattfinden. täts- und Wachstumspakt durchgesetzt. Es ist eine trau-
rige Ironie, dass ausgerechnet eine deutsche Regierung,
Daraus ergibt sich unsere heutige Verpflichtung ge-
Rot-Grün unter Führung von Herrn Schröder, dann die-
genüber den Gründervätern unseres Landes und dieses
sen Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht hat.
Europas; das sage ich auch sehr persönlich. Die Grün-
derväter haben mit ganzer Kraft, mit Mut, mit Ideen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mit vielen Risiken Europa gebaut.
Es war auch Rot-Grün – es ist einfach so; wir waren ja
(Zuruf von der SPD: Ja, das fehlt Ihnen!) nicht froh, dass wir da in der Opposition waren –, die wi-
Sie haben es nicht nur für sich getan, sondern vor allen der besseres Wissen Griechenland in den Euro-Raum
Dingen für zukünftige Generationen. Jetzt, liebe Kolle- aufgenommen haben.
ginnen und Kollegen, ist es an uns, im 21. Jahrhundert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, unseren Kin-
dern und Enkeln ein intaktes Europa zu übergeben, und Ich würde das alles nicht sagen, wenn Sie aus Ihren
zwar nicht in einer Welt, wie es 1950 war, von 2,5 Mil- Fehlern lernen würden, aber – das ist das Schlimmste –
liarden Einwohnern, in der die Dominanz Europas und Sie tun es nicht. Analysieren Sie doch einmal die heutige
der Vereinigten Staaten von Amerika schon durch die Krise: Was ist das Hauptproblem in der gegenwärtigen
Bevölkerung viel klarer war, sondern in einer Welt von Krise? Ich kann ja nur Antworten finden, wenn ich we-
7 Milliarden Einwohnern mit einer Vernetzung der Wirt- nigstens die Analyse vernünftig mache. Die hohe Ver-
schaft, wie wir sie nie gekannt haben, und, durch die schuldung einzelner Länder ist das Hauptproblem der
7 Milliarden Einwohner, mit einem Verbrauch und Ge- heutigen Krise, die wir im Euro-Raum haben. Diese Ver-
brauch von natürlichen Ressourcen, wie es an vielen schuldung ist nicht nur in den Zeiten entstanden, als wir
Stellen eine Überstrapazierung dieser Welt ist. die Konjunkturprogramme gegen die internationale
Finanz- und Wirtschaftskrise aufgelegt haben, sondern
Seit bald zehn Jahren können die Menschen in Berlin diese Verschuldung ist das Ergebnis davon, dass Jahr-
und Paris, in Rom und Lissabon mit einer gemeinsamen zehnte eine falsche Philosophie verfolgt wurde. Diese (D)
(B)
Währung bezahlen. Das ist der Euro. Die Geschichte Philosophie wurde im Übrigen auch von der ersten Gro-
sagt uns: Länder, die eine gemeinsame Währung haben, ßen Koalition Ende der 60er-Jahre verfolgt. Da hat das
führen nie Krieg gegeneinander. Deshalb ist der Euro alles in Deutschland begonnen. Da hieß es: Hauptsache
viel, viel mehr als nur eine Währung. Wachstum, egal was es kostet, im Zweifelsfall auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schulden, und anschließend in guten Zeiten nichts zu-
rückzahlen. Mit dem Ergebnis von jahrzehntelangem
Der Euro ist der Garant eines einigen Europas, oder an- Schuldenaufbau müssen wir uns heute herumschlagen.
ders gesagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist
richtig!) Wir sind da ja in feiner Gesellschaft: Wir sind damit
in Europa nicht alleine, wir sind damit mit den Vereinig-
Weil ein Europa der Demokratie und der Freiheit unsere ten Staaten nicht alleine, wir sind damit mit Japan nicht
Heimat ist, darf der Euro nicht scheitern, und er wird alleine. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt: Diese
nicht scheitern. Krise, wenn sie nicht zu einer großen Krise der westli-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chen Welt werden soll,
Aber wenn ich auf der einen Seite von einer der (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist sie
schwersten Krisen Europas spreche und gleichzeitig von längst!)
unserem unbedingten deutschen Interesse an einem star- kann mit einem Weiter-so nicht bekämpft werden. Ein
ken Europa, dann ergibt sich doch daraus die zentrale grundsätzliches Umdenken ist nötig. Wir müssen nach-
Aufgabe dieser Legislaturperiode. Die zentrale Aufgabe haltig wirtschaften und nicht mehr auf Kosten zukünfti-
dieser Legislaturperiode heißt: So wie Deutschland stär- ger Generationen.
ker aus der Krise herausgekommen ist, als es hineinge-
gangen ist, muss jetzt auch Europa stärker aus der Krise (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
herauskommen, als es hineingegangen ist. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Krise ist Das muss jetzt zur Erkenntnis aller 17 Staaten werden,
noch nicht um, Frau Bundeskanzlerin! Wie die durch eine gemeinsame Währung verbunden sind;
können Sie das sagen? Die Krise dauert noch denn auf der einen Seite sind wir durch die gemeinsame
an!) Währung untrennbar miteinander verbunden, und auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14471
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) der anderen Seite – das ist die Rechtssituation – hat jedes (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Machen (C)
einzelne dieser 17 Länder die Haushaltshoheit, kann also Sie doch schon längst! Sagen Sie doch mal die
seinen Haushalt auf Basis nationaler Entscheidungen Wahrheit!)
aufstellen.
Vielmehr geht es darum, dass wir uns auf die Haushalts-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Parlamenta- führung jedes einzelnen Mitgliedstaates verlassen kön-
rische, nicht marktkonforme!) nen.
Genau das entspricht im Kern dem, wenn gesagt wird: Euro-Bonds sind der Weg in die Schuldenunion. Wir
Wir haben keine politische Union. Mit dieser Frage müs- brauchen eine Stabilitätsunion. Daran arbeitet die christ-
sen wir uns auseinandersetzen, und in dieser Situation lich-liberale Koalition.
müssen wir die richtigen Antworten finden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was sagen jetzt die Sozialdemokraten und die Grü- Keine Generation kann sich ihre Aufgabe aussuchen.
nen? Unsere Gründerväter mussten ein zerstörtes Deutschland
aufbauen und die Erbfeindschaft mit Frankreich über-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Was sagt denn die Re- winden. Unsere Aufgabe ist es nun, den Weg aufzuzei-
gierung? – Weiterer Zuruf von der SPD: Was gen, wie eine Stabilitätsunion erreicht werden kann.
sagen Sie? – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
Was sagt die CSU?) (Zuruf von der SPD: Dann sagen Sie das doch
mal!)
Die Sozialdemokraten und die Grünen sagen: Wir brau-
chen in dieser Situation Euro-Bonds. Wenn ich aber nun Hierbei gibt es eine Grundüberzeugung, die die christ-
genau die Situation habe, dass ich auf den Haushalt eines lich-liberale Koalition leitet. Sie lautet: Wir brauchen
einzelnen Mitgliedstaats des Euro-Raums keinen Ein- Solidarität und Eigenverantwortung, Eigenverantwor-
fluss habe, kann es doch nicht angehen – das ist aber Ihre tung und Solidarität.
Antwort –, dass ich die Schulden in einen Topf werfe (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
und den einzigen Indikator, den ich in diesem Wäh- GRÜNEN]: Große Worte!)
rungssystem noch habe, nämlich die Zinssätze, verge-
meinschafte. Nicht derjenige, der sofort hilft und jeder Hilfsanfrage
sofort nachgibt, hat recht, sondern derjenige, der den
(Widerspruch bei der SPD sowie bei Abgeord- Weg zur Stabilitätsunion aufzeigt.
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) –
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Reden Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) mal in Ihre Richtung!) (D)
Da hat das Bundesverfassungsgericht uns heute Morgen,
Das ist mit Sicherheit die falsche Antwort, und das zeigt, soweit ich das in der knappen Zeit überblicken konnte,
dass Sie Ihre Fehler fortsetzen. absolut bestätigt.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: „Absolut“,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das ist ja lächerlich! Soweit Sie das überbli-
Nun lese ich heute in der Zeitung von dem einen und cken konnten! Was können Sie schon überbli-
höre hier im Bundestag von dem anderen, dass Sie, auch cken? Marktkonform statt Parlament, das ist
angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils, jetzt doch Ihre Devise! Lesen Sie mal lieber das Ur-
eine Umdefinition der Euro-Bonds vornehmen wollen. teil! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Eine
Bei Ihnen ist das jetzt nur noch ein Instrument, das für Ohrfeige haben Sie bekommen!)
Krisenländer gemeinschaftlich, vielleicht im EFSF, ver- Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Eigenverant-
waltet wird. Dann sagen Sie das aber auch. wortung und Solidarität in einer transparenten, durch-
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein, schaubaren Art und Weise, natürlich mit absoluter Mit-
nein! Das ist ja Quatsch! Für Quatsch ist die bestimmung des Parlaments. Das ist genau der Weg, den
Regierung zuständig!) wir gegangen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Euro-Bonds sind ja definiert – bis heute war das auch
nach Ihrem Verständnis so; das ist auch überall außer- Der dauert manchmal etwas länger und ist zuweilen et-
halb der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei was komplizierter, aber es ist der richtige Weg.
Deutschlands im Deutschen Bundestag nach wie vor so –
als Vergemeinschaftung der Schulden und Einführung Sie können doch sehen, was wir in den letzten andert-
eines einheitlichen Zinssatzes für alle. halb Jahren erreicht haben. Wir können nicht zufrieden
sein mit den neuesten Meldungen aus Griechenland.
(Sigmar Gabriel [SPD]: Was machen Sie denn Griechenland muss Strukturreformen durchführen. Es
jetzt?) muss transparente Strukturen in seinem Land schaffen,
und es muss natürlich – das wird auch immer gesagt –
Das ist die falsche Antwort. investieren. Geld ist vorhanden in Europa. Griechenland
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat 70 Prozent der Mittel seiner Strukturfonds und Kohä-
sionsfonds gar nicht abgerufen. Auch für Portugal steht
Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen. noch Geld zur Verfügung.
14472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das muss in neuen Wege beschreiten. Auch das ist ein Beitrag zur (C)
die Verbrauchertaschen! Sonst können sie mit Stabilitätsunion.
dem Geld nichts anfangen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht um Strukturen, mit denen man Wachstum gene-
rieren kann, und die sind nicht ausreichend vorhanden. Wir haben drittens durchgesetzt, dass Lehren aus der
Krise gezogen werden, nämlich mit dem Euro-Plus-Pakt
Sie sagen immer, dass das Polemik gegen irgendwel- und der verstärkten institutionellen Zusammenarbeit in
che Länder sei. Meine Damen und Herren, so wie wir der Euro-Zone. Wir haben im vorigen Jahr gesagt, es
uns hier auseinandersetzen, so muss das auch in einem müsse eine Wirtschaftsregierung der 27 geben. Die
Europa mit einer Währung stattfinden. Alle Probleme Wahrheit ist: Wir müssen in der Euro-Zone enger zusam-
unter den Tisch zu kehren und von Solidarität zu reden, menarbeiten, ohne andere zu verstoßen. Aber wir müs-
wird uns nicht zu einer Stabilitätsunion bringen. Das ist sen das vor allen Dingen so schaffen, dass es verbindlich
die Wahrheit. wird. Es hat keinen Sinn, wenn man nur Daten aus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tauscht. Vielmehr muss eine Verbindlichkeit entstehen,
und daran muss gearbeitet werden. Nur so kann Europa
Deshalb war es richtig, dass wir durchgesetzt haben, stärker aus der Krise herauskommen, als es hineingegan-
dass es Hilfen nur unter strengen Auflagen gibt. Das ist gen ist.
das erste Prinzip, das wir durchgesetzt haben.
Es zeigt sich aber in einer unglaublichen Schärfe, dass
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie zwingen die Probleme eines Landes – und sei es eines Landes wie
die Konjunktur in die Knie! 5 Prozent minus Griechenland, das nur 2 Prozent des Bruttoinlandspro-
bei der Konjunktur!) dukts der gesamten Euro-Zone hat – die ganze Währung
Wir haben zweitens durchgesetzt, dass neben der Bewäl- in Gefahr bringen können. Im Lissabon-Vertrag gibt es
tigung der Krise endlich auch die Ursachen angegangen keinen Mechanismus,
werden. Deshalb haben wir mehr Wachstum und mehr
Wettbewerbsfähigkeit im neuen Stabilitäts- und Wachs- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Deswegen
tumspakt niedergelegt. Wir haben ihn nicht aufgeweicht, war er so toll, der Lissabon-Vertrag!)
sondern verstärkt. Ich hoffe, dass die letzten Einigungen um diejenigen zur Einhaltung des Stabilitäts- und
mit dem Europäischen Parlament erfolgen. Da geht es Wachstumspakts zu zwingen, die das nicht können oder
nicht nur um das temporäre Defizit, sondern es wird in nicht wollen. Deshalb sage ich auch: Wenn wir Europa
Zukunft auch um die Gesamtverschuldung und die ma- weiterdenken und wenn wir mehr zukunftsfähiges und
kroökonomische Leistungskraft eines Landes gehen. starkes Europa wollen, dann dürfen auch Vertragsände- (D)
(B)
Das sind genau die Kriterien. rungen kein Tabu sein, um ein Mehr an Verbindlichkeit
Wir haben mit dem französischen Präsidenten alles dafür zu erreichen.
ausgelotet, was unter der jetzigen Vertragssituation an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
verbindlichen Absprachen möglich ist. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Die FDP war gleich NISSES 90/DIE GRÜNEN)
dagegen!)
Es gehört zu den Paradoxien, dass die Nichteinhaltung
Da habe ich eine Bitte an den Deutschen Bundestag: jeder Richtlinie, beispielsweise aus Bereichen wie Wirt-
Wenn wir unseren Haushalt nach Europa schicken und schaft oder Umwelt, zu einer Verurteilung durch den
im Rahmen des Europäischen Semesters Kommentare Europäischen Gerichtshof führt, aber ausgerechnet die
der Europäischen Kommission mit Blick auf die Erfül- Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
lung des Stabilitäts- und Wachstumspakts für jedes ein- vom Europäischen Gerichtshof gerade nicht verfolgt
zelne Mitgliedsland abgegeben werden, müssen sich werden darf. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind
auch alle anderen Euro-Staaten verpflichten, diese Kom- für ein solches starkes Europa, weil wir eine Stabilitäts-
mentare zu befolgen, damit sicher ist, dass der Stabili- union wollen.
täts- und Wachstumspakt erfüllt wird.
Wir werden Risiken eingehen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie machen (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben
Konjunkturen kaputt! Das ist Ihre Devise!) Sie genug gemacht! Sie sind in Vorleistung ge-
treten!)
Wir haben gesagt: Wir wollen, dass alle Länder, ähn-
lich wie wir es in Deutschland gemacht haben – da wa- Das wird kein einfacher Weg sein. Wir brauchen mehr
ren wir Vorreiter –, eine Schuldenbremse in ihre Verfas- Europa; aber wir müssen es vernünftig und richtig ma-
sung aufnehmen. chen. Wir müssen den Menschen auch ganz klar sagen:
Die heutigen Probleme wie die übermäßige Verschul-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Gift!)
dung sind in Jahrzehnten aufgewachsen. Diese lassen
Wir haben dabei unerwartete Fortschritte erzielt. Frank- sich nicht mit Schlagwörtern wie Euro-Bonds oder Um-
reich denkt darüber nach, Spanien hat es gemacht, Portu- schuldung mit einem Paukenschlag einfach wegwischen,
gal ist offen, und Italien macht es jetzt auch. Mit der und alles wird wieder gut. Nein, das wird ein langer und
Aussage „Das geht alles nicht“ kann man natürlich keine schwieriger, aber für die Zukunft richtiger Weg in eine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14473
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) zukunftsfähige Europäische Union. Diesen Weg wollen (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist (C)
wir gemeinsam gehen. denn mit der Eigenkapitaldeckung?)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb haben wir uns für die Schaffung des permanen-
ten Rettungsschirms eingesetzt.
In Europa leben 500 Millionen Menschen. Wir wis-
sen: Die Welt wandelt sich. Sie wandelt sich nicht nur im (Sigmar Gabriel [SPD]: Den haben Sie doch
wirtschaftlichen Bereich. Dort haben wir eine Situation, am Anfang auch abgelehnt!)
in der keiner mehr sozusagen aus sich selbst heraus al-
leine stark sein kann. Das ist die Botschaft. Schauen Sie Aber wir können nicht Schlagwörter in die Welt setzen
auf die Schweiz. Sie hat gestern den Wechselkurs ihrer (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Eigen-
Währung faktisch an den Euro gekoppelt; denn die kapitaldeckung ist kein Schlagwort!)
Stärke der Schweiz wird zu ihrer eigenen Schwäche,
wenn sie sich nicht in das gesamte globale Gefüge ein- und uns anschließend wundern, dass wir damit die ge-
ordnet. Das ist die Lehre. Deshalb ist der Euro richtig. samte Finanzwelt verunsichert haben. Das reicht für Op-
positionsarbeit, aber nicht zum Regieren.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
DIE GRÜNEN] – Dr. Diether Dehm [DIE Das verstehe ich unter einem kontrollierten Prozess.
LINKE]: Deshalb war Maastricht falsch!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Die Weltwirtschaft ist wie ein feingesponnenes Netz. Sigmar Gabriel [SPD]: Es ist gut, dass Sie die
Wer da an irgendeiner Stelle irgendeinen Faden kappt, Erkenntnis haben!)
der kann das ganze Netz zum Einreißen bringen. Des-
halb müssen all diejenigen, die jetzt mit EFSF, ESM und Wie gesagt: Die Welt wandelt sich, und sie wandelt
alldem nicht einverstanden sind, eines wissen: Wir ha- sich nicht nur im ökonomischen Bereich. Wir haben
ben keine theoretische Diskussion am Reißbrett darüber, auch gesehen, dass die Freiheit weiter auf ihrem Sieges-
wie wir uns eine politische Union vorstellen, zug ist – in diesem Jahr im arabischen Raum. Der Bun-
desaußenminister hat über die Verantwortung, die
(Sigmar Gabriel [SPD]: Machen Sie jetzt eine Deutschland in diesem Zusammenhang übernimmt, ge-
Fraktionssitzung? – Dr. Frank-Walter sprochen.
Steinmeier [SPD]: Wir können ja gehen!)
(Sigmar Gabriel [SPD]: Verantwortung über-
sondern wir haben eine Situation, in der es darum geht, nimmt er auch? Donnerwetter!)
(B) eine eng verwobene Weltwirtschaft auf einen vernünfti- (D)
gen Pfad der Stabilität zu führen. Deshalb muss jeder un- – Genau. – Wir werden sehr entschieden von Ägypten
serer Schritte kontrolliert sein. über Tunesien bis Libyen und Syrien unserer Verantwor-
tung gerecht werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sigmar Gabriel [SPD]: Frau Merkel, das müs- (Sigmar Gabriel [SPD]: Und Panzer nach
sen Sie in der Fraktionssitzung erklären!) Saudi-Arabien!)
– Nein, Herr Gabriel, ich halte hier eine Rede vor allen Das werden sehr lange Prozesse sein. Dabei wird es auf
Abgeordneten des Deutschen Bundestages. einen langen Atem ankommen, um den jungen Men-
schen in diesen Ländern Hoffnung zu geben und Ausbil-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Diesen Teil der Rede dungspakte zu schließen. All das ist auf dem Weg, und
haben wir verstanden! Aber Ihre Leute nicht! all das stärkt die Demokratie.
Wir haben da geklatscht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
– Wenn Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit noch Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
einmal schenken würden. GRÜNEN]: Sie machen doch die Grenzen
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE dicht!)
GRÜNEN]: Wir dachten, wir wollen bei der In vier Tagen jährt sich der 11. September. Auch das
Fraktionssitzung nicht stören!) wird uns noch einmal daran erinnern, wie sich die Be-
Die Art und Weise, wie Sie über Umschuldung im euro- drohungslage zum Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit
päischen Raum sprechen – unkontrolliert und ohne jede völlig verändert hat. Weil der islamistische Terrorismus
Basis dafür –, ist genauso verantwortungslos wie Äuße- eine völlig neue, asymmetrische Bedrohung ist, in der
rungen über Euro-Bonds. Auch das gehört zur Wahrheit. Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, ist es so
wichtig, dass wir stabile Staaten bauen helfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sigmar Gabriel [SPD]: Was ist denn aus Ihrer Das ist unsere Aufgabe in Afghanistan. Im Dezember
Gläubigerbeteiligung geworden?) wird in Bonn die Afghanistan-Konferenz stattfinden, auf
der wir über die Zukunft diskutieren. Wir haben erlebt:
Wir glauben, dass die Staaten die Fähigkeit erlernen Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht einfach. Es
müssen – genauso wie es bei den Banken der Fall war –, ist nicht so einfach, ein stabiles Afghanistan aufzubauen.
mit Insolvenzproblemen umzugehen. Es war Anfang der 90er-Jahre nicht so einfach, ein stabi-
14474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) les Somalia aufzubauen. Es ist nicht so einfach, die Pira- Rede haben Sie Ihre Fraktion nicht gerettet. Dazu war (C)
terie zu bekämpfen. sie zu oberflächlich und ist auf den Kern der Probleme
überhaupt nicht eingegangen.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Wir haben den Sieg über den Kalten Krieg errungen – da
können Sie lachen –; aber wir haben es noch nicht ge- Frau Bundeskanzlerin, ich hatte gehofft, dass Sie
schafft, die asymmetrischen Bedrohungen in vollem nichts zu Berlin sagen. Aber Sie haben etwas zu Berlin
Umfang in den Griff zu bekommen. Die Antwort der und der Verschuldung gesagt. Deshalb muss ich Ihnen
Bundesregierung ist: Es wird nicht allein militärisch ge- eines ganz klar sagen: Die Verschuldung Berlins ist nun
lingen – die militärische Option kann nicht ausgeschlos- wirklich von Eberhard Diepgen und Klaus Landowsky
sen werden –, sondern es bedarf immer eines vernetzten von der Union verursacht worden.
Vorgehens, einer vernetzten Sicherheitskonzeption, um
Frieden und Stabilität auf der Welt zu erreichen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich sage einmal: SPD und Linke haben diesen Karren
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten hat es so aus dem Dreck gezogen. Das ist die Wahrheit.
viele Krisen und Großereignisse in so kurzer Abfolge
gegeben, (Lachen des Abg. Norbert Barthle [CDU/
CSU])
(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ja, das stimmt!)
Dass Berlin jetzt sogar eine Hauptstadt und Metropole
wie wir das in den vergangenen Jahren erlebt haben. Sel- ist, liegt nur an den Linken.
ten gibt es die eine Antwort, die eine Lösung, auch wenn
uns das so viele Experten jeden Tag vorgaukeln wollen. (Beifall bei der LINKEN)
Aber immer gibt es eine Aufforderung, der insbesondere Ich komme zu einer Rede des Bundespräsidenten,
die Regierung nachzukommen hat: entschlossen wie be- die er am 24. August 2011 gehalten hat. An diesem
sonnen den richtigen Weg für unser Land zu finden, 24. August hat er gesagt:
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und Politik muss ihre Handlungsfähigkeit zurückgewin-
marktkonform!) nen. Sie muss sich endlich davon lösen, hektisch
stets das Ganze im Blick und für das Gemeinwohl mit auf jeden Kursrutsch an den Börsen zu reagieren.
genau dieser Richtschnur. Sie muss sich nicht abhängig fühlen und darf sich
(B) nicht am Nasenring durch die Manege führen las- (D)
Die christlich-liberale Koalition will ein Deutschland, sen, von Banken, von Ratingagenturen …
das wirtschaftlich stark ist, das auf seine Menschen setzt,
das seine soziale Verantwortung kennt, das international Eine härtere Kritik eines Bundespräsidenten an einer Re-
an der Spitze steht und das Verantwortung für Europa gierung und einer Koalition habe ich selten gehört.
und die Welt übernimmt – ein Deutschland also, das (Beifall bei der LINKEN)
menschlich und erfolgreich ist.
Sie gehen überhaupt nicht darauf ein.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und
marktkonform!) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Recht
hat er!)
Dafür arbeiten wir, und das mit aller Kraft.
Der Bundespräsident erklärt damit, dass die Demo-
Herzlichen Dank.
kratie gefährdet ist. Das sagt übrigens ein Bundespräsi-
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU dent erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik
und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE Deutschland seit 1949. Ich sage Ihnen: Die Demokratie
LINKE]: Es fehlt ein bisschen die Begeiste- ist nicht nur gefährdet; wir haben es wirklich mit Zerstö-
rung! Je schlechter die Umfragen, desto länger rung zu tun. Der frühere Kanzler Kohl hat eine vernich-
der Applaus! Ihr seid bescheidene Leute! Auf- tende Kritik an der Kanzlerin und ihrer Koalition geübt.
stehen! Steht doch mal auf!) Er hat gesagt, es gebe keinen Kompass, also keine
Orientierung, keine Grundwerte, keine Grundüberzeu-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gungen. Verstehen Sie, ich muss immer Ihre Leute zitie-
Das Wort hat nun der Fraktionsvorsitzende der Lin- ren, weil Sie uns nicht glauben; aber wahr ist es trotz-
ken, Dr. Gregor Gysi. dem.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir haben es in Wirklichkeit mit etwas anderem zu
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): tun, Frau Bundeskanzlerin – ich bitte Sie, das einmal zur
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kenntnis zu nehmen –: Wir haben es mit einer System-
Meine Damen und Herren von Union und FDP, ich be- krise zu tun, mit einer Diktatur der Finanzmärkte. Die
danke mich für Ihren langen Begrüßungsbeifall. Abgese- großen privaten Banken, Fonds, Versicherungen und
hen davon glaube ich, Frau Bundeskanzlerin: Mit dieser Hedgefonds machen vor nichts Halt, reißen alle noch be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14475
Dr. Gregor Gysi
(A) stehenden Dämme nieder und brechen sämtliche Tabus. glauben, zitiere ich jetzt einmal ein paar andere Leute, (C)
Sie haben nicht die Kraft und den Mut, endlich etwas da- also Erzkonservative, Neoliberale, keine Linken. Neh-
gegen zu tun. Das ist aber dringend erforderlich. men wir einmal Charles Moore, britischer Erzkonserva-
tiver, Thatcherist, der einzige offizielle Autor einer Bio-
(Beifall bei der LINKEN)
grafie von Maggie Thatcher. Er schreibt im Telegraph
Dabei geht es nicht nur um Länder wie Griechenland, vom 22. Juli 2011:
Portugal, Spanien oder Irland; es geht um die Kernländer
Die Reichen dieser Welt haben ein globales System
des Kapitalismus. Auch die USA, Frankreich und Italien
organisiert, das … allein ihnen nützt. Die vielen
werden angegriffen. Private amerikanische Ratingagen-
Anderen haben zu arbeiten, um die Reichen noch
turen, die von großen Banken abhängig sind, stuften die
reicher zu machen.
USA herunter. Ich bitte Sie! Das macht denen gar nichts
mehr aus; so mächtig sind sie inzwischen geworden. Seit Das sagt Moore, nicht Gregor Gysi. Moore würdigt
Jahren höre ich von Ihnen: „Wir brauchen eine öffent- plötzlich die Linken und sagt: Die haben recht. Manche
lich-rechtliche Ratingagentur in Europa.“ Wo ist sie haben gedacht, er meint die Labour Party. Daraufhin hat
denn? Es wird höchste Zeit, sie zu schaffen. er sich geäußert: Nein, er meine auch nicht die neolibe-
ralen Linken wie Blair, Schröder oder Fischer, die die
(Beifall bei der LINKEN)
ganze Deregulierung in den letzten Jahren organisiert
Es sind nicht die Linken, sondern die Finanzmärkte, haben,
die den Kapitalismus von innen heraus zerstören. Die
(Beifall bei der LINKEN)
Ratingagenturen stürzen inzwischen sogar Regierun-
gen, wie in Irland und Portugal. Niemand regt sich da- sondern er meine die wirkliche Linke.
rüber auf. Früher gab es einmal ein Wahlrecht der Be-
Der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher,
völkerung; heute läuft das völlig anders ab. Wir haben
schreibt einen Artikel für das Feuilleton mit der Über-
es – auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen – mit
schrift „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht
einer Krise der Demokratien weltweit zu tun, weil wir
hat“. Warum schreibt er das? Er schreibt das, weil es
von den Finanzmärkten diktatorisch beherrscht werden.
plausibel ist. Das ganze politische System nutzt nur den
Nun waren Sie, Frau Merkel, bei Herrn Sarkozy in Reichen und schadet den anderen.
Paris. – Frau Merkel, hören Sie mir einmal einen Mo-
Paul Kirchhof, ehemaliger Verfassungsrichter und
ment zu; ich möchte eine Erklärung haben. Sie haben
einst bei Ihnen, Frau Merkel, hochgeschätzter Steuer-
dort mit Herrn Sarkozy ein Papier zur zweiten Griechen-
experte, beklagte die nahezu vollständige Abhängigkeit
land-Hilfe verabschiedet. Dann höre ich in der heute-
der Politik von den privaten Finanzmärkten. Zur Grie-
(B) Sendung im ZDF, dass dieses Papier wortwörtlich, bis (D)
chenland-Krise bemerkt er, dass nicht Solidarität mit den
zum letzten Komma, von einem Papier des internationa-
Griechen herrsche, sondern ausschließlich mit den Ban-
len Bankenverbandes abgeschrieben ist, dessen Präsi-
ken. Das schreibt Herr Kirchhof. Er sieht die Demokratie
dent zufällig Josef Ackermann heißt, also genau wie der
ebenfalls gefährdet.
Chef der Deutschen Bank. Ich finde, das ist der Gipfel.
Dafür müssen Sie nicht nach Paris fahren; Sie können Selbst Wirtschaftswissenschaftler wie Professor
auch am Telefon klären, dass Sie ein Papier nur ab- Straubhaar, die die Märkte bisher vergötterten, schrei-
schreiben. ben: Das Marktversagen scheint die Regel zu sein. Er
muss seine ganze wissenschaftliche Theorie umstellen.
(Beifall bei der LINKEN)
George Soros, Multimilliardär, Spekulant, König der
Ich finde, das offenbart die Abhängigkeit. Wir kennen
Hedgefonds – er befindet sich absolut auf der Gegen-
das – es begleitet uns seit Jahren –: Bei der ersten
seite –, schreibt: Der Kapitalismus ist offenkundig nicht
Finanzkrise wurde auf Wunsch der Banken ein Rettungs-
zu Reformen fähig und wird deshalb scheitern wie der
paket im Umfang von 480 Milliarden Euro beschlossen.
Staatssozialismus. Das schreibt Soros.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: In
Warum denken Sie nicht darüber nach, was Sie verän-
einer Woche!)
dern müssten, wenn Sie wirklich in die Geschichte ein-
Was haben Sie, Herr Rösler – Sie waren dafür verant- greifen wollen? Die Milliardäre und Superreichen treten
wortlich –, bei der Gesundheitsreform gemacht? Sie ha- jeden Tag im Rundfunk und im Fernsehen auf und sa-
ben die Wünsche der Pharmaindustrie und der privaten gen: Wir möchten gerne endlich einmal Steuern zahlen.
Krankenversicherungen umgesetzt. Bei der Atomenergie
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, das sagen
– wir wissen es – waren es die vier Energiekonzerne, die
sie nicht! Mehr wollen sie zahlen!)
sich durchgesetzt haben. Sie zeigen unserer Bevölke-
rung, dass nicht Sie die Macht haben, sondern andere da- Frau Merkel und Herr Rösler, Sie sagen: Ja, wir strei-
rüber entscheiden. Das ist wirklich eine Gefährdung der chen gern das Elterngeld von Hartz-IV-Empfangenden
Demokratie. Bekommen Sie das endlich einmal mit! – das haben wir ja schon gemacht –, aber von euch Ver-
mögenden und Millionären wollen wir nicht einmal ei-
(Beifall bei der LINKEN)
nen halben Cent. Wissen Sie, warum die Reichen das ru-
Ich glaube, dass Sie es bei den Banken, Fonds, Versi- fen? Sie rufen das nicht, weil sie plötzlich alle
cherungen und Hedgefonds maßlos überzogen haben. solidarisch und altruistisch geworden sind und nachts
Deshalb sind wir jetzt in einer Krise. Wenn Sie mir nicht wegen der Armen auf der Erde nicht mehr schlafen kön-
14476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) nen – davon mag es eine Handvoll geben, das will ich (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (C)
nicht ausschließen –, sondern sie rufen das, weil sie ei- GRÜNEN]: Gut, dass du es verstanden hast!)
nes begriffen haben: Es geht um ihre Existenz. Es geht
um eine Systemfrage. Diese konservative Regierung ist Wir exportieren nicht nach Griechenland, auch nicht
nicht klug genug, das zu begreifen. nach Spanien, Irland oder Portugal.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gott sei Dank
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
haben wir Sie, der es versteht!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Herr Kauder, hören Sie einmal zu! Vielleicht verstehen
Wenn Sie schlau wären, würden Sie zur Erhaltung der Sie es dann ja auch. Wir haben einen Binnenmarkt mit
Struktur den Spitzensteuersatz erhöhen und die Vermö- einer Binnenwährung. Wenn Sie in diesem Zusammen-
gensteuer wieder einführen. Sie hätten nicht einmal Wi- hang von Export sprechen, müssten Sie auch sagen:
derstand von den Vermögensmillionären und -milliardä- Bayern exportiert nach Schleswig-Holstein. Sie haben es
ren zu erwarten, aber Sie machen es nicht, weil Sie in nicht begriffen.
Ihrer kleinkarierten Ideologie hängen und nicht begrei-
fen, welche Fragen auf der Erde und in Europa anstehen. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ihr System sieht folgendermaßen aus: Bayern soll erst
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schleswig-Holstein ruinieren. Wenn das gelungen ist,
bauen die Schleswig-Holstein finanziell gesehen wieder
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann nenne ich Ih- auf, und dann ruinieren die es erneut. Erklären Sie den
nen zwei Zahlen. Die Staatsverschuldung in der Euro- Leuten einmal den Sinn davon. Wenn wir einen Euro ha-
Zone liegt bei 10 Billionen Euro. Die Millionäre der ben, dann haben wir eine Binnenwährung, und zwar von
Euro-Zone haben ein Vermögen in Höhe von 10 Billio- Griechenland bis Deutschland, und damit haben Export
nen Dollar. Erklären Sie das einmal den Menschen. In und Ihr Gebaren nicht zu tun.
Deutschland haben wir eine Staatsverschuldung in
Höhe von 2 Billionen Euro. Die Reichsten der Bevölke- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
rung – das sind 10 Prozent – besitzen ein Vermögen in Warum ist Deutschland in Sachen Export aber so er-
Höhe von 3 Billionen Euro. 1 Billion Euro mehr. Erklä- folgreich? Aus einem Grund: Weil Sie die Löhne ge-
ren Sie den Menschen, warum Sie sagen: Wir wollen senkt haben, weil Sie die Renten gesenkt haben,
von ihnen keinen halben Cent, keine Steuern, nicht ein-
mal einen Euro. Nichts wollen Sie von den Reichen ha- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
ben. So können Sie keine gerechten Verhältnisse herstel- GRÜNEN]: Hartz IV!)
(B) len. Die Verursacher müssen endlich für die Krise (D)
weil Sie die Sozialleistungen gesenkt haben, und zwar
bezahlen, nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
ganz erheblich. In den letzten zehn Jahren – das ist übri-
mer, die Rentnerinnen und Rentner und die Arbeitslosen.
gens auch ein Verdienst von SPD und Grünen – sind die
(Beifall bei der LINKEN) Reallöhne um 4,5 Prozent, die Realrenten um 8,5 Pro-
zent und die Sozialleistungen um 5 Prozent gesenkt wor-
Es stellt sich noch eine andere Frage. Ich will versu- den.
chen, es Ihnen von der Union und der FDP ganz langsam
zu erklären. Wie mache ich das bloß? Der Euro gilt von (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Griechenland bis Deutschland, das heißt, wir haben eine GRÜNEN]: Ja, darauf haben wir gewartet!)
Binnenwährung. 1998 haben wir im Bundestag darüber Das Ergebnis war, dass der Export billiger wurde. Des-
diskutiert. Es gab wie immer vier oberschlaue Fraktio- halb können wir so viel nach Spanien, Portugal etc. ex-
nen: SPD, Union, FDP und Grüne, portieren.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Und eine dumme (Otto Fricke [FDP]: Das ist kein Export!)
gab es auch! Das wart ihr!)
– Natürlich. Sie haben keine Ahnung. Wenn Sie das
die sagten, alle Voraussetzungen für die Einführung des noch nicht begriffen haben, müssen Sie das erste Semes-
Euro liegen vor. Die Einzigen, die davor gewarnt haben, ter Volkswirtschaft belegen.
waren wir. Aber Sie haben uns oberschlau mitgeteilt, Sie
wüssten alles besser, und alle unsere Warnungen seien (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
falsch. Lesen Sie die Reden von damals. Sie werden sich Noch einmal langsam. Dann passiert Folgendes,
einigermaßen schämen, wenn Sie das nachlesen. meine Damen und Herren von der FDP: Nachdem wir
(Beifall bei der LINKEN) die Länder dadurch ruiniert haben, dass sie weniger ver-
kaufen und nichts nach Deutschland exportieren konn-
Alles, was wir an Gefahren beschrieben haben, ist einge- ten, kommen Sie und sagen: Wir müssen Geld hinschi-
troffen. Damals haben Sie immer vom Export nach Spa- cken. – Verstehen Sie, dass die Bevölkerung das nicht
nien und nach Portugal geredet. Ich habe in meiner Rede begreift? Was wir stärken müssen – das haben Sie nie
darauf hingewiesen: Wenn man eine Binnenwährung begriffen – ist die Binnenwirtschaft. Aus Gründen der
hat, dann hat man einen Binnenmarkt, und dann gibt es sozialen Gerechtigkeit, aber auch aus ökonomischen
keinen Export mehr. Sie haben das bis heute nicht ver- Gründen brauchen wir endlich höhere Löhne, höhere
standen. Renten und höhere Sozialleistungen. Wir brauchen das,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14477
Dr. Gregor Gysi
(A) damit wir nicht abhängig sind vom Export, damit wir un- Es war doch klar, dass das nichts mehr wert ist. Ist das (C)
sere eigene Wirtschaft im Lande stärken. nicht ein eindeutiger Fall von Untreue? Der zweite Punkt
ist: Jetzt haften wir gemeinsam dafür. Das bekommen
(Beifall bei der LINKEN)
Sie gar nicht weg. Die Lidl-Kassiererin, Herr
Ich kann Ihnen ganz klar sagen, was uns die Reich- Ackermann, wir alle haften für diese Staatsschulden;
tumspflege in den letzten Jahren kostete: 300 Milliarden denn sie gehören jetzt der Europäischen Zentralbank.
Euro. Und was haben wir in den letzten drei Jahren real Damit haben wir indirekt die Euro-Bonds eingeführt.
für die Bankenkrise ausgegeben? 300 Milliarden Euro. Jetzt gibt es nur noch zwei Möglichkeiten für Sie von
Das erklären Sie einmal den Leuten. Sie beantragen, der FDP: Entweder Sie treten heute aus der Regierung
dass die Toilette in einer Schule repariert wird, und Sie aus, weil Sie ja gesagt haben, dass Sie das in diesem Fall
sagen: Kein Geld. – Aber für diese Dinge ist immer ge- machen würden, oder Sie hören mit Ihrem Geschwätz
nügend Geld vorhanden. Das ist nicht nachvollziehbar. auf. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht; das will ich
ganz klar sagen.
In Brüssel ging es um zwei Dinge: Erstens. Wer be-
zahlt die Kosten? Das zweite Thema waren die Euro- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Bonds. Nun haben die Banken gesagt, dass sie freiwillig neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
auf 21 Prozent des Wertes ihrer Griechenland-Anleihen Jörg van Essen [FDP]: Es gibt noch eine dritte
etc. verzichten wollen. Das klingt schon fast edel. Nun Möglichkeit! Sie lesen einmal das Urteil des
hat Ihr Wirtschaftsweiser Herr Bofinger aber ausgerech- Bundesverfassungsgerichts!)
net, dass sie auf gar nichts verzichten. Die Banken haben
die Laufzeit der Anleihen so deutlich verlängert, dass sie Nun soll morgen eine Debatte zum Rettungsfonds
am Ende sogar ein Geschäft machen. Darauf kann man stattfinden, und zwar dergestalt, dass dieser auf 780 Mil-
sich bei den Banken immer verlassen. liarden Euro erhöht werden soll. Sagen Sie den Bürge-
rinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland
Außerdem erwähnen die Banken nicht, dass die Euro- bitte, dass sie nicht mehr für Schulden in Höhe von
päische Zentralbank – das ist eine Bank, die allen Steu- 123 Milliarden Euro haften, sondern dann für Schulden
erzahlerinnen und Steuerzahlern der Euro-Zone gehört, in Höhe 211 Milliarden Euro. Das sind 88 Milliarden
vornehmlich den deutschen Steuerzahlerinnen und Steu- Euro mehr. Das ist doch wohl nicht nichts. Sie können
erzahlern – Kredite für 1,25 Prozent an Banken vergibt nicht ernsthaft behaupten, dass Sie damit rechnen, dass
und diese Banken Griechenland Geld für 11 oder mehr das Geld nicht in Anspruch genommen wird. Ich sagte es
Prozent geben. Das ist abenteuerlich. Die Banken ma- schon: In den letzten drei Jahren wurden bereits 300 Mil-
chen Geld mit einer Überweisung, ohne irgendetwas liarden Euro in Anspruch genommen.
herzustellen, weder einen Stuhl noch einen Tisch. Nichts
(B)
ist hergestellt worden. Das sind reine Spekulationsge- Warum können Sie darauf nicht hoffen? – Sie können (D)
winne, die uns später um die Ohren fliegen werden. nicht darauf hoffen, weil Sie einen völlig falschen Weg
gehen, und zu dem komme ich noch. Was muss jetzt also
(Beifall bei der LINKEN) geschehen? – Die Linke wird Ihnen jetzt erklären, was
Nun zu den Euro-Bonds. Ich würde gerne auf die Sie eigentlich zu tun hätten.
Aussagen der Kanzlerin und der FDP zu sprechen kom- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu-
men. Sie von der FDP lehnen Euro-Bonds ab. Wenn ich rufe von der FDP – Dr. Michael Fuchs [CDU/
Sie richtig verstanden habe, dann hat die FDP den Mut CSU]: Es stimmt: Sie nerven!)
von 40 Jahren zusammengenommen und gesagt: Wenn
die Kanzlerin Euro-Bonds einführen sollte, verlassen wir – Wissen Sie, ein bisschen nervt mich das auch, denn Sie
die Regierung. Ich habe Sie richtig verstanden? – Gut. hören so selten. Langsam hören Sie aber. Sie hören im-
Jetzt muss ich Ihnen Folgendes sagen: Wir haben die mer verspätet.
Euro-Bonds.
Das Erste, was passieren muss, ist dies: Die Banken
(Heiterkeit bei der LINKEN – Jörg van Essen müssen auf ihre eigentlichen Funktionen zurückgeführt
[FDP]: Bundesverfassungsgerichtsurteil!) werden. Sie sind Dienstleistungsunternehmen für Unter-
Ich werde es Ihnen ganz kurz belegen – passen Sie auf –: nehmen und für Privatpersonen und nichts anderes. Wir
Euro-Bonds heißt, dass man gemeinsam für die Schul- brauchen keine Leerverkäufe, wir brauchen keine
den haftet. Dass das vertragswidrig ist, ist etwas ganz an- Hedgefonds. Sie müssen das endlich regulieren. Haben
deres. Ich sage nur, dass wir sie haben. Warum? Weil die Sie einmal den Mut, sich Ackermann gegenüberzustel-
Europäische Zentralbank, die all unseren Steuerzahlerin- len und zu sagen: Schluss, wir machen das jetzt anders.
nen und Steuerzahlern gehört, Staatsschulden von Grie- Wir sind die demokratisch gewählten Volksvertreterin-
chenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien aufge- nen und Volksvertreter.
kauft hat, und zwar im Wert von 129 Milliarden Euro. (Beifall bei der LINKEN)
Den privaten deutschen Banken und Versicherungen hat
sie ein Drittel dieser Staatsschulden abgekauft. Meine Wir müssen die großen privaten Banken dezentralisieren
erste Frage ist: Wer hat das eigentlich der Europäischen und öffentlich-rechtlich gestalten. Ich weiß, dass Sie sa-
Zentralbank genehmigt? gen: Die Landesbanken haben auch nicht funktioniert.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die ist un- (Zuruf von der FDP: Das ist ein gutes
abhängig, Herr Gysi! Das wissen Sie doch!) Beispiel!)
14478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) Das stimmt, und die Landesbanken, die pleitegingen, erhalte ich von euch immer richtige Zahlen. Das darf (C)
waren alles Banken aus CDU-regierten Ländern. Davon man verlangen.
einmal abgesehen kann ich Ihnen den Fehler nennen. Sie
sind pleitegegangen, weil man den Landesbanken gesagt (Lachen bei der FDP)
hat: Ihr müsst spekulieren wie die großen privaten Ban- Zweitens hätte ich gesagt: Die tägliche Steuerhinterzie-
ken. – Daran sind sie zugrundegegangen. Erst regulie- hung ist wirksam zu bekämpfen. Wenn wir uns hierfür
ren, dann öffentlich-rechtliche Institutionen schaffen. ein System ausgedacht haben, dann können wir es auch
(Beifall bei der LINKEN) in Deutschland einführen.

Die Sparkassen sind nicht unser Problem. Ganz im (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Gegenteil, in Brüssel hat man immer über die Sparkas- Dann hätte ich gesagt – das ist mir jetzt ganz wichtig –:
sen gemeckert. Jetzt sagt man dort kein Wort mehr, weil Vom Bruttoinlandsprodukt, von der wirtschaftlichen
die Sparkassen in der Krise tapfer und gut standen; eben Leistung her hat Griechenland den größten Anteil an
weil sie öffentlich-rechtlich waren und nicht weltweit Ausgaben für Rüstung. Die Griechen geben 2,8 Prozent
spekuliert haben. ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung aus. In Deutsch-
(Beifall bei der LINKEN) land liegt dieser Anteil bei 1,3 Prozent. Auch Frankreich
und Großbritannien liegen in diesem Bereich. Frau Bun-
Wir brauchen in der Euro-Zone eine Bank für öffent- deskanzlerin, warum haben Sie von Griechenland nicht
liche Anleihen, die zu günstigen Zinsen Kredite an Staa- verlangt, die Rüstungsausgaben sofort zu halbieren? Das
ten vergibt. Dort können dann auch die Euro-Bonds, wäre wichtig gewesen.
über die ich gesprochen habe, gehalten werden. Euro-
Bonds würden den Euro natürlich stabilisieren. Sie kön- (Beifall bei der LINKEN)
nen keine Binnenwährung einführen. Wir haben dagegen Ich glaube, den Grund zu kennen. Deutschland ist der
gestimmt. Sie wollten die Binnenwährung von Grie- drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wir verkaufen un-
chenland bis Deutschland. Nun haben wir sie, jetzt müs- sere Waffen nach Griechenland und, wie wir wissen,
sen wir sie auch retten, aber nicht dadurch, dass wir das nicht nur nach Griechenland.
– wie Sie – nicht zur Kenntnis nehmen, sondern dadurch,
dass wir ernst nehmen, dass es sich um eine Binnenwäh- Die 2 000 reichsten Familien Griechenlands besitzen
rung handelt. 80 Prozent des Vermögens in Griechenland. Ich bitte Sie,
das ist noch überzogener als in Deutschland. 2 000 Fa-
(Beifall bei der LINKEN) milien, also weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung,
(B) Die ganze Welt steht vor einer tiefen Rezession. Die besitzen 80 Prozent des Vermögens. Ich hätte die Bedin- (D)
Börsen spielen verrückt, und Ihr einziges Rezept ist Spa- gung gestellt, für diese 2 000 Familien eine drastische
ren. Was machen Sie mit Griechenland? – Was machen Vermögensteuer einzuführen. Das machen Sie aber
Sie mit den anderen Ländern? – Sie fordern Lohnkür- nicht.
zungen und die Kürzungen von Renten und Sozialleis- (Beifall bei der LINKEN)
tungen sowie eine Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Das ist all das, was Sie in Deutschland schon eingeführt Ich habe schon gesagt, was mit den Löhnen, Renten
haben. Sie fordern die Streichung von Investitionen und und Sozialleistungen passieren muss. Außerdem brau-
Billigverkäufe von öffentlichem Tafelsilber. Das ist Ihr chen wir eine Finanztransaktionsteuer. Nun sagen auch
Rezept. Sagen Sie mir einmal, wie Griechenland auf Sie und Sarkozy das. Aber wir brauchen kein Gerede,
diese Art und Weise Steuern einnehmen soll. Sie führen wir brauchen endlich diese Steuer. Führen Sie sie zumin-
dort alles zurück. Die Griechen dürfen nichts mehr in- dest in Deutschland ein; Schritt für Schritt werden wir
vestieren. sie in ganz Europa bekommen.
Sie setzen dadurch all das Geld in den Sand. Das ist (Beifall bei der LINKEN)
albern. Wir hätten nach dem Zweiten Weltkrieg lernen
müssen. Der Marshallplan war richtig. Man muss auf- Anders kann man Spekulationen nicht bekämpfen.
bauen, dann fließen auch wieder Steuereinnahmen. Es Wir brauchen auch die europäische Vermögensteuer;
gilt also: Hoch mit den Löhnen, hoch mit den Renten, über die sprach ich bereits. Übrigens ist interessant:
hoch mit den Sozialleistungen, mehr Investitionen. Sarkozy beginnt, es zu begreifen. Berlusconi – er ist so-
(Zurufe von der FDP: Hoch! Hoch! Hoch!) wieso ein völlig eigener Typ – hat sie wieder gestrichen.
Jetzt gibt es einen Generalstreik in Italien. Dies ist in
Das ist das Rezept für Griechenland und für Deutsch- Deutschland leider verboten; ein Generalstreik sollte
land. auch in Deutschland erlaubt werden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Frau Bundeskanzlerin, wenn ich etwas zu entscheiden Wieso dürfen wir eigentlich weniger als die Italienerin-
gehabt hätte, dann hätte ich den Griechen auch Bedin- nen und Italiener? Davon einmal abgesehen, wir haben
gungen gesetzt. Das muss man auch. Wenn man denen nun die Reaktion, dass Sie das einfach ablehnen. Sie be-
Geld gibt, dann darf man das. Ich hätte aber ganz andere greifen nicht, dass Sie mit einer Vermögensteuer sogar
Bedingungen gesetzt. Ich hätte erstens gesagt: Ab jetzt das System retten können, das Sie so lieben. Das ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14479
Dr. Gregor Gysi
(A) nicht nachvollziehbar. Wir brauchen auch Investitionen Nun bleibe ich einmal bei der Theorie der Grünen und (C)
in Infrastruktur, Umwelt und Bildung. der SPD, dass das den Demokratie- und Freiheitsbewe-
gungen hilft und den Diktatoren schadet. Erklären Sie
Nun komme ich zu einem anderen Thema: Libyen. Es
mir zwei Sachen: Warum haben Sie noch nie Bomben
stört mich ungeheuer, wie selbstverständlich auch von
auf Bahrain gefordert, und warum haben Sie noch nie
SPD und Grünen nach Bomben gerufen wird.
Bomben auf Syrien gefordert?
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Oder auf
GRÜNEN]: Endlich!)
Kuba!)
– Ja, ist es falsch? Sie haben immer gesagt: Im Sicher-
heitsrat hätte man der Bombardierung Libyens zustim- Ich kann es Ihnen sagen: In Bahrain ist der größte ameri-
men müssen. Ihre Theorie lautet doch: Bomben verjagen kanische Stützpunkt, in Bahrain sind die Saudi-Araber
Gaddafi und helfen den Demokratie- und Freiheitskämp- einmarschiert, an die Sie alle zusammen Waffen für
fern. Ich sage Ihnen: Das ist die größte Differenz zwi- 700 Millionen Euro verkauft haben, und die Saudi-Ara-
schen den Linken und Ihnen. Wir akzeptieren Krieg als ber schießen auf die Freiheits- und Demokratiedemon-
Mittel der Politik auf gar keinen Fall. stranten. Deshalb kommen Sie gar nicht auf die Idee,
dort zu bombardieren.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Hier unterscheiden wir uns diametral.
Bei Syrien gibt es auch eine einfache Begründung. Sy-
Ich möchte Ihnen das auch begründen. Ich bin jetzt in rien hat nur ein bisschen Erdöl, und Libyen hat ganz
der Situation, Außenminister Westerwelle verteidigen zu viel. Ich sage Ihnen – und das kotzt mich wirklich an –:
müssen, was ihm wahrscheinlich gar nicht recht ist. Seit Tausenden Jahren stecken hinter Kriegen – das sieht
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: man, wenn man genau hinschaut – immer ökonomische
Stimmt!) Interessen.

– Trotzdem sage ich es; da müssen Sie durch, Herr (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Westerwelle. – Ihre Stimmenthaltung war zwar nicht Lassen Sie sich da nicht mit hineinziehen, wie Sie es in
völlig richtig – ein Nein im Sicherheitsrat wäre besser den letzten Jahren ständig gemacht haben.
gewesen –,
(Beifall bei der LINKEN)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das hat er ja eigentlich gewollt! An Saudi-Arabien verkaufen wir jetzt auch noch
(B) Aber Merkel hat ihn nicht gelassen!) 200 Panzer. Eines darf ich noch sagen: Al-Qaida – das (D)
ist nun wirklich eine Terrorausbildungsorganisation –
aber auf jeden Fall war die Stimmenthaltung viel besser wird ausschließlich von Saudi-Arabien finanziert. Die
als das Ja, das SPD, Grüne und in Wirklichkeit auch besten Beziehungen der US-Regierung und der deut-
CDU/CSU und immer mehr Teile der FDP verlangt ha- schen Regierung bestehen zu Saudi-Arabien. Es ist völ-
ben. Warum ist es denn so falsch? Wir haben so viele lig unglaubwürdig, zu sagen, dass man für Demokratie
Diktatoren auf der Welt. Wollen Sie die alle wegbom- bombt, wenn man mit den Terroristen und den Diktato-
ben? Was ist Ihr Maßstab? Erklären Sie das einmal der ren zusammenarbeitet. Das geht nicht auf. Das sage ich
Bevölkerung. hier ganz klar.
Jetzt höre ich: Für 83 Millionen Euro hat die Regie- (Beifall bei der LINKEN)
rung Waffenlieferungen an Gaddafi genehmigt, und
dann bombt sie ihn weg. Der amerikanische, der briti- Sie haben gesagt, Sie hätten die Arbeitslosigkeit er-
sche und auch der deutsche Geheimdienst haben mit folgreich bekämpft. Es gibt immer den Streit, dass Union
Gaddafi zusammengearbeitet. Deutsche Polizisten haben und FDP meinen, es liege an ihnen, und SPD und Grüne
dort in ihrer Freizeit ausgebildet. Das alles wurde mit meinen, es liege an ihnen. Ich kann Sie beruhigen: Sie
Gaddafi gemacht. Eines Tages ändern Sie plötzlich Ihre alle haben Ihren Anteil daran, und zwar, weil in Wirk-
Meinung und sagen: Er ist ein Schurke, und jetzt: Wir lichkeit die Vollzeitbeschäftigungsplätze in den letzten
bomben ihn weg. Das ist nicht nachvollziehbar. Das ist zehn Jahren um 1,8 Millionen abgebaut wurden. Die
verlogen. Das ist nicht glaubwürdig. Das ist das Ent- Zahl der Geringverdiener und der prekär Beschäftigten
scheidende. hat zugenommen. Darauf sind Sie auch noch stolz. Sie
auf der einen Seite sagen immer, es sei Ihr Werk, und Sie
(Beifall bei der LINKEN) auf der anderen Seite sagen, es sei Ihr Werk. Es ist leider
Jetzt hören wir, dass Gaddafi sogar G-36-Sturmge- Ihr gemeinsames Werk. Aber Geringverdiener und pre-
wehre hatte; deren Export ist nie erlaubt worden. Ich kär Beschäftigte sind nicht die Lösung für unser Land.
frage die Bundeskanzlerin: Wie sind die dahin gekom- Wir brauchen wieder Vollzeitjobs.
men? Herr Kauder, wenn Sie das nicht wissen, dann ha-
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann
ben Sie keine Kontrolle über den Export von Rüstungs-
[DIE LINKE]: Und gut bezahlt!)
gütern. Das ist unverantwortlich.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagten, Sie seien stolz,
(Beifall bei der LINKEN)
dass die Jugendarbeitslosigkeit halbiert wurde. Sie kom-
Ich möchte wissen, wer wann wohin Waffen verkauft. men aus Mecklenburg-Vorpommern, ich war gerade
14480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) dort. 75 Prozent der Menschen bis 25 Jahre, die eine Be- Eines sage ich Ihnen zum Schluss: Ihre Regierung, (C)
schäftigung haben, sind Geringverdienerinnen und Ge- Frau Bundeskanzlerin, ist am Ende. Sie laufen den Ban-
ringverdiener. Das ist doch keine Lösung. Das ist ein zu- ken nur noch hinterher. Sie haben nicht die Kraft, die
nehmendes Problem. Diktatur der großen privaten Banken, Fonds, Versiche-
rungen und Hedgefonds, also des Finanzmarktes, zu bre-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE chen, um Frieden, soziale Gerechtigkeit, ökologische
GRÜNEN]: Wer ist denn da Wirtschaftsminis- Umgestaltung und Demokratie zu erkämpfen, was wir
ter?) dringend brauchen. Ich sage Ihnen auch: Es gibt nur
Was glauben Sie, wie sauer die sind? Leider gehen man- noch eine politische Partei, die diese Krise meistern
che dazu über, die NPD zu wählen, was wir alle nicht kann;
wollen. Also müssen wir diese Probleme so schnell wie
möglich lösen, und zwar im Bildungsbereich genauso (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge-
wie auf dem Arbeitsmarkt. ordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
es tut mir leid, Ihnen das so klar und eindeutig sagen zu
Lassen Sie mich noch sagen, dass wir ein anderes müssen. Das ist die Partei, die bei allen diesbezüglichen
System im Gesundheitswesen brauchen. Der Beitrags- Analysen immer richtig lag, was Sie nur viel zu langsam
satz, den die Arbeitgeber für die Krankenversicherung begreifen.
zahlen müssen, beträgt 7,3 Prozent. Die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zahlen schon allein deshalb mehr, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
nämlich 8,2 Prozent, weil Sie, SPD und Grüne, die pari- GRÜNEN]: Olé, olé!)
tätische Finanzierung aufgegeben haben. Rechnet man Es ist die Partei, die Sie alle besonders mögen, nämlich
2 Prozent für Praxisgebühr und Arzneien und noch bis Die Linke.
zu 2 Prozent für höhere Versicherungsbeiträge hinzu,
sind wir bei 12,2 Prozent. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
Wir schlagen Ihnen etwas anderes vor: Jede Bürgerin
und jeder Bürger zahlt vom gesamten Einkommen einen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung. Eine pri- Das Wort hat nun Rainer Brüderle für die FDP-Frak-
vate Versicherung kann man zusätzlich abschließen, aber tion.
nicht für die eigentliche Versorgung. Wir schlagen vor,
dass wir alle in die gesetzliche Krankenversicherung ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) zahlen, auch Ackermann, auch alle Bundestagsabgeord- (D)
neten. Wenn wir das machten, hätten wir einen Beitrags- Rainer Brüderle (FDP):
satz von nur 5,25 Prozent für Arbeitnehmerinnen und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
Arbeitnehmer und von 5,25 Prozent für die Unterneh- ich glaube, Sie hatten von früher noch die Melodie im
men. Wir senkten für die Unternehmen – ich bitte alle Kopf: „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht.“
Unternehmerinnen und Unternehmer, das zu bedenken,
wenn sie wählen – den Beitragssatz zur Krankenversi- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann
cherung von 7,3 Prozent auf 5,25 Prozent. In einer Stu- [SPD] – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
die wurde nachgewiesen, dass all dies ginge. Warum ge- LINKE]: Nein! Aber wo sie recht hat, hat sie
hen Sie diese Schritte nicht? Warum gehen Sie den recht!)
umgekehrten Weg und belasten nur Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer? Dieser Haushalt ist ein Stabilitätshaushalt; solide
Haushalte sind eine Vorsorge gegen Inflation. Dieser
Haushalt ist ein Zukunftshaushalt; wir klotzen bei Bil-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dung und Innovation. Dieser Haushalt ist ein Wirt-
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. schaftswachstumshaushalt; wir verstetigen die Wachs-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE tumschancen. Herr Steinmeier hat sich, als er hier war,
GRÜNEN]: Ja! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: als Schwarzmaler betätigt; da war viel Voodoo, wenig
Gott sei Dank!) Ökonomie.
Auch ich verfolge die Entwicklung der Börsen und
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): der Frühindikatoren und führe viele Gespräche. Wir kri-
Ich muss zum Ende kommen? Herr Thierse, das tut tisieren oft das Quartalsdenken. Wir sollten auch in der
mir sehr leid. Ich hätte Ihnen gern noch die Rente er- Politik in längeren Linien denken, nach klaren Prinzi-
klärt; das muss ich dann beim nächsten Mal machen. pien handeln. Dann verheddern wir uns auch weniger.
Deutschland kann auch in diesem Jahr stärker wachsen
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) als sein Potenzial; bis zu 3 Prozent ist die Erwartung.
Die Steuer hätte ich Ihnen auch gerne noch erklärt; auch Wir steuern auf eine Erwerbstätigenzahl von 41 Millio-
das muss ich beim nächsten Mal machen. nen zu. So viele Erwerbstätige gab es in Deutschland
noch nie.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ach, Herr Gysi!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14481
Rainer Brüderle
(A) Das soll die Opposition einmal zur Kenntnis nehmen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie ist es (C)
Sie reden Deutschland herunter. Das ist falsch. Das ist in Niedersachsen!)
schlecht. Das ist unverantwortlich.
Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus? Sie schlagen
(Beifall bei der FDP) weitere Steuererhöhungen und utopisch hohe Mindest-
löhne vor. Ihre Vorschläge sind ein Rezessionspro-
Deutschland steht gerade in dieser Zeit in einer be- gramm. Sie behaupten allen Ernstes, ein Mindestlohn
sonderen Verantwortung. Wir sind mit anderen Wachs- von 8,50 Euro saniere die Sozialkassen. Das ist eine
tumszentren in den Schwellenländern China, Indien, Konkurrenz zu Herrn Gysi, der 10 Euro fordert.
Brasilien und Russland ein Faktor, der ein Stück Stabili-
tät in die Entwicklung hineinbringt. Entscheidend war (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ein bisschen
beim Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaftsentwick- was für die Nachfrage muss man tun!)
lung auch der gewerblich-industrielle Sektor. Deshalb
Das ist offensichtlich ein Wettbewerb: Spieglein, Spieg-
werden wir keine Deindustrialisierung in Deutschland
lein an der Wand, wer ist der schönste Sozi im ganzen
zulassen.
Land?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP)
der CDU/CSU)
Aber die Realität sieht anders aus. Dort, wo Sie regie-
Die Realwirtschaft muss im Vordergrund stehen. Für
ren, werden Schulden gemacht, dass es kracht. Rot-Grün
sie müssen wir weiterhin die richtigen Voraussetzungen
steht für Big Government. In Baden-Württemberg haben
schaffen. Die Finanzwirtschaft hat eine dienende Funk-
Sie die Einführung einer neuen Schuldenobergrenze ver-
tion. Der scheidende Vorsitzende der Deutschen Bank
schoben. Sie wollen erst 2020 auf eine Nullverschuldung
hat recht: Wir müssen weg von einer Seifenschaumöko-
kommen. Sie schaffen dort ein neues Ministerium. In
nomie, hin zu einer klaren realwirtschaftlichen Orientie-
Rheinland-Pfalz haben Sie als Erstes zwei weitere
rung. Deutschland ist der Stabilitätsanker in Europa und
Ministerien geschaffen. Statt zu sparen, blähen Sie auf.
in der Welt. Wir können uns nicht von der Welt abkop-
Das nennen Sie dann Abbau von Schulden. Das ist das
peln. Aber Deutschland ist gut aufgestellt.
genaue Gegenteil.
Die Lieblingsworte der Opposition lauten „auf
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Pump“. Ich will Ihnen deutlich sagen: Die größte Pump-
station sitzt in den Reihen der Sozialdemokraten. Der In Bremen bekommt ein ausscheidender Senator von den
Genosse Pump war Peer Steinbrück mit 86 Milliarden Grünen eine staatliche Luxusrente. Rot-Grün macht sich
Euro Schulden. fett am Staat.
(B) (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten solide.
der CDU/CSU) Wir achten Vorgaben der Schuldenbremse. Wir setzen
sie schneller um, als wir das selbst ursprünglich für mög-
Das war ein Rekordwert. Wir haben diese Summe auf
lich gehalten haben. Wir machen den schlanken Staat.
ein Drittel reduziert. Wir werden im nächsten Jahr bei
Wir erarbeiten uns Spielräume. Wir wollen auch ein
der Nettokreditaufnahme unter 30 Milliarden Euro blei-
Stück Entlastung schaffen.
ben. In der Oppositionsbaracke ein Wünsch-dir-was-Pa-
pier zu schreiben, ist das eine. Es konkret umzusetzen, Ich bin gespannt, wie die Sozialdemokraten mit ihren
ist das andere. Das machen wir. Vorfeldgewerkschaftern dem Bandarbeiter bei VW und
der Krankenschwester erklären wollen, dass sie durch
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die kalte Progression netto weniger in den Lohntüten ha-
der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ ben. Das wird ein interessantes Thema werden.
DIE GRÜNEN]: Da haben Sie ja Erfahrung!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Da Herr Gabriel immer „Verfassungsbruch“ schreit, der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE
wenn er denn hier ist, empfehle ich ihm, nach Nord- LINKE]: Die Löhne sinken dank Ihnen seit
rhein-Westfalen zu schauen. Der Bund bringt seine zehn Jahren!)
Kasse in Ordnung und hilft Ihnen sogar bei der West-
LB, dieser Ausgeburt sozialdemokratischer Fehlent- Hier geht es auch um einen Beitrag zur Stabilisierung
wicklungen. der Binnennachfrage und um vernünftige Tarifab-
schlüsse.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der Auch bei den Sozialabgaben gibt es Entlastungs-
SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE potenzial. Eine Absenkung um mindestens 0,8 Prozent-
GRÜNEN]: Wer hat denn in den letzten Jahren punkte müsste 2013 möglich sein. Damit kann man rund
da regiert?) Hunderttausend Arbeitsplätze schaffen, wenn wir ent-
sprechende Kräfte finden. Unser Problem ist heute viel-
Wie rot-grüne Haushaltspolitik aussieht, kann man bei fach ein Mangel an Fachkräften.
Frau Kraft sehen und in Gerichtsurteilen nachlesen. Sie
fordern eine Entschuldungspolitik, wir machen sie. Sie Deshalb haben wir den nationalen Ausbildungspakt
gehen weiter voll in die Schulden hinein, wir machen ge- geändert. Statt Lehrstellenmangel haben wir heute viel-
nau das Gegenteil. fach schon einen Lehrlingsmangel zu beklagen. Deshalb
14482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Rainer Brüderle
(A) müssen wir die Ausbildungsreife stärken. Wir brauchen wollen. Ich finde es sehr bemerkenswert, was die Möch- (C)
auch eine Zuwanderung in Qualität. tegernbürgermeisterin Renate Künast zum Thema „bren-
nende Autos“ öffentlich geäußert hat. Sie findet es unan-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, wir ständig, diese Straftat im Wahlkampf zu thematisieren.
brauchen Bildung hier!) Das gilt vielleicht für einige ihrer Sympathisanten an der
Deshalb rollen wir denjenigen, die Qualitäten haben, bei Basis. Da erklärt ein Parteifreund der Grünen, die Brand-
uns einen roten Teppich – bei Ihrem Schreien keinen ro- anschläge seien ein Konjunkturprogramm der besonde-
ten, sondern besser einen blau-gelben oder notfalls einen ren Art. Das muss man sich auf der Zunge zergehen las-
schwarzen Teppich – aus. sen. Als Konjunkturprogramm der besonderen Art
bezeichnet sie der innenpolitische Sprecher der Grünen
(Beifall bei der FDP) in Berlin. Das spricht Bände über Ihre Einstellung zur
Wir mobilisieren die Potenziale. Wir müssen auch die Gewalt.
Anreize für ältere Arbeitnehmer verstärken. So erhöhen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wir etwa die Hinzuverdienstgrenze für Rentner.
Auch der Bundesagentur für Arbeit haben wir Beine Und Sie plakatieren: Renate arbeitet. – Wo arbeitet denn
gemacht. Es kann doch nicht richtig sein, dass die Bun- Renate: im Bund, im Land? Sie wollen doch gar nicht ar-
desagentur bei 5 Millionen Arbeitslosen 90 000 Beschäf- beiten. Sie wollen nur den Sessel im Roten Rathaus.
tigte und bei unter 3 Millionen Arbeitslosen 120 000 Be- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
schäftigte hat. Hier muss Qualität vor Quantität, mehr GRÜNEN]: Das ist blöd, Herr Brüderle! Das
Vermittlung und weniger Verwaltung die Zielrichtung tut ja weh!)
der Ausgestaltung sein.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das erinnert mich sehr an Herrn Gysi, kurzzeitig
der CDU/CSU) Wirtschafts- und Frauensenator in Berlin. Gestalten und
verwalten ist etwas anderes, als im Ledersessel zu sitzen.
Die Grünen faseln dann von einem gespaltenen Ar- Lieber Herr Kollege Gysi, das hatten Sie sich so schön
beitsmarkt. Ja, diese Spaltpilze haben Sie gepflanzt. Die ausgemalt: Sie setzen als Parteivorsitzende zwei Mario-
1-Euro-Jobs waren ein grün-rotes Projekt. Sie haben netten hin. Gewollt haben Sie wahrscheinlich eine Art
Hunderttausenden Menschen ein Stigma gegeben. Wir Augsburger Puppenkiste. Bekommen haben Sie eine Ro-
machen aus rot-grünen 1-Euro-Jobs schwarz-gelbe Dau- cky Horror Picture Show. Da wird Castro gratuliert; da
erjobs – das ist der Unterschied –, wird der Mauerbau verharmlost. Der männliche Vorsit-
zende steht für Hummer, die weibliche Vorsitzende für
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Sichel. So viel Unvernunft hat selbst der Sozialismus (D)
weil richtige Arbeit etwas mit Menschenwürde, mit Teil- nicht verdient.
habe und mit dem Selbstwertgefühl von Menschen zu
tun hat. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der
CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg]
Ich sage hier auch klar: Ich bekenne mich zum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine
Wachstum. Ich finde Wachstum gut. Ich finde Wachstum Büttenrede!)
toll.
Meine Damen und Herren, die Welt ändert sich ra-
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann sant. In unserer Nachbarschaft, in Nordafrika und im Na-
machen Sie es doch!) hen Osten, weht der Wind des Wandels. Menschen sind
– Wir haben ja Wachstum, wenn Sie es noch nicht be- bereit, für Freiheit, Selbstbestimmung und Menschen-
merkt haben. – Ohne Wachstum gibt es keinen weiteren rechte ihr Leben zu riskieren. Bemerkenswert ist für
Wohlstand. Ohne Wachstum gibt es keine Jobs. mich: Während der Proteste gegen die Despoten wurden
keine amerikanischen oder israelischen Flaggen ver-
(Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Lesen Sie brannt. Der arabische Frühling zeigt: Freiheit, Selbstbe-
das Handelsblatt! stimmung und Selbstverantwortung sind universal. Die
Das rufe ich insbesondere den Grünen zu. Sie wollen uns westlichen Demokratien müssen Verantwortung über-
Stagnation und Nullwachstum als Lebensqualität ver- nehmen. Aus dem arabischen Frühling darf keine Eiszeit
kaufen. Das ist totaler Quatsch. werden. Die Freiheitsbewegungen in unserer Nachbar-
schaft eröffnen eine große Chance für ein friedliches Zu-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE sammenleben.
GRÜNEN]: Was Sie sagen, ist totaler
Quatsch!) Es kann aber auch zu Komplikationen kommen, etwa
im Verhältnis von Israel zu Ägypten. Für uns ist das
Die Natur zeigt: Was nicht wächst, stirbt. – Frau Roth, Existenzrecht Israels Staatsräson; darüber gibt es nichts
Sie müssen einmal Pflanzen betrachten. Dann sehen Sie zu diskutieren. Das ist wohl begründet.
die Realität.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg]
Wahrscheinlich werden Sie uns demnächst noch aus- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Möllemann
gebrannte Autowracks als Wellnessoasen verkaufen lässt grüßen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14483
Rainer Brüderle
(A) Dabei stehen wir historisch wohlbegründet in einer be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
sonderen Verantwortung. Wenn ich aber aus der dritten der CDU/CSU)
oder vierten Reihe der Opposition gute Ratschläge etwa
Ich wundere mich aber über manche Äußerung der
zu Palästina vernehme, kann ich nur sagen: Diese The-
Opposition. Das gilt vor allem für die SPD. Zuerst hat
men eignen sich nicht für pressepolitische Kurzschluss-
die SPD überhaupt keine Meinung zu Griechenland. Sie
handlungen. Der mögliche Frieden in Nahost darf nicht
haben sich damals kraftvoll enthalten, wahrscheinlich
in parteipolitischem Klein-Klein aufs Spiel gesetzt wer-
weil es Sigmar Gabriel, der Sirtaki-Siggi, so wollte.
den. Wir sind froh, dass es den Libyern gelungen ist, das
Gaddafi-Regime zu stürzen. Dazu hat auch der interna- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
tionale Militäreinsatz beigetragen. Wir haben Respekt GRÜNEN]: Wer wollte das?)
für das, was unsere Partner zur Erfüllung der UN-Reso-
lution geleistet haben. Die Bundesregierung wird das li- Wo waren Herr Steinmeier, der auch jetzt nicht anwe-
bysche Volk bei der anstehenden schwierigen Transfor- send ist, und Herr Steinbrück, als es damals um die Ent-
mation tatkräftig unterstützen. Deutschland gibt die scheidung ging? Wo war denn die politische Führungs-
gesperrten Gaddafi-Milliarden frei. Deutschland hilft verantwortung der SPD, als die Entscheidung anstand?
mit Know-how, Technik und Experten. Nein, damals haben Sie sich in die Furche gelegt und
weggeduckt. Sie konnten weder Ja noch Nein sagen. Sie
Dann kommt Joschka Fischer, das grüne Michelin- hatten keine Meinung in einer solch wichtigen Frage.
Männchen aus dem noblen Grunewald, und erklärt uns Das spricht nicht für Führungsstärke und Regierungsfä-
die Welt. higkeit.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
GRÜNEN]: Ist das blöd!) der CDU/CSU)
Jener Joschka Fischer, der gegen die Wiedervereinigung Damals war von Ihnen weit und breit nichts zu sehen.
Deutschlands war, der so gerne den Kapitalismus über-
winden wollte Heute haben Sie mindestens zwei Meinungen. Ihr
Kanzlerkandidat in spe darf für die Galerie über Schul-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE denschnitte schwadronieren. Ihr Kanzlerkandidat a. D.
GRÜNEN]: Büttenrede!) wollte bislang Euro-Bonds. Er hat aber heute einen
leichten Rückzieher gemacht. Meine Damen und Herren,
und sich heute als gut bezahlter Lobbyist durch die Ber- Euro-Bonds sind der falsche Weg. Das ist Zinssozialis-
liner Salons schiebt, hat so oft danebengelegen, dass er mus, weil sie die Mechanismen des Zinses außer Kraft
lieber schweigen sollte. setzen.
(B) (D)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] DIE GRÜNEN)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte!)
Herr Steinmeier sollte das auch Herrn Steinbrück und
Der Platz Deutschlands in dieser Welt, die sich rasant Herrn Gabriel sagen. Dass er heute im Plenum einen
verändert, ist Europa. Deutschland muss den europäi- Rückzieher gemacht hat, hat seinen Grund: weil ihm das
schen Weg gehen. Auch das ist Staatsräson. Isolation Verfassungsgericht eine schallende Ohrfeige erteilt und
und eine singuläre Position Deutschlands wären fatal. klare Aussagen zu diesem Thema getroffen hat.
Das sind wir auch unseren Kindern und Enkelkindern
schuldig: eine klare europäische Perspektive. Die Jugend (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
will Europa gestalten. Wir spüren ihre Unruhe, ob in der CDU/CSU)
Spanien oder in anderen europäischen Ländern. Von au-
Euro-Bonds sind ökonomisch, politisch und rechtlich ein
ßen sieht Europa zum Teil sehr alt aus. Ja, wir wollen
Holzweg. Das müssen Sie einsehen. Sie sind wieder ein-
Europa, und wir brauchen Europa, aber wir müssen es
mal auf dem falschen Pfad.
richtig machen. Europa muss eine klare Konstruktion
haben: eine Stabilitätsgemeinschaft. Ein Übertünchen (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
reicht nicht aus; es muss richtig konstruiert werden.
Es war falsch von Ihnen, den Stabilitätspakt zu zerrei-
Die Schuldenkrise zwingt uns zu mehr Koordinie- ßen. Auf dem falschen Trip sind Sie wieder mit den
rung. Leider wurde der Stabilitätspakt zerrissen, zuerst Euro-Bonds; denn das ist kein Mechanismus, der in ei-
von Deutschland unter Grün-Rot und von Frankreich. nem solchen Konstrukt, wie Europa es ist, wirkt. Sie ha-
68-mal wurde gegen den Stabilitätspakt verstoßen; nie ben Ihre Skepsis doch schon eingeräumt. Ich mache mir
gab es eine Sanktion. Damit ist er leider zerrissen. manchmal die Freude und lese Ihre Papiere. In der soge-
nannten Roadmap der SPD zur Rettung der Währungs-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
union heißt es über Euro-Bonds wörtlich:
CDU/CSU)
Missbrauch lässt sich … durch ein effektives ge-
Deshalb müssen wir einen neuen Stabilitätspakt schaf-
meinsames europäisches Haushaltsregelwerk ab-
fen. Der ESM ist dabei ein zentraler Punkt. Das Verhal-
stellen.
ten Griechenlands ist nicht in Ordnung. Griechenland
muss sich an die Vereinbarungen halten. Ohne Leistung Selbst Sie haben die Gefahr des Missbrauchs erkannt
keine Gegenleistung! So einfach ist das. und in Ihrem Papier davor gewarnt. Sie haben aber aus
14484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Rainer Brüderle
(A) populistischen Gründen von Euro-Bonds geschwafelt, mit wir gemeinsam Zukunftsperspektiven entwickeln (C)
obwohl diese keine Lösung darstellen. können. Aber sich vor den Problemen wegzuducken, zu
kneifen und Pseudolösungen anzubieten,
(Joachim Poß [SPD]: Fürs Schwafeln sind Sie
doch der Spezialist!) (Zuruf von der SPD: Das machen Sie!)
Diejenigen, die den Stabilitätspakt beerdigt haben, flüch- wie Sie es aus politischer Opportunität machen, ist
ten erneut in Illusionen. Was hat der Weltökonom falsch. Kehren Sie zurück zur Seriosität! Dann finden
Joschka Fischer dazu gesagt? Ich zitiere wörtlich Sie auch wieder mehr Zustimmung in den eigenen Rei-
Joschka Fischer, den großen Ökonomen und hochbe- hen.
zahlten Lobbyisten vieler Konzerne:
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Wir sind besonders froh über die wirtschaftlichen GRÜNEN]: Da spricht der Richtige!)
Erfolge Griechenlands und die Anstrengungen, die
– Glauben Sie ja nicht, dass Ihr Zwischenhoch von
unternommen werden, sowie über die Fähigkeit
Dauer sein wird! Frau Roth, wo haben Sie in der Halb-
Griechenlands, dem Euro beizutreten.
zeit gestanden? Das Wasser stand Ihnen über dem Kopf.
So war Ihre Einschätzung. Auch sie war falsch. Sie ha- Selbst die Gummistiefel haben Ihnen nichts genutzt.
ben den Grundstein für die Fehlentwicklung gelegt. Sie Wir lassen uns nicht beirren. Die christlich-liberale
sollten sich hier nicht vom Acker machen und heraus- Koalition setzt ihre Politik konsequent fort. Am Schluss
winden. werden wir die Bestätigung finden. Ich sehe beste Chan-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) cen, dass wir in zwei Jahren erneut einen Wählerauftrag
bekommen.
Ja, wir brauchen einen Stabilitätspakt II, und zwar mit
scharfen Regeln, damit er wirkt. Die Europäische Zen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
tralbank kann nicht auf längere Zeit mit dem Aufkauf Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
von Anleihen fortfahren. Der Bundespräsident hat deut- GRÜNEN]: Das ist eine Drohung!)
liche Worte der Kritik gefunden. Man kann ihnen etwas
abgewinnen; man kann seine Meinung teilen. Es ist Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
falsch, in der EZB, die eigentlich Geldpolitik machen Das Wort hat nun Jürgen Trittin für die Fraktion
soll und in der jeder Staat eine Stimme hat, über Maß- Bündnis 90/Die Grünen.
nahmen, die weitreichende finanzielle Konsequenzen
haben, zu entscheiden. Das ist Finanzpolitik, keine Geld-
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
politik. Deshalb ist es richtig, dass vom Sondergipfel der
(B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- (D)
Europäischen Union andere Strukturen auf den Weg ge-
deskanzlerin, Sie stehen in der Mitte Ihrer zweiten
bracht werden, sodass sogenannte Sekundärmarktauf-
Amtszeit, und da ist es angemessen, Bilanz zu ziehen.
käufe nur unter strengen Auflagen möglich sind. Hier
Ich will Ihnen durchaus zustimmen: Deutschland geht es
hat Deutschland ein höheres Stimmengewicht. Unser
gut. – Der Bundesregierung geht es schlecht.
Stimmengewicht beträgt etwa 30 Prozent. Wir haben die
Beteiligung privater Gläubiger durchgesetzt. Ein weite- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
res Stichwort ist die Insolvenzklausel für Staatsanleihen. Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Bes-
Der Kernpunkt ist die Wettbewerbsfähigkeit. Die Fehl- ser als andersherum!)
entwicklungen der Strukturen sind der Grund für die eu-
Dieser Feststellung muss man einmal nachgehen: Was
ropäische Misere. Man hat zu lange die Augen ver-
könnte das eine mit dem anderen zu tun haben? Beim
schlossen. Das ist jetzt schlagartig klar geworden: Die
Bilanzziehen will ich mich nicht lange mit dem Problem
Strukturen müssen verändert werden. Deutschland als
der FDP aufhalten.
Motor der europäischen Entwicklung darf nicht ge-
schwächt werden, sondern die Schwächeren müssen ge- (Otto Fricke [FDP]: Ach, das machen Sie ja
stärkt werden, damit sie mithalten können und Europa doch!)
insgesamt stärker wird.
Das ist ein Problem mit abnehmender Tendenz. Sie, Herr
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Brüderle, haben hier belegt, warum FDP künftig nur
der CDU/CSU) noch mit „Fast Drei Prozent“ übersetzt wird. Fast 3 Pro-
zent, das ist auch die Prognose für Berlin.
Bei der Schuldenbremse ist eine glasklare Beteiligung
des Parlaments erforderlich. Auch hierzu hat das Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
desverfassungsgericht eine klare Aussage getroffen. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das europäische Zeitalter ist vorbei. Zwei Drittel des Frau Merkel, Sie haben darauf verwiesen, was sich al-
weltweiten Wirtschaftswachstums werden in den les in den diversen Bundesländern bewegt. Schauen wir
Schwellenländern erzielt, in China, Indien, Brasilien, uns doch einmal die Akzeptanz der Schwarz-Gelben in
Russland und anderen Ländern. In wenigen Jahren, im den Bundesländern an: In Nordrhein-Westfalen haben
Jahre 2040, werden die Vereinigten Staaten von Amerika Sie die Mehrheit verloren. In Hamburg hat sich die CDU
und die Europäische Union weniger als 7 Prozent der bei Wahlen quasi halbiert. Das hat es historisch noch nie
Weltbevölkerung stellen. Es ist höchste Zeit, dass wir gegeben. Sie sind in Baden-Württemberg nach 53 Jahren
Europa richtig gestalten und die Probleme anpacken, da- – Sie haben da länger regiert als Gesine Lötzschs Freund
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14485
Jürgen Trittin
(A) Fidel Castro in Kuba – in die Opposition geschickt wor- Das ist wahrlich eine neue Integrationsaufgabe, die wir (C)
den. zu bewältigen haben.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
58 Jahren!)
Jede dieser Entscheidungen war richtig – das will ich
Sie sind in Bremen als dritte Kraft hinter den Grünen ge- Ihnen gerne bescheinigen –: Aussetzen der Wehrpflicht,
landet. Auch dieser Tage sind Sie in Mecklenburg-Vor- Rückkehr zum Atomausstieg, Abschied von der Haupt-
pommern bitter abgestraft worden. Sie müssen jetzt da- schule. Aber Sie haben es nicht geschafft, irgendeine die-
rum betteln, vor der Linkspartei den Vorzug zu erhalten. ser richtigen Entscheidungen mit Ihrer Partei, mit Ihrer
Sie werden ihn bekommen; da bin ich ziemlich sicher. Wählerschaft zu diskutieren. Jede dieser richtigen Ent-
Anders gesagt: Sie haben in den beiden Jahren, in de- scheidungen hätte eines Parteitages bedurft, und da – in
nen Sie regiert haben, Hunderttausende von Wählerin- der politischen Führung Ihrer Partei – haben Sie versagt.
nen und Wähler verloren. Wenn man das übersetzt: Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
regieren in den Ländern heute 30 Millionen Deutsche
weniger als zu dem Zeitpunkt, an dem Sie in die Verant- Das gilt auch, wenn es um die Grundwerte der CDU
wortung gewählt worden sind. geht. Ich denke an zwei wesentliche Punkte, mit denen
die Union immer identifiziert worden ist: die soziale
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da haben Sie Marktwirtschaft und Europa. Auch hier weiß niemand
falsch gerechnet, Herr Trittin!) mehr, wofür die Union tatsächlich steht.
Meine Damen und Herren, man kann fast Mitleid mit Ih- Der Kern der sozialen Marktwirtschaft besteht doch
nen haben. Sie haben ja alles versucht: Sie haben der aus zwei Versprechen: das Versprechen des sozialen
CDU in Hamburg eine Modernisierungskur bei den Grü- Aufstiegs – das ist die freiheitliche Botschaft; jeder kann
nen verordnet. – Sie haben sich halbiert. Sie haben als es schaffen – und das des sozialen Ausgleichs. Diese
Reaktion darauf gesagt: Okay, wir setzen auf die Re- Botschaft lautet: Die, die es nicht schaffen, werden nicht
inkarnation von Franz Josef Strauß und bedienen den fallen gelassen.
rechten Rand mit Stefan Mappus. – Sie haben die Mitte
der Gesellschaft und damit die Mehrheit in Baden- (Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
Württemberg verloren. Sie haben in Bremen gesagt: Wir NISSES 90/DIE GRÜNEN)
tun gar nichts; wir verstecken uns. Das Ergebnis ist: drit- Schauen wir uns diese beiden Versprechen an; messen
ter Platz. wir sie an der Wirklichkeit in diesem Land. Chancen
Wissen Sie, was Sie haben? Sie haben den Volkspar- zum sozialen Aufstieg gibt es immer weniger. Diese Ge-
(B)
teibazillus. Fragen Sie einmal Sigmar Gabriel, was das sellschaft ist immer weniger durchlässig geworden. Ein (D)
ist; die Genossen haben diesen Bazillus schon länger. Sechstel aller Kinder lebt in Bedarfsgemeinschaften
Das, was diesen Bazillus gefährlich macht, ist, dass die nach Hartz IV. In Berlin ist es jedes vierte Kind. Diese
alte Stärke der Volksparteien heute zu ihrem Problem Armut wird vererbt, weil unsere Schulen Armut nicht
wird: die inhaltliche Breite. Niemand weiß mehr, wofür überwinden, sondern nur noch ein Stück soziale Selek-
die CDU in Wirklichkeit steht. Die CDU unter Helmut tion erbringen können. Kaum eines der betreffenden
Kohl, das war Atom, Bundeswehr und Gymnasium. Kinder wird eine Chance auf einen höheren Bildungsab-
schluss oder gar auf einen Universitätsabschluss haben.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der Dann kommt Ihre Frau von der Leyen und erfindet ein
LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE bürokratisches Bildungspaket, das kaum einem Kind
GRÜNEN) hilft.
Sie, die CDU von heute, die Merkel-CDU, wollen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hauptschule abschaffen, Sie haben die Wehrpflicht aus-
gesetzt, und Sie schalten auf einen Schlag die Hälfte der Nehmen wir ein anderes Beispiel. Es ist schön, dass
deutschen Atomkraftwerke ab. die Arbeitslosenzahlen zurückgehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist
Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das doch auch schön! Aber dafür muss man arbei-
macht Ihnen zu schaffen, oder?) ten gehen!)
Was ist passiert? Viele Menschen sagen sich: Da kann – Ja, es ist sehr schön. Ich freue mich darüber. Vielleicht
man doch gleich die Grünen wählen. bin ich da anders gestrickt als Sie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schauen wir uns aber die Realität in den Gemeinden,
bei den Arbeitsagenturen an. Gehen die Ausgaben ei-
Das hat zum Beispiel die Tochter des CDU-Bürgermeis-
gentlich in gleichem Maße zurück? Bei den Langzeitar-
ters im Eichsfeld getan. Sie kandidiert jetzt auf einer
beitslosen ist das nicht der Fall. Was muss ich ferner
Liste der Grünen. Im Bayerischen Wald treten ganze
feststellen? 1,4 Millionen Menschen, die jetzt wieder in
CSU-Ortsvereine zu uns über.
Arbeit sind – noch einmal: ich begrüße das –, sind darauf
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Stimmt doch angewiesen, dass ihr Gehalt aufgestockt wird, sie also
überhaupt nicht! Bleiben Sie doch mal bei der weiter ALG II beziehen. Was machen Sie in einer Situa-
Wahrheit!) tion, in der Sie den Haushalt konsolidieren wollen? Sie
14486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Jürgen Trittin
(A) setzen die Praxis fort und subventionieren ausbeuteri- leben können. Wir brauchen sichere Straßen; dazu (C)
sche Arbeitsverhältnisse mit Steuergeldern. Sie sind ge- gehört ein Fehlen von Schlaglöchern, und dazu gehört
gen einen Mindestlohn. übrigens auch, dass auf Straßen noch Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte zu sehen sind
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Donnerwetter!)
Ich will Ihnen ein Beispiel aus Mecklenburg-Vorpom-
mern nennen. Bei einer Diskussion über den Mindest- und man sich nicht ausschließlich auf die Videoüberwa-
lohn im Wahlkampf sagt der FDP-Kandidat, man dürfe chung verlässt. Das soll solide finanziert werden.
doch nicht für einen Mindestlohn sein. Wörtlich fährt er
Sie machen in der jetzigen Situation Folgendes:
fort: „Dann müssen die Hoteliers an der Ostsee die
Durch konjunkturell bedingt gute Steuereinnahmen
Löhne ja komplett selber zahlen.“ Meine Damen und
– Frau Merkel, Sie haben es hier noch einmal wiederholt –
Herren, hier offenbart sich doch ein Abgrund von sozia-
denken Sie unverzüglich wieder darüber nach, wie Sie
ler Verwahrlosung. Wo leben wir denn, dass es als nor-
die Steuern für Besserverdienende senken können, wäh-
mal empfunden wird, dass der Staat die Löhne bezu-
rend Sie gleichzeitig die Nettokreditaufnahme bei
schusst?
27 Milliarden Euro belassen wollen. Ich mache Ihnen ei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nen Vorschlag: Fragen Sie die doch einmal! Ein Großteil
bei der SPD und der LINKEN) von denen
Oder nehmen wir den sozialen Ausgleich als Beispiel. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Wir haben GRÜNEN]: Will das gar nicht!)
2 Billionen Euro Staatsschulden, aber wir haben auch
will das gar nicht. Schauen Sie sich Martin Kind,
5 Billionen Euro Privatvermögen. Das ist schön. Das
Michael Otto an! Sie und viele andere sagen: Nein, wir
Problem ist: Das Vermögen ist sehr ungleich verteilt. Die
wollen mehr Steuern zahlen, damit diese Gesellschaft
obersten 10 Prozent besitzen weit mehr als die Hälfte.
von ihrem Schuldenstand herunterkommt und damit un-
Die unteren 30 Prozent haben fast nichts oder Schulden.
sere Kinder nicht mit einem überschuldeten Staat leben
Jeder zwölfte Haushalt ist überschuldet. Das sind
müssen. Was ist die Antwort aus Ihrer Koalition? Die
3,4 Millionen Menschen in diesem Land. Diese Un-
FDP sagt: Dann sollen die doch spenden. Meine Damen
gleichverteilung, dieses Zerreißen der Gesellschaft
und Herren, ich weiß ja, dass Sie sich mit Spenden und
nimmt zu. 2007, vor der Krise, gab es 830 000 Millionä-
Sponsoring
rinnen und Millionäre in Deutschland. Nach der Krise
sind es 910 000. In keinem Land der Welt hat es eine (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
vergleichbare Entwicklung geben. GRÜNEN]: Gut auskennen!)
(B) (D)
In dieser Situation reden wir zum Beispiel darüber, bestens auskennen. Aber zu der Vorstellung eines ge-
wie die Mittel für den Rettungsfonds aufgebracht wer- sponserten Staates kann ich nur sagen: Das ist nun wirk-
den sollen. Es ist die Partei Ludwig Erhards, die sich ei- lich das Allerletzte, was wir in diesem Land gebrauchen
ner Vermögensabgabe verweigert, einer Vermögensab- können.
gabe, die nach eben jenem Modell des Lastenausgleichs
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erhoben werden soll, mit dem Ludwig Erhard nach dem
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Zweiten Weltkrieg dieses Land regiert hat. Sie wollen
LINKEN)
keinen sozialen Ausgleich. Da Sie ihn nicht wollen: Hö-
ren Sie auf, zu behaupten, Sie seien die Partei der sozia- Ich sage auch nie wieder, dass Sie die Partei der Bes-
len Marktwirtschaft! Davon sind Sie heute meilenweit serverdienenden sind,
entfernt. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sind Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN inzwischen!)
und bei der SPD)
weil man damit Martin Kind und Michael Otto unrecht
Wenn Sie es ernst meinten, dann hätten Sie beispiels- tut. Diese Menschen wissen, dass von einer soliden
weise die Abgeltungsteuer schon lange abschaffen müs- Finanzierung des Staates, an der sich die Starken stärker
sen; denn sie begünstigt leistungslose Gewinne aus spe- beteiligen als die Schwachen, der Zusammenhalt dieser
kulativen Geschäften. Dafür muss man weniger Steuern Gesellschaft abhängt. Deren Interessenvertreter sind Sie
zahlen als jeder Handwerker; denn die Abgeltungsteuer aber schon lange nicht mehr in diesem Lande.
ist niedriger als die durchschnittlichen Unternehmen-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
steuern. Hören Sie doch auf, die Realwirtschaft steuer-
sowie bei Abgeordneten der SPD)
lich zu diskriminieren, und schaffen Sie diese Kopfge-
burt von Peer Steinbrück, den Sie sonst gerne Herr Brüderle ist ja in seiner Partnerschaft mit Herrn
beschimpfen, endlich ab! Rösler noch nicht so lange Fraktionsvorsitzender.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zurufe von der SPD)
Ich sage Ihnen: Ich möchte keinen allumfassenden Doch schauen wir uns einmal deren wirtschaftspolitische
Staat. Der Staat soll seine Leistungen solide und verläss- Leistung an: Das Einzige, was ihnen eingefallen ist, ist,
lich erbringen. Er soll für gute Schulen, verlässliche Kin- zu erklären, dass sie endlich einmal liefern wollten. Ja,
derbetreuung sorgen. Menschen müssen von ihrer Arbeit was haben sie geliefert? Die Forderung nach Steuersen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14487
Jürgen Trittin
(A) kungen. Das ist ungefähr so schmackhaft wie eine in der nismus. Sie haben Ihren Finanzminister zurückgepfiffen, (C)
Mikrowelle aufgewärmte Pizza. Schauen Sie sich ihren als er einen europäischen Währungsfonds gefordert hat.
Beitrag zur Energiewende an: gleich null. Ihr Beitrag Und was geschieht nun? Wir werden morgen in erster
zum Entflechtungsgesetz: Es gibt jetzt nach zwei Jahren Lesung genau darüber sprechen in diesem Hause.
schon ein Eckpunktepapier. Neues Insolvenzrecht: Fehl-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
anzeige. DIE GRÜNEN und der LINKEN)
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das tun wir vor dem Hintergrund eines guten Urteils
NEN]: Nichts! Nichts!) des Bundesverfassungsgerichts. Es ist ein gutes Urteil
Die Bilanz von Herrn Rösler und Herrn Brüderle, die für Europa und auch und gerade für die Rechte dieses
Bilanz der FDP in der Wirtschaftspolitik ist katastrophal. Hohen Hauses. Für Europa ist es ein gutes Urteil, weil es
den Weg dafür freimacht, diese Krise europäisch zu lö-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen. Für den Bundestag ist es ein gutes Urteil, weil es
sowie bei Abgeordneten der SPD – Christian klarstellt, dass das Haushaltsrecht des Deutschen Bun-
Lindner [FDP]: Sieht man ja am Arbeitsmarkt! destages nicht infrage gestellt werden darf.
Der ist am Wachsen!)
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthält
Wenn die Oppositions- und Koalitionsfraktionen mit eine kritische Anmerkung zur Rolle des Haushaltsaus-
der Bundeskanzlerin darüber diskutieren, wie es mit schusses. Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Brüderle: Sie
Europa weitergehen soll, und 90 Minuten eine angeregte hätten diese kritische Anmerkung vermeiden können,
Diskussion darüber führen, ob wir Euro-Bonds oder eine wenn Sie bei der Verabschiedung des EFSF auf uns ge-
Vertragsänderung brauchen, hört hätten und genau die Forderung, die jetzt auch in
dem Urteil enthalten ist, nämlich Entscheidung über die
(Zuruf von der FDP: Und, brauchen wir es?) Bereitstellung von Geldern durch den Deutschen Bun-
wie wir die Beteiligungsrechte des Parlamentes ausge- destag, aufgenommen hätten. Dann hätten Sie jetzt nicht
stalten, beteiligen sich alle daran, außer dem Minister, erneut nachbessern müssen. Das ist die Lage.
der in der Bundesregierung für den Binnenmarkt feder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
führend zuständig ist. und bei der SPD)
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Frau Merkel, Sie haben da ein Glaubwürdigkeitspro-
GRÜNEN]: Kein Satz!) blem, auch weil Ihre Rede nicht klar ist.
90 Minuten dröhnendes Schweigen von Herrn Rösler. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie kann doch
(B) Selbst Klaus Ernst hatte mehr zu sagen, meine Damen nichts dafür, wenn Sie nichts kapieren! – Otto (D)
und Herren. Deswegen sollte es bald vorbei sein mit der Fricke [FDP]: Ich glaube, Sie haben ein
Regierungsbeteiligung der FDP. Glaubwürdigkeitsproblem!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie haben zum Schüren antieuropäischer Vorurteile in
und bei der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE Deutschland und in Ihren eigenen Reihen selber beige-
LINKE]: Schwarz-grünes Koalitionsangebot!) tragen. Oder wozu sonst sollte das dumme Gerede die-
Frau Bundeskanzlerin, bezüglich Europa haben Sie ja nen, dass die Griechen früher in den Ruhestand gingen
eben eine Rede gehalten, die stark in die eigenen Reihen als die Deutschen, was gar nicht wahr ist? Jetzt sagen
gerichtet war. Sie: Das war alles nicht so gemeint; dieses Europa ist
und bleibt unsere Zukunft. – Ja, das ist richtig. Aber
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Aber Ihre Rede wenn Sie vorher nicht etwas anderes gesagt hätten, dann
ist eine Parteitagsrede!) hätte Ihnen der eine oder andere in Ihren Reihen das
auch abgenommen.
Aber Sie können es deswegen nicht kommunizieren,
weil Sie in vielerlei Hinsicht an Glaubwürdigkeit verlo- (Otto Fricke [FDP]: Da klatschen noch nicht
ren haben. Das hat einmal damit zu tun, dass Sie das mal die Grünen!)
Notwendige bis heute immer erst zu spät getan haben. Es Oder nehmen wir das Beispiel einer europäischen
hat dann auch damit zu tun, dass es für Sie immer min- Wirtschaftsregierung. Sie haben gesagt, wir bräuchten
destens zwei Lösungen gibt – Sie haben ja vorhin gesagt, diese Wirtschaftsregierung, obwohl Sie anfangs immer
es gebe nicht die eine Lösung –, die sich dann garantiert dagegen gewesen sind. Nun wollen Sie diese Wirt-
widersprechen. schaftsregierung beim Rat ansiedeln
(Heiterkeit der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Genau! Intergouvernemental!)
Sie haben behauptet, Griechenland sei ein Einzelfall. und damit genau dem Mechanismus der Kungelei zwi-
In Wirklichkeit kamen dann Hilfen für weitere Länder. schen den Regierungschefs aussetzen. Ich sage Ihnen:
Sie haben gesagt, man müsse möglichst hohe Zinsen Damit werden Sie die Europamüdigkeit und Europa-
nehmen. Inzwischen mussten Sie die Zinsen zurückneh- skepsis in diesem Lande weiter befördern.
men, weil die hohen Zinszahlungen der Krisenländer die
Krise verlängert und verschärft haben. Sie haben gesagt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wir bräuchten keinen dauerhaften Stabilisierungsmecha- sowie bei Abgeordneten der SPD)
14488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Jürgen Trittin
(A) Eine europäische Wirtschaftsregierung muss so ge- Wir haben keine Krise Europas, wir haben auch keine (C)
staltet sein, dass sie nicht in abgeschlossenen Hinterzim- Euro-Krise, sondern wir haben ein Schuldendilemma in
mern agiert. Sie muss die nationalen Parlamente und das Europa.
Europaparlament beteiligen und die Fähigkeiten der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Europäischen Kommission einbeziehen. Sie muss darauf
abzielen, dass wir in Europa gemeinsame Unternehmen- Dafür, dass es so gekommen ist, tragen Leute Verant-
steuerbandbreiten, gemeinsame soziale, ökologische und wortung, die vor der Großen Koalition und vor dieser
finanzwirtschaftliche Standards sowie endlich eine ver- christlich-liberalen Koalition an Regierungen beteiligt
nünftige Regulierung der Finanzmärkte erreichen. Das waren. Es ist schon eigenartig, sich hier hinzustellen und
ist etwas, wofür Menschen in diesem Lande streiten wer- zu sagen, dass von einigen Leuten Kritik am Zustand
den. Europas geübt wird – Herr Kollege Oppermann, Sie sind
einer von denen –, aber gar nicht zur Kenntnis zu neh-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
men, dass die schärfste Kritik von all denjenigen, die
Wir wollen dieses Europa. Ob Sie es wollen, wissen sich in diesen Tagen geäußert haben, an die eigene
Sie nicht. Sie wissen nicht einmal, ob Sie eine eigene Adresse geht. Rot-Grün hat ganz massiv dazu beigetra-
Mehrheit haben. Ich sage Ihnen auch: Deutschland hat gen, dass wir in Europa jetzt in dieser Krise sind.
die schwächste Regierung seit Jahrzehnten. Wann hat es
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
das je gegeben, dass eine Regierung zur Mitte der Legis-
Joachim Poß [SPD]: Wer so etwas sagt, muss
laturperiode fast alles – bis auf die Mövenpick-Subven-
einen Knall haben!)
tion – zurücknehmen musste?
Immer wenn es darauf angekommen ist, die richtigen
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ein
Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, hat die SPD
Schwachsinn!)
die falschen Entscheidungen getroffen.
Aber es ist schlimmer. Diese Regierung hat durch ihr
(Beifall bei der CDU/CSU)
Handeln das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft
schwer beschädigt. Sie hat das Vertrauen vieler Men- Als es damals darum ging, den Euro einzuführen, haben
schen in die demokratischen Institutionen gefährdet. So Sie den Euro kritisiert.
ist aus einer Traumkoalition eine Albtraumkoalition für
Deutschland geworden. Die Mehrheit schwindet, die Der Euro ist eine Erfolgsgeschichte. Gestern Abend
Kanzlerindämmerung ist unübersehbar. Ich glaube, es hat die Wirtschaft noch einmal deutlich gemacht, dass
wird Zeit für einen neuen Morgen. ein Teil des Erfolges und ein Teil des Wohlstandes in
Deutschland natürlich dem Euro zu verdanken sind. Für
(B) (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE unsere exportorientierte Wirtschaft war der Euro ein Se- (D)
GRÜNEN – Beifall bei der SPD) gen. Sie waren damals dagegen. Kaum waren Sie an der
Regierung, haben Sie dafür gesorgt, dass das entschei-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dende Rückgrat des Euro, nämlich der Stabilitätspakt,
Volker Kauder hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- aufgelöst worden ist nach dem Motto: Wir haben in die-
tion. ser Regierung einen Haufen Arbeitslose produziert, und
jetzt müssen wir Schulden machen, um wieder voranzu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen. – Beides war ein großer Fehler. Dafür steht
Rot-Grün.
Volker Kauder (CDU/CSU):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
neten der FDP)
gen! In dieser Woche beginnen wir die Beratungen über
den Entwurf des Bundeshaushaltes 2012. Wir beginnen Herr Steinmeier, deswegen habe ich vorhin gerufen:
die Beratungen darüber, wie wir die Grundlagen dafür Gott sei Dank sind diejenigen, die solche Ergebnisse ab-
legen können, dass es in diesem Land auch in den nächs- geliefert haben, in dieser schwierigen Zeit nicht an der
ten Jahren gut weitergeht. Kaum jemand aus der Opposi- Regierung.
tion hat darüber gesprochen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. neten der FDP)
Rainer Brüderle [FDP])
Sie haben immer die falschen Rezepte. Jetzt zu sagen:
Ich glaube, man hat deswegen nicht darüber gesprochen, „Wir retten Europa, indem wir Euro-Bonds und vieles
weil man nur Gutes hätte sagen können, und das wollte andere auf den Weg bringen“, ist doch nur die Fortset-
man nicht. Das ist der wahre Grund für Ihr Verhalten. zung dieser falschen Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie machen
neten der FDP) doch Vergemeinschaftung und nicht wir!)
Die Bedeutung des Bundeshaushaltes 2012 und der Sie wollen die Schulden vergemeinschaften, und das
mittelfristigen Finanzplanung für die nächsten Jahre führt die Staaten, die diese Schulden gemacht haben,
kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir alle eben nicht auf den richtigen Weg. Wir müssen vielmehr
erleben aktuell schwierige Diskussionen in Europa. Ich sagen: Wir helfen im Interesse des Euro. Aber dafür
muss es an dieser Stelle einmal klar und deutlich sagen: müssen auch Anstrengungen unternommen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14489
Volker Kauder
(A) Geld ohne Gegenleistung hat noch nie zur Besserung ge- Europa muss den jungen Menschen sagen: Wir wer- (C)
führt. den, nachdem wir den Frieden gesichert haben, jetzt
auch den Beitrag zu Wohlstand für eure Generation leis-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten. Dazu sind wir in Deutschland wieder Vorbild. Es
neten der FDP) kann uns nicht ruhen lassen, wenn wir gute Ergebnisse
Deswegen werden wir dies nicht machen. vorweisen – junge Menschen haben bei uns Chancen;
die Jugendarbeitslosigkeit ist wirklich toll zurückgegan-
Heute ist – ja, so kann man es sagen – ein guter Tag gen –, aber zugleich sehen, dass das in anderen Ländern
für Europa. Mit diesem Haushaltsentwurf 2012 zeigen Europas anders ist.
wir, dass wir den Weg konsequent weitergehen. Gestern
hat sich Herr Kollege Steinbrück aufgeregt, als die Deswegen: Wenn Europa eine Zukunftsperspektive
Wahrheit darüber gesagt worden ist, welch hohe Neuver- für die junge Generation in ganz Europa sein soll, dann
schuldung geplant war, müssen die Staaten, in denen die Jugendarbeitslosigkeit
bei 30 Prozent und höher liegt, wirklich Ernst machen.
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Welche Weniger Schulden und nicht ständig weitere Schulden
Wahrheit? – Joachim Poß [SPD]: Sie waren machen, das bedeutet eine gute Zukunft für die junge
doch bei den 86 Milliarden dabei! Sagen Sie Generation.
das doch den Menschen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und als festgestellt worden ist, dass wir jetzt auf dem
Weg der Konsolidierung sind. Ich habe gedacht, es darf Das muss nun auf den Weg gebracht werden. Dazu
nicht wahr sein. Jetzt kommt die Mentalität Ihrer Partei brauchen wir in Europa neue Formen. Es kann doch
zum Ausdruck. nicht sein, dass sich Europa um den letzten Grashalm ei-
Die Grünen sitzen im gleichen Boot. nes Naturschutzgebietes bei mir auf der Schwäbischen
Alb kümmert, aber für die wirklich großen Herausforde-
(Zuruf von der SPD: Ein U-Boot!) rungen keine Antwort hat. Deswegen muss Europa sich
weniger um solche kleinen Dinge kümmern, dafür mehr
In Baden-Württemberg war man auf dem Kurs der Kon-
um die großen Herausforderungen.
solidierung. Die neue grün-rote Regierung bringt folgen-
den Merksatz heraus: Wir müssen zunächst etwas mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schulden machen, um dann sparen zu können. – Einen
größeren Unsinn habe ich in meinem ganzen Leben noch Deswegen ist der Weg der Bundeskanzlerin und der
nicht gehört: Wir müssen erst mehr Schulden machen, Bundesregierung völlig richtig, wenn es dort heißt: Wir
(B) bis wir sparen können. brauchen eine stärkere Koordinierung in der Wirtschaft (D)
und im Finanzbereich. Europa muss erkennen, dass es
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wirklich darauf ankommt, in diesen Bereichen bestimmte
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das sagen Dinge zu ändern.
die, die die EnBW zurückgekauft haben!)
Es ist zu Recht gesagt worden, dass wir nicht nur bei
Ähnliches wird von Frau Kraft formuliert; von Rhein- den Banken, sondern auch bei den Finanzmärkten,
land-Pfalz haben wir schon gesprochen. Da kann ich nur Hedgefonds und anderem zu Regulierungen kommen
sagen: Das sind genau die falschen Wege. Wir müssen müssen. Wir haben einen ersten Schritt dahin unternom-
den Haushalt konsolidieren; und das machen wir auch. men. Als Wolfgang Schäuble Leerverkäufe verboten hat,
Damit sind wir Vorbild. Die Schuldenbremse wird ein- gab es ein großes Gelächter und ein Geschrei, das führe
gehalten. Sie muss jetzt in Europa umgesetzt werden. zu nichts. Heute haben es andere nachgemacht.
Wir müssen in dieser schwierigen Zeit auch eine Ant- Wir haben die Banken mit der Bankenabgabe dazu
wort darauf geben, wie es in Europa weitergeht. Europa gebracht, dass sie Vorsorge treffen müssen für den Fall,
war bisher vor allem in der Vorstellung meiner Genera- dass es wieder Schwierigkeiten gibt. Das heißt, wir ha-
tion eine Antwort auf die Geschichte: Nie wieder Krieg; ben das, was national zu machen war, gemacht. Wir ha-
Frieden in Europa. Und wenn Europa nicht mehr erreicht ben dafür gesorgt, dass bei den Rettungsschirmen, die
hätte als „Nie wieder Krieg“, wäre dies schon eine groß- wir aufgespannt haben, eine Beteiligung Privater statt-
artige Leistung. findet. Aber mir müssen jetzt auch dafür sorgen – dafür
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirbt die Bundesregierung wirklich nachhaltig und in-
tensiv, mit dem ganzen Einfluss Deutschlands –, dass
Dies haben wir erreicht. Dies ist vor allem das Ergebnis wir die Märkte in größerem Umfang beteiligen. Da muss
der Europapolitik, wie sie unter Kanzlerinnen und Kanz- sich Europa einen Ruck geben, und zwar das Europa
lern der unionsgeführten Regierungen gemacht worden der 27. Ich sage es ganz bewusst in die Richtung Groß-
ist. britanniens: Es muss aufhören, dass Interessen eines ein-
Es reicht aber nicht mehr aus, Europa ausschließlich zelnen Landes Vorrang vor den Interessen der europäi-
als Antwort auf die Geschichte zu verstehen. Vielmehr schen Gemeinschaft haben sollen.
muss Europa jetzt eine Basis für Wohlstand und Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wicklung sein. Europa muss sich verstehen als der Wett-
bewerber, weil die Zentren der Entwicklung nicht mehr Die Zukunft Europas verlangt, dass wir das Interesse Eu-
nur in Europa liegen, sondern auch in Asien. ropas mehr im Blick haben als nationale Dinge.
14490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Volker Kauder
(A) (Joachim Poß [SPD]: Der einzige richtige Satz gestalten können. Wir sind uns im Großen und Ganzen (C)
in der bisherigen Rede!) einig. Ich bin außerordentlich froh, dass wir von den Ko-
alitionsfraktionen mit dem Vorschlag, den wir vorlegen,
Wir in Deutschland gehen da gut voran.
weit über das hinausgehen, was das Bundesverfassungs-
Herr Steinmeier, es ist recht, wenn Sie sagen: Wir hel- gericht heute entschieden hat.
fen da mit. – Das ist in Ordnung. Aber es zeugt nicht von
politischer Klugheit, in der Regierungszeit von Rot- Wir brauchten heute keine Belehrung.
Grün, in der auch Sie im Kanzleramt Verantwortung ge- (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
tragen haben, zunächst einmal die Finanzmärkte zu ent-
fesseln – Ja, nun einmal langsam! – Das Bundesverfassungsge-
richt hat gesagt: Der Haushaltsausschuss muss um Ge-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) nehmigung gefragt werden.
und dann von uns zu verlangen, sie wieder einzufangen. (Zuruf von der SPD: Er muss zustimmen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir legen einen Entwurf vor, in dem es heißt: Die grund-
Sie haben dafür gesorgt – – sätzlichen Fragen muss der Deutsche Bundestag ent-
scheiden. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundes-
(Joachim Poß [SPD]: Sie wollten noch darüber tages, entscheiden, was passiert.
hinausgehen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Ich kann doch beweisen, was Sie da alles gemacht ha-
ben, Wenn es darum geht, wie die konkreten Dinge ausformu-
liert werden, dann ist der Haushaltsausschuss zuständig.
(Joachim Poß [SPD]: Sie stehen mit der Wahr-
Ich finde, das ist eine starke Position.
heit auf dem Kriegsfuß, mit jedem Satz!)
was Herr Eichel alles formuliert hat, was von Ihrem Ich muss Ihnen sagen: Ich habe es wirklich nicht ver-
Bundeskanzler unter dem Titel „Deutschland AG“ for- standen, dass in den Reihen der Opposition immer for-
muliert worden ist. muliert worden ist: Der Bundesfinanzminister und die
Bundesregierung haben ein Gesetz vorgelegt, in dem zur
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir sind Parlamentsbeteiligung gar nichts gesagt wird. – Dazu
gespannt!) kann ich Ihnen sagen: Wir haben den Bundesfinanz-
Sie haben einen großen Unsinn gemacht; wir sind gerade minister und die Bundesregierung sogar darum gebeten,
dabei, das wieder einzusammeln. Das ist die Situation, dazu nichts zu sagen. Wir als Parlament, zumindest wir
(B)
meine sehr verehrten Damen und Herren. in den Koalitionsfraktionen, sagen: Wir sind selbstbe- (D)
wusst genug, um die Regelung zur Beteiligung des deut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schen Parlaments ohne einen Regierungsentwurf zu fin-
Burkhard Lischka [SPD]: Da wird sogar auf den. Das machen wir schon selber, meine sehr verehrten
der Regierungsbank gelacht!) Damen und Herren.
Heute ist ein guter Tag für Europa, auch weil das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bundesverfassungsgericht eine kluge Entscheidung ge- neten der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]:
troffen hat. Ich kenne zwar noch nicht das ganze Urteil, Das wäre was Neues!)
aber der Kernsatz heißt: Die Klagen werden abgewiesen.
Was mit den Rettungsschirmen und Stabilitätsprogram- Sie sind herzlich eingeladen, sich heute und in den
men auf den Weg gebracht worden ist, entspricht der nächsten Tagen daran zu beteiligen.
Verfassung. Wenn ich mir den Haushalt anschaue, dann stelle ich
Herr Steinmeier, Sie brauchen sich hier wirklich nicht fest, dass wir die Voraussetzungen dafür geschaffen ha-
hinzustellen und zu sagen: Wir wollen eine stärkere Be- ben, dass die Entwicklungen wirklich gut weitergehen.
teiligung des Bundestages. – Sie wissen doch ganz ge- Wir wissen, dass noch einiges zu tun ist, aber ganz ent-
nau, dass ich Ihnen bei der letzten Besprechung, bei der scheidend ist doch – davon ist heute schon gesprochen
es um die Frage ging, wie wir am Donnerstag mit dem worden, auch von der Bundeskanzlerin –, dass wir in
weiteren Paket umgehen, klipp und klar gesagt habe: Es diesem Land alle beieinander bleiben.
gibt eine starke Beteiligung des Deutschen Bundestages. (Burkhard Lischka [SPD]: Da muss er jetzt die
Ich habe ausdrücklich gesagt – Sie haben es sogar bestä- FDP angucken!)
tigt; deswegen habe ich Ihre Einlassung hier nicht ver-
standen –, Was wir erreicht haben, nämlich dass wir stärker aus der
Wirtschaftskrise herausgekommen sind, als wir hinein-
(Joachim Poß [SPD]: Bei Ihnen war bisher
gegangen sind, war eine große Gemeinschaftsleistung.
keine Einlassung zu verstehen!)
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durch
dass wir die Regelung zur Beteiligung des Deutschen Verzicht auf Lohn, Weihnachtsgeld und vieles andere ih-
Bundestages natürlich auf eine breite Basis stellen wol- ren Beitrag geleistet. Es war vor allem ein großer Beitrag
len. Bereits heute Nachmittag finden die ersten Gesprä- der mittelständischen Wirtschaft, die die Menschen nicht
che zwischen den Koalitionsfraktionen und den Fraktio- in die Arbeitslosigkeit geschickt hat, auch mit Unterstüt-
nen der Opposition darüber statt, wie wir das aus- zung der Politik. Es ist die richtige Politik gemacht wor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14491
Volker Kauder
(A) den. Es war eine große Gemeinschaftsleistung, die zu desrat durchsetzen wollen, so wie Sie das angekündigt (C)
dem schönen Ergebnis geführt hat. haben.
Es ist doch toll, dass es in Deutschland aufwärtsgeht. (Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])
Diejenigen, die dazu einen bedeutenden und wichtigen Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich der Verantwor-
Beitrag geleistet haben, nämlich die Arbeitnehmerinnen tung stellen.
und Arbeitnehmer, die jeden Morgen aufstehen und zur
Arbeit gehen und sich um ihre Familien kümmern, sol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
len daher ihren Anteil an Wachstum und Wohlstand in Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir kön-
unserem Land haben. nen mit Verantwortung umgehen!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir wissen sehr wohl, dass wir in Europa noch
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist schwierige Aufgaben zu bewältigen haben. Wir wissen,
das Plädoyer für den Mindestlohn! – Rolf dass Europa unsere Zukunftsperspektive ist. Wir wissen
Hempelmann [SPD]: Machen Sie den Min- auch, dass wir ohne ein starkes und handlungsfähiges
destlohn! Das ist wunderbar!) Europa im Wettbewerb mit anderen Regionen in der
Welt nicht bestehen können. Es ist ein bemerkenswerter
Deshalb geht es nicht um die von Ihnen geführte Diskus- Vorgang – ich bin an der Schweizer Grenze groß gewor-
sion über eine Steuerreform. Wir, FDP und CDU/CSU, den, mein Wahlkreis liegt nicht weit davon entfernt –,
sind diejenigen, die sehr genau wissen, was soziale dass ein Land wie die Schweiz, das alles tun will, um
Marktwirtschaft heißt, was vor allem „sozial“ heißt. bloß nicht nach Europa zu kommen, jetzt auf einmal den
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Franken an den Euro bindet, weil man gemerkt hat: Auf
GRÜNEN]: Die FDP? Sozial?) sich allein gestellt, das führt nicht in eine gute Zukunft.

Während unserer Regierungszeiten sind die bedeutends- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ten Sozialgesetze in unserem Land gemacht worden, und der FDP)
nicht in der Regierungszeit von Rot-Grün. Das Beispiel Schweiz sollte uns zeigen, wie glücklich
und gut die Entscheidung war, die wir damals für den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Euro getroffen haben. Aber damals haben wir einen zen-
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist ja
tralen Schritt nicht gehen können. Eine gemeinsame
das Schlimme! – Claudia Roth [Augsburg]
Währung muss mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gesundheits-
Finanzpolitik einhergehen.
reform, sehr sozial!)
(B) Dieses Thema ist vor allem in der Finanz- und Wirt- (D)
Selbstverständlich ist es richtig, dass wir denjenigen,
schaftskrise zum Tragen gekommen. Deswegen ist es
die in Not geraten sind und sich nicht selbst helfen kön-
richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt: Wir müssen
nen, durch unsere sozialen Leistungen helfen. Aber es
nicht nur zu jeder kleinen Frage, die da kommen mag,
kann nicht sein, dass wir jedes Jahr Hartz-IV-Leistungen
Richtlinien aus Europa erhalten, sondern wir brauchen
an Inflation und Kostensteigerungen anpassen, aber die-
vor allem klare Vorgaben mit entsprechenden Kontroll-
jenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, von einer sol-
und Sanktionsmechanismen für diejenigen, die sich
chen Anpassung nichts haben.
nicht an die Haushaltsdisziplin halten. – Ich erinnere
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE noch gut, wie diese Haushaltsdisziplin zerstört worden
GRÜNEN]: Aha! Da kommen wir wieder zur ist. Gerhard Schröder hat damals gesagt: Wir brauchen
Spaltung! – Rolf Hempelmann [SPD]: Min- uns an die Stabilitätsmechanismen nicht zu halten; da
destlohn!) haut man in Europa einmal auf den Tisch, und dann ist
wieder Ruhe im Karton. – Genau damit wurden die Vo-
Deswegen ist die Korrektur der kalten Progression eine raussetzungen für die Probleme geschaffen, die wir
Frage der Gerechtigkeit und keine Frage der Steuersen- heute haben.
kung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deswegen brauchen wir ordentliche Mechanismen.
Jeder trägt dort Verantwortung, wo er steht. Ich bin Im Augenblick müssen wir mit dem arbeiten, was uns in
sehr gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den der konkreten Rechtssituation zur Verfügung steht. Das
Grünen – Sie stellen die Regierung in Baden-Württem- ist eine ganze Menge. Wir müssen vor allem eine klare
berg – Botschaft vermitteln. Ich bitte Sie, das mitzutragen und
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE nicht falsche Dinge in die Welt zu setzen.
GRÜNEN]: Baden-Württemberg schmerzt!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Joachim
Poß [SPD]: Da sind Sie doch der Meister drin!
und von der SPD, ob Sie bereit sind, im Bundesrat zu sa-
Sie haben doch heute keinen Satz ausgelassen! –
gen: Ja, wir stimmen dafür, dass die Hartz-IV-Sätze er-
Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Dreist!
höht werden, aber wir sind dagegen, dass die Arbeitneh-
Wirklich dreist!)
merinnen und Arbeitnehmer bei steigender Progression
entlastet werden. – Ich bin gespannt, ob Sie die Politik Ich sage es Ihnen noch einmal: Ihre Botschaft, dass un-
gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bun- abhängig davon, wie gewirtschaftet wird, eine Finanzie-
14492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Volker Kauder
(A) rung zu einem bestimmten Zinssatz auf Dauer möglich (Otto Fricke [FDP]: Nein! Höchstens! Schon (C)
sein soll, ist die falsche Botschaft. Nur dadurch, dass wir wieder falsch!)
unterschiedliche Zinssätze haben, wird den betreffenden
Ländern klar, dass sie handeln müssen. Glauben Sie, Ita- – Höchstens 3 Prozent. – Dann wurde das geändert in
lien und Griechenland hätten die ganzen Maßnahmen „close to balance“.
eingeleitet, wenn sie nicht so unter Druck gestanden hät- (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Richtig!)
ten? Zu Ihrer Forderung nach Euro-Bonds und Umschul-
dung sagen sie: Das ist eine super Geschichte. Wir schul- Das allerdings ist genau die Blaupause für die Schulden-
den um. Einer zahlt, und wir sind die Hälfte der bremse, die heute in unserer Verfassung steht.
Schulden los. – So stellen wir uns nicht die Zukunft Eu- (Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]:
ropas vor. Nein!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Idee dieser Schuldenbremse ist, dass man in guten
Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist Zeiten Geld einnimmt und zurückhält, damit man in
Europahetze!) schlechten Zeiten kreditfinanziert dagegenhalten kann.
Wir brauchen ein Europa der Disziplin, ein Europa Das ist die Idee.
der Verantwortung. (Otto Fricke [FDP]: Das hat Herr Schneider
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE doch gestern abgelehnt!)
GRÜNEN]: Der Ehrlichkeit!) Jetzt zu einer anderen Frage: Herr Brüderle, wo waren
Das ist ein Europa, in dem junge Leute eine Perspektive denn die Helden der FDP, als im Deutschen Bundestag
haben. Auf diesem Weg werden wir in den Koalitions- über die Schuldenbremse abgestimmt wurde? Wo waren
fraktionen weitergehen. Ich lade Sie ein, mitzumachen. Sie da? Sie haben der Schuldenbremse nicht zuge-
stimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch auch
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wieder nicht!)
Der Kollege Thomas Oppermann hat das Wort für die Ich will Ihnen genau sagen, warum Sie nicht zugestimmt
SPD-Fraktion. haben: Sie hatten Angst, dass die Schuldenbremse Sie
(Beifall bei der SPD) daran hindert, Ihrer Klientel mit auf Pump finanzierten
Geschenken zu helfen.
(B) Thomas Oppermann (SPD): (Beifall bei der SPD) (D)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Eine der wohltuendsten Wirkungen dieser Schulden-
Kollege Kauder hat eben so viele falsche Sachen in die bremse ist, dass dadurch diese Klientelgeschenke unter-
Welt gesetzt, dass meine Redezeit von wenigen Minuten bunden werden.
gar nicht ausreicht, um das wieder aus der Welt zu schaf-
fen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihre General-
sekretärin Nahles war gegen die Schulden-
(Beifall bei der SPD – Dr. Frank-Walter Steinmeier bremse!)
[SPD]: Das hat er gewusst!)
Herr Kauder, wir haben noch einen Punkt zu bespre-
Einige Punkte müssen wir aber richtigstellen, Herr
chen. Was haben Sie denn 2010 gemacht, als der erste
Kauder. schwarz-gelbe Haushalt kam? Wenn die Stabilitätskrite-
Erstens. Sie haben die Hand gehoben für den Haus- rien von Rot-Grün zu Unrecht gelockert worden waren,
halt 2010 dann wäre in dieser Zeit die beste Gelegenheit gewesen,
das zu korrigieren und wieder zu den alten Stabilitätskri-
(Zurufe von der SPD: Ja!) terien zurückzukehren. Stattdessen haben Sie das Defi-
mit einer Nettokreditaufnahme von 80 Milliarden Euro. zitkriterium gerissen. Sie haben eine Nettokreditauf-
nahme in Höhe von 80 Milliarden Euro beschlossen.
(Otto Fricke [FDP]: Nein! Das stimmt doch
schon wieder nicht!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Quatsch!
Das war noch der Haushalt von Steinbrück! –
Das war die höchste Schuldenaufnahme in der deutschen Otto Fricke [FDP]: Das ist schlicht gelogen!)
Geschichte. Dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwor-
tung. Sie sind die Schuldenkönige von Deutschland. Das haben Sie nicht gemacht, um eine Krise abzuwen-
den. Das haben Sie gemacht, um die Klientelgeschenke
(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Herr für Unternehmenserben und Hotelketten zu finanzieren.
Oppermann, das stimmt doch nicht! Wie hoch
war die Neuverschuldung 2010?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens: die Lockerung der Stabilitätskriterien. Das
hat in der Tat stattgefunden. Die Stabilitätskriterien sa- Das ist eine einzige Heuchelei. Sie selbst haben bei der
hen – Stichwort „Balance“ – zunächst eine Neuverschul- ersten Gelegenheit die neuen Stabilitätskriterien genutzt
dung von strikt 3 Prozent vor. und Ihre eigene Argumentation verraten. – So viel dazu.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14493

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: müsste, können Sie es. Sie missachten die Werte, die un- (C)
Herr Oppermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? serer Verfassung zugrunde liegen. Ein Beispiel ist der
Respekt vor den Leistungen anderer. Sie missachten die
Thomas Oppermann (SPD): Zuständigkeit des Parlaments und des Deutschen Bun-
Nein, am Ende können wir noch diskutieren. Ich habe destages. Sie haben das ein Dutzend Mal gemacht.
nur noch wenige Minuten Redezeit. (Otto Fricke [FDP]: Was denn? – Weiterer Zu-
Der Bundespräsident – wenn ich damit anfangen darf – ruf von der FDP: Wo waren denn Ihre eigenen
Vorschläge?)
(Zuruf von der FDP: Am besten fangen Sie
noch einmal von vorn an!) Sie missachten auch die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts. Drei Monate nach Ablauf der vom Ge-
hat vor wenigen Tagen festgestellt: Dies ist nach dem richt gesetzten Frist haben wir immer noch kein verfas-
Herbst der Entscheidungen der Sommer der Ernüchte- sungskonformes Wahlrecht. Das muss man sich einmal
rungen. Wer diese diplomatische Sprache des Präsiden- vorstellen.
ten in die Alltagssprache übersetzt, der kommt zu der
Feststellung, dass er sagen will: Diese Bundesregierung (Beifall bei der SPD)
steht nach zwei Jahren mit leeren Händen da. Selbst das, Nicht irgendwo in einer Parallelgesellschaft, sondern
was Sie gemacht haben, ist fast ausnahmslos das Gegen- mitten im Staat, mitten im Staatsorganisationsrecht
teil von dem, was Sie vorher versprochen haben. schaffen Sie einen rechtsfreien Raum. Es ist so unerträg-
(Beifall bei der SPD) lich, dass wir in dieser Republik kein anwendbares
Wahlrecht haben, dass ich nur sagen kann: Mit Ihnen ist
Wer an die Versprechungen dieser Bundesregierung ge- wirklich kaum noch Staat zu machen.
glaubt hat, ist bitter enttäuscht worden. Die CDU hat
versprochen, die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. Jetzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ist die Wehrpflicht abgeschafft. Sie haben eine Steuer- Trotzdem werden wir uns zusammensetzen und über
senkung von 24 Milliarden Euro versprochen. Davon ist die Beteiligung des Parlaments an der EFSF reden. Das
noch nichts zu sehen. Bundesverfassungsgericht ist sehr schonend mit der Re-
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wachstums- gierungsseite umgegangen.
beschleunigungsgesetz!) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie haben versprochen, die Laufzeiten der Atomkraft- Bisher hatte der Haushaltsausschuss kein Zustimmungs-
werke zu verlängern. Dies haben Sie zunächst um- recht, sondern es gab ein Benehmen. Jetzt gibt es harte (D)
(B) gesetzt, dann haben Sie die Umsetzung jedoch wieder
Rechte. Wir werden diese Rechte umsetzen.
zurückgenommen. Sie haben das dreigliedrige Schulsys-
tem hochgehalten, und heute wollen Sie nichts mehr da- (Otto Fricke [FDP]: Sie haben bisher nichts
von wissen. Es gelten nur noch Abitur und Oberschule. umgesetzt!)
In der Euro-Krise haben Sie die meisten Haken geschla- – Herr Fricke, wir werden aber auch darauf achten, dass
gen. den Hardlinern in der FDP, die diese Gelegenheit nutzen
Es gibt aber einen roten Faden in diesem ganzen Pro- wollen, um die parlamentarische Beteiligung zu instru-
zess. Sie haben nämlich immer genau das gemacht, was mentalisieren, damit die EFSF Sand ins Getriebe be-
Sie vorher definitiv ausgeschlossen hatten, und immer kommt, das Handwerk gelegt wird.
genau die Entscheidungen getroffen, die Sie vorher defi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nitiv ausgeschlossen hatten. Das ist der rote Faden, der
sich durch diese Regierung zieht. Das sind Leute, denen es nicht um mehr Demokratie in
Deutschland geht, sondern um mehr Handlungsunfähig-
(Beifall bei der SPD) keit in Europa. Das werden wir nicht zulassen.
Noch nie gab es so viel Zickzack in der deutschen
(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: So
Politik. Noch nie sind so viele verwirrende Positions-
nicht!)
wechsel vorgenommen worden. Ihre eigenen Leute wis-
sen nicht mehr, wo Sie stehen. Deshalb sagen wir: Diese In der FDP haben sich einige Politikstrategen schon
Bundesregierung ist die schlechteste Bundesregierung in längst aufgemacht, um klammheimlich einen Fluchtweg
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. aus der schwarz-gelben Koalition zu basteln.
(Beifall bei der SPD) (Otto Fricke [FDP]: Sie hatten keinen einzigen
Vorschlag! Nichts! Schweigen von Ihnen, Herr
Dabei will ich Ihnen gar nicht den guten Willen ab-
Oppermann!)
sprechen. Natürlich haben Sie den guten Willen, dieses
Land ordentlich zu regieren. Ihr Problem ist: Sie können Dieser Fluchtweg ist eine klare Position gegen den Euro
es nicht. und gegen Europa, damit Sie sich am Ende mit Populis-
mus noch einmal über die 5-Prozent-Hürde hieven kön-
(Beifall bei der SPD)
nen. Das ist im Augenblick zu befürchten; das muss uns
Nicht einmal in den Bereichen, die eine bürgerliche Ko- Sorge machen. Ich kann nur sagen: Spätestens dann,
alition eigentlich in der Kinderstube gelernt haben wenn Sie diesen Weg gehen, meine Damen und Herren
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Thomas Oppermann
(A) von der FDP, wird sich ein großer Europäer und großer Ich kann nur sagen: Das Versprechen, die Steuern zu (C)
Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, angewidert von senken, ist bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen auf-
der Politik Ihrer Partei abwenden. rechterhalten worden. Danach hat die Kanzlerin es abge-
räumt; das war natürlich eine klare Wählertäuschung.
Sie, Herr Westerwelle, müssten eigentlich das Erbe Dann hat sie gesagt: Haushaltskonsolidierung hat Vor-
von Hans-Dietrich Genscher verwalten. rang. Als die FDP ganz tief in der Krise war, hieß es wie-
(Sebastian Blumenthal [FDP]: Sagen Sie noch der, man mache es als Antrittsgeschenk für den neuen
etwas zur SPD, Herr Kollege?) FDP-Vorsitzenden Rösler. Herr Rösler hat den Fehler
gemacht, auf die Zusage der Kanzlerin zu vertrauen. Na-
Ich finde, dass Ihnen das – ganz milde formuliert – nicht türlich wurde es dann sofort von den Ministerpräsiden-
gut gelingt. Wir sagen Ihnen ganz offen, mit offenem Vi- ten der Bundesländer abgeräumt; denn die Ministerpräsi-
sier: Wir glauben nicht, dass Sie Deutschland im Aus- denten haben einen Amtseid geschworen.
land gut vertreten. Wir glauben nicht, dass Sie ein guter
(Otto Fricke [FDP]: Sie haben die Rede
Außenminister sind, der die Interessen und das Ansehen
verwechselt!)
dieses Landes mehrt. Wir sagen das ganz offen und nicht
hinter vorgehaltener Hand oder in anonymen Interviews
wie manch einer in der FDP. Ich weiß nicht, auf wen in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
der FDP Sie sich noch verlassen können. Auf uns kön- Herr Kollege.
nen Sie sich verlassen.
Thomas Oppermann (SPD):
(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister:
Davon bin ich überzeugt!) Ich komme gleich zum Schluss. – Dieser Amtseid
verpflichtet sie, Schaden von ihren Ländern abzuwen-
Wir werden Ihr entschiedener Gegner bleiben, Herr den.
Westerwelle. Ich füge hinzu: Wer Freunde wie Philipp
Rösler hat, braucht eigentlich gar keine Gegner. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sebastian Herr Kollege!
Blumenthal [FDP]: Haben Sie auch eine Posi-
tion, Herr Kollege? – Otto Fricke [FDP]: Ihr Thomas Oppermann (SPD):
wisst ja noch nicht einmal, was ihr wollt! – Ge- Eine Steuersenkung, die Sie über zusätzliche Kredite
genruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: finanzieren müssen, würde dieses Land beschädigen.
Wir wollen eigentlich Kubicki!) Ich fasse zusammen.
(B) (D)
Wenn die Bundeskanzlerin einmal mit etwas Positi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Steuermehr-
vem im Gepäck von den Euro-Verhandlungen zurückge- einnahmen nehmen sie doch auch!)
kommen ist, zum Beispiel mit dem Vorschlag einer Wirt-
schaftsregierung oder der Finanzmarktbesteuerung, dann
waren es die Leute von der FDP, die sofort K.-o.-Krite- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
rien formuliert haben. Ich wundere mich, dass die Union Die Redezeit ist weit überschritten.
mit diesem Koalitionspartner, der konstruktive Ansätze
zur Regulierung von Finanzmärkten immer wieder Thomas Oppermann (SPD):
schon im Ansatz zerstört, weiter zusammen regieren Ich komme zum Ende. – Diese Politik ist ein Armuts-
will. zeugnis. Diese Bundesregierung ist menschlich und poli-
tisch ausgebrannt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Dr. Volker Wissing [FDP]: Was ist denn das (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So einen
für ein Unsinn? Nennen Sie mal ein Beispiel!) gequälten Eindruck haben Sie schon lange
nicht mehr gemacht!)
Dann noch zur Steuersenkung. Das ist das große Pro-
jekt, das noch vor uns liegt. 24 Milliarden Euro haben Sie hat keine Perspektive. Sie haben zwei Jahre lang
Sie versprochen. Jetzt, sagt Herr Kauder, sollen es viel- keine Probleme gelöst, und wir können nicht erwarten,
leicht noch 7 Milliarden Euro werden. Was für ein aber- dass Sie das in den nächsten zwei Jahren tun werden. Ich
witziges Projekt! sage Ihnen: Mit Ihnen geht es weiter bergab. Für das
Land ist das nicht gut, aber für den Regierungswechsel,
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir haben doch der dann ansteht, ist es die richtige Voraussetzung.
schon 10 umgesetzt! Menschenskinder!)
Vielen Dank.
Inmitten der größten internationalen Schuldenkrise sol-
(Beifall bei der SPD)
len jetzt noch mehr Kredite aufgenommen werden, da-
mit die Steuern gesenkt werden können.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, überhaupt Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms
nicht!) für die FDP-Fraktion.
Was ist das für ein aberwitziges Projekt? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14495

(A) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber (C)
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Oppermann, richtigstellen könnten Sie es!)
wir sind ohne Weiteres bereit, jede kritische Auseinan- – Meine Zahlen sind richtig.
dersetzung zu führen, aber nicht mit Unwahrheiten. Das
ist einfach unter Ihrem Niveau, oder Sie haben die Zah- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein!)
len einfach vergessen. Die 80 Milliarden Euro Neuver- Ich habe sie mir gerade von den Haushältern bestätigen
schuldung, von denen Sie geredet haben, standen im lassen.
Haushaltsplan von Peer Steinbrück im Jahre 2010.
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: 81 Milliarden
(Thomas Oppermann [SPD]: Richtig! 86!) haben Sie zugestimmt! 81!)
Was ist tatsächlich eingetreten? Wir hatten eine Neuver- Unter Mitwirkung der FDP haben wir, auch in ver-
schuldung von 44 Milliarden Euro. schiedenen Entschließungsanträgen im Bundestag, darauf
gedrungen, dass die Mittel, die im Rahmen der EFSF be-
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein, nein! reitgestellt werden, an strikte Bedingungen und harte Auf-
Es gibt einen Unterschied zwischen Ist und lagen gebunden sind und die einzelnen Länder gezwun-
Soll, Herr Solms!) gen werden, eine Entschuldungspolitik zu betreiben und
Sie war also beinahe halb so hoch. Im Jahre 2011 werden ihre Schuldenpolitik einzustellen. Nun zeigt sich, gerade
wir statt 71 Milliarden Euro Neuverschuldung wahr- in den letzten Wochen und Monaten, dass diese Politik er-
folgreich ist. Das müssen auch Sie erkennen.
scheinlich nur noch eine Neuverschuldung von 30 Mil-
liarden Euro zu verzeichnen haben. Wir haben uns selbst Schauen Sie sich doch an, was passiert: Gestern hat
nicht vorstellen können, dass wir den Turnaround so Italien vorgeschlagen, eine Schuldenbremse einzufüh-
schnell hinbekommen. Wir freuen uns darüber. ren; dort will man die Entschuldungspolitik erweitern,
die Mehrwertsteuer erhöhen und andere Maßnahmen
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ach was! Das war durchführen. Spanien hat bereits eine Schuldenbremse
doch kein Turnaround!) eingeführt. Sarkozy sagt, er will in Frankreich eine
Auch Sie sollten sich darüber freuen – denn das ist für Schuldenbremse einführen. In Irland ist man schon viel
weiter. Dort gehen die Zinsen für die Finanzierung des
die Bundesrepublik Deutschland ein tolles Ergebnis –,
Staates bereits zurück. Die Märkte vertrauen Irland wie-
anstatt hier mit falschen Zahlen zu agieren.
der. Portugal ist in einem umfassenden Umstrukturie-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rungsprozess begriffen. In Wirklichkeit ist unser Kern-
problem nur noch – aber immerhin – Griechenland. Wir
(B) Im Übrigen: Die Steuersenkungen in Höhe von sagen: Wenn Griechenland die Bedingungen nicht ein- (D)
24 Milliarden Euro, die Sie da wieder erfunden haben, hält, kann die Finanzierung nicht auf diese Weise fortge-
stammen noch aus dem Wachstumsbeschleunigungsge- setzt werden.
setz. In diesem Rahmen sind Steuerentlastungen von
24 Milliarden Euro beschlossen worden. Jetzt haben wir (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
CDU/CSU)
überhaupt keine Zahl festgelegt
Da müssen wir konsequent sein. Wenn wir uns anders
(Thomas Oppermann [SPD]: Doch! Das steht verhalten würden, dann würden die anderen Staaten sa-
im Koalitionsvertrag!) gen: Wenn die Griechen das machen können, dann kön-
und gesagt: Wir werden uns nach der Steuerschätzung nen wir das auch machen. Dann geben wir wieder viel
auf eine vernünftige Größenordnung einigen. So war Geld aus, und zum Schluss müssen die Deutschen zah-
das. len. – Nein, das geht nicht.
Dem will ich Ihre Vorschläge bezüglich der Euro-
Ich will noch etwas zur Situation des Euro und zu ei- Bonds gegenüberstellen. Haben Sie Ihren Wählern und
nigen anderen Punkten sagen. Ich habe im letzten Jahr, Mitgliedern überhaupt erklärt, was Euro-Bonds sind?
als die EFSF eingeführt wurde, hier im Bundestag nicht Das ist ja nur ein Schlagwort. Das versteht doch keiner.
zugestimmt, und zwar deshalb, weil ich kein Vertrauen Euro-Bonds bedeuten, dass eine gesamtstaatliche Haf-
hatte, dass die Regelungen, die entwickelt worden wa- tung ausgesprochen wird. Es wird Geld zur Verfügung
ren, tatsächlich zurück zur Stabilitätsunion führen. Ich gestellt, für das alle Staaten haften. Aber die Schuldner
war mir nicht sicher, ob nicht doch eine Transferunion können auf den Staat zurückgreifen, der finanziell am
entsteht, in der die Haftung vergemeinschaftet wird und stabilsten ist. Das heißt auf Deutsch gesagt: Sie fordern,
zum Schluss diejenigen, die die Ausgaben und Schulden dass die deutschen Steuerzahler für die Schulden der
gar nicht zu verantworten haben, die Zeche zu zahlen ha- ganzen Währungsunion haften.
ben. Das wäre der falsche Weg gewesen.
(Rainer Brüderle [FDP]: Eben!)
(Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD] mel-
det sich zu einer Zwischenfrage – Gegenruf Das ist doch eine abenteuerliche Vorstellung. Schauen Sie
des Abg. Otto Fricke [FDP]: Nein! Keine sich einmal die Dimension der Schulden an. Jedes Land
Fragen jetzt!) kann immer zuerst auf die Deutschen zurückgreifen.
(Otto Fricke [FDP]: Ja!)
– Das Thema, das Sie ansprechen wollen, ist erledigt.
Ich will jetzt bei diesem Thema bleiben. Wir müssen das dann finanziell verkraften.
14496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Hermann Otto Solms


(A) Das ist eine abenteuerliche Vorstellung. Ich glaube, 80 Prozent der deutschen Unternehmen, des Mittelstan- (C)
Sie wissen selbst nicht, was Sie da beschlossen haben. des. Den Personengesellschaften, die die große Mehrheit
der Arbeitnehmer beschäftigen,
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Haben wir
nicht beschlossen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie es wissen, dann gehen Sie nach Hause und tun haben wir den Wiederaufschwung zu verdanken. Sie ha-
Sie Buße, denn so einen Unsinn kann man doch bei kla- ben dafür gesorgt, dass wir heute viel mehr Arbeitsplätze
rem Verstand nicht beschließen. haben als noch vor Jahren, als Sie regiert haben, und sie
würden dann dafür bestraft, dass sie ihre Gewinne für In-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vestitionen nutzen, für Forschung und Entwicklung, also
der CDU/CSU) in die Zukunft investieren. Bei dem Geld, das dann an
den Staat gehen würde, wüsste kein Mensch, was dann
Für die deutschen Steuerzahler und für die deutsche damit geschehen würde.
Finanzpolitik ist das ein unzumutbarer Vorschlag. Heute
hat das Verfassungsgericht bestätigt, dass dies verfas- Auch diese Politik, Haushaltskonsolidierung ohne
sungsrechtlich nicht zulässig ist. So verstehe ich jeden- Steuererhöhung, gibt es nur mit der FDP. Wenn es uns
falls die Pressemeldung des Verfassungsgerichts. dann noch gelingt, zum Jahresende die kalte Progression
abzubauen, dann ist das mehr als recht und billig, denn
Ich sage Ihnen: Sie sind auf dem falschen Weg, und die Arbeitnehmer haben das verdient. Dies steht in Ih-
Sie haben das Ganze eingeleitet. Eichel hat damals Grie- rem Wahlprogramm. Ich möchte einmal sehen, ob Sie
chenland aufgenommen und Griechenland für seine mu- sich dagegen entscheiden werden.
tigen Konsolidierungsaufgaben bewundert. Alle Zahlen
Das Gleiche gilt für den Arbeitsmarkt. Wir haben
waren erstunken und erlogen, nichts hat gestimmt. Das
große Erfolge auf dem Arbeitsmarkt, was sozialpolitisch
wussten fast alle, nur Eichel nicht. Dann haben Schröder
das Wichtigste ist.
und Fischer den Stabilitätspakt aufgeweicht. Nur deswe-
gen sind wir überhaupt in diese problematische Situation In der Gesundheitspolitik haben wir ein trostloses
gekommen. Erbe übernommen. Das erwartete Defizit der gesetzli-
chen Krankenversicherungen lag bei 11 Milliarden Euro.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das war das Erbe von Ulla Schmidt.
der CDU/CSU)
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das stimmt ja
Ich sage Ihnen: Für diese Art der Stabilitätspolitik, die gar nicht! Die hatten ein Plus!)
dazu führt, dass jeder für seine Ausgaben verantwortlich
(B)
bleibt – auch das wurde übrigens vom Verfassungsge- Philipp Rösler und Daniel Bahr haben die Wende einge- (D)
richt bestätigt –, ist die FDP zentral mitverantwortlich. leitet und für eine Reserve von 2 Milliarden Euro bei den
Die Bundeskanzlerin ist bei den Verhandlungen gerade gesetzlichen Krankenversicherungen gesorgt.
in diesem Jahr vorausgegangen und hat diesen Weg be- (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: 1,5 Milliarden
schritten. Ohne die FDP wäre dieser Weg aber nie be- Euro plus hatten sie!)
schritten worden – das ist meine Überzeugung – und mit
Ihnen schon gar nicht, wenn Sie an koalitionspolitische – Frau Schmidt, schön, dass Sie da sind. Dann können
Vorstellungen denken. Sie sich das anhören. – Jetzt haben die gesetzlichen
Krankenversicherungen eine Reserve von 2 Milliarden
In der Haushaltskonsolidierung ist es ähnlich. Wir, die Euro. Wodurch? Durch Senkung der Arzneimittelkosten
FDP, garantieren die Konsolidierung des Haushaltes,
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Beitrags-
und zwar ohne Steuererhöhungen. Mit Ihnen geht es nur
erhöhungen!)
mit Steuererhöhungen.
und durch Herstellung eines Wettbewerbs zwischen den
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie ist das Krankenkassen. Das schafft Effizienzgewinne, und
denn mit der Tabaksteuer?) durch diese Effizienzgewinne werden die Kosten
Sie überbieten sich gegenseitig mit Steuererhöhungsvor- gesenkt. Deswegen ist wichtig: Auch in der Gesund-
schlägen. Das Allertollste ist der neueste Vorschlag der heitspolitik muss man auf Eigenverantwortung und
SPD, den Spitzensatz bei der Einkommensteuer auf Wettbewerb setzen. Dann kommen wir zu besseren Er-
49 Prozent anzuheben. Sie erwecken den Eindruck, dass gebnissen. Das ist nicht unsozial.
das nur ein paar Multimillionäre zahlen müssten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: 4 Prozent
der Bevölkerung!) Diese Politik bekommen Sie nur mit Beteiligung der
FDP. Das will ich hier sagen, weil manche glauben, sie
Ich sage Ihnen: Die Multimillionäre haben ihre Vermö- könnten schon locker über uns hinweggehen. Keine
gen sowieso so gestaltet, dass Sie gar nicht daran heran- Sorge, wir haben schon viele schwierige Zeiten über-
kommen. Wen treffen Sie damit? standen und finden immer wieder heraus, und zwar ge-
läutert,
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die oberen
4 Prozent!) (Zuruf von der SPD: Geläutert?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14497
Dr. Hermann Otto Solms
(A) stärker und intelligenter. Sie hingegen ruhen sich auf Ih- nehmen. Ich nehme sie sehr ernst. Zur Wahrheit gehört (C)
ren momentanen Wahlerfolgen aus. Am Ende werden aber auch: Die Entscheidung für die gemeinsame euro-
Sie bei der Bundestagswahl aber wieder die ersten Ver- päische Währung war richtig.
lierer sein.
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das stimmt!)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nicht nur die Grundsatzentscheidung, sondern auch die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Entscheidung über die entsprechenden Bedingungen und
Stabilitätskriterien war wichtig und richtig.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heute können wir in Bezug auf diese gemeinsame
Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/ Währung feststellen: Der Euro ist stabiler, als die D-Mark
CSU-Fraktion. es war. Wir haben im Durchschnitt eine niedrigere Infla-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionsrate, als wir sie bei der D-Mark hatten. Der Euro hat
die Menschen und die Wirtschaft zusammengeführt. Er
Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU):
hat insbesondere in Deutschland zu Wohlstand und zu
mehr Wachstum geführt, weil wir durch den hohen Ex-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
portanteil besondere Vorteile davon haben. Ohne diese
Haushaltsdebatten, so sagt man, sind die Stunde der Op-
gemeinsame Währung wären wir aus der Wirtschafts-
position. Da hat sie die Möglichkeit, Alternativen vorzu-
und Finanzkrise nicht so herausgekommen, wie wir he-
legen, Visionen zu entwickeln. Diese Chance, diese Ge-
rausgekommen sind.
legenheit haben Sie heute aber nicht genutzt. Das ist
eindeutig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eines gilt ebenfalls: Wenn sich alle an die vereinbar-
Diese Debatte findet in Zeiten großer Turbulenzen an ten Regeln gehalten hätten, dann hätten wir die heutigen
den internationalen Finanzmärkten statt. Sie findet in ei- Probleme nicht. Das muss man auch nachvollziehen und
ner Zeit der Verunsicherung der Menschen in der Euro- sich fragen: Wo haben wir denn Probleme? Warum ha-
Zone statt. Gerade in dieser schwierigen Zeit setzt dieser ben wir diese Probleme?
Haushalt notwendige und richtige Akzente, und zwar in Es ist heute schon mehrfach angesprochen worden;
zweierlei Hinsicht: ich glaube aber, dass man das gar nicht oft genug beto-
Zum Ersten wird deutlich, dass Schuldenabbau einer- nen kann: Der erste große Fehler war die Aufnahme
seits und Wirtschaftswachstum andererseits keine Ge- Griechenlands in den Euro.
(B) gensätze sind, sondern zusammengehören und dass bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
des möglich ist, ja sogar das eine die Voraussetzung für
das andere ist: Wir haben davor gewarnt. Wir haben uns dagegen ausge-
sprochen, weil die Schwierigkeiten schon damals er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sichtlich waren. Sie haben leichtfertig zugestimmt. Wi-
Schuldenabbau und positive wirtschaftliche Entwick- der besseres Wissen haben Sie zugestimmt. – Das war
lung – das zeigt dieser Haushalt, das zeigt die Politik der erste Sündenfall.
dieser Regierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zum Zweiten wird deutlich: Das, was Deutschland Als zweiter Sündenfall kam das Aufweichen der Kri-
kann, muss auch Europa können. Da sind wir noch nicht terien hinzu, weil Sie selbst nämlich nicht willens und in
ganz so weit. Aber wir setzen hier Zeichen. Wir sind der Lage waren, sie einzuhalten. Sie hatten nicht die
Vorreiter im Schuldenabbau, in einer stabilen Finanz- Kraft, die Stabilitätskriterien im eigenen Land zu erfül-
und Haushaltspolitik. Wir sind Vorreiter im Bereich des len.
Wachstums. Diese Rolle müssen wir auch in Zukunft
wahrnehmen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir hatten
im Bundesrat eine Totalopposition! Das war
Ich möchte der Bundeskanzlerin ganz herzlich für der Punkt! Sie haben sich Ihrer Verantwortung
diese Arbeit danken; denn all das ist nicht von alleine entzogen!)
gekommen. Volker Kauder hat es angesprochen. Es ist
eine riesige Gemeinschaftsleistung, dass wir heute bes- – Sie hatten damals nicht die Kraft dazu. Sie haben da-
ser aus der Krise herausgekommen sind, als uns das in durch, dass Sie die Kriterien aufgeweicht haben, dazu
allen Prognosen vorhergesagt worden ist. Dass wir bes- beigetragen, auch andere zum Schuldenmachen einzula-
ser dastehen als vor der Krise, war und ist nicht selbst- den.
verständlich, sondern liegt an einer riesigen Gemein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schaftsleistung der Menschen im Land, der Wirtschaft,
neten der FDP)
der Arbeitnehmer, aber auch der verantwortlichen Re-
gierung. Da helfen auch alle Vergleiche mit der Schulden-
bremse auf nationaler Ebene nichts, die vorhin angespro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen wurden. Denn auf europäischer Ebene haben wir
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich denke, mit der nicht einheitlichen Finanz- und Haushaltspolitik
dass wir gut daran tun, die Sorgen der Menschen ernst zu eine völlig andere Grundlage als auf nationaler Ebene.
14498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Gerda Hasselfeldt
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zen drohen. Ich denke, dass wir damit auf einem guten (C)
der FDP) Weg sind.
Sie waren damals die Brandstifter und möchten heute Zu bewerkstelligen bleibt noch die Parlamentsbeteili-
der Biedermann sein. So einfach geht das nicht. gung. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kollegin-
nen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
die schon eine hervorragende Vorarbeit geleistet und
neten der FDP)
sich die Mühe gemacht haben, die einzelnen Schritte ge-
Beides waren Fehleinscheidungen von historischer nau durchzudeklinieren, sodass wir die Parlamentsbetei-
Bedeutung, deren Konsequenzen wir heute alle mit- ligung mit den Kolleginnen und Kollegen der Opposi-
einander zu tragen haben. Wer solche Fehlentscheidun- tionsfraktionen abstimmen können und dann hoffentlich
gen trifft, der sollte sich, denke ich, mit Vorwürfen an mit einer breiten Mehrheit im Parlament zu einem guten
andere sehr zurückhalten. Ergebnis kommen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir müssen aber noch weitergehen und dafür Vor-
neten der FDP) sorge treffen, dass stabilitätsorientierte Politik, Schul-
denabbau und die Schaffung von wettbewerbsfähigen
Was wir in dieser schwierigen Lage brauchen, ist ers-
Strukturen in den einzelnen Ländern im Rahmen ihrer
tens ein konsequenter Schuldenabbau. Wir sind hierbei
Souveränität praktiziert und Krisen bereits im Vorfeld
auf einem sehr guten Weg – das ist mehrfach angespro-
verhindert werden. Die Vorschläge, die die Bundeskanz-
chen worden – mit der deutlichen Senkung der Netto-
lerin auf europäischer Ebene mit dem französischen
kreditaufnahme und der Verschuldung insgesamt.
Staatspräsidenten eingebracht hat, sind meines Erachtens
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Aber nicht der richtige Weg. Es geht um die Verankerung von
deutlich genug!) Schuldenbremsen auch in anderen europäischen Ländern
und um die intensivere Koordinierung der Wirtschafts-
Wir sind auf einem guten Weg, und zwar auf einem we- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene. Man sollte
sentlich besseren Weg, als es in vielen europäischen nicht zuerst daran denken, ob man eine Vertragsände-
Ländern der Fall ist. rung braucht oder nicht. Meines Erachtens steht diese
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frage am Ende der Diskussion. Wir müssen alles dafür
tun, um zu mehr Stabilität in Europa und zu einem stabi-
Zweitens brauchen wir eine stabilitätsorientierte Poli- litätsorientierten Politikverständnis in allen europäischen
tik in jedem der Euro-Länder. Drittens brauchen wir Ländern zu kommen.
wettbewerbsfähige Strukturen in ganz Europa.
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D)
Die von Ihnen vorgeschlagenen Euro-Bonds sind da- neten der FDP)
gegen ein völlig falscher Weg. Sie vereinheitlichen da-
mit die Zinshöhe. Die Länder, die gut wirtschaften und Diese Bemühungen tragen in einigen Ländern, zum
eine hohe Bonität haben, würden dann einen höheren Beispiel in Spanien, Früchte. Das sollte uns ermuntern,
Zinssatz zu bezahlen haben. Das hätte entsprechende auf diesem Weg weiterzugehen. Diesen Weg sollten wir
Auswirkungen auf die Haushalte und damit auf die Steu- konkretisieren. Am Ende muss dann die Frage beantwor-
erzahler. tet werden, welche vertraglichen und rechtlichen Rege-
lungen zu treffen sind.
Diejenigen, die schon jetzt schludrig arbeiten und
nicht konsolidieren und sparen wollen, hätten durch Dass Deutschland in dieser Beziehung eine große
niedrigere Zinsen noch einen Vorteil. Das wäre praktisch Verantwortung hat, sieht und spürt jeder. Diese Verant-
eine Einladung zu weniger Konsolidierung, zu weniger wortung nehmen wir wahr. Diese Verantwortung ist des-
Anstrengungen und zu weiterem Schuldenmachen. Das halb so groß, weil wir beispielgebend sind; denn wir sind
können wir nicht mitmachen. zugleich Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive.
Beide Aspekte werden in Deutschland gelebt. Die Be-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
mühungen, diese beiden Aspekte miteinander zu verbin-
neten der FDP)
den, sind nicht nur in Deutschland, sondern auch europa-
Der Druck, sich stabilitätskonform zu verhalten, Ein- weit erkennbar. Wir sind bei der Schuldenbremse
sparungen vorzunehmen und Strukturreformen durchzu- Vorbild, wir sind für viele Länder Vorbild bei den Struk-
führen, würde dadurch wegfallen. Wir brauchen keine turreformen. Die Schuldenbremse ist nicht nur aktuell
Schuldenunion, sondern eine Stabilitätsunion. wichtig; sie bringt vielmehr zum Ausdruck, was das
Markenzeichen dieser Regierung seit Jahren ist: Es ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
das Bemühen um Generationengerechtigkeit, das Bemü-
neten der FDP)
hen um Nachhaltigkeit, und zwar nicht nur in der Um-
Deshalb sind auch alle vorgesehenen Hilfsprogramme weltpolitik und in der Sozialpolitik, sondern auch in der
und Maßnahmen mit strikten Auflagen verbunden. Soli- Finanzpolitik. Das ist das Markenzeichen dieser Regie-
darität in Form von Leistungen und Hilfen kann es nur rung.
dann geben, wenn entsprechende Anstrengungen unter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nommen werden, wobei die Anstrengungen und die Ein-
haltung der Auflagen auch überprüft werden müssen. Diese Verantwortung gilt es wahrzunehmen. Deshalb
Bei Nichteinhaltung müssen entsprechende Konsequen- ist uns dies so wichtig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14499
Gerda Hasselfeldt
(A) Das kommt im Haushalt zum Ausdruck – Rückfüh- schen nicht aus den Augen zu verlieren, war erfolgreich. (C)
rung der Neuverschuldung –, aber auch im Ergebnis un- Auf diesem Weg werden wir weitergehen und unsere Ar-
serer Politik. Das zeigt die wirtschaftliche Entwicklung, beit fortsetzen.
insbesondere die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen.
Ich danke Ihnen.
Das wurde im Laufe der Debatte schon mehrfach ange-
sprochen. Nachdem wir 5 Millionen Arbeitslose zu Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ginn unserer Regierungszeit übernommen haben, sind
wir jetzt bei unter 3 Millionen. Die Prognosen waren Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ganz anders. Das kann man nicht einfach als Selbstver- Das Wort für die Bundesregierung hat der Staatsmi-
ständlichkeit abtun. Jetzt haben wir wieder finanzielle nister Bernd Neumann.
Spielräume und können das Geld, das sonst für Arbeits-
losigkeit ausgegeben werden müsste, sinnvoller verwen-
den. Die Beiträge konnten gesenkt werden, und jetzt Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-
können wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf kanzlerin:
die wesentlichen Personenkreise konzentrieren. Das al- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
les ist nur möglich, weil die wirtschaftliche Entwicklung Haushaltsberatungen werden traditionell zum Anlass ge-
und insbesondere die Arbeitsmarktentwicklung so gut nommen, Bilanz zu ziehen. Für die Kulturpolitik der
ist. Der Schwerpunkt Bildung und Forschung wurde an- Bundesregierung in den letzten fast sechs Jahren – sie
gesprochen. Auch das ist etwas, was mit Zukunftsgestal- wurde zuerst von Union und SPD und dann von FDP
tung zu tun hat. und Union verantwortet – darf man feststellen: Sie wird
selbst von Außenstehenden, zum Beispiel vom Deut-
In dieser Situation kommt jetzt die SPD mit Vorschlä- schen Kulturrat, als sehr erfolgreich, ja, als Erfolgs-
gen aus der Mottenkiste. Sie hat all die Forderungen aus geschichte angesehen. Dazu haben Sie, meine lieben
der Mottenkiste geholt, die sie schon früher aufgestellt Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, ent-
hat: Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Erhöhung der scheidend beigetragen. Dafür sage ich Danke.
Einkommensteuer. Das hatten wir schon alles. Das alles
ist Gift für die Konjunktur, Gift für die weitere wirt- Natürlich gab und gibt es im Kulturausschuss in Ein-
schaftliche Entwicklung, Gift für die Beschäftigung der zelfällen immer auch unterschiedliche Meinungen – diese
Menschen im Land. werden von den Oppositionsrednern möglicherweise
gleich vorgetragen –; aber im Großen und Ganzen haben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir für die Kultur immer an einem Strang gezogen. Das
bekommt der Kultur sehr gut, und das wird von den Kul-
Ihnen fällt zur Haushaltskonsolidierung offensichtlich
(B) nichts anderes ein, als das Geld von den Steuerzahlern turschaffenden und ihrer Community sehr anerkannt. (D)
abzukassieren. Ein Eckpfeiler unserer Kulturpolitik ist die uneinge-
schränkte Verlässlichkeit gerade im finanziellen Bereich,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Norbert und dies in Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrise. Wer
Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!) sich in unserem Land umschaut und die Schlagzeilen
Das ist Ihre Philosophie. Unsere Philosophie war und ist über dramatische Kürzungen im Bereich der Kultur in
schon immer eine andere. zahlreichen Kommunen und auch in den Bundesländern
verfolgt, wer die dramatischen Kürzungen bei den Kul-
Wenn die wirtschaftliche Entwicklung sich gebessert turetats aller unserer europäischen Nachbarländer – mit
hat und wir wieder Spielräume haben, dann sollen alle Ausnahme Frankreichs – zur Kenntnis nimmt, kommt zu
davon profitieren, auch diejenigen, die täglich zur Arbeit dem Ergebnis: Unsere Kulturpolitik ist Gold wert oder
gehen und Geld verdienen. Es darf nicht sein, dass bei geldwert. Seit 2005 wurde der Kulturhaushalt des Bun-
Lohnerhöhungen überproportional hohe Abgaben fällig des stetig erhöht. Zum Erhalt kulturellen Erbes wurden
werden. Diese sogenannte kalte Progression abzubauen, zusätzlich 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit und nichts ande- Der Ihnen vorliegende Entwurf für 2012 sieht einen er-
res. neuten, wenn auch kleinen Anstieg vor.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Angesichts unserer Einkommensteuerverteilung auf der CDU/CSU)
der Ebene von Bund, Ländern und Gemeinden muss ich Zusätzlich werden jetzt 100 Millionen Euro aus dem
schon sagen: Das Gebot der sozialen Gerechtigkeit ver- Konjunkturpaket II für die Sanierung der kulturellen In-
bietet eine Diskussion darüber, ob etwas zwar für den frastruktur ausgegeben. In dieser Dimension hat es das
Bund wichtig ist, für die Länder und die Kommunen noch nie gegeben. Im ganzen Land sind es allein 80 Pro-
aber nicht. Es müssen schon alle mitmachen; Länder und jekte des Bundes, zum Beispiel die Sanierung des Bau-
Kommunen tragen wie wir, der Bund, Verantwortung für hauses Dessau, der Burg Eltz in Rheinland-Pfalz oder
die arbeitenden Menschen. auch des Deutschen Literaturarchivs Marbach. In Berlin
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) konnte ich in diesen Tagen drei Einrichtungen des Bun-
des, die mit einem Volumen von über 30 Millionen Euro
Ihre Rezepte waren schon damals falsch, und sie sind saniert wurden, wiedereröffnen. So strahlen im neuen
heute wieder falsch. Unser Ansatz, Schulden abzubauen, Glanz das Theater der Berliner Festspiele, der Martin-
Wachstum zu fördern und die Betroffenheit der Men- Gropius-Bau und die Akademie der Künste am Hansea-
14500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Staatsminister Bernd Neumann


(A) tenweg. Hier werden wir in vorbildlicher Weise der Mit- Wir werden mit dem Tränenpalast am Bahnhof Fried- (C)
verantwortung des Bundes für die kulturelle Repräsenta- richstraße einen neuen authentischen Ort einrichten. Die
tion in der Hauptstadt gerecht. Eröffnung der Dauerausstellung „Grenzerfahrungen.
Alltag der deutschen Teilung“ wird die Bundeskanzlerin
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der nächsten Woche vornehmen.
neten der SPD und der FDP)
Denkmalschutz. Meine Damen und Herren, das Jahr
Mit diesem außerordentlichen finanziellen Engage- 2011 ist ein gutes Jahr für den Denkmalschutz. Mit dem
ment bekennt sich die Bundesregierung zu der besonde- Sonderprogramm von 15 Millionen Euro, durch den
ren Rolle der Kultur für unsere Gesellschaft und zu ihrer Haushaltsausschuss initiiert und bewilligt, konnte zur
Verantwortung als europäische Kulturnation. Restaurierung von rund 100 Denkmälern beigetragen
Es ist eben die Kultur, die unser Wertefundament bil- werden. Darunter sind Kirchen, Schlösser, Gärten, aber
auch Industriedenkmäler. Wir wollen diese Maßnahmen
det. Es sind die Künste, die uns zum Reflektieren und
fortsetzen, weil sie zu den erfolgreichsten flächen-
Besinnen ermuntern, die ganz wesentlich die Basis unse-
deckenden Maßnahmen im Bereich der Sanierung von
res Gemeinwesens bilden. Darüber hinaus ist Kultur Denkmälern zählen.
mittlerweile ein nicht zu übersehender Standortfaktor. Es
ist kein weicher mehr, sondern wegen seiner wirtschaft- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
lichen Bedeutung ein harter. FDP)
Lassen Sie mich aus dem vorliegenden Haushaltsent- Zur Medienpolitik abschließend zwei kurze Punkte.
wurf wegen der Kürze der Zeit nur wenige Punkte stich- Deutsche Welle. Wir werden den von den Verantwortli-
wortartig hervorheben. chen des Senders geplanten Reform- und Umstrukturie-
rungskurs uneingeschränkt unterstützen. Die Deutsche
Kulturelle Bildung. Auch im Haushaltsjahr 2012 in- Welle ist unsere mediale Visitenkarte weltweit. Sie ist
tensiviert der BKM seine Aktivitäten zur kulturellen Bil- ein unverzichtbarer kompetenter Botschafter Deutsch-
dung. Wir haben erneut eine beträchtliche Erhöhung vor- lands. Deshalb haben wir – im Gegensatz zu der Regie-
gesehen. rung von Rot-Grün unter Schröder – in den zurücklie-
genden Jahren, seit 2005, die Deutsche Welle von der
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Erwirtschaftung der globalen Minderausgabe, die alle
Sehr gut!)
Ressorts erbringen müssen, ausgenommen. Wir haben
Besonders im Blick sind bundesweit modellhafte Pro- den Haushaltsansatz sogar um einige Millionen erhöht.
jekte, die diejenigen erreichen sollen, die bisher kaum Die Deutsche Welle wird im nächsten Jahr einen Bei-
mit Kultureinrichtungen in Kontakt gekommen sind. trag zur Gesamtkonsolidierung des Haushalts von 2 Mil- (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lionen Euro leisten. Das ist weniger als 1 Prozent. Wir
überlassen der Deutschen Welle die finanziellen Mittel
Reformationsjubiläum. Das Bundeskabinett hat mir in – diese sind weitaus höher –, die sie durch die Reform an
diesem Jahr die Aufgabe übertragen, die Aktivitäten der Synergieeffekten erreicht. Das heißt, die Deutsche Welle
Bundesregierung zu koordinieren, da es sich hier im wird damit indirekt gestärkt. Wir hoffen, dass sie ihr Pro-
Kern um eine kulturpolitische Aufgabe handelt. Wir ha- gramm weiter qualifizieren kann.
ben bereits in diesem Jahr bedeutsame Veranstaltungen
finanzieren und gemeinsam mit den Ländern authenti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sche Orte der Reformation sanieren können. Das soll Der andere Punkt betrifft den Film. Der Film gehört
sich im kommenden Jahr fortsetzen und hat – wie Sie nun zu den besonderen Erfolgsgeschichten unserer Me-
wissen – seinen Höhepunkt im Jahre 2017, dem Jubilä- dienpolitik. Wir haben Deutschland wieder zu einem in-
umsjahr der Reformation. Dann werden wir seitens des teressanten Standort für Filmproduktionen gemacht. Wer
Bundes mindestens 30 Millionen Euro dazu beigetragen das genauer belegt haben will, möge sich einmal die Pla-
haben. nung großer, auch internationaler Produktionen für
dieses und nächstes Jahr vom Studio Babelsberg zeigen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lassen. Der Deutsche Filmförderfonds, den wir 2007 ge-
Aufarbeitung der SED-Diktatur. Meine Damen und meinsam in der Großen Koalition eingerichtet haben, hat
Herren, wir haben vor kurzem der Opfer des Mauerbaus geradezu zu einem Boom in der deutschen Filmwirtschaft
gedacht. Es macht traurig und wütend zugleich, dass geführt. Dies führt letztlich auch zur Qualifizierung weite-
heute immer noch Menschen – auch mit politischer Ver- rer Filme, die sich zunehmend international besser ver-
antwortung – das System der DDR verharmlosen. Ohne kaufen und mehr internationale Preise erhalten.
Zweifel war die DDR ein Unrechtsstaat, der die funda- Abschließend mein herzliches Dankeschön an die
mentalen Bürgerrechte verweigerte, Andersdenkende Mitglieder des Haushaltsausschusses. Sie alle haben im-
bespitzelte, verfolgte und inhaftierte. Uns ist es wichtig, mer wieder notwendige zusätzliche Mittel zur Verfügung
dass dies der jungen Generation vermittelt wird. Daher gestellt und damit an der erfolgreichen Kulturpolitik ent-
beteiligt sich der Bund an vielen Stellen, die authentisch scheidenden Anteil.
sind im Hinblick auf die Repression und Unterdrückung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
durch den SED-Staat.
Bleiben Sie bitte auch in Zukunft der Kultur gewogen!
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14501

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Drittes Thema: Wir haben über die Deutsche Welle (C)
Siegmund Ehrmann hat das Wort für die SPD-Frak- – Sie sprachen sie an – hier eine interessante Debatte ge-
tion. führt. Der Reformprozess ist anspruchsvoll und mächtig.
Es ist aber schon eine subtile Form der Unterstützung,
(Beifall bei der SPD) durch Mittelkürzungen die Arbeit dieser Institution zu
fördern. Dabei haben wir gemeinsam beschlossen und
Siegmund Ehrmann (SPD): verabredet, dass wir während des Umbauprozesses für
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- die Deutsche Welle eine ausgewogene und auskömmli-
legen! Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann! Ich che Finanzierung,
will gerne bestätigen, dass das Klima der Zusammenar-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
beit in der Kultur- und Medienpolitik sehr kollegial ist
und in weiten Teilen auch auf Konsens ausgelegt ist. nicht zwingend eine Aufstockung, aber auf keinen Fall
Gleichwohl lese ich gerade aus dem Haushaltsentwurf eine Reduzierung des Etats, ermöglichen wollen.
2012 eine deutliche Differenz heraus: Ich erkenne nicht,
dass hier tatsächlich ernsthaft kulturpolitischer Gestal- Dieses Stichwort gibt mir Anlass, den Blick auch ein-
tungsanspruch Raum greift. mal auf die auswärtige Kulturpolitik zu werfen. Sie ge-
hört zwar nicht zum Kernbereich, aber ich hätte mir sehr
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Dann wohl eine deutliche Stellungnahme des Kulturstaatsmi-
musst du das noch einmal durchgucken!) nisters und der Koalitionsfraktionen gewünscht, als es
Ich will das auch kurz begründen. um das Thema Goethe-Institute ging. Der Etat wird um
etwa 4,8 Millionen Euro zurückgefahren.
Wenn man nämlich genauer hinsieht, Kollege
Börnsen, dann stellt man fest, dass ein Volumen von Etwas, was mich – ich will es emotional ausdrücken –
etwa 60 Millionen Euro durch neue Titel in den Haushalt erzürnt, ist, dass die Mittel für „Kulturwärts“, ein tolles
des BKM gelangt ist. Hierbei handelt es sich einerseits Projekt, das junge Leute im Kontext des Freiwilligen So-
um die Verlagerung von Verantwortlichkeiten aus ande- zialen Jahres international zu Kulturarbeit befähigen
ren Ministerien: Dabei geht es um die Dienststelle für soll, deutlich gekürzt worden sind. Auch hier vermisse
die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefallenen ich die mahnende Stimme des Kulturstaatsministers bzw.
der ehemaligen Wehrmacht und den Internationalen der Koalitionsfraktionen.
Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen. Anderer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
seits gibt es auch eine unter dem Gesichtspunkt der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Haushaltsklarheit durchaus sinnvolle Sache, nämlich
(B) dass das Deutsche Historische Museum Miete bezahlen Lassen Sie mich noch zwei Punkte ansprechen, die (D)
muss. ich als Herausforderung begreife:
Dieses Volumen von 60 Millionen Euro muss nun ge- Der Bereich des Gedenkens und Erinnerns ist aus
genfinanziert werden. Ich lese aus dem Entwurf, dass zwingenden und guten Gründen ein sehr wichtiges
23 Millionen Euro durch das Auslaufen von Projekten Thema, dem wir uns entsprechend widmen. Das Ge-
finanziert werden sollen. Das ist absolut nachvollzieh- denkstättenkonzept wird immer weiter fortgeschrieben.
bar. Das gilt aber – das ist mein erstes Thema – schon Wir werden auch durch bürgerschaftliche Initiativen mit
nicht mehr dafür, dass ein Klassiker aufgegriffen und der Situationen und Inhalten konfrontiert, die noch nicht an-
Etat der Bundeskulturstiftung wieder gekürzt wird, also gemessen mit dem Appell „Erinnern für die Zukunft“
der höhere Ansatz, den wir letztes Jahr gemeinsam er- verbunden präsentiert und gewürdigt werden. Das
stritten haben, wieder auf den alten Stand zurückgeführt jüngste Projekt, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist
wird. Die Bundeskulturstiftung ist nämlich ein klassi- T4. Über die Else-Lasker-Schüler-Stiftung sind alle
sches Instrument der Kulturförderung, um dezentral in Fraktionen auf das Zentrum für verfolgte Künste auf-
der Fläche gute Projekte anzuschieben. Zum anderen be- merksam gemacht worden,
steht bei der Bundeskulturstiftung eine relativ starke
Mittelbindung, da mehrjährige Verpflichtungen einge- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gangen wurden. Kürzt man das Volumen, sind Ad-hoc- Auch das muss kommen!)
Projekte kleinerer Art, insbesondere auch über die
das besondere Biografien würdigt. Durch bürgerschaftli-
Fonds, gefährdet.
ches Engagement ist im Bergischen Land auf beeindru-
Ein zweites Thema möchte ich ansprechen, nämlich ckende Art und Weise eine Sammlung geschaffen wor-
den kulturellen Denkmalschutz. Das ist in der Tat ein den. Ich glaube, dass dieses Thema ein blinder Fleck im
tolles Projekt. Da haben Sie viel umgesetzt. Dass Sie das nationalen Gedenkstättenkonzept ist. Es wäre ein guter
weiterführen wollen, wie Sie angekündigt haben, spie- Stil, wenn wir im Bund gemeinsam, möglichst über alle
gelt sich im vorliegenden Haushaltsentwurf allerdings Fraktionen hinweg, die örtlichen Akteure im Bergischen
nicht wider. Im Gegenteil, die Mittel sind eingesammelt Land und das Land Nordrhein-Westfalen bei einer ange-
worden, um die in den Aufgabenbereich des BKM verla- messeneren Präsentation dieses wichtigen Gedenkseg-
gerten Einrichtungen gegenzufinanzieren. mentes unterstützten.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aber wir wollen sie weiterführen!) DIE GRÜNEN)
14502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Siegmund Ehrmann
(A) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will jetzt Es geht uns um das kulturelle Selbstverständnis der (C)
nur noch ganz kurz auf die Bayreuther Festspiele und Kulturnation Deutschland. Wir machen es nicht wie Ita-
den Bericht des Bundesrechnungshofes eingehen. Das lien und setzen die Axt an. Wir machen es auch nicht wie
Thema ist derzeit, glaube ich, auch Gegenstand staatsan- die Niederlande, die mal eben 20 Prozent kürzen wollen
waltschaftlicher Ermittlungen. Nicht nur deshalb wäre es und wo Kultur laut Frankfurter Rundschau vom 17. Au-
wichtig, dass wir uns noch einmal intensiv mit der Praxis gust 2011 gern als „linkes Hobby“ oder als Freizeitbe-
der Kartenvergabe auseinandersetzen. Wir haben das im schäftigung einiger Alt-68er bezeichnet wird. Wir ma-
Kulturausschuss erörtert. Der Staatsminister hat das sei- chen es auch nicht wie Großbritannien, wo der Etat des
nerzeit sehr zeitnah vorgetragen und bewertet. Es gab Arts Council sogar um 30 Prozent gekürzt wird.
die Verabredung, das in den zuständigen Gremien anzu-
sprechen. Mich würde sehr interessieren, was dabei he- Es ist uns gelungen, die Planansätze für den Haushalt
rausgekommen ist und auf welche Initiative hin das 2012 des BKM stabil zu halten, obwohl die Zeiten der
Engagement des Bundes dort greift; denn die Subventio- Haushaltskonsolidierung noch lange nicht vorbei sind.
nierung von Fördervereinsmitgliedern kann nicht zwin- Haushaltskonsolidierung hat für die christlich-liberale
gend unsere Aufgabe sein. Koalition absolute Priorität. Daran werden wir auch in
den nächsten Jahren festhalten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir in den Beratungen des Ausschusses für Kultur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und Medien bei den verschiedenen Punkten einen brei- Trotzdem kann die Koalition einige Aufwüchse im
ten parlamentarischen Konsens erringen können. Kulturhaushalt 2012 vermelden. So stellen wir der Deut-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Nationalbibliothek für die Forschung im Bereich
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der digitaler Bibliotheken und digitaler Publikationen zu-
CDU/CSU) sätzlich 370 000 Euro zur Verfügung. Ich hoffe, dass wir
die Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung noch
weiter verstärken können. Hierzu hat die christlich-libe-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rale Koalition bereits vor der Sommerpause einen An-
Reiner Deutschmann hat jetzt das Wort für die FDP- trag eingebracht.
Fraktion.
Auch der Deutsche Museumsbund erhält zusätzliche
(Beifall bei der FDP) Mittel. Mit dieser Projektförderung können weitere Ser-
viceangebote zur Verfügung gestellt werden. Museen
Reiner Deutschmann (FDP): sind Schnittstellen unserer Gesellschaft. Sie wirken inte-
(B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten grativ und überwinden Sprach- und Kulturgrenzen. Auch (D)
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns den Gesamt- dieses Geld ist gut angelegt.
haushalt von 306 Milliarden Euro anschauen, so wirkt Einen großen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet na-
der Kulturetat mit 1 Milliarde Euro auf den ersten Blick türlich die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Die dazu-
etwas bescheiden. Dennoch ist die Beratung über diesen gehörenden Stiftungen und Gedenkstätten werden weiter
verhältnismäßig kleinen Haushaltsposten ein wichtiges verlässlich durch den Bundeskulturhaushalt gefördert.
Ereignis in der Kulturpolitik unseres Landes. Denn ohne So wird zum Beispiel die Stasi-Opfer-Gedenkstätte Ber-
den Kulturetat des Bundes sähe die Kulturlandschaft in lin-Hohenschönhausen derzeit saniert und ausgebaut.
Deutschland deutlich ärmer aus. Angesichts der dringend notwendigen Aufarbeitung der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten SED-Diktatur und des sich vergrößernden zeitlichen Ab-
der CDU/CSU) standes zum Zusammenbruch der DDR und zum Mauer-
fall 1989 sind diese Maßnahmen dringend erforderlich.
Obwohl die Zuständigkeit bei den Ländern und Kommu-
nen liegt, ist der Etat des Staatsministers für Kultur und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Medien – wohlgemerkt möglich gemacht durch das Par- der CDU/CSU)
lament – einer der Garanten für die vielfältigen Kultur-
Schließlich beugt ein Besuch in Hohenschönhausen so-
angebote in unserem Land.
wie in anderen Gedenkstätten der Idealisierung und Ver-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der klärung der DDR am besten vor.
CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
So setzt die christlich-liberale Koalition mit dem heute der CDU/CSU)
zu beratenden Haushalt ihre Politik der soliden und bere-
Dieser Haushaltsentwurf ist ausgewogen und stellt
chenbaren Kulturfinanzierung fort.
eine gute Entscheidungsgrundlage dar. Die genannten
So wie im Koalitionsvertrag beschlossen, werden die Aspekte sind nur ein kleiner Teil dessen, was unsere
Bereiche Bildung, Forschung und Kultur weiter beson- Kulturpolitik ausmacht.
ders gefördert und auch in Zeiten des Sparens bei den
Es gibt aber auch Bereiche, denen wir noch mehr
Kürzungen ausgenommen. Ich denke, diese Verlässlich-
Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. So gehört
keit der christlich-liberalen Koalition weiß jeder, der mit
zum Beispiel die freie Theaterszene inzwischen zum fes-
Kultur zu tun hat, zu schätzen.
ten und nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jawohl!) Kultur unseres Landes. Aber auch die soziale Lage vie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14503
Reiner Deutschmann
(A) ler Künstlerinnen und Künstler zeigt Handlungsfelder Herr Neumann, wir fordern Sie auf, den Empfehlungen (C)
auf, insbesondere bei den Tänzerinnen und Tänzern. des Bundesrechnungshofes zu folgen und auf eine deut-
Auch das erst vorhin erwähnte Zentrum für verfolgte liche Reduzierung der Kartenkontingente hinzuwirken.
Künste halte ich für ein hochinteressantes Projekt. Ich
habe mir letzte Woche drei Stunden Zeit genommen, um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
es mir anzuschauen. Ich denke, es wird im Ausschuss ein sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
Thema sein. Volker Kauder [CDU/CSU] und Ernst-
Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU])
Ich freue mich auf die Beratungen zum Haushalt. Die
Erfahrungen aus der Vergangenheit stimmen mich zu- Steuergelder verfehlen ihren Zweck, wenn das Live-
versichtlich, dass der Deutsche Bundestag auch weiter- erlebnis von Kulturevents nur einem etablierten Stamm-
hin alles in seiner Entscheidungskompetenz Stehende für publikum überlassen bleibt.
die Kultur tun wird. Viele Menschen empfinden heute klassische Konzerte,
Vielen Dank. Oper oder Theater als elitär. Es ist unsere Aufgabe, die-
ser wachsenden Entfremdung entgegenzuwirken. Des-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halb muss Kulturpolitik Rahmenbedingungen setzen, die
verhindern, dass nur eine Elite Zugang erhält.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Agnes Krumwiede hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen. Mit Zugang meine ich nicht nur eine Karte für die Bay-
reuther Festspiele. Es geht um eine Stärkung und Auf-
wertung kultureller Bildung, um eine Überwindung der
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
erzkonservativen Einteilung in Hoch- und Subkultur. Ju-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gendkultur ist genauso viel wert wie Klassik. Das muss
Der Zustand schwarz-gelber Politik steht unter dem sich auch in der Förderpraxis widerspiegeln.
Motto „rasender Stillstand“ – auch im Bereich Kultur.
Noch immer ist der Kulturstaatsminister keinen ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
scheidenden Schritt weiter, was die Verbesserung der so- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
zialen Lage von Kulturschaffenden betrifft.
Denn nur dann, Herr Neumann, erreichen Sie auch die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kinder und Jugendlichen, von denen Sie vorher gespro-
chen haben.
Eine Künstlerförderung, die sich hauptsächlich in der
(B) Vergabe von Preisen erschöpft, ist nicht nachhaltig. In (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen die (D)
einigen Bereichen des Kulturbetriebs brauchen wir end- Länder! Dafür sind die Länder zuständig!)
lich Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen.
Auch bei der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nung“ ist rasender Stillstand angesagt. Als Kulturstaats-
minister und als Vorsitzender des Stiftungsrates tragen
Kulturpolitik muss mehr können als ein Geldautomat. Sie, Herr Neumann, doppelte Verantwortung.
Es genügt nicht, nach Gutsherrenart willkürlich Mittel
zu verteilen und das mit dem undefinierten Begriff „ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
samtstaatliche Bedeutung“ zu begründen. Warum sind
einige Festspiele und Institutionen von größerer gesamt- Es ist untragbar, dass die Revisionisten Tölg und Saenger
staatlicher Bedeutung als andere? Wir brauchen hier als stellvertretende Mitglieder immer noch Teil des Stif-
endlich ein transparentes und faires Verfahren. tungsrates sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie tolerieren das und nehmen dafür in Kauf, dass der
Kulturpolitik darf nicht allein über Förderwürdigkeit Zentralrat der Juden aus Protest bis heute seinen Sitz ru-
von Kunst und Kultur entscheiden. Es bedarf eines unab- hen lässt.
hängigen Expertengremiums zur Mitberatung. Nach (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
dem Geldsegen ist die kulturpolitische Arbeit noch lange GRÜNEN]: Und die Roma und Sinti!)
nicht beendet. Wenn der Bund fördert, übernimmt er
auch Verantwortung für die Verwendung der Mittel. Mit Ihrem Einverständnis wurde der Vertreter des Zen-
tralrats Deutscher Sinti und Roma nicht wieder in den
Als ich vor einem Jahr die Finanzierung der Bay- Wissenschaftlichen Beirat berufen.
reuther Festspiele infrage gestellt habe, löste meine Kri-
tik bei einigen Empörung aus. Mittlerweile hat auch der (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Bundesrechnungshof die ausufernden Kartenkontingente GRÜNEN]: Genau! Ein Skandal!)
kritisiert. Solange nur ein Bruchteil der Karten für die
Allgemeinheit verfügbar ist, profitiert von den Wagner- Herr Neumann, wenn Mitglieder der Stiftung als Aus-
Festspielen nur eine Elite. druck ihres Protestes ihren Sitz ruhen lassen, darf das
von Ihnen nicht als Rechtfertigung missbraucht werden,
(Otto Fricke [FDP]: Und die Gewerkschaften!) diese Mitglieder auszuschließen.
14504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Agnes Krumwiede
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- teidigung:
KEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von uns waren in den letzten Wochen unterwegs –
Jede Fehlentscheidung und Missstimmung innerhalb der in den Standorten, in den Kasernen, in den Einsatzgebie-
Stiftung ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Natio- ten – und haben mit den Soldaten gesprochen. Das gilt
nalsozialismus. Deshalb fordern wir umgehend einen auch für mich. Es waren gute und offene Gespräche.
Neustart der Stiftung.
Mir wurde dabei deutlich: Die Bundeswehr besteht
Wir begrüßen, dass auch im Kulturhaushalt 2012 der aus hochmotivierten, von ihren Aufgaben überzeugten
Erhalt der KZ-Gedenkstätten in Deutschland gesichert Soldaten und zivilen Mitarbeitern. Sie leisten ihren
ist. Dass sich das Auswärtige Amt dagegen nicht für den Dienst mit großem Engagement. Wir alle können uns auf
Erhalt der KZ-Gedenkorte in Polen einsetzt, ist mehr als sie verlassen, und wir können stolz auf sie sein.
beschämend.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Abg. Dr. h. c. Susanne Kastner [SPD])
DIE GRÜNEN und der LINKEN) Es kommen aber auch berechtigte Fragen auf; die
Die ehemaligen Konzentrationslager Sobibor, Majda- werden wir gleich diskutieren. Wie ist es mit der Ausge-
nek und Treblinka befinden sich im Zustand substanziel- staltung ihres Dienstes in Zukunft? Wie ist es mit der
ler Auflösung. Diese Tatorte nationalsozialistischer Ver- Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Wann fallen die
insbesondere sie betreffenden Entscheidungen? Und im-
brechen müssen erhalten bleiben – als Mahnmal gegen
mer wieder: Wie ist es mit der einsatzgerechten Ausrüs-
das Vergessen, als Friedhöfe für die Hinterbliebenen.
tung und Ausstattung? Eine Antwort auf all diese Fragen
Herr Westerwelle, es ist zynisch, sich auf Formalis- ist die Neuausrichtung der Bundeswehr.
mus wie die „fehlende Problemanzeige von polnischer Deutschland benötigt einsatzbereite und einsatzfähige
Seite“ zu berufen. Wir fordern Sie auf, Polen ein Ange- Streitkräfte, die in Qualität von Ausstattung und Ausbil-
bot zur Teilfinanzierung der Gedenkorte zu machen. dung dem internationalen Stellenwert und Gewicht unse-
res Landes entsprechen. Dabei dürfen sich die Streit-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
kräfte und die Öffentlichkeit nicht statisch auf jetzt
Zeigen Sie Gespür für unsere historische Verantwor- aktuelle Einsatzszenarien festlegen. Afghanistan kann,
tung, und bewahren Sie uns vor der Peinlichkeit, die Er- muss aber keineswegs Vorbild für künftige Einsätze
innerungsstätten deutscher Schuld in Polen verfallen zu sein. Nur ein breites militärisches Fähigkeitsprofil bietet
(B) lassen. Es kann doch nicht wahr sein, dass Erinnerungs- verschiedene Optionen, um den Anforderungen von (D)
kultur für Schwarz-Gelb darin besteht, von der Opposi- heute und morgen gerecht zu werden.
tion an ihre Aufgaben erinnert zu werden. Das heißt keineswegs, dass zwangsläufig mehr deut-
sche Soldaten in Auslandseinsätze entsandt werden. Ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sage gerade auch angesichts der aktuellen Debatten ganz
und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ offen: Wir werden stets souverän entscheiden, woran wir
CSU]: Nein, nein, nein!) uns beteiligen und woran nicht. Dabei ist unsere Bünd-
Unser System verursacht, dass wir von allem den nisverpflichtung ein entscheidender Maßstab. Ich füge
Preis kennen, aber nicht den Wert. Der Wert von Kultur hinzu: Im Zweifel ist sie der entscheidende Maßstab.
ist oft höher als ihr Preis. Meistens geht es in der Kultur- (Lachen des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE
politik nicht um große Summen. Grüne Kulturpolitik LINKE])
will, dass Mittel auch dort ankommen, wo nicht alle hin-
sehen. Wir werden ebenso in Übereinstimmung mit unseren
Partnern entscheiden, laufende Einsätze zurückzufahren,
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. An dieser sofern entsprechende Rahmenbedingungen gegeben
Stelle noch gute Besserung an unsere Kollegin Luc sind.
Jochimsen von der Partei Die Linke.
Wir müssen in der Lage sein, verantwortbare und ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lässliche Entscheidungen zu treffen. Dies setzt sicher-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- heitspolitischen Handlungsspielraum voraus, der nicht
KEN) zuletzt von einer hochwertigen Bundeswehr abhängt.
Das, was man will, muss man auch können; was man
nicht kann, sollte man auch nicht wollen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wie Sie wissen, habe ich im Mai grundlegende Ent-
Damit verlassen wir den Bereich des Bundeskanzler-
scheidungen zu Personalumfängen im Ministerium und
amtes und kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
im nachgeordneten Bereich getroffen; darüber haben wir
ministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14. anlässlich einer Regierungserklärung diskutiert. Wir ar-
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, beiten jetzt mit Hochdruck an den Einzelheiten: an den
Thomas de Maizière. künftigen Strukturen, den Folgerungen für den Personal-
umbau und damit auch für die Stationierung und die not-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wendigen Begleitmaßnahmen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14505
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
(A) Natürlich stelle ich genauso wie andere eine gewisse tung, sondern auch von sicherheitspolitischer Bedeu- (C)
Ungeduld fest. Dafür habe ich zuallererst Verständnis. tung. Im gleichen Duktus wie wir diskutieren unsere
Aber es bleibt dabei: Die Entscheidungen müssen gut Kollegen in Großbritannien, in Frankreich und sogar in
vorbereitet und durchdacht sein; sie müssen sich aufei- den USA.
nander beziehen. Deswegen fallen die Entscheidungen
nach und nach im Herbst. Spätestens bis zur zweiten und Entscheidend ist im Übrigen nicht die Entwicklung
dritten Lesung des Haushaltes sind alle Entscheidungen des kommenden Jahres, sondern die Entwicklung der
gefallen, die Stationierungsentscheidungen in der letzten nächsten Jahre. Ich will Ihnen kurz ein paar Zahlen vor-
Oktoberwoche. tragen. Nach der bisherigen Finanzplanung – ich glaube,
es war die 44. – wäre der Verteidigungshaushalt in den
Eine der einschneidendsten Veränderungen in der Ge- nächsten Jahren kontinuierlich abgesunken und hätte im
schichte der Bundeswehr haben wir bereits umgesetzt: Jahre 2015 einen Umfang von 27,6 Milliarden Euro er-
Seit Juli dieses Jahres ist die Bundeswehr eine reine reicht. Merken Sie sich bitte diese Zahl. Demgegenüber
Freiwilligenarmee. Diese Entscheidung war – ich füge sind nach der jetzt beschlossenen Finanzplanung die
hinzu: leider – richtig. Die Zeit für die Vorbereitung auf Verteidigungsausgaben in diesem Zeitraum um annä-
den neuen freiwilligen Wehrdienst war knapp. Die ersten hernd 8,6 Milliarden Euro höher. Davon fließen zwar
Freiwilligen sind da. Die Zahlen sind etwas besser als – damit wir seriös bleiben – 3,5 Milliarden Euro an die
befürchtet. Ja, es gehen auch einige weg, aber das ist al- BImA, das ist wahr, aber es verbleibt gleichwohl ein
les noch nicht besorgniserregend. Über den Erfolg dieses Substanzgewinn und damit ein solides Fundament für
Konzepts entscheiden nicht der Juli 2011 und nicht der die Finanzierung unserer Bundeswehr. Gleichzeitig leis-
Oktober 2011, sondern erst die nächsten Jahre. Deswe- ten wir mit einer moderat sinkenden Finanzlinie durch-
gen sollten wir – das ist eine herzliche Bitte an die Op- aus unseren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Ziel-
position – das Modell des freiwilligen Wehrdienstes größe bei der Finanzplanung für das Jahr 2015 sind nicht
nicht kaputtreden, sondern alles dafür tun, dass er ein Er- mehr 27,65 Milliarden Euro, sondern 30,4 Milliarden
folg wird. Euro. Ich finde, das ist eine gute Nachricht für die Bun-
deswehr und die Sicherheit unseres Landes.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte in diesem Zusammenhang darum bitten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht von einer „Berufsarmee“ zu sprechen. Es wird jetzt Das ist aber noch nicht alles. Ich bin dem Finanz-
oft gesagt: „Aus der Wehrpflichtarmee ist eine Berufs- minister Wolfgang Schäuble und meinen Kollegen im
armee geworden.“ Das ist falsch. Es ist eine Freiwilli- Kabinett sehr dankbar, dass wir noch etwas Weiteres be-
genarmee. Warum? Weil das Verhältnis von Berufs- zu schlossen haben, nämlich die Ausgaben für das zivile
(B) Zeitsoldaten jetzt ungefähr 1 zu 2,5 beträgt. Das heißt, Überhangpersonal. Das klingt jetzt sehr technisch: Da- (D)
wir haben mehr als doppelt so viele Zeitsoldaten wie Be- mit sind die Menschen gemeint, die uns wegen des Per-
rufssoldaten. Ich finde, das sollte so bleiben. Deswegen sonalabbaus auch bei der Zivilverwaltung – von jetzt
ist „Freiwilligenarmee“ die richtige Bezeichnung, nicht rund 76 000 auf 55 000 Stellen – verlassen müssen.
„Berufsarmee“. Diese Ausgaben in Höhe von 1 Milliarde Euro werden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) künftig außerhalb des Verteidigungshaushaltes veran-
schlagt. Jedenfalls bitten wir das Hohe Haus um Zustim-
Nun haben wir im Mai diskutiert. Ich erinnere mich mung. Das bedeutet, dass wir praktisch, zusätzlich zu
an Wortbeiträge der Opposition, in denen gesagt wurde: den Zahlen, die ich eben genannt habe, jedes Jahr 1 Mil-
„Ja, Herr Minister, das hört sich alles ganz gut an; aller- liarde Euro mehr zur Verfügung haben. Das ist eine noch
dings fehlt die Finanzierungsgrundlage. Ohne Finanzie- bessere Nachricht für die Bundeswehr und die Sicherheit
rungsgrundlage ist alles heiße Luft.“ Ich habe dann wie- unseres Landes. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Das
derum gesagt: „Die Kritik hört sich richtig an; aber wir führt im Jahre 2012 zu einer Erhöhung des immer Not
werden bei der Beratung des Haushalts darüber diskutie- leidenden Etats für Materialerhaltung der Bundeswehr
ren, nicht jetzt. Dafür bitte ich um Verständnis.“ Das hat um 200 Millionen Euro.
Sie geärgert, aber so sind die Spielregeln.
Bei der Neuausrichtung der Bundeswehr geht es nicht
(Zuruf von der SPD: Wir haben uns nicht nur darum, Personal abzubauen, es geht auch nicht nur
geärgert!) um die Gewinnung neuen Personals. Wir müssen uns ge-
Insofern freue ich mich, Ihnen heute die finanziellen nauso um diejenigen kümmern, die bleiben, mit denen
Grundlagen vortragen zu können. wir die Zukunft bauen wollen, die Beförderungschancen
brauchen und nicht das Gefühl haben sollen – wie
Der von der Bundesregierung am 6. Juli beschlossene manchmal vielleicht der Eindruck entsteht –, wir würden
Entwurf des Verteidigungshaushalts umfasst mit rund uns besonders um die kümmern, die kommen sollen, und
31,7 Milliarden Euro eine durchaus stattliche Summe. um die, die gehen sollen. Unser Hauptanliegen gilt na-
Die gesamtstaatliche Herausforderung, die gegenwärtige türlich denen, die bleiben. Im Rahmen eines Reformbe-
Finanzkrise zu bewältigen und die Schuldenlast künfti- gleitprogramms werden deshalb Maßnahmen zur Steige-
ger Generationen zu mindern, zwingt uns wie alle ande- rung der Attraktivität des Dienstes erarbeitet. Der
ren Politikfelder auch, Prioritäten zu setzen. Das ist nicht Regierungsentwurf zum Haushalt 2012 sieht hierfür be-
nur für die Stabilität der Wirtschafts- und Währungs- reits im Vorgriff einen Betrag von rund 200 Millionen
union – über die wir heute diskutiert haben – von Bedeu- Euro vor.
14506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung


(A) Entscheidend für den Erfolg jeder Armee ist neben Ich bitte Sie um Unterstützung bei den Beratungen zu (C)
den Menschen die Ausrüstung. Das wissen wir. Es ist diesem Haushalt und auf dem schwierigen Weg der Neu-
kein Geheimnis, dass die Beschaffungsprozesse bei uns ausrichtung, auf dem wir uns befinden. Ich biete, wie be-
erheblich verbessert werden müssen. Ich habe an anderer reits im Mai, auch der Opposition eine entsprechende
Stelle ausführlich darüber gesprochen. Die Verfahren Zusammenarbeit an. Wir brauchen eine Bundeswehr, die
dauern zu lange, Verzögerungen und Verschiebungen be- unserem Schutz und unserer Sicherheit dient, eine Bun-
gründen Bindungen für Material, das unter Umständen deswehr, die zwar knapp, aber trotzdem solide finanziert
gar nicht mehr oder nicht mehr im vorgesehenen Um- ist, eine Bundeswehr, die fest in unserer Gesellschaft
fang benötigt wird. Das führt dazu, dass uns zwar verankert und auch in Zukunft einsatzbereit ist.
23 Prozent des Haushaltes für Investitionen zur Verfü-
gung stehen, aber nur auf dem Papier. Fast alles ist durch Vielen Dank.
Bestellungen, die in der Vergangenheit getätigt wurden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gebunden. Das ist kein Vorwurf; Bestellungen dauern
lange. Aber für die Zukunft ist es eine schlechte Nach-
richt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Rainer Arnold hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Ich habe deswegen die Erarbeitung eines Konzepts in
Auftrag gegeben, wie wir mit Blick auf das neue Fähig-
keitsprofil der Bundeswehr Spielräume zurückgewinnen Rainer Arnold (SPD):
können. Das heißt, wir werden die geplanten Rüstungs- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
beschaffungen unabhängig von der Frage, ob sie vertrag- Diese Bundesregierung hat nicht abgewirtschaftet. Nein,
lich gebunden sind oder nicht, priorisieren. Dann werde das wäre gar nicht möglich. Sie hat vom ersten Tag an
ich Vertreter der Rüstungsindustrie einladen und mit ih- nicht Tritt gefasst.
nen Folgendes besprechen: Es gibt zwei Varianten. Die
eine Variante ist: Wir bezahlen, was bestellt ist, und stel- (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wahr!)
len die Dinge, die wir nicht mehr brauchen, auf den Hof; Sie sucht nach ihrem Markenkern. Ihr Markenkern ist
dann können wir nichts Neues bestellen. Die andere Va- Chaos, Streit und Gewurstel. Das ist die Situation.
riante ist: Wir passen die Planungen an; die Mittel, die
dadurch frei werden, können wir für neue Bestellungen (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD] –
nutzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns auf den Dr. Volker Wissing [FDP]: Markenkern der
zweiten Weg verständigen können. Opposition ist Gefasel!)

(B) Ein Wort zur Stationierung. Ich weiß, dass dieses Das ist schlecht für unser Land und schlecht für die (D)
Thema viele von Ihnen betrifft. Ich bin im Augenblick deutsche Sicherheitspolitik. Das ist schlecht für die Bun-
einer der gefragtesten Gesprächspartner der Kolleginnen deswehr. Fehlentscheidungen und Versäumnisse treffen
und Kollegen im Deutschen Bundestag. Ich freue mich, bei der Bundeswehr insbesondere Menschen, die keinen
wenn Kollegen zu mir kommen und sagen: Bei mir ist alltäglichen Beruf ausüben, die, wenn es notwendig ist,
kein Standort mehr; mit mir können Sie ganz entspannt ihre Gesundheit und ihr Leben für deutsche Sicherheits-
reden. interessen riskieren. Deshalb habe ich viel Verständnis
dafür, wenn Soldaten und Zivilbeschäftigte besonders
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU –
empfindlich reagieren, wenn sogenannte Reformen
Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/
nichts anderes sind als die Durchsetzung von Spardikta-
CSU]: Die haben es schon hinter sich!)
ten zulasten der Beschäftigten und der Truppe.
Ich möchte Folgendes sagen: Wir machen das nicht aus
Jux und Tollerei. Wir machen das auch nicht unter dem (Beifall bei der SPD)
Aspekt der Beliebtheit. Es spielt auch keine Rolle, wer Wir Politiker schicken die Frauen und Männer in den
am lautesten schreit. Wir machen das nach Kriterien. Einsatz. Deshalb haben sie einen besonderen Anspruch
Wir machen das nach fachlichen Überlegungen. Wir ma- darauf, dass wir verantwortlich mit ihrer Situation umge-
chen das ganz transparent. Wir hoffen, dass am Ende je- hen. In den letzten beiden Jahren haben die Koalitions-
der versteht: Diese Entscheidungen sind schmerzlich, fraktionen – das gilt vor allem für die CDU/CSU-Frak-
aber nötig. tion, die immer geglaubt hat, dass die Bundeswehr ihr
Es bleibt dabei – das muss ich leider auch den Vertre- Markenkern ist – im Grunde genommen alles abgenickt,
tern der Länder und Kommunen sagen –: Das, was wir was die Bundesregierung an Falschem vorgeschlagen
tun, basiert auf einer Bundesentscheidung. Wir treffen hat. Der schludrige Übergang zu einem freiwilligen
die Entscheidung nach fachlichen Überlegungen. Die Grundwehrdienst ist ein Beleg für den schändlichen Um-
Verteilung von Bundeswehrstandorten ist kein Struktur- gang der Bundesregierung mit dem Parlament. Erst in
programm für die Länder. Ich weiß, dass das strukturelle der letzten Woche wurde wieder sichtbar, wie diese Bun-
Auswirkungen hat, dass so etwas in Überlegungen ein- desregierung das Parlament missachtet. Wir haben ge-
fließt, aber das erkenntnisleitende Motiv kann nicht die meinsam einen Antrag eingebracht, um die Einsatzver-
Strukturpolitik für Länder und Kommunen sein, so leid sorgung der Soldaten deutlich zu verbessern. Die
mir das tut. Bundesregierung scherte sich aber nicht darum, sie be-
schloss sogar etwas anderes. Wichtige Punkte wurden
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht aufgenommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14507
Rainer Arnold
(A) Kolleginnen und Kollegen, Sie werden sich der Frage Vorgänger. Die Ruhe und Nachdenklichkeit begrüßen (C)
stellen müssen, ob man bei einem Schädigungsgrad von wir. Sie haben heute Ihr Angebot wiederholt, mit der Op-
30 Prozent – vor allen Dingen, wenn es um psychische position zu diskutieren. Das ist richtig, und wir sind gern
Erkrankungen geht –, so stark beschädigt ist, dass man bereit, die Debatten dort, wo es um straffere Organisa-
einen Anspruch darauf hat, dass der Arbeitgeber Bun- tionsstrukturen und um einen moderaten Personalaufbau
deswehr einem trotzdem eine Zukunft bietet. Wir wer- geht, konstruktiv zu begleiten.
den Ihnen diese Frage stellen. Sie werden Gelegenheit
haben, dieser Bundesregierung endlich einmal zu wider- Herr Minister, bisher haben Sie aber alle Ideen der
sprechen. Opposition in den Wind geschlagen. Die vielen guten
auf dem Tisch liegenden Vorschläge darüber, wie man
(Beifall bei der SPD) den freiwilligen Wehrdienst und den Jugendfreiwilligen-
Die Koalition versagt bei den sicherheitspolitischen dienst attraktiver ausgestaltet, werden nicht aufgenom-
Herausforderungen. Sie zeigt mangelndes Engagement men. Mit der Opposition mögen Sie so umgehen, Sie
in der internationalen Politik, vor allen Dingen bei der sollten so aber nicht mit den Menschen in der Bundes-
notwendigen Debatte um eine stärkere Europäisierung wehr umgehen.
der Sicherheitspolitik. Das, was Sie diskutieren, hört sich alles schön an.
Herr Minister, Sie haben von Ihrem Vorgänger eine Herr Minister, wenn man sich aber in der Truppe um-
Reform übernommen, die eine Reformruine war. Schon hört, dann stellt man fest: Die Stimmung ist im Augen-
jetzt zeigt sich: Die Bausteine, die Sie derzeit diskutie- blick katastrophal. Es gibt keine Aufgabenkritik, und es
ren, sind in zu geringer Anzahl vorhanden und passen gibt keine offene und transparente Debatte über Prioritä-
nicht zusammen. Es bleibt dabei: Die Ausstattung der ten der Sicherheitspolitik. Man gewinnt immer stärker
Streitkräfte nach der mittelfristigen Finanzplanung ist den Eindruck, dass Sie zwar geduldig zuhören, aber ent-
unzureichend, und Sie schaffen keine Haushaltsklarheit. schlossen sind, am Ende zusammen mit Ihrem Staats-
Es wird versucht, über andere Haushaltstitel Personal zu sekretär Ihre fiskalischen Vorgaben für die Bundeswehr
finanzieren. Noch besser ist dies: Personal geht in andere mit der Brechstange durchzusetzen.
Ressorts, und dann bekommen die Ressorts das Geld. Es geht in erster Linie um Einsparungen beim Perso-
Das ist alles andere als Transparenz und eine präzise nal. Ihre Aussage, dass man auch etwas für die vorhan-
Haushaltspolitik. denen und bleibenden Soldaten und Zivilbeschäftigten
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Haben Sie tut, ist leider nicht richtig. Nichts ist bisher passiert. Sie
denn einen Vorschlag, Herr Arnold?) treffen schwerwiegende Entscheidungen von oben he-
rab. Das ist so. Sie ignorieren die Bedenken der kompe-
(B) – Kommt noch. tenten Ratgeber und auch der legitimierten Personalver- (D)
Sie haben die Wehrpflicht mitten in diesem Jahr aus- tretungen. Sie dürfen sich deshalb nicht wundern, wenn
gesetzt. Das Geld war aber für das gesamte Jahr veran- sich innerhalb der Truppe ein Stück weit Resignation
schlagt. Es gibt keine Debatte darüber, was mit diesen und Ohnmacht breitmachen. Noch nie wurde eine Re-
Mitteln geschieht und wofür sie verwendet werden. Ich form so schlecht kommuniziert, noch nie wurde eine Re-
könnte noch viele Beispiele anführen. form so wenig von den Soldaten mitgetragen.
Das Allerschlimmste ist: Diese Finanzpolitik schlägt Je tiefer man in die augenblickliche Debatte hinein-
inzwischen auf die Einsätze durch. Das ist einfach so. leuchtet, desto klarer wird: Es kann nicht zusammenpas-
Ich gehöre nicht zu denen, die für einfache Lösungen sen, mit weniger Personal und weniger Geld am Ende
plädieren. Ich weiß auch, dass es keine hundertprozen- mehr zu leisten. Das wird nicht aufgehen; das versteht
tige Sicherheit gibt. Aber dafür, dass die Anzahl der jeder.
Flugstunden der ohnehin wenigen Hubschrauber auf-
(Beifall bei der SPD)
grund des Geldes dramatisch beschnitten wird, tragen
Sie, Herr Minister, die Verantwortung. Wenn in Afgha- Natürlich haben Sie recht. Internationales Gewicht
nistan Munition fehlt und wenn nicht ausreichend Nacht- entsteht nicht nur aus starken Streitkräften. Das ist wohl
sichtgeräte zur Verfügung stehen, dann ist dies Ihre Ver- wahr. Es gibt den Begriff der vernetzten Sicherheit.
antwortung. Das ist Ihre Entscheidung. Wenn Deutschland aber die Stärke seiner Streitkräfte so
Sie tun immer so, als wäre Sparen unabdingbar. So- weit zurückfährt, dass es in der internationalen Politik
lange Ihre Koalition davon träumt, Steuern zu senken, eher durch kluge Ratschläge oder – wie der Außenminis-
solange Sie den Hoteliers nach wie vor Steuergeschenke ter – sogar durch Besserwisserei auffällt, dann hat sich
gewähren, Deutschland von der sicherheitspolitischen Debatte in
der Politik abgemeldet, Herr Minister. Dies führt zu ei-
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Langweilig! – ner Schwächung Deutschlands und zu einer Schwächung
Weitere Zurufe von der CDU/CSU) unseres Einflusses hinsichtlich der Durchsetzung unserer
Interessen. Herr Minister, dieser Grundkonsens in der
so lange erzählen Sie den Soldaten bitte nicht, die Kür-
Sicherheitspolitik ist uns wichtig, zumal Sie eine Reform
zungen in ihrem Bereich seien unabdingbar. Sie haben
machen, die Menschen betrifft, die irreversibel ist und
andere Spielräume, Sie nutzen sie nicht.
mit der auch die nächste Regierung leben muss. Deshalb
Ich komme zum Kern der Reform. Es ist sicher ange- lassen Sie mich noch einmal sagen, über welche Punkte
nehm, dass der Minister im Stil anders vorgeht als sein wir reden sollten, wenn Sie das Angebot ernst meinen.
14508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Rainer Arnold
(A) Wir haben unsere Vorstellungen. Dazu gehört vor lassen, als er im Dezember 2010 gesagt hat: Bereits im (C)
allen Dingen: Beseitigen Sie den Grundfehler, und geste- Januar 2011 werden wir die ersten Attraktivitätsmaßnah-
hen Sie endlich ein, dass die Vorgaben des Sparens nicht men einleiten. – Jetzt ist September. 82 Vorschläge ruhen
kompatibel sind mit den Anforderungen, die dieses in der Schublade. Nichts ist passiert. Die Koalitionsfrak-
wichtige und große Land Deutschland an seine Streit- tionen haben unser Ansinnen, einen Unterausschuss ein-
kräfte hat. Machen Sie den Haushalt also ehrlich und zurichten, der sich mit der Attraktivitätssteigerung be-
transparent. fassen, die Regierung begleiten und, wo notwendig,
drängen soll, abgelehnt. Mein Eindruck ist: Herr Minis-
Das Nächste ist: Korrigieren Sie den völlig überzoge- ter, Sie wollen, auch wenn Sie heute davon gesprochen
nen geplanten Abbau beim Zivilpersonal. Alle Streit- haben, nicht mehr für Attraktivität tun. Ich habe genau
kräfte, die die Zahl der Soldaten reduziert haben, haben zugehört, und ich werde gleich sagen, was ich davon
die Relation von Soldaten zu Zivilbeschäftigten zuguns- halte.
ten der Zivilbeschäftigten verbessert. Das ist ja auch
schlüssig: Die Soldaten müssen sich in einem solche Fall Sie haben die 200 Millionen Euro erwähnt – ich hatte
auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und brauchen mehr befürchtet, dass Sie sie erwähnen werden –, aber Sie ha-
und nicht weniger Unterstützung durch zivile Mitarbei- ben nichts dazu gesagt, dass von diesen 200 Millionen
terinnen und Mitarbeiter. Herr Minister, lassen Sie von Euro bereits drei Viertel, 150 Millionen Euro, dafür ver-
dem Vorhaben ab – Sie haben wahrscheinlich schon ge- vespert sind, dass Sie den Soldatinnen und Soldaten end-
merkt, dass dieser Personalabbau so nicht funktioniert –, lich ein bisschen mehr Geld für geleistete Mehrarbeit ge-
einen Teil der Zivilbeschäftigten in ein anderes Ressort ben; das ist übrigens noch gar nicht ausreichend. Das
auszulagern; denn dadurch, dass sie von einem anderen heißt, das Geld ist schon vervespert; damit kann man
Ressort finanziert werden, wird nichts gespart. Sie soll- nicht mehr viele neue Ideen entwickeln.
ten vor allen Dingen deshalb davon ablassen: Wir haben
(Beifall bei der SPD)
jetzt schon das Problem, dass der Innenminister, und
zwar egal welcher Regierung, nicht immer versteht, dass Eines ist klar. Wenn es nicht gelingt, ein Attraktivitäts-
der Soldatenberuf etwas Besonders ist und der Soldat programm für die Bundeswehr aufzulegen – das wird
nicht mit anderen Beamten zu vergleichen ist. Wenn Sie nicht von heute auf morgen gehen, aber in Stufen –, dann
das Personalwesen an das Innenministerium übertragen, werden wir in 10, 15 Jahren eine andere Bundeswehr ha-
wird diese Kluft, die zulasten der Soldaten besteht, nicht ben. Wir werden noch Menschen finden, aber nicht sol-
mehr überbrückt werden können. Herr Minister, wir re- che, die wir für die Streitkräfte in einer Demokratie als
den über Menschen. Das sind keine Figuren auf dem Staatsbürger in Uniform brauchen.
Schachbrett, die man beliebig hin- und herschieben
(B) kann. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie die al- Ich habe noch keine Bundesregierung erlebt, die unter (D)
ten Prinzipien des treu dienenden preußischen Beamten dem Strich so wenig Engagement in sicherheitspoliti-
für sehr wichtig erachten. schen Fragen im Inneren und in der internationalen Poli-
tik gezeigt hat.
(Elke Hoff [FDP]: Kennen Sie Herrn
Scharping?) (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
CSU und der FDP – Ingo Gädechens [CDU/
Diese kann man auch von Beamten auf A-15- oder B-Stel- CSU]: Denken Sie mal an Scharping zurück!)
len verlangen. Aber die Wirklichkeit bei der zivilen
Schauen Sie doch einmal, wie es die Franzosen und die
Wehrverwaltung ist ganz anders.
Briten machen; die Deutschen stehen nur staunend dane-
(Elke Hoff [FDP]: Der größte Aderlass war bei ben. Es gibt keine Impulse, nicht vom Außenminister,
Minister Scharping, Herr Kollege!) nicht von der Kanzlerin, nicht vom Verteidigungsminis-
ter. Wie in allen anderen Politikfeldern reagiert diese
70 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdie- Regierung nur noch, aber sie agiert nicht mehr mit Ideen.
nen zwischen 1 300 und 1 550 Euro netto. Diese Men-
schen kann man nicht beliebig verschieben. Man muss Herzlichen Dank.
ihnen ihr soziales Gefüge lassen; sie sind zum Beispiel (Beifall bei der SPD – Christian Lange [Back-
alleinerziehend und haben viele Dinge zu bewältigen. nang] [SPD]: Die schlechteste Regierung aller
(Beifall bei der SPD) Zeiten!)
Herr Minister, wir brauchen deren technische Fähig-
keiten. Ohne die Zivilbeschäftigten wird kein Flieger Vizepräsident Eduard Oswald:
fliegen und kein Schiff auslaufen können. Herr Minister, Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-
korrigieren Sie deshalb an dieser Stelle. Sonst würden serer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
wir nur vermeintlich sparen und müssten am Ende fest- Dr. Jürgen Koppelin.
stellen, dass uns die zivilen Mitarbeiter fehlen und wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der Wirtschaft deshalb weitere Aufträge geben müssen.
Das wird teurer und nicht billiger. Nehmen Sie also den
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
überzogenen Personalabbau zurück!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich komme zu der letzten Forderung, die uns beson- Verehrter Herr Kollege Arnold, die Sommerpause war ja
ders am Herzen liegt. Ihr Vorgänger hat sich bejubeln länger. Sie haben den Haushaltsentwurf sicher schon seit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14509
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(A) einigen Tagen in Ihrem Büro liegen. Ich hätte Ihnen das wir zur Verfügung gestellt haben, geblieben? In Ih- (C)
dringend geraten, den Entwurf zu lesen, statt Ihren Kas- ren Regierungszeiten – Sie haben ja einige Verteidi-
ten mit den Polemikzetteln herauszuholen. gungsminister gestellt – ist es bei der Bundeswehr zu
vielen Doppelstrukturen gekommen; auf einige Bei-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der
spiele komme ich noch zu sprechen. Es gibt auch Aufga-
CDU/CSU)
ben, die heute nicht mehr notwendig sind. Darüber wer-
Sie haben in Ihrem Beitrag nichts dazu gesagt, was die den wir uns in den Haushaltsberatungen unterhalten.
Sozialdemokraten wollen. Sie haben nur Polemik ge- Daran können Sie sich dann beteiligen. Wir müssen
streut, was wohl auch Ihr Ziel war. Das war zumindest nämlich erst einmal überprüfen: „Wo bleibt unser
mein Eindruck, weil Sie Ihre Polemik so massiv vorge- Geld?“, statt immer zu sagen: Die Bundeswehr ist unter-
tragen haben. finanziert.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das Ich nenne Ihnen Beispiele. Wir haben uns in dieser
stimmt doch gar nicht! Sie haben wohl nicht Koalition unter anderem mit dem Rüstungsmaterial be-
richtig zugehört! Nicht nur die schlechteste schäftigt; zum Thema Rüstung haben Sie überhaupt
Regierung! Sie können noch nicht mal richtig nicht Stellung genommen. Teilweise handelt es sich um
zuhören!) Rüstungsmaterial, das noch in rot-grüner Regierungsver-
antwortung bestellt wurde. Zum Teil brauchen wir es
Sie wollten die Angehörigen der Bundeswehr verunsi-
heute gar nicht mehr, oder wir brauchen es nur noch in
chern – nichts anderes. Sie wollten vieles kaputtreden.
geringerer Stückzahl. Wir haben die Zahl der Bestellun-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen des A400M reduziert; dies wird sich langfristig aus-
wirken. Wir werden uns – darauf legen wir Freie Demo-
Ich mache das an einem Beispiel deutlich. Der Minis- kraten wert – von MEADS verabschieden.
ter hat gesagt – das konnten diejenigen, die sich mit Ver-
teidigungspolitik beschäftigen, seit Wochen zur Kennt- Nun komme ich zu einem großen Reformprojekt von
nis nehmen –: Im Herbst wird das abschließende Rot-Grün bzw. von Herrn Scharping in Bezug auf die
Konzept der Bundeswehrreform vorgestellt. Ich kann Bundeswehr: zum Bundeswehr-Fuhrpark.
nur sagen: Ich kenne es derzeit nicht. Natürlich hat uns
der Minister dazu bereits Allgemeines vorgetragen; aber (Heiterkeit der Abg. Elke Hoff [FDP])
die Feinheiten kennen wir nicht. Wieso können die So- Dazu haben wir gerade einen Bericht des Rechnungs-
zialdemokraten die Reform schon jetzt beurteilen – ich hofes bekommen. Das Ergebnis ist vernichtend. Das war
habe auch entsprechende Zeitungsartikel mitgebracht, in eines Ihrer großen Reformprojekte. Das betone ich, weil
denen es zum Beispiel heißt, die Bundeswehr marschiert Sie sagen, die Bundeswehr sei unterfinanziert. Sie for- (D)
(B)
ins Chaos usw. –, obwohl sie das Konzept gar nicht ken- derten uns auch auf, an das Zivilpersonal zu denken. Das
nen? So machen Sie Politik. Sie schaden der Bundes- ist allemal richtig. Das tun wir auch. Der Rechnungshof
wehr mit dieser Form von Angriffen. Die Bundeswehr schätzt in seinem Bericht, dass etwa 25 000 Personen
ist eine Parlamentsarmee. Vielleicht sollte man in der teilweise oder ganz mit Fuhrparkaufgaben beschäftigt
Diskussion über den Verteidigungsetat etwas anders ar- sind. 25 000 Personen allein beim Bundeswehr-Fuhr-
gumentieren als bei anderen Etats. park! Das muss man sich einmal vor Augen führen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Rechnungshof sagt darüber hinaus: Wir brauchen
Der größte Verteidigungsexperte, den wir seit kurzem dringend eine Straffung des Fuhrparks. Dadurch könnten
haben, ist der SPD-Vorsitzende Gabriel; ich werde noch Einsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden. – Das
einige seiner Aussagen zitieren. Er erklärte zum Bei- ist nur ein Beispiel. Aus Zeitgründen erspare ich es mir,
spiel, die Reform sei unzureichend. Außerdem sagte er, Herr Kollege Arnold, auf das berühmte rot-grüne Projekt
die SPD hätte vieles anders gemacht. Er sagte zwar nicht Herkules einzugehen – ein Milliardengrab. Aber Sie er-
konkret, was, nannte aber zwei Punkte. Da ich diese zählen etwas von Unterfinanzierung. Nein, wir werden
zwei Punkte sehr interessant finde, möchte ich sie vor- uns alle Positionen ansehen. Ich glaube, es ist genug
tragen. Forderung Nummer eins lautete: Mehr Geld für Geld da. Es muss aber teilweise anders eingesetzt wer-
die Bundeswehr! Denn die Bundeswehr sei chronisch den; da gebe ich Ihnen recht.
unterfinanziert. So haben Sie sich auch heute geäußert; Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Ich
dazu sage ich Ihnen gleich etwas. Zweitens hat Herr sagte bereits: Der große neue Verteidigungsexperte ist
Gabriel an der Bundeswehr-Universität in Hamburg den der SPD-Vorsitzende Gabriel. Im Juni las ich, dass Herr
Vorschlag gemacht – dazu ist heute gar nicht Stellung Gabriel erklärt hat, die Marine habe einen Nachhol-
genommen worden; das hätte mich allerdings sehr inte- bedarf bei der materiellen Ausstattung, insbesondere bei
ressiert –, eine europäische Armee zu schaffen. Zum Schiffen. Da bin ich gespannt! Ich wundere mich, wo Sie
Parlamentsvorbehalt und all diesen Dingen hat er sich Schiffe bestellen wollen und welche Sie bestellen wol-
übrigens überhaupt nicht geäußert. len.
Mich würde interessieren: Erstens: Wie stehen die (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der
Verteidigungspolitiker der SPD dazu? Zweitens: Wie CDU/CSU)
soll das alles jetzt umgesetzt werden? Ich sage Ihnen:
Die Parole des Tages heißt nicht unbedingt „Mehr Das würde mich sehr interessieren, vor allem, wie Sie sie
Geld!“, sondern es geht um die Frage: Wo ist das Geld, bezahlen wollen.
14510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) Ich stelle fest: 2001 hat Rot-Grün – damals war auch ist teilweise so niedrig, Herr Minister – daran waren Sie (C)
ich dafür – für über 1 Milliarde Euro Korvetten bestellt. als Innenminister nicht ganz unschuldig; hoffentlich sind
Das war vor zehn Jahren. Diese Korvetten fahren aber Sie als Verteidigungsminister hier etwas aufgeschlosse-
immer noch nicht, obwohl wir sie schon überwiegend ner –, dass man davon keine Familie ernähren kann.
bezahlt haben.
Viertens – das ist mir persönlich immer ein Anliegen
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: gewesen –: Wir wollen endlich die Entschädigung – das
Das liegt aber nicht an Rot-Grün!) werden wir in diesem Haushalt umsetzen – für die Strah-
lenopfer der NVA und der Bundeswehr. Diese Angele-
Warum sie nicht fahren und wie damals die Bestellung
genheit werden wir mit diesem Haushalt zum Abschluss
abgelaufen ist, würde mich ganz besonders interessieren.
bringen. Das halte ich für dringend erforderlich.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Da müssen Sie den Minister fragen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
– Kleinen Moment! – Ich sage Ihnen Folgendes: Ich
zweifle nicht an unserer Marine. Ich habe eher Zweifel Fünftens. Wie auch beim Haushalt 2011 werden wir
am Bundeswehrbeschaffungsamt. Auch das werden wir Freie Demokraten uns intensiv mit dem Sanitätswesen
uns einmal ansehen. der Bundeswehr beschäftigen und, wenn notwendig,
Verbesserungen herbeiführen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verteidigungs-
Es ist meine Auffassung, auch das anzugehen. Aber Sie etat 2012 – damit komme ich zum Schluss – ist sicher
weigern sich, weil man dann – das mag der Kollege ein wichtiger Baustein bei der Reform der Bundeswehr.
Arnold nicht hören – vielleicht irgendwelchen Leuten Das ist ein großes Vorhaben. Kollege Arnold, nicht Pole-
wehtun muss. mik ist zurzeit gefordert, sondern sachliche und realisti-
Ich kann Ihnen für die FDP sagen: Wir werden bei sche Beiträge der Opposition sind gefordert. Wenn Sie
den Haushaltsberatungen unsere Zielsetzungen im Blick das nicht können, überlassen Sie das Ihren Kollegen.
behalten; das ist ganz klar, das ist auch mit Kollegin Herzlichen Dank.
Hoff und anderen besprochen worden. Ich nenne sie ih-
nen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Erstens – ich hoffe, da sind wir alle einer Meinung,
und ich weiß ja, in den Berichterstattergesprächen läuft Vizepräsident Eduard Oswald:
(B) das alles sehr harmonisch –: Unsere Soldaten im Einsatz Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster auf unserer (D)
müssen das beste Material bekommen, das notwendig ist Rednerliste ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
und das vor allem auch ihr Leben schützt. Das steht ganz Paul Schäfer. Bitte schön, Kollege Paul Schäfer.
obenan. (Beifall bei der LINKEN)
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
Jawohl!) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Zweitens. Die Einsatzversorgung unserer Soldatinnen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
und Soldaten muss verbessert werden. Kolleginnen und Kollegen! Vieles dreht sich in diesen
Tagen um den 11. September 2001. Dabei droht ein an-
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: deres Datum in Vergessenheit zu geraten, der 4. Septem-
Jawohl!) ber. Am 4. September vor zwei Jahren wurde in Kunduz
Hier werden und wollen wir an dem Gesetzentwurf der durch einen deutschen Oberst der Befehl zum Bomben-
Bundesregierung Verbesserungen vornehmen. Ich finde angriff gegeben. Über 100 getötete Zivilpersonen sind
– das muss mit aufgenommen werden, oder wir nehmen zu beklagen. Dieses Datum sollten wir nicht ganz ver-
es in den Haushaltsentwurf mit auf –, gessen.
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: (Elke Hoff [FDP]: Was hat das jetzt mit dem Haus-
Ja!) halt zu tun? Das gehört zum Haushalt?)
dass auch die Angehörigen von Soldaten, wenn diese Zurück zum 11.09.
ärztlich behandelt werden müssen, mit betreut werden
(Elke Hoff [FDP]: Zurück zum Haushalt!)
sollten und wir dafür die Kosten übernehmen müssen.
Das halte ich für selbstverständlich. – Ich komme noch zum Haushalt. Warten Sie, Frau Kol-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten legin! – Es ist höchst spannend, noch einmal nachzule-
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE sen, was der damalige deutsche Außenminister vor der
GRÜNEN) UNO in New York gesagt hat. Es müsse um den Dialog
der Kulturen gehen, um zivile Konfliktprävention,
Drittens. Wir brauchen in allen Bereichen Planstellen- Kampf gegen die Armut, gerechte Globalisierung und,
verbesserungen. 6 000 Verbesserungen bei Planstellen jetzt fast wörtlich, um eine Eine-Welt-Politik, die nicht
sind schon fest. Ich sage aber auch: Die Besoldung bei auf hegemonialen Ansprüchen, sondern auf Kooperation
der Bundeswehr – das müssen wir uns einmal ansehen – und Solidarität gründe.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14511
Paul Schäfer (Köln)
(A) Das waren die Stichworte. Alles sollte anders werden. Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt und (C)
Es ist vieles anders geworden, aber in die falsche Rich- wiederhole es gerne – gerade weil Sie, Herr Minister, er-
tung. Demokratien haben Schaden genommen, Despotien klärt haben: Afghanistan muss nicht ein Szenario für die
wurden im Rahmen von Antiterrorkoalitionen geadelt, Zukunft sein, könnte es aber sein –: Afghanistan ist
zwei Kriege wurden begonnen. Damit bin ich beim keine Blaupause für künftige Bundeswehreinsätze. Es
Thema. darf keine Blaupause sein.
Der hoch angesehene US-Ökonom Joseph Stiglitz hat (Beifall bei der LINKEN)
die Kosten der USA für die beiden Kriege im Irak und in
Afghanistan auf 2 Billionen Dollar geschätzt, also Damit sind wir bei den Grundlagen der Bundeswehr-
2 000 Milliarden Dollar. planung und auch bei der Frage, wie viel Geld zukünftig
für die Streitkräfte ausgegeben werden soll. Man hätte
(Elke Hoff [FDP]: Aber nicht für die Bundes- eine genaue und schonungslose Bilanz dieser Auslands-
regierung!) einsätze aufstellen sollen. Das tun Sie nicht, sondern set-
Merken Sie sich diese Zahl. Jeffrey Sachs, ein anderer zen den Irrweg fort, die Bundeswehr zu einer auch welt-
angesehener US-Ökonom, hat gesagt: Wenn wir das UN- weit einsetzbaren Interventionsarmee auszubauen. Dazu
Millenniumsziel, die Halbierung der Armut bis 2015, er- sagen wir Nein.
reichen wollen, dann müssten die öffentlichen Entwick- Sie haben das jetzt in Form der Verteidigungspoliti-
lungsausgaben in allen Ländern jährlich um 130 Milliar- schen Richtlinien noch einmal fundiert. Das, was darin
den Dollar angehoben werden. Das sind die zwei Zahlen. steht, ist ein alter Hut. Es ist fast deckungsgleich mit
Sie können sich selber ausrechnen: Das 2001 einge- dem, was 1991 darin stand.
forderte Programm zur Beseitigung von Hunger, Armut (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Fast
und Elend in der Welt hätte mit den Kriegsausgaben alle- wortgleich!)
mal finanziert werden können. Das hätte die Konse-
quenz aus dem 11. September sein müssen, nicht der tö- – Fast wortgleich. – Interessanterweise tauchte dort auch
richte Krieg gegen den Terror. erstmals der Gedanke auf, dass die Sicherung der Han-
delswege und unseres Rohstoffzuganges eine sicher-
(Beifall bei der LINKEN) heitspolitische Angelegenheit sei. Damals hat man aber
Der eine Krieg im Irak hat Gewalt und Terror gera- noch schnell abgewiegelt und gesagt, mit der Entsen-
dezu angefacht. Beim anderen Krieg in Afghanistan dung von Soldaten habe das, bitte schön, überhaupt
kann man sagen: Gut, das Land ist von den Taliban be- nichts zu tun.
(B) freit worden. – Aber sie sind längst wieder da. Aus an- (D)
Da sind Sie inzwischen sehr viel weiter. Beim Mari-
fänglich 5 000 sind inzwischen 140 000 NATO-Soldaten
neeinsatz am Horn von Afrika werden ja bereits Han-
geworden. Von einer Eindämmung der Gewalt kann
delswege gesichert. Diese Philosophie ist also offen-
keine Rede sein.
sichtlich schon in den Köpfen der Militärplaner
Experten, zum Beispiel aus der Stiftung Wissenschaft verankert und beginnt Realität zu werden.
und Politik, zeichnen gerade in diesen Tagen ein eher
düsteres Bild, was die Zukunft des geplagten Landes an- Ich sage Ihnen eines: Die Quintessenz dieser Einsatz-
geht. Das mag man als Plädoyer dafür lesen, dass die philosophie – Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen
NATO noch viel länger im Land bleiben muss. Aber mit militärischer Gewalt – ist, die wirtschaftliche und
dann hat man nicht genau hingeschaut. Wir bleiben da- politische Vormachtstellung der NATO- und der EU-
bei: Krieg gebiert neuen Hass und neue Kämpfer gegen Staaten notfalls auch mit Waffengewalt aufrechtzuerhal-
die fremden Truppen. Deshalb ist der Einsatz der NATO ten. Genau das halten wir für abwegig, ja für abenteuer-
ursächlicher Teil dieser Konflikteskalation. lich und lehnen es grundsätzlich ab.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Eine weitere Lektion lautet: Man kann den Teufel Mit dem vorliegenden Etat soll dieser Umbau der
nicht mit Beelzebub austreiben. Demokratie setzt einen Bundeswehr vorangetrieben und fortgeschrieben wer-
längeren Entwicklungsprozess in den betreffenden Län- den. Das halten wir für grundfalsch. Wir schlagen Alter-
dern selbst voraus, der nicht mit Waffengewalt und nicht nativen vor.
von außen ins Werk gesetzt werden kann. Diese Lektion
Erstens. Die Bundeswehr darf sich nicht mehr an
müssen wir kapieren.
Kriegseinsätzen beteiligen. Allein damit sparen wir über
Viele Menschen sehen das genauso. Sie sagen trotz 1 Milliarde Euro.
hoher Akzeptanzwerte für die Bundeswehr – das ist ja
auch bemerkenswert –: Die Truppen sollten aus Afgha- Zweitens. Die Bundeswehr sollte innerhalb eines
nistan zurückgeholt werden. – Ich finde, sie haben recht. Jahrzehnts halbiert, also auf 125 000 Menschen reduziert
Die Bundeswehr sollte aus Afghanistan abgezogen wer- werden, und sie sollte auf die Landesverteidigung im
den. Aber das Töten sollte nicht erst 2014 oder 2015 be- Bündnis zurückgeführt werden. Diese Art Risikovor-
endet werden, sondern jetzt. sorge ist vertretbar. Ein Sicherheitsrisiko besteht eben
nicht, weil wir auf absehbare Zeit nicht militärisch be-
(Beifall bei der LINKEN) droht sind.
14512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Paul Schäfer (Köln)


(A) Drittens. Mit dieser Neuausrichtung, die zu den Wur- zivile Berufsleben – das bedeutet auch eine vernünftige (C)
zeln des Grundgesetzes zurückführt – siehe Art. 87 a –, Ausbildung – und um eine bessere Absicherung im Al-
können zugleich milliardenschwere Beschaffungsvorha- ter. Das alles kostet Geld.
ben eingedampft bzw. gestoppt werden. Wir reden hier
beispielsweise über den Eurofighter – 22 Milliarden Euro – Nehmen wir die Zivilbeschäftigten. Sie wollen ein
und den Lufttransporter A400M – 9 Milliarden Euro –; Drittel der Stellen abbauen. Die von Ihnen vorgegebene
es kommen noch sehr viele andere Projekte hinzu. Zielzahl von 55 000 Dienstposten ist Ergebnis einer pu-
ren Computerrechnung. Das ist schon angesprochen
Herr Minister, mit diesem Haushaltsentwurf und der worden. Eine Analyse dessen, was an Dienstposten nötig
vorgelegten mittelfristigen Finanzplanung schreiben Sie ist, gibt es nicht. Sie machen eine rein mathematische
fest, dass die Rüstungsausgaben auf einem hohen Rechnung auf. Das wird den Menschen, die in diesem
Niveau bleiben – damit aber auch, dass es aus dem Bereich beschäftigt sind, in keiner Weise gerecht. An
Wehretat keinen nennenswerten Beitrag zur Haushalts- dieser Stelle sind Nachbesserungen erforderlich, um die
konsolidierung gibt. Wehrverwaltung als zivile Säule der Bundeswehr ar-
beitsfähig zu halten. Hier muss nachgebessert werden.
Trotzdem sage ich Ihnen voraus: Diese Mittel werden
nicht ausreichen, damit die Truppe die ihr von Ihnen zu- Vor allem aber kann es nicht angehen, dass bei der
gedachten Aufträge auch ausführen kann. Dazu wird es Fürsorge geknausert und bei den Waffenbeschaffungen
nämlich kommen. Das halte ich für keine weitsichtige geklotzt wird. Nehmen wir nur die Betroffenen bei Aus-
Politik. Es ist Fortsetzung des Durchwurstelns. Davon landseinsätzen; auch das ist schon erwähnt worden. Es
haben die Angehörigen der Bundeswehr schon mehr als hat ein Jahr gedauert, bis die Regierung nun den Antrag
genug gehabt. der eigenen Fraktionen zur Verbesserung der Einsatzver-
sorgung umsetzen will, und das auch nur halbherzig. Das
(Beifall bei der LINKEN)
ist die Lage. Statt den Betroffenen bereits ab einem
Noch einmal: Sie sparen fast nichts. Trotz der Redu- Schädigungsgrad von 30 Prozent Ansprüche einzuräu-
zierung um 70 000 Dienstposten bleiben die Gesamtaus- men – das ist schon ein erheblicher Grad –, soll die
gaben, wenn man den mittleren Zeitraum betrachtet, bei Schwelle weiterhin bei 50 Prozent liegen.
deutlich über 30 Milliarden Euro. Respekt!
Zu der von den Soldatinnen und Soldaten geforderten
Dabei hatten Sie anderes angekündigt. Erstens. Noch Beschleunigung der Verfahren für die entsprechenden
im letzten Jahr hieß es, aufgrund der Haushaltskrise und Anträge findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nichts.
der knappen Finanzen sollten in den nächsten vier Jahren
Das alles ist nicht gut. Wir sagen: Wir haben eine Für-
(B) 8,3 Milliarden Euro eingespart werden. Das wäre gewis- sorgepflicht für die betroffenen Menschen und sollten (D)
sermaßen der Pflichtanteil von 10 Prozent gewesen. Nun
sollen es noch etwa 4,3 Milliarden Euro sein, aber in bereit sein, das Optimale für diese Menschen auszuge-
fünf Jahren. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Diesen Be- ben.
trag holen Sie ja fast allein durch die Aussetzung der Sie wollen Ende Oktober Ihre Entscheidung über die
Wehrpflicht herein. Das ergibt für diesen Zeitraum näm- künftigen Standorte der Bundeswehr bekannt geben,
lich eine Summe von 3,5 Milliarden Euro. Im Grunde Herr Minister. Wir sind alle sehr gespannt. Vor allem tei-
genommen kann von Sparen keine Rede sein. len wir die Sorgen vieler Menschen und kommunaler
Zweitens. Sie verschieben jetzt die Kosten und ver- Mandatsträger um das, was danach kommt. Was wir
kaufen es als großen Erfolg, Herr Minister, dass be- nicht teilen, ist die oft gezogene Schlussfolgerung, dass
stimmte Posten in einem anderen Einzelplan veran- jeder Standort unbedingt erhalten bleiben müsse. Die Er-
schlagt werden und Sie dadurch 1,5 Milliarden Euro fahrungen in den 90er-Jahren haben gezeigt, dass ein
zusätzlich zur Verfügung hätten. Aber die Bürgerinnen solch umfangreicher Strukturwandel erfolgreich gestal-
und Bürger müssen in jedem Fall dafür zahlen, ob es im tet werden kann. Aus Kasernen sind Mietwohnungen,
Einzelplan 14 oder im Einzelplan 60 veranschlagt ist. Hochschulgebäude und Dienstleistungszentren gewor-
den, aus Liegenschaften Erholungsgebiete.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Das alles kann funktionieren. Aber es kann nur dann
Zudem wird das Ganze unkontrollierter und undurch- funktionieren, wenn die Gemeinden und Regionen nicht
sichtiger. Auch das halten wir für falsch. mit den Problemen alleingelassen werden.
Drittens. Wenn Sie überhaupt sparen, Herr Minister, (Beifall bei der LINKEN)
dann an der falschen Stelle. Wir sind ganz klar dafür,
dass beim Rüstungsetat gespart wird. Wir wollen auch Wir haben jetzt eine andere Situation als in den 90er-Jah-
umschichten, zum Beispiel 20 Millionen Euro für den ren. Es gibt keine EU-Fördertöpfe mehr. Die Städte und
Zivilen Friedensdienst aus dem Etat des Ministeriums Gemeinden pfeifen auf dem letzten Loch. Deshalb brau-
der Verteidigung. Aber wir sind nicht für Sparen zulas- chen wir nicht nur eine Gemeindefinanzreform, sondern
ten der Menschen im System Bundeswehr. auch die Hilfe des Bundes bei diesem Strukturwandel.
Mit anderen Worten: Wir fordern Bundeshilfen und ein
Reden wir über die Soldaten auf Zeit. Hier geht es um Bundeskonversionsprogramm.
die Reduzierung der Dienstzeiten, um bessere Bezah-
lung, in der Tat, um die Optimierung des Übergangs ins (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14513
Paul Schäfer (Köln)
(A) Wir fordern Sie nachdrücklich auf, den Strukturwandel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
mit einem solchen Bundeskonversionsprogramm positiv
Ihre Bundeswehr ist noch zu groß. Wir Grüne fordern
mitzugestalten.
– übrigens basierend auf den Berechnungen des General-
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. inspekteurs – eine Bundeswehr mit 160 000 Soldatinnen
und Soldaten. Mit Ihrer Zielgröße von 185 000 sind Sie
(Beifall bei der LINKEN) einen Kompromiss eingegangen. Dieser Kompromiss
wird dem umfassenden Bedürfnis nach einer Reform un-
Vizepräsident Eduard Oswald: serer sicherheitspolitischen Instrumente jedoch gar nicht
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner unse- gerecht. Eine Verkleinerung der Bundeswehr muss mit
rer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einer raschen Außerdienststellung von überschüssigem
unser Kollege Dr. Tobias Lindner. Bitte schön, Kollege Material einhergehen. Die Mittel für Lagerhaltung und
Tobias Lindner. Erhalt können andernorts besser eingesetzt werden. Da-
mit wir uns nicht falsch verstehen: Das bedeutet nicht,
Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die Bundeswehr ihre Altwaffen auf dem Weltmarkt
verramschen soll. Im Gegenteil: Waffen gehören verant-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
wortungsvoll entsorgt.
ren! Unabhängig davon, wie wir als Mitglieder dieses
Hohen Hauses zu Fragen von Krieg und Frieden oder zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einzelnen Auslandseinsätzen der Bundeswehr stehen,
Am wichtigsten wird es aber sein, sich des Bereichs
sprechen wir heute über einen der größten Einzelpläne
der Beschaffung anzunehmen. Eine Bundeswehrreform
des Bundeshaushalts. Angesichts von mehr als 30 Mil-
muss deutlich machen, dass tausendprozentige Gold-
liarden Euro gilt es, diese Mittel an der richtigen Stelle
randlösungen weder gewollt noch zielführend sind. Wo
und effizient einzusetzen, auch und gerade aus Verant-
es geht, sind marktverfügbare Lösungen „off the shelf“
wortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten. zu kaufen. Gerade im Lichte der laufenden Einsätze
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ bleibt uns weder Zeit noch Geld für ewig dauernde Ei-
DIE GRÜNEN) genentwicklungen.
Nach nunmehr über einem Jahr Vorbereitungszeit ist Und schließlich: Mit Millionen von Euro unterstützt
noch immer nicht klar, wohin bei der Bundeswehrreform die Bundeswehr Jahr für Jahr Werbereisen der Rüstungs-
die Reise überhaupt gehen soll. Bis heute liegen keine industrie. Großzügig, wie sie ist, verzichtet sie größten-
Konzepte auf dem Tisch. Die Präsentation der Vor- teils auf eine Kostenerstattung. So knapp scheint das
schläge des Ministeriums steht immer noch aus. Den- Geld doch nicht zu sein. Wir sprechen hier nicht über das
(B) noch, meine Damen und Herren, debattieren wir heute Aufstellen von bunten Pappschildern oder über Broschü- (D)
über den Haushalt des Verteidigungsministeriums, über ren. Nein, es geht zum Beispiel um den millionenteuren
einen Haushalt, der morgen schon Makulatur sein kann. Einsatz von Kampfflugzeugen bei Messen wie der Aero
India. Nicht nur werden hier Steuergelder zweckent-
Ohne schlüssiges Reformkonzept kann dieser Etatent- fremdet, sondern es werden Exporte in Spannungsregio-
wurf nämlich nur eine Bundeswehr widerspiegeln, wie nen forciert. Solche Zahlungen sind in Zeiten knapper
wir sie hoffentlich in der nahen Zukunft von ihrer Struk- Kassen nicht zu rechtfertigen.
tur her nicht mehr haben werden. Wir Grüne fordern da-
her ein umfassendes Moratorium, vor allem bei milliar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
denschweren Beschaffungs- und Forschungsprojekten. Herr Minister, wir erwarten von Ihnen eine umfas-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sende Reform, eine Reform, die nicht nur die Strukturen
der Bundeswehr an die sicherheitspolitischen Realitäten
Ohne klare, richtungsweisende Reformentscheidun- anpasst, sondern vor allem einen Sparbeitrag leistet. Der
gen dürfen auch keine Festlegungen im Etat getroffen Einzelplan 14 bietet Möglichkeiten hierzu. Lassen Sie
werden, mit denen wir uns Handlungsalternativen ver- die Bundeswehr nicht einfach vom Haken. Ohne Spar-
bauen würden. vorgaben fehlt nicht nur jedweder Anreiz für tiefgrei-
fende Veränderungen, Sie tun der Bundeswehr damit
Schaut man sich den Haushaltsentwurf an, so muss man auch keinen Gefallen. Die jetzt verschleppten Einspa-
befürchten – gerade nach dem Beitrag des Ministers –, rungen müssten Sie dann später in doppelter und dreifa-
dass aus der groß angekündigten Bundeswehrreform cher Höhe erbringen.
nicht viel mehr als ein Reförmchen geworden ist. Von
der Ankündigung von Minister zu Guttenberg im Mai Vielen Dank.
letzten Jahres, dass der Verteidigungsetat einen Beitrag
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zur Konsolidierung des Haushalts leisten muss, und dem
vollmundigen Versprechen der Regierung, bis 2014
8,3 Milliarden Euro einzusparen, sind wir inzwischen Vizepräsident Eduard Oswald:
weit entfernt. Nicht nur wurde das Sparziel gestreckt, Vielen Dank, Kollege Dr. Tobias Lindner.
nein, es wurde auch halbiert. Im nächsten Jahr steigt der
Das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
Wehretat erst einmal an. Zusätzlich – das wurde schon
darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich gratu-
erwähnt – wird über 1 Milliarde Euro Personalkosten in
lieren.
den Einzelplan 60 geschoben. Deutlich ist: Gespart wird
hier nicht. (Beifall)
14514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Vizepräsident Eduard Oswald


(A) Sie haben es geschafft, auf die Sekunde Ihre Redezeit – Ja, gut. Bei Ihren Leuten spenden Sie doch auch Bei- (C)
einzuhalten. Sie haben jetzt den Beifall des ganzen Hau- fall, Herr Gehrcke.
ses bekommen. Merken Sie sich dies. Es kann sein, dass
das nicht so oft vorkommt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der
LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
(Heiterkeit) NEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das
ist zumindest eine ehrliche Antwort!)
Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ernst-Reinhard Sie haben bemerkt, dass ich mich relativ gemäßigt aus-
Beck. Bitte schön, Kollege Ernst-Reinhard Beck. gedrückt habe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Arnold, eines hat mich irritiert – das lasse
ich Ihnen schlicht und ergreifend nicht durchgehen –: Sie
haben hier in einer, wie ich meine, nicht anständigen
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Weise die Frage der Einsatzversorgung eingebracht. Es
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- ist richtig: Wir sind im Verteidigungsausschuss in Wahr-
gen! Ich muss mich über die schrillen Töne sehr wun- nehmung unserer Verantwortung – es geht darum, dass
dern, die ich heute vonseiten der Opposition höre. Soldaten in gefährliche Einsätze geschickt werden – ge-
meinsam zu der Erkenntnis gekommen: Wir müssen die
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist bestmögliche Versorgung von verletzten und verwunde-
doch nicht neu!) ten Soldaten und wir müssen die bestmögliche Versor-
– Sie wundern sich vielleicht nicht mehr. – Lieber Kol- gung für Hinterbliebene von Gefallenen gewährleisten.
lege Schäfer, ich schätze Sie für Ihre Arbeit im Aus- Außerdem müssen wir die notwendigen Anstrengungen
schuss. Sie haben hier gesagt: 100 000 Mann; es gibt unternehmen, um zum Beispiel Versehrten den Wieder-
keine Bedrohung. Sagen Sie doch ganz ehrlich, dass Sie einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.
die Bundeswehr abschaffen wollen. Wenn das geschieht, Wir müssen auch hier einfach einmal feststellen, dass
wird noch sehr viel mehr im Haushalt gespart. Ihre For- im jetzt vorliegenden Entwurf – auch ich hätte ihn mir
derung ist ohne sachliche Begründung. Sie sind auch wi- früher gewünscht; das sage ich ganz offen – wesentliche
dersprüchlich. Sie kritisieren, dass man auf der einen Forderungen von uns aufgegriffen sind, etwa was die
Seite an der Fürsorge spart und auf der anderen Seite mit Angleichung der Versorgung von Berufs- und Zeitsolda-
entsprechenden Rüstungsmaßnahmen klotzt. Die SPD, ten, die Rückdatierung des Stichtags und eine ganze
lieber Kollege Arnold, sagt, überall werde vernachläs- Reihe von finanziellen Leistungen – sie sind verdoppelt
(B) sigt. worden – angeht. Dass wir hier vielleicht noch mehr tun (D)
Ich glaube, die Rede des Ministers hätte es verdient können, ist doch klar. Aber all dies vom Tisch zu wi-
gehabt, von Ihnen sachlich gewürdigt zu werden, in ein- schen und zu sagen: „Das ist alles nichts; auf unsere
zelnen Punkten vielleicht durchaus kritisch. Ich möchte, Punkte geht man nicht ein“, halte ich für keinen guten
an den Minister gewandt, ein herzliches Dankeschön sa- Stil, lieber Kollege Arnold.
gen. Er hat sein Amt in einer schwierigen Phase über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nommen – vielleicht haben Sie es vergessen –: Erst seit der FDP – Rainer Arnold [SPD]: Mehr tun
März ist er der Inhaber der Befehls- und Kommando- wollen wir!)
gewalt in diesem Land. Damit ist er verantwortlich für
unsere äußere Sicherheit. Ich meine, er hat die entspre- Ganz konkret: Die Absenkung des Schädigungs-
chenden Fäden, die bis dahin unter dem Stichwort „Bun- grades von 50 Prozent auf 30 Prozent für eine Beschäfti-
deswehrreform“ etwas lose in der Luft hingen – auch das gungsgarantie ist für jemanden, der mit diesen Dingen
sollte man einmal feststellen –, zu einem konstruktiven, nicht befasst ist, schwer nachzuvollziehen. Das ist übri-
zukunftsfähigen Konzept zusammengebunden. gens einer der Gründe, weshalb die Ressortabstimmung
so lange gedauert hat. Einige wissen aus eigener Regie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kathrin rungserfahrung – Herr Erler sitzt hier vorne –, dass man-
Vogler [DIE LINKE]: Verwurschtelt!) che Dinge aufgrund der Ressortabstimmung nicht von
heute auf morgen zustande kommen. Das Innenministe-
Herr Minister, wir, die CDU/CSU-Fraktion, wünschen rium etwa hat mit Blick auf die Versorgung der Polizis-
Ihnen für den weiteren Reformweg alles Gute. ten Einwände gegen das erhoben, was für die Soldaten
Es ist mangelnde Transparenz angemahnt worden. gut ist. Wenn man beim Schädigungsgrad von 50 Pro-
Herr Kollege Arnold, es ist aber nicht wahr, dass es an zent auf 30 Prozent herunterginge, wäre dies schlicht-
Transparenz mangelt. Bei der Vorstellung der Verteidi- weg mit verfassungsrechtlichen Problemen verbunden.
gungspolitischen Richtlinien kam zum Ausdruck, dass Der Zugang zu öffentlichen Ämtern soll nach Eignung
wir die Dinge begleitet haben, mitunter auch kritisch. und fachlicher Leistung erfolgen; dies ist einer der
Dies alles vom Tisch zu wischen, ist nicht unbedingt der Grundsätze. Sobald der Erste klagt, dass ihm jemand
richtige Stil. vorgezogen worden ist, weil er entsprechend versehrt ist,
wäre dies ein Fall für das Verfassungsgericht. Ich glaube,
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das sagen wir sollten uns gut überlegen, was wir tun. Wenn wir in
Sie jetzt! Solange Herr Guttenberg da war, ha- diesem Haus zu einer Regelung kommen, die all dem
ben Sie immer Beifall geklatscht!) Rechnung trägt, dann bin ich gern bereit, mitzumachen;
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14515
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
(A) aber wir sollten die Bedenken nicht einfach beiseite- Ich sage ganz offen: Ich rege an, dass wir uns dieser (C)
schieben. Frage stellen, weil es hier letztlich um unsere Bündnis-
fähigkeit und um die Verlässlichkeit im Bündnis geht.
Ich glaube, der Minister hat zu Recht das Ziel der Re- Das ist, wie ich meine, ein hohes Gut. Wir haben in Eu-
form dargestellt: Deutschland benötigt einsatzbereite, ropa eine gemeinsame Verantwortung. Wir sollten uns
einsatzfähige Streitkräfte, die in Qualität, Ausstattung überlegen, ob wir hier gemeinsam eine Verbesserung er-
und Ausbildung dem internationalen Standard und dem reichen können.
Gewicht unseres Landes entsprechen und – ich füge
hinzu – die in eine internationale Verantwortung, in eine Zum Schluss möchte ich unseren Soldaten, den zivi-
europäische Verteidigung hineinpassen, die im Grunde len Mitarbeitern und den Soldaten im Einsatz danken.
in eine entsprechende multinationale, supranationale Das Motto für die Reform heißt: Wir dienen Deutsch-
Struktur hineinpassen. land. – Dafür verdienen sie unsere volle Unterstützung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht ärgern Sie Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
sich jetzt, dass ich anrege, über einige Dinge nachzuden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ken. Der eine oder andere hat es vielleicht auch schon
getan. Ich frage: Sind wir mit unserem Parlamentsbetei-
ligungsgesetz auch in Bezug auf die Ansprüche, die mit Vizepräsident Eduard Oswald:
einer Einsatzorientierung einerseits und mit den von uns Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-
eingegangenen Bündnisverpflichtungen andererseits ein- serer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten
hergehen, auf dem richtigen Weg? Ich meine, darüber unser Kollege Bernhard Brinkmann. Bitte schön, Kol-
sollte man vielleicht einmal nachdenken. Wenn jetzt zum lege Bernhard Brinkmann.
Beispiel die Teilnahme von Soldaten in integrierten Füh- (Beifall bei der SPD)
rungsstäben der NATO eingeklagt wird, dies also im
Grunde ein Fall für das Verfassungsgericht ist, stellt sich
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
die Frage, ob wir bei den Einsatzkräften, die wir für eine
gemeinsame Tätigkeit in der NATO, nämlich bei Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
AWACS, zur Verfügung stellen, jedes Mal darüber dis- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
kutieren müssen, ob wir die Soldaten aus den Flugzeu- Beck, Sie haben die Ausführungen des Kollegen Arnold
gen herausnehmen oder ob ein eigenes Mandat notwen- mehrfach damit kommentiert, dieser habe einfach etwas
dig ist. vom Tisch gewischt.
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin
(B) schon sehr dafür, aus den Erfahrungen mit unserer Ge- gewichtig sind sie nicht!) (D)
schichte mit der Anwendung militärischer Mittel äußerst – Wir können das ja dann gemeinsam im Protokoll nach-
vorsichtig zu sein. lesen; vielleicht treffen wir uns dann wieder. Vielleicht
hat auch der eine etwas mehr recht als der andere.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Warum tun Sie
es dann nicht?) Ich will einmal auf Folgendes hinweisen: Herr zu
Guttenberg war der Ankündigungsminister. Was die An-
Wenn wir über Pooling und Sharing im Rahmen der kündigungen angeht, haben wir ihm auch die 8,3 Milli-
Bündnisfähigkeit reden, müssen wir uns auf die Zusage arden Euro Einsparungen zu verdanken, die ab heute
der anderen absolut verlassen können, gleichzeitig aber Makulatur sind. Ich will durchaus zum jetzigen Minister,
akzeptieren, dass man von uns verlangt, dass wir unsere Herrn de Maizière, eine Brücke schlagen. Auch viele
Fähigkeiten ins Bündnis einbringen und die entsprechen- Punkte, die Sie, Herr Minister, hier angesprochen haben,
den parlamentarischen Voraussetzungen dafür schaffen. stellen bisher nur Ankündigungen dar und sind noch
Was würde eigentlich dagegensprechen, wenn wir bei nicht umgesetzt worden. Also ist es unsere gemeinsame
Aufgaben, die wir gemeinsam im Bündnis wahrnehmen, Aufgabe, an den Punkten zu arbeiten, die sich bisher nur
den Rahmen vorher vertraglich festlegen, dies generell im Bereich der Ankündigung befinden.
mandatieren und dann sagen: „Die Sicherungen unseres
Parlamentsbeteiligungsgesetzes greifen mit dem Rück- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Bundeswehr
holrecht“? Sie greifen auch schon, wenn die Bundesre- steht mit dem angekündigten und am 18. Mai durch
gierung im NATO-Rat einem bestimmten Einsatz nicht Herrn Minister de Maizière präzisierten Reformvorha-
zustimmt. ben, der Neuausrichtung unserer Streitkräfte, vor der
größten Herausforderung ihrer Geschichte. Mit der poli-
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das mit tischen Entscheidung des Parlaments, die Wehrpflicht
dem Rückholrecht testen wir mal!) zum 1. Juli 2011 auszusetzen und stattdessen einen Frei-
willigendienst einzuführen, haben sich die Rahmenbe-
– Herr Gehrcke, das wäre natürlich auch einmal eine Sa-
dingungen für die Streitkräfte und auch für das zivile
che. Aber man muss doch einfach sagen, dass bestimmte
Personal substanziell verändert. Diese Veränderungen
integrierte Verbände – denken Sie an die EU-Battle-
werden auch gravierende Auswirkungen auf den Vertei-
Groups; denken Sie an die NATO-Response-Force –
digungsetat haben.
deshalb nicht eingesetzt worden sind, weil das Verfahren
entsprechend kompliziert ist, und dass wir deshalb zum Bereits in meinen Ausführungen am 24. November
Teil als unsichere Kantonisten im Bündnis gelten. 2010 anlässlich der zweiten und dritten Lesung des Bun-
14516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bernhard Brinkmann (Hildesheim)


(A) deshaushalts 2011 habe ich für die SPD-Bundestagsfrak- grund einer durchaus großen Mehrheit für diese Struktur, (C)
tion deutlich gemacht, dass die angekündigten Einspa- für die Ende Oktober belastbare Zahlen vorliegen wer-
rungen – damals noch von Herrn zu Guttenberg – in den, meines Erachtens ein guter Schritt der Koalitions-
Höhe von 8,3 Milliarden Euro nicht darstellbar sind. Sie fraktionen gewesen, wenn sie unserem Antrag zu dieser
sind – das kann ich nur deutlich wiederholen – mit dem Thematik und der Einrichtung eines Unterausschusses
jetzt vorgelegten Etatentwurf zum Einzelplan 14 auch ihre Zustimmung gegeben hätten. Sie haben das leider
endgültig Makulatur. abgelehnt.
Herr Minister de Maizière hat dann in seinen Ausfüh- Auch was die Frage der militärischen Beschaffungen
rungen auf Veränderungen im Milliardenbereich hinge- angeht – darauf habe ich ebenfalls bereits im November
wiesen. Ich will an dieser Stelle eines deutlich machen: hingewiesen –, muss man im Rahmen der neuen Struktur
All die Einsparungen, die im 44. Finanzplan festge- schauen, was noch notwendig ist. Der Kollege Koppelin
schrieben wurden, finden sich aufgrund des Entwurfs hat das bereits ausgeführt. Geschlossene Verträge müs-
2012 verständlicherweise im 45. Finanzplan nicht wie- sen eingehalten werden; das ist gar keine Frage. Aber
der. Die Bundeswehr – das liegt auch in diesem Reform- auch hier werden uns die allgemeine Entwicklung und
vorhaben begründet – muss natürlich bei dem anstehen- Preissteigerungen erreichen. Diese Punkte müssen, be-
den Reformprozess mitgenommen werden. Auch das ginnend im Jahr 2012 und fortgesetzt in den Folgejah-
findet bis heute nur in sehr geringem Umfang und recht ren, Grundlage einer soliden Haushaltsaufstellung beim
selten statt. Einzelplan 14 sein.
Ich war in der parlamentarischen Sommerpause wie Lieber Jürgen Koppelin, du hast in Bezug auf die
viele Kolleginnen und Kollegen im Lande unterwegs Ausführungen des Kollegen Arnold auch die Ausrüstung
und habe mit Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mit- der Soldatinnen und Soldaten kritisiert. An dieser Stelle
arbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen. Es ist keine sollten wir uns einmal mit der Vergangenheit auseinan-
Frage, sie sind nach wie vor hoch motiviert, aber auch dersetzen: Es war die Koalition, die bei der Beratung des
stark verunsichert. Die vorgesehene Reduzierung auf Haushalts 2010 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion hand-
55 000 Zivilbeschäftigte, Herr Minister, kann man nicht streichartig, ohne Minister Guttenberg zu informieren,
einfach dadurch umsetzen, dass man die Betroffenen so 500 Millionen Euro gestrichen hat. Deshalb muss man
hin- und herschiebt, wie es angedacht ist. Darüber müs- bereit sein, das an dieser Stelle als Kritik hinzunehmen.
sen wir uns auch bei den künftigen Beratungen intensiv Sie haben das dann, weil Sie gemerkt haben, dass es so
austauschen. Man kann nämlich eine zivile Mitarbeiterin nicht geht, in Form von Verpflichtungsermächtigungen
aus der Küche oder einen zivilen Mitarbeiter aus der zu heilen versucht. Auch dieser Punkt gehört meines Er-
Standortverwaltung nicht einfach in ein anderes Ministe- achtens zu einer fairen Auseinandersetzung; Sie können (D)
(B)
rium umsetzen. In welcher Größenordnung sich die Be- nicht nur einseitige Schuldzuweisungen in Richtung
züge dieser Beschäftigten bewegen, hat der Kollege SPD-Fraktion vornehmen.
Arnold ja in seinen Ausführungen sehr deutlich ge-
macht. (Beifall bei der SPD)
Ich hätte mir auch gewünscht, dass man diese Hilfs-
brücke, um mehr Luft im Etat zu bekommen – dagegen Vizepräsident Eduard Oswald:
hat die SPD überhaupt nichts einzuwenden –, nicht in Herr Kollege Brinkmann, gestatten Sie eine Zwi-
Form einer Verschiebung von bis zu 1 Milliarde Euro in schenfrage unseres Kollegen Dr. Jürgen Koppelin?
den Einzelplan 60, wie es im Entwurf steht, vollzogen
hätte. Es gibt durchaus Annahmen, die von bis zu Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
4 Milliarden Euro ausgehen. Was man dorthin schiebt, Sehr gerne.
kann an anderer Stelle natürlich nicht eingespart werden
oder wird weniger eingespart. Wenn Personal in andere
Ministerien verschoben wird, bleibt es letztendlich bei Vizepräsident Eduard Oswald:
den gleichen Personalausgaben. Nach dem Grundsatz Bitte schön.
der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit wäre es
besser gewesen, wenn man für all dies eine separate Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Haushaltsstelle mit dem Titel „Neuausrichtung der Bun-
Lieber Herr Kollege Brinkmann, dir ist aber bekannt,
deswehr“ im Einzelplan 14 vorgesehen hätte. Das wäre
dass diese Kürzungen durchaus machbar waren, weil sie
transparent und entspräche dem Grundsatz der Haus-
Beschaffungsmaßnahmen betrafen, die wir in der Form
haltswahrheit und Haushaltsklarheit.
und in dem Umfang nicht mehr brauchten. Aber da du
(Beifall bei der SPD) schon solche Zahlen nennst, darf ich daran erinnern, dass
durch die Mehrwertsteuererhöhung in Höhe von 3 Pro-
Auch zur Frage der Attraktivität sind schon entspre- zentpunkten, die ihr in eurer Koalitionszeit vorgenom-
chende Ausführungen gemacht worden. Ich will die men habt, der Bundeswehr plötzlich 700 Millionen Euro
Punkte gerne wiederholen, Herr Minister: Vereinbarkeit fehlten.
von Familie und Beruf, neue Laufbahnen, Stärkung der
Aus- und Weiterbildung, erleichterter Übergang in Zivil- (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
berufe und, ganz generell, die Bezahlung von Soldatin- NEN]: Das ging jetzt gegen den Koalitions-
nen und Soldaten. Daher wäre es, auch vor dem Hinter- partner!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14517

(A) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Ich möchte mich auch für die bisher zur Verfügung (C)
Lieber Kollege Koppelin, in der Frage der Mehrwert- gestellten Informationsunterlagen bedanken, die für die
steuererhöhung befanden wir uns in guter Gemeinschaft Beratung des Einzelplans 14 von Bedeutung sind. Ich
mit Ihrem jetzigen Koalitionspartner. Meine Partei gehe davon aus, dass es auch in Zukunft so sein wird.
wollte keine Erhöhung, die Union hat 2 Prozentpunkte Nehmen Sie diesen Dank an das Ministerium bitte mit,
gefordert, daraus sind dann 3 Prozentpunkte geworden. Herr Minister. Ich freue mich auf die Berichterstatterge-
Ich habe das immer als Mengenlehre bezeichnet, weil spräche und die Beratungen im Haushaltsausschuss.
man auch die nicht erklären kann. Aber Sie wissen bes- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
ser denn je: In einer Koalition muss man Kompromisse
machen. Auf unserem Papier war damals die Steuerfrei- (Beifall bei der SPD)
heit für Nachtzuschläge und Feiertagszuschläge ein
Punkt, auf dem Papier der Unionsfraktion stand die Vizepräsident Eduard Oswald:
Mehrwertsteuererhöhung, und darum ist es dazu gekom- Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist
men. für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Elke Hoff.
Bitte schön, Frau Kollegin Elke Hoff.
Zu dem zweiten Punkt, Herr Kollege Koppelin. Bis
vor wenigen Monaten haben wir immer noch die Mons- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
tranz vor uns her getragen, dass wir 8,3 Milliarden Euro
einsparen könnten. Von Steuersenkungen will ich gar Elke Hoff (FDP):
nicht reden. Da scheinen ja auch Sie mittlerweile zu an- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
deren Überzeugungen zu kommen, nachdem Sie die Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Meinung der Bürgerinnen und Bürger dazu von Ihren Herr Minister, ich glaube, dass Sie mit der Reform und
Wahlergebnissen ablesen können. Aber Sie haben Ein- dem Haushaltsentwurf auf einem guten Wege sind; denn
sparungen vorgenommen, ohne Abstimmung mit dem ich vermisse substanzielle Beiträge der Opposition, die
Minister. Ich weiß noch ganz genau, wie Herrn Minister aufzeigen, wie sie an der Stelle anders agieren will. Von
zu Guttenberg damals auf der Regierungsbank die Ge- der Opposition höre ich nur: Ihr spart zu wenig. Vieles
sichtszüge entglitten sind. muss noch gemacht werden. Ihr schickt zu viele Solda-
ten in den Einsatz. Aber ihr müsst auch den Bündnisver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
pflichtungen Rechnung tragen. – Dieses Durcheinander
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Beck erschwert es den Menschen, die diese Debatte verfolgen,
hat bereits darauf hingewiesen, dass unsere Soldatinnen festzustellen, in welche Richtung die zukünftige Sicher-
heitspolitik, die sich auch im Einzelplan 14 nieder- (D)
(B) und Soldaten im Land und darüber hinaus bei den Aus-
landseinsätzen einen gefährlichen und harten Job zu er- schlägt, aus der Sicht der Opposition gehen soll.
füllen haben. Das wird manchmal von der linken Seite (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
des Hauses kritisiert. Der Hinweis, die Bundeswehr ab-
zuschaffen, kommt nicht von ungefähr. Auch da könnte Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen,
man ein bisschen Vergangenheitsbewältigung betreiben. auf das einzugehen, was schon kritisch erwähnt worden
Ich will das nicht tun. Aber ich möchte die Gelegenheit ist, nämlich auf die Nichteinsetzung eines Unteraus-
nutzen, den Soldatinnen und Soldaten und allen zivilen schusses Bundeswehrstrukturreform. Liebe Kolleginnen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ihren Angehö- und Kollegen von der Opposition, ich bin der Überzeu-
rigen zu danken und ihnen ausdrücklich meinen Respekt gung, dass diese wichtige Reform jedes Mitglied im Ver-
und meine Anerkennung auszusprechen. teidigungsausschuss gleichermaßen angeht

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dass wir alle aufgefordert sind, uns ständig in jeder
Sitzung des Verteidigungsausschusses mit diesen we-
Eines bedrückt mich allerdings, und das war auch bei
sentlichen Dingen zu beschäftigen.
den Haushaltsberatungen 2010 schon Thema. Am nächs-
ten Morgen ereilten mich dazu aus dem Ministerium Zurück zur Sache. Wir haben weltweit eine Situation,
– das hat vielleicht auch etwas mit der Personalstärke zu in der nicht mehr die Vorstellungen der Politik den Rah-
tun – innerhalb einer halben Stunde 35 Anrufe. Staats- men der Sicherheitspolitik diktieren. Wir werden zuneh-
sekretär Schmidt weiß, worum es geht. Ich sehe auf der mend, auch bedingt durch Globalisierung und durch völ-
Besuchertribüne viele Besucherinnen und Besucher, al- lig neue Sicherheitsrisiken und Herausforderungen, dazu
lerdings keinen Soldaten, keinen Bürger in Uniform. aufgefordert, mit den staatlichen Instrumenten zur Si-
Könnte das daran liegen, Herr Minister, dass die entspre- cherheitsvorsorge möglichst flexibel umzugehen. Dazu
chenden Haushaltsmittel ähnlich wie in 2010 schon gehört auch die Bundeswehr. Es war ein Anliegen der
Mitte des Jahres aufgebraucht sind und deshalb niemand Koalition, dass die Bundeswehr genau dafür ertüchtigt
im Rahmen der politischen Bildung mehr in die Haupt- wird. Wir haben in der Vergangenheit festgestellt, dass
stadt kommen kann? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn häufig notwendige Entscheidungswege – sei es die Ent-
Sie das überprüfen ließen und mir eine schriftliche sendung in einen Einsatz, seien es Beschaffungen und
Nachricht zukommen lassen könnten. Die Mitarbeiter die Bereitstellung von Ausrüstung und notwendigem
aus dem Ministerium können sich also etwaige Anrufe Material – viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Des-
morgen früh sparen. Vielen Dank im Voraus dafür. halb haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
14518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Elke Hoff
(A) zuallererst Folgendes erreichen wollen: flachere Hierar- schon angeklungen –: Wenn die jungen Männer und (C)
chien und Transparenz mit Blick auf Strukturen und Ent- Frauen in Zukunft zu einer Mangelware auf dem
scheidungen. Dass dies kein einfacher Weg ist, kann Arbeitsmarkt werden, dann sollten wir, anstatt gegen-
man sich angesichts der Größe einer Organisation wie einander zu konkurrieren, mit der Industrie und mit der
der Bundeswehr sicherlich lebhaft vorstellen. Jetzt schon Privatwirtschaft kooperieren. Damit könnten wir die At-
von einem Chaos zu reden – diese Äußerung habe ich traktivität der Bundeswehr für junge Männer und Frauen
vom Kollegen Bartels gehört; Kollege Arnold hat das erhöhen, die sich freiwillig für eine gewisse Zeit zum
ebenfalls angedeutet –, Dienst an der Waffe entscheiden, aber danach eine Per-
spektive brauchen. So könnten wir gleich mehrere Flie-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die gen mit einer Klappe schlagen.
ganze Regierung ist ein Chaos! Wovon reden
Sie?) Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso wie mir. Aus
halte ich für vollkommen daneben. Wir stehen gemein- der Wirtschaft heraus wird die Frage an uns gerichtet,
sam in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr wie wir für Spezialisten, die überall Mangelware sind
handlungsfähig ist. Wir stehen aber genauso in der – in technischen Berufen, im IT-Bereich –, gemeinsam
Pflicht, die Dinge nicht zu zerreden. Wir müssen gerade Arbeitsbiografien aufbauen können. Jungen Männern
in diesen Bereich Ruhe und Zuverlässigkeit bringen. und Frauen fällt die Entscheidung zum Dienst an der
Waffe für ihr Vaterland leichter, wenn sie wissen, dass
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sie anschließend eine vernünftige Situation auf dem Ar-
der CDU/CSU) beitsmarkt erwartet. Herr Minister, ich kann Sie nur er-
Die wesentlichen Eckpunkte, durch die eine Bundes- muntern, an dieser Stelle intensiv mit der mittelständi-
wehrreform determiniert ist, sind neben den finanziellen schen Wirtschaft und mit der Industrie bei uns im Lande
Rahmenbedingungen die demografischen und natürlich die notwendigen Gespräche zu führen. Unsere Unterstüt-
die sicherheitspolitischen Bedingungen. Wir haben heute zung haben Sie dabei.
Morgen in der Debatte sehr viel darüber gehört, wie Kollege Koppelin hat bereits einiges zum Haushalt
wichtig es ist – auch ich bin dieser Auffassung –, sich in gesagt. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, den Mit-
Europa in vielen elementaren Politikfeldern aufeinander telansatz im Verteidigungshaushalt einigermaßen stabil
zuzubewegen. Ich nenne beispielsweise Wirtschaftspoli- zu halten. Natürlich muss auch die Bundeswehr ihren
tik, Haushaltspolitik und Finanzpolitik. Es ist nicht zu- Beitrag zum Sparen leisten. Ich glaube, man könnte es
letzt eine Lehre aus der Diskussion über Libyen, dass niemandem klarmachen, wenn das nicht der Fall wäre.
wir gemeinsam in Europa schnellstmöglich europäische Aber das muss verantwortungsvoll geschehen; es muss
Sicherheits- und Verteidigungsinteressen definieren nachvollziehbar sein, und es bedarf einer gewissen Zeit. (D)
(B)
müssen. Daraus können wir ableiten, mit welchen Fähig- Auch hier finden wir uns als FDP-Fraktion wieder, weil
keiten und Mitteln wir und die europäischen Partner der wir immer gesagt haben: Einsparen ja, aber über einen
Verantwortung gerecht werden können. längeren Zeitraum und in angemessener Höhe. Insofern,
Es wird sehr viel über Bündnistreue und Bündniszu- Herr Minister, auch an dieser Stelle ein Kompliment von
verlässigkeit geredet. Wenn ein Land mehr als meiner Fraktion. Sie haben in einer schwierigen Zeit das
7 000 Soldatinnen und Soldaten in internationalen Ein- notwendige Stehvermögen bewiesen, um Ihre Kollegin-
sätzen hat, kann ich beim besten Willen keine Bünd- nen und Kollegen im Kabinett, denen ich an der Stelle
nisunzuverlässigkeit feststellen. Wenn ich aber – damit ausdrücklich danke, davon zu überzeugen, dass die Für-
komme ich auf das Thema „Definition der gemeinsamen sorge für unsere Soldatinnen und Soldaten eine gesamt-
europäischen Interessen“ zurück – von einem großen gesellschaftliche Aufgabe ist. Insofern kann ich vonsei-
Bündnispartner höre, dass in Zukunft an die Europäer, ten der FDP diesem Haushalt nur zustimmen.
sozusagen vor der eigenen Haustür, andere Anforderun-
gen gestellt werden, bedeutet das einen qualitativen Un- (Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
terschied innerhalb des Bündnisses. Deswegen sollten meldet sich zu einer Zwischenfrage)
wir gemeinsam überlegen – genauso wie wir es vor ei- Ich glaube, dass noch ein ganz dickes Brett zu bohren
nem Auslandseinsatz machen und es die Soldaten mit ist. Deswegen bin ich froh, Herr Minister, dass Sie in Ih-
Recht einfordern –, wie wir europäische Sicherheitsinte- ren Verteidigungspolitischen Richtlinien einen Satz ein-
ressen definieren und wie wir diese Bereiche kompatibel gefügt haben, mit dem Sie Ihr Verständnis der deutschen
machen können, um die Sicherheit unserer Bürgerinnen wehrtechnischen Industrie zum Ausdruck bringen, näm-
und Bürger zu gewährleisten. lich dass sie eine dienende Funktion hat. Ich würde mich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sehr freuen, wenn es uns in Zukunft gelingt, vor diesem
der CDU/CSU) Hintergrund die richtigen Entscheidungen zu treffen, so-
dass die Industrie zwar einerseits wettbewerbsfähig ist,
Zur Demografie. Herr Minister, Sie haben eben ge- andererseits aber in einer angemessenen Zeit das not-
sagt, dass der Umbau der Bundeswehr zu einer Freiwilli- wendige Material verlässlich zur Verfügung stellen
genarmee notwendig war. – Sie haben „leider“ gesagt; muss.
ich als FDP-Vertreterin würde „Gott sei Dank“ sagen. –
Das hat selbstverständlich auch etwas mit der demogra- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vielleicht
fischen Entwicklung zu tun. An dieser Stelle möchte ich ist der Begriff „verdienen“ besser als „die-
mich für einen Gedanken starkmachen – das ist eben nen“!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14519
Elke Hoff
(A) Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit lenwerk keine große Bundeswehrreform, sondern aus- (C)
bedanken. schließlich einen kleineren Verwaltungsakt. Wir schauen
einmal, wie die Verhandlungen jetzt weitergehen wer-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den.

Vizepräsident Eduard Oswald: Herr Minister, Sie stellen sich hin und sagen: „Die
Vielen Dank. – Frau Kollegin, ich konnte die Zwi- Entscheidungen müssen verantwortbar und verlässlich
schenfrage nicht mehr zulassen, weil die Redezeit schon sein.“ Ich frage mich dann aber, wer eigentlich im Bun-
abgelaufen war. Ich glaube, Sie haben das auch so ver- deskabinett dem 44. Finanzplan zugestimmt hat. Sie wa-
standen. ren doch dabei. Wenn Sie ein Jahr später diesen Finanz-
plan nahezu komplett revidieren, dann ist die Frage:
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak- Welche der beiden Entscheidungen war nicht „verant-
tion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Omid wortbar und verlässlich“?
Nouripour. Bitte schön, Herr Kollege.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wirklich ein Rätsel, das Sie bitte auflösen mögen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute auf Es wäre spannend und angesichts der Verlässlichkeit, die
den Tag genau vor zehn Jahren hätte niemand daran ge- Sie hier beanspruchen, gar nicht so falsch, wenn Sie viel-
dacht und geglaubt, dass wir, der Bundestag, einmal die leicht irgendwann einmal sagen würden, was denn ei-
Bundeswehr nach Afghanistan schicken würden. gentlich falsch war und was Sie dazu bewogen hat, diese
Entscheidung zu revidieren.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wirklich
wahr!) Der Finanzdruck bleibt aber bestehen. Es bleibt bisher
rätselhaft, wo das neue Geld herkommen soll. Wir sind
Vor wenigen Jahren wäre es nicht denkbar gewesen, sehr gespannt. Aber Fakt ist: Nominell 65 000 Soldaten
über einen Einsatz im Libanon oder im Sudan zu spre- weniger werden im Jahr 1 Milliarde Euro mehr kosten.
chen. Niemand kann heute wissen, was in 15 Jahren die Ich weiß nicht, ob Sie der Bundeswehr damit einen Ge-
Hauptherausforderungen bei der Sicherheit unseres Lan- fallen tun. Vor allem ist es auch spannend, dass ur-
des und die Aufgaben der Bundeswehr sein werden. Wer sprünglich 2011 und 2012 die entscheidenden Jahre sein
heute behauptet, das für die Zukunft zu wissen, ist ent- sollten; die Anschubfinanzierung sollte vor allem 2011
weder ein Hellseher oder ein Hochstapler. erfolgen. Jetzt ist alles ein bisschen hin- und hergebogen
Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die Bun- worden, auch der Zeitplan. Das heißt, erst 2013 gibt es
(B) deswehr flexibler wird. Das geht natürlich nur dann, einen richtigen Schluck mehr für die Bundeswehr. Ko- (D)
wenn das Geld zusammengehalten wird. Das Geld in mischerweise ist dann Wahlkampf. Es ist natürlich alles
diesen Zeiten der Verschuldung zusammenzuhalten, ist andere als gut für die Truppe, dass Sie uns im Nach-
natürlich alles andere als einfach. Deshalb war es völlig hinein sozusagen einen Wahlkampfetat hineinzimmern
richtig, dass der ehemalige Verteidigungsminister Karl- wollen. Deshalb halte ich es nicht für angemessen, sich
Theodor zu Guttenberg gesagt hat, er wolle eine große hier dafür feiern zu lassen, dass weniger gespart wird;
Bundeswehrreform durchführen. Er hat dies am Anfang denn das, was Sie heute nicht sparen, wird die Truppe
fälschlicherweise ausschließlich mit dem Finanzdruck morgen und übermorgen doppelt und dreifach sparen
begründet; aber der Finanzdruck ist vorhanden und wird müssen; das sage ich auch in Richtung der Sozialdemo-
auch in den nächsten Jahren vorhanden sein. kratie. Ich verstehe nicht, dass man einfach immer mehr
Geld braucht. Das wird auf lange Sicht nicht funktionie-
Insofern war es richtig, hier heranzugehen und große ren. Noch einmal: Wir brauchen einfach andere Struktu-
Überschriften zu produzieren. Die Strukturen müssen ren, eine andere Größe und – noch einmal – vor allem
tatsächlich effizienter gestaltet werden. Die Gesamt- eine andere Beschaffungspolitik.
größe der Bundeswehr ist auf den Prüfstand gestellt wor-
den; das sollte aus unserer Sicht weiterhin getan werden. Die zentrale Frage ist aber die nach der sicherheits-
Vor allem geht es um Veränderungen bei der Beschaf- politischen Ableitung. Sie haben es so gelöst, dass Sie
fungsphilosophie, die bisher in diesem Land existiert: Verteidigungspolitische Richtlinien formuliert haben.
Seit Jahrzehnten wird mit einem Etat, der eigentlich für Sie haben bei der Verabschiedung des Präsidenten der
andere Zwecke da ist, Industriepolitik betrieben. All Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Kersten Lahl,
diese Punkte sind wichtig. vor einigen Tagen gesagt, wir hätten in der Sicherheits-
politik in Deutschland keine Strategielücke. Ich teile
Das Problem beim alten Minister war: Er hat Über- diese Äußerung: Ich glaube nicht, dass wir eine Strate-
schriften produziert, aber die Seiten des Buches nicht ge- gielücke haben, denn wir haben gar keine Strategie. Ich
füllt. Das heißt, er hat Ihnen, Herr Minister, ein ziemlich sehe gar keine Strategie dieser Bundesregierung. Die
leeres Heftchen hinterlassen. Dadurch können Sie nicht Verteidigungspolitischen Richtlinien sind ein Mahnmal
nur verwalten, sondern auch gestalten. Es ist nicht nur für diese Strategielosigkeit.
schlecht, dass da noch nicht so viel gemacht worden ist,
dass die Kärrnerarbeit noch bevorsteht; denn das gibt Ih- Es gab einmal Verteidigungsminister, die die Verteidi-
nen die Möglichkeit, tatsächlich zu gestalten. Das Pro- gungspolitischen Richtlinien im Bundeskabinett haben
blem ist: Wenn ich mir diesen Einzelplan anschaue, dann verabschieden lassen. Sie aber haben daraus einen Ver-
finde ich davon nichts wieder. Ich finde in diesem Zah- waltungsakt gemacht. Es ist mit dem Auswärtigen Amt
14520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Omid Nouripour
(A) nicht gesprochen worden, auch mit anderen Ressorts nen, Herr Bundesverteidigungsminister, gilt dafür unser (C)
nicht. Insofern gibt es keine Strategie der Bundesregie- herzlicher Dank. Sie haben die Reformvorhaben zu ei-
rung. Es gibt nur die grundsätzlichen Gedanken, die Sie nem Konzept aus einem Guss zusammengefügt. Wir
formuliert und verschriftlicht haben. Das ist einfach können nun die Neuausrichtung der Bundeswehr auf
nicht ausreichend. eine solide und tragfähige finanzielle Grundlage stellen.
Strategielos ist die Bundesregierung auch, wenn es Ich muss gleichwohl etwas grundsätzlicher werden:
darum geht, mit einer Stimme zu sprechen: Die Wider- Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass sich die
sprüche zwischen Verteidigungsminister und Außen- Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz gewandelt hat.
minister sind bekannt. Neu ist natürlich, dass sich der Das hat Konsequenzen. Deswegen ist diese tiefgreifende
Verteidigungsminister und sein eigener Staatssekretär Reform unserer Streitkräfte notwendig geworden. Künf-
nun auch öffentlich widersprechen, wie wir das vor eini- tig wird Deutschland eher mehr Verantwortung für die
gen Wochen erfahren durften. Wahrung internationaler Sicherheit zukommen als weni-
Das Problem ist, dass uns Parlamentarierinnen und ger. Die westlichen Demokratien sind Inseln des Wohl-
Parlamentariern jetzt die Aufgabe bevorsteht, in den stands auf diesem Globus. Auch weil es uns besser geht
nächsten Wochen alles daranzusetzen, in den Ausschuss- als anderen, tragen wir ein höheres Maß an Mitverant-
beratungen eine Bundeswehrreform zustande zu brin- wortung. Unser Wohlstand basiert auf unserer freiheitli-
gen, die diesen Namen auch verdient. Die Bundeskanz- chen Gesellschaftsordnung, auf Demokratie und Rechts-
lerin und andere in der Bundesregierung haben immer staatlichkeit sowie auf der Achtung und dem Schutz der
wieder gesagt: Es darf keine Sicherheitspolitik nach Menschenrechte. Es sind auch diese Werte, die wir ver-
Kassenlage geben. Das ist eine richtige Aussage. Das treten, wenn wir uns unter dem Dach der Vereinten Na-
Problem ist aber, dass Sie weder eine sinnvolle Sicher- tionen und der NATO daran beteiligen, in anderen Teilen
heitspolitik machen noch auf die Kassenlage schauen. der Welt Sicherheit zu schaffen.
Das reicht einfach nicht.
Die Landesverteidigung als Bündnisverteidigung ist
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht unwichtig geworden. Sie wird in den Verteidi-
sowie bei Abgeordneten der SPD) gungspolitischen Richtlinien zu Recht weiterhin als erste
Aufgabe der Bundeswehr genannt. Die Beteiligung an
Vizepräsident Eduard Oswald: der internationalen Verhütung und Bewältigung von
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un- Konflikten wird aber weiter an Bedeutung gewinnen.
serer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Eine Truppe, die in der Lage sein muss, durchhaltefähig
Kollege Thomas Silberhorn. Bitte schön, Kollege weltweit im Einsatz zu sein, braucht eine andere Struktur
(B)
Thomas Silberhorn. als die Bundeswehr der Nachkriegszeit. Diese Reform (D)
bietet die Chance, Unzulänglichkeiten, die seit langem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erkannt sind, zu beheben und die Bundeswehr so auszu-
neten der FDP) richten, dass sie ihrem Auftrag auch gerecht werden
kann.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Zu den wesentlichen Kriterien für den Erfolg der
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Neuausrichtung der Bundeswehr zählt die Führungskul-
Verteidigungshaushalt für das Jahr 2012 hat weit über
dieses Jahr hinaus Bedeutung. Denn er legt die Grund- tur der Streitkräfte. Auf diesem Feld gilt die Bundeswehr
lage für eine tiefgreifende Neuausrichtung der Bundes- weltweit als Vorbild. Die Grundsätze der Inneren Füh-
wehr. Dem Bundesverteidigungsminister ist es gelungen, rung garantieren die Stellung jedes einzelnen Angehöri-
das scheinbar Unvereinbare miteinander zu vereinen. gen der Bundeswehr als Staatsbürger in Uniform. Lassen
Einerseits leistet der Etat einen wichtigen Beitrag zur Sie mich das etwas ausführen, damit wir für die Öffent-
Konsolidierung des Haushalts und zur Einhaltung der lichkeit nicht immer in Floskeln reden. Innere Führung
Schuldenbremse, andererseits macht dieser Etat die Bun- heißt: Jeder Auftrag innerhalb der Streitkräfte muss
deswehr fit für die Zukunft. Ich möchte anführen, dass ethisch, rechtlich und politisch legitimiert sein und soll
die Truppe im kommenden Jahr zum Beispiel über von jedem Befehlsempfänger in Bezug auf diese Krite-
200 Millionen Euro zusätzlich für Materialerhaltung rien hinterfragt werden. Die Auftragstaktik, die damit
ausgeben kann. Trotz eines kleineren Haushalts für Ver- verbunden ist, hat sich in allen vergleichenden Betrach-
teidigung gibt es keine Abstriche an den militärischen tungen als überlegen erwiesen. Deshalb gilt es, dieses
Fähigkeiten. Entscheidend ist, dass die vorhandenen Modell zu erhalten.
Mittel effizient und an den Einsatzerfordernissen orien-
In einer Freiwilligenarmee ist es allerdings eine be-
tiert verwendet werden.
sondere Herausforderung, ein kongruentes Wertever-
Dieser Etat ist ein Beleg dafür, dass die christlich- ständnis zwischen Streitkräften und Gesellschaft zu ge-
liberale Koalition keine Sicherheitspolitik nach Kassen- währleisten. Zu diesem Zweck ist es notwendig, einen
lage macht. Es war richtig, anhand der Verteidigungs- gesellschaftlichen Konsens über den Auftrag der Streit-
politischen Richtlinien zuerst die Koordinaten unserer kräfte herzustellen. Die Fähigkeit zum Einsatz im Kon-
Sicherheitspolitik zu bestimmen, die Aufgaben und Fä- flikt setzt voraus, dass das Kämpfen zum Anforderungs-
higkeiten der Bundeswehr zu präzisieren und dann profil der Soldaten gehört. Wir müssen uns darüber im
daraus den erforderlichen Finanzbedarf zu ermitteln. Ih- Klaren sein, dass es dabei nicht nur um Selbstverteidi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14521
Thomas Silberhorn
(A) gung geht. Entscheidend ist aber, dass der Kampf einer jede für sich über alle Fähigkeiten verfügen, die die (C)
strikten Wertebindung unterliegt. Europäische Union heute braucht, um ihrer weltweiten
Verantwortung gerecht zu werden. Wir müssen daher die
Dieses Verständnis für den Dienst in der Bundeswehr
verschiedenen Fähigkeiten der einzelnen Streitkräfte
muss unsere Gesellschaft aufbringen. Die Soldaten sol-
besser miteinander vernetzen. Bei der Luftüberwachung
len das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform leben, aber
zum Beispiel zeigt sich, dass integrierte europäische
die Gesellschaft muss es auch verstehen, damit die
Verbände funktionieren, wo spezifische Fähigkeiten
Streitkräfte in ihr fest verankert bleiben. Gerade die Frei-
sinnvollerweise gemeinsam ausgeübt werden. Wenn un-
willigenarmee erfordert, dass sich die Gesellschaft zur
sere globale Verantwortung zunimmt, die zur Verfügung
Bundeswehr bekennt.
stehenden Mittel aber knapper werden, dann muss die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Koordinierung und Kooperation mit unseren europäi-
schen Partnern ein Teil der Lösung sein.
Die Bundeswehr braucht hochmotivierte Soldaten.
Der Bund steht im Wettbewerb mit anderen Arbeitge- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Bundes-
bern. Deswegen spielt die Attraktivität der Bundeswehr wehr ist eine leistungsfähige Armee. Wo sie im Einsatz
eine wichtige Rolle für den Erfolg dieser Reform. CDU/ ist, genießt sie höchsten Respekt für ihre Arbeit. Ich
CSU und FDP diskutieren intensiv über ein ganzes Bün- danke unseren Soldatinnen und Soldaten sowie allen
del von Maßnahmen, um den Dienst in den Streitkräften Zivilbeschäftigten für ihren Dienst, und ich danke auch
attraktiver zu gestalten. Ein wichtiges Anliegen ist der ihren Angehörigen. Sie tun etwas für unser Land.
Ausbau einer elternfreundlichen Infrastruktur in der Herzlichen Dank.
Bundeswehr. Von der Öffnung für Seiteneinsteiger bis
zur Mitnahme von Versorgungsanwartschaften gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eine breite Palette von Verbesserungsmöglichkeiten. Die
Koalitionsfraktionen arbeiten mit Nachdruck, um rasch Vizepräsident Eduard Oswald:
zu Ergebnissen zu kommen. Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster und damit
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: letzter Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion der
Sie sind gestoppt worden!) CDU/CSU unser Kollege Klaus-Peter Willsch. Bitte
schön, Kollege Willsch.
Mit dem Entwurf eines Einsatzversorgungs-Verbesse-
rungsgesetzes, mit dem die Versorgung von Geschädig-
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
ten und Hinterbliebenen verbessert werden soll, hat die
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
christlich-liberale Koalition in der letzten Woche eine
und Kollegen! Herr Minister, ich mag es nicht, wenn (D)
(B) wichtige Änderung auf den Weg gebracht. Wir werden
Menschen Steine hinterher geworfen werden. Deshalb
diesen Gesetzentwurf zeitnah verabschieden. Die Ver-
will ich zwei Punkte besonders herausstellen. Wir alle
besserungen werden bald Realität sein. Im vorliegenden
wissen, dass Minister de Maizière das Amt in vorbild-
Haushaltsentwurf ist bereits eine Erhöhung der Versor-
licher Weise übernommen hat, nachdem es vakant war,
gungsausgaben um mehr als 60 Millionen Euro für 2012
aber ich möchte Karl-Theodor zu Guttenberg an diesem
fest eingeplant.
Tag bei der Einbringung des Haushalts ausdrücklich für
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das danken, was er für unsere Bundeswehr getan hat.
Die Frage nach den künftigen Standorten der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
wehr ist ausgesprochen komplex. Militärische, wirt- Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Der
schaftliche und personelle Aspekte sowie strukturpoliti- wohnt nicht mehr hier!)
sche Anliegen der Bundesländer und vieles mehr
Es war völlig anders, als Herr Trittin es heute ausge-
erfordern intensive Abstimmungen. Es geht schlichtweg
führt hat. KT hat – –
nicht anders, als sich dafür die nötige Zeit zu nehmen.
Uns ist bewusst, dass gerade dieser Punkt einige Verun- (Lachen bei der SPD – Bernhard Brinkmann
sicherung in der Truppe verursacht. Aber gerade weil [Hildesheim] [SPD]: KT: Kein Thema!)
Standortentscheidungen Konsequenzen für die Soldaten,
Karl-Theodor zu Guttenberg hat die Notwendigkeit der
die Zivilbeschäftigten und ihre Familien haben, müssen
Bundeswehrreform erkannt und durch Einsatz in den
wir mit Sorgfalt vorgehen. Der Fahrplan für die Ent-
Parteigremien, wie es sein muss, eine Veränderung her-
scheidungen steht.
beigeführt, die auf zwei Parteitagen, dem der CDU und
Gestatten Sie mir, hier nochmals mit Nachdruck für dem der CSU, mit breiten Mehrheitsbeschlüssen dazu
die Präsenz der Bundeswehr in der Fläche zu werben. geführt hat, dass die CDU und die CSU ihre Haltung ge-
Die Verwurzelung der Truppe in der Breite unseres Lan- ändert haben und sich den Übergang von einer Wehr-
des stärkt ihr Ansehen in der Bevölkerung. Flächende- pflichtarmee zu einer Freiwilligenarmee aktiv zur Ge-
ckende Präsenz ist eine Voraussetzung dafür, dass die staltung vorgenommen haben.
Bundeswehr nicht auf das oft beklagte freundliche Des-
Der eine oder andere wird, wenn er ehrlich zu sich
interesse stößt.
selbst ist, zugestehen – ich war mehrfach mit ihm unter-
In der Europäischen Union stehen wir vor der Auf- wegs bei der Truppe im Einsatz –: Er hat die Lage der
gabe, unsere Armeen besser und enger aufeinander ab- Soldaten im Einsatz und das, was die Soldaten dort für
zustimmen. 27 nationale Armeen können unmöglich unser Land im Krieg tun, in hervorragender Weise in das
14522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Klaus-Peter Willsch
(A) Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Für beides ge- aus. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt nomi- (C)
bührt ihm ausdrücklicher Dank. nal 1,18 Prozent. Nach der Rechenweise der NATO be-
trägt er 1,3 Prozent. Ich weise darauf hin, dass wir damit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – weit unterhalb der im Rahmen der Selbstverpflichtung
Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Untergrenze festgelegten 2 Prozent des BIP liegen.
NEN]: Wenn ich du wäre, würde ich auch Ich glaube, dass wir in Sachen Landesverteidigung und
nicht über den Haushalt reden! – Dr. h. c. Sicherung unserer Freiheit sehr sorgfältig vorgehen müs-
Gernot Erler [SPD]: Ist das der Nachruf? – Ge- sen. Ich rege an, dass man sich innerhalb der NATO Ge-
genruf des Abg. Omid Nouripour [BÜND- danken darüber macht, ob dieser Wert, 2,0 Prozent des
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Ablenken BIP, der nicht mehr von vielen erreicht wird, noch zeit-
vom Haushalt! – Christian Lange [Backnang] gemäß ist oder nicht. Dauerhaft diesen großen Abstand
[SPD]: Eine der gescheiterten Persönlichkei- zwischen dem, was wir wirklich für Verteidigung auf-
ten der deutschen Politik wird hier gelobt! Un- bringen, und dem, zu dem wir uns innerhalb der NATO
glaublich!) verpflichtet haben, zu haben, halte ich nicht für einen
Leider sind auch im Jahr 2011 nicht alle Soldaten guten Zustand.
wohlbehalten aus dem Einsatz in Afghanistan zurück- Wir werden uns einzelnen Problemstellungen natür-
gekehrt. Sieben Kameraden sind in Afghanistan gefal- lich besonders im Rahmen der Einzelplanberatungen im
len. Das macht greifbar, was eine Armee im Einsatz be- Haushaltsausschuss annehmen. Ich denke, das Thema
deutet. Wir haben nicht nur Gefallene, sondern auch
Munition – es gibt immer wieder Berichte in den Zeitun-
Versehrte zu beklagen. Das ist Anlass genug, bei dieser
gen, dass es dort Probleme gibt – werden wir uns noch
Gelegenheit all denen, die diesen schweren und gefähr-
einmal detailliert vornehmen. Ein Sonderproblem ist der
lichen Dienst für unser Land auf sich nehmen, ausdrück-
Selbsteinkauf der Truppe. Für die, die es nicht wissen,
lich zu danken. Hierbei beziehe ich alle Kameraden ein:
erkläre ich es kurz: Es gibt immer wieder Klagen von
die Freiwilligen und länger dienenden Zeitsoldaten und
Soldaten, dass dieses oder jenes Ausrüstungsstück nicht
die Berufssoldaten, die früheren Wehrdienstleistenden,
die jetzt langsam ausgephast werden, die neuen Freiwil- geeignet sei. Wenn sie dann selbst etwas beschaffen,
ligen und die Reservisten. müssen sie erstens die Kosten selbst tragen, und zwei-
tens können Versicherungsprobleme auftauchen, wenn
Am 15. September des letzten Jahres habe ich an die- es nicht die entsprechende Sicherheitsspezifikation hat.
ser Stelle darauf hingewiesen, dass man dem Einzel- Diese Themen sind für den einzelnen Soldaten im Ein-
plan 14 für das Jahr 2011 seine Unwägbarkeiten ange- satz wichtig.
(B) sehen hat. Im vergangenen Jahr hat sich viel getan. Wir Beim Thema Großgeräte stellt sich erneut die Frage, (D)
haben inzwischen mit Blick auf die neue Bundeswehr
und die Freiwilligenarmee viel mehr Informationen auf wie wir dort vorgehen. Der Minister hat angedeutet, dass
dem Tisch. Wir können für das Jahr 2012 auf festerer es bei den A400M eine Lösung geben wird, wobei ein
Grundlage planen. Problem dabei deutlich wird. Diese 13 A400M, die uns
auf den Hof gestellt werden, müssen wir verkaufen. So
Natürlich wäre es schön, wenn wir schon das Gesamt- wird das vielleicht auch in anderen Bereichen der Groß-
tableau hätten. Der Minister hat es aber angekündigt, geräteausstattung sein. Wir müssen als Bundesrepublik
und er bewegt sich damit auf der Linie des verkündeten Deutschland dabei helfen, Wehrtechnik- und Techno-
Zeitplans: Die Stationierungsentscheidungen stehen im logieunternehmen in diesem Bereich zu erhalten, indem
Herbst – im Oktober – an. Dann müssen wir natürlich wir ihnen beim Export Wege ebnen.
nachbessern. Der Hinweis darauf, dass diese vor der
zweiten und dritten Lesung erfolgen, erlaubt uns viel- So weit mein kursorischer Überblick. Lassen Sie
leicht, die Entscheidungen im Rahmen der Beratungen mich zum Schluss kommen. Ich selbst habe im Rahmen
an die zukünftigen Gegebenheiten anzupassen. der parlamentarischen Sommerpause natürlich auch
Standorte besucht, zum Beispiel mein Sanitätskom-
Der Verteidigungshaushalt muss Sparbeiträge brin- mando II in Diez, in der Nachbarschaft. Ich habe immer
gen. Wenn Sie sich den Verteidigungshaushalt an- wieder festgestellt, dass die Soldaten im Wesentlichen
schauen und die nominalen Beträge betrachten, dann drei Dinge von uns erwarten: Sie erwarten, dass wir und
müssen Sie immer sehen, dass das Selbsterbringen der die Bevölkerung sie sowie die Art und die Weise ihres
Versorgungsleistungen und die BImA-Leistungen, also Dienstes wahrnehmen. Sie wünschen sich, dass das Par-
die Kosten für die Unterbringung in bundeseigenen Lie- lament hinter ihnen steht und ihnen die Legitimation für
genschaften, für die Miete zu zahlen ist, bei der Bundes- den Einsatz gibt, und sie wünschen, dass sie ihre Arbeit
wehr am stärksten zu Buche schlagen. Deshalb ist auch mit ordentlicher Ausrüstung machen können. Ich bin
ein nominales Fortschreiben eines Plafonds gleichwohl überzeugt: Im Miteinander für unsere Parlamentsarmee
eine Verringerung des operativen Spielraums. Es war können wir das gemeinsam erreichen. Dazu lade ich Sie
dringend notwendig, dass wir 1 Milliarde Euro über den herzlich ein.
Einzelplan 60 mobilisiert haben, um dabei zu helfen, das
große Paket der Personalanpassung zu tragen. Danke sehr.
Der Einzelplan 14 macht im Regierungsentwurf mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
31,68 Milliarden Euro 10,4 Prozent des Bundeshaushalts neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14523

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Kabinett zum notwendigen Stellenwert verholfen hat. (C)
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Ebenso danke ich Herrn Schäuble dafür, dass es trotz der
darf Sie bitten, auf den Plätzen zu bleiben, und darf das Schuldenbremse möglich war, diese Leistung zu erbrin-
Wort dem Bundesminister der Verteidigung geben. Bitte gen.
schön, Herr Kollege de Maizière.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver- Ich möchte deutlich machen, dass dieser Haushalt ein
teidigung: Wirksamkeitshaushalt ist. Dieser Haushalt kann das
Herr Präsident! Ich möchte keinen Debattenbeitrag erste Mal in 50 Jahren auf die Umsetzung eines verbind-
leisten, sondern dem Parlament nur mitteilen, dass der lichen Menschenrechtskonzeptes bauen, auf eine Art
ehemalige Verteidigungsminister Hans Apel gestorben Menschenrechts-TÜV, den es die letzten 50 Jahre nicht
ist. Hans Apel war ein großer Sozialdemokrat, er war ein gegeben hat. Das zeigt, mit welcher Wertorientierung
bedeutender Politiker, und er war auch ein bedeutender wir an unsere Entwicklungskooperation herangehen.
Verteidigungsminister. Unsere Gedanken sind bei den
Angehörigen, der Familie. Über die Trauerfeier und Ich wundere mich allerdings manchmal über tages-
Ähnliches wird zu sprechen sein. Wir werden das in an- aktuelle Kritik. So haben wir zum Beispiel das Volumen
gemessener Weise in Übereinstimmung mit seiner Fami- der Entwicklungskooperation mit Syrien von 167 Millio-
lie tun. Mir war wichtig, die Debatte zu diesem Etat nen Euro auf nur noch 5 Millionen Euro gesenkt und den
nicht zu beenden, ohne das hier mitzuteilen. Rest aufgrund der Menschenrechtsmissachtungen, zu
denen es dort kommt, völlig zu Recht eingefroren. Von
Vizepräsident Eduard Oswald: gewissen Teilen des Hauses wurde daraufhin skandali-
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Wir trauern mit siert, wir würden uns nicht um die Trinkwasserversor-
den Angehörigen und der sozialdemokratischen Bundes- gung der Menschen und um die Betreuung von Flücht-
tagsfraktion. Wir werden als Parlament in geeigneter lingen aus Irak und Palästina kümmern. Ich wundere
Form die Arbeit und die Persönlichkeit eines bedeuten- mich über das humanitäre Verständnis von manchen
den Bundespolitikers, unseres Freundes Hans Apel, wür- Grünen. Ich muss sagen, Frau Koczy: Das ist mehr als
digen. Wirtschaftsförderung. Es geht in diesem Etat auch um
die Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zum
nächsten Geschäftsbereich. Ich rufe den Geschäfts- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
bereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Wir haben es geschafft, auch mit diesem Haushalt
(B) Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23, die Entwicklungszusammenarbeit aus der politischen (D)
auf. Ich gebe nun das Wort dem Bundesminister für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Herrn Kuschelecke herauszuholen und sie in die Mitte der Ge-
Bundesminister Dirk Niebel. Bitte schön, Kollege Dirk sellschaft zu führen. Wir schaffen es, dazu beizutragen,
Niebel. die Lebenschancen von Menschen zu verbessern, ohne
Hilfsbedürftigkeit zu verstetigen und vor allem ohne
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eine Hilfsindustrie sich selbst befriedend immer wieder
der CDU/CSU) zu füttern und zu ernähren, sondern wir arbeiten darauf
hin, möglichst viele unserer Partner möglichst bald zu
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu- graduieren und aus der Abhängigkeit von fremden Leis-
sammenarbeit und Entwicklung: tungen herauszuführen.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass auch wir zunächst Dennoch brauchen wir im nächsten Jahr, 2012, mit
unserer Trauer über den Tod der beiden deutschen Ent- 6,33 Milliarden Euro viel Geld. Wir müssen in Deutsch-
wicklungshelfer Ausdruck verleihen. Wir können den land immer wieder die Legitimität erwerben, dieses Geld
Angehörigen versichern, nachdem sie 14 Tage gebangt im Ausland auszugeben. Aber es nützt einer internatio-
und gehofft haben, dass wir jetzt, in dieser schweren nal vernetzten Gesellschaft wie Deutschland, diese Ko-
Stunde, an sie denken. In diesem Zusammenhang operation zu betreiben. Es gibt auch wirtschaftliche
möchte ich auch all denjenigen, die überall in der Welt Rückflüsse in unser Land; das darf man immer wieder
für Deutschland ihren Dienst tun, sei es in Uniform oder feststellen.
in Zivil, unseren ausdrücklichen Dank aussprechen.
Wir haben es geschafft, im Vergleich zum Vorjahr
In diesem Jahr wird das Bundesministerium für wirt- 114 Millionen Euro mehr zur Verfügung zu stellen. Das
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 50 Jahre sind 560 Millionen Euro mehr, als in der Finanzplanung
alt. Es wurde vor 50 Jahren von Walter Scheel als Bun- vorgesehen. Dennoch reicht das alleine nicht aus, um
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ge- unsere Ziele zu erreichen. Umso wichtiger ist es, dass
gründet. Der Zusatz „und Entwicklung“ kam erst in den wir auf die Wirkung dessen achten, was wir tun. Wir
90er-Jahren unter Minister Spranger zustande. Wir kön- haben unsere Vorleistung durch die Vorfeldreform er-
nen jetzt den dritten Rekordhaushalt in Folge in den bracht, durch die Zusammenführung von GTZ, DED
Bundestag einbringen. Ich möchte dafür ausdrücklich und InWEnt, die größte Strukturreform in der Ge-
Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel danken, die diesem schichte der deutschen Entwicklungspolitik, an der drei
Politikfeld durch ihre ständige Unterstützung auch im Vorgängerregierungen gescheitert sind.
14524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Bundesminister Dirk Niebel


(A) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ja! Eine sehr Nothilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit in der (C)
gute Entscheidung! Sehr mutig und sehr rich- politischen Diskussion gegeneinander auszuspielen, ist
tig!) politische Agitation. Beides hat seinen Platz:
Wir setzen diese Reform fort, indem wir in diesem Haus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
halt vorsehen, ein unabhängiges Evaluierungsinstitut zu der CDU/CSU)
gründen, das die Möglichkeit eröffnet, die Wirkung des-
sen, was wir tun, wissenschaftlich nachzuweisen. Nothilfe da, wo Menschen in Not sind und dringend un-
serer Hilfe bedürfen, wirtschaftliche Zusammenarbeit
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für nachhaltige, dauerhafte Entwicklung, damit Men-
Darüber hinaus ist ein Schwerpunkt nach wie vor schen aus eigener Kraft aus dem Hilfebezug herauskom-
Subsahara-Afrika. Afrika ist und bleibt trotz aller men.
Herausforderungen ein Chancenkontinent. 47,4 Prozent Ich konnte in der letzten Woche den weltweit größten
aller regionalen Mittel werden in Afrika südlich der Nationalpark eröffnen: KAZA, Kavango-Zambezi
Sahara investiert, und auch dies das erste Mal in 50 Jah- Transfrontier Conservation Area, ein Gebiet so groß wie
ren auf der Basis eines Bildungskonzepts, das Bildungs- Italien, in dem die Kooperation mit der Wirtschaft und
armut ganzheitlich bekämpfen und dadurch zur Bekämp- den örtlichen Kommunen im Sinne einer nachhaltigen
fung von Armut insgesamt beitragen soll. Wir werden Entwicklung für die Zukunft zwingend notwendig ist,
von 2009 bis 2013 zu einer Verdoppelung der Mittel für um die Biodiversität in dieser Region zu schützen.
Zusagen im Bildungsbereich in Subsahara-Afrika kom-
men. Lassen Sie mich mit Blick auf meine Redezeit einen
letzten Punkt ansprechen. Wir schaffen mit diesem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Haushalt das, was alle Fraktionen in diesem Haus immer
2009 betrug das Startvolumen 68,5 Millionen Euro. Im gewollt haben: Wir schaffen die Grundlage für die politi-
nächsten Jahr sind dafür schon 105 Millionen Euro vor- sche Steuerung der Deutschen Gesellschaft für Interna-
gesehen. Für 2013 sind 137 Millionen Euro anvisiert. tionale Zusammenarbeit. Dieser Haushalt versetzt die
Regierung, welche auch immer gerade im Amt ist, end-
Wir stärken weiter die Zusammenarbeit mit der Zivil- lich wieder in die Lage, das, was politisch gewollt wird,
gesellschaft und der Wirtschaft. Dafür nehmen wir wei- tatsächlich auch umzusetzen.
tere 57 Millionen Euro in die Hand. Wir schaffen eine
„Servicestelle bürgerschaftliches und kommunales (Beifall bei der FDP)
Engagement“, um das große gesellschaftliche Engage-
Ich möchte mit einem Zitat aus der Süddeutschen
ment besser zu integrieren.
(B) Zeitung vom 17. August schließen, die bekanntermaßen (D)
Wir fördern Ostafrika so, wie es sinnvoll und nötig kein Zentralorgan der Freien Demokratischen Partei ist.
ist. Die Bundesregierung hat auf die Hungerkatastrophe Dort steht geschrieben – das wird vor allem Herr Raabe
unmittelbar reagiert. 33,5 Millionen Euro an bilateraler lieben –:
Unterstützung wurden zur Verfügung gestellt, zusätzlich
Als Chef im Ministerium des guten Willens spricht
zu den multilateralen Beiträgen für die Hilfe von EU und
Dirk Niebel unangenehme Wahrheiten aus. Damit
Weltbank. Diese werden in der innerdeutschen Diskus-
wird nach zwei Jahren im Amt deutlich: Niebel
sion gerade von den Multilateralisten, die uns immer sa-
wird niemals der König der Wohlmeinenden wer-
gen, wir sollten mehr machen, leider unter den Tisch fal-
den. Er hört auf mit der Botschaft, dass die schiere
len gelassen, obwohl sie eine Leistung der deutschen
Masse an Geld allein über die Wirkung entscheidet.
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und unserer Volks-
Ganz nebenbei entwickelt sich auf diese Weise aus-
wirtschaft sind. Deshalb gehören sie zwingend dazu.
gerechnet dieser FDP-Minister … zu einem Plus-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) punkt in der Bundesregierung.
Nach meinem Besuch im Flüchtlingslager Dadaab (Beifall bei der FDP)
stellen wir kurz-, mittel- und langfristig bis zu 118 Mil-
lionen Euro zur Verfügung, insbesondere für die Ent- Das hätte ich selbst nie gesagt, ich selbst hätte es auch
wicklung ländlicher Räume, um besser auf die nächste nie so schön sagen können. Aber ich hoffe, dass dieser
Hungersnot, die nächste Dürrekatastrophe, die bestimmt Haushalt mit Ihrer Hilfe ein Pluspunkt für Deutschland
kommen wird, vorbereitet zu sein. Es war Bärbel und unsere Partner in der Welt wird.
Dieckmann, die Präsidentin der Deutschen Welthunger- Vielen herzlichen Dank.
hilfe, übrigens eine ehemalige SPD-Politikerin, die gesagt
hat: Die ländliche Entwicklung ist in den vergangenen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Jahren schmählich vernachlässigt worden. – Deswegen
arbeiten wir daran, die Menschen zu ertüchtigen, mit sol- Vizepräsident Eduard Oswald:
chen Dürren besser umgehen zu können. Aber das reicht Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächste Redne-
nicht aus. Wir brauchen politische Lösungen. Aus die- rin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialde-
sem Grund unterstützen wir in Somalia die Afrikanische mokraten unsere Kollegin Frau Dr. Bärbel Kofler. Bitte
Union und die IGAD, die Intergouvernementale Behörde schön, Frau Kollegin Dr. Kofler.
für Entwicklung, damit hier politische Gespräche ge-
führt werden können. (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14525

(A) Dr. Bärbel Kofler (SPD): tisch orientiertes Handeln überhaupt erst ermöglichen. (C)
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie haben bei anderen Gelegenheiten doch sogar selbst
Allein mit Ihrem Schlusswort, Herr Minister, haben Sie gesprochen, dass die Länder ihre Ressourcen nutzen
– unbescheiden wie Sie sind – dem Ganzen die Krone müssen und man ihnen zum Beispiel helfen muss, Steu-
aufgesetzt. ereinnahmen zu generieren, damit diese Länder selbst ei-
nen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten können. Da-
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Eigenlob für brauchen wir finanzielle Mittel. Hierfür muss etwas
stinkt!) getan werden. Leider steht in Ihrem Strategiepapier dazu
Wenn es Ihr Markenzeichen wäre, unangenehme Wahr- herzlich wenig. Aber unter drei Punkten wird das Hohe-
heiten auszusprechen, dann hätten Sie diese Rede nicht lied der privaten Investitionen gesungen. Wenn ich das
mit dem Hinweis auf den Rekordhaushalt beginnen dür- in Zusammenhang mit der von Ihnen angesprochenen
fen. Werteorientierung bzw. dem Wertekodex setze, dann
habe ich Zweifel, ob wirklich Armutsorientierung und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Armutsbekämpfung im Mittelpunkt des Ganzen stehen.
der LINKEN)
Sehen wir uns einmal die einzelnen Punkte an. Wo-
364 Kollegen aller Fraktionen haben sich redlich be- rum geht es denn? Sie haben Bildung angesprochen.
müht, in den letzten Monaten Mittel und Sympathien für Schauen wir uns den Haushalt genau an. Der Haushalt
die Bekämpfung der Armut und der größten Katastro- wächst um 114 Millionen Euro auf. Sie selbst haben auf
phen einzuwerben, die den Planeten und sein Klima be- der Homepage des BMZ von einem dreistelligen Betrag
drohen. Aufgrund dieses Schwungs aus dem Bundestag gesprochen, mit dem die Bildung im kommenden Jahr
und dieser Unterstützung des gesamten Plenums hatte unterstützt werden soll. Das ist richtig und wichtig. Bil-
ich erwartet, dass Sie hier mehr zur Finanzierung des dung, insbesondere Grundbildung, ist ein Menschen-
Einzelplans 23 sagen. Sie haben die Chance nicht ge- recht – da sind wir uns alle in diesem Haus wohl einig –
nutzt, diese große parlamentarische Unterstützung in und die Voraussetzung für wirkliche Entwicklung. Wenn
Mittel für die Armutsbekämpfung umzumünzen. Sie aber versprechen, den gesamten Aufwuchs für den
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ute Bildungsbereich zu verwenden, und gleichzeitig ankün-
Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) digen, dass es in anderen Bereichen keine Kürzungen
geben und 200 Millionen Euro der bilateralen Entwick-
Ich kann Sie nur dringend auffordern, bis zur zweiten lungsarbeit entzogen werden sollen, falls Sie sich doch
und dritten Lesung nachzubessern. Der Haushalt 2012 entscheiden – das wäre übrigens dringend nötig –, dem
stellt die letzte Chance für die Erreichung der ODA- Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose
(B) Quote bis 2015 dar. Das wissen Sie genauso gut wie wir. und Malaria endlich die zugesagten Mittel zur Verfü- (D)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gung zu stellen, dann erklären Sie mir einmal, wie Sie
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Kunststück vollbringen wollen, die Mittel, die Sie
uns gerade für den Bildungsbereich versprochen haben,
Es ist dringend nötig, mit den Zahlenspielereien auf- zur Verfügung zu stellen.
zuhören. Sie sollten nicht – von einer von Ihnen geplan-
ten Absenkung in der Finanzplanung ausgehend – einen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Riesenaufwuchs in diesem Jahr darstellen, sondern müs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sen über die Mittel reden, die wirklich für die Armutsbe- Gleiches gilt für die Klimapolitik. Ich nenne einen
kämpfung sowie für die Bekämpfung der Folgen des entscheidenden Punkt aus Ihrem Strategiepapier zur Be-
Klimawandels und der Katastrophen dieser Erde zur kämpfung von Armut als Beispiel. Es geht darum, was
Verfügung stehen. in den Entwicklungsländern alles nötig wäre, um die
(Beifall bei der SPD) schon eingetretenen Folgen des Klimawandels für die
Menschen irgendwie erträglich zu gestalten und entspre-
Manchmal ist es hilfreich, den Haushalt und das Stra- chende Anpassungsstrategien zu entwickeln. Was tun
tegiepapier aus Ihrem Hause miteinander zu vergleichen. Sie? Wenn man Sie fragt, dann verweisen Sie auf etwas,
Ich glaube nicht, dass es förderlich ist, wenn Sie selbst in das ich als eierlegende Wollmilchsau bezeichne, nämlich
Ihrem Strategiepapier die Mittel zur Armutsbekämpfung auf den tollen neuen Energie- und Klimafonds der Re-
als heilige Kuh bezeichnen. Ich kann mir nicht vorstel- gierung. In diesem Jahr sind 42,5 Millionen Euro vorge-
len, dass Sie am Kabinettstisch Erfolg haben werden, sehen, die sich das BMU und das BMZ teilen sollen. Wir
wenn Sie dann Mittel für diese heilige Kuh haben möch- alle erinnern uns, dass die Kanzlerin 2009 in Kopenha-
ten. Das war ein Schuss nach hinten, glaube ich. gen über 1 Milliarde Euro zugesagt hat. Es gibt aber
(Beifall bei der SPD) keine neuen Mittel, obwohl diese dringend nötig wären.
Das gesamte Geld wird mit den Mitteln für Armutsbe-
Wir alle, die den Aufruf unterzeichnet haben, wissen, kämpfung, mit dem Gesundheitsetat, den Gesundheits-
dass diese Mittel nicht Mittel zum Selbstzweck sind. fonds, die Bildungspolitik oder die ländliche Entwick-
Diese Mittel sind erforderlich für den Bereich der Not- lung verrechnet. Berechnungen von Oxfam zufolge sind
und Übergangshilfe bei Katastrophen, den Sie selbst 88 Prozent der Zusagen im Klimabereich umetikettierte
geschildert haben, aber selbstverständlich auch dann Mittel, zum Teil weit früher zugesagte Mittel zum Bei-
notwendig, wenn es darum geht, Strukturen in Partner- spiel für Waldschutz und Biodiversität. In diesem Haus-
ländern aufzubauen, die vernünftiges, entwicklungspoli- halt ist nichts wirklich Substanzielles vorhanden.
14526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Bärbel Kofler


(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Danke. (C)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Das Thema Gesundheit habe ich schon angesprochen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich finde es sehr traurig, dass mit fadenscheinigen Argu-
menten Mittel, die nötig sind, um den Ärmsten der Ar- Vizepräsident Eduard Oswald:
men Zugang zu Medikamenten in der Aids-Bekämp- Vielen Dank. – Nächste Rednerin in unserer Debatte
fung, zu Moskitonetzen zur Malariavorbeugung und zu ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Tuberkulosemedikamenten zu verschaffen, verweigert Sibylle Pfeiffer. Bitte schön, Frau Kollegin Sibylle
werden. Wenn sich Deutschland aus den internationalen Pfeiffer.
Programmen zurückzieht, dann wird dadurch sicherlich
nicht die Stellung Deutschlands im Kontext internationa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ler Geberkonferenzen und Vereinbarungen gestärkt.
Deutschland verliert so die Möglichkeit, Einfluss auf die Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
Gestaltung von Programmen zu nehmen. Wenn es aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
so läuft, wie Sie angedeutet haben, dann möchte man mache Entwicklungspolitik für meine Enkeltochter. Sie
fast sagen: Das ist gut so. ist acht Jahre alt und wird mit den Folgen aller politi-
schen Entscheidungen, die wir treffen, leben müssen.
Was den Globalen Fonds angeht, fordere ich Sie noch Seien es die Beschlüsse zum Schuldenabbau, zum Kli-
einmal auf: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht, maschutz oder zur Verbesserung des Standorts Deutsch-
und setzen Sie die Mittel für die Ärmsten der Armen ein! lands, wir alle müssen unsere Hausaufgaben jetzt ma-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist ein chen, damit meine Enkeltochter und die kommenden
Wunschzettel, der hier vorgelesen wird!) Generationen in Frieden, Sicherheit, Freiheit und Wohl-
stand leben können. Dafür brauchen wir zum Beispiel
Wenn man alle Ihre Strategiepapiere mit dem Haus- stabile demokratische Partner in der Welt, die mit uns
halt vergleicht, dann stellt man fest: Interessanterweise Handel treiben und friedlich mit uns zusammenleben.
kommen Frauen nicht mehr vor. Aber insbesondere im Nichts anderes heißt es, die Herausforderungen der Glo-
Bildungsbereich wurde gerade von der Zivilgesellschaft, balisierung anzunehmen.
mit der Sie angeblich in einem guten Dialog stehen, ganz
massiv angemahnt, zu berücksichtigen, dass Frauen eine Globalisierung und Entwicklungspolitik sind zwei
entscheidende Rolle spielen, was Entwicklung angeht. Seiten einer Medaille. Unsere militärischen Einsätze lie-
Nichts davon findet sich in Ihren Strategiepapieren wie- gen immer öfter in Entwicklungsländern. Da brennt es.
Da riskieren unsere Soldaten ihr Leben. Das kostet unser (D)
(B) der. Es gibt nur einen kurzen Satz im Zusammenhang
mit der Mikrofinanzierung, der sich auf die Rolle der Geld, weil dort die Dinge nicht in Ordnung sind. Ent-
Frauen in der Welt bezieht. Ich finde, das ist deutlich zu wicklungszusammenarbeit entscheidet darüber, wie
wenig. viele Afrikaner, Araber oder Sonstige

(Beifall bei der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/ (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Menschen!)
CSU]: Aber wir reden jetzt nicht über Strate- nach Europa einwandern wollen, wenn sie in ihrer Hei-
giepapiere! Wir reden doch über den Haus- mat kein Auskommen haben und ihre Familien nicht er-
halt!) nähren können.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist das
Vizepräsident Eduard Oswald: Wichtigste!)
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
– Wenn das das Einzige ist, worüber wir hier diskutie-
ren! – Öl und andere Rohstoffe wie zum Beispiel Seltene
Dr. Bärbel Kofler (SPD): Erden kommen fast alle aus Entwicklungsländern und
Ja. – Wenn ich Ihr Papier – es beschreibt Ihre politi- Schwellenländern. Deutschland muss all dies importie-
sche Ausrichtung und den Weg, den Sie einschlagen ren, und deshalb brauchen wir eine solide Entwicklung
wollen – mit den Haushaltsmitteln vergleiche und be- in diesen Ländern und vor allen Dingen ein gutes Ver-
denke, wie Sie versuchen, alles auf seine Wirksamkeit hältnis zu ihnen. Dies ist Politik in beiderseitigem Inte-
zu überprüfen, dann muss ich sagen: Sie haben mit die- resse.
sem Haushalt die Möglichkeiten, die Ihnen das Parla-
ment geboten hat, nicht genutzt. Ich finde es wahnsinnig Wir brauchen in den Partnerländern leistungsfähige
schade, dass Sie die Initiative von 364 Parlamentariern Regierungen, die in der Lage sind, die Probleme des
nicht aufgegriffen haben und versuchen, sich mit faden- Landes – ihres Landes – zu lösen. Im Ergebnis sind es
scheinigen Argumenten aus der Verantwortung zu zie- nur Schlaglichter, die zeigen, dass Entwicklungspolitik
hen. nicht nur eine Idee von Spezialisten und Gutmenschen
ist, sondern als Instrument politischer Gestaltungsfähig-
Sie müssen für die zweite und dritte Beratung deut- keit Deutschlands in unserem ureigenen Interesse liegt.
lich mehr vorlegen. Vor allem erwarte ich, dass Sie uns Das beherzigt die jetzige Bundesregierung, und sie setzt
endlich erklären, wie Sie bis zum Haushalt 2015 – auch das in dem vorgelegten Haushalt um. Trotz der Schul-
wenn Sie gar nicht mehr so lange regieren werden – die denkrise, der Nachwirkungen der Wirtschafts- und
ODA-Quote erfüllen wollen. Finanzkrise und der Probleme im Euro-Raum stellen wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14527
Sibylle Pfeiffer
(A) einen Rekordhaushalt – Herr Minister Niebel hat es heißt, wir brauchen drittens Fachleute der Entwicklungs- (C)
schon erwähnt – für das BMZ auf. Ich finde, darauf kön- zusammenarbeit als Ansprechpartner in unseren Bot-
nen wir stolz sein, und das dürfen wir auch laut sagen. schaften. Das ist nicht das Einzige, was wir machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir schaffen mit einem unabhängigen Evaluierungsin-
stitut ein wichtiges Instrument der Entwicklungszusam-
An dieser Stelle Ihnen, Herr Minister Niebel, vielen
menarbeit. Dafür stellen wir im Haushalt sichtbar Mittel
Dank für den Einsatz, den Sie in diesem Zusammenhang
zur Verfügung. Das Ganze ist kein Selbstzweck. Wir alle
geleistet haben.
wissen, dass die Qualität der Entwicklungszusammen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) arbeit in der Vergangenheit viel zu wenig beleuchtet
wurde; man hätte im Nachhinein mehr tun müssen, um
Der Haushaltstitel des BMZ ist der siebtgrößte Titel ihre Wirkung festzustellen. Ich glaube, es ist wichtig, dass
insgesamt und der zweitgrößte Investitionshaushalt. wir das Evaluierungsinstitut haben. Denn auch wir müs-
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt ein Blick sen über die Steuergelder und deren Verwendung vor Ort
zurück. 1998 hatten wir einen BMZ-Haushalt von 4 Mil- Rechenschaft ablegen. Auch im Hinblick auf die Euro-
liarden Euro, 2010 haben wir die 6-Milliarden-Euro- päische Union haben wir Nachbesserungsbedarf, was den
Schwelle zum ersten Mal überschritten. Im Jahr 2012 Umgang mit deutschen Steuergeldern angeht. Immerhin
soll der Etat auf 6,3 Milliarden Euro wachsen. Ich finde, wird ein Fünftel der Mittel der Europäischen Union von
das ist eine tolle Leistung, vor allem im Lichte der unseren Steuerzahlern erbracht. Zurzeit laufen Konsulta-
schwierigen Zeiten, in denen wir heute leben. tionsverfahren; das ist gut. Aber auch hier müssen wir auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine bessere Qualität achten. Ich erkenne dort noch ein
deutliches Verbesserungspotenzial.
Doch allein über die Höhe des Haushalts zu reden,
greift einfach zu kurz. Wir müssen die Entwicklungs- Ich komme zum Bereich der OECD. Es ist gut, dass
politik natürlich sorgfältig finanzieren. Aber ich wieder- wir uns dieses Jahr in Busan treffen, um einmal mehr
hole es immer wieder in jeder Rede: Geld ist nicht alles. über die Weiterentwicklung der Paris-Deklaration und
der Accra-Agenda zu sprechen. Die Millenniumsziele
(Beifall bei der FDP) sind nach wie vor erreichbar, zumindest teilweise.
Was wir brauchen, sind Qualität und die Überprüfung Lassen Sie mich an dieser Stelle nach der ersten
der Wirkung. Trotzdem bekennen auch wir uns nach wie Hälfte dieser Legislaturperiode eine Zwischenbilanz zie-
vor zu dem Ziel von 0,7 Prozent, liebe Kollegin Kofler. hen: mehr Geld für die Entwicklungspolitik, gezielte
Aber das von jetzt auf gleich – da sage ich Ihnen sicher- Qualitätsoffensive; Ergebnisse und Wirkungen interes-
lich nichts Neues – in der derzeitigen Situation aus Steu- sieren uns. Mit diesem Paradigmenwechsel erreichen (D)
(B)
ermitteln zu leisten, ist völlig illusorisch. wir mehr als mit ein paar Euro mehr im Haushalt. Auch
(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das möchte ich einmal anmerken.
Die Forderung ist viele Jahre alt!) Durch einen wesentlich unverkrampfteren Umgang
– Genau so ist es, Kollege Kekeritz. Die Forderung ist mit der Wirtschaft – es geht darum, die Wirtschaft in die
alt. – Alle vorherigen Regierungen hätten die Möglich- Entwicklung der Länder einzubinden – werden wir viel
keit gehabt – da sitzt die ehemalige Ministerin –, konti- Positives erreichen. Ich glaube, selbst mit Ihnen, Frau
nuierlich daran zu arbeiten. Der jetzigen Regierung diese Kollegin Kofler, bin ich einig: Ohne wirtschaftliche Ent-
Aufgabe von jetzt auf gleich aufzugeben, halte ich für et- wicklung vor Ort, ohne Kooperation werden wir keine
was üppig. Stabilität und Sicherheit in den Entwicklungsländern er-
reichen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wir müssen jetzt versuchen, das nachzuholen, was vor- Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Dazu bedarf es staat-
her versäumt worden ist. Dass wir das gemeinsam tun licher Strukturen!)
sollten, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Darin
sind wir uns, liebe Kollegin Hänsel, sogar einig. Dazu gehört selbstverständlich – ich hoffe, Sie wollen
mir weiterhin zuhören, Frau Kofler – gute Regierungs-
Wir müssen versuchen, diesen Rekordhaushalt prak- führung. Sie sollte das oberste Ziel sein. Für unsere Ko-
tisch umzusetzen. Die Umsetzung besteht unter anderem alition ist sie in den Diskussionen mit unseren Partnern
darin, dass wir dem BMZ zum ersten Mal neue Stellen der wichtigste Punkt.
zur Verfügung stellen, nämlich 180 Stellen im Jahr 2012
und weitere im Jahr 2013. Grundsätzlich bin ich nicht (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich fordere gute
dafür, Bürokratie aufzubauen. Ich bin eigentlich ein Regierungsführung für Deutschland!)
Gegner von Bürokratie. Aber hier machen die neuen
Wir wollen nämlich, dass Entwicklungspolitik nachhal-
Stellen Sinn. Erstens erhalten die bisherigen Berater re-
tig ist. Das bedeutet vor allen Dingen Klimaschutz, Res-
guläre Stellen. Wer mag da widersprechen? Wir sparen
sourcenschutz und Biodiversität.
zweitens durch die erfolgreiche Fusion von GTZ,
InWEnt und DED Bürokratiekosten ein. Wir müssen zu- Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass wir im-
dem die Entwicklungspolitik international besser ab- mer wieder an die nachfolgenden Generationen zu den-
stimmen. Das erfordert den Politikdialog mit den Men- ken haben; ich habe erneut meine Enkelin im Sinn. In
schen vor Ort, mit unseren Partnerregierungen. Das Kürze werden wir den siebenmilliardsten Erdenbürger
14528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Sibylle Pfeiffer
(A) begrüßen können. 2050 werden auf der Erde unter Um- Hungerkatastrophe eigentlich überhaupt nicht nieder. Sie (C)
ständen – wenn die Geburtenrate nicht drastisch gesenkt haben erst auf öffentlichen Druck sukzessive die Hilfen
werden kann – zwischen 12,5 und 13,5 Milliarden Men- erhöht. Es fing ganz bescheiden mit 1 Million Euro an.
schen leben. Das bedeutet, wir haben Probleme mit der Sie haben im Haushalt keine neuen Weichen gestellt, um
Ernährung, mit dem Klima, mit der Entwicklung der auf diese Katastrophe adäquat reagieren zu können. Ich
Länder an sich. Liebe Kollegin Kofler, in diesem Zu- finde, das Minimum wäre zum Beispiel eine Aufsto-
sammenhang kommt es hauptsächlich auf die Frauen an. ckung der Mittel für die Not- und Übergangshilfe.
Ohne die Frauen ist eine Senkung der Geburtenrate nicht
zu erreichen. Sexuelle und reproduktive Gesundheit ist (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
eines der wichtigsten Themen der Zukunft. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
ten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Wir fordern einen Sondertitel für Ostafrika, weil es über
Jahre hinweg einer Aufbauarbeit und nicht kurzfristiger
Wenn es uns nicht gelingt, die Geburtenrate zu senken, Hilfen bedarf.
haben wir, die internationale Gemeinschaft, versagt: Die
Folgeprobleme sind nicht lösbar. Dabei geht es auch um Zum Gesamtetat des Haushalts. In der Auseinander-
die Bildung, vor allen Dingen um die von Mädchen; setzung um die Erreichung der ODA-Quote möchte ich
denn die Mädchen müssen lernen, dass sie Nein sagen eigentlich nicht zu einer Klein-Klein-Diskussion über
dürfen, dass man nicht der Tradition folgen muss, sie- Zahlen kommen, weil wir, 364 Abgeordnete – die Kolle-
ben, acht oder mehr Kinder zu haben, und dass sie mit gin Kofler hat es erwähnt –, über alle Fraktionsgrenzen
einer guten Bildung zum Familieneinkommen beitragen hinweg gemeinsam eine Initiative entwickelt haben, die
können. All das müssen und werden wir in Zukunft an- eine Aufstockung des Entwicklungsetats zum Ziel hat.
packen. Ich sehe das in allererster Linie als eine ganz große
Chance und als eine einmalige Initiative an. Ich appel-
Der vorgelegte Haushaltsentwurf ist vor diesem Hin- liere an Sie, diese Chance zu nutzen. Wir möchten Ihnen
tergrund sehr gut gelungen. Man kann sicherlich an der im Kabinett den Rücken stärken. Sie sollten die Verspre-
einen oder anderen Stelle noch nachbessern. Das machen chen, die Sie machen, ernst nehmen. Mein Appell an Sie
wir auch ganz gern: Wir justieren an denjenigen Punkten lautet: Lassen Sie diese große Chance nicht ungenutzt!
nach, die ich gerade aufgezählt habe. Wir wollen weiter-
hin dafür sorgen, dass der BMZ-Haushalt solide finan- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem
ziert ist. Wir dürfen trotz Schuldenbremse darauf hoffen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– wir werden daran arbeiten –, dass bei der mittelfristi-
(B) gen Finanzplanung noch ordentlich nachgebessert wird. Ich möchte jetzt zur politischen Auseinandersetzung (D)
Da bin ich sehr auf Ihrer Seite. – das ist für mich das Entscheidende – über Ihren Ent-
wicklungsansatz kommen. Sie haben vor kurzem zwei
(Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ Papiere entwickelt. Zu beiden möchte ich jetzt etwas sa-
DIE GRÜNEN]) gen.
Nachbessern, das können wir; das haben wir bewiesen. (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir reden doch
Allen Unkenrufen zum Trotz ist es uns im Haushaltsent- über den Haushalt!)
wurf 2012 gelungen. Ich glaube, wir werden gemeinsam
Energie darauf verwenden, in diesem Sinne weiterzuma- Als Erstes zum Menschenrechtspapier. Sie haben vorhin
chen. den Menschenrechts-TÜV angesprochen. Dazu möchte
ich einmal flapsig sagen, Herr Niebel: Ihr TÜV als Ent-
Herzlichen Dank. wicklungsminister ist schon lange abgelaufen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir haben
hier schon bessere Witze gehört!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Aber im Ernst, Sie haben in dem Papier folgenden Satz
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin für
geschrieben – ich zitiere –: „Menschenrechte sind Leit-
die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Heike Hänsel.
prinzip deutscher Entwicklungspolitik.“ Fast zeitgleich
Bitte schön, Frau Kollegin Hänsel.
hatte uns die Meldung erreicht, dass die Bundesregie-
(Beifall bei der LINKEN) rung die Lieferung von 200 Panzern nach Saudi-Arabien
genehmigt hat. Sie haben zu dieser Panzerlieferung nach
Heike Hänsel (DIE LINKE): Saudi-Arabien, ein Land, das auf Demonstranten schie-
ßen lässt und in Bahrain einmarschiert ist, der Zeit ge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
sagt – ich zitiere –:
und Herren! Wer die Debatte heute im Bundestag ver-
folgt hat, musste feststellen, dass die große Hungerkata- Die Stabilisierung einer Region trägt durchaus dazu
strophe in Ostafrika weitgehend keine Rolle gespielt hat. bei, die Menschenrechte zu wahren – vielleicht
(Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) nicht in dem Land, in dem man tätig ist, aber in den
Nachbarländern. Auch in Zeiten des Kalten Krieges
Sie ist nicht präsent in den Diskussionen. Auch im Haus- hat die militärische Abschreckung dazu beigetra-
halt, Herr Niebel, schlägt sich die Erfahrung mit der gen, dass der Krieg nicht stattfand.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14529
Heike Hänsel
(A) Mit solchen Aussagen, Herr Niebel – es wäre ganz (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo?! (C)
gut, wenn Sie zuhörten –, können Sie Ihr ganzes Men- Ohne Marktwirtschaft könnten Sie hier gar
schenrechtspapier in den Mülleimer werfen. nicht reden! Sie wissen gar nicht, was Sie er-
zählen! Eine Beleidigung des deutschen Vol-
(Beifall bei der LINKEN) kes! – Gegenruf von der SPD: Hören Sie doch
Waffenexporte sind immer tödlich, weil die Waffen frü- mal zu! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Es
her oder später eingesetzt werden. Die Zeit der soge- ist unglaublich, was hier passiert!)
nannten Abschreckung im Kalten Krieg hat indirekt sehr wo sich der Kapitalismus in seiner schwersten Krise be-
vielen Menschen das Leben gekostet, weil eine wahnsin- findet, wollen Sie mit diesen Rezepten zu mehr Entwick-
nige Rüstungsspirale in Gang gesetzt und Geld für Waf- lung im Süden beitragen?
fen und nicht für die Armutsbekämpfung ausgegeben
wurde. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ohne soziale
Marktwirtschaft könnten Sie hier gar nicht ste-
Vizepräsident Eduard Oswald: hen! In welchem Zoo sind Sie eigentlich? Das
ist unglaublich!)
Sie sehen, dass die Kollegin Schuster von der Frak-
tion der FDP eine Zwischenfrage stellen will. Das ist ja absolut ein Witz. Sie lernen nichts aus den gro-
ßen Krisen und erkennen gar nicht, dass wir andere Ent-
Heike Hänsel (DIE LINKE): wicklungsmodelle für die Länder des Südens brauchen.
Aber die möchte ich jetzt nicht beantworten. (Michael Brand [CDU/CSU]: So ein Klassen-
kampf!)
Vizepräsident Eduard Oswald:
Sie wollen mit noch mehr Spekulation, noch mehr Land-
Die möchten Sie nicht beantworten. – Frau Kollegin verkäufen an Unternehmen, noch mehr Überschwem-
Schuster, Sie haben es gehört. mung mit Produkten aus der EU weitermachen. Doch all
das sind ganz gravierende Ursachen für die Armut in
Heike Hänsel (DIE LINKE): vielen Ländern des Südens.
Die Kollegin kann am Ende meiner Rede eine Kurz-
(Michael Brand [CDU/CSU]: Kuba!)
intervention machen. Ich finde, die FDP sollte jetzt mei-
nen Ausführungen zu Waffenexporten folgen. Deshalb ist Ihr Weiter-so ein Beitrag zur Verschärfung
der Krise und nicht ein Beitrag zur Armutsbekämpfung.
Wir setzen uns für einen Stopp aller Rüstungsexporte (D)
(B)
ein. In unseren Augen sind diejenigen, die Waffen lie- (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
fern, und diejenigen, die das genehmigen, auch verant- [CDU/CSU]: Ohne unsere erfolgreiche Wirt-
wortlich für Leid und Tod und müssten gegebenenfalls schaftspolitik könnten wir den anderen gar
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. nicht helfen! Nehmen Sie das einmal zur
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck Kenntnis!)
[CDU/CSU]: Wir sollten uns einmal über die Den ganzen Tag über in den Debatten mussten wir
Menschenrechte auf Kuba unterhalten! Sie feststellen, dass Sie nichts aus den Krisen lernen. Sie ha-
sind auf einem Auge blind!) ben überhaupt keine Ahnung. Sie werden durch dieses
In diesem Zusammenhang möchte ich die neue Ko- Entwicklungsmodell Europa in den Abgrund führen. Wir
operationsvereinbarung der GIZ mit der Bundeswehr erleben ja jetzt bei dieser Bundesregierung, dass sie gar
kritisieren, Herr Niebel, weil Sie dadurch die zivil-mili- nichts aus der Krise gelernt hat.
tärische Zusammenarbeit weiter ausbauen. Wir erleben (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Herr Präsi-
in Afghanistan, wie lebensgefährlich das ist. Wir sagen dent, das müssen Sie verhindern! Sie erzählt
ganz klar: Heben Sie diese Zusammenarbeit mit der doch Unsinn!)
Bundeswehr auf! Für uns muss die Entwicklungszusam-
menarbeit zivil ausgerichtet sein. Sie darf nicht zur Absi- Sie, Herr Niebel, sind marktgläubig. Deswegen hat
cherung von Militärinterventionen verkommen. Ihre Politik keine Zukunft. Schauen Sie sich doch einmal
an, wie viele Menschen in Europa erkennen, dass es so
(Beifall bei der LINKEN) politisch nicht weitergehen kann!
Jetzt möchte ich noch etwas zu Ihrem neuen entwick- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir machen
lungspolitischen Konzept sagen. Man liest darin viel von hier die erfolgreichste Wirtschaftspolitik der
deutschen Wirtschaftsinteressen, aber wenig von Ar- Welt! Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!)
mutsbekämpfung. Sie setzen darin auf noch mehr Markt,
auf noch mehr Freihandel, auf noch mehr Liberalisie- Zu Hunderttausenden versammeln sie sich auf den Plät-
rung für deutsche Unternehmen und auf eine unterneh- zen in Madrid, in Athen und anderswo. Sie sagen, dass
merische Entwicklungspolitik. Aber genau in diesem es so nicht mehr weitergehen kann, und fordern, die
Moment, wo wir die größte ökonomische Krise weltweit Bankenmacht zu brechen, sich aus der Macht der
erleben, wo die Marktwirtschaft abgewirtschaftet hat, Finanzmärkte zu befreien und endlich eine andere Poli-
Herr Niebel, tik zu entwickeln.
14530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Heike Hänsel
(A) Genau deswegen ist Ihr Entwicklungskonzept das fal- rechte nach vorne gestellt. Insofern würde ich Sie bitten, (C)
sche Rezept für die Länder des Südens. Wir müssen sie Ihre Aussage zurückzunehmen.
mit solidarischen, gerechten Handelsstrukturen unter-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
stützen, damit sie zu einer selbstbestimmten Entwick-
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie sollte sich
lung kommen können.
schämen!)
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wer hat Ih-
nen das aufgeschrieben? Wo haben Sie das Vizepräsidentin Petra Pau:
auswendig gelernt? Das ist doch unglaublich!) Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Davon sind wir im Moment sehr weit weg.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Vizepräsident Eduard Oswald: Danke schön. – Liebe Kollegin Schuster, ich nehme
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, weil Ihre überhaupt nichts zurück.
Redezeit schon lange abgelaufen ist. (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind unbe-
(Michael Brand [CDU/CSU]: Schön war der lehrbar! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]:
Satz nicht!) Setzen!)
Wenn Herr Niebel sagt, die Panzerlieferungen an Saudi-
Heike Hänsel (DIE LINKE): Arabien seien mit seinem Menschenrechtspapier verein-
Herzlichen Dank. – Ich sage Ihnen: Die Linke wird bar,
diese Politik der Bundesregierung und dieses Weiter-so (Michael Brand [CDU/CSU]: Castro!)
in den Abgrund nicht hinnehmen. Wir haben andere Ent-
wicklungsvorstellungen als Sie. Dafür werden wir auch dann – das sage ich noch einmal – ist sein Menschen-
kämpfen, damit wir es nicht mehr erleben, dass täglich rechts-TÜV abgelaufen. Ich halte es für einen Skandal,
1 Milliarde Menschen auf dieser Welt hungern. dass er als Entwicklungsminister Waffenexporte in die-
ses Land rechtfertigt und dass Sie es wagen,
(Beifall bei der LINKEN)
(Marina Schuster [FDP]: Kuba!)
Vizepräsident Eduard Oswald: eine Geburtstagskarte an Fidel Castro und die Lieferung
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Bevor ich den nächsten von 200 Panzern zu vergleichen und hier auf einer Ebene
Redner aufrufe, eine Kurzintervention von Frau Kolle- zu nennen. Das ist schon mehr als politische Dummheit.
(B) gin Marina Schuster aus der Fraktion der FDP. Das ist große Dreistigkeit. Ich kann Ihnen nur sagen: (D)
Halten Sie sich mit Ihrer dummen und wirklich dreisten
Marina Schuster (FDP): Kritik zurück! Denn Sie betreiben weltweit Waffenliefe-
rungen in höchstem Maße und unterstützen Angriffs-
Vielen Dank, Herr Präsident. – Nachdem Sie, Frau
kriege. Wenn Sie sich vor diesem Hintergrund über eine
Hänsel, meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben,
Geburtstagskarte aufregen, fehlt mir wirklich jede Rela-
wähle ich dieses parlamentarische Instrument. Sie haben
tion. Sie könnten sich von vielen Politikern in den Län-
uns etwas Ungeheuerliches unterstellt, nämlich dass wir
dern des Südens eine Scheibe abschneiden.
Menschenrechte nicht ernst nähmen und unser Men-
schenrechts-TÜV abgelaufen sei. Ihre Parteivorsitzen- (Beifall bei der LINKEN – Sibylle Pfeiffer
den schreiben einen Brief an Fidel Castro, in dem das [CDU/CSU]: Ich denke, dass in Ihrer Fraktion
Wort „Menschenrechte“ kein einziges Mal erwähnt wird. einige sitzen, denen das auch peinlich war!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das ist eine Verhöhnung der Opfer, die diese Diktatur Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe für die Frak-
aushalten mussten. tion Bündnis 90/Die Grünen.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist
unglaublich!) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gleichzeitig werfen Sie uns hier vor, wir würden Men-
Bevor ich zum Haushalt rede, ein Satz zu dem Men-
schenrechte nicht ernst nehmen. Dabei liegt jetzt zum
schenrechtsdiskurs in diesem Hause. Wir brauchen, ge-
ersten Mal ein verbindliches Menschenrechtskonzept
rade durch die Entwicklungspolitik unterstützt, eine
vor.
Menschenrechtspolitik, die Menschenrechtsverletzun-
Es waren unser Minister und unsere Staatssekretäre, gen kritisiert, egal wo sie geschehen und von wem sie zu
die die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit verantworten sind, ob in Kuba, in Bahrain, in Saudi-Ara-
Uganda eingefroren haben, als dort die Einführung der bien oder begangen durch Monsanto.
Todesstrafe für Homosexualität drohte. Es waren unser
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Minister und unsere Staatssekretäre, die in gleicher
Weise gegenüber Malawi reagiert haben, als dort die Ich möchte auf das Bild zurückkommen, mit dem Sie
Presse- und Meinungsfreiheit zurückgefahren worden begonnen haben, Frau Kollegin Hänsel. Heute war im
ist. Wir haben konditioniert. Wir haben die Menschen- Rahmen der Generaldebatte und auch in den Medien viel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14531
Thilo Hoppe
(A) von der Euro-Krise die Rede. Europa ist stark mit sich der Parlamentarier unterschrieben haben, im Haushalts- (C)
selbst beschäftigt. Es wird von Rettungspaketen und verfahren wirken wird. Denn ich fände es ein mutiges
Rettungsschirmen geredet. Dabei wird leicht übersehen, und konsequentes Zeichen, wenn zumindest wir Ent-
dass ein großes Rettungspaket ganz anderer Art noch im- wicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker jetzt
mer nicht vollständig geschnürt worden ist, und zwar ein zusammenstünden und nicht zurückfielen in die alten
Rettungspaket für 12,4 Millionen hungernde Menschen, Rituale: Die einen meckern, und die anderen reden
die von der dramatischen Katastrophe am Horn von schön. – Vielmehr sollten wir jetzt die Konsequenzen
Afrika betroffen sind. Die Bilder sind aus den Medien ziehen. Es wäre ein starkes Zeichen, wenn wir den Be-
fast verschwunden. So entsteht der Eindruck: Alles nicht trag, den wir in diesem Aufruf gemeinsam gefordert ha-
mehr so schlimm; man hat die Lage wohl irgendwie im ben – die ODA-Mittel sollen 2012 ressortübergreifend
Griff. um insgesamt 1,2 Milliarden Euro aufwachsen –, zumin-
dest in unseren Anträgen im Entwicklungshilfeausschuss
Aber weit gefehlt: Noch immer strömen Tag für Tag gemeinsam vertreten würden.
1 200 Neuankömmlinge ins Flüchtlingslager Dadaab.
Das Maßnahmenbündel der Vereinten Nationen ist nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aussage von UN-OCHA noch immer unterfinanziert. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Noch immer fehlen 700 Millionen Euro für die Flücht- LINKEN)
linge. Nur so können wir die letzte Ausfahrt von der Auto-
Einige Flüchtlinge sind nicht erreichbar. Es ist ein bahn nutzen. Der DAC, der Entwicklungshilfeausschuss
Skandal, dass menschenverachtende Schabab-Milizen in der OECD-Staaten, hat festgestellt, dass der Haushalt
einigen Regionen Somalias die notwendige humanitäre 2012 der Schicksalshaushalt ist. Wenn es jetzt nicht ge-
Hilfe verhindern. lingt, in die richtige Richtung zu fahren, dann wird das
0,7-Prozent-Ziel bis 2015 nicht mehr erreicht.
(Helga Daub [FDP]: Das ist das Problem!)
Es wäre doch sehr schade, wenn wir nun meinen wür-
Das müsste auch den Weltsicherheitsrat beschäftigen. den, dass es angesichts von Schuldenbremse, Euro-
Aber viele der Flüchtlinge sind erreichbar, und selbst Krise, Rettungspaketen und Rettungsschirmen nicht
diese Flüchtlinge werden immer noch nicht ausreichend mehr opportun und nicht mehr vermittelbar sei, die Zu-
mit Nahrungsmitteln, Zelten, Medikamenten und De- sagen für die Ärmsten der Armen einzuhalten. Ich wün-
cken versorgt, weil immer noch schlicht das Geld fehlt. sche mir von uns allen viel Zivilcourage. Lassen Sie uns
gemeinsam ein Zeichen setzen, dass wir Solidarität, Ge-
Das Geld fehlt – das ist jetzt die Verbindung zur Euro- rechtigkeit und – jetzt verwende ich einen altmodischen
(B) Krise –, weil viele Länder, die bei Hilfsaufrufen der Ver- Begriff – Barmherzigkeit weder von der Konjunktur (D)
einten Nationen sonst immer aktiv geworden sind und noch von der Kassenlage abhängig machen!
ihren Anteil gezahlt haben, diesmal sehr mit sich selbst
beschäftigt sind, sich selber in einer Krise sehen und als Danke.
Geber zum ersten Mal fast vollständig ausfallen, zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beispiel Italien. Selbst die Bundesregierung hat ziemlich und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
lange gebraucht, bis sie endlich bereit war, den Beitrag LINKEN)
zu leisten, der ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft und der
Herausforderung entspricht;
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Koppelin für die
GRÜNEN]: So ist es!) FDP-Fraktion.
aber besser spät als gar nicht. Wir erkennen an, dass (Beifall bei der FDP)
Deutschland jetzt, wenn auch verspätet, einen angemes-
senen Anteil zahlt. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
(Beifall der Abg. Helga Daub [FDP]) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man hat mir eben mitgeteilt, dass aus dem Wahlkreis der
Der Regierungsentwurf zum Haushalt 2012 ist, zu- Kollegin Hänsel Gäste anwesend seien; die begrüßen wir
mindest bezogen auf den Entwicklungsbereich, eine natürlich herzlich. Sie werden hoffentlich mitbekommen
herbe Enttäuschung. Gegenüber dem letzten Haushalt haben, wie schwer wir es mit dieser Kollegin aus Ihrem
gibt es einen kleinen Aufwuchs in Höhe von 113,6 Mil- Wahlkreis haben. Vielleicht haben Sie das nächste Mal
lionen Euro. Im Vergleich zum Eckwertepapier vom eine andere Kandidatin parat.
März dieses Jahres ist null Komma nichts dazugekom-
men. Wenn es dabei bleiben sollte, dann können wir die (Heiterkeit bei der FDP sowie bei Abgeordne-
Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels bis 2015 vergessen. ten der CDU/CSU – Priska Hinz [Herborn]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch nicht
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die feine Art!)
Ein Skandal!)
Die Kollegin Hänsel hat hier behauptet, der Bundes-
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Noch immer hoffe minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit habe sich
ich, dass der Aufruf – er wurde schon erwähnt –, den in- zu Panzerlieferungen geäußert. Ich will nicht weiter
zwischen 364 Kolleginnen und Kollegen, fast 60 Prozent dazu Stellung nehmen. Aber ich fordere Sie, Frau Kolle-
14532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) gin Hänsel, auf, mir die Dokumente zu geben, die zei- Das wird dadurch dokumentiert, dass es abgestimmte (C)
gen, dass er diese Äußerung gemacht hat. Der Bundes- Konzepte zu Südamerika, zu Afrika gibt. Zu den
minister sagt, er habe sich nie dazu geäußert. Menschenrechten ist schon etwas gesagt worden. Frau
Kollegin Wieczorek-Zeul, haben Sie während Ihrer elf-
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Interviews in
jährigen Amtszeit auf einer Botschafterkonferenz des
der Zeit und der Welt!)
Auswärtigen Amts sprechen und die tolle Politik der da-
– Sie liefern das. Dann ist es ja kein Problem. maligen Bundesregierung verkaufen dürfen? Dirk
Niebel durfte es. Ich habe nur Positives über diese Kon-
Auch der nächste Punkt ist mir wichtig. In der Haus- ferenz im Auswärtigen Amt gehört. Dafür möchte ich
haltsdebatte kam immer wieder der Hinweis, die Bun- Dirk Niebel ganz herzlich danken.
desregierung oder der Bund würde die Lieferung von
Panzern nach Saudi-Arabien genehmigen. Ich habe eine (Beifall bei der FDP)
Äußerung dieser Art von der Bundesregierung bisher Der nächste Punkt, der angesprochen wurde, war die
nicht gehört. Eine solche kann sie auch gar nicht ma- ODA-Quote. Auch dazu habe ich mir spontan etwas auf-
chen; sie wird weder Ja noch Nein sagen. Diejenigen, die geschrieben. Als diese Koalition ihre Arbeit aufnahm,
behaupten, wir würden Panzerlieferungen nach Saudi- lag die Quote bei 0,36 Prozent.
Arabien genehmigen, bitte ich, uns die entsprechenden
Dokumente vorzulegen. (Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Jetzt geht das wieder los!)
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ Jetzt liegt sie bei 0,38 Prozent. Das ist zwar nicht heraus-
DIE GRÜNEN]: Mehr Transparenz! – ragend. Es ist aber allemal besser als das, was wir über-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es wird nommen haben – darüber darf man sich doch wohl ein-
Zeit, dass Sie aus dem Bundestag herausflie- mal freuen –, und das bei der Haushaltssituation, die wir
gen! – Zuruf des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler hatten.
[SPD])
Ich kann nur sagen: In den elf Jahren, in denen die So-
– Warten Sie doch einmal ab, Kollege Erler! Auch Sie zialdemokraten in diesem Ministerium gesessen haben,
haben sich mehrfach dazu geäußert. Zeigen Sie uns die hätten sie all das machen können, was die verehrte Kol-
Dokumente oder sagen Sie uns, worin Sie eine Bestäti- legin hier angekündigt hat, auch in Bezug auf die
gung der Bundesregierung oder des Bundessicherheits- 0,7 Prozent. All diese Wohltaten hätten Sie von der SPD
rates sehen. In dem Fall wären Sie klüger als ich, und ich in den elf Jahren tun können. Nun kommen Sie aber bitte
würde auf Sie zurückkommen. Ich sage Ihnen: Es wird nicht und sagen, Sie wollten wieder in die Regierung
(B) wahrscheinlich keine Lieferung geben. Nehmen Sie das und gerade das Ministerium übernehmen. Diese Chance (D)
einfach zur Kenntnis. Es gibt keine Genehmigung. Das haben Sie vertan.
ist meine Kenntnis. Aber die Bundesregierung wird auch
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wol-
dazu nicht Stellung nehmen.
len es ja abschaffen! – Dr. Bärbel Kofler
Sie sagen, es werde genehmigt. Ich sage: Es wird [SPD]: Wir kommen wenigstens wieder ins
nicht genehmigt. Die Bundesregierung – das wissen Sie Parlament!)
doch; Sie waren selber einmal Mitglied einer Bundes-
Der Haushaltsentwurf des BMZ zeigt doch eindeutig,
regierung – kann dazu nicht Stellung nehmen. Sie haben
dass es endlich einmal eine intensive Einbindung und
es viel einfacher. Sie können etwas in die Luft behaup-
Stärkung aller an der Entwicklungshilfe Beteiligten gibt,
ten, aber die Regierung kann nicht das Gegenteil vertre-
seien es die Stiftungen, die Kirchen oder die Nichtregie-
ten, weil sie weder Ja noch Nein sagen darf. Ich sage Ih-
rungsorganisationen. Ich sage auch: Ich bin stolz darauf,
nen: Es wird nicht genehmigt. Nehmen Sie das einfach
dass Minister Niebel es geschafft hat, die drei Organisa-
zur Kenntnis!
tionen – GTZ, InWEnt und DED – mit immerhin
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Man kann es ja 18 000 Mitarbeitern zusammenzuführen, wenn es auch
mal behaupten! – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: kein leichter Weg war. Das ist eine sehr erfreuliche Er-
Das ist eine Aussage, Herr Kollege!) folgsbilanz, die der Minister vorgelegt hat.
Nun komme ich zum Etat. Da darf man schon einmal Bei den entscheidenden Sitzungen – auch im Auf-
erfreuliche Dinge herausstellen. Nach sehr vielen Jahren sichtsrat – haben die Arbeitnehmer zugestimmt, hat die
– Dirk Niebel hat schon darauf hingewiesen, wann das Gewerkschaft Verdi zugestimmt, haben die Anteilseig-
Ministerium gegründet wurde – kann ich feststellen, ner zugestimmt – nur nicht die Vertreter der SPD und der
dass es endlich eine ausgesprochen gute Zusammen- Grünen. Das bedaure ich sehr. Selbst die Arbeitnehmer
arbeit zwischen dem Bundesminister des Auswärtigen und die Gewerkschaften haben zugestimmt – nur Sie ha-
und dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammen- ben nicht zugestimmt.
arbeit gibt. Darauf haben wir lange gewartet. Das war
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wir wurden ja
bei Rot-Grün mit Joschka Fischer nicht möglich. Selbst
ausgeschlossen!)
als die SPD beide Ministerien hatte, war das anschei-
nend nicht der Fall. Endlich gibt es eine gute Zusam- Es wäre aber gut gewesen, auch für diese Gesellschaft.
menarbeit.
Wir wollen mit diesem Haushalt eine Stärkung im Be-
(Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) reich Bildung, im Bereich der ländlichen Entwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14533
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
(A) – ein ganz starker Beitrag; wir werden darauf achten, Trickserei; für so dumm kann man die Leute doch gar (C)
dass wir hier noch zusätzliche Mittel bekommen –, im nicht halten. Wenn man zunächst in einer Finanzplanung
Gesundheitswesen und natürlich bei der Beachtung der sagt, dass man die Mittel ewig nach unten kürzt, an-
Menschenrechte. Zum Gesundheitswesen sage ich noch schließend ein wenig drauflegt und dann auf einmal bei
– und damit komme ich zum Schluss, weil meine Rede- einem tatsächlichen Plus von nur 113 Millionen Euro so
zeit leider abgelaufen ist –: Herr Minister, ich finde es tut, als seien das 750 Millionen Euro, dann ist das doch
vollkommen richtig, dass Sie die Mittel beim Global billig. Das hat das Haus nicht verdient, das haben auch
Fund gestoppt haben. Es kann nicht sein, dass wir Kor- die Menschen nicht verdient, und die Republik hat die-
ruption bezahlen. sen Minister nicht verdient.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Helga Daub [FDP]: War bei
Zunächst müssen die Vorfälle aufgedeckt werden, und Ihnen der Haushalt höher?)
wenn wir dann Klarheit haben, können die Mittel freige-
geben werden. Wir sagen nicht Nein zum Global Fund, Ich frage mich auch, wie Herr Minister Niebel jemals
wir sagen Nein zu Korruption; denn mit Korruption hel- auf einen Aufwuchs kommen möchte, wenn er mittler-
fen wir den Menschen nicht. weile einer der wenigen Minister in diesem Kabinett ist,
die die Finanztransaktionsteuer immer noch ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das stimmt!)
(Beifall bei der FDP)
Das muss man einmal überlegen: Wir brauchen inno-
Vizepräsidentin Petra Pau: vative Finanzierungsinstrumente. Die Finanztransak-
tionsteuer ist ein Instrument, das schon vor zehn Jahren,
Der Kollege Dr. Sascha Raabe hat für die SPD-Frak-
2001, Ihre Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im-
tion das Wort.
mer wieder gefordert hat.
(Beifall bei der SPD)
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Warum habt ihr
es nicht gemacht 2001?)
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Dieser Vorschlag kam von Attac und von den NGOs als
und Kollegen! Herr Kollege Koppelin, man erlebt doch ein Instrument für Entwicklung. Jetzt sind wir endlich so
immer wieder Überraschungen im Parlament. Sie ver- weit, dass dieser Vorschlag auch von anderen gutgehei-
künden hier, dass der Bundessicherheitsrat angeblich ßen wird. Anstatt stolz und froh zu sein, dass die Initia-
tive der Entwicklungspolitiker, solch eine Steuer zu ge-
(B) nicht die Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien ge- (D)
nehmigen wird. nerieren, endlich umgesetzt wird, sagt ausgerechnet
dieser Entwicklungsminister erst neulich im Ausschuss:
Aber das macht doch eigentlich die Haltung des Bun- Wissen Sie, Herr Raabe, mich interessiert nicht, was die
desentwicklungsministers noch schlimmer. Wenn selbst Bundeskanzlerin sagt, ich bin gegen diese Steuer. – Das
diejenigen, die für das Militär im Bundessicherheitsrat ist einfach nur noch peinlich, Herr Minister.
sitzen, sagen: „Nein, diese Panzerlieferungen nicht“ und
ausgerechnet der Bundesentwicklungsminister – er sitzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nur darum im Bundessicherheitsrat, weil seine Vorgän- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
gerin, Frau Wieczorek-Zeul, durchgesetzt hat, dass end- LINKEN)
lich auch das Entwicklungsministerium vertreten ist, Es wurde vorhin Ostafrika angesprochen. Es ist be-
damit vom Bundessicherheitsrat weniger Waffenliefe- kannt, dass Sie nicht zum Pathos neigen. Wir würden
rungen in Entwicklungsländer genehmigt werden – sich uns sicherlich das eine oder andere Mal mehr Leiden-
für Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien ausspricht, schaft wünschen, wenn solche Katastrophen wie in
dann ist das ein wahrer Hohn. Ostafrika auftreten. Wir würden uns wünschen, dass der
(Beifall bei der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/ Entwicklungsminister im Fernsehen, in den Medien
CSU]: Das ist alles Spekulation! Wir wissen sichtbar ist und die Bevölkerung auf eine solche Hunger-
doch nichts!) katastrophe hinweist. Auch in Ihrer heutigen Rede, Herr
Minister, haben Sie nicht besonders viel zu dieser Kata-
– Es ist keine Spekulation, Frau Kollegin, dass Minister strophe gesagt. Es geht mir gar nicht darum, dass Sie
Niebel sich in der Zeit für diese Panzerlieferungen aus- Tränen vergießen; denn die Menschen in Ostafrika brau-
gesprochen hat. Wenn der Minister schon Zeitungen zi- chen in der Tat nicht Ihre Tränen, sondern Ihr Geld und
tiert, dann muss er auch die Interviews gegen sich gelten Ihre Hilfe. Das kommt aber immer nur zögerlich, immer
lassen, die er gegeben hat, auch wenn sie ihm heute viel- nur auf Druck hin. Das ist zu wenig. Sie verweigern sich
leicht peinlich sein sollten. hier. Angesichts einer solchen Hungerskatastrophe ist es
nicht in Ordnung, dass Sie im Prinzip immer nur ein paar
Ich glaube aber, diesem Minister ist eigentlich nichts
Kleckerbeträge bereitstellen. Da müssen wir richtig hel-
peinlich. Denn wenn ihm irgend etwas peinlich wäre,
fen, da müssen wir viel helfen. Auch das findet sich im
dann würde er sich nicht hier hinstellen und von einem
Haushalt leider nicht wieder.
Rekordhaushalt reden und Pressemitteilungen seines
Hauses herausgeben, nach denen in diesem Haushalt ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aufwuchs von 750 Millionen Euro steckt. Das ist doch DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen]
14534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Sascha Raabe


(A) [CDU/CSU]: Es ist eine absolute Frechheit, es (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz (C)
so darzustellen!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ist schon einiges zu Ihrem entwicklungspolitischen Sie müssen sich nicht von Ihnen als Mitarbeiter des „Al-
Konzept gesagt worden. Sie sind derjenige, der immer mosenministeriums“ beschimpfen lassen, was auch im-
erklärt, er mache alles neu. In der Tat taucht auf den mer sie für einen Pullover tragen.
27 Seiten 33-mal das Wort „Innovation“ auf. Trotzdem
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
steht nichts Neues drin, Herr Minister. Ständig wird das
Das war doch Herr Stiegler, der immer einen
Credo „Wirtschaft! Wirtschaft! Wirtschaft!“ wiederholt.
Pullover trug!)
Wir bestreiten nicht die Bedeutung der Wirtschaft; es
waren die Sozialdemokraten – auch in der Regierung –, Es ist unglaublich, dass Sie dann auch noch die Dreis-
die mit Public-private-Partnership immer auch auf die tigkeit haben, zu sagen, sie hätten aus diesem vermeintli-
Bedeutung der Privatwirtschaft und der Wirtschaftsför- chen „Almosenministerium“ ein Globalisierungsminis-
derung hingewiesen haben. terium gemacht. Wissen Sie, Herr Minister, wer wie Sie
jedes internationale Instrument ablehnt, wer beim Global
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Leider, leider! Fund die Mittel nicht freigibt,
Das war ja das Problem!)
(Marina Schuster [FDP]: Ja, warum?)
Man darf das aber nicht im Gegensatz zur traditionellen
Entwicklungszusammenarbeit sehen, die viele Men- wer multilaterale Arbeit ablehnt, wer nur auf binationale
schen vor Ort leisten. Projekte mit deutschem Fähnchen setzt, ausgerechnet
der sollte nicht von „Globalisierungsministerium“ spre-
Herr Minister, da stört mich schon der abfällige Ton, chen. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch.
in dem Sie über Entwicklungshelfer reden. Sie haben
sich im Spiegel-Interview über den Entwicklungshelfer
Vizepräsidentin Petra Pau:
lustig gemacht, „der mit seinem selbstgestrickten
Alpaka-Pullover seit den sechziger Jahren durch die Kollege Raabe, gestatten Sie eine – –
Welt geht“.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Da hat er Ich komme zum Schluss. – Das Einzige, was an dem
recht! Davon gibt es viel zu viele!) Interview stimmt: Als Replik auf die Frage, ob Sie nun
Herr Minister, ich sage Ihnen einmal: Mir sind enga- Ihr Ministerium auflösen wollten, sagen Sie, dass es das
gierte Entwicklungshelfer im Alpaka-Pullover immer Ministerium, das Sie abschaffen wollten, nicht mehr
(B) noch viel lieber als Entwicklungsminister, die mit der gebe. Das stimmt: Das gute Globalisierungsministerium (D)
Militärmütze durch die Gegend reisen, von Heidemarie Wieczorek-Zeul gibt es wirklich nicht
mehr.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Mit der SPD
zurück in die Vergangenheit!)
oder FDP-Businessdelegationen und Yuppies, die glau-
ben, sie könnten Afrika im Nadelstreifen entwickeln, Heute gibt es nur noch ein Ministerium, das sich um die
oder aber GIZ-Vertreter, die über das FDP-Parteibuch in Förderung der deutschen Außenwirtschaft kümmert, das
den Vorstand gekommen sind und meinen, sie müssten die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit
in der ersten Klasse Champagner trinkend im Nadelstrei- vorantreibt. Wir werden schon dafür sorgen, dass wir
fen nach Afrika fliegen. 2013 das Ministerium zurückbekommen, das wir einmal
hatten,
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das sagt der Rich-
tige! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Glauben Sie
doch nicht an den Klapperstorch!)
Da lobe ich mir die Entwicklungshelfer im Alpaka-Pull-
für die Menschen in diesem Land und auf der ganzen
over. Ich finde, es gibt keinen Grund, so abfällig über
Welt.
diese Menschen zu reden.
Vielen Dank.
Ebenso habe ich es als sehr stillos empfunden, dass
Sie das Ministerium, das Sie übernommen haben, gegen- (Beifall bei der SPD)
über dem Spiegel als „Almosenministerium der roten
Heidi“ bezeichnet haben. Wissen Sie, es ist eine Frage Vizepräsidentin Petra Pau:
des Stils, wie man über seine Vorgängerin redet. Ich Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete
halte es für spätpubertär, peinlich, niveau- und stillos, so Niebel das Wort.
über die Vorgängerin zu reden.
(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
(Beifall bei der SPD)
Sie beleidigen mit diesen markigen Sprüchen all die Mit- Dirk Niebel (FDP):
arbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, die seit Vielen Dank. – Ich möchte auf den Zwischenruf der
Jahren eine verdammt gute Arbeit für die Menschen ma- Kollegin Ex-Staatssekretärin eingehen. Sie kommen aus
chen. Nordrhein-Westfalen. Sie sollten einmal nachlesen, was
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14535
Dirk Niebel
(A) in Baden-Württemberg gerade passiert ist. Der neue Vor- rechtskonzept seines Ministeriums. „Die Stabilisie- (C)
sitzende der SPD-Fraktion sagte nämlich, die Nach- rung einer Region trägt durchaus dazu bei, die
besetzung mit Sozialdemokraten, die Entlassung aller Menschenrechte zu wahren – vielleicht nicht in
politischen Beamten und die Neubesetzung und Dop- dem Land, in dem man tätig ist, aber in den Nach-
pelbesetzung der Posten im neu gebildeten Wirtschafts- barländern“, sagt der FDP-Politiker der ZEIT.
und Finanzministerium seien die Kosten der Demokra-
tie, weil man neues Personal brauche, wenn man eine an- Dann kommt das, was Frau Hänsel schon vorgelesen
dere Politik betreiben wolle. Kehren Sie vor Ihrer eige- hat:
nen Haustür! Auch in Zeiten des Kalten Krieges habe „die militä-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der rische Abschreckung dazu beigetragen, dass der
CDU/CSU) Krieg nicht stattfand“, …

Frau Präsidentin, ich habe mich zu einer Kurzinter- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
vention zu der Rede von Herrn Kollegen Raabe gemel- Das haben Sie aber anders zitiert!)
det. Ich habe als Abgeordneter zur Kenntnis genommen, Wenn Sie das anders gemeint haben sollten, dann ha-
dass er dem Minister Niebel vorgeworfen hat, er hätte ben Sie es hiermit richtiggestellt. Es hätte uns gefreut,
sich zu Panzerlieferungen geäußert. Ich will, um der wenn Sie das schon vorher getan hätten. Besser aber eine
Richtigkeit Genüge zu tun, aus dem Zeit-Interview zitie- späte Einsicht als keine Einsicht. Ansonsten erhoffen wir
ren. In diesem Interview fragt Die Zeit: uns von Ihnen noch weitere Einsichten, Herr Niebel. Wir
Bekommt Deutschland in Nordafrika ein Problem, freuen uns, wenn Sie die nächsten zwei Jahre dazu nut-
weil die Bundesregierung Panzer nach Saudi-Ara- zen, zu Einsichten zu kommen.
bien liefern will? (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Es
Antwort von Niebel – Minister in diesem Fall –: ist schon ein Fehler, dass da Entwicklungshil-
feminister steht! So etwas gibt es überhaupt
Ich kann mich zu dem konkreten Sachverhalt nicht nicht!)
äußern. Generell berücksichtigt die Bundesregie-
rung bei derartigen Entscheidungen alle notwendi-
Vizepräsidentin Petra Pau:
gen Aspekte, also auch die politische Situation der
gesamten Region. Dort hat Deutschland einen ho- Das Wort hat der Kollege Dr. Ruck für die Unions-
hen Stellenwert. fraktion.

Ich glaube, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) (D)
hier schlichtweg einen falschen Sachverhalt geschildert
haben. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Es gibt aber
und Kollegen! Ich nutze gern die Gelegenheit, das Zerr-
zwei andere Interviews!)
bild, das die Opposition von unserer Entwicklungspoli-
Vielen Dank. tik gemalt hat, zurechtzurücken. Über den Unsinn der
Linken möchte ich gar nicht erst sprechen. Bärbel
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kofler, deine Einlassungen waren wieder die übliche
Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt ent- Erbsenzählerei und Wehklage.
schuldigen! Aber sofort entschuldigen!)
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Also bitte! –
Vizepräsidentin Petra Pau: Dr. Sascha Raabe [SPD]: Prinzessin auf der
Der Kollege Raabe hat das Wort. Erbse?)
Was der Kollege Raabe abgeliefert hat, war reine Pole-
Dr. Sascha Raabe (SPD): mik. Inhaltlich hatte er überhaupt nichts zu bieten.
Herr Minister, über die Personalpolitik, die Sie am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Anfang angesprochen haben, haben wir hier schon oft Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
geredet. Ich glaube, da reichen die Aussagen des Perso- Null!)
nalrates. Wir wollen hier nicht weiter thematisieren, wie
Sie dort Ihre Parteifreunde mit Posten versorgen und das Es war so schlimm, wie ich es schon lange nicht mehr
auch weiterhin tun. erlebt habe. Sascha Raabe, ich habe dir gestern in weiser
Voraussicht schon gesagt: Du spielst zurzeit wesentlich
In dem Interview in der Zeit-Online, das mir vorliegt
besser Fußball, als du als Oppositionspolitiker redest. –
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Mir auch!) In einer Redezeit von sieben Minuten hast du überhaupt
keinen sachlichen Beitrag geliefert.
– das können die Kameras hier gerne einfangen –, steht
wörtlich – wenn es falsch ist, ist es in Ordnung –: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hält Waf-
fengeschäfte wie die möglichen Panzerlieferungen Ich möchte dem Minister Niebel und seinem Team
an Saudi-Arabien für vereinbar mit dem Menschen- ausdrücklich eine gute Arbeit bescheinigen.
14536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Dr. Christian Ruck


(A) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: „FDP- Wie lange haben wir dafür gekämpft, dass das BMZ (C)
Combo“ heißt das!) mehr Stellen bekommt? Das war ein Herumgurken und
Herumeiern um fünf oder zehn Stellen; ich gebe zu, dass
Diese Arbeit ist natürlich auch deswegen so gut, weil das auch zu meinem Leidwesen war. Jetzt haben wir
er engagierte Koalitionsparlamentarier an seiner Seite 180 Stellen zusätzlich. Das ist auch ein Beitrag zur
hat Schaffung von mehr Transparenz. Wir alle wollten, dass
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Jetzt wissen wir, aus der sogenannten grauen Armee eine richtige Armee
wer schuld ist!) wird. Es ging uns um Transparenz. Auch dazu sage ich:
Das hat das BMZ gut gemacht.
und weil er sich treu an den Koalitionsvertrag hält, der
nicht zuletzt auch von der Union maßgeblich mitgestal- Zur Prioritätensetzung bei den Schlüsselthemen. Es
tet wurde, und zwar Wort für Wort. Insofern handelt es handelt sich um unsere Schlüsselthemen. Das waren üb-
sich um eine gute Arbeit auf guter Grundlage. rigens einmal unsere gemeinsamen Schlüsselthemen. Es
geht um ländliche Entwicklung, Bildung, Umwelt und
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich der Haushalt Klima sowie gute Regierungsführung.
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen-
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Dann macht doch
arbeit und Entwicklung durch die zur Verfügung stehen-
einmal etwas!)
den 6,33 Milliarden Euro auf Rekordhöhe befindet. Das
ist ein Zuwachs um 1,8 Prozent, während der Haushalt Eine große Mehrheit in diesem Parlament hat dafür ge-
insgesamt nur um 0,1 Prozent wächst. Das entspricht im- kämpft. Das wurde umgesetzt, und auch dazu stehen wir.
merhin einer Erhöhung um 50 Prozent seit dem Amts-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
antritt von Bundeskanzlerin Merkel. Frau Wieczorek-
Zeul, wir beide waren uns schon früher einig, dass Ihrem Wir stehen ferner dazu, dass es dieses Mal wieder ei-
damaligen Haus nichts Besseres passieren konnte als die nen erheblichen Mittelzuwachs bei den zivilgesellschaft-
Wahl von Bundeskanzlerin Merkel. Danach ging es mit lichen Trägern gibt, zum Beispiel bei den Kirchen und
dem Entwicklungshaushalt steil bergauf. den politischen Stiftungen. In Zeiten von Umbrüchen
und Transformationsprozessen sind diese Partner beson-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ders wichtig, weil man mit ihnen flexibel und schnell re-
Thilo Hoppe, natürlich sind wir auf der richtigen agieren kann.
Spur. Vielleicht vollzieht sich die Entwicklung nicht in Was Good Governance, also gute Regierungsführung,
der Geschwindigkeit, die wir uns alle erhoffen, aber es und schnelleres Reagieren anbelangt, möchte ich auf
geht von Jahr zu Jahr und zum Teil mit gewaltigen zwei Dinge eingehen, die uns alle miteinander bewegen.
(B) Sprüngen aufwärts. (D)
Sascha, ich finde, es ist eine Verleumdung, wenn du dem
Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass das Volumen Minister unterstellst, er würde sich nicht um Afrika
der Verpflichtungsermächtigungen im Bereich der TZ kümmern. Ich habe das in den letzten Wochen ganz an-
und der FZ mit diesem Haushalt sprunghaft angehoben ders empfunden. Ich weiß nicht, ob du im Urlaub oder
wird. sonst wo warst. Man kann dem Ministerium nun wirk-
lich nicht vorwerfen, dass es nicht reagiert und sich nicht
(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Weil ihr im letzten engagiert hat.
gesenkt habt!)
(Zuruf des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])
Ich erinnere daran, dass der Aufwuchs im Bereich der Ich möchte ganz konkret von einer Reise berichten,
Finanziellen Zusammenarbeit zwischen 1980 und 2010 die ich nach Rom gemacht habe. Rom ist nicht weit ent-
nur 25 Prozent betrug, während der Aufwuchs bei den fernt; diese Reise kann auch jeder andere machen. In
Mitteln für die Weltbank und die regionalen Entwick- Rom gibt es drei Organisationen, die sich sehr intensiv
lungsbanken 230 Prozent betrug. Wir wollen mit diesem mit den Themen Ernährung, Not- und Hungerhilfe und
Haushalt – das ist unsere erklärte Politik – wieder etwas langfristige Strukturpolitik beschäftigen: die FAO, der
mehr bilaterale Zusammenarbeit auf Kosten der interna- IFAD und das Welternährungsprogramm. Ich gebe zu,
tionalen Zusammenarbeit verankern. Dafür gibt es gute dass ich immer gefragt habe: Wofür brauchen wir drei
Gründe. Dazu stehen wir. Organisationen? Warum können wir das nicht straffen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Koordination ist und bleibt – das ist mir nach diesem
Besuch völlig klar – eine Herausforderung. Darauf müs-
Nach dem ganzen Hickhack, nach dem ganzen Hin sen wir achten. Das ist und bleibt ein Dauerbrenner. Die
und Her der letzten Jahre in Bezug auf die notwendige drei Organisationen sind aber hinsichtlich der gegensei-
Vorfeldreform möchte ich ausdrücklich sagen: Wir ha- tigen Absprache und Zusammenarbeit – auch das habe
ben in den letzten zwei Jahren bei der Vorfeldreform ei- ich begriffen – einen großen Schritt vorangekommen. In
nen Durchbruch erzielt. Natürlich ist das eine oder an- diesen drei Organisationen gibt es unheimlich viel Enga-
dere noch zu korrigieren und einiges noch nachzujus- gement, zum Beispiel vonseiten unserer Ständigen Ver-
tieren, aber die Hauptarbeit ist erfolgreich verlaufen: Es tretung in Rom und vonseiten der mit viel Expertise aus-
gibt mehr Effizienz und mehr Kohärenz. Auch dazu gestatteten Mitarbeiter.
herzlichen Glückwunsch.
Vielleicht fehlt an der einen oder anderen Stelle tat-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sächlich Geld. Die Experten sagen aber im Zusammen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14537
Dr. Christian Ruck
(A) hang mit dem Horn von Afrika, dass es nicht nur immer ckung. Ich bekenne mich ausdrücklich zur Schulden- (C)
mehr Orte wie das Horn von Afrika geben wird, sondern bremse. Es macht keinen Sinn, wenn Deutschland
dass es sie auch schon in der Vergangenheit gegeben hat. schwächelt, weil wir einen Antistabilitätskurs fahren.
Bei der konsequenten und permanenten Strukturarbeit, Das schadet jedem und nutzt niemandem. Ich möchte
die darauf abzielt, die Menschen selbst in der Krise stär- aber auch darauf hinweisen, was in diesem Zusammen-
ker zu machen, damit sie die nächsten Krisen durch an- hang in diesen Monaten gelungen ist. Der Energie- und
dere Anbaumethoden und vieles mehr besser bewälti- Klimafonds wurde eingerichtet. Er wird aus den erwei-
gen, haben alle drei Organisationen in den letzten Jahren terten Emissionszertifikaten gespeist und benötigt des-
große Erfolge erzielt. Die Folgen der verschärften Dür- wegen eine gewisse Anlaufzeit. Für sogenannte Haus-
ren und die Hungerkatastrophen in den letzten Jahren haltsspezialisten ist es kein Geheimnis, dass dieser
hätten viel schlimmer ausfallen können und müssen, Fonds inzwischen eine erste Ermächtigungstranche von
wenn diese Arbeit nicht so fruchtbar gewesen wäre. 950 Millionen Euro hat. Damit können wir wirklich et-
was anfangen.
Es wurde gesagt: Man kann in Somalia aus Sicher-
heitsgründen nicht so agieren wie sonst. Aber die Arbeit
in der Sahelzone, in Pakistan und am Horn von Afrika, Vizepräsidentin Petra Pau:
die Schlimmeres verhindert hat, muss man tagtäglich, Beachten Sie bitte die Redezeit.
kontinuierlich und dauerhaft unterfüttern, und zwar auch
dann, wenn CNN und andere nicht da sind. Es ist unsere Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Aufgabe, diesen Prozess kontinuierlich und dauerhaft zu Ich komme zum Schluss. – Ich darf daran erinnern,
unterfüttern. dass wir Entwicklungspolitiker mit der Transak-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionsteuer viel weiter gekommen sind, als wir vor zwei
Jahren gedacht haben.
Es war auch viel die Rede von dem neuen Präsidenten
der IFAD, einem Nigerianer. Er sagte: Wir Afrikaner Ich bedanke mich bei Herrn Finanzminister Schäuble
müssen uns an die eigene Brust fassen. Wir haben die und seinem Team, zum Beispiel bei Herrn Staatssekretär
ländliche Entwicklung auch in unseren Regierungspro- Koschyk, auch dafür, dass wir eine exorbitante Auswei-
grammen schmählich im Stich gelassen. Wir müssen bei tung des Gewährleistungsrahmens –
uns anfangen. – Das ist eine bemerkenswerte Aussage,
auf die wir zurückkommen sollten. Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie können jetzt noch zehn Minuten reden, das geht
Ein weiterer Punkt ist der arabische Frühling. Ich
allerdings auf das Konto Ihrer Kollegen, die noch spre-
finde, auch hier haben das BMZ und andere in der Re-
(B) chen wollen. (D)
gierung mit den drei schnell eingerichteten Fonds zügig
reagiert.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Na ja!) – in der FZ von 5,7 auf 8,5 Millionen Euro zu ver-
Ich bin auch der Meinung, dass wir solche schnell wir- zeichnen haben.
kenden Instrumentarien öfter brauchen, weil unsere nor- Bitte denken Sie an den gesamten ODA-Zusammen-
malen Prozeduren oft zu langsam sind. Ich glaube, hier hang, an den gesamten Haushalt. Dort haben wir große
sind wir auf einem guten Weg. Erfolge erzielt. Darauf können wir stolz sein, und diese
Jetzt geht es darum, dass die EU insgesamt springt. Es lassen wir uns auch von Erbsenzählern nicht madig ma-
gibt zum Beispiel in Nordafrika nur ganz wenige An- chen.
satzpunkte, schnell und dauerhaft Jobs zu schaffen und Vielen Dank.
eine Wirtschaftsbelebung zu bewirken. Dies ist möglich
in der Landwirtschaft, im Tourismus und in der Ener- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
giebranche sowie in einigen wenigen anderen Feldern.
Die berufliche Bildung ist auch ganz wichtig, aber das Vizepräsidentin Petra Pau:
ist eine langfristige Angelegenheit. In den genannten Be- Das Wort hat der Kollege Movassat für die Fraktion
reichen müssen wir jedoch springen. Dort muss auch die Die Linke.
EU springen. Gerd Müller, du weißt, wovon ich spreche,
ich meine zum Beispiel Marokko und Spanien. Das be- (Beifall bei der LINKEN)
deutet, dass in der EU mehr Absatzchancen für nordafri-
kanische landwirtschaftliche Produkte zugelassen wer- Niema Movassat (DIE LINKE):
den. Das verstehe ich unter „springen“. Hier sollte man Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geht
nicht nur die Lippen spitzen. das Sterben in Somalia wegen der Hungersnot weiter,
werden in 15 Monaten alle Kinder dort tot sein. Dies
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
geht aus einem Bericht der humanitären UN-Abteilung
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum hervor. Die Hungerkatastrophe in Ostafrika ist leider
Schluss auf die ODA-Quote zu sprechen kommen. Ich nicht vorbei, sondern wird sich laut UNO sogar noch
bin froh, dass es so viele Kollegen aus allen Parteien verschärfen. Mehr als 12 Millionen Menschen hungern
gibt, die den Aufruf im Zusammenhang mit den 0,7 Pro- derzeit in Ostafrika, allein das kenianische Flüchtlingsla-
zent unterschrieben haben. Das bedeutet Rückende- ger Dadaab wird bis Jahresende auf über 500 000 Hun-
14538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Niema Movassat
(A) gernde anwachsen. Auch wenn die Euro-Krise mediales in einer Antwort auf ein Schreiben der Kollegin Roth et- (C)
Thema Nummer eins ist: Für die internationale Gemein- was ganz anderes.
schaft muss die Hungerkatastrophe Thema Nummer eins
bleiben. Menschenleben gehen vor Bankenrettung. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Kollege Movassat, gestatten Sie eine Frage der Kolle-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gin Pfeiffer?
GRÜNEN)
Niema Movassat (DIE LINKE):
Ich sage Ihnen: Etwas läuft gewaltig falsch, wenn sich Nein, sie soll bis zum Schluss zuhören und kann da-
Banken und Großspekulanten sicher sein können, dass nach gern eine Kurzintervention machen.
sie mit Milliarden Euro Steuergeldern immer wieder ge-
rettet werden, aber gleichzeitig das Leid der hungernden Vizepräsidentin Petra Pau:
Menschen in Ostafrika und in vielen anderen Teilen die- Das entscheiden immer noch wir hier vorne.
ser Welt für die internationale Gemeinschaft nur einen
Nebenschauplatz darstellt. Anders kann ich mir nicht er- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Also, schwie-
klären, dass die von der UNO geforderten 1,8 Milliarden rige Fragen werden nicht beantwortet, oder
Euro zur Linderung der schlimmsten Not in Ostafrika was?)
bisher von der internationalen Gemeinschaft nur zu
60 Prozent zugesagt wurden. Zum Vergleich: Für die Niema Movassat (DIE LINKE):
Rettung der Commerzbank hat die Bundesregierung im Sie kann das gerne am Ende machen. – Ich zitiere
letzten Jahr problemlos 18 Milliarden Euro aufgebracht. Kanzleramtsminister Pofalla:
Dass die Bundesregierung sich angesichts dessen unend-
lich lange winden musste, ihre anfänglich gerade einmal Der Zwischenbericht der internationalen Experten-
1 Million Euro zur Bekämpfung der Hungersnot schritt- kommission sieht keine Anhaltspunkte für Korrup-
weise auf 5, 14, 35, 60 bis heute 140 Millionen Euro auf- tion in den Strukturen des GFATM. … Damit beste-
zustocken, ist erbärmlich. hen keine Anhaltspunkte, wonach Korruption beim
GFATM selbst lebensrettende Hilfe für Bedürftige
Entlarvend, Herr Niebel, für Ihre sogenannte Ent- verhindert habe.
wicklungspolitik ist Ihr neues entwicklungspolitisches
Es gibt keine Begründung für die Streichung der Gelder;
Konzept. Wessen Chancen dort geschaffen, wessen Zu-
das ist völlig verantwortungslos.
kunft entwickelt werden soll, kann man daran sehen, wie
oft manche Begriffe erwähnt werden oder nicht. So (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (D)
(B)
taucht das Wort „Hunger“ kein einziges Mal auf, ge- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
nauso wenig übrigens wie „Hungerbekämpfung“. „Ar- GRÜNEN)
mutsbekämpfung“, das Hauptziel jeder vernünftigen
Entwicklungspolitik, wird auf 27 Seiten Konzeptpapier Verantwortungslosigkeit durchzieht sowieso Ihre
ganze neunmal erwähnt und dann noch mit der Ansage, Politik; denn auch Sie schauen nach wie vor untätig zu,
für Armutsbekämpfung seien die Entwicklungsländer wie Spekulanten an den Börsen die Preise für Nahrungs-
zuständig. Ich sage: Ohne Solidarität der reichen Staaten mittel in die Höhe treiben. Sie ergreifen keine Maßnah-
mit den armen Staaten kann das nicht klappen. men dagegen, dass auch deutsche Unternehmen am
Landraub in Afrika beteiligt sind. So wird ein Unterneh-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. men aus Bayern in Äthiopien, wo derzeit 4,8 Millionen
Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) Menschen hungern, auf einer Fläche von 260 000 Hektar
Agrotreibstoffpflanzen anbauen. Sie lassen es zu, dass
Was ist mit der deutschen Wirtschaft als Akteur in Ih- durch EU-Subventionen deutsche Landwirtschaftspro-
rem Papier? Sie findet über zwanzigmal Erwähnung. Es dukte wie Milch auf dem afrikanischen Markt künstlich
geht Ihnen also nicht vorrangig um die Armuts- und billiger sind als Produkte, die in Afrika selbst erzeugt
Hungerbekämpfung, es geht Ihnen hauptsächlich um werden, zum Beispiel in Uganda, wo die Existenz von
Wirtschaftsförderung für deutsche Unternehmen. Der 600 000 Viehzüchtern dadurch derzeit gefährdet ist.
Topf dafür wird in Ihrem Haushaltsentwurf jetzt noch-
mals vergrößert. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ein
Schmarrn!)
Herr Niebel, Sie wollten das Ministerium vor Ihrem Ihre Politik beseitigt Hungersnöte nicht, sondern ver-
Amtsantritt abschaffen. Faktisch tun Sie dies mit einer schärft oder verursacht sie sogar noch. Das ist verant-
völligen Änderung seiner Ziele. Mit Entwicklungspolitik wortungslos.
hat das zunehmend nichts mehr zu tun.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
(Beifall bei der LINKEN) Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] – Georg
Schirmbeck [CDU/CSU]: Aha! Das hat aber
Aber nicht nur bei der Armutsbekämpfung ist Ihre Poli-
außer Ihnen bisher noch keiner erkannt!)
tik ignorant. In Ihrem Haushaltsentwurf haben Sie keine
Gelder für den Globalen Fonds gegen HIV/Aids, Mala- Eine nachhaltige Hungerbekämpfung braucht eine
ria und Tuberkulose vorgesehen. Begründet wird dies Politik, die in Kleinbauern und die lokale Produktion in-
mit Korruption. Dabei sagt Kanzleramtsminister Pofalla vestiert. Stattdessen zwingen Sie Entwicklungsländer zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14539
Niema Movassat
(A) Marktöffnungen und fördern europäische Dumping- Niema Movassat (DIE LINKE): (C)
exporte. Entwicklungspolitik muss sich für Markt- und Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin Pfeiffer,
Handelsbedingungen einsetzen, die eine gerechte Teil- ich habe nicht gesagt, dass wirtschaftliche Entwicklung
habe der Armen ermöglichen. Stattdessen erhöhen Sie nicht wichtig ist. Ich habe gesagt, dass Herr Niebel zu-
noch die Abhängigkeiten von der westlichen Produktion nehmend Außenwirtschaftsförderung betreibt. Das ist
und Wirtschaft. Ein umfassender Ansatz von Entwick- ein Unterschied. Es ist ein Unterschied, ob man Ent-
lung, Armutsreduzierung und Ernährungssouveränität wicklungspolitik macht, indem man versucht, die deut-
wäre endlich nötig. Sie machen das Gegenteil: Profit für sche Wirtschaft hier zu unterstützen, oder indem man
deutsche Konzerne auf Kosten der Armen. Das werden versucht, die lokale Wirtschaft vor Ort zu unterstützen.
wir nicht mitmachen. Genau das passiert nicht.
(Beifall bei der LINKEN) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]:
Das ist doch falsch, was Sie da sagen! – Weite-
Kein Kind darf zu keinem Zeitpunkt auf der Welt ver- rer Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
hungern. Das muss erstes Ziel von Entwicklungspolitik nicht!)
sein. Ich befürchte, dass die schwarz-gelbe Koalition
nicht die Fähigkeit hat, diesen einfachen Grundsatz zu Nach der neuen Linie dieses Ministeriums geht es zu-
verstehen. Deshalb ist hoffentlich bald Schluss mit Ih- nehmend darum, Außenwirtschaftsförderung zu betrei-
rem Trauerspiel. Das wäre das Beste, für die Menschen ben. Das ist ein Irrweg der deutschen Entwicklungspoli-
hierzulande und für die Menschen im globalen Süden. tik. Dazu habe ich hier etwas gesagt.
(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck [Göttingen] [CDU/CSU]: Könnte der nicht
[CDU/CSU]: Bis Sie Deutschland regieren, eventuell mal an eine Schule in Afrika gehen,
muss aber noch etwas passieren!) damit er das lernt? – Gegenruf des Abg. Georg
Schirmbeck [CDU/CSU]: Nein! Das ist ein
Vizepräsidentin Petra Pau: hoffnungsloser Fall! Da kannst du nichts ma-
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Pfeiffer chen!)
das Wort.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU):
legin Hinz das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege
(B) Movassat, ich kann es fast nicht mehr hören. Es ist doch (D)
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geradezu lächerlich, einfach zu sagen, ländliche Ent-
NEN):
wicklung und wirtschaftliche Entwicklung hätten nichts
mit Armutsbekämpfung zu tun. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Haushälterin werde ich zunächst einmal versuchen, die-
(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! – sen sogenannten Rekordhaushalt in die richtigen Rela-
Grotesk ist das!) tionen zu rücken. Es ist richtig, dass dem Haushalt dieses
Ministeriums im künftigen Haushaltsjahr 113 Millionen
Durch die ländliche Entwicklung sollen die Menschen Euro mehr zur Verfügung stehen werden. Das ist eine
befähigt werden, sich selber zu ernähren, selber für ihre Erhöhung, weil in der Finanzplanung eine Absenkung
Familie zu sorgen, selber die notwendige Kraft aufzu- um 300 Millionen Euro vorgesehen war. Das müssen Sie
bringen und es ohne fremde Hilfe zu schaffen. Das ist aber im Zusammenhang mit der Erreichung des 0,7-Pro-
gezielte Armutsbekämpfung. zent-Ziels – dieses Ziel tragen Sie ja immer vor sich her –
sehen. 2010 hatten wir eine ODA-Quote von 0,38 Pro-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zent. Wenn sich das Wirtschaftswachstum so fortsetzt,
Heike Hänsel [DIE LINKE]: Davon brauchen wie Sie es im Bundeshaushalt insgesamt zugrunde gelegt
Sie uns nichts zu erzählen!) haben
Was können wir Besseres tun als in den Entwick- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Oh ja, das
lungsländern Wirtschaftsförderung zu betreiben, um die wäre schlimm! Wie furchtbar!)
Menschen in kleinen und mittleren Unternehmen in
Lohn und Brot zu bringen? Was ist besser als diese Art – ich nehme an, auch in der Kabinettsentscheidung –,
der Armutsbekämpfung? Gute Wirtschaftspolitik ist bes- dann wird diese Quote schon im nächsten Jahr sinken.
ser als jegliche Sozialhilfe oder sonstige staatliche Un- Deswegen, Frau Kollegin Pfeiffer, ist es nur ein Pfeifen
terstützung; bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis. im Wald, wenn Sie sich wieder hier hinstellen und sa-
Alles andere sind keine Alternativen. gen: Wir wollen das 0,7-Prozent-Ziel erreichen, und wir
halten daran fest. Wenn Sie sich die Finanzplanung anse-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen, stellen Sie fest, dass sogar eine Kürzung der Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit um 581 Millionen
Euro vorgesehen ist. Deswegen wird das Erreichen des
Vizepräsidentin Petra Pau: 0,7-Prozent-Ziels mit dem Finanzplan, den Sie vorgelegt
Sie haben das Wort zur Erwiderung. haben, gar nicht funktionieren. Der Etat müsste nämlich
14540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Priska Hinz (Herborn)


(A) angesichts dessen, dass Sie in der Finanzplanung ein nahmen angemahnt. Deswegen wäre es wichtig, wenn (C)
wirtschaftliches Wachstum von 1,5 Prozent zugrunde le- Sie diese Reformmaßnahmen mit allen Kräften unter-
gen, von jetzt etwa 10 Milliarden Euro auf circa 20 Mil- stützten, anstatt das Geld woanders zu parken
liarden Euro verdoppelt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und bei der SPD)
Das wäre schön!)
und damit den Globalen Fonds und auch die Menschen
Wie Sie das erreichen wollen, müssen Sie mir hier in mit gesundheitlichen Risiken im Ungewissen zu lassen,
der Haushaltsberatung bitte schön einmal erklären. auf welche Seite sich Deutschland stellt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, das hat etwas mit ideologischen Scheu-
und bei der SPD – Dr. Christian Ruck [CDU/ klappen zu tun; denn Sie kämpfen schon lange gegen
CSU]: Kein Problem!) diesen Fonds. Wir haben keine ideologischen Scheu-
klappen, auch nicht im Hinblick auf die Zusammenarbeit
Ich glaube eher, Sie bauen darauf, dass Sie in der nächs- und Kooperation mit der Wirtschaft; ich finde es schon
ten Regierung nicht mehr im Amt sein werden; davon erstaunlich, dass die Linke dies nun als ihr Kampffeld
gehe ich jedenfalls fest aus. betrachtet. Einen durchschlagenden Erfolg bei der Ko-
(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Die Grünen operation mit der Wirtschaft habe ich in Ihrer Amtszeit
haben in ihrer Regierungszeit überhaupt nichts bislang vermisst. Sie reden zwar immer viel davon, aber
hingekriegt!) es passiert nicht viel. Wir haben nichts gegen eine sinn-
volle Kooperation, wenn sie in eine gute Strategie der
Sie hinterlassen der künftigen Regierung einen Scher- Entwicklungszusammenarbeit eingebettet ist.
benhaufen. Insofern wäre es wirklich wichtig, wenn wir
den entwicklungspolitischen Konsens, der von ganz vie- Danke schön.
len unterstützt wurde, als Aufbaupfad dafür nehmen, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
0,7-Prozent-Ziel gemeinsam zu erreichen. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das ist kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, ein-
fach nur Geld auszugeben. Ich gebe allen recht, die sa- Vizepräsidentin Petra Pau:
gen: Viel Geld allein bringt nichts. Aber ohne Geld kom- Der Kollege Klaus Riegert hat für die Unionsfraktion
men wir auch nicht weiter. Wir brauchen Geld für eine das Wort.
Bildungsstrategie, für die Erhöhung der Grundbildung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) Wir brauchen Geld für die Anpassung an den Klimawan- (D)
del. Wir brauchen Geld für die Stärkung der Landwirt-
schaft in den Entwicklungsländern. Für all das brauchen Klaus Riegert (CDU/CSU):
wir Geld. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
Herr Minister, bislang jedenfalls haben Sie nicht er- legen! Trotz Finanzkrise und Euro-Krise sind für diesen
klären können, wie Sie Ihre Bildungsstrategie finanziell Haushalt 6,33 Milliarden Euro vorgesehen, so viel wie
unterfüttern wollen. Sie ist zwar sehr wichtig, aber Sie noch nie zuvor. Sie können das nennen, wie Sie wollen:
können sie nicht unterfüttern, wenn Sie laut Finanzpla- Das ist ein Haushaltsansatz, der sich durchaus sehen las-
nung in den nächsten Jahren wieder einen Haufen Geld sen kann. Ich glaube, darüber sind wir alle uns insge-
einsparen sollen. Dann werden Sie wieder aus anderen heim auch einig.
Töpfen Geld herausnehmen, und Sie werden die anderen Wir treffen uns wohl auch bei der Einschätzung, dass
Schwerpunkte, die Ihnen angeblich ach so wichtig sind, wir innovative Finanzierungsinstrumente brauchen. Ich
nicht mehr setzen können. Von daher haben Sie uns hier glaube nicht, dass wir auf Dauer mit Steuergeldern das
die Quadratur des Kreises angekündigt. 0,7-Prozent-Ziel, an dem wir Fachpolitiker ja festhalten,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erreichen können. Vielmehr werden wir uns neue Ge-
sowie bei Abgeordneten der SPD) danken machen müssen. Es freut mich, dass im Ministe-
rium überlegt wird, etwa ethisch orientierte Bundes-
Ein Punkt, den ich noch ansprechen möchte und der schatzbriefe oder Ähnliches aufzulegen. Ich denke auch,
uns besonders wichtig ist, ist der Globale Fonds zur Be- dass der Energie- und Klimafonds eine Chance bietet, et-
kämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Sie was für weltweiten Klima- und Umweltschutz zu tun.
lassen die Finanzierung weiter im Ungewissen. Natür-
lich sind 200 Millionen Euro eingestellt, allerdings unter Außerdem möchte ich gerne auf ein Thema hinwei-
dem Haushaltstitel der Finanziellen Zusammenarbeit. sen, das von der ODA-Quote ausgeklammert ist. Schäd-
Von daher weiß man nicht, ob das Geld dem Fonds zu- liche Subventionen und Zollschranken, Handelshemm-
gutekommen wird. nisse, Schutzzölle und Exportsubventionen verhindern
eigene Einnahmen der Entwicklungsländer in doppelter
Ich gebe Ihnen recht: Man muss Korruption bekämp- Höhe der Mittel aller Geberländer; das muss man sich
fen, wo immer sie auftritt. Auch wir wollen nicht, dass einmal vor Augen führen. Deswegen gilt: Wenn wir eine
nur 1 Euro in falschen Kanälen versickert. Aber die Kor- zukunftsfähige Entwicklung haben wollen und Hilfe zur
ruption wurde vom Globalen Fonds selber aufgedeckt. Selbsthilfe erreichen möchten, muss die Doha-Runde
Im vorgelegten Zwischenbericht werden Reformmaß- endlich erfolgreich abgeschlossen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14541
Klaus Riegert
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie voll und notwendig, wenn die eigenen Kräfte nicht (C)
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ausreichen.
GRÜNEN)
Hilfe zur Selbsthilfe. Ziel unserer Entwicklungszu-
Zur Wirksamkeit der Vorfeldreform wurde schon viel sammenarbeit ist, Menschen die Freiheit zu geben, ohne
gesagt. Der Minister hat in der ihm zu Recht zugeschrie- materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich
benen Bescheidenheit darauf hingewiesen, dass wir da- ihr Leben zu gestalten. In diesem Sinne wollen wir dazu
mit mehr Einfluss auf das operative Geschäft bekom- beitragen, dass die Globalisierung zu einer Chance für
men. Deswegen stelle ich fest: Die Fusion von GTZ, alle Menschen wird.
DED und InWEnt ist wichtig. Damit werden Doppel-
strukturen abgeschafft, und wir können perspektivisch Deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird sich
Einsparungen in Millionenhöhe im Haushalt abbilden. künftig vor allem auf die Sektoren Bildung, Gesundheit,
ländliche Entwicklung, gute Regierungsführung und
Das unabhängige Institut für Deutsche Entwicklungs- nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren.
evaluierung wird in Zukunft unsere Maßnahmen in der Leitprinzip ist dabei der Schutz der Menschenrechte.
Entwicklungs- und wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf
ihre Wirksamkeit hin prüfen. Ich möchte mich ganz herzlich beim Ministerium für
den Haushaltsentwurf bedanken und meine, wir sollten
Die Servicestelle für bürgerschaftliches und kommu- den Haushalt im Ausschuss angehen und diskutieren.
nales Engagement, eine Anlaufstelle für in Deutschland
und im Ausland Engagierte, ist ebenfalls wichtig und zu- In diesem Sinne: Danke.
kunftsträchtig. An dieser Stelle sollten wir auch einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
allen im Inland und Ausland bürgerschaftlich und ehren-
amtlich Engagierten sowie den sonstigen Engagierten,
egal wie sie angezogen sind, unseren herzlichen Dank Vizepräsidentin Petra Pau:
aussprechen. Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Die stärkere Unterstützung von Stiftungen, privaten
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Trägern, der Wirtschaft und Kirchen sowie dieser Ser-
vicestelle spiegelt sich in einem Plus in dem entspre- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
chenden Ansatz in diesem Haushalt wider. Auch ich möchte etwas zu dem Rekordhaushalt sagen
(B) und dies mit einigen Zahlen unterlegen. Das Haushalts- (D)
Ich teile die Erkenntnis von Kollegin Sibylle Pfeiffer, volumen steigt um 1,8 Prozent. Das klingt gut, ist aber
dass Entwicklung nicht nur eine Frage des Geldes ist. weniger als das dem Haushalt zugrunde liegende Wachs-
Entwicklung kann man auch nicht kaufen. Man kann tum des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, wir haben ein
nicht entwickelt werden, sondern muss sich schon selbst System zur systematischen Verfehlung der ODA-Quote.
entwickeln.
(Beifall bei der SPD)
(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau! Sehr
richtig!) Das ist ein großes Problem, weil das systematisch falsch
ist.
Der in Eritrea geborene Politikwissenschaftler Mussie
Habte bringt es in dem Beitrag „Afrika neu denken – Vielleicht ist es auch für jemanden aus der FDP von
Krise und Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit“ in Interesse, dass die Ausgaben für Investitionen sinken,
Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011 und zwar in einer Größenordnung von 12 Prozent, wäh-
auf den Punkt. Ich zitiere: rend die Verwaltungskosten um mehr als 25 Prozent stei-
gen.
Bei aller Diskussion über die finanziellen Mittel gilt
jedoch: Der Glaube, dass allein die Aufstockung (Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Hört! Hört!)
der Entwicklungshilfe zur Lösung der Probleme Auch das ist eine interessante Entwicklung im Haushalt,
Afrikas beitragen kann, geht in die Irre. Mit Geld die man in den Blick nehmen darf.
lässt sich zwar manches bewirken, aber ob dies der
richtige Weg ist, die strukturellen Probleme des Weil Deutschland das nicht nötig hat, finde ich es
Kontinents zu bewältigen, muss ausdrücklich be- auch etwas schwierig, dass als Drohgebärde der Globale
zweifelt werden. … Denn zentral für die Lösung Fonds auf null gesetzt wird, wohl wissend, dass das gar
der Probleme ist und bleibt das Engagement der nicht durchgehalten wird. Ich glaube, dass wir uns mit
afrikanischen Staaten selbst. einer Drohgebärde im Haushalt keinen Gefallen tun.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Last, but not least fehlen noch die vertraulichen Er-
läuterungen. Ich würde das als „No-Good-Governance“
Entwicklung heißt zuallererst, es selber zu machen bezeichnen. Das Parlament braucht die Erläuterungen
oder – nach einem von der Weltbank geprägten Bild – unbedingt.
vom Beifahrer- auf den Fahrersitz zu wechseln. Ent-
wicklung muss von innen kommen. Unterstützende Ent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wicklungszusammenarbeit von außen bleibt dann sinn- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
14542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Lothar Binding (Heidelberg)


(A) Ich möchte noch auf einige Bemerkungen von heute dann kann es im Grunde nur das Gegenteil bedeuten. (C)
eingehen. Lange vor Niebel, wenn man das so formulie- Das lehne ich strikt ab.
ren will, gab es unter einer anderen Ministerin, nämlich
Heidi Wieczorek-Zeul, gute Menschenrechtsaktions- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
pläne mit Stufenplänen. Wenn man immer versucht, die DIE GRÜNEN)
Vergangenheit zu verbrämen und zu verleugnen, tut man Das ist in gewisser Weise eine gefährliche Entwicklung,
sich selber letztlich keinen Gefallen. die im Denken zutage gefördert wird. Sie ist für die
Ich will es in Erinnerung rufen: Es gab schon 2002 bis Menschen, die seit langem in ihrer Arbeit diese Richtung
2006 und erneut 2005 bis 2010 einen Stufenplan zur einschlagen, nicht leicht zu verstehen.
Haushaltsentwicklung. Es ist also nichts Neues, über Eines verwundert mich nicht, aber es erschreckt mich
diese Dinge zu reden. ein bisschen, nämlich dass Dirk Niebel die riesige
Man sollte den Blick vielleicht darauf richten, was Chance hat verstreichen lassen, dass mehr als die Hälfte
Herr Niebel gut bzw. schlecht macht. Ich will auch sa- von uns allen fraktionsübergreifend sagt – das kommt
gen, was er gut macht. Wir stimmen in manchen Fragen nicht allzu häufig vor –: Wir wollen für die ODA-Quote
überein. Er hat davon gesprochen, die Wirksamkeit zu in den nächsten vier Jahren 1,2 Milliarden Euro jährlich
erhöhen. Wer wollte das nicht? Immer, wenn man einen mehr aufbringen. Das Einvernehmen führte dazu, dass
Euro in die Hand nimmt, sei es privat oder an Steuergel- die SPD das nicht im Pakt für Bildung und Entschuldung
dern, will man ihn so wirksam wie möglich einsetzen. berücksichtigt hat. Wir sind nämlich davon ausgegan-
Das versteht sich zwar von selbst; trotzdem ist es eine gen, dass der Minister das in seinen Entwurf aufnimmt.
gute Idee. Dann hätten wir zugestimmt, und es wäre ein großer Er-
folg gewesen. Dieser Punkt fehlt jetzt im Pakt der SPD,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der weil wir dachten, das versteht sich von selbst.
Abg. Helga Daub [FDP])
Frank-Walter Steinmeier hat unterschrieben, und un-
Er sagt auch: Wir wollen nicht mit großen Zahlen um ser Parteivorsitzender Gabriel hat unterschrieben. Ich
uns werfen. – Das finde ich sehr gut. Es wäre klug, sich sehe gerade, auch Herr Koschyk hat unterschrieben. Es
auch daran zu halten. wäre eine Superidee, die ODA-Quote jetzt festzuklop-
fen. Damit würde man den Worten Taten folgen lassen.
Gut fand ich auch in Teilen die Fusion von GTZ, DED
Das wäre eine sehr gute Sache.
und InWEnt zur GIZ. Das ist insgesamt eine gute und
keine ganz neue Idee, um das in Erinnerung zu rufen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Dass es einige Probleme gab, zum Beispiel mit einer Sie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(B) ben-zu-eins-Konstellation von Männern gegen Frauen im (D)
Vorstand und Beschlüssen, die jetzt umgesetzt werden Die Finanzierung ist im Übrigen gar nicht so kompli-
müssen und zu großen Schwierigkeiten führen, stelle ich ziert. Die Finanztransaktionsteuer wurde schon erwähnt.
hintan. Hinzu käme der Verzicht auf Steuersenkungen. Wer sich
die leisten kann, kann sich die ODA-Quote erst recht
Die Idee war gut, und es wurde bereits viel Gutes um- leisten. Auch die Konzernbesteuerung ist eine schöne
gesetzt. Noch besser finde ich, dass sich der Minister zur Einnahmequelle. Es gibt eine ganze Reihe von Einnah-
ODA-Quote bekennt und sie erfüllen will; denn dafür memöglichkeiten, die wir schon im letzten Jahr vorge-
hat er eine Mehrheit im Parlament. schlagen haben.
Er sagt auch, um noch ein konkretes Beispiel zu nen- Es gibt eine schleichende Peinlichkeit. Diese hängt
nen: Wir wollen die Landwirte vor Ort langfristig er- damit zusammen, dass der Minister inzwischen gemerkt
tüchtigen. – Das ist eine gute Sache; das gilt für die Ver- hat, welche enorme Kraft die deutsche Entwicklungszu-
gangenheit wie für die Zukunft. Das ist ganz klar sammenarbeit, auch die finanzielle Zusammenarbeit,
notwendig. entfaltet hat. Das BMZ ist gut aufgestellt, ebenso die
durch die Fusion von GTZ, InWEnt und DED entstan-
Gut finde ich auch – es hat darüber gelegentlich Miss-
verständnisse gegeben –, dass er durch viele Reisen dene GIZ und die KfW. Die NGOs arbeiten weltweit
Deutschland im Ausland vertritt. Ich finde nicht alles enorm gut. Darin arbeiten Tausende von Menschen, die
gut, was er macht. Das Käppi wurde schon erwähnt. ein großes Netzwerk in der Welt aufgebaut und eine gute
Aber insgesamt finde ich die Präsenz im Ausland gut. Reputation erworben haben. Die deutsche Entwick-
Ich glaube, dass man diese guten Dinge auch erwähnen lungszusammenarbeit steht, wenn man sie mit der ande-
muss. rer Länder vergleicht, an vorderster Stelle. Deshalb halte
ich es für sehr problematisch, wenn der Minister meint,
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) er müsse das Ministerium nur deshalb neu erfinden, weil
er einmal gesagt hat, er wolle es abschaffen. Den Wider-
Schlecht finde ich, dass er zum Beispiel sagt – das ist spruch in dieser Weise auflösen zu wollen, ist ein großes
für mich eine sehr tiefgehende Aussage –: „Entwick- Problem. Dieser Linie werden wir keinesfalls folgen.
lungszusammenarbeit ist nichts Altruistisches.“ Ich habe
es im Duden nachgeschlagen. „Altruismus“ heißt „durch Ich will ein Wort zu Ostafrika sagen. Da gibt es ein
Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Hand- Missverständnis. Ländliche Entwicklung und die Ernäh-
lungsweise“. Der Gegensatz ist Egoismus. Wenn die rungssicherung sind langjährige Schwerpunkte der EZ.
Entwicklungszusammenarbeit nichts Altruistisches ist, Das waren sie in der Vergangenheit, und das sind auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14543
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Ihre Schwerpunkte. Seit Mitte Juli gibt es in Ostafrika Für den Globalen Fonds, GFATM – er wurde mehr- (C)
– das hat jeder gesehen – eine akute Hungersnot. Die fach erwähnt –, stehe kein Geld zur Verfügung. Das Ge-
Kanzlerin war dort und hat 1 Million Euro Hilfe zuge- genteil ist der Fall. Wir haben dafür einen Haushaltstitel.
sagt. Das war ungefähr zu der Zeit, als die Engländer Er ist zwar mit einem Strichansatz versehen, wörtlich
60 Millionen Euro, die sie bereitgestellt haben, für nicht heißt es aber: Mehrausgaben dürfen bis zur Höhe von
genug hielten. Damals habe ich dem Minister einen 200 Millionen Euro der Einsparungen bei folgendem Ti-
Brief geschrieben. Aber erst vier Wochen später wurde tel geleistet werden … – Dort steht also Geld zur Verfü-
die Regierung aktiv, weil der Minister sagte: Wir müssen gung.
zunächst viele grundsätzliche Dinge in Kraft setzen. –
Ich bin in der DLRG. Wenn in der Spree jemand ertrinkt (Beifall der Abg. Helga Daub [FDP])
und ich erst ein grundsätzliches Konzept zur Verteilung Ich halte hier ein deutliches Signal für wichtig: dass
von Rettungsringen entlang der gesamten Spree in den wir eine ordentliche Arbeit des Globalen Fonds erwarten
nächsten Jahren entwickle, hilft das dem Ertrinkenden und dass wir erst bereit sind, zu zahlen, wenn die Kor-
nicht. Ich muss schneller agieren, um den Menschen zu ruptionsvorwürfe aus dem Weg geräumt sind.
helfen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Bericht wird meines Wissens frühestens nächste
Woche vorgelegt. Ich will erst einmal sehen, was darin
Man muss überprüfen, was für die akute Nothilfe be- steht. Die Behauptung, für diese Zahlung sei keine Vor-
reitgestellt werden kann. Zahlenspiele über den Haushalt sorge getroffen worden, ist abwegig.
helfen nicht weiter. Mit dieser Anregung zur Überprü-
fung möchte ich Sie gern in die Haushaltsdebatte entlas-
sen. Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Klein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Schönen Dank und alles Gute. Kollegen Uwe Kekeritz?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Volkmar Klein (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Kollege Volkmar Klein hat für die Unionsfraktion Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
das Wort. Herr Kollege Klein, die Diskussion um die Korrup- (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU) tionsvorwürfe gegen den Global Fund ist jetzt bestimmt
ein halbes Jahr alt. Sie sind nie von offizieller Seite erho-
ben worden. Sie sind hier von Ihnen in die Runde gewor-
Volkmar Klein (CDU/CSU): fen worden. Niemand wirft dem Global Fund ernsthaft
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Korruption vor. Stattgefunden hat die Korruption in den
Herren! Wenn man am Ende der Debatte zum Einzelplan jeweiligen Ländern. Irgendwelche Partner dort hatten die
23, zum Haushaltsplan des Ministeriums für wirtschaft- Geschehnisse nicht unter Kontrolle. Warum geben Sie es
liche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Argumente nicht endlich auf, diesen falschen Vorwurf aufrechtzuer-
Revue passieren lässt, dann gewinnt man den Eindruck, halten? Was Sie machen, ist in diesem Fall einfach unan-
dass aus allen Beiträgen, vor allen Dingen aus denen der ständig.
Opposition, am Ende Lob für die Arbeit des Ministe-
riums hervorgeht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
chen bei der SPD, der LINKEN und dem Sie sprechen davon, dass hier 200 Millionen Euro zur
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verfügung stehen. Wenn das so ist, dann sorgen Sie doch
bitte dafür, dass im Haushalt 200 Millionen Euro veran-
Wenn man einmal von den unsachlichen Beiträgen schlagt sind. Dann ist das Ganze klar, ehrlich, transpa-
absieht, dann besteht die Kritik darin, dass es zu wenig rent und offen. Im Haushalt nichts zu veranschlagen und
Geld gibt. Man möchte also einen noch größeren Zu- die entsprechende Stelle mit einem komischen Kom-
wachs haben. mentar zu versehen, ist keine haushaltspolitische Maß-
nahme.
(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Das ist verständlich. Wer wäre dagegen, wenn Geld für DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
einen guten und sinnvollen Zweck ausgegeben wird,
wenn es vorhanden ist? Insofern ist das ein erwarteter
Kritikpunkt an diesem Haushalt, der gleichwohl kräftig Volkmar Klein (CDU/CSU):
wächst. Ich komme gleich zu den Zahlen. Die anderen Erstens. Es ist für den deutschen Steuerzahler, dessen
Kritikpunkte sind kaum sachliche Kritikpunkte, sondern Interessen ich vertrete, relativ egal, auf welcher Ebene
beziehen sich nur auf Formalitäten. Ich will zu drei Kri- möglicherweise Geld verloren geht, ob an zentraler
tikpunkten kurz Stellung nehmen: Stelle oder vor Ort in den Ländern.
14544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

Volkmar Klein
(A) (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine solche Strategie ist nicht, wie Sie es jetzt sagen, (C)
NEN]: Ob Sie jetzt Müller oder Meier abwat- eine formale Sache, sondern das bedeutet, dass Tausende
schen, ist doch was anderes!) von Menschenleben riskiert werden, und das dürfen wir
nicht zulassen.
Zweitens. Sie können das nicht so genau wissen. Sie
haben gesagt: Da steht irgendwo etwas. Es geht aber um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
einen Haushaltsvermerk – das ist nach dem deutschen DIE GRÜNEN)
Haushaltsrecht etwas Belastbares –, und genau da ist der
Betrag vorgesehen, über den hier diskutiert wird.
Volkmar Klein (CDU/CSU):
Ich bleibe bei meinem Hinweis: Hier wird ein Thema,
das eigentlich nur eine Formalität ist, herangezogen, um Diese Bemerkung ist in der Sache falsch,
Kritik zu üben. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Nein, sie
(Beifall bei der CDU/CSU) ist nicht falsch!)
Stichwort „Somalia“: Der Kollege Binding hat eben weil die Würdigung der guten Arbeit des Globalen
zu Recht an Folgendes erinnert: Früher, als die DDR- Fonds dazu geführt hat, dass überhaupt ein solcher
Grenze entlang des Ufers der Spree direkt hinter dem Haushaltsposten im Haushalt drinsteht.
Reichstagsgebäude verlief, musste für Rettungsbemü-
hungen erst die Zustimmung der Grenzschützer aus dem Ich habe eben versucht, deutlich zu machen, dass
Osten eingeholt werden. Leider ist es in Somalia so ähn- dann, wenn die Vorwürfe aus dem Weg geräumt sind,
lich: Man behindert die Helfer. Das ändert aber nichts an diese Zahlungen selbstverständlich möglich sind. Auf
der Tatsache, dass, auch haushalterisch, Erhebliches für der anderen Seite halte ich es im Interesse unserer Steu-
die Hilfe in Somalia und am Horn von Afrika vorgese- erzahler für grundanständig, diese Fragen vorher zu klä-
hen ist – ich finde, zu Recht nicht mit einer separaten ren und erst dann zu zahlen. Alles andere wäre unverant-
Haushaltsposition. wortlich und nicht im Sinne unserer Steuerzahler.

Vizepräsidentin Petra Pau:


(Beifall bei der CDU/CSU)
Kollege Klein, es gibt weiteres Interesse an einer Ich komme zurück zu dem zweiten Kritikpunkt. Für
Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Wieczorek-Zeul. Somalia steht nicht nur Erhebliches an Haushaltsmitteln
(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich zur Verfügung. Der Titel „Not- und Übergangshilfe“ in
möchte eine Kurzintervention machen!) unserem Haushaltsplan ist ja gerade für jeweilige Fälle
(B) da. Ich kann mich daran erinnern, dass in den zwei Jah- (D)
– Ach so, Entschuldigung. Das war dann ein Missver- ren meiner Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause auch
ständnis. diskutiert wurde: Brauchen wir einen separaten Titel für
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Kol- Haiti? Brauchen wir einen separaten Titel für Pakistan? –
legin Wieczorek-Zeul möchte eine Zwischen- Ich meine, dass es viel sinnvoller und auch langfristig
bemerkung machen!) flexibler ist, wenn wir einen Titel „Not- und Übergangs-
hilfe“ haben und im Übrigen Gelder – wie im Fall Soma-
– Gut. Dann haben wir das jetzt geklärt. lia ja auch – aus Mitteln des Außenministeriums und aus
Die Kollegin Wieczorek-Zeul hat das Wort zu einer unseren erheblichen Beiträgen an Weltbank und Euro-
Zwischenbemerkung. päische Union bereitgestellt werden.
Bei dem dritten Punkt geht es vielleicht auch eher um
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Formalien. Der Kollege Raabe hat darauf hingewiesen,
Herr Klein, ich selbst habe damals diesen Globalen
man könne doch eigentlich nicht die – gegenüber der
Fonds – am Anfang stand eine Initiative von Kofi Annan –
mittelfristigen Finanzplanung – riesigen Steigerungen
mit in Gang gesetzt. Wir haben die Mittel dafür zuge-
des Einzelplans 23 im Haushaltsplanentwurf als Grund
sagt. Übrigens hat in Heiligendamm auch die Bundes-
für Lob heranziehen. Da hat er ja recht. Deswegen ist es
kanzlerin ihre Zusage gegeben. Dieser Globale Fonds
hat, seitdem er besteht, etwa 7 Millionen Menschenleben viel sinnvoller zu vergleichen: Wie sind denn die tat-
gerettet. Ich muss sagen: Der dauernde Versuch, den sächlichen Ausgaben gewesen? Was hat denn im echten
Globalen Fonds mit Korruption in Verbindung zu brin- Haushaltsplan in den jeweiligen Jahren gestanden? Denn
gen – seine Betreiber selber haben diese Vorwürfe aufge- die mittelfristige Finanzplanung hat – wie wir alle wis-
griffen und verfolgt –, ist inakzeptabel und unanständig. sen – ohnehin keine Verbindlichkeit. Dann stellen wir
fest: Man kann das – das ist eben schon gesagt worden –
Im Übrigen: Wenn man jetzt bilaterale Kleinprojekte am Amtsantritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel fest-
durchführt, um die Aidsbekämpfung voranzutreiben, wie machen. Seit jenem Jahr sind die Ausgaben im Einzel-
Sie es vorschlagen, dann geht genau da etwas verloren, plan 23 stark gestiegen. Das ist vorher nicht der Fall ge-
wo es gebraucht wird, nämlich bei der anständigen Ko- wesen.
ordinierung vor Ort über den Globalen Fonds. Dort wer-
den Medikamente zur Verfügung gestellt; dort findet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Beratung statt. Das ist sinnvoller, als Einzelprojekte Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Da ist
durchzuführen. falsch!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14545
Volkmar Klein
(A) Genauso wenig hilfreich ist es, jetzt die mittelfristige frage oder Zwischenbemerkung wenigstens einen klei- (C)
Finanzplanung für 2013 zu nehmen und schon wieder nen Moment stehen.
Besorgnis zu haben: Mensch, da könnte es ja einen Ein-
bruch geben. – Wir reden über den Einzelplan 23 für das Da ich vorhin allerdings nicht wusste, welcher Natur
Haushaltsjahr 2012. Dazu will ich noch einmal festhal- die Meldung war, habe ich dem Redner jetzt einfach ein
ten: Der Gesamthaushalt stagniert. Es gibt einen mini- wenig mehr Redezeit eingeräumt, damit er auf die Zwi-
malen Aufwuchs. Beim Einzelplan 23 hingegen gibt es schenbemerkung antworten konnte.
einen Zuwachs von 1,8 Prozent. Klammer auf: Wenn
(Zuruf von der SPD: Gute Lösung! – Lothar
man, was man eigentlich könnte, die zusätzlichen Ein-
Binding [Heidelberg] [SPD]: Das hat er ver-
nahmen und die Abführungen an den IWF berücksich-
dient! War ja nicht alles falsch!)
tigt, dann betragen die Steigerungsraten sogar 4,3 Pro-
zent und nicht nur 1,8 Prozent. Ab morgen sollten wir es wieder in der alten Form ma-
chen. Kurzinterventionen werden dann nach dem Bei-
Das ist ein Ausweis für den Bedeutungszuwachs die-
trag gehalten.
ses Bereichs. In den beiden Jahren, die ich überblicken
kann, sieht es so aus – damit man die Zahlen wiederfin- Kollegin Kopp, Sie haben das Wort.
den kann –: Von 2010 auf 2012 steigt der Anteil des Ein-
zelplans 23 am Gesamthaushalt von 1,9 Prozent auf
2,1 Prozent. Das ist einfach die mathematische Folge der Gudrun Kopp (FDP):
erheblich größeren Steigerungsraten. Das ist der Aus- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich nehme Bezug
weis dafür, dass uns Verantwortung über unsere Grenzen auf die Kurzintervention von Frau Kollegin Wieczorek-
hinaus einfach wichtig ist. Das ist ablesbar an unseren Zeul zum Thema GFATM.
Zahlen im Einzelplan 23.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]:
Man könnte noch eine ganze Menge anderer Bei- Zwischenbemerkung!)
spiele nennen, wo darüber hinaus – so etwa durch die
Steuerbegünstigung von Spenden in dem Bereich – wei- Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass nie-
tere staatliche Gelder zur Unterstützung dieser Arbeit mand hier seitens des Ministeriums oder auch der Red-
ausgegeben werden. ner den Global Fund selbst der Korruption bezichtigt
hat. Es ging vielmehr darum, dass man bei Stichproben
Das alles unterstreicht, wie wichtig es für uns ist, herausgefunden hat, dass es bezüglich Geldern, die in
nicht nur an die Menschen bei uns, sondern auch an die bestimmten Ländern verausgabt werden, Korruptions-
(B) Menschen jenseits unserer Grenzen zu denken. Die phi- vorwürfe gibt. Diese muss man natürlich dringend auf- (D)
losophische Betrachtung des Altruismus, die der Kollege klären.
Binding angestellt hat, kann ich nicht so ganz teilen;
denn wenn wir anderen helfen, ohne selber darunter zu Statt aber jetzt einfach aufzurechnen, wie viele Men-
leiden, wenn wir vielleicht noch selbst etwas davon ha- schenleben gerettet und wie viele nicht gerettet wurden,
ben, dann tut das doch dem Wert unserer Hilfe keinen bitte ich Sie, zu bedenken, dass es auch nicht dazu bei-
Abbruch. trägt, dass Leben gerettet werden, wenn Gelder, die da-
für bestimmt sind, nicht bei den Menschen ankommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihre Ausführungen waren wirklich polemisch. Ich finde,
wir sollten sachlich bleiben.
Insofern würde ich uns alle darum bitten, die Zeit der
Haushaltsberatungen in den nächsten Wochen zu nutzen, Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir als Ministe-
gemeinsam darüber nachzudenken, wie man vielleicht rium alles tun, was wir tun können,
die Wirksamkeit des eingesetzten Steuergeldes noch
steigern kann. Da gibt es, glaube ich, noch ein paar Mög- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sprechen
lichkeiten, die in den zuständigen Ausschüssen beraten Sie jetzt als Abgeordnete oder als Staatssekre-
werden können. tärin? Da müssen Sie sich entscheiden! Sonst
können wir das nicht zulassen!)
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
und ich als Abgeordnete alles tue, was ich tun kann, da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit die Gelder dorthin gelangen, wohin sie gehören, und
den Menschen zugutekommen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Den entsprechenden Bericht werden wir ja am
Bevor ich der Kollegin Kopp das Wort zu einer Kurz- 15. September bekommen. Als Abgeordnete sage ich
intervention gebe, möchte ich vorsorglich darauf hinwei- aber noch einmal ausdrücklich, dass es mir wichtig ist,
sen, dass es natürlich möglich ist, in den Debatten darauf hinzuweisen, dass wir dafür neue Instrumente
sowohl Zwischenfragen zu stellen als auch Zwischenbe- brauchen, und dass wir prüfen müssen, was falsch läuft.
merkungen zu machen. Nach unserer Geschäftsordnung Das ist im Sinne der Menschen, die betroffen sind.
sind beide kurz und präzise zu halten. Gleichzeitig muss
es natürlich dem Redner möglich sein, zu antworten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dazu bleiben wir üblicherweise nach einer Zwischen- der CDU/CSU)
14546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ja in der Debatte zu Wort gekommen. Damit lösen wir (C)
Jetzt haben wir ein Problem, weil nach unserer Ge- das Ganze auf.
schäftsordnung nun wiederum Frau Wieczorek-Zeul Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht antworten kann, weil mir die Kurzintervention mir nicht vor.
während der Rede des Kollegen aus der Unionsfraktion
gemeldet worden ist und sie sich auf diese Rede hätte Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
beziehen müssen. ordnung.

(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir machen Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
jetzt einmal Schluss! – Lothar Binding [Hei- destages auf morgen, Donnerstag, den 8. September
2011, 9 Uhr, ein.
delberg] [SPD]: Jetzt schließen wir ab!)
Die Sitzung ist geschlossen.
– Wir schließen das jetzt ab. Ich denke, darauf einigen
wir uns jetzt einfach. Kollegin Wieczorek-Zeul, Sie sind (Schluss: 18.24 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. September 2011 14547

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 07.09.2011* Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 07.09.2011
Marieluise DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Behrens, Herbert DIE LINKE 07.09.2011 von der Marwitz, Hans- CDU/CSU 07.09.2011
Georg
Bockhahn, Steffen DIE LINKE 07.09.2011
Menzner, Dorothee DIE LINKE 07.09.2011
Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 07.09.2011
Nietan, Dietmar SPD 07.09.2011
Gerster, Martin SPD 07.09.2011
Nink, Manfred SPD 07.09.2011
Glos, Michael CDU/CSU 07.09.2011
Schreiner, Ottmar SPD 07.09.2011
Gohlke, Nicole DIE LINKE 07.09.2011
Dr. Strengmann-Kuhn, BÜNDNIS 90/ 07.09.2011
Hunko, Andrej DIE LINKE 07.09.2011 Wolfgang DIE GRÜNEN

Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 07.09.2011 Stübgen, Michael CDU/CSU 07.09.2011

Kramme, Anette SPD 07.09.2011 Tack, Kerstin SPD 07.09.2011

Krestel, Holger FDP 07.09.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 07.09.2011


(B) (D)
Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ 07.09.2011 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 07.09.2011
DIE GRÜNEN

Lambrecht, Christine SPD 07.09.2011 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates
Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 07.09.2011
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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