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Plenarprotokoll 14/116

Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

116. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Inhalt:

Nachruf auf die Abgeordnete Ilse Schumann 11059 A Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 11088 A
Nachruf auf den Alterspräsidenten des Deut- Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11089 D
schen Bundestages Fred Gebhardt . . . . . . . . 11059 B
Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11091 B
Eintritt der Abgeordneten Pia Maier und Antje Hermenau BÜNDNIS 90/
Ulrich Kelber in den Deutschen Bundestag . 11059 C DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11094 D
Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11096 C
der Abgeordneten Dr. Norbert Blüm,
Wolfgang Weiermann, Dr. Peter Danckert, Dr. Uwe-Jens Rössel PDS . . . . . . . . . . . . . . . 11097 B
Dr. Manfred Lischewski und Rudolf Bindig 11059 D Jörg-Otto Spiller SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11098 D
Absetzung des Tagesordnungspunktes: Erste Bartholomäus Kalb CDU/CSU . . . . . . . . . . . 11101 D
Beratung des Gesetzentwurfes zur Änderung
des Straßenverkehrsgesetzes . . . . . . . . . . . . . 11059 D Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . . . . . . . . . . 11103 D
Bartholomäus Kalb CDU/CSU . . . . . . . . . 11104 D
Tagesordnungspunkt 1 Susanne Jaffke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11105 C
a) Erste Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Einzelplan 05
Gesetzes über die Feststellung des Bun-
Auswärtiges Amt
deshaushaltsplans für das Haushaltsjahr
2001 (Haushaltsgesetz 2001) Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 11107 B
(Drucksache 14/4000) . . . . . . . . . . . . . 11059 D Karl Lamers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11111 A
b) Beratung der Unterrichtung durch die Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11113 C
Bundesregierung: Finanzplan des
Bundes 2000 bis 2004 Dr. Werner Hoyer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11116 A
(Drucksache 14/4001) . . . . . . . . . . . . . 11060 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 11118 A
Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 11060 A Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . . 11119 A
Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . . 11068 A Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11121 A
Joachim Poß SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11072 D Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11122 B
Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 11076 D Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/
Oswald Metzger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11124 B
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11081 B Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . . . . . . . 11126 B
Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11085 A Uwe Hiksch PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11127 B
Hans Georg Wagner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 11086 D Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . 11128 B
II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11128 D Eckhart Lewering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11163 D


Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11130 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11165 A
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . 11130 D Dr. Dieter Thomae F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 11165 C
Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 11131 A Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11166 D
Günter Gloser SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11133 A Dr. Martin Pfaff SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11167 D
Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 11171 C
Einzelplan 17
Klaus Kirschner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 11172 A
Bundesministerium für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend Monika Knoche BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11174 A
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11135 A Aribert Wolf CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11175 A
Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11138 C Ulf Fink CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11175 D
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11177 B
BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11139 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11178 C
Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 11139 B Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11178 A
Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11141 D
Anlage 1
Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11143 D
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11179 A
Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11145 D
Hildegard Wester SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11147 A Anlage 2
Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11148 D Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten
Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 11149 B Peter Letzgus (CDU/CSU) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich-
Christian Simmert BÜNDNIS 90/
tung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11151 B
tung und Zukunft“ (114. Sitzung, Tagesord-
Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11152 B nungspunkt 7 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11179 C
Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11153 C
Christel Hanewinckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 11154 C Anlage 3
Manfred Kolbe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 11156 C Neudruck einer zu Protokoll gegebenen Rede
zur Beratung des Antrags: Vererblichkeit von
Bodenreformeigentum (105. Sitzung) . . . . . . 11179 D
Einzelplan 15
Bundesministerium für Gesundheit Anlage 4
Andrea Fischer, Bundesministerin BMG . . . . 11159 A
Technisch bedingter Neudruck eines Rede-
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) CDU/CSU 11161 B beitrages (115. Sitzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11180 C
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11059

(A) (C)

116. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Beginn: 11.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe liches Eintreten für soziale Gerechtigkeit. Wir werden
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit- Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren
ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
(Die Anwesenden erheben sich) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zwei neue Mitglieder des Hauses begrüßen. Als Nachfol-
Am 9. August 2000 verstarb unsere Kollegin Ilse gerin für den verstorbenen Kollegen Fred Gebhardt hat
Schumann im Alter von 61 Jahren. Nicht nur die Men- die Abgeordnete Pia Maier am 31. August 2000 die Mit-
schen in ihrer Heimatgemeinde, sondern alle Menschen, gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Für den
die mit ihr zusammentrafen, schätzten sie wegen ihrer Of- Kollegen Rudolf Dreßler, der am 31. August 2000 auf
fenheit und Menschlichkeit. Überall, wo sie sich enga- seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet
gierte, tat sie dies mit großem Einsatz, der nie ohne eine hat, hat der Abgeordnete Ulrich Kelber am 1. Septem-
(B) besondere Herzlichkeit war. Geboren in Augsdorf im ber 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag er- (D)
Mansfelder Land, blieb sie ihrer Heimat immer verbun- worben. Ich heiße Sie beide herzlich willkommen und
den. Sie machte eine Ausbildung zum Chemieingenieur wünsche gute Zusammenarbeit!
und arbeitete in Bitterfeld und Wolfen. Von 1990 an war
(Beifall)
sie Bürgermeisterin in Raguhn im Kreis Bitterfeld, bis sie
1994 für den Kreis in den Bundestag gewählt wurde. Als Sodann spreche ich den Kollegen Dr. Norbert Blüm
Mitglied des Verteidigungsausschusses und seines Unter- und Wolfgang Weiermann, die während der Sommer-
ausschusses „Streitkräftefragen in den neuen Bundeslän- pause ihren 65. Geburtstag feierten, sowie den Kollegen
dern“ hat sie sich nachhaltig für die Belange der jungen Dr. Peter Danckert, Dr. Manfred Lischewski und
Menschen in Ostdeutschland eingesetzt. Selbst ihr eige- Rudolf Bindig, die jeweils ihren 60. Geburtstag begin-
ner zäher Kampf gegen die tückische Krankheit war bis gen, nachträglich die herzlichsten Glückwünsche des
zuletzt von Zuversicht geprägt und blieb von vielen un- ganzen Hauses aus.
bemerkt, weil sie von ihrer eigenen Person nicht viel Auf- (Beifall)
hebens machte. Wir werden sie in ehrender Erinnerung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
behalten. vereinbart worden, die auf der Tagesordnung ohne De-
Am 14. August 2000 ist der Alterspräsident des Deut- batte vorgesehene erste Beratung des Gesetzentwurfes zur
schen Bundestages Fred Gebhardt nach langer, schwe- Änderung des Straßenverkehrsgesetzes abzusetzen. Sind
rer Krankheit im Alter von 72 Jahren gestorben. Fred Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Gebhardt wurde 1928 in Bayreuth geboren. Er studierte Dann ist es so beschlossen.
politische Wissenschaft und Soziologie und war dann in
der Arbeits- und Sozialverwaltung tätig. Zwar gehörte er Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf:
dem Deutschen Bundestag erst seit zwei Jahren an; doch a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
sein politisches Engagement auf kommunaler und Lan- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
desebene in seiner Wahlheimat Hessen währte bereits stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-
mehrere Jahrzehnte. Auch in der internationalen Zusam- haltsjahr 2001
menarbeit war er lange aktiv. Die Kollegen, die ihn in per-
sönlichen Gesprächen kennen lernten, schätzten seine (Haushaltsgesetz 2001)
sehr liebenswürdige Art. Doch in der politischen Ausei- – Drucksache 14/4000 –
nandersetzung war er verständlicherweise nicht immer Überweisungsvorschlag:
ein bequemer Partner. Unbestritten ist jedoch sein beharr- Haushaltsausschuss
11060 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Präsident Wolfgang Thierse

(A) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- keit hat auch eine Zukunftsdimension. Wir dürfen unseren (C)
gierung sozialen Ausgleich heute nicht zulasten künftiger Genera-
Finanzplan des Bundes 2000 bis 2004 tionen machen.

– Drucksache 14/4001 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss Das gilt sowohl für die Finanzpolitik wie auch für die
Umweltpolitik. Es bedeutet, nicht nur möglichst wenig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Schulden zu hinterlassen, sondern auch natürliche Le-
heutige Aussprache im Anschluss an die Einbringung acht
bensgrundlagen zu bewahren, auf denen ungezählte Ge-
Stunden, für Mittwoch sieben Stunden, für Donnerstag
nerationen nach uns leben können. Auch muss vor allem
acht Stunden und für Freitag fünf Stunden vorgesehen. –
in Bildung, in Köpfe, und in die Fertigkeiten der Hände
Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so be-
der nächsten Generation investiert werden; denn das ist
schlossen.
deren und unser künftiger Reichtum: unserer, was die
Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bun- Rente betrifft, und deren, was ihr eigenes Einkommen be-
desminister der Finanzen, Hans Eichel. trifft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen (von der DIE GRÜNEN)
SPD sowie von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Wir halten trotz aller Verlockungen Kurs. Dabei will
GRÜNEN mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine
ich mit aller Klarheit sagen: Ich freue mich darüber und
sehr verehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr habe
danke sowohl allen Kabinettsmitgliedern wie den Koali-
ich Ihnen hier das Zukunftsprogramm 2000, die Einlei-
tionsfraktionen dafür. Zu den Kabinettsmitgliedern sage
tung einer Finanzpolitik der nachhaltigen Konsolidierung
ich ausdrücklich: Wenn der Bundeskanzler nicht an der
des Bundeshaushaltes und der öffentlichen Haushalte ins-
Spitze dieser Bewegung für eine solide Finanzpolitik
gesamt und gleichzeitig die Zusage einer ebenso nachhal-
steht, dann kann sie kein Finanzminister durchführen. So
tigen Entlastung von Bürgern und Unternehmen bei Steu-
einfach ist das. Vielleicht war das in der Vergangenheit ein
ern und Abgaben vorgestellt und im Rahmen dieses
Problem.
Programms als ersten Haushalt der Konsolidierung den
Haushalt 2000. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich lege Ihnen heute den Entwurf des Haushaltsplanes
(B) für das Jahr 2001 vor. Ich stelle fest: Die Bundesregierung Damit komme ich auf die Versuchungen zu sprechen. (D)
hält genau den Kurs, den sie vor einem Jahr diesem Hause Ich danke dem Kabinett, den Koalitionsfraktionen und der
und dem deutschen Volk versprochen hat. interessierten Öffentlichkeit, die mit großem Nachdruck
die Linie der Bundesregierung unterstützt haben, die in
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der Tat in dieser Größenordnung nie vermuteten einmali-
DIE GRÜNEN)
gen Einnahmen aus der Versteigerung der Lizenzen für
Das heißt zuerst, die Bundesregierung hält den Konso- UMTS ausschließlich, und zwar Mark für Mark, zum Ab-
lidierungskurs mit einer Finanzpolitik, die aus der Schul- bau unserer Schulden einzusetzen. Jede andere Politik
denfalle hinausführt. Die Planung steht unverändert: Wir wäre nicht verantwortbar.
wollen durch eine ständig fallende Neuverschuldung bis
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zum Jahr 2006 zu einem ausgeglichenen Haushalt kom-
DIE GRÜNEN)
men. Dies bedeutet dann, wir werden 2006 erstmals seit
Jahrzehnten einen Haushalt ohne neue Schulden haben. Wir wollen die dadurch ersparten Zinsen für den Haus-
halt und für Zukunftsinvestitionen verfügbar machen. Da-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bei ist es zwar ehrenwert, darüber zu streiten, ob man die
DIE GRÜNEN)
eine oder andere Milliarde auch in die Schuldentilgung
Warum dieser Kurs? Während er im vorigen Jahr noch stecken soll oder nicht. Entscheidend ist aber etwas ganz
umstritten war, habe ich den Eindruck, dass er inzwischen anderes – dabei sage ich ausdrücklich den Koalitionsfrak-
allgemeine Anerkennung gefunden hat. Wir wollen aus tionen Dank –: dass die konjunkturbedingten Mehr-
der Schuldenfalle zuerst und vor allem deswegen heraus, einnahmen, die wir jetzt bekommen können, nicht zu
weil wir künftigen Generationen nicht die Ausgaben, die neuen Ausgaben führen, sondern zur Verringerung der
wir getätigt haben, als Schulden hinterlassen können. Neuverschuldung eingesetzt werden.
Dies wäre für sie eine nicht erträgliche Belastung.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN)
Das wird immer wieder übersehen: 100 Milliarden DM
Soziale Gerechtigkeit hat nicht nur eine Gegenwartsdi- sind eine unfassbare Summe. Aber 1,5 Billionen DM
mension, nämlich den Ausgleich zwischen den verschie- Schulden sind noch eine 15-mal unfassbarere Summe.
denen sozialen Schichten in unserer Gesellschaft mit der Statt 1,5 Billionen DM 1,4 Billionen DM Schulden zu ha-
Zielsetzung, wie es das Grundgesetz formuliert, dass je- ben, ist erst ein Fünfzehntel des Weges hin zu einem
der ein Leben in Würde führen kann. Soziale Gerechtig- schuldenfreien Staat, den andere viel früher als wir errei-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11061
Bundesminister Hans Eichel

(A) chen werden. Deswegen ist es gut, dass wir uns so ent- Also werden wir, was die Mehreinnahmen angeht, (C)
schieden haben, zumal die Menschen im Lande genau auch darauf zu achten haben. Wir müssen es schaffen,
diesen Kurs wollen. dass wir die Privatisierungserlöse aus dem Haushalt über-
haupt herausbekommen und stattdessen durch die Absen-
Es ist umgekehrt auch richtig, klarzumachen, dass die
kung der Altschulden die Zinsausgaben weiter vermin-
in der Tat nicht hinreichenden Investitionen doch daher
dern, sodass wir daraus dann auf Dauer auch die
kommen, dass wir in der Vergangenheit so viele Schulden
Postunterstützungskassen finanzieren können. Dahin
aufgehäuft und deswegen so hohe Zinslasten zu tragen ha-
werden wir noch kommen müssen: das ist noch ein ziem-
ben: 82 Milliarden DM – der zweitgrößte Ausgabenblock lich weiter Weg. Dann erst sind wir von den Zufälligkei-
im Bundeshaushalt. ten durch die Schwankungen des Kapitalmarktes – in die-
Nur wenn wir die Schulden wieder reduzieren und sem Fall der Börse – unabhängig.
wenn wir damit Zinsausgaben freibekommen, dann kön- Dieser Haushalt hält also Kurs. Er ist somit erstens ein
nen wir diesen Prozess rückabwickeln. Aus Zinsausgaben Haushalt der Konsolidierung – der zweite in Folge. Um
Investitionsausgaben zu machen und konjunkturbedingte das klarzumachen: Es werden noch viele weitere folgen
Mehreinnahmen – ich wiederhole das – zur Verringerung müssen, weil es eine Grundlinie der Politik ist, die durch-
der Neuverschuldung einzusetzen, das allein ist die fi- gehalten werden muss; sonst werden wir das Ziel nie er-
nanzwirtschaftlich seriöse und verantwortliche Position. reichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
Denn in diesem Jahr machen wir – so ist die Planung – Die Bundesregierung hält zweitens Kurs, weil sie Aus-
noch 50 Milliarden DM neue Schulden. Im nächsten Jahr gabendisziplin übt, um Spielräume für eine nachhaltige
reduzieren wir die Nettokreditaufnahme auf 46 Milliar- Entlastung aller Steuer zahlenden Bürger und aller Unter-
den DM. Es sind aber noch neue Schulden. Wir sind doch nehmen zu schaffen. Deswegen ist dieser Haushalt auch
noch gar nicht beim Schuldenabbau. Wir werden mit dem ein Haushalt, in dem die größte Steuersenkung, die größte
Schuldenabbau erst ab 2006, wenn wir das erste Mal ei- Nettoentlastung, die es in der Geschichte der Bundesre-
nen Haushalt ohne neue Schulden haben, beginnen kön-
publik jemals gegeben hat – das gilt im Moment auch für
nen.
die Situation in der Europäischen Union –, verkraftet wer-
Ich sage mit Nachdruck: Es muss nicht immer so gut den muss: 45 Milliarden DM Nettoentlastung im nächsten
laufen. Es wird in der nächsten Zeit gut laufen, weil die Jahr; das sind 1,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt.
Konjunktur in Deutschland und in Europa robust ist. Aber Teilt man es auf, macht das für die Privathaushalte unge-
(B) es kann auch einmal statt Mehreinnahmen Mindereinnah- (D)
fähr 30 Milliarden DM und für die Unternehmen 15 Mil-
men geben, auch konjunkturbedingt, denen man durch liarden DM aus. Dieser Weg wird konsequent fortgesetzt.
eine Absenkung der Staatsausgaben nicht hinterherlaufen
darf. Man würde die Probleme dann ja verschärfen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich zunächst deutlich
machen – weil auch diese Diskussion bei uns immer wie-
Das Mindeste ist: Der Staat muss die Kraft haben, die der geführt wird – dass das deutsche Steuerrecht nicht das
automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, das heißt, komplizierteste in der Welt ist. Auch diese Debatte sollten
seine Ausgabenpolitik unabhängig von konjunkturellen wir nicht weiterführen; sie schadet uns, weil die zugrunde
Schwankungen zu machen. Deswegen müssen wir die liegende Behauptung nicht wahr ist.
Neuverschuldung durch konjunkturbedingte Steuermehr-
einnahmen reduzieren. (Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz
[CDU/CSU]: Das wird doch immer schlim-
Ich weise bei dieser Gelegenheit übrigens auch auf Ri- mer!)
siken hin. Es sind für die Postunterstützungskassen Pri-
vatisierungserlöse im Haushalt dieses Jahres von etwas – Weil sie nicht wahr ist. Ich habe gerade den Präsidenten
über 7 Milliarden DM erforderlich. Bis vor ganz kurzer der International Fiscal Association zu dieser Angelegen-
Zeit war ich aber gar nicht sicher, ob wir den Börsengang heit befragt.
der Deutschen Post überhaupt machen können. (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wen Sie alles
Wer sich – auch das ist eine der Kehrseiten der Me- kennen! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt
daille, mit denen sich einige Länderpolitiker, die ebenfalls [Salzgitter] [SPD]: Mit dem haben Sie früher
gerne etwas von den UMTS-Einnahmen abhaben wollten, nicht gesprochen!)
nicht beschäftigen – einmal den Kurs der Aktie der Deut- – Sie brauchen nur Herrn Faltlhauser zu fragen, der ja da-
schen Telekom anschaut, sieht ganz genau, dass die Pri- bei war. – In dieser Organisation sind alle Steuerrechtsex-
vatisierungen nicht so ganz planmäßig laufen. Mit dem perten der Welt vereint. Die Antwort auf die Frage, wer
jetzigen Kurs kann man nicht an die Börse gehen; das das komplizierteste Steuerrecht hat, fällt eindeutig aus:
wäre eine Verschleuderung von Volksvermögen. Es hieße die Vereinigten Staaten. Unseres ist nicht einfach. Das ist
außerdem, die große Zahl der Kleinaktionäre noch einmal überhaupt nicht zu bestreiten und da haben wir noch eine
richtig zu enttäuschen. Das kann nicht unsere Politik sein. Menge zu tun. Aber auch von internationalen Experten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim habe ich bestätigt bekommen, dass gerade der Übergang
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vom Vollanrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren
11062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) eine dramatische Vereinfachung des deutschen Körper- eine allgemeine Steuersenkung sowohl für Unternehmen (C)
schaftsteuerrechts darstellt. als auch für Bürgerinnen und Bürger.
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN)
– Ich kann ja nichts dafür, meine Damen und Herren, Vielleicht wird es tatsächlich einen Abfluss an Kauf-
wenn Sie die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Ich sage kraft – das trifft uns alle, das trifft viele auch hart; darüber
Ihnen nur: Mit einer Politik, die die Fakten nicht zur wird man im Einzelfall bei der Sozialpolitik reden müs-
Kenntnis nimmt, sind Sie in diesem Sommer schon ein- sen – bei Privathaushalten, bei Unternehmen und beim
mal gescheitert. Machen Sie das doch nicht weiter! Staat in Höhe von etwa 20 Milliarden DM aufgrund der
höheren Rohölrechnung in diesem Jahr geben. Ich wie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derhole aber: Wir, das heißt der Staat – also Bund, Länder
DIE GRÜNEN) und Gemeinden –, verzichten gleichzeitig auf 45 Milliar-
Diese Politik der nachhaltigen Steuerentlastung führt den DM an Steuereinnahmen, die dadurch bei den Unter-
auch zu einer Absenkung der Staatsquote. Auch dies ha- nehmen und bei den Privathaushalten bleiben. Es gibt
ben Sie in diesem Hause immer wieder bestritten. Wir hat- kein Land in Europa, das diese Ölpreiserhöhung so sehr
ten die höchste Staatsquote in Deutschland – ich sage aus- kompensiert, wie wir das mit dieser Steuerreform ma-
drücklich: ich kritisiere das nicht, weil die deutsche chen.
Einheit ohne eine höhere Staatsquote gar nicht zu machen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gewesen wäre – im Jahre 1995 mit 50,9 Prozent. Wir hat- DIE GRÜNEN)
ten 1999 gut 48 Prozent, in diesem Jahr haben wir gut
47 Prozent und die Tendenz geht gegen 45 Prozent im Ich weiß, Sie wollen die ganze Woche nur diese De-
Jahre 2002. Das heißt, wir ziehen uns ein Stück zurück, batte führen. Sie werden aber den Sachverstand überhaupt
um den Bürgern und den Unternehmen mehr eigene Ge- nicht auf Ihrer Seite haben. Sie können ja reine Lobbypo-
staltungsmöglichkeiten zu lassen. Das ist eine vernünftige litik machen; mit Vernunft hat das, was Sie im Moment
Politik, wenn man sie sozial gerecht ausgestaltet. betreiben, aber nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)
Es ist ein Glück, dass uns diese Ölpreiserhöhung
Die Steuerentlastung zum 1. Januar 2001, die in diesem
nicht im Zusammenhang mit der Wirtschaftsstruktur der
Haushalt steckt und sowohl diesen Haushalt als auch die
(B) Haushalte der Länder und Gemeinden sehr strapaziert, frühen 70-er Jahre erwischt hat. Damals hat eine sozial- (D)
liberale Bundesregierung die richtigen Konsequenzen ge-
führt dazu, dass gegenüber der Situation, die wir im Jahre
zogen und hat – übrigens das erste Mal im großen Stil –
1998 übernommen haben, als die Bürgerinnen und Bürger
eine Politik der Steigerung der Energieeffizienz und der
diese Koalition mehrheitlich gewählt haben, zum Beispiel
Energieeinsparung eingeleitet.
eine ledige Fachverkäuferin mit einem Jahresbruttover-
dienst von 40 000 DM im Jahre 2001 um 1 209 DM steu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
erlich entlastet wird DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]:
Und der Atomkraftwerke!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der Als Konsequenz daraus haben wir heute einen um
CDU/CSU und der F.D.P.) 45 Prozent verminderten Energieeinsatz. Ich will mir aber
nicht vorstellen, was es für unsere Inflationsrate und für
oder ein verheirateter Schlosser mit zwei Kindern und den Abfluss an Geld tatsächlich bedeutet hätte, wenn wir
mit einem Jahresbruttoverdienst von 60 000 DM um diesen Infrastrukturwandel nicht gemacht hätten. Es ist
2 930 DM entlastet wird doch eine erstaunliche Leistung, dass wir trotz einer Ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dreifachung des Rohölpreises – angesichts des schwachen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außenwertes des Euro im Verhältnis zum Dollar sogar ei-
ner Vervierfachung – gegenüber dem Importpreis eine
oder eine ledige leitende Angestellte mit einem Jahres- Preissteigerungsrate haben, die bereits wieder fällt und im
bruttoverdienst von 120 000 DM um 1 717 DM steuerlich August bei 1,8 Prozent lag. Darin liegt die enorme Leis-
entlastet wird. Das sind die ganz konkreten Entlastungs- tung dieser Volkswirtschaft.
wirkungen der Steuersenkungspolitik, die wir eingeleitet
haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Es ist übrigens eines der dramatischen Dinge: Ich war
beteiligt an den damaligen Versuchen – das ist übrigens
Diese Entlastungspolitik, meine Damen und Herren – nicht neu –, zu einem Energiekonsens mit einem Ausstieg
ich wiederhole: 45 Milliarden DM Nettoentlastung, aus der Kernenergie noch vor der Bundestagswahl zu
1,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt –, ist die richtige kommen, die der jetzige Bundeskanzler als niedersächsi-
Antwort auf die Herausforderung, die uns zurzeit das scher Ministerpräsident damals favorisiert hat. Wir haben
OPEC-Kartell und die Mineralölkonzerne bereiten: seinerzeit die vorige Bundesregierung gebeten, sie möge
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11063
Bundesminister Hans Eichel

(A) doch erst einmal auf den Tisch legen, was sie selbst zur ben – ich unterstelle, auch Sie wollten die Steuerreform –, (C)
Energieeinsparung und Förderung der Energieeffizienz in ob wir das termingemäß vor der Sommerpause hinbe-
ihrer Zeit getan hat. Wissen Sie, was die Listen, die wir er- kommen oder ob wir das in den Herbst verschieben. Eine
halten haben, enthielten? Auf den Listen standen Pro- Verschiebung der Steuerreform wäre Gift für die Kon-
gramme der sozialliberalen Koalition und dahinter stand: junktur in Deutschland und für unser Ansehen in Europa
„ausgelaufen 1983, ausgelaufen 1984, ausgelaufen gewesen.
1985“. Stellen Sie sich einmal vor, wo wir heute stehen
würden, wenn Sie die Politik, die wir eingeleitet haben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
fortgeführt hätten! DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden das noch abzuarbeiten haben, was uns die
DIE GRÜNEN) Mehrheit des Bundesrates, die diese Steuerreform mitge-
tragen hat, zur Auflage gemacht hat. Wir werden es punkt-
Die Unternehmensteuerreform verstärkt den Stand- genau umsetzen. Ich sage ausdrücklich: Die rheinland-
ortvorteil Deutschlands und die Attraktivität Deutsch- pfälzische Landesregierung und Herr Brüderle, die dabei
lands für internationale Investitionen ganz erheblich. Das federführend waren, haben ausdrücklich bestätigt, dass
heißt, wir haben eine gute Chance, von den 20 Milliar- wir mit den Mitteln, die wir in das Steuersenkungsergän-
den DM, die aus unserer Volkswirtschaft in Richtung zungsgesetz eingestellt haben, auf Punkt und Komma das
OPEC abfließen, einen erheblichen Teil über ausländische umsetzen, was wir verabredet haben.
Direktinvestitionen zurückzuholen.
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Einschrän-
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wo denn?) kungen!)
Darum wollen wir kämpfen und auch dafür machen wir Über die Details der Ausgestaltung kann man reden.
diese Steuerreform.
Warum denn nicht? Alles kann in einem bestimmten Au-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genblick auch nicht vereinbart werden. Aber wir haben
DIE GRÜNEN) genau den Umfang dessen eingebracht – da sind wir ab-
Sie müssen an dieser Stelle mit Ihren Zwischenrufen solut zuverlässig –, was wir zugesagt haben. Genau damit
ganz vorsichtig sein. Zu Ihrer Regierungszeit hat das Ka- wird sich als Erstes der Bundesrat beschäftigen. Danach
pital einen Bogen um Deutschland gemacht und erst seit werden wir uns im Deutschen Bundestag damit ausei-
1999 steigen die ausländischen Direktinvestitionen wie- nander setzen.
der, wie es Ihnen Herr Kollege Müller deutlich gemacht Drittens. Die Bundesregierung hält Kurs: Sie spart, um
(B) hat. Deutschland zu erneuern und um in die Zukunft zu inves- (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tieren, ohne dafür zusätzliche Schulden zu machen. Neue
DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Schulden dürfen wir nicht machen.
Erst seit 1998?) Beispiel Verkehrsinfrastruktur: Wir haben rund 20 Mil-
Das, was wir mit dieser enormen Steuerentlastung leis- liarden DM für Verkehrsinvestitionen in den Haushalt
ten, ist allerdings auch das Maximum dessen, was die öf- eingestellt. Das ist zwar eine gute Verstetigung; aber es ist
fentlichen Haushalte leisten können. Es bedeutet, dass nicht das, was wir auf Dauer benötigen. Darum wollen wir
wir, auf das Jahr bezogen, eine leichte Erhöhung des De- keinen Moment herumreden. Das war auch der Grund,
fizits im Jahre 2001 gegenüber 2000 hinnehmen. Das ist warum seinerzeit Verkehrsminister Müntefering, dessen
nicht schön und das habe ich meinen Kollegen in Brüssel Amt nun Herr Klimmt übernommen hat, und ich die Ein-
auch nur mit dem Hinweis verständlich machen können, setzung einer Kommission verabredet hatten, die sich mit
dass wir alle Anstrengungen unternehmen werden, um aus der Frage beschäftigen soll: Wie groß ist der Bedarf und
der Wachstumsschwäche – wir sind nämlich seit 1995 auf wie kann die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur lang-
dem zweitletzten Platz in der Europäischen Union – he- fristig sichergestellt werden? Aus der Antwort der Kom-
rauszukommen, weil die deutsche Volkswirtschaft als die mission auf diese Frage werden die Konsequenzen zu zie-
stärkste in Europa natürlich auch bei den Großen mit hen sein.
vorne stehen muss. Wir werden das nach all den Progno-
sen, die wir heute kennen – insbesondere nach der des In- An dieser Stelle ziehen wir auch die Konsequenzen aus
ternationalen Währungsfonds –, auch erreichen. Ich bin – ich sage: in dem Punkt – dem glücklichen Umstand,
da eher ein bisschen vorsichtig. Aber wir haben jetzt die dass die Versteigerung der UMTS-Lizenzen so viel Geld
reelle Chance, bei den Volkswirtschaften in Europa an die erbracht hat und dass wir deshalb das Geld, das wir nicht
Spitze zu kommen. mehr für Zinsen ausgeben müssen, schwerpunktmäßig
gerade in die Verkehrsinfrastruktur und in die Schiene
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sowie in Bildung und Forschung und in ein Altbau-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sanierungsprogramm, mit dem das Ziel der Verbesserung
Ich bedanke mich deswegen ausdrücklich bei all den der Wärmedämmung verfolgt wird, investieren können.
Bundesratsmitgliedern – wir werden darüber noch disku- Das wird zwischen den Koalitionsfraktionen und der
tieren, wenn das Steuersenkungsergänzungsgesetz in Bundesregierung im Einzelnen verabredet und in der
den Bundestag eingebracht wird –, die die Ansicht hatten, Haushaltsbereinigungssitzung in den Haushalt einge-
dass es falsch ist, ein Machtspiel um die Frage zu betrei- bracht werden.
11064 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) Beispiel Aufbau Ost: Die Ausgaben für den Aufbau 300 Millionen DM im nächsten Jahr auf 1 070 Millionen (C)
Ost bleiben auf hohem Niveau. Auch hier ist völlig klar, im Jahr 2004 erhöht. Mit anderen Worten: Wir machen
dass die Bundesregierung ihre Konsolidierungspolitik mit dem Schwerpunkt Bildung und Forschung ernst.
auch betreibt, um auf Dauer – also über das Jahr 2004 hi-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
naus – Leistungen für den Aufbau Ost erbringen zu kön-
DIE GRÜNEN)
nen, weil wir wissen – wir wissen das nicht erst seit der
Reise des Bundeskanzlers durch die neuen Bundesländer; Mancher mag sagen, auch das müsste mehr sein. Aber,
das war nur die Inaugenscheinnahme; denn das Bundes- meine Damen und Herren, es ist die richtige Richtung.
kanzleramt wie das Wirtschaftsministerium und das Fi- Die entscheidende Frage ist: Welches Erbe haben wir an-
nanzministerium und alle anderen jeweils betroffenen Mi- getreten, um aus diesem Keller wieder herauszukommen?
nisterien haben immer intensive Gespräche geführt –,
dass wir noch eine Menge zu leisten haben, wenn der Auf- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ganz genau!)
holprozess der neuen Länder wirklich gelingen soll und Schließlich, meine Damen und Herren, modernisieren
wenn sie an das Niveau der westdeutschen Länder heran- wir den Staat. Es genügt nicht – ich sage das mit allem
kommen sollen. Das muss unsere gemeinsame Zielset- Nachdruck – zu meinen, man hätte für den Schwerpunkt
zung sein. Bildung und Forschung genug getan, wenn man den
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hochschulen mehr Geld gibt. Mit dem öffentlichem
DIE GRÜNEN) Dienstrecht des 19. Jahrhunderts werden wir keine kon-
kurrenzfähigen Universitäten des 21. Jahrhunderts be-
Wir investieren nachdrücklich in Maßnahmen zur kommen.
Energieeinsparung und Förderung der Energieeffizi-
enz. Wir haben mit dem 100 000-Dächer-Programm ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
neues Programm zur Förderung der Photovoltaik aufge- DIE GRÜNEN – Rezzo Schlauch [BÜND-
legt, um die Umstellung von der Kleinproduktion zur NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)
Massenproduktion voranzutreiben. Das Programm ist Das ist eine schwierige Aufgabe für Frau Kollegin
eine Markteinführungsbeihilfe, um eine Kostendegres- Bulmahn, aber sie hat sie angepackt. Dies wird zu hefti-
sion zu ermöglichen und um dann in der Zukunft die Ver- gen Kontroversen, aber auch zu notwendigen Entschei-
breitung der Photovoltaik in unserem Land über den dungen führen.
Markt zu ermöglichen.
(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Wir helfen gern!
Den Etat des Programms zur Förderung von Ein- – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wir sind bereit!)
zelmaßnahmen bezüglich erneuerbarer Energien haben
(B) Die Bundeswehrreform wird im Rahmen unseres ge- (D)
wir – das bleibt auch mittelfristig so – um jeweils 180 Mil-
lionen DM pro Jahr aufgestockt. meinsam verabredeten finanziellen Tableaus mit einer
Fülle von innovativen neuen Möglichkeiten, die sich der
Ich komme jetzt auf die Förderung der Forschung,
Verteidigungsminister ausgedacht hat, umgesetzt. Es
der neuen Technologien und der Hochschulen zu spre-
kann in der Tat nicht so weitergehen, dass wir eine Truppe
chen. Der Anteil des Etats des Bundesministeriums für
mit zwar vergleichsweise vielen Menschen, aber veralte-
Bildung und Forschung am Gesamthaushalt wird wieder
wachsen. Sie waren im Jahr 1982 in der Situation, einen ten Geräten haben. Damit kann man bei den neuen Auf-
Haushalt übernehmen zu können, bei dem der Anteil die- gaben in Zukunft nicht bestehen.
ses Minis-teriums 3,74 Prozent vom Bundeshaushalt be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
trug, und zwar bereinigt. Sie haben im Jahr 1998 mit DIE GRÜNEN)
3,11 Prozent die niedrigste Rate erreicht. Wir erhöhen die-
sen Haushalt systematisch – das ist ein sehr mühseliges Die Reform der Finanzverwaltung wird jetzt ange-
Geschäft – auf 3,21 Prozent; damit wächst er, gemessen packt. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts haben
an allen Anteilen am Bundeshaushalt, am stärksten. wir hinter uns gebracht. Dies war auch ein schmerzhaf-
tes Thema. Wieso war das im vereinigten Europa mit Ih-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen – dies sage ich mit Blick auf die große Oppositions-
DIE GRÜNEN) partei, die sich selber als große Europapartei angesehen
Er wächst allein in diesem Jahr um 780 Millionen DM hat – so schwierig?
bzw. um 5,4 Prozent – und das bei einem Haushalt, der Viertens. Die Bundesregierung hält Kurs: Sie spart, um
sonst nominal konstant bleibt. Deutschland gerechter und menschlicher zu gestalten,
Nehmen wir die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschul- ohne dafür zusätzliche Schulden zu machen.
bau“, für die der Mittelansatz bei Ihnen über lange Zeit Zur Familienförderung: Es ist schon bedrückend,
immer 1,8 Milliarden DM betrug. Im Haushalt 2001 dass das Bundesverfassungsgericht nach 16 Jahren christ-
haben wir die Mittel dafür auf rund 2,2 Milliarden DM lich-sozialer, christlich-demokratischer und liberaler Ko-
erhöht. alition dem Gesetzgeber bescheinigt, dass er die Familien
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) verfassungswidrig hoch besteuert.
Und die zusätzlichen Mittel für Projekte der institutionel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
len Förderung von Bildung und Forschung werden von DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11065
Bundesminister Hans Eichel

(A) Es kann doch nicht sein, dass heute in Deutschland das Ri- dieser Zahlen drückt sich das ganze Elend der Förderung (C)
siko der Armut besteht, wenn junge Leute mit vergleichs- von jungen Studentinnen und Studenten aus. Das war
weise niedrigem Tarifeinkommen heiraten und Kinder be- doch keine Zukunftssicherung.
kommen. Das ist in einem so reichen Land wie dem
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
unserigen ein unerträglicher Zustand. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland hat im internationalen Vergleich mit die
DIE GRÜNEN) geringste Zahl von Studentinnen und Studenten in einem
Wir haben bereits zweimal das Kindergeld erhöht, und Jahrgang. Das heißt, wir investieren zu wenig in die
zwar für das erste und zweite Kind jeweils um 50 DM. Köpfe unserer jungen Leute. Wir müssen Bildungsbarrie-
Das heißt, einer Familie mit zwei Kindern stehen nicht ren, die neu entstanden sind, in der Tat abbauen. Das alles
einmal zwei Jahre nach Antritt dieser Regierung jährlich geht nicht von heute auf morgen; aber es muss gemacht
1 200 DM mehr zur Verfügung. werden. Wir nehmen dies mit dem Haushalt 2001 in An-
griff.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Das Thema Erziehungsgeldreform – seien Sie ganz
vorsichtig – haben Sie das letzte Mal vor acht Jahren an- Auch das Thema Wohngeldreform haben Sie das
gefasst. Da liegt überhaupt ein Problem Ihrer Sozialpoli- letzte Mal vor zehn Jahren angefasst. Sie haben damals
tik. Sie haben über fast zehn Jahre in diesem Bereich über- eine Sonderregelung für die neuen Bundesländer getrof-
haupt nichts mehr getan. Nach und nach ist die Zahl der fen, die am Ende dieses Jahres auslaufen würde. Unsere
Berechtigten immer weiter zusammengeschrumpft. Das Konsequenz daraus ist nicht, dass wir sie auslaufen las-
war Sozialabbau, ohne dass man irgendeine gesetzgeberi- sen; vielmehr sagen wir: Das, was für die neuen Länder
sche Maßnahme durchführen musste. damals zu Recht gemacht worden ist, muss für die ganze
Republik gelten. Das heißt, auch hierfür müssen Bund
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und Länder zusätzlich 1,4 Milliarden DM in die Hand
DIE GRÜNEN)
nehmen, um dann zu einer – allerdings bemerkbaren – An-
Es gibt strukturell 300 Millionen DM mehr Erzie- passung der Wohngeldleistungen in den ostdeutschen
hungsgeld. Im nächsten Jahr sind es nur 100 Milli- Ländern an die der westdeutschen Länder zu kommen.
onen DM, weil an der Stelle zunächst die Tatsache wirkt,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dass wir weniger Kinder haben. Ich will sagen, was das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(B) bedeutet: Eine Alleinerziehende mit einem Kind und ei- (D)
nem Bruttomonatslohn von 3 500 DM bekommt bis hin Das heißt zum Beispiel – auch das will ich deutlich ma-
zur Höchstgrenze 43 DM im Monat zusätzlich. Eltern mit chen –, dass eine Alleinerziehende mit einem Bruttomo-
einem Kind und einem Bruttomonatslohn von 4 500 DM natslohn von 3 500 DM mit einem Kind 30 DM mehr
bekommen im Monat 45 DM zusätzlich. Bei Eltern mit bekommt. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern be-
zwei Kindern sind es 105 DM mehr. Rechnen Sie das bitte kommt zusätzlich 60 DM. Ein Ehepaar mit zwei Kindern
zu den von uns vorgenommenen Steuererleichterungen bekommt 65 DM mehr und ein Ehepaar mit drei Kindern
hinzu! erhält 95 DM mehr. Addieren Sie das bei all den Rech-
nungen, die Sie in diesen Tagen anstellen, bitte einmal
Ich komme zum Programm zur Bekämpfung der
zum Kindergeld und zu dem, was wir an steuerlichen Ent-
Jugendarbeitslosigkeit, das diese Regierung auf den
lastungen vorgenommen haben, hinzu, dann kommen Sie
Weg gebracht hat. Damit wir die 2 Milliarden DM ausge-
nämlich zu ganz anderen Ergebnissen!
ben können, sparen wir, um dafür keine Schulden zu ma-
chen; denn wir lassen die jungen Leute nicht auf der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Straße stehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Arbeitsmarktpolitik bleibt auf hohem Niveau
DIE GRÜNEN) verstetigt, obwohl wir – lassen Sie mich das frank und frei
sagen – darüber reden müssen, was wir machen, wenn
Ich sage mit allem Nachdruck – ich weiß, dass das noch
– was ich hoffe – die Entwicklung des Arbeitsmarkts so
ein bisschen streitig ist –: Ich bin darüber froh, dass durch
gut weitergeht. In den ostdeutschen Ländern, wo wir die
die Arbeitsmarktentwicklung – auch das hat zumindest
al-lergrößten Probleme hatten, beginnt diese Entwicklung
etwas mit unserer Politik zu tun – die Bundesanstalt für
gerade erst. Man wird – das will ich hier deutlich sagen –
Arbeit in der Lage ist, dieses Programm in ihrem Haushalt
zu diskutieren haben, ob wir nicht auch dort zu einer an-
zu finanzieren; denn entscheidend ist, dass es finanziert
tizyklischen Betrachtung kommen müssen, weil wir dann,
wird. Wir starten eine neue Lehrstelleninitiative mit jähr-
wenn es wieder schlechter läuft – das kann eines Tages
lich 200 Millionen DM.
durchaus passieren –, etwas drauflegen müssen.
Ich erinnere an unsere BAföG-Reform. Auch dieses
(Zuruf des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])
Thema haben Sie vor zehn Jahren das letzte Mal ange-
fasst. 1991 gab es im damals wieder vereinigten Deutsch- – Ich habe im Moment andere Sorgen, Herr Hoyer, nach-
land 605 000 BAföG-berechtigte Studentinnen und Stu- dem wir eine Nettoentlastung von 45 Milliarden DM zu-
denten. 1998 waren es nur noch 340 000. In der Differenz stande gebracht haben. Nicht an allen Stellen geht es auf
11066 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesminister Hans Eichel

(A) einmal. Mit reiner Lobbypolitik werden Sie das Finanz- Reden wir einmal darüber, was das wirklich bedeutet! (C)
tableau nicht in Ordnung halten. Ein Arbeitnehmerhaushalt mit vier Personen und einem
Einkommen von 5 000 DM würde bei einer jährlichen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Fahrleistung von 15 000 Kilometern durch die Ausset-
DIE GRÜNEN)
zung der nächsten Stufe der Ökosteuer gerade einmal um
Nun nehmen wir die Rentenreform in Angriff. Auch 7 DM entlastet. Um 7 DM, meine Damen und Herren!
dafür wurde zum einen in diesem Haushalt Vorsorge ge-
troffen, zum anderen aber auch schon mit der Steuerre- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Pro Tag!)
form, deren Entlastungsschwerpunkt bei den unteren Das setzt immer voraus, dass die Konzerne nicht sofort
Einkommensschichten liegt. Ich gebe zu, dass das nach nachziehen.
dem Vermittlungsverfahren im Bundesrat nicht mehr so
deutlich ist wie in dem Entwurf, den wir eingebracht ha- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Pro Tag!)
ben, aber so ist das, wenn man, um durchzukommen, – Das ist Ihre Rechnung. Wenn ich mir die Bundesschuld
Mehrheiten finden muss, die man selber nicht hat. Das ist im Bundeshaushalt ansehe, entsteht bei mir immer der
in Ordnung. Das muss man akzeptieren. Ich lege aber Eindruck, dass Sie im Rechnen nicht sehr stark waren,
schon Wert auf die Feststellung, dass der Schwerpunkt der sonst hätten wir nie so weit kommen können.
Einkommensteuerentlastung bei uns ganz klar bei den un-
teren Einkommen lag. Das hat unter anderem etwas damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
zu tun, dass man, wenn das gesetzliche umlagefinanzierte DIE GRÜNEN)
Rentensystem wegen der enormen demographischen Ver- Eine Einsparung von 7 DM würde aber auf der ande-
schiebung in der Zukunft nicht mehr so leistungsfähig ren Seite bedeuten, dass der Rentenversicherungsbeitrag
sein kann, den Menschen mehr Freiraum für Eigenvor-
um 2,50 DM erhöht werden müsste. Das macht unterm
sorge geben muss. Das heißt zuallererst: Ihre Steu-
Strich eine monatliche Entlastung von 4,50 DM. Das
erbelastung muss herunter. Genau das haben wir gemacht.
sollte sich jeder überlegen, der jetzt das Thema Ökosteuer
Um in dieser Debatte für die Öffentlichkeit deutlich zu anspricht. Mit dem, was die OPEC und die Konzerne jetzt
machen, worum es geht, halte ich noch einmal fest: Am machen, haben der Haushalt dieser Bundesregierung und
Anfang dieses Jahrhunderts kommen auf 100 Beschäf- unsere Gesetzgebung nichts zu tun.
tigte etwas über 40 Rentnerinnen und Rentner. In der
Mitte dieses Jahrhunderts werden auf 100 Beschäftigte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
etwa 90 Rentnerinnen und Rentner kommen. Wenn man DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]:
sich allein dies vor Augen führt, wird deutlich, vor wel- Das haben Sie doch immer gewollt, dass der
cher Aufgabe wir hier stehen. Benzinpreis steigt! Das ist Ihre Politik!)
(B) (D)
Eine erste Antwort zur Lösung dieser Aufgabe steckt in Wir fördern steuerlich die private Zusatzversorgung.
der Frage: Wie viel Wirtschafts- und Produktivitäts- Im Haushalt ist der erste Betrag dafür eingestellt. Es müs-
wachstum schaffen wir? Darin liegt der Schlüssel für eine sen sich aber alle daran beteiligen, auch die Länder und
einigermaßen vernünftige und für alle, nämlich für die Gemeinden. Verbunden wird dieses mit einer ganz starken
Beschäftigten wie die Rentner, erträgliche Lösung der Kinderkomponente, die nach acht Jahren nachhaltig auf
Aufgabe. Somit komme ich wieder auf eine Politik, die 19,5 Milliarden DM steigt. Ich finde, das ist ein sehr fai-
aus der Schuldenfalle herausführt, zurück: Angesichts res und vernünftiges Angebot, das der Bundeskanzler und
dieser Aufgabe in den nächsten 50 Jahren dieses Jahrhun- der Arbeitsminister Ihnen in den Gesprächen gemacht ha-
derts kann man nicht einen so hohen Schuldenberg in die ben. Ich würde es für vernünftig halten, wenn jedenfalls
erste Hälfte des 21. Jahrhunderts mitnehmen. dieser Teil – das war immer sozialdemokratische Posi-
tion – im Konsens zwischen den Generationen, den ge-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
sellschaftlichen Gruppen und den Parteien verabschiedet
DIE GRÜNEN)
werden könnte. Denn es gibt für die Rente keine größere
Die zweite Antwort darauf, meine Damen und Herren, Sicherheit – und Sicherheit ist das Allerwichtigste –, als
liegt darin, dass wir, wie es der Bundeskanzler zugesagt dass darum keine Verteilungskämpfe in der Gesellschaft
hat, den Bundeszuschuss ordentlich erhöht haben. Allein zwischen verschiedenen Gruppen und politischen Par-
von 2000 auf 2001 steigt er um 10 Milliarden DM auf teien ausgetragen werden. Ich denke, das sind wir ge-
137 Milliarden DM. Um 10 Milliarden! Wer jetzt über die meinsam allen schuldig.
Ökosteuer redet, sollte wenigstens so ehrlich sein, den
Menschen zu sagen, dass wir, wenn wir diese aussetzen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bei der nächsten Stufe in 2001 die Rentenversicherungs- DIE GRÜNEN)
beiträge um 0,3 Prozentpunkte erhöhen. Meine Damen und Herren, der Haushalt, den ich Ihnen
(Hans Georg Wagner [SPD]: Das wollen doch eben vorgestellt habe, ist ein Haushalt der Zukunftssiche-
die Schwarzen!) rung. Wir entlasten unsere Kinder und Enkel, indem wir
die Lasten, die wir selbst verursacht haben, künftig auch
Verweisen Sie doch nicht nur auf die schöne Seite der Me- selber bezahlen wollen und die Lasten, die es außerdem
daille! Ein Finanztableau hat auch immer eine andere gibt – das muss dann das Nächste sein –, Schritt um
Seite. Schritt vermindern. Wir entlasten die Bürger und die Un-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ternehmen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.
DIE GRÜNEN) Wir investieren in Deutschlands Zukunft, ohne dafür
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11067
Bundesminister Hans Eichel

(A) zusätzliche Schulden zu machen. Wir sorgen für Gerech- weil viel mehr Ältere ausscheiden als Junge einsteigen, (C)
tigkeit und für mehr Menschlichkeit in unserer Gesell- sondern zuallererst deswegen, weil wir einen Beschäfti-
schaft. Wir lösen den Reformstau auf, der in den letzten gungsaufbau haben. Das wollen wir auch.
fünf bzw. zehn Jahren dieses Land geprägt hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Wir haben dieses große Wirtschaftswachstum gleich-
CSU]: Sprüchemacher!) zeitig, trotz der enormen Ölpreissteigerung, mit einem ho-
Diese Politik ist europäisch abgestimmt. Wir werden hen Maß an Preisstabilität erreicht; wir sind in diesem
uns im Deutschen Bundestag – ich sage das auch gerich- Jahr unterhalb des Inflationszieles der Europäischen
tet an die Länderparlamente – mit dem, was wir in Europa Zentralbank bei 1,8 Prozent geblieben, weil die Mieten
künftig gemeinsam tun müssen, viel intensiver zu stabil geblieben sind, weil die Nahrungsmittel viel billiger
beschäftigen haben als in der Vergangenheit. Sie müssen geworden sind, weil wir zum Beispiel im Telekom-
zum Beispiel bei der Kampagne, die Sie gerade planen, munikationsmarkt die Politik der Deregulierung haben
auch einmal überlegen, wie das im europäischen Kon- – die auch schon Ihre war, das bestreite ich gar nicht –, die
text aussieht. Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Alle wir konsequent fortsetzen.
15 Finanzminister, unabhängig davon, ob der eine oder (Lachen bei der CDU/CSU – Hans-Peter
andere zu Hause so unter Druck geraten ist, dass er ein Repnik [CDU/CSU]: Sie haben gegen die
bisschen nachgegeben hat – übrigens auf einem viel höhe- Privatisierung gestimmt! Sie haben dagegen
ren Level –, wissen, dass es Unfug ist, auf die Preistrei- gestimmt! – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sechs
berei von OPEC und Konzernen mit der Rücknahme von Jahre haben wir verloren! Sechs Jahre!)
Steuern zu antworten, weil diese nur nachrücken würden.
– Da müssen Sie doch gar nicht schimpfen. Wir haben das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zusammen beschlossen, das war aber in Ihrer Regie-
DIE GRÜNEN) rungszeit. – Diese Politik erhöht unser Ansehen in der
Deswegen ist das ein Verteilungskampf. Im Inneren Welt.
müssen wir das sozial vernünftig gestalten, jawohl. Aber Das World Economic Forum – das ist der aktuellste
die richtige Antwort ist die, die wir mit einer allgemeinen Ausweis – setzt im Global Competitiveness Report
Senkung der Steuern und Abgaben für alle Bürger dieses
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Landes und für die Unternehmen dieses Landes gegeben
haben. Deutschland für das Jahr 1999 im Ranking von Platz 25
(B) herauf auf den Platz 15. Das ist eine Veränderung um (D)
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das hätten wir doch
zehn Plätze nach oben. In Europa gibt es nur noch ein ein-
schon vor drei Jahren haben können!)
ziges Land, das einen solchen Sprung nach oben machen
Alles andere wäre keine vernünftige Antwort. konnte, nämlich Ungarn. Alle anderen Länder haben we-
niger erreicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter
Rexrodt [F.D.P.]: Damit das Geld an der Tank- Ganz Europa entwickelt sich nach vorne. Das freut
stelle abgegeben wird!) mich ganz außerordentlich. Dabei haben unsere Steuerge-
setze – mit Ausnahme der Gesetze zur Haushaltskonsoli-
Diese Politik ist erfolgreich. Wir haben in diesem Jahr dierung – noch gar nicht gewirkt. Sie können also davon
auf jeden Fall ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent. ausgehen, dass die Zahlen nächstes Jahr noch ein bisschen
Im vergangenen Jahr lagen wir noch bei 1,6 Prozent. Wir besser aussehen, wenn wir uns vernünftig verhalten.
haben auch für nächstes Jahr ein Wirtschaftswachstum
von – ich bleibe eher auf der vorsichtigen Seite – 2¾ Pro- Man spürt es in der ganzen Welt: Deutschland genießt
zent zu erwarten. Die Schätzungen gehen bis 3,6 Prozent. inzwischen ein besseres Ansehen. Deutschland ist nicht
Der Internationale Währungsfonds, immerhin unbestrit- mehr – um den Kanzler zu zitieren – der kranke Mann Eu-
tene Autorität auf diesem Gebiete, rechnet für nächstes ropas,
Jahr mit 3,3 Prozent Wachstum für Deutschland. Ich bin (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
da ein bisschen vorsichtiger. Als Finanzminister lasse ich
mich lieber angenehm als unangenehm überraschen. Ich sondern Deutschland ist das Land, das in Europa die Re-
finde, das ist auch eine richtige Maxime für die Finanz- formen vorantreibt und das Europas Wirtschaft wieder in
politik. Schwung bringt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]:
Das ist ja zum Lachen!)
Wir bauen Beschäftigung auf. Wir haben in diesem und
im nächsten Jahr das höchste Beschäftigungswachstum Wir sind mit unseren Reformen auf einem richtigen
seit der Wiedervereinigung Deutschlands: 170 000 neue, und sehr erfolgreichen Weg. Man kann über alles disku-
zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Jahr, 270 000 – sagt tieren. Ich lade Sie zu einer sachbezogenen Diskussion
die Bundesanstalt für Arbeit – im nächsten Jahr. Das heißt, über diese in der Tat sehr erfolgreiche Politik ein.
auch für Ihre Propagandaschriften: Der Abbau der Ar- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem
beitslosigkeit erfolgt nicht im Wesentlichen deswegen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
11068 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile nun das kraftwerk in den 16 Jahren der Regierung Helmut Kohl (C)
Wort dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/CSU- gebaut wurde. Sie wurden alle vor dieser Zeit gebaut.
Fraktion.
Ich stelle aber fest, dass im Jahre 1998, in dem Jahr
also, in dem Sie die Regierung übernommen haben,
Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! Deutschland Weltmeister im Bereich der erneuerbaren
Meine Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat Energien, der Windenergie und der Solarzellenproduk-
sich bemüht, einen Eindruck von der Wirklichkeit zu ver- tion, war, dass dies unter der Verantwortung der damali-
mitteln, der nicht den Tatsachen entspricht. gen Umweltministerin der CDU/CSU gestaltet worden ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und dass Sie heute bei den Gesetzen, die Sie in diesem Zu-
neten der F.D.P. – Lachen bei der SPD) sammenhang vor wenigen Monaten beschlossen haben,
mit der EU Probleme haben. Dies betrifft unter anderem
Es begann mit der Beschreibung der Wirkungen der Poli- die Fragen, ob es Beihilfen gibt oder nicht und ob das Er-
tik – bei den entsprechenden Haushaltszahlen waren seine neuerbare-Energien-Gesetz Bestand haben wird oder
Ausführungen allerdings relativ bescheiden – und gipfelte nicht.
in der Feststellung, die er – ich habe genau gezählt – vier-
mal gemacht hat: Wir sind mit unserer Politik vorange- Sie haben das Thema Staatsbürgerschaftsrecht ange-
kommen, ohne zusätzliche Schulden zu machen. – Dies sprochen. Es ist klar, dass Ihnen das nach Ihrer Abwahl als
war die erste mehrfach wiederholte falsche Behauptung. hessischer Ministerpräsident im Frühjahr 1999 noch in
Der Bundesfinanzminister hat gesagt, der Schnitt sei Erinnerung ist. Ob deswegen die damalige Position wie-
vor einem Jahr gemacht worden und ab dann sei es in die derholt werden muss, ist die Frage.
richtige Richtung gegangen. Was war eigentlich in dem Was das Fördern und Unterstützen der Familien be-
Jahr davor? Sind Sie nicht schon zwei Jahre an der Re- trifft: Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Frau
gierung? Wer hat eigentlich damals die Politik gestaltet? Simonis, Ihre ehemalige Kollegin als Ministerpräsidentin,
Wenn ich Bilanz ziehe, stelle ich fest: Sie haben völlig gesagt hat, sie lehne die Rentenreform ab, weil sie beson-
zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie in den ersten bei- ders Familien mit Kindern bestrafe. Ich stelle fest, dass
den Jahren 100 Milliarden DM – 49 Milliarden DM plus die Ausgaben für das Erziehungsgeld im kommenden Jahr
51 Milliarden DM – neue Schulden gemacht haben. Um verringert werden. Sie aber sprechen von einer Steige-
diese Schulden zu tilgen, kann man jetzt möglicherweise rung, von Mehrausgaben usw.
die Erlöse aus der UMTS-Auktion einsetzen. Aber die
Sie sind inzwischen – das will ich gar nicht bestreiten –
Tatsache bleibt, dass Sie bis jetzt nicht ohne neue Schul-
Meister der Etikette geworden.
(B) den ausgekommen sind. (D)
Wenn Sie immer wieder die Formulierung „raus aus (Joachim Poß [SPD]: Etikette?)
der Schuldenfalle“ gebrauchen, die Ihnen offensichtlich – Ja, Meister des Etiketts. Etikette ist die Mehrzahl von
Herr Schmidt-Deguelle aufgeschrieben hat, dann leugnen Etikett.
Sie natürlich gegenüber der Öffentlichkeit, dass diese
Schuldenfalle in einem ganz erheblichen Maße von sozi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
aldemokratisch regierten Ländern zu verantworten ist, die Joachim Poß [SPD]: Oh!)
immer mit dabei gewesen sind, wenn es darum ging, Die Flasche aber ist leer. Das, was auf der Flasche steht,
draufzusatteln und Forderungen im Interesse der Länder ist nicht drinnen. Das gilt in besonderem Maße für das
und auch außerhalb der Länderinteressen zu erheben. Sparen. Und wenn etwas anderes auf der Flasche steht, als
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- drinnen ist, dann ist das ein Etikettenschwindel. Das ist
neten der F.D.P.) doch ganz klar, Herr Poß.
Ich will jetzt nicht meine Redezeit darauf verwenden, (Beifall bei der CDU/CSU)
das geradezurücken, was Sie falsch dargestellt haben. Ich
Herr Eichel, Sie haben sich schließlich auf die Zustim-
könnte über das Thema „größte Steuerreform der Ge-
mung der Menschen im Land berufen, indem Sie gesagt
schichte“ reden. Sie haben offensichtlich die Steuerre-
formen der Jahre 1986, 1988 und 1990 von Gerhard haben: Das verstehen auch die Menschen; sie befürwor-
Stoltenberg vergessen, die immerhin zu einem Beschäfti- ten den Kurs der Regierung. Sie haben Ihre Rede offen-
gungszuwachs von 2 Millionen geführt haben. sichtlich schon vor zwei, drei Monaten geschrieben. Denn
wenn Sie sich heute auf der Straße umsehen, werden Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- feststellen: Die Menschen erwarten etwas ganz anderes
neten der F.D.P.) als diesen Kurs.
Sie haben gesagt, die Antwort müsse lauten: Wachstum (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Weiter Schul-
und Beschäftigung ankurbeln. Weshalb sind wir dann in den machen wie Sie?)
Europa – nur Italien liegt hinter uns – Vorletzter, was das
Wirtschaftswachstum betrifft? Sie haben im Zusammenhang mit dem Rohöl von
20 Milliarden DM gesprochen. Meine Rechnung, die, so
Sie haben ferner gesagt, wir hätten nicht genügend im
glaube ich, jeder nachvollziehen kann,
Bereich der erneuerbaren Energien getan. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass auch nur ein einziges Kern- (Hans Georg Wagner [SPD]: Nein!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11069
Dietrich Austermann

(A) lautet: Heute kostet der Liter Sprit 60 Pfennig mehr als vor aus einer Zeit stammen, als Demonstrieren, gewaltsames (C)
einem Jahr. Bei einem Verbrauch von 60 Milliarden Demonstrieren und Gewalt gegen Sachen noch absolut in
Tonnen Sprit kostet das den Autofahrer 36 Milliarden DM Mode waren.
mehr. Von den 60 Pfennig Mehrkosten haben Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
– gewissermaßen als Trittbrettfahrer der OPEC – die
Zuruf von der SPD: Pfui!)
Mehrwertsteuer, also 9,8 Pfennig, und 12 Pfennig, die auf
der ersten und zweiten Stufe der Ökosteuer beruhen, zu Dass die nun heute hergehen und sagen, es sei eine Zu-
verantworten. 22 Pfennig von diesen 60 Pfennig Mehrko- mutung, wenn Menschen für ihr Recht auf der Straße ein-
sten gehen also auf Ihre Kappe. Dabei habe ich die ande- treten würden, muss zumindest erstaunen.
ren Energieträger noch gar nicht erwähnt. Meine Damen und Herren, wenn man die Basis dieses
(Hans Georg Wagner [SPD]: Sie haben die Haushalts ansehen will, muss man zunächst den Verlauf,
Mehrwertsteuer erhöht!) den der Haushalt genommen hat, betrachten. Beim Haus-
halt für das Jahr 2000 liegt inzwischen kein Stein mehr auf
– Wenn sich der Preis erhöht, dann geht auch der Anteil dem anderen. Ich nenne: Dollarkurs, Zwangsarbeiter,
der Mehrwertsteuer in die Höhe. Das müsste ein Haus- EXPO, Postunterstützungskasse, Arbeitslosenhilfe, Steu-
hälter eigentlich wissen. ermehreinnahmen, Wohngeld, Privatisierungserlöse und
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: So ist es! – Detlev Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit. Ohne die Pri-
von Larcher [SPD]: Sie wollen die Mehrwert- vatisierungserlöse aus den UMTS-Lizenzen sähe der
steuer abschaffen?) Haushalt wesentlich anders aus, als er ursprünglich be-
schlossen wurde.
Nun eine Rechnung bezüglich des Heizöls: Wer heute
Das bedeutet aus der Sicht der Haushälter und aus der
3 000 Liter Heizöl bunkert, muss dafür doppelt so viel
Sicht der Opposition: Wir brauchen einen Nachtragshaus-
wie vor einem Jahr bezahlen. Er zahlt 1 500 DM mehr.
halt. Wir brauchen einen Haushalt, bei dem die Realität
Wenn Sie das, gemessen an der Heizölmenge, die in
mit den Haushaltszahlen in Einklang steht. Ich sage das
Deutschland voraussichtlich verbraucht wird, addieren,
auch bezogen auf die 100 Milliarden DM aus den UMTS-
dann ergibt dies einen zusätzlichen Betrag von 18 Milli- Lizenzen. Ich möchte gern wissen, wo die im Moment
arden DM. In dieser Rechnung sind die Bereiche Strom sind. Sie verweigern dem Parlament die Auskunft da-
und Gas noch nicht einmal berücksichtigt. rüber.
Dies bedeutet doch, dass die Kaufkraft abgeschöpft (Hans Eichel, Bundesminister: Ich habe sie zu
(B) wird, dass das Realeinkommen der Menschen niedriger Hause! – Heiterkeit) (D)
wird. Wenn Sie dem eine Steuerentlastung von in der Tat
rund 40 Milliarden DM im nächsten Jahr – Ich denke, bezüglich des Sparkurses, den Sie einleiten,
wäre das zumindest volkswirtschaftlich dumm, weil Sie
(Peter Dreßen [SPD]: 45!) das Geld so lange Gewinn bringend anlegen könnten, bis
gegenüberstellen, die Menschen gleichzeitig aber etwa Sie die Schulden, die Sie selber in den ersten zwei Jahren
65 Milliarden DM mehr zahlen müssen, dann ist doch gemacht haben, zurückgeführt haben.
klar, dass trotz dieser großen Steuerreform bei den Bür- Das Parlament darüber im Unklaren zu lassen, wie und
gern nichts ankommt und für Investitionen und dafür, dass wo genau die Mittel eingesetzt werden, halte ich für ver-
die Bevölkerung mehr Geld in der Tasche hat, nichts übrig fassungsrechtlich bedenklich.
bleibt. Dies ist eine relativ einfache Rechnung.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Das Budgetrecht ist das oberste Recht des Parlaments.
Nun gibt es eine Reihe von Menschen, die sich – in (Hans Georg Wagner [SPD]: Genau! Das
Einzelfällen muss man schon sagen: in ihrer Verzweif- haben Sie nie beachtet!)
lung – dazu entschließen zu demonstrieren.
Sie geben den Koalitionsabgeordneten ein wenig Spiel-
(Peter Dreßen [SPD]: Sie fordern sie auf! – material an die Hand. Sie sagen: Über die 5,5 Milli-
Weitere Zurufe von der SPD) arden DM an Zinserträgen könnt ihr euch unterhalten. Ich
Dies sind Spediteure, Arbeitnehmer bzw. Menschen, die füge hinzu: Vielleicht nicht über den ganzen Betrag, denn
sagen: Das kann so nicht weitergehen; die Wirtschafts- Herr Metzger spricht nur von 4 Milliarden DM und zeigt
kraft meines kleinen Unternehmens – ich habe meine damit, dass er eine richtige Alternative in der Koalition, in
Preise vor einem Jahr festgelegt – leidet darunter. Vor die- der Opposition innerhalb der Koalition, darstellt. Weiter
sem Hintergrund höre ich gestern den Bundeskanzler sagen Sie: Über die 100 Milliarden DM entscheide ich.
ziemlich arrogant sagen: Da rufen ja Menschen zur Nöti- Ich verstehe, dass man, wenn man selbst nicht Abge-
gung auf. Das ist empörend, was dort geschieht. Man ordneter ist, eine gewisse Distanz hat.
kann doch keinen Gesetzesbruch zulassen.
(Hans Georg Wagner [SPD]: Was wollten Sie
Diese Äußerungen wundern mich umso mehr, da ein denn? Sie wollten uns zum Gesetzesbruch an-
Teil der Kabinettsmitglieder, insbesondere die betagteren, halten!)
11070 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dietrich Austermann

(A) Es kann aber doch nicht so sein, dass das Parlament bei Sie setzen das auch bei den Investitionen im Bau- und (C)
wesentlichen Entscheidungen über den Haushalt ausge- Verkehrsbereich fort. Die Ausgaben betrugen im Jahr
klammert wird. 1998 für beide zusammen 54 Milliarden DM, im kom-
menden Jahr werden es exakt 10 Milliarden DM weniger
(Hans Georg Wagner [SPD]: Wir brechen kein
sein. Dann reden Sie davon, dass wir eine Steigerung der
Gesetz wie Sie!)
Investitionen hätten, die wir ja dringend brauchen, um zu
– Doch, das ist der Bruch der Verfassung. verhindern, dass die Leute morgens mit Wut mit ihrem
Auto zur Arbeit fahren, weil sie ständig im Stau stehen
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans Georg
und wertvolle Zeit verplempern. Wir könnten uns die
Wagner [SPD]: Sie brechen das Gesetz. Er
dringend notwendigen Investitionen im Straßenbau leis-
spricht vom Gesetzesbruch, um Gottes willen!)
ten. Aber nein, hier geben Sie weniger Geld aus. Das
Herr Finanzminister, ich vergleiche nun die Realität Geld, das Sie den Autofahrern aus der Tasche ziehen,
mit den Zahlen. Ich verstehe, dass es einen irritiert, wenn geben Sie anderweitig aus. Investitionen werden nicht
man feststellt – so war es nach den letzten Haushaltsbera- getätigt. Dies gilt in gleicher Weise für die Schiene.
tungen, insbesondere im Haushaltsausschuss –, dass der Sie reden davon, dass Sie die Einnahmen der Öko-
Haushalt hinterher genauso aussieht wie vorher. Man hat steuer für die Rente verwenden müssten. Ich glaube, es ist
nichts machen können und versteht sich praktisch als an der Zeit, der Öffentlichkeit einmal deutlich zu machen,
„Fielmann-Koalition“, nach dem Motto: keinen Pfennig dass in Deutschland – Sie wissen das – das Gesamt-
dazu bezahlt und nichts verändert. deckungsprinzip gilt. Das heißt, alle Einnahmen kom-
(Hans Georg Wagner [SPD]: Ihr habt nur men in den großen Topf und aus dem großen Topf wird
Schulden gemacht!) dann gezahlt. Die Behauptung, es gebe eine Zweckbin-
dung in einem bestimmten Bereich, etwa eine so genannte
Wir haben ein anderes Verständnis von der Aufgabe Ökosteuer für Energie oder eine andere Steuer, die in ei-
des Parlaments. Wir sagen: Wir wollen die Politik der ne- nen anderen Bereich geht, ist eindeutig falsch. Es gibt
gativen Rekorde beenden. Nie haben die Menschen mehr auch keine Zweckbindung für Tilgungseinnahmen. Das
Steuern in Deutschland gezahlt als in diesem Jahr, nie ist ist eindeutig falsch. Insofern war die Diskussion um die
mehr an Ausgaben getätigt worden als in diesem Jahr. Die Erlöse durch die UMTS-Lizenzen auch ziemlich albern.
Ausgaben – Herr Eichel, Sie haben gesagt: „Wir spa-
ren!“ – steigen gegenüber dem Jahr 1998 um 22 Milliar- (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wie war das
den DM. denn mit dem einen Prozent Mehrwertsteuer-
erhöhung?)
(B) Die Sparschweine auf Ihrem Schreibtisch dürften in-
zwischen an Magersucht dahingeschieden sein. Sie wer- Damit auch Sie das erfahren, will ich Ihnen sagen, wie (D)
den sich kaum noch auf den Beinen halten können, weil wir „UMTS“ übersetzen – die Kollegin kennt das schon,
nicht wirklich gespart wird, jedenfalls nicht beim Kon- aber ich sage es trotzdem –: unerwartete Mehreinnahmen
sum, sondern nur bei den Investitionen. trotz Schröder.
(Hans Georg Wagner [SPD]: Zeigen Sie mal (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – La-
die Sparschweine mit schwarzen Geldern!) chen bei der SPD – Hans Georg Wagner [SPD]:
Das war eine echter Austermann! – Wilhelm
Sie haben einen Rekord an Privatisierungserlösen. Das ist Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie machen sich
das, was Sie früher als Verschleuderung von Tafelsilber zunehmend lächerlich!)
bezeichnet haben. Das ist eine gewaltige Bugwelle aus
unserer Regierungszeit; das wird jetzt in großem Stil ein- – Ich gebe zu, das war unvollständig. Es müsste heißen:
gesetzt. Sie haben einen Rekord bei den Energiepreisen in unerwartete Mehreinnahmen trotz Schröder und Eichel.
Deutschland und einen negativen Rekord bei den Investi- Denn Eichel war 1994 daran beteiligt, die Postreform zu
tionen erreicht. verhindern. Sie haben also hier Windfall Profits in größ-
tem Stile.
Die Zahlen, die Sie genannt haben – auch auf die For-
schung bezogen –, sind eindeutig falsch, und zwar sowohl (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die absoluten als auch die relativen Zahlen. Der Bundes- Wenn im Herbst der Börsengang der Post ansteht, geht
kanzler hat vor der Wahl – Sie, Herr Eichel, waren daran das in genau die gleiche Richtung. Ich hoffe, Sie stehen
noch nicht beteiligt – versprochen, dass die Investitions- ein bisschen beschämt an der Seite, wenn nachher die Er-
ausgaben für die Forschung verdoppelt würden. träge einkassiert werden – unerwartete Mehreinnahmen
trotz Schröder und Eichel.
(Hans Georg Wagner [SPD]: Auf fünf Jahre!)
Sie waren gegen jede Privatisierung. Auch haben Sie
Betrachten wir die heutigen Zahlen – ich nehme dabei
im Bundesrat gegen das Haushaltsgrundsätzegesetz ge-
Forschung und Technologie zusammen und ziehe den
stimmt.
Forschungshaushalt und den Haushalt des Wirtschafts-
ministers heran –: Ich stelle fest, dass im nächsten Jahr Ich war beim Thema „Zweckbindung von Einnahmen
etwa 1,5 Milliarden DM weniger für Forschung und Tech- und Ausgaben“, bei der Ökosteuer. Inzwischen sagt der
nologie ausgegeben werden. Das ist Ihre Steigerung von Kollege Loske, ein grüner Abgeordneter und umweltpoli-
Zukunftsinvestitionen. tischer Sprecher: Sollten sich die Reformvorschläge nicht
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11071
Dietrich Austermann

(A) den demographischen Realitäten stellen, sehe er keine zurückgehen. Wie damit eine sinnvolle Mittelstands- und (C)
Zukunft für die Finanzierung durch die Ökosteuer. Das Technologiepolitik betrieben werden soll, bleibt ein Rät-
Ökosteueraufkommen zur Senkung der Rentenversiche- sel.
rungsbeiträge einzusetzen habe sich als problematisch er-
Im Verkehrs- und Bauetat sieht das ganz genauso aus.
wiesen.
Am dramatischsten ist die Situation in den neuen Bun-
In der Tat: Es gibt keinen direkten Zusammenhang
zwischen Einnahmen aus einer bestimmten Quelle und desländern. Hier kürzen Sie – man muss das im Kontext
Ausgaben an einer anderen Stelle. Insofern beschwindeln des Besuchs, der Besichtigung des Bundeskanzlers der
Sie die Menschen, wenn Sie sagen, dass die nächsten Stu- neuen Bundesländer in den letzten Wochen sehen – um
fen – nämlich drei mal sechs, also 18 Pfennig, jeweils zum 3 Milliarden DM. Das Institut für Wirtschaftsforschung
1. Januar 2001, 2002 und 2003 –, die bereits beschlossen Halle stellte vor zwei Tagen fest, dass die Wirtschaftsent-
sind, notwendig sind. Sie greifen also noch einmal dem wicklung in den neuen Bundesländern zum Stillstand
Autofahrer in einer Milliardengrößenordnung in die Ta- gekommen ist. Dies alles muss doch ein Grund sein, zu
sche. überlegen, ob nicht andere Schritte als die von Ihnen im
Haushaltsverfahren eingeleiteten vorgenommen werden
Auch ohne diese Entscheidung kann eine vernünftige
Rentenreform gemacht werden. Ich betone dies noch ein- sollten.
mal, weil wir ganz klar sagen: Diese Ökosteuer muss weg. Deswegen sagen wir: Wir fordern eine Stärkung der In-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vestitionen.
neten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU)
Die Einnahmen, die an anderer Stelle in Rekordhöhe Wir wollen mehr für Straßenbau und Schiene tun.
erzielt werden, dürften ausreichen, um die Ausgaben für
die falschen Strukturen, die Sie bei der Altersversorgung, (Beifall bei der CDU/CSU)
bei der Rentensicherung im Bundeshaushalt verankert ha- Wir fordern eine Stärkung der Ausgaben für Forschung
ben, tätigen zu können. und Entwicklung. Auch hier muss man das, was Sie er-
Ich möchte das sagen, weil Sie das Thema Energie in klärt haben, geraderücken. Sie haben behauptet, das
besonderer Weise beschäftigt. Ich habe davon gespro- BAföG sei nun geändert, alles sei prima. Dabei müssen
chen, dass Deutschland beim Wachstum an vorletzter Sie feststellen, dass die große BAföG-Reform offen-
Stelle steht. Dies hat natürlich auch Bedeutung für den sichtlich unter den Tisch gefallen ist.
Kurs des Euro und damit für die Rohölpreise. Das Rohöl
(Jörg Tauss [SPD]: 500 Millionen DM mehr!)
(B) kommt übrigens wohl nicht aus dem Bereich der OPEC, (D)
sondern aus der Nordsee. Das spielt aber keine Rolle. Der – Die große BAföG-Reform ist unter den Tisch gefallen.
Preis ist der Gleiche. Was jetzt vorgelegt wird, entspricht dem, was die Union
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Frage gesagt hat,
machen, die Sie mit Konsolidierungsverpflichtung und (Lachen bei der SPD – Detlev von Larcher
Altlasten umschrieben haben. [SPD]: „Was die Union gesagt hat!“)
(Jörg Tauss [SPD]: Warum?) was die Union vorgeschlagen hat, und kommt im Übrigen
– Weil von Ihnen versucht wird, in größtem Maße Ver- eine Reihe von Jahren später, als es möglich gewesen
wirrung zu stiften. wäre.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
müssen Sie nun gerade sagen!) Hätten Sie das doch gemacht!)
Wir haben 1982 350 Milliarden DM Schulden von Ich könnte das Gleiche auch auf das Thema Städte-
Helmut Schmidt übernommen. Alex Möller, bereits 1971, bauförderung beziehen. Ich könnte Ihnen, Herr Minister,
vor der sozialdemokratischen Haushaltspolitik warnend, jetzt vorhalten, was Sie als Ministerpräsident in Hessen
zurückgetreten, hat 1981 ein Buch geschrieben: „Schuld unmittelbar vor der Bundestagswahl gesagt haben.
durch Schulden“.
(Zuruf von der SPD: Was hat er gesagt?)
(Detlev von Larcher [SPD]: Wie war es 1949?)
Dort haben Sie gesagt – 25. September 1998 –: Im
Danach wurden in der Tat zusätzliche Schulden gemacht, Städtebau und Wohnungswesen hat sich der Bund fast
im Wesentlichen bedingt durch die Wiedervereinigung. vollständig aus der Finanzierung zurückgezogen. Das ist
Wer dies immer wieder uns anlasten will, der muss zuge- keine Politik, die Zukunft hat.
ben, dass er versucht, sich von der Geschichte abzukop-
peln, und die Verpflichtung aus der Wiedervereinigung (Zuruf von der SPD: Stimmt! Da hat er
nicht anerkennt. Recht!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Das hat ja wohl bedeutet, dass Sie sagen, es müsste
der SPD) mehr Geld bereitgestellt werden.
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Ausgaben für (Hans Georg Wagner [SPD]: Das machen wir
Forschung und Entwicklung im Vergleich zum Jahr 1998 auch! Abwarten!)
11072 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dietrich Austermann

(A) Was tun Sie? – Bei der Städtebauförderung im Westen: Das Gleiche gilt für die Verfügungsmittel. Kein Minis- (C)
mickrige Beträge! ter unter der alten Regierung hatte so viel Geld zur priva-
ten Verfügung wie in dieser Regierung.
(Hans Georg Wagner [SPD]: Das ist Ihr Be-
trag, den wir übernommen haben!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter]
– Wir wollen hier ganz eindeutig um eine halbe Milli- [SPD]: Merken Sie eigentlich gar nicht, was für
arde DM erhöhen. einen Unsinn Sie reden? – Weitere Zurufe von
Sie sagen weiter: Wenn ich an die Gemeinschaftsauf- der SPD: Privat?)
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Mit „zur Verfügung“ meine ich, wo er selbst entscheiden
denke, sind wir uns im Bundesrat einig, dass im Osten kann, für wen und was er sie verwendet. Nennen Sie das
nicht gekürzt werden darf. Was tun Sie? – 300 Millionen Sparen?
DM weniger bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den neuen Sie können die anderen Bereiche, angefangen bei der
Bundesländern. Öffentlichkeitsarbeit, den ganzen Haushalt durchforsten.
Dann kommen Milliardenbeträge zusammen, bei denen
Herr Finanzminister, Sie sagen, in diesem Haushalt – – Sie feststellen: Der Konsum wird aufgebläht und die In-
(Die Bundesminister Eichel und Schily unter- vestitionen werden gesenkt.
halten sich auf der Regierungsbank – Dirk (Zuruf von der SPD: Das nennt sich Amnesie!)
Niebel [F.D.P.]: Das interessiert ihn gar nicht!)
Meine Damen und Herren, es muss darum gehen, jetzt
– Ich zitiere Sie jetzt. Sie können nachher nicht sagen: Der die Steuern wirkungsvoll zu senken, damit die Bürger
erzählt etwas, was nicht in Ordnung ist. etwas von der Steuerreform haben. Es muss darum gehen,
(Otto Schily, Bundesminister: Herr Austermann, Investitionen zu stärken. Es muss darum gehen, For-
das ist schwach, was Sie sagen!) schungsausgaben zu steigern. Es muss darum gehen, den
Staatskonsum einzudämmen, die Nettokreditaufnahme zu
– Ja, ist ja gut! verringern und vor allen Dingen die Abgaben zu senken.
Sie sagen: In diesem Haushalt sind die Investitionen Sonst kriegen Sie schon bei der nächsten Wahl eine ziem-
so weit heruntergefahren worden, wie das früher nie der lich klare Quittung wie bei den Oberbürgermeisterwahlen
Fall war. – Sie bezogen das auf das Jahr 1998. In diesem in den letzten Wochen in Ihrem Bundesland, Herr Finanz-
Jahr ist das aber der Fall. Die Investitionen gehen deutlich minister.
herunter. Herzlichen Dank.
(B) Deswegen sagen wir: Es muss eine Veränderung der (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg
Politik stattfinden, eine Veränderung der Politik weg vom
Tauss [SPD]: Das war eine parlamentarische
Konsum hin zu den Investitionen.
Sternstunde, die wir erlebt haben!)
(Hans Georg Wagner [SPD]: Welcher Kon-
sum? – Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja
Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
interessant!)
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
– Die Frage will ich Ihnen ganz klar beantworten, lieber
Herr Kollege. Wenn Sie in den letzten Wochen vor der
Steuerreform, vor der gekauften Steuerreform, Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Austermann, ich glaube, dass
(Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt wir mit Ihnen in den nächsten Wochen noch manche Dis-
[Salzgitter] [SPD]: Wer war denn da käuflich?) kussion über Käuflichkeit der Politik führen werden.
Zeitung gelesen haben, werden Sie fast jeden Tag eine (Beifall bei der SPD)
ganzseitige Anzeige des Bundesfinanzministers gesehen
haben, die nicht viel Inhalt hatte, Nehmen Sie es nicht als Polemik, aber nach diesem
Beitrag wurde mir und sicherlich auch anderen erst rich-
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Regierungs- tig deutlich, warum Herr Rühe darauf verzichtet hat, Sie
propaganda!) als Schattenfinanzminister für Schleswig-Holstein vorzu-
Sie hatte einfach nur das Ziel, die eigene Politik darzu- sehen.
stellen und für sie zu werben, ohne eine inhaltliche Aus- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Dr.-Ing.
sage zu treffen. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Haben Sie außer
Addieren Sie die Kosten für diese Anzeigen einmal, Beleidigungen noch etwas? – Dr. Günter
auf das ganze Jahr bezogen. Sie stellen fest: 160 Milli- Rexrodt [F.D.P.]: Miese Tour!)
onen DM werden in diesem Jahr unter dieser Regierung Sie haben zuletzt Steuersenkungen gefordert. Warum
für Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben. Da kann man nur haben Sie heute nicht das wiederholt, was Sie öffentlich
sagen: Das Geld ist zum Fenster hinausgeworfen. gefordert haben: Steuersenkungen aus den UMTS-Erlö-
(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt sen? Sind Sie da von Herrn Merz zurückgepfiffen wor-
[Salzgitter] [SPD]: Besser als schwarze Kas- den? Denn er hat doch ganz eindeutig gesagt: So, wie Herr
sen!) Eichel es vorgesehen hat, ist es richtig. – Auch diese
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11073
Joachim Poß

(A) Forderung von Ihnen war nicht sehr glaubwürdig, weil Der Unterschied zwischen uns und der CDU/CSU und (C)
nicht finanzierbar. Herr Austermann, man kann nicht die auch der F.D.P. ist: Wir setzen auf die Solidarität mit un-
Rolle des gestrengen Haushälters annehmen, wenn man seren Kindern und Enkeln. Sie setzen des parteitaktischen
intellektuell und sachlich so unredlich argumentiert, wie Vorteils wegen auf puren Egoismus. Das ist der Unter-
Sie das heute Morgen hier gemacht haben. schied zwischen uns.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Inzwischen hat es sich in unserer Republik herumge- In diesem Zusammenhang muss auch über die Öko-
sprochen, dass wir, diese Koalition, mit dem Bundes- steuer geredet werden, weil auch das viel mit unserer Zu-
haushalt 2001 und dem Finanzplan des Bundes bis 2004 kunft zu tun hat. Ist Ihre Ökosteuerkampagne das, was Sie
unter Rückkehr zur sachlichen Auseinandersetzung und
einen weiteren Meilenstein einer erfolgreichen Finanzpo-
zur Sachpolitik verstehen? Sachliche Auseinandersetzung
litik setzen. Dazu kommt die endgültige Verabschiedung
setzt zunächst einmal die Kenntnis von Fakten voraus:
des Steuersenkungsgesetzes am 14. Juli. Beide Projekte
zeigen: Die Finanzpolitik der Regierungskoalition ist Erstens. Die Ökosteuer ist ein unverzichtbarer Faktor
verlässlich und verantwortungsbewusst. Die Finanzpoli- bei der Begrenzung und Zurückführung der Sozialabga-
tik der Regierungskoalition ist mutig; denn sie beschränkt ben. Ihr Aufkommen fließt, Herr Austermann, bis auf
sich nicht auf kleine Korrekturen am Status quo. Die Fi- 200 Millionen DM vollständig in die Rentenkasse,
nanzpolitik der Regierungskoalition ist gestaltend und
(Beifall bei der SPD)
vorausschauend. Sie löst die aktuellen Probleme, hat aber
auch die Sicherung der Zukunft und die Interessen nach- sodass die Bürger die Ökosteuereinnahmen über gerin-
folgender Generationen im Blick. gere Rentenbeiträge zurückerhalten. Das ist die Wahrheit.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter
Zweitens. Die alte Regierung Kohl/Waigel hat die Mi-
Rexrodt [F.D.P.]: Große Worte!)
neralölsteuer in der ersten Hälfte der 90er-Jahre um mehr
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht das in- als 50 Pfennig erhöht: am 1. Januar 1989 um 9 Pfennig,
zwischen ebenso. Damit erkennt sie im Übrigen die über- am 1. Januar 1991 um 3 Pfennig, am 1. Juli 1991 um
ragende Leistung insbesondere unseres Bundesfinanz- 22 Pfennig – auch Frau Merkel wird sich daran noch er-
ministers an, für die wir ihm herzlich danken. innern, was sie mit zu verantworten hatte –, am 1. Januar
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 1994 um 16 Pfennig. Insgesamt sind das 50 Pfennig im
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zeitraum von 1989 bis 1994. Dies geschah nicht, Frau
(B) Merkel, um die Sozialabgaben zu senken – die bei Ihnen (D)
Die Zukunftssicherung ist der entscheidende Punkt. gestiegen sind –, sondern nur, um Haushaltslöcher zu
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen der stopfen. Das war Ihre Politik.
Regierungskoalition und der Opposition. Wir haben das
größte Haushaltssanierungspaket in der Geschichte der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt, das im laufen- DIE GRÜNEN)
den Jahr zu Haushaltsentlastungen von fast 30 Milliar- Wenn das von Ihnen verschwiegen wird, dann ist das
den DM führt. In den Folgejahren steigen sie bis auf keine sachliche Auseinandersetzung, sondern schlicht-
50 Milliarden DM an. Das hat uns bei den Betroffenen weg Verlogenheit. Bei Ihnen ist nicht nur die Mineralöl-
viel Ärger eingebracht. Wir mussten im letzten Jahr poli- steuer gestiegen, sondern auch die Sozialversicherungs-
tisch viel Blutzoll zahlen. Aber wir haben das gemacht, beiträge sind gestiegen.
weil wir das für richtig gehalten haben, und es war auch
richtig. Drittens. Auf die Ökosteuer entfällt nur ein geringer
Teil der Benzinpreissteigerungen dieses Jahres. Der Rest
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ist auf die Preispolitik der Förderländer und der Mineral-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter ölkonzerne sowie auf die Wechselkursschwankungen
Rexrodt [F.D.P.]: Nein!) zurückzuführen. Es ist naiv, zu glauben, eine Reduktion
Denn der Bund muss seine finanzielle Handlungsfähig- der Ökosteuer würde dazu führen, dass der Benzinpreis
keit bewahren. sinkt.
Herr Rexrodt, weil Sie dazwischengerufen haben: Sie Viertens. Die deutschen Benzinpreise liegen im hinte-
hatten dazu nicht den Mut. Jahr für Jahr mussten Sie so- ren europäischen Mittelfeld.
gar darum bangen, ob es Ihnen überhaupt gelingt, einen Fünftens. Das von Ihnen geforderte Aussetzen der
verfassungsgemäßen Haushalt aufzustellen. Bei Ihnen nächsten Ökosteuerstufe hätte unweigerlich die Konse-
wurde nicht gespart, sondern getäuscht und getrickst. quenz, dass der Rentenversicherungsbeitrag – mit allen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des negativen Auswirkungen auf Arbeitnehmereinkommen
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- und Arbeitsplätze – angehoben werden müsste. Das RWI
spruch des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]) spricht in diesem Zusammenhang von einem Verlust von
jährlich 100 000 Arbeitsplätzen; das sind 500 000
Sie hatten die finanzielle Handlungsfähigkeit des Bun-
Arbeitsplätze in fünf Jahren.
des im höchsten Maße gefährdet. Wir werden diese finan-
zielle Handlungsfähigkeit wiederherstellen und erhalten. (Beifall bei der SPD)
11074 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Joachim Poß

(A) Wollen Sie das mit Ihrer unverantwortlichen Kampagne Mit Anstand, Ehrlichkeit, christlichen Werten hat das al- (C)
wirklich herbeiführen? les nichts zu tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das werden wir den Leuten auch sagen. Mir kann kei-
Wer das vermeiden will, müsste das Rentenniveau ab- ner weismachen, dass man Verlogenheit auf Dauer nicht
senken oder die Nettokreditaufnahme des Bundes ent- auch als Verlogenheit entlarven kann, jedenfalls werden
sprechend anheben. Das sind Ihre Alternativen. Sagen Sie wir uns alle Mühe geben. Das werden Sie noch zu spüren
das bei Ihrer Kampagne den Menschen! bekommen.
Sechstens. Die Lenkungswirkung der Ökosteuer liegt (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz
weniger in der Höhe als vielmehr in der kalkulierbaren, Seiffert [CDU/CSU]: Das ist doch peinlich!)
stetigen und moderaten Anhebung über mehrere Jahre
– Peinlich ist die Kampagne, die Sie machen. Sie wissen
hinweg. Die Vorteile hat der Bundesfinanzminister hier
es im Übrigen ja besser. Wer so verantwortungslos agiert
vorhin geschildert.
wie Sie, der muss sich wirklich härtere Töne gefallen las-
Es gibt niemanden, der diese prinzipielle Vorgehens- sen, als es bisher der Fall war.
weise, die auf höhere Energieeffizienz und sparsamen
Ressourcenverbrauch abzielt, ernsthaft kritisiert. So hat (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
die Parteivorsitzende Angela Merkel, als sie noch Bun- Ihre moralische Verantwortung hört nicht bei Herrn
desumweltministerin war, eine jährliche Anhebung der Kohl, bei Herrn Koch und bei Herrn Kanther auf. Sie alle
Mineralölsteuer von 5 Pfennig gefordert. Jetzt vertritt sie sind persönlich verantwortlich für die Schweinereien, die
mit Vehemenz und großen Plakaten das Gegenteil. Das bei Ihnen passiert sind – damit das einmal ganz klar ist.
befreit Frau Merkel doch nicht von ihren Problemen. So- Das werden wir Ihnen auch nicht durchgehen lassen.
lange Herr Helmut Kohl inmitten Ihrer Fraktion thront,
behält Frau Merkel ihre Probleme. So einfach ist das. Da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
von kann sie auch nicht mit so billigen Kampagnen ab- DIE GRÜNEN – Horst Seehofer [CDU/CSU]:
lenken. Herr Poß, damit hört es aber auf!)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mit dieser Aufklärung sind wir noch lange nicht am Ende,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wenn Sie nicht selbst aufklären – damit auch das deutlich
ist.
Was ist denn aus den Aufklärern Merkel und Merz ge-
worden, vom „brutalstmöglichen Aufklärer“ Koch ganz Nach den Konsolidierungshaushalten 1999 und 2000
(B) zu schweigen? hat die Bundesregierung jetzt mit dem Haushaltsentwurf (D)
2001 den dritten Konsolidierungshaushalt in Folge vorge-
(Hans Georg Wagner [SPD]: Die sind nur noch legt. Weitere Konsolidierungshaushalte werden und müs-
„Köche“ geworden!) sen folgen. Sie müssen von Sparsamkeit und Zurückhal-
Da die Opposition die genannten Fakten bewusst igno- tung geprägt sein.
riert, ist ihre Anti-Ökosteuer-Kampagne nichts anderes Sie kennen die Ziffern. Die Nettokreditaufnahme wird
als Stimmungsmache. Ich glaube auch nicht, dass Sie die auf 46,1 Milliarden DM abgesenkt. Die Fraktionen von
Wirkung erzielen werden, die Sie sich erhoffen. Jeden- Grünen und SPD haben deutlich gemacht: Nein, wir sind
falls ist dies von verantwortungsbewusster Politik zur noch ehrgeiziger, wir wollen gemeinsam auf unter 45 Mil-
Zukunftssicherung meilenweit entfernt. liarden DM Nettokreditaufnahme kommen. – Auch was
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Haushalte nach 2001 angeht, ist die SPD-Bundestags-
DIE GRÜNEN) fraktion mit Finanzminister Eichel im Bemühen einig, die
Neuverschuldung des Bundes weiter abzubauen.
Ihre Kampagne macht wieder einmal deutlich, dass Sie
nur davon ablenken wollen, dass Sie immer noch ange- Genauso stetig und verlässlich, wie die Bundesver-
schlagen und ohne eine strategische Ausrichtung Ihrer Po- schuldung abgebaut wird, senken Bundesregierung und
litik sind. Der Vorgang dieser demagogischen Kampagne Regierungskoalition die Steuer- und Abgabenbelastung
macht umgekehrt deutlich, warum man froh darüber sein der Bürger, die wie die öffentliche Verschuldung unter der
kann – ich sage das einmal als Sozialdemokrat –, nicht ei- Regierung Kohl/Waigel ein historisches Rekordniveau er-
ner Partei anzugehören, die sich solcher Mittel bedient. reicht hatte.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rezzo Im Gegensatz zu Ihnen haben wir gehandelt. Die Bür-
Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ger werden um insgesamt 93,4 Milliarden DM an Steuern
entlastet, wobei die Reformen wie auch früher in mehre-
Es gibt durchaus geistig-moralische Zusammenhänge ren Stufen und Jahren verwirklicht werden. Die von uns
zwischen dem gesetzeswidrigen – in meinen Augen auch vorgenommenen Steuerentlastungen sind allerdings – bei
verfassungswidrigen – Finanzgebaren von Kohl, Kanther aller Notwendigkeit – nur in einem finanzpolitisch ver-
und anderen und der Art und Weise, in der Sie Politik ma- tretbaren Rahmen möglich. Sie wären undenkbar ohne
chen.
unsere konsequent solide Haushaltspolitik. Diese Lektion
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollten Sie nicht lernen und haben Sie bis heute nicht
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gelernt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11075
Joachim Poß

(A) Man kann Steuerentlastungen nur dann vornehmen, Ländern der Auffassung war, ihre Landeshaushalte könn- (C)
wenn die öffentlichen Haushalte, insbesondere die von ten die Einnahmeausfälle durch die Steuerreform ohne
Ländern und Gemeinden, das tatsächlich und aus Ver- eine gleichzeitige Verbesserung der Finanzausstattung
fassungsgründen zulassen. Wer wie Sie etwas anderes nicht verkraften? Haben Sie, meine Damen und Herren
fordert – Steuersenkung auf Pump –, der zielt wissentlich von der Union, völlig vergessen, dass im Jahre 1988 die
entweder auf Sozialabbau oder auf Steuererhöhungen in Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat zur stol-
der Zukunft. Das ist die Alternative zu unserer Politik. tenbergschen Steuerreform nur durch die Zusage eines
Strukturhilfegesetzes an den niedersächsischen Minister-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten präsidenten Albrecht zustande gekommen war?
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Detlev von Larcher [SPD]: Ja, wer war das
Wir machen seriöse und verantwortungsbewusste Fi- denn?)
nanzpolitik. Die steuerpolitischen Vorschläge von CDU/
CSU dagegen sind unverantwortlich und nicht finanzier- Albrecht, bekanntermaßen CDU – ich sage das für die
bar; die der F.D.P. sollte man gar nicht erwähnen, weil Nachgeborenen –, verhalf der Steuerreform erst zur Mehr-
sich die F.D.P. auf dem Sektor schon lange aus jeder ernst- heit, als ihm bindende Zusagen für Strukturhilfen in Höhe
haften Diskussion verabschiedet hat. von 25 Milliarden DM über zehn Jahre gegeben worden
waren. Das geschah unmittelbar vor der Abstimmung im
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen Bundesrat über die Steuerreform am 8. Juli 1988.
bei der F.D.P.)
Nein, es war folgerichtig, dass der Bundesrat unserem
Sie haben ja jetzt wieder gefordert: Ökosteuer und Kfz- Steuersenkungsgesetz zugestimmt hat. Er hat das auf
Steuer gänzlich streichen. – Ich habe gestern Herrn Wunsch einiger Bundesländer unter der Bedingung getan,
Westerwelle im Fernsehen gesehen. Ich habe immer ge- dass in einem Steuersenkungsergänzungsgesetz, das
lauscht, wo denn die Finanzierungsvorschläge sind, aber wir bald beraten werden, noch zwei Änderungen an dem
die hören wir von Ihnen schon seit Jahren nicht mehr. schon verabschiedeten Steuersenkungsgesetz vorgenom-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von men werden. Das wird geschehen.
der F.D.P.: Der Minister sieht es anders, was die Aber auch hier ist eine klare Position der Opposition
F.D.P. geleistet hat!) nicht erkennbar. Noch immer ist unklar, ob die CDU/CSU
Sie wissen übrigens ganz genau, meine Damen und dem Steuersenkungsergänzungsgesetz zustimmen wird
Herren von der Opposition, dass die Finanzierbarkeit oder nicht. Warum Sie erwägen, diesem Gesetz, das zwei
gegeben sein muss. Deshalb sollten Sie sich nicht wun- von Ihnen gewünschte Verbesserungen enthält, nicht zu-
zustimmen, ist beim besten Willen nicht zu verstehen.
(B) dern, dass selbst CDU-geführte Bundesländer und solche, Diese Art von Logik ist nicht mehr nachzuvollziehen, (D)
in denen die CDU an der Landesregierung beteiligt ist,
Herrn Merz und Frau Merkel im Bundesrat die Gefolg- meine Damen und Herren.
schaft verweigerten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Mit ihren Käuflichkeitsvorwürfen versucht die Union DIE GRÜNEN)
krampfhaft, von ihrer Niederlage beim Thema Steuerre- Oder wartet Herr Merz wieder einmal auf eine Weisung
form abzulenken. Sie bemüht sich, die unsinnige Strate- aus Bayern oder vielleicht sogar von Herrn Koch, wie er
gie ihres Fraktionsvorsitzenden Merz im Vermittlungs- und seine Fraktion in dieser Frage zu verfahren haben?
ausschuss vergessen zu machen. Herr Merz wollte die
Steuerreform, wie er offen gesagt hat, mithilfe des Bun- Unsere Finanzpolitik ist nicht nur verlässlich und ver-
desrats scheitern lassen. Nachdem dies misslungen war, antwortungsbewusst, sondern auch mutig. Sie setzt das
redet die CDU-Opposition von der „Käuflichkeit der Län- um, was getan werden muss. Bei dem von Ihnen über-
der“. Offensichtlich sind Sie davon ausgegangen, dass nommenen Finanzchaos – ich meine damit nicht Ihre Par-
sich alle von der CDU regierten oder mitregierten Lan- teikassen – können wir Normalität leider nicht in zwei
desregierungen bei der Abstimmung im Bundesrat bedin- oder drei Jahren wieder herstellen. Diese Veränderung der
gungslos Ihren Parteiinteressen unterwerfen würden, gesellschaftlichen Wirklichkeit wird noch viele Jahre in
Anspruch nehmen. Die gesellschaftlichen und finanzpoli-
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Gesetz tischen Fehlentwicklungen haben Sie zu verantworten,
verbessern würden!) meine Damen und Herren.
und haben von diesen Landesregierungen die Miss- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
achtung der eigenen Landesinteressen erwartet. Jetzt zie- DIE GRÜNEN)
hen Sie mit der Beschimpfung dieser Landesregierungen
die finanzpolitischen Zusammenhänge zwischen der Wir packen – die Beispiele sind genannt – die Moder-
nisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr und die
Höhe der Steuersenkung und der Finanzausstattung ein-
Anpassung der bewährten Alterssicherungssysteme an die
zelner Länder in Zweifel.
uns allen bekannte demographische Entwicklung an. Wir
Wissen Sie eigentlich nicht mehr – Herr Austermann haben mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 und all un-
und Herr Rexrodt müssten es wissen; sie sind schon sehr seren anderen Maßnahmen die überfällige steuerpoliti-
lange im Bundestag –, dass 1988 die Verabschiedung der sche Trendwende für Millionen von Arbeitnehmern und
stoltenbergschen Steuerreform im Bundesrat über Familien mit Kindern angepackt. Wir setzen das alles nun
Monate als unsicher galt, weil eine Mehrheit von acht in einem Ausmaß fort, wie es noch nie in der Bundesre-
11076 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Joachim Poß

(A) publik Deutschland vorgekommen ist. Das Steuersen- waren, zu nennen. Wir nutzen die Zinsausgabenerspar- (C)
kungsgesetz, das wir verabschiedet haben, und das Ände- nisse durch UMTS in der Tat zu Verbesserungen. Das ist
rungsgesetz umfassen Entlastungen in Höhe von rund auch richtig so.
63 Milliarden DM. Dabei sind die Auswirkungen so ver-
teilt, dass die Steuerausfälle für die Haushalte von Bund, Aus all dem, was wir machen, wird deutlich: Die
Ländern und Gemeinden vertretbar sind. Finanzpolitik von Bundesregierung und Regierungskoali-
tion ist auf Nachhaltigkeit und Zukunft ausgerichtet,
Wir haben also eine Trendwende für Familien, Arbeit- weil wir wissen, dass der Bund nur durch stetige Konso-
nehmer und Mittelstand eingeleitet. Die privaten Haus- lidierungsbemühungen seine finanzielle Handlungsfähig-
halte werden um rund 33 Milliarden DM entlastet, der keit sichern kann. Die vollständige Verwendung der
Mittelstand um gut 23 Milliarden DM. Endlich haben wir UMTS-Erlöse zur Schuldentilgung und die Verwendung
es geschafft, den Mittelstand faktisch von der Gewerbe- der Zinsausgabenersparnisse für Zukunftsinvestitionen
steuer zu befreien, und sind so einer jahrzehntealten For- zeigen auch: Sparen ist für uns kein Selbstzweck, ist aber
derung nachgekommen, meine Damen und Herren. unabdingbar notwendig, um auch morgen und übermor-
gen die Dinge tun zu können, die getan werden müssen.
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Von uns! Weil
Sie es verweigert haben!) Dazu gehört natürlich auch, dass über das Jahr 2004
hinaus eine ausreichende Finanzausstattung der ostdeut-
Das ist Mittelstandspolitik. schen Länder und Gemeinden gesichert bleibt. Natürlich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muss und wird der bestehende Solidarpakt zugunsten
DIE GRÜNEN) Ostdeutschlands fortgesetzt werden.
Sie haben gefordert und nie konkrete Lösungsansätze vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gelegt, wir aber haben das Ganze gelöst, weil wir ein Kon- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zept hatten. Das ist der Unterschied. Trotz aller unbestreitbaren Fortschritte muss der Aufbau
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ost auch über das Jahr 2004 hinaus vom Bund und den
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) westdeutschen Ländern solidarisch durch den bundes-
staatlichen Finanzausgleich und den Solidarpakt un-
Auch die großen Kapitalgesellschaften können terstützt werden. Das heißt, die Forderungen aus Bayern,
6,8 Milliarden DM auf ihrer Habenseite verbuchen – Baden-Württemberg und Hessen zielen auf Aufkündi-
nachdem ihnen mit dem Steuerentlastungsgesetz unge- gung dieser Solidarität. Das machen wir als Sozialdemo-
rechtfertigte Steuervorteile gestrichen worden sind! Ich kraten nicht mit.
(B) sage das hier so deutlich, weil uns ausgerechnet aus den (D)
Reihen der Union manchmal vorgeworfen wird, wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
machten eine sozial ungerechte Politik zugunsten der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Großkonzerne. Das ist blanker Unsinn. Egal, ob es aus Ich will das den ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern
Ihren Reihen oder aus unseren Reihen kommt: Das ist ganz deutlich sagen: Die Bürger in den neuen Ländern
blanker Unsinn! Richtig ist allerdings, dass wir keine Po- können sich darauf verlassen, dass Bundesregierung und
litik gegen die Wirtschaft und gegen die großen Unter- Koalition ihre Verantwortung wahrnehmen.
nehmen machen wollen.
Ich fasse zusammen: Die Haushaltskonsolidierung
Die ökonomische Entwicklung in Deutschland ist wie- wird fortgesetzt und zeitigt bereits erste Früchte. Die
der dynamischer geworden. Im Ausland wird dazu aufge- Versäumnisse der Kohl-Ära werden Stück für Stück ab-
fordert, wieder stärker in Deutschland zu investieren. Das, gearbeitet, um Deutschland zukunftsfähig zu machen.
was Herr Eichel vorhin sagte, stimmt doch. Schauen Sie Steuer- und Abgabensenkungen werden auch weiterhin
sich doch einmal die Quoten bei den Direktinvestitionen ein Kernpfeiler unserer Politik sein. Dies sind Maßnah-
an. Das, was wir mit unserer Unternehmensteuerreform men, die insgesamt mithelfen, das auszufüllen, was wir ei-
wollen, nämlich mehr Investitionen und mehr Be- nerseits Modernisierung und andererseits Erhaltung und
schäftigung, kann gelingen. Das heißt, auch da sind wir Ausbau der sozialen Gerechtigkeit nennen.
auf dem richtigen Weg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Die übrigen Leistungen, die zugegebenermaßen noch DIE GRÜNEN)
nicht im Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger
– auch nicht im Bewusstsein derjenigen, die uns 1998 ge- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort
wählt haben; da haben wir noch viel Aufklärungsarbeit zu dem Kollegen Günter Rexrodt. Der Kollege Günter
leisten – angekommen sind, hat Herr Eichel hier zusam- Rexrodt tut sich und uns das Vergnügen an, an seinem Ge-
menfassend erwähnt. Ich habe die großen Schritte beim burtstag in die Debatte einzugreifen. Herzlichen Glück-
Kindergeld genannt. Weiter sind das Erziehungsgeld, das wunsch, lieber Kollege!
Wohngeld, die Leistungen nach dem BAföG, das Niveau
der aktiven Arbeitsmarktpolitik, das wir beibehalten wol- (Beifall)
len, die Ausgaben für Forschung und Wissenschaft,
der Bundesverkehrswegeplan und der Verkehrsinvestiti- Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Danke, Herr Präsident.
onshaushalt, die bei Ihnen hoffnungslos unterfinanziert – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11077
Dr. Günter Rexrodt

(A) lege Poß, es ist an sich nicht meine Art, zu Beginn einer Von Ihnen wird in diesem Zusammenhang immer wie- (C)
Rede jemanden persönlich anzusprechen. Aber ich muss der die Behauptung aufgetischt, die Deutschen wären zu
Ihnen als finanzpolitischem Sprecher der größten Regie- höheren Steuern und Abgaben bereit gewesen, wenn man
rungsfraktion sagen: Ich finde es nicht in Ordnung, dass solche nur angemahnt hätte. Ich habe diese angebliche
Sie im ersten Teil Ihrer Rede den Kollegen Austermann, Willfährigkeit der Deutschen, Steuern zu zahlen, nie fest-
dessen Aussagen Sie inhaltlich gut finden können oder gestellt. Die anhaltende Diskussion über die Ökosteuer
nicht, persönlich diffamiert haben und den Solidarzuschlag ist Beweis dessen, dass niemand
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) höhere Steuern zahlen wollte.

und des Weiteren einen Bogen von der Spendenaffäre der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
Union zur persönlichen Verantwortung der hier anwesen- Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ich denke nur
den Mitglieder der Oppositionsfraktion geschlagen ha- an Lafontaine! – Detlev von Larcher [SPD]:
ben. Das ist unmöglich, Herr Kollege Poß. Sie haben im Wahlkampf 1990 das Gegenteil
gesagt!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
Dr. Peter Struck [SPD]: Sie gehen doch alle zur Es ist unverantwortlich, so zu tun, als ob eine andere
Tagesordnung über!) politische Konstellation den Zuwachs der Bundesschuld
in den 90er-Jahren hätte vermeiden können. In sozialde-
Das ist eines finanzpolitischen Sprechers der SPD-Frak- mokratisch regierten Ländern konnte jedenfalls davon
tion eigentlich unwürdig.
keine Rede sein, im Gegenteil:
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
(Beifall bei der F.D.P. – Jürgen Koppelin
Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das hat Sys-
tem!) [F.D.P.]: Hessen, Hessen!)

Ich wollte an sich eine sachliche Rede halten, die ich Trotz der Tatsache, dass sich die Bundesländer unterpro-
jetzt mit dem Zugeständnis beginne, dass ich die Richtig- portional an der Finanzierung des Aufbau Ost beteiligt ha-
keit des haushaltspolitischen Kurses von Herrn Eichel ben, ist die Verschuldung in Hessen während Ihrer Amts-
hinsichtlich der Rückführung der Schulden nicht in Ab- zeit von acht Jahren, Herr Eichel, um sage und schreibe
rede stelle. 59 Prozent gestiegen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der F.D.P.: Oh!)
Die Staatsschulden sind zu hoch. Einnahmen und Aus- Angesichts einer solchen Entwicklung kann niemand sa-
gaben müssen wieder miteinander in Einklang gebracht gen, dass sich Herr Eichel als Ministerpräsident mit Ruhm
(B) werden, das heißt, die Nettoneuverschuldung muss bekleckert habe. (D)
schrittweise gesenkt und schließlich auf Null gebracht
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der muss sich
werden. Das ist gar keine Frage. So weit, so gut.
schämen!)
(Beifall bei der F.D.P.)
Zur zweiten Botschaft: Sie versuchen, den Eindruck zu
Unredlich ist allerdings, dass Sie mit dieser Politik zwei erwecken, als habe der Konsolidierungskurs hinsichtlich
Botschaften verbinden – auch Sie, Herr Poß, haben das des Bundeshaushalts erst mit Ihrer Regierung begonnen.
eben in aller Deutlichkeit getan –, nämlich erstens eine
perfide und zweitens eine schlicht falsche Botschaft. Per- (Dr. Peter Struck [SPD]: Natürlich, das ist
fide und aus der Luft gegriffen sind die Aussagen, in den auch so!)
90er-Jahren sei man mit den Finanzen geradezu leichtfer- Tatsache ist, dass der sprunghafte Anstieg der Nettoneu-
tig umgegangen, es sei gewissermaßen ein Wesenszug der verschuldung schon 1994 gebremst worden ist. Vermeid-
alten Koalition gewesen, Schulden zu machen und bar war der Anstieg nicht. Auch Sie haben erst im Jahre
Gefälligkeiten zu verteilen, und es habe zu unserem 2006 eine realistische Chance, die Nettoneuverschuldung
Handwerkszeug gehört, die Zukunftschancen der jungen auf Null zu bringen. Das wäre dann 16 Jahre nach der
Generation zu verspielen.
Wiedervereinigung. Die Haushalte für 2000 und 2001 und
(Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie doch!) auch die Haushalte für die folgenden Jahre werden durch
Jeder, der sich ein Stück Fairness bewahrt hat – auch beim eine günstige Konjunktur entlastet, und zwar durch
Herrn Bundesfinanzminister war das heute nach langer 14 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen aufgrund
Zeit erkennbar –, wird wissen, dass der Zuwachs der Bun- verstärkter wirtschaftlicher Aktivitäten und der Tatsache,
desschulden in der Zeit von 1990 bis 1998 in etwa dem dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Diese Entwicklung
Betrag entsprach, der in dieser Zeit in die neuen Länder ist erfreulich. Ich wünsche uns und unserem Land, dass
geflossen ist. sie sich gleichermaßen verstetigt und verstärkt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dazu gab es im Übrigen nie eine Alternative, und zwar
weder zu der Notwendigkeit des Transfers noch zu der Es gehört zum Repertoire regierungsamtlicher Verlaut-
Finanzierung des Transfers. barungen, eine gute Konjunktur auf eigenes Handeln
zurückzuführen
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) (Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD])
11078 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Günter Rexrodt

(A) und eine schlechte Konjunktur auf weltwirtschaftliche Euro. Von einer Liberalisierung des Arbeitsrechtes ist in (C)
Zusammenhänge zurückzuführen. Ich mache gar keinen Ihrer Politik nichts zu sehen. Herr Riester verschlimm-
Hehl daraus, dass auch mir eine solche Argumentations- bessert die in diesen Tagen bestehende Regelung und ver-
weise aus vergangenen Jahren nicht fremd ist. Das muss schreckt gleichermaßen die Arbeitgeber und die Arbeit-
man ganz fair sagen. So wie Sie als Oppositionspartei die nehmer.
Regierung immer zurechtgerückt haben, müssen Sie sich
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
heute sagen lassen: Die gute Konjunktur des Jahres 2000
der CDU/CSU)
ist keinesfalls das Ergebnis einer guten Politik des Jahres
1999. Es war eine Katastrophenpolitik und hat die Inves- Solange wir mit dem Arbeitsrecht nicht klarkommen,
toren verschreckt, meine Damen und Herren. wird Europa nicht als Wachstumsregion, als attraktive Re-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gion wahrgenommen. Das hat in Wirklichkeit Auswir-
kungen auf den Euro. Mit einem verkrusteten Arbeitsrecht
Die gute Konjunktur ist Bestandteil einer stabilen Ent- haben wir in einer Industriegesellschaft vielleicht unter
wicklung in Amerika, in Asien und auch in anderen euro- Knirschen noch leben können. In einer Dienstleistungs-
päischen Staaten. Ich bin wiederum fair und sage, dass Sie gesellschaft können wir das nicht.
im letzten halben Jahr im Inneren des Landes durch eine
Steuerreform Rückenwind erhalten haben, die in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Wirtschaft zumindest in der Zielrichtung begrüßt wird. Die Haushalte der vergangenen und kommenden Jahre
(Jörg Tauss [SPD]: Na, sehen Sie!) werden in ganz erheblichem Umfang durch Privatisie-
rungserlöse entlastet. Zu unserer Zeit hieß das: „Die Bun-
Die Konjunktur wird durch exorbitant steigende Ex- desregierung verscherbelt das Tafelsilber.“
porte zusätzlich beflügelt. Das ist völlig in Ordnung. Er-
innern Sie sich, meine Damen und Herren, dass es erst (Hans Georg Wagner [SPD]: Stimmt! Es ist
drei oder vier Jahre zurückliegt, dass Sie die Stabilisie- keins mehr da! Es ist alles weg!)
rung der Wirtschaftsentwicklung 1997/98 höhnisch damit Mit dem Regierungswechsel sind diese Stimmen auf Ih-
abtaten, das sei nur der Export. Wir alle wissen, dass die rer Seite verstummt.
neueren Exporterfolge nicht nur auf einer Wertschätzung
der deutschen Produkte und Dienstleistungen zurückzu- Tatsache ist, Herr Wagner: Der rot-grünen Koalition
führen ist. Die deutsche Wirtschaft hat zwar technolo- fließen dreistellige Milliardenbeträge aus Reformen, aus
gisch und betriebswirtschaftlich enorm zugelegt. Die Ex- Privatisierungen, zu, die Sie über weite Strecken leiden-
porterfolge haben aber zum großen Teil ihre Ursache in schaftlich bekämpft haben.
(B) einer Schwäche des Euro. Diese Schwäche kann nur über- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten (D)
wunden werden, indem man einen entschiedenen Re- der CDU/CSU)
formkurs in ganz Europa einschlägt und nicht dadurch,
Was für Widerstände hat es gegen die Liberalisierung auf
dass der Bundeskanzler törichte Bemerkungen über den
den Strommärkten gegeben! Welche Zeit und welche
Kurs des Euro macht.
Mühe hat es gekostet, bis Sozialdemokraten bereit waren,
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Telekommunikation zu privatisieren! Wir haben durch
Meine Partei hat diesen Reformkurs in ihrem Pro- Ihre Politik sechs Jahre verloren.
gramm und in der praktischen Umsetzung immer verfolgt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Wer etwas anderes sagt, ist unredlich. Geradezu komisch der CDU/CSU)
ist es, wie die Grünen, einst Fundamentalopposition, in
1999 kamen 5,5 Milliarden DM aus der Privatisierung
staatstragenden Auftritten liberale Positionen zu überneh-
von Bundesunternehmen. 2000 werden es 3,5 Milliar-
men versuchen. Wir haben in allen wichtigen Bereichen,
den DM und 2001 8,8 Milliarden DM sein. Aber das sind
ob es Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Deregulierungs-
im Vergleich zu den 100 Milliarden DM, die Ihnen aus der
politik, Sozialpolitik oder Gesundheitspolitik ist, in den
Versteigerung der UMTS-Lizenzen zufließen, kleine Be-
90er-Jahren die richtigen inhaltlichen Weichenstellungen
träge. Diese Versteigerung ist nur möglich geworden, weil
vorgenommen. Wir haben nicht alles durchsetzen können.
es vorher die Privatisierung der Telekommunikation gab.
Vieles wurde von Ihnen blockiert. Vieles war auch im In-
neren schwierig. Aber es waren die Liberalen – das sage (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
ich mit Stolz und ohne jede Anmaßung, meine Damen und der CDU/CSU)
Herren –, die in den 90er-Jahren die richtigen Weichen-
Die haben wir – gegen Ihre Widerstände – durchgeführt.
stellungen vorgeschlagen haben und dafür eingetreten
Die Menschen draußen müssen das wissen.
sind, dass diese Politik in Deutschland umgesetzt werden
kann. Nichts anderes ist der Fall gewesen. Herr Eichel, es ist richtig, dass Einmaleinnahmen, wie
die aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, zum Ab-
(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD)
bau der Bundesschuld verwandt werden; insofern hat der
Meine Damen und Herren, ein entschiedener Reform- Bundesfinanzminister die Unterstützung meiner Fraktion.
kurs ist vor allem bei der Liberalisierung des Arbeits- Aber es gibt frei werdende Zinsersparnisse. Spätestens bei
marktes notwendig, damit Europa als reformfähige Re- denen setzt die hinlänglich bekannte Verteilungsdiskus-
gion anerkannt wird. Das hat Rückwirkungen auf den sion ein.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11079
Dr. Günter Rexrodt

(A) Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich über mit den Ländern betrieben haben, habe ich meine eigene (C)
den einen oder anderen Akzent in der Bildungs- oder Ver- Meinung. Dies, meine Damen und Herren, darf aber nicht
kehrspolitik sprechen. Ich vertrete die Auffassung, dass dazu benutzt werden, den Mittelstand, der im Tarif oh-
dieses Geld am besten angelegt ist, wenn es zum größeren nehin weniger entlastet wird als angebracht und not-
Teil in eine glaubwürdige Steuerentlastung des Mittel- wendig, bei der Besteuerung der Veräußerungsgewinne
stands fließt. Die Steuerreform ist an dieser wichtigen im Nachhinein über den Tisch zu ziehen.
Flanke – ich werde das noch ansprechen – zu halbherzig.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Zur Privatisierungspolitik noch zwei Bemerkungen: der CDU/CSU)
Erstens. Eine der großen ausstehenden Reformen ist Unternehmer, die ihre Betriebe in den Jahren 1999 oder
die Bahnreform. Dazu höre ich von der Bundesregierung 2000 veräußern, gehen leer aus. Danach gelten Ein-
und von der Bahn selbst, Netz und Betrieb müssten unbe- schränkungen; das bestätigt den Vorbehalt mittelständi-
dingt zusammenbleiben. scher Unternehmen gegen diese Reform. Der Spitzen-
(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Ein Riesenfehler!) steuersatz geht spürbar erst 2005 herunter. Das ist Gift für
Investitionen und Arbeitsplätze in diesem wichtigen Be-
Die Argumente dafür werden entweder nicht vorgetragen reich unserer Wirtschaft.
oder sie sind über alle Maßen dürftig. Ich bin fest davon
überzeugt, dass nur Wettbewerb die Misere beim Schie- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
nenverkehr aufheben kann und dass Deutschland ein mo- der CDU/CSU)
dernes Schienentransportsystem erhalten kann.
Nicht nur der Mittelstand, sondern vor allem die klei-
(Beifall bei der F.D.P.) nen Leute leiden derzeit unter den enormen Belastungen
Die Trennung von Fahrweg und Betrieb ist dafür Voraus- des steigenden Ölpreises. Mit dem, was von Ihnen als
setzung, im Interesse der Kunden und der Steuerzahler. Ökosteuer bezeichnet wird, setzen Sie immer wieder noch
Mit der Bahn können Sie an der Börse nur etwas werden, eins drauf. Sie haben das von Anfang an gewollt. Sie ha-
wenn Sie diese Trennung vorgenommen haben. ben das ja gesagt. Insbesondere die Grünen haben ja von
einem Benzinpreis von 5 DM gesprochen. Die OPEC ist
(Beifall bei der F.D.P.) eine Einrichtung, die Ihre Politik macht. Sie wollten den
Oder liefern Sie die Argumente, warum Sie das nicht tun? hohen Benzinpreis. Nun sagt Herr Eichel: Wir brauchen
– Nichts ist zu hören! über die Abschaffung oder die Senkung der Ökosteuer
nicht zu sprechen, wir machen ja eine fundamentale Steu-
Meine zweite Bemerkung betrifft die Kreditanstalt erentlastung. Herr Eichel, machen wir denn eine Steuer-
für Wiederaufbau, die eine große Förderbank, und die entlastung, um Deutschland wieder für Investoren attrak- (D)
(B) Deutsche Ausgleichsbank, die andere Förderbank. Der
tiv zu machen? Machen wir eine Steuerentlastung, damit
Bund hat Kasse gemacht, indem er die Anteile des Bun-
Arbeitsplätze geschaffen werden? Oder machen wir sie,
des an der Deutschen Ausgleichsbank an die KfW ver-
kauft hat. Das Für und Wider einer solchen Zusammenle- damit die Bürger das Geld, das sie auf der einen Seite be-
gung ist lange erörtert worden. Ich will das hier nicht kommen, auf der anderen Seite an der Tankstelle wieder
wiederholen. Aber mir liegt aus mittelstandspolitischer abgeben müssen? Das kann es doch wohl nicht sein.
Überzeugung – es geht um ein großes Anliegen auf die- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –
sem Gebiet – an einer Feststellung sehr viel: Beide Ban- Widerspruch bei der SPD)
ken haben ihre Kernkompetenzen. Es wäre töricht und
gegen den Mittelstand gerichtet, wenn man diese Kern- – Wenn Sie schreien, erinnern Sie mich nur daran, dass
kompetenzen auflöste. Machen Sie aus der Deutschen das Geld nicht nur an der Tankstelle, sondern auch beim
Ausgleichsbank eine Gründungs- und Mittelstandsbank! Heizölhändler abgeführt werden muss. Anders ist dieses
Verschaffen Sie ihr die notwendigen Freiheiten in der Ge- nicht zu beschreiben.
schäftspolitik, auch in der Personalpolitik und der Refi- Meine Damen und Herren, Sie wollen den Leuten ans
nanzierung. Lassen Sie die KfW das machen, was sie gut
Portemonnaie.
kann, das sind – das ist international anerkannt – die Ent-
wicklungshilfe und die großen, weltweiten Finanzierun- (Lachen des Abg. Detlev von Larcher [SPD] –
gen! Sie haben Kasse gemacht. Machen Sie das Richtige Hans Georg Wagner [SPD]: Sie nicht!)
mit dem Geld!
Sie werden Ihr Waterloo erleben. Ich sage das mit großer
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Lässigkeit. Wenn Sie im Januar noch einmal 7 Pfennig
Um die Einnahmeseite des Haushalts abzuschließen, draufpacken, wird Ihnen das übel bekommen.
möchte ich noch einige, ganz wenige Bemerkungen zur (Joachim Poß [SPD]: Der Brandstifter, der hier
Steuerreform machen. Zunächst ist es gut, dass es eine den Biedermann spielt und angeblich sachlich
Reform gibt, die eine Steuersenkung über den gesamten ist!)
Tarif vorsieht. Das ist im Übrigen im Ursprung von einer
sozialdemokratischen Grundhaltung und von sozialdemo- Das geschieht Ihnen zu Recht, denn diese Politik, die auf
kratischem Gedankengut weit entfernt. Herr Poß, Sie eine Verteuerung der Energie hinausläuft, wirkt sich
selbst haben das eben zugegeben. schädlich auf die Arbeitsplatzentwicklung in unserem
Land aus.
Was zählt, ist das Ergebnis. Ich gebe zu: Sie haben
beim Ergebnis Punkte gemacht. Über den Poker, den Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
11080 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Günter Rexrodt

(A) Nun zur Ausgabenseite: Es wird gespart, sagt der Fi- großspurig angekündigt, die Investitionen im Bildungs- (C)
nanzminister. Konsolidieren und gestalten heißt das dann bereich zu verdoppeln. Lesen Sie das nach. Tatsache ist,
amtlich. Das haben im Übrigen alle Finanzminister ge- dass die Ausgaben für Bildung im Jahre 2001 unter denen
sagt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich Folgendes: des Jahres 1998 liegen.
Während die Ausgaben des Bundes unter Theo Waigel
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr
schon in der Zeit von 1995 bis 1998 um rund 30 Milliar-
richtig!)
den DM gesenkt wurden, bleibt das Ausgabevolumen in
den Jahren 2000 und 2001 quasi konstant, in den Jahren Das ist ein Faktum. Schauen Sie nach! Das ist großspu-
2002 bis 2004 wird das Ausgabevolumen wieder kräftig rige Ankündigung, das ist ein Asset, ein besonderer Wert
ansteigen. Das sind Ihre eigenen Zahlen und Prognosen, Ihrer Politik.
Herr Eichel, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Schlagen Sie Ihr Buch auf. Da steht das so drin. Der ei- der CDU/CSU)
gentliche Kraftakt in Bezug auf die Ausgaben wurde näm-
lich in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre – das lag näher In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.
an der Wiedervereinigung – vollzogen. Ein Drama besonderer Art – damit möchte ich meine
Die Konsolidierung der Haushalte in den nächsten Jah- Ausführungen zu den Einzelhaushalten abschließen; sie
ren, über die wir uns alle freuen, erfolgt also nicht primär werden ja Gegenstand der Debatte in den nächsten Tagen
auf der Ausgabenseite, sondern vor allem durch eine und Wochen sein – ist die Wirtschaftsförderung. Der
günstige Entwicklung der Steuereinnahmen. Real zahlten Rückgang der Etatansätze von 16,8 Milliarden DM in
die Bürger und Unternehmen im Jahre 1999 376 Milliar- 1998 auf 10,8 in 2001 hat sicherlich etwas mit der Redu-
den DM an den Bund, im Jahre 2004 werden es 474 Mil- zierung der Kohlesubvention zu tun. Da haben Sie auch
liarden DM sein. Das ist eine Steigerung um 16 Prozent. unsere Unterstützung. Herr Minister Müller ist nicht mehr
22 Milliarden DM davon entfallen allein auf die unselige da. Wenn er seine globale Minderausgabe auf die Kohle-
Ökosteuer, auf die Benzin- und die Stromsteuer. förderung umlegt, hat er unsere Unterstützung. Das ist
okay.
(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto
Solms) Was aber bei diesem geplünderten Haushalt ins Auge
fällt, sind die schrumpfenden Ansätze für die Mittel-
Die Zuschüsse zur Rentenversicherung erreichen ein
standsförderung, die zwischen 1998 und 2001 um sage
historisches Hoch, ohne dass es zu einer durchgreifenden
und schreibe 40 Prozent gekürzt worden sind – das alles
Senkung der Rentenbeiträge kommt.
in einer Zeit, in der die notwendige Entlastung bei den Er-
(B) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten tragsteuern ausblieb und bei der Ökosteuer, wie wir alle (D)
der CDU/CSU) wissen, kräftig draufgesattelt wurde. Und dann schmälern
Sie auch noch den Mittelstandsförderungsrahmen der
Sie bleiben stabil. Sie gehen damit zwar ständig hausie-
KfW dadurch, dass der Bund abkassiert und die Refinan-
ren, aber Sie können sie gerade einmal stabil halten, ob-
zierung der KfW 250 Millionen DM kostet.
wohl sie immer stärker steuerfinanziert werden.
Dies alles muss erwähnt werden, wenn Sie sich hier
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
hinstellen und plakativ sagen: Wir haben jetzt alles ge-
CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Wie
macht und ihr wart damals so schlimm. Was haben Sie
war es denn bei Ihnen?)
denn in Reihe gebracht, Herr Poß? Bei der Ausgaben-
Verheerend ist die Verschiebung bei konsumtiven und entwicklung haben Sie gar nichts in Reihe gebracht und
investiven Ausgaben. Wurden 1998 noch 12,5 Prozent des wenn Sie gekürzt haben, haben Sie oft an der falschen
Haushalts für Inves-titionen ausgegeben, werden es 2001 Stelle gekürzt,
nur 11,4 Prozent und 2004 nur 10,3 Prozent sein. Das ist
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
ein historisches Tief. Die Konsumausgaben steigen per-
manent. Wir sind mit dieser Verschiebung, der Steigerung weil Sie sich nämlich an Leistungsgesetze nicht heran-
der Konsumausgaben und der Senkung der In- trauen. Das ist die alte Tradition.
vestitionsausgaben, wieder so richtig in sozialdemokrati-
Ich will jetzt gar nicht vom Verteidigungsbereich spre-
scher Tradition.
chen. Ich will nur eines sagen: Ich verkenne nicht, dass im
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Haushalt an der einen oder anderen Stelle richtig gekürzt
der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Der Herr und richtig umgeschichtet worden ist. Der Finanzminister
bedient sich seiner Klischees!) befindet sich da in der Kontinuität seiner Vorgänger. Dass
die Haushalte 2001 und fortfolgende allerdings ein fi-
Darüber können Sie nicht hinwegtäuschen.
nanzpolitischer Knüller seien, kann niemand ernsthaft
Leidtragender dieser verfehlten Politik auf der Ausga- behaupten.
benseite ist der Verkehrs- und Bauminister, dem allein in
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])
2001 4,9 Milliarden DM weniger zur Verfügung stehen.
Die Investitionen werden um 1,7 Milliarden DM gekürzt. Im Gegenteil: Auf der Ausgabenseite macht Herr Eichel
Das setzt sich fort im Bildungsbereich. Die Parteien, die alles andere als eine gute Figur. Die Ausgaben steigen. Seine
die Bundesregierung tragen, hatten im Wahlkampf 1998 Chance liegt auf der Einnahmeseite, auf der es kräftige
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11081
Dr. Günter Rexrodt

(A) Zuflüsse gibt, im Grunde ein Windfall Profit aus Refor- die Verschuldung in diesem Land in Bezug auf die wirt- (C)
men, die wir angeleiert und die Sie bekämpft haben. schaftliche Leistungskraft am stärksten explodierte –, hat
keinen Grund, von solider Finanzpolitik und auch davon
(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD –
zu reden, dass die Finanzpolitik nur durch die Wieder-
Detlev von Larcher [SPD]: Der Geburtstag
vereinigung bestimmt wurde.
trübt den Blick!)
Dieses Land hat auf Kosten zukünftiger Generationen
Eine langfristige Strategie – weil Sie von „Blick“ spre- gelebt. Diesen Schuh müssen sich alle Parteien anziehen.
chen – zur Rückführung der Ausgaben gibt es in diesem Deshalb ist es richtig, wenn jetzt eine Idee aus der ökolo-
Bundeshaushalt und diesem Finanzplanungszeitraum gischen Bewegung – nämlich die Idee der Nachhaltig-
nicht. keit, die besagt, dass man auf diesem Planeten so lebt,
(Lothar Mark [SPD]: Vorhin haben Sie gesagt, dass unsere Kinder und Enkel Luft zum Atmen haben –
wir kürzen!) auf die Finanzpolitik des Staates und auf die Reform der
Systeme der sozialen Sicherung übertragen wird. Dazu
gehören Schlagworte wie Generationengerechtigkeit,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik, Abbau der Staats-
lege Rexrodt, ich habe Ihnen einen Geburtstags-Zeitbo- schulden, ausgeglichene Haushalte und Gestaltungsspiel-
nus gegeben, aber jetzt bitte ich Sie, zum Schluss zu kom- räume für die Jungen in diesem Land, die in der Zukunft
men. die Generation bilden, die gestaltet.
Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Dafür bedanke ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mich, Herr Präsident. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich möchte nur noch den Damen und Herren von der Dieses Grundprinzip aus der Ökologie möchte ich jetzt
Opposition mitgeben: herunterbrechen auf Argumente, die Sie, Kollege Rexrodt
(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Kollege Austermann, in die Debatte eingeführt
DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Die Op- haben. Sie sagen, es seien Windfall Profits, wenn jetzt
position sitzt auf der anderen Seite!) 100 Milliarden DM aus der Frequenz-Versteigerung ein-
genommen werden, weil die Sozialdemokratie die
Sie haben Glück gehabt, Herr Eichel hat – wir alle wissen Privatisierung der Telekom und der Post schließlich
das – Glück gehabt, und zwar bei den Steuern und durch bekämpft habe. Das stimmt.
Reformen, die wir angeleiert haben. Gemessen werden
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ihr auch!)
muss er daran, ob er in der Lage und willens ist, die Aus-
(B) gaben des Bundeshaushalts zu beschränken. Da hat er Aber Sie vergessen, dass diese Privatisierung den öf- (D)
seine Schularbeiten nicht gemacht und daran werden wir fentlichen Haushalten auch Lasten zuschiebt, die wir alle
ihn messen. die nächsten 45 Jahre tragen müssen.
Schönen Dank. (Dr. Konstanze Wegner [SPD]:
820 Milliarden DM!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
– Kollegin Wegner, das ist richtig. – Wir müssen 820 Mil-
liarden DM Lasten aufgrund der Pensionen an frühere
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Postunternehmen
nächster Redner hat der Kollege Oswald Metzger vom zahlen. Wenn Sie diese Lasten versicherungsmathema-
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. tisch korrekt auf Barwert abzinsen, dann errechnet sich
eine Last von 200 Milliarden DM. Wenn Sie ehrlich sind,
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): müssen Sie zugeben, dass diese Last spürbar ist.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn diese (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das weiß ich!
Woche die größte Oppositionsfraktion eine Kampagne Die verteilen sich aber, lieber Herr Metzger!)
unter dem Motto „Ökosteuer k.o.“ startet, dann muss ich
sagen: Dem Kollegen Austermann und zum Teil auch dem – Die Lasten verteilen sich. Aber die Barwertmethode
Kollegen Rexrodt gehen die Argumente aus. Die Argu- zeigt uns, dass diese Lasten in Zukunft bestehen und dass
mente der Opposition gehen angesichts der soliden Fi- normale Steuermittel fällig sind, wenn das Eigentum des
nanzpolitik k.o. Bundes durch Privatisierungen für Pensionszahlungen so-
zusagen verbraucht ist.
(Zuruf von der CDU/CSU: Oh!)
Allein zwischen 2000 und 2004 steigen die Ausgaben
Das ist die Wahrheit. für die Postunterstützungskassen um etwa 2,5 Milliar-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den DM auf rund 11 Milliarden DM. Angesichts dieser
und bei der SPD) Zahlen wäre ich an Ihrer Stelle mit der Aussage höllisch
vorsichtig: Ihr habt die Privatisierung bekämpft und jetzt
Herr Kollege Rexrodt, ich fange mit Ihnen an. Mit macht Ihr Windfall Profits. – Wir sorgen für das einzig
vollen Hosen ist gut stinken. Wer als Partei 30 Jahre in der Richtige, nämlich dass diese Sondereinnahmen in die Til-
Regierung war – der Finanzminister hat daran erinnert, in gung fließen und somit nicht vervespert werden, damit
den 70er-Jahren mit den Sozialdemokraten und in den wir künftig Mittel haben, um diese Last abzufedern. So
90er-Jahren mit der CDU; beides waren Phasen, in denen sehen die Fakten aus.
11082 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Oswald Metzger

(A) Kollege Austermann, Sie erklären zum wiederholten sich also relativ gesehen die Situation bei den Investitio- (C)
Male – durch Wiederholung wird es aber nicht wahr –, nen.
dass die Ausgaben des Bundes zwischen 1998 und 2002
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das werden wir
in Wirklichkeit massiv gestiegen seien. Was Sie unter-
einmal sehen, mein Lieber!)
schlagen, ist, dass Sie mit Ihrer Finanzpolitik Schatten-
haushalte wie zum Beispiel für Postunterstützungskassen Wir werden nur in den Bereichen Investitionen etatisie-
unterhalten haben. Ich war bei den entsprechenden Ver- ren, die im nächsten Jahr nach Menschenmöglichkeit
handlungen dabei. Die Postunterstützungskassen mit ei- auch tatsächlich abfließen. Es kommt also nicht zu
nem Volumen von rund 10 Milliarden DM waren bis zu Scheinbuchungen, sondern zu Investitionen in die Zu-
unserem ersten Etat außerhalb des Bundeshaushaltes an- kunftsbereiche unserer Volkswirtschaft.
gesiedelt, was bereinigt werden musste. Sie unterschlagen Die ganze Welt regt sich doch zurzeit über höhere
ferner Kosten für Kindererziehungszeiten in Höhe von Energiekosten auf. Natürlich muss angesichts des beste-
über 23 Milliarden DM, die es zu Ihrer Zeit noch nicht in henden Massenverkehrs das öffentliche Verkehrssystem
Form eines Bundeszuschusses an die Rentenkasse gab. in Deutschland attraktiver bzw. pünktlicher werden. Dass
Das sind Ausgaben, die wir etatisieren mussten. der Schwerpunkt der Koalition auf der Bahn liegt, ist ab-
Was Sie auch vergessen, ist, dass wir die Einnahmen solut in Ordnung. Angesichts dessen, dass in den letzten
aus der von Ihnen kritisierten Ökosteuer als Bundeszu- Jahren die Zahl der Langsamfahrstrecken von 200 auf
schuss an die Rentenversicherung verwenden. Das 1 000 explodiert ist und sich Fahrgäste aufregen, dass die
führt dazu, dass die Beiträge anstatt bei annähernd 21 Pro- Fahrpläne nicht eingehalten werden, ist es nötig, diese
zent heute bei 19,3 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit; Defizite der Bahn zu beseitigen. Dafür werden wir die ent-
sie tut weh. Man muss sie zur Kenntnis nehmen und kann sprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
nicht einfach nur grölen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
und bei der SPD)
Sie sagten, dass, wenn man seine Heizkostenrechnung
Genauso ist es, wenn die Ausgaben nach verschiede- anschaut, vor allem im Altbaubestand dieser Republik die
nen Fachbereichen bereinigt werden. Das möchte ich Wärmedämmung extrem zu wünschen übrig lässt. – Das
heute nicht tun, weil es mir mehr um die Generallinie ist richtig; das merken ja auch wir. – Unter der Regierung
geht. Kohl – das war 1990 – hatten Sie sich verpflichtet, bis
Nur wir in der Koalition haben eine Spardebatte ge- 2005 eine Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Pro-
(B) führt. Die Opposition war ja abgetaucht, weil Kochs zent zu erreichen. Kanzler Schröder hat sich verpflichtet, (D)
Schatten verhinderte, dass sich die zwischen Merz, an diesem Ziel festzuhalten. Angesichts all dieser Punkte
Merkel und Austermann bestehenden unterschiedlichen müssen wir für die Menschen, die mit Altbauten zu tun ha-
Meinungen über die Verwendung der UMTS-Erlöse öf- ben, das heißt für Vermieter, Hauseigentümer und Mieter,
fentlich niederschlagen konnten. Eine entsprechende Dis- etwas tun, indem der Staat in diesem Bereich den Klima-
kussion gab es nur zwischen den Haushaltspolitikern der schutz ernst nimmt und über entsprechende Anreize, über
Koalition bzw. zwischen ihren beiden Fraktionen. Wir die Staatsbank KfW, Einsparmaßnahmen im Energie-
Haushaltspolitiker haben natürlich die Aufgabe, darauf bereich finanziert.
hinzuweisen, dass es, wenn man konsolidiert, nötig ist, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bestimmten Forderungen Nein zu sagen. Wir sagen aber sowie bei Abgeordneten der SPD)
nicht nur Nein; wir wollen nicht nur sparen, sondern auch
Spielräume mobilisieren, damit investiert werden kann. Das ist absolut richtig, ist eine Zukunftsinvestition und
verhindert, dass die Menschen, vor allem sozial schwä-
Ihre Hauptangriffsfläche, Kollege Austermann, und die chere Schichten, durch hohe Energiepreise stranguliert
des Kollegen Rexrodt war festzustellen, dass die Investi- werden. Das ist ein Angebot an die Bevölkerung. Auch
tionen im Vergleich zu den Ausgaben des Bundes relativ das sollte man zur Kenntnis nehmen.
gesehen sinken.
Im Bildungs- und Forschungsbereich ist es ähnlich.
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Absolut!)
Natürlich werden wir die aus Zinsersparnissen entstehen-
Dazu kann ich Folgendes festhalten: Nachdem wir wis- den Spielräume nutzen, indem wir in diesem Bereich die
sen, wie hoch die UMTS-Erlöse sein werden, werden wir Mittel erhöhen. Zu Ihrem platten Zahlenvergleich, Herr
anlässlich der Haushaltsberatungen im zuständigen Aus- Kollege Rexrodt, den Sie in Bezug auf die Jahre 1998 und
schuss in den nächsten Monaten und spätestens in der 2001 angestellt haben: Sie sollten sich den Aufwuchs im
Bereinigungssitzung dafür Sorge tragen, dass die Investi- Bildungs- und Forschungsbereich auch in Relation zu den
tionsausgaben im Vergleich zum Regierungsentwurf um anderen Ressorts ansehen.
annähernd 4 Milliarden DM erhöht werden. Sie werden
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das interessiert
dann feststellen: Die Investitionen werden höher liegen
die Leute in der Hochschule gar nicht!)
als im laufenden Jahr. Wir werden den Haushalt in seinen
Eckpunkten, also beim Ausgabevolumen, so wie im Ent- – Seien Sie ganz friedlich. Wir erhöhen die Mittel für den
wurf der Regierung vorgesehen, bestehen lassen. Wir Hochschulbereich im nächsten Jahr um 200 bzw. 300 Mil-
werden die Ausgaben nicht steigern. Dadurch verbessert lionen DM. Dies ist ein schlechtes Beispiel, das Sie hier
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11083
Oswald Metzger

(A) angeführt haben, denn in diesem Bereich wird wirklich er- Sicherung getan worden. Das nennt man Generationen- (C)
höht. Auch beim BAföG wird erhöht. Der Finanzminister gerechtigkeit.
hat die entsprechenden Zahlen genannt. Ich wäre sehr
Betrachten wir nun den Bereich der ökologischen Mo-
vorsichtig. Denn wenn wir in medias res gehen, werden
dernisierung der Volkswirtschaft, von dem schon die
Sie sofort merken, dass es zu vielen plausibel klingenden
Rede war. Dazu gehört als Mosaiksteinchen die Effizi-
Einwänden von Ihnen Gegenargumente gibt, angesichts
enzsteigerung im Energiesektor, und das weiß jeder von
der Sie nicht so gut aussehen wie in einer oberflächlich
geführten, polemischen Debatte. uns. Ich komme jetzt zu der vordergründigen Attacke der
Opposition, die von der Gesellschaft als Resonanzkörper
Die Grundauseinandersetzung in der Finanzpolitik verstärkt wird. Wenn ich in den Zeitungen lese, was man-
in unserer Gesellschaft muss man auf ein ordnungspoli- che Journalisten darüber schreiben, dann muss ich den
tisches Fundament stellen; das wissen Sie. Wenn wir wol- Kopf schütteln und zweifle, ob diese Journalisten über-
len, dass die – dies sage ich bewusst – durch die poli- haupt noch wissen, was in diesem Land gespielt wird.
tischen Parteien dieser Republik seit Jahrzehnten verur-
sachte Verschuldung auf Bundes-, Landes- und selbst auf Die Koalition hat zwölf Pfennig Ökosteuer und darauf
kommunaler Ebene ein Ende hat, muss man ein Konzept zwei Pfennig Mehrwertsteuer erhoben. Dieses Geld floss
verfolgen, das lautet: Rückführung der Verschuldung bis auf 200 Millionen DM, die für die Förderung regene-
über die Ausgabenseite; das tun wir. Man muss zudem rativer Energien ausgegeben wurden, komplett in die Sen-
Steuern senken; das tun wir. Zu Ihrem Leidwesen haben kung des Rentenversicherungsbeitrags. Das heißt nichts
wir vor der Sommerpause eine der größten Steuerrefor- anderes, als dass der Durchschnittsarbeitnehmer mit ei-
men der Geschichte beschlossen und auch durchgesetzt, nem Vollarbeitsplatz in der gewerblichen Wirtschaft in
die auch den Mittelstand entlastet, Kollege Rexrodt. Deutschland, der brutto rund 5 000 DM monatlich ver-
dient, seit dem Ende Ihrer Regierungszeit einen halben
(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Relativ zu den Prozentpunkt weniger Rentenversicherungsbeitrag be-
Großen!) zahlt und damit 25 DM mehr netto im Monat hat. Das ist
Sie unterschlagen das komplett. Lassen Sie das die Steu- die Gegenrechnung.
erberater durchrechnen. Die entscheidende Entlastung ist Wenn Sie, die Union oder die F.D.P., den Menschen
der faktische Verzicht auf die Gewerbeertragsteuer. Das verkaufen wollen, wir sollten die Ökosteuer aussetzen,
werden die Unternehmen im nächsten Jahr merken. dann müssen Sie ihnen auch sagen, dass sie dann 25 DM
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) netto im Monat weniger in der Tasche haben werden, weil
der Rentenversicherungsbeitrag auf 20,3 Prozent respek-
Es ist zwar richtig, dass der Grenzsteuersatz erst im tive eher auf 21 Prozent steigen wird.
(B) Jahre 2005 auf 42 Prozent sinkt. Das stimmt, aber die Ge- (D)
werbeertragsteuerverrechnung greift schon im nächsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jahr, und das ist faktisch die Entlastung der mittelstän- und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:
dischen Unternehmen. Das können Sie nachrechnen. Das ist doch Unsinn!)

Wir haben Steuerentlastungen durchgesetzt. Das ist ein – Kollege Hinsken, diese einfache Wahrheit stimmt. Sie
Teil der Konsolidierungsrendite, wir führen die Schulden als Selbstständiger sollten wissen, dass gerade der perso-
des Staates stetig und verlässlich zurück und lassen die nalintensive Mittelstand von der Senkung der Arbeitskos-
Bevölkerung an der Konsolidierung partizipieren, indem ten profitiert hat, weil der Arbeitgeber pro Arbeitnehmer
wir die Steuern senken. ebenfalls einen halben Prozentpunkt weniger zahlen
musste.
Wir setzen darüber hinaus eine neue Konzeption im
Bereich der Systeme der sozialen Sicherung um. Die Ren- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die sinken
tenreform, über die derzeit debattiert wird, hat doch doch gar nicht!)
über alle parteipolitischen Auseinandersetzungen hinweg – Die Sozialversicherungsbeiträge sinken und sie werden
einen entscheidenden konsensualen Ansatz: Wir müssen weiter sinken.
uns ein Stück weit von der reinen Umlagefinanzierung
verabschieden, weil wir sonst der Alterspyramide unserer (Dietrich Austermann [CDU/CSU]:
Gesellschaft nicht vernünftig begegnen können und die 41,5 Prozent!)
Kinder und Enkel zu den Verlierern des Umlagesystems Wenn Sie dem Finanzminister heute aufmerksam zu-
machen, die, wenn sie selbst ins Alter gekommen sind, gehört haben, wird Ihnen klar geworden sein, dass wir,
von geringen Rentenansprüchen leben müssen, während wenn es die Konjunktursituation zulässt – aus heutiger
sie in ihrer aktiven Zeit hohe Steuern und Abgaben für die Sicht lässt sie es zu und meine Fraktion hat dazu gestern
alte Generation bezahlen mussten. Deshalb ist der Ein- einen Beschluss gefasst –, im Jahre 2002 bei der Arbeits-
stieg in die private Vorsorge absolut richtig. losenversicherung die Chance haben werden, den Bei-
tragssatz zu senken und das in der Koalitionsvereinbarung
Wenn wir diese Reform in den nächsten Monaten
angestrebte Ziel, in dieser Legislaturperiode mit den So-
durchsetzen, und zwar möglichst im Konsens mit der ge-
zialversicherungsbeiträgen unter 40 Prozent zu kommen,
samten Gesellschaft – das wurde heute schon angespro-
erreichen. Sie werden sich noch wundern.
chen –, dann ist ein weiterer ordnungspolitisch wichtiger
Schritt auf dem Weg zur nachhaltigen Konsolidierung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Staatsfinanzen und zur Reform der Systeme der sozialen sowie bei Abgeordneten der SPD)
11084 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Oswald Metzger

(A) Wir verfolgen das Ziel der Senkung von Steuern und Ab- Im Herbst werden wir ein Haushaltsgesetz mit einer (C)
gaben. Das ist ordnungspolitisch vernünftig. Regelung bekommen, in der genau diese Ermächtigung
Ich habe versucht, die Zusammenhänge bei der Ökolo- für den Finanzminister enthalten ist. Dies ist die gleiche
gisierung der Volkswirtschaft von einer anderen Seite her Ermächtigungsnorm, die jetzt auch für die UMTS-Zins-
zu erläutern. erlöse gilt, die dazu führt, dass wir keinen Nachtrags-
haushalt brauchen. Es ist absurd: Ein Nachtragshaushalt
Was mich aber am meisten ärgert, ist Folgendes: Die Uni- wäre ja nur für Sie, die Union, ein willkommener Anlass,
onsfraktion hat ein Rentenkonzept – Ihre Experten auf der
um Ihre Ausgabenprogramme auszubreiten und das Geld
Fachebene sind Horst Seehofer von der CSU- und
nicht für die Schuldentilgung, sondern als Volksbe-
Andreas Storm von der CDU-Fraktion, also Kollegen, die
ich schätze –, glückungsinstrument zu verwenden. Dies kann man einer
unredlichen und unseriösen Opposition ja durchgehen
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: lassen, aber einer soliden, seriösen Regierungskoalition
Mit Recht!) mitnichten.
bei dem die Einnahmen aus der Ökosteuer quasi ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
einnahmt werden. Wenn Sie diese unterschlagen würden, und bei der SPD)
müssten Sie sofort eine Mehrwertsteuererhöhung um 1
bis 1,5 Prozentpunkte in die Debatte bringen. Dann Wenn ich über das, was wir heute gehört haben, Bilanz
sind Sie bei dem, was in Ihrer Koalitionszeit, näm- ziehe – morgen wird die Auseinandersetzung hoffentlich
lich 1998, beschlossen wurde: Mehrwertsteuererhöhung qualitativ ein bisschen ansprechender, weniger polemisch
am 1. April 1998 um 1 Prozent, damit damals der Ren- und weniger aus der unteren Schublade geführt –,
tenversicherungsbeitrag nicht auf 21 Prozent anstieg.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So
Da frage ich jetzt Sie hier und auch die Öffentlichkeit: schlecht warst du auch nicht!)
Ist es Ihnen lieber, eine Mehrwertsteuer, eine Verbrauch-
steuer, als Umfinanzierungsinstrument zu bezahlen oder stelle ich fest: Wir werden den Bundeshaushalt von den
eine Steuer, auf die ich über den Verbrauch – beim Auto Eckpunkten her so halten, wie ihn die Bundesregierung
über den Gasfuß, bei meiner Wohnung über entsprechen- eingebracht hat. Aber, Kollege Austermann, der Haus-
des Heizen – Einfluss nehmen kann? haltsausschuss wird diesen Etat natürlich verändern, weil
(Walter Hirche [F.D.P.]: Eine falsche das Budgetrecht das vornehmste Recht des Parlaments ist.
Alternative!) Wir werden die Investitionen um die Spielräume erhöhen,
die Zinsersparnisse auf der Aufgabenseite möglich ma-
Diese Alternative haben Sie. Oder wollen Sie diese un-
(B) glaubwürdige Strategie mitmachen, dass man die Öko- chen. Wir werden gleichzeitig die Nettoneuverschuldung (D)
steuer zum Sündenfall der gesamten Gesellschaft erklärt? auf unter 45 Milliarden DM reduzieren. Dies ist erklärtes
Ziel beider Bundestagsfraktionen der Regierungskoali-
Wenn Sie sich die solide Grundstruktur unserer Politik tion. Mit diesem Kurs können wir die öffentliche Ausei-
noch einmal ansehen – Senkung der Steuern und Abgaben nandersetzung in den nächsten Wochen gut überstehen
als Konsolidierungsrendite aus Rückführung der Staats- und auch vor Bürgerinnen und Bürgern in aufgeheizter
verschuldung, also überwiegend auf der Ausgabenseite,
Atmosphäre bestehen, wenn Ölpreise, Heizölpreise, Ben-
und Reform der Systeme der sozialen Sicherung sowie
Senkung bei der Arbeitslosenversicherung, wenn die zinpreise steigen. Dies sind Segmente, in denen diese Ko-
Konjunktur es zulässt –, stellen Sie fest: Dies ist eine alitionen für die von ihr verantwortete Erhöhung eine Ent-
stringente Strategie, von der Sie immer geredet haben, die lastung für die Bevölkerung nachweisen kann.
Sie aber während Ihrer letzten vier Regierungsjahre über- (Walter Hirche [F.D.P.]: Es bleibt eine Preis-
haupt nicht praktizieren konnten. Dies ist für mich der treiberei fürs flache Land und für Rentner!)
Punkt, an dem Sie unredlich werden.
Hier werden wir bestehen. Es wird Ihnen nicht gelingen,
Es wird plötzlich behauptet, diese Koalition, dieser Fi-
die Performance dieser Regierung mit einer Debatte, die
nanzminister würde Privatisierungserlöse für den lau-
fenden Haushalt verwenden. heute in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem Leitkom-
mentar als „Krampfdebatte“ bezeichnet wurde, zu unter-
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jawohl, laufen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen.
21 Milliarden DM!)
Sie werden sehen: Ihre Fraktion, Kollege Merz, die
Wir haben in diesem Jahr praktisch keine Privatisierungs- früher einen intellektuell redlichen Fraktionsvorsitzenden
erlöse mehr in den öffentlichen Haushalt eingestellt. Im
hatte, der von diesem Pult aus erklärt hat, dass Energie ein
nächsten Jahr, im Jahre 2001, haben wir 8 Milliarden DM
in den öffentlichen Haushalt eingestellt. Wenn Sie lesen, knappes Gut sei, das deshalb teurer werden müsse, und
was in der letzten Woche in der SPD-Fraktion und bei uns Arbeit ein Überflussgut, das deshalb billiger werden
Grünen beschlossen wurde, werden Sie feststellen: Steu- müsse, wird mit dieser populistischen Kampagne auflau-
erbedingte Mehreinnahmen werden auch dazu herange- fen.
zogen, die Privatisierungseinnahmen durch reguläre Ein- Vielen Dank.
nahmen zu ersetzen. Privatisierungserlöse – das ist
erklärtes Ziel dieser Koalition – werden künftig in die Til- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gung fließen. und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11085

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Wenn Sie in Ihrem Haushaltsentwurf vorschlagen, zum (C)
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von Beispiel die Bundeszuschüsse für die Bundesanstalt für
der PDS-Fraktion das Wort. Arbeit zu streichen, so ist das nichts anderes als der Ein-
stieg in den Abschied von einer aktiven Arbeitsmarkt-
politik.
Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Die Regierung hat ihren Haushaltsent- (Beifall bei der PDS – Widerspruch bei der
wurf für das Jahr 2001 in erster Linie mit dem Konsoli- SPD)
dierungskurs begründet. Nun muss man ja konstatieren, Politikerinnen und Politiker, die sich in ihrem Handeln
dass die Politik des Schuldenabbaus zum Teil Resonanz nur noch von den so genannten objektiven Haushalts-
in der Bevölkerung findet. Auch die PDS hat entgegen zwängen leiten lassen, machen sich tendenziell überflüs-
allen Vorurteilen nichts gegen eine sparsame Haushalts- sig, weil sie überhaupt keinen Gestaltungsanspruch mehr
politik und gegen den Abbau von Staatsschulden einzu- haben.
wenden.
(Beifall bei der PDS – Dr. Konstanze Wegner
Ich kann Ihnen versichern: Eine Vielzahl demokrati- [SPD]: Es wird 44,5 Milliarden an aktiver Ar-
scher Sozialistinnen und Sozialisten agiert in kommunal- beitsmarktpolitik geben!)
politischer und landespolitischer Verantwortung genauso.
Herr Eichel, aber auch Herr Metzger hat noch einmal
Wir unterscheiden uns jedoch in einem Punkt wesentlich.
betont, dass diese straffe Haushaltsdisziplin alternativlos
Für uns mutiert die sparsame Haushaltspolitik nicht zum von einer nachhaltigen Entlastung aller Steuerzahler und
alleinigen Selbstzweck von Politik. Unternehmen begleitet werden muss. Schaut man sich
(Beifall bei der PDS) aber die Inhalte dieser beiden Stränge genauer an, so wird
offensichtlich, wie sozial ungerecht Sie agieren. Die
Es kann nicht darum gehen, den Schuldenabbau um Haushaltssanierung lief – Stichwort: Haushaltssanie-
jeden Preis zu erreichen. Sicher kann man nur das ausge- rungsgesetz – eindeutig auf Kosten von Rentnerinnen und
ben, was man hat, und nicht zweifach oder dreifach, pri- Rentnern, auf Kosten zukünftiger Rentenansprüche von
vat und als Staat. Wenn man aber an der falschen Stelle Arbeitslosen, auf Kosten von sozial schwachen Men-
spart, muss man es später doppelt, dreifach, vierfach schen.
draufzahlen. Auf diesem Weg befinden Sie sich.
Diese Menschen sind zusätzlich betroffen von den
(Beifall bei der PDS) Einsparungen, die an die anderen Ebenen der öffentlichen
In der Politik sollte es doch darum gehen, zu diskutie- Hand, an die Länder, an die Kommunen, weiter gereicht
(B) werden. Die Schließung von Bibliotheken stört einen Mil- (D)
ren, wie man tatsächlich effektiv wirtschaften kann, wo
man einsparen kann, aber auch darüber zu diskutieren, wo lionär überhaupt nicht, sehr wohl aber einen Studenten,
die drängendsten Probleme unseres Gemeinwesens liegen weil er sich nicht einfach jedes Buch von dem nicht vor-
und wie wir unsere Steuergroschen dort tatsächlich Mark handenen BAföG kaufen kann.
für Mark sinnvoll einsetzen. (Beifall bei der PDS)
Herr Eichels Vergleich mit dem schuldenfreien Erbe Das heißt, hier haben wir bereits eine doppelte Belas-
hinkt sehr. Ich möchte kein hoch verschuldetes Haus er- tung. Sie haben eine Steuerbelastung eingeführt, die Öko-
ben. Ich möchte aber auch kein Haus erben, welches ma- steuer. Sie haben uns erst verkündet, es gebe als Aus-
rode ist. Gleichzeitig wünsche ich keine Situation, in der gleich die Senkung der Rentenbeiträge. Nun frage ich
meine Mithausbewohner vielleicht eine so schlechte Aus- Sie: Wo haben Rentner und Rentnerinnen den Ausgleich
bildung mit auf den Weg bekommen haben, dass sie nicht für die Ökosteuer? Weder durch die Senkung der Renten-
einmal mehr in der Lage sind, das Haus richtig instand zu beiträge noch – wie Herr Eichel ja heute verkündet hat –
halten. durch die Senkung im Einkommensteuerbereich. Hier
funktioniert Ihre Argumentation doch nicht!
(Beifall bei der PDS)
Sie können reden, wie Sie wollen: Die Ökosteuerbelas-
Wenn wir uns diesen Aufgaben und Problemen heute tung wird ohne jeglichen Ausgleich sozial völlig unge-
nicht stellen, beschneiden wir die Zukunftschancen unse- recht an Millionen von Menschen in diesem Land weiter
rer Kinder und Enkel genauso. gereicht,
(Zuruf von der SPD: Ach Gott!) (Beifall bei der PDS)
Ist nicht hier ein grundsätzliches Umdenken erforderlich? die keine Möglichkeiten haben, bei ihrem Energie-
Stimmt die enge haushaltspolitische Sicht denn noch, dass verbrauch zu sparen oder sich vielleicht ein sparsameres
die Ausgaben für Kinderbetreuung, Jugend, Sport, Bil- Auto zu kaufen.
dung einfach als konsumtive Ausgaben diskreditiert wer-
(Detlef von Larcher [SPD]: Sagt die PDS
den?
auch, „Weg mit der Ökosteuer“?)
(Zuruf von der SPD: Quatsch!)
Wir waren deshalb von Anfang an für eine Verteuerung
Oder sind nicht genau diese Ausgaben höchst profitable des Umweltverbrauchs, aber auf eine andere Art und
Anlagen in unsere gemeinsame Zukunft? Weise. Das wissen Sie. Wir können nicht einfach den Um-
11086 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Barbara Höll

(A) weltverbrauch verteuern, ohne Alternativen anzubieten. Sie können keine solide, zukunftsorientierte Haus- (C)
Dazu müssen wir jetzt handeln. haltspolitik machen, wenn Sie nicht sinnvoll sparen. Erst
einmal müsste man gegen Verschwendungen ordentlich
Herr Eichel hatte übrigens vorhin nicht Recht, als er
vorgehen. Wir müssten zum Beispiel darauf hinwirken,
sagte, die Regierung habe mit der Erhöhung der Rohöl-
dass die Zahl der Betriebsprüfer massiv erhöht wird, dass
preise nichts zu tun. Wenn ich nicht ganz falsch liege, ha-
Finanzämter ordentlich ausgestattet werden und nicht
ben Sie immerhin mächtig viel mit den Mehreinnahmen
wie in Berlin-Charlottenburg bei der Zusammenlegung
bei der Mehrwertsteuer zu tun. Denn wenn der Preis
zweier Finanzämter das zweite Faxgerät gestrichen wird,
steigt, steigen die Einnahmen bei der Mehrwertsteuer. sodass sie fast nicht mehr arbeitsfähig sind, dass das, was
Natürlich erhöht sich auch auf diesem Wege Ihr Steuer- die Landesrechnungshöfe und der Bundesrechnungshof
aufkommen. anmahnen, tatsächlich verwirklicht wird. Wir müssen uns
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist eine Milch- hier auch über eine sozial gerechte Einnahmengestaltung
mädchenrechnung! Betrachten Sie das mal ge- unterhalten.
samtwirtschaftlich!) Ein letztes Wort, da ich die einzige Frau bin, die in der
Sie haben keine Alternativen angeboten. Sie haben ersten Runde spricht, und Frauen meistens mit Kindern
das nicht verwirklicht, was Sie noch in der letzten Legis- verbunden werden:
laturperiode gefordert haben: die Umwandlung der Kilo- (Hans Georg Wagner [SPD]: Ohne Männer
meterpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Ent- gibt es keine Kinder!)
fernungspauschale. Machen Sie das jetzt endlich und
erhöhen Sie sie von 70 Pfennig auf 1 DM, sodass tatsäch- Herr Eichel hat ja Recht, dass die schwarz-gelbe Koalition
lich Alternativen geboten werden, aber auch Autofahrer sehr wenig für Kinder getan hat. Aber das, was wir jetzt
und Autofahrerinnen eine unmittelbare Hilfe erhalten. verwirklicht haben, war zum großen Teil nicht freiwillig,
sondern Auflage des Bundesverfassungsgerichtes. So,
(Beifall bei der PDS) wie es umgesetzt wurde, ist es wieder sozial ungerecht,
Ihre Arbeitsplätze hängen oftmals von diesem Verkehrs- weil die Großverdiener eine Steuerersparnis von 423 DM
mittel ab, da andererseits auch Strecken der Bahn ge- pro Monat haben und die normale Arbeitnehmerin ein er-
schlossen werden und die Bahn oft unpünktlich und sehr höhtes Kindergeld von jetzt 270 DM bekommt. Das ist
teuer ist. nicht das, was wir von der PDS uns vorstellen. Unsere
Vorschläge hören Sie in der nächsten Rede.
Betrachten wir dann noch Ihre scheinbar unabweisbare
Politik der Steuersenkungen. Herr Eichel hat vorhin die (Beifall bei der PDS)
Fachverkäuferin locker mit 40 000 DM Bruttojahresver-
(B) dienst angesetzt. Das stimmt nicht ganz; der Durchschnitt (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
bei den Fachverkäufern ist 35 000 DM pro Jahr. Ein allein nächster Redner hat der Kollege Hans Georg Wagner von
stehender Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttolohn von der SPD-Fraktion das Wort.
20 000 DM wird im nächsten Jahr um immerhin 99 DM
entlastet. 100 DM haben oder nicht haben – das sind
schon fast 200 DM. Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
(Zurufe von der SPD: Oh!) Dr. Höll, vielleicht können Sie sich in Mecklenburg-Vor-
pommern, wo Sie an der Regierung beteiligt sind, darum
Der allein stehende Arbeitnehmer ohne Kinder mit ei-
kümmern, dass dort mehr Finanzbeamte eingestellt wer-
nem Jahresbruttoeinkommen von 140 000 DM wird um
den; denn es ist Sache der Länder, dafür zu sorgen, dass
2 187 DM entlastet. Das ist doch schon ein beträchtlicher die Steuereinnahmen fließen. Der Kollege Urbaniak wird
Unterschied. nachher noch darauf hinweisen, wo in den Ländern durch
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Arbeit- Steuerersparnisse und durch Steuerhinterziehungsmög-
nehmer im nächsten Jahr 10 Milliarden DM Lohnsteuer lichkeiten Standortvorteile gegenüber anderen Ländern
weniger abführen müssen. Das entspricht einer Steuerent- erzielt werden sollen. Ich meine, dies sollte man auf die
lastung von 3 Prozent – gut. Bei Kapitalgesellschaften be- Ebene schieben, wo es hingehört.
trägt die steuerliche Entlastung allerdings 40 Prozent. Die Wenn ich die Debatte jetzt etwas Revue passieren
Überschrift „Über Großverdiener ergießt sich Eichels lasse, dann stelle ich fest, dass bis jetzt von der Opposi-
Füllhorn“ stammt nicht von mir, sondern aus der – wie tion nichts Neues gekommen ist. Es ist immer das Alte,
man sagt – bürgerlichen Presse. Sie haben mit Ihrem was man schon kennt und längst weiß.
Steuergesetz einen massiven Rückzug insbesondere der
Großverdiener und Großunternehmen aus der Finanzie- (Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Höll
rung des Gemeinwesens verankert. Dies geht wiederum [PDS])
zulasten von sozial Schwächeren, die auf das öffentliche Man kann sich gar nicht mehr überraschen lassen, etwa
Schulsystem angewiesen sind. Dies geht aber auch zulas- wenn der Kollege Austermann einen Nachtragshaushalt
ten von kleinen und mittelständischen Unternehmen, die fordert. Das fordert er schon seit Monaten. Auch weiß er
sich nicht mit sehr viel Geld die Absolventen der seit Monaten, dass das unsinnig ist; denn die Ausgaben für
Hochschulen einkaufen können oder sie vorfinanziert auf die Zwangsarbeiterregelung stehen als Leertitel im Haus-
private Unis schicken können. Das ist eine sozial zutiefst halt. Das kann man also ausfüllen. Auch die Einnahmen
ungerechte Politik. sind geregelt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11087
Hans Georg Wagner

(A) Dann kommt ein Punkt, Herr Kollege Austermann, zu Das heißt also, 95 Prozent der Einnahmen aus der Öko- (C)
dem ich Ihnen sagen muss: Das verstehe ich nicht ganz. steuer gehen im Jahre 2000 in die Sozialversicherung,
Sie fordern offen – Herr Merz hat das wieder eingesam- 101 Prozent im Jahre 2001 und 99 Prozent im Jahre 2002.
melt –, dass wir von dem Ertrag aus dem Verkauf der Wie können Sie da sagen, es sei ein geringfügiger Betrag,
Handylizenzen, die wir erzielt haben, 80 Milliarden DM der für die Sozialversicherung ausgegeben werde? Sagen
für die Schuldentilgung und 20 Milliarden DM für ir- Sie einmal Herrn Merz, er möge sich darüber besser in-
gendwelche Investitionsmaßnahmen vorsehen sollten. formieren. Ich unterstelle, dass er gar keine Zeit hat, sich
alles genau anzusehen. Aber er muss langsam merken,
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]:
dass alles, was ihm an Haushaltszahlen eingeflüstert wird,
Steuersenkungen!)
bisher nicht gestimmt hat. Deshalb sollte er sich einmal
Das ist ein Aufruf zum Gesetzesbruch; denn im Gesetz selber um die Zahlen kümmern.
steht, dass alle Einnahmen des Bundes, die über diesen
Nun zur Ökosteuer selber. Auch dabei geht es rund. Da
Weg hereinkommen, zur Schuldentilgung verwendet wer-
sagte Herr Merz im November 1998 – ich zitiere –:
den müssen. Das gilt gemäß Koalitionsbeschluss auch für
die Steuermehreinnahmen, Herr Kollege Austermann. Durch die Ökosteuer sollen Steuern erzielt werden,
um auf der anderen Seite Sozialabgaben zu reduzie-
(Beifall bei der SPD)
ren. Über ein solches Konzept kann man reden.
Wenn Sie die Koalition zum Gesetzesbruch aufrufen,
dann sage ich Ihnen: Wir werden kein Gesetz brechen. Sie Das machen wir doch. Dabei kann er mitmachen. Er kann
haben auf dem Gebiet des Gesetzesbrechens mehr Erfah- sagen: Was die Koalition macht, ist genau richtig.
rung als wir. Wir werden Ihnen da nicht folgen. Es ist wichtig, bei den Forderungen und der Preisge-
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jetzt bitte staltung im Ölbereich nicht einzuknicken. Hier wird im-
vorsichtig!) mer wieder die OPEC genannt. Wer ist denn für Deutsch-
land der Hauptlieferant für Erdöl? Russland, England,
Herr Merz hat sich heute Morgen im Frühstücksfern- Norwegen. Das sind keine OPEC-Staaten.
sehen über die Ökosteuer ausgelassen. Nun hat hierbei
Herr Merz einschlägige Erfahrungen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Eichel hat
OPEC gesagt!)
(Zuruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])
Wenn man sagt, man müsse jetzt mit der Ökosteuer
– Herr Kollege Hinsken, Sie sind immer ein lebhafter heruntergehen, dann erscheint mir das makaber! Sie for-
Zwischenrufer. Ich empfehle Ihnen, vor Zwischenrufen, dern beständig, die Subventionen – Herr Rexrodt, das
(B) und zwar im Psalm 141 Vers 3. einmal zu lesen. Wissen Sie geht auch an Sie – für den Steinkohlenbergbau herunter- (D)
warum? Sie können es dort nachlesen. Es heißt dort: zufahren, egal ob Arbeitsplätze vernichtet werden oder
„Herr, stell eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vor nicht. Subventionsabbau muss sein. Im Zusammenhang
das Tor meiner Lippen!“ Ich empfehle Ihnen wirklich, den mit der Ökosteuer und den Ölpreisgestaltungen fordern
Psalm 141 Vers 3 einmal einzuhalten. Dann werden Ihre Sie jetzt Subventionen für die Erdöl produzierenden Län-
Zwischenrufe qualifizierter sein, als sie es bisher gewesen der und für die multinationalen Konzerne. Das ist doch
sind. falsch. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Der Kollege Friedrich Merz hat heute Morgen gesagt, Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Steuersenkungen!
dass die Ökosteuereinnahmen nur zum geringsten Teil Das war ein Denkfehler!)
in die Sozialversicherung gehen würden. Das ist schlicht- – Herr Rexrodt, warten Sie einmal; ich komme auf Sie
weg falsch. Er ist jetzt nicht da. Aber ich bedaure außer- noch gerne zurück.
ordentlich, dass Herr Merz schon wieder einmal bei einer
Haushaltsberatung auf seine Mitarbeiterinnen und Mitar- Frau Merkel, die sich ja gestern auch nicht schämte,
beiter oder auf die Einflüsterungen des Herrn Austermann hinsichtlich der Ökosteuer so zu argumentieren, hat noch
hereingefallen ist. als Ministerin am 28. Oktober 1997 gesagt – man höre
bitte zu –:
(Joachim Poß [SPD]: Ja!)
Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) hält
Wenn man sich die Zahlen zur Ökosteuer genau ansieht, eine jährliche Anhebung der Mineralölsteuer von
bemerkt man, dass im Jahre 2000 mit 17,4 Milliarden DM etwa fünf Pfennig für angemessen. Auf dem umwelt-
gerechnet wird. Für die Sozialversicherung werden politischen Forum der Thüringer CDU „Bewahrung
16,8 Milliarden DM ausgegeben. Für das Jahr 2001 gibt der Schöpfung – Chancen und Grenzen der ökologi-
es die Prognose, dass 22,2 Milliarden DM hereinkommen. schen Steuerreform“ trat die Ministerin gestern
Ausgegeben werden 22,4 Milliarden DM. Das alles sind Abend für eine Besteuerung des Energieverbrauches
Einnahmen aus der Ökosteuer, die in die Sozialversiche-
„mit Augenmaß“ und damit eine Entlastung des Fak-
rung fließen.
tors Arbeit ein.
(Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]
(Matthias Wissmann [CDU/CSU]: Wo ist denn
– Herr Hirche, es ist egal, ob es Ihnen gefällt oder nicht. die Entlastung der Arbeit?)
11088 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Hans Georg Wagner

(A) Das ist genau richtig. Ich habe ja überhaupt nichts dage- Bahn entgegen dem erklärten Willen des gesamten Bun- (C)
gen. Nur, Frau Merkel muss dann bitte bei ihrer eigenen destages – wenn ich mich recht erinnere, beim Eisen-
Politik das machen, was sie dort gesagt hat. bahnneuordnungsgesetz – trotz Privatisierung nicht ge-
schafft hat, mit anderen Anbietern auf der Schiene in
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wettbewerb zu treten. Vielmehr hat die Verknüpfung des
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schienennetzes mit der Bahn auch einen Nachteil. Darü-
Das, was 1997 richtig war, kann doch nicht im Jahre 2000 ber muss man reden. Ich bin der Meinung, dass die Ta-
plötzlich falsch und dann noch Grund und Anlass sein, rifgestaltung der Deutschen Bahn im Vergleich zu den an-
eine Kampagne gegen die Koalition zu machen. deren Anbietern – ich sage einmal ganz vorsichtig – zu
wünschen übrig lässt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- (Beifall des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])
lege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Man kann nicht durch künstliche Erhöhung der Tarife auf
gen Hinsken? dem Schienennetz potenzielle Mitanbieter davon abhal-
ten, einen Wettbewerb herzustellen. Das kann nicht sein.
Hans Georg Wagner (SPD): Herr Präsident, ich bin Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dies machen soll-
natürlich einverstanden. Herrn Hinsken, bitte. ten.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zahlt die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Bahn auch Ökosteuer?)
erteilt der Präsident und nicht der Redner. Es ist erfreulich – der Minister hat es gesagt –, dass wir
Herr Hinsken, bitte schön. die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr um 250 000 abbauen
werden, und zwar auch durch die Schaffung von 170 000
neuen Arbeitsplätzen.
Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Wagner,
Sie haben vorhin aus der Bibel zitiert und einige Äuße- Frau Kollegin Dr. Höll, die beste Sozialpolitik, die wir
rungen von sich gegeben, die ich nicht teilen kann. Des- machen, ist doch der Abbau der Arbeitslosigkeit. Nur da-
halb frage ich Sie, ob Sie wissen, dass in Matthäus 12,36 durch werden die Chancen des Staates erweitert. Wenn
steht: Über jedes unnütz und falsch gesprochene Wort auf wir die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr – der Minister
dieser Welt hast du Zeugnis abzulegen am Jüngsten Tag. hat es gesagt, um 270 000 – weiter abbauen, dann ist das
genau der richtige Weg, den wir gehen müssen. Es ist die
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) beste Sozialpolitik, die Menschen in Arbeit bringen, wie
(B) wir das mit den Jugendlichen mithilfe des JUMP-Pro- (D)
Hans Georg Wagner (SPD): Das stimmt. Deshalb gramms gemacht haben. Das ist die richtige Politik.
gilt ja auch für Sie das achte Gebot, in dem es heißt, du (Beifall bei der SPD)
sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Sie haben Recht, Herr Kollege. Das gilt auch für Sie. Mir fällt gerade noch zur Ökosteuer ein, wo das Okto-
berfest ja, Kollege Hinsken, heute Abend feierlich hier in
Ich sage noch einmal zu dieser Diskussion über die Berlin voreröffnet und dann diese Woche in München
Ökosteuer: Herr Martin Hübner – das ist der Wirt- eröffnet wird: Wenn die Bierpreise auf dem Oktoberfest
schaftsfachmann der Bayerischen Hypo-Vereinsbank; steigen – sie steigen ja, das wissen Sie –, habe ich noch
Herr Hinsken, vielleicht kennen Sie ihn persönlich, ich nicht die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten,
kenne ihn nicht – sprach sich für die Beibehaltung der Ihres Oberbefehlshabers, gehört, der gesagt hat: Man
Ökosteuer im ZDF am vergangenen Freitag aus und sagte: muss die Biersteuer abschaffen. Er nimmt die Erhöhung
Wer jetzt die Ökosteuer aussetzen will, subventioniert die hin.
multinationalen Konzerne. Recht hat der Mann. Er
kommt aus Bayern. Es gibt also auch in Bayern noch ver- (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist aber
nünftige Stimmen, wie man an diesem Herrn Hübner zynisch, Herr Kollege!)
sieht. – Der Vergleich ist nicht zynisch,
Wenn eben Herr Rexrodt oder die Frau Kollegin (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Doch, gegenüber
Dr. Höll im Zusammenhang mit dem Heizöl die arme den Autofahrern! Die Autofahrer trinken kein
Oma genannt haben, die jetzt mehr Heizölkosten hat, Bier!)
dann muss man darauf hinweisen: Das Heizöl ist bei der
sondern er entspricht absolut der Wahrheit.
Ökosteuer völlig ausgenommen, es wird nicht mit der
Ökosteuer belastet. Also hier sind es allein Ihre Freunde, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
die multinationalen Ölkonzerne, und ist es nicht die Öko-
Meine Damen und Herren, wenn von der Opposition
steuer. Da muss man der Bevölkerung auch wieder sagen:
gesagt worden ist, die Ausgaben für Bildung, Forschung
Das ist etwas anderes.
und neue Technologien würden gekürzt, dann bitte ich
Ich führe die Diskussion in Bezug auf die Zinserspar- herzlich darum, einmal in den Haushaltsplan hineinzu-
nisse einmal auf die Frage zurück, was wir machen wol- gucken. Ich kann natürlich auch eine Rede zum Haushalt
len. In der Tat, Herr Kollege Rexrodt, in einem Punkt gebe halten, ohne in den Plan hineinzugucken; aber dann muss
ich Ihnen völlig Recht: Auch mich bedrückt es, dass es die ich damit rechnen, dass man mir nachweist, dass ich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11089
Hans Georg Wagner

(A) falsch liege. Was die Bildungsausgaben angeht, liegen einsparung stärker fördern, um dadurch zu Minderaus- (C)
Sie absolut falsch; denn wir haben im Jahre 2000 einen gaben zu kommen.
Anteil am Gesamthaushalt von 3,05 Prozent, in 2001 von
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
3,21 Prozent, in 2002 von 3,24 Prozent und im Jahre 2004
DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/
von 3,28 Prozent. Jetzt vergleichen wir einmal diese Zah-
CSU]: Indem man im Winter die Sonne schei-
len mit dem, was Sie vorgesehen hatten, als Sie an der Re-
nen lässt!)
gierung waren: In der mittelfristigen Finanzplanung sa-
hen Sie einen Anteil im Jahre 2000 von 3,10 Prozent vor, Ich will jetzt nicht mehr viel zum Nachtragshaushalt
im Jahre 2001 von 3,03 Prozent, also von 0,18 Prozent sagen, weil vorhin bereits deutlich gemacht worden ist,
weniger, als es die rot-grüne Koalition vorsieht, und im dass er nicht notwendig ist. Wir gehen jetzt in die Be-
Jahre 2002 – Herr Kollege Rexrodt, Sie hatten in der da- ratung des neuen Haushalts für 2001. Über einen Nach-
maligen Bundesregierung mitgestimmt – von 2,97 Pro- tragshaushalt für 2000 nachzudenken ist eigentlich über-
zent, also fast 0,3 Prozent weniger als bei der jetzigen Ko- flüssig, weil alle gesetzlichen Voraussetzungen bereits
alition. Jetzt davon zu reden, wir würden die Ausgaben geschaffen sind. Die Beratung eines Nachtragshaushalts
senken, ist entweder völlig falsch oder Sie haben in der wäre für Sie allenfalls mit der Hoffnung verbunden, wahr-
Mengenlehre nicht aufgepasst bzw. das Einmaleins nicht genommen zu werden, nachdem das eine oder andere bei
begriffen. Wir machen jedenfalls mehr, meine Damen und Ihnen in den letzten Monaten falsch gelaufen ist.
Herren, als von Ihnen bisher vorgesehen war.
(Beifall bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol-
[F.D.P.]: Nein, die Mengenlehre habe ich nie lege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
verstanden!) gen Koppelin?
Dann wurde hier gesagt, man müsse die Mittel für die
Städtebauförderung und für die Gemeinschaftsaufgabe Hans Georg Wagner (SPD): Beim Kollegen
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ er- Koppelin mache ich das immer gern.
höhen. Dazu sage ich Folgendes: Wir stabilisieren im
(Detlev von Larcher [SPD]: Na, na, Vorsicht!)
Osten die Gemeinschaftsaufgabe zur wirtschaftlichen
Strukturveränderung. Aber reden Sie doch bitte einmal
mit den Ihnen verbliebenen Finanzministern – zugegebe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte
nermaßen sind es nur noch wenige, aber immerhin stellen schön, Herr Koppelin.
Sie noch welche – ganz offen und ehrlich darüber, wie sie
(B) über die Gemeinschaftsaufgabe denken. Sie werden Ihnen Jürgen Koppelin (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Kollege (D)
dann sagen: Lasst um Gottes Willen die Finger von der
Erhöhung der Gemeinschaftsaufgabe, wir bringen ja gar Wagner, Sie haben die Ökosteuer angesprochen. Wir ha-
nicht die Komplementärmittel auf. ben ja vorhin einige Zitate zum Thema Ökosteuer gehört.
Was sagen Sie denn zu folgendem Zitat des früheren nie-
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist wahr!) dersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder?
Aufgrund der Steuerreform, die jetzt verabschiedet wor- In einem Interview mit „dpa“ sagte er 1997 zur Öko-
den ist, sind auch die Haushalte der Länder eingeengt, so- steuer:
dass die Komplementärmittel von ihnen nur sehr schwer Die erhoffte Lenkungswirkung zum Wohl der Um-
aufzubringen sind. welt wird nur gering sein. Für die Bürger in Flächen-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auf Bayern trifft staaten wie Bayern ist ein höherer Benzinpreis aber
das nicht zu!) eine empfindliche Mehrausgabe. Die SPD muss dann
in Kauf nehmen, dass die Leute die Schnauze voll
– Gut, die Bayern können vielleicht mithalten; sie haben von uns haben.
ja jahrelang von den anderen so viel Geld abgesaugt, wie
es nur möglich war. Aber alle anderen Bundesländer kön- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der
nen diese Mittel nicht aufbringen, meine Damen und CDU/CSU)
Herren.
Das gilt auch für die Gemeinden. Wir haben 520 Mil- Hans Georg Wagner (SPD): Ich kann gar nicht be-
lionen DM Städtebauförderungsmittel für die östlichen streiten, dass die Äußerungen von Herrn Schröder immer
Länder im Haushalt. Das bleibt stabil wie in all den Jah- bedenkenswert sind. Alles, was er sagt, muss aufmerksam
ren. Ihre Koalition hat die Förderungsmittel für die west- verfolgt werden. Das ist auch in diesem Fall ganz selbst-
lichen Länder seit 1990 von 1 Milliarde DM auf 80 Mil- verständlich.
lionen DM abgesenkt. Hier wollen wir im Zuge der (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Verhandlungen etwas tun.
Im Gegensatz dazu haben Sie ja Pech: Man kann Ihre
Auch bei der Energieeinsparung, die Kollege Metzger Worte nicht nachvollziehen. Sie müssen ja immer über-
schon genannt hat, wollen wir etwas tun; denn in der
legen, was gerade gesagt worden ist.
jetzigen Situation darf man nicht darüber nachdenken, die
Ökosteuer oder irgendwelche anderen steuerlichen Re- Meine Damen und Herren, noch ein paar Sätze zum
geln zu verändern. Vielmehr muss man jetzt die Energie- BAföG. Was wir hier tun, wird von Ihnen gar nicht genug
11090 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Hans Georg Wagner

(A) gewürdigt. Ich kann ja verstehen, dass Sie als Opposition helfen, indem wir die Schulden schrittweise abbauen. (C)
das nicht wollen. Sie haben es in den 16 Jahren, in denen Herr Kollege Austermann, Sie sollten doch nicht so tun,
Sie an der Regierung waren, geschafft, die ehemals von als wäre das alles nichts. Sie nehmen die Schulden, die Sie
der sozialliberalen Koalition – auch mithilfe der F.D.P., Deutschland eingebrockt haben, einfach nicht zur Kennt-
Herr Kollege Rexrodt – erreichte hohe Quote von Studie- nis. Sie müssen sich daran gewöhnen: Sie waren die
renden, die aus einkommensschwächeren Familien ka- Schuldenmacher der Nation und Sie bleiben es auch.
men – was dazu führte, dass nicht nur Professorenkinder, (Beifall bei der SPD)
sondern auch Arbeiterkinder die Chance hatten, Professo-
ren zu werden und nicht mehr Arbeiter bleiben mussten –, Herr Kollege Rexrodt – er ist im Augenblick nicht da,
drastisch zu senken. Jetzt sind wir auf dem Weg, das wie- aber Herr Kollege Gerhardt hat ihn ja ersetzt –, ich habe
der zugunsten der einkommensschwachen Familien um- es schon gesagt: Wir werden das diskutieren.
zudrehen. Die Kinder der einkommensschwachen Fami- (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Er kommt
lien sind ja nicht dümmer als die Kinder der Familien, die gleich wieder!)
Geld haben. Deshalb muss das geändert werden und das
machen wir. Wenn Sie wollen, können Sie da beim Haus- – Bei der F.D.P. ist ein ständiger Wechsel, zumindest in
der Diskussion.
halt 2001 auch mitmachen.
(Heiterkeit auf der Regierungsbank)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Ich mache es dem Kollegen Rexrodt nicht zum Vorwurf,
Jetzt kommt die Elendsnummer!) dass er nicht da ist.
Vorhin ist die Quote angesprochen worden, die Art. 115 Kreditanstalt für Wiederaufbau und Deutsche Aus-
des Grundgesetzes uns vorgibt, nämlich die Forderung, gleichsbank sind Themenbereiche, über die man reden
dass die Nettokreditaufnahme die Investitionen nicht muss. Ich finde, die Lösung, die die Bundesregierung ein-
überschreiten darf. Das Wort Nettokreditaufnahme ist vernehmlich gefunden hat, ist in Ordnung. Deshalb sollte
heute zu Recht schon als Ausweitung der Schulden be- man in diesem Sinne fortfahren.
zeichnet worden. Wir reden darüber, als sei dies ein schö-
Der Haushalt des Jahres 2001 ist eine konsequente
ner Ausdruck, der eigentlich nichts sagt, aber jede
Fortsetzung der finanziellen Solidität und Haushaltskon-
Ausweitung der Nettokreditaufnahme bedeutet mehr
solidierung dieser Koalition. Die jetzige Politik – das
Schulden. Deshalb, Herr Kollege Austermann, steigen die
können Sie sehen, wie Sie wollen – hebt sich wohltuend
Schulden ja auch an. Wir senken nur die Nettokreditauf-
von dem ab, was früher war. Deshalb bin ich auch sicher,
nahme auf Null im Jahre 2006 ab. Sie haben sie immer nur
dass die Bevölkerung das wahrnimmt. Auf die aktuellen
ansteigen lassen. Deshalb ist da ein Unterschied zwischen
(B) Ihnen und uns. Umfrageergebnisse gebe ich überhaupt nichts, denn das (D)
kann sich morgen wieder ändern. Ich weiß aber eines ganz
Unterstellt, die Nettokreditaufnahme bliebe bei genau: Solidität und Normalität im Haushaltsgebaren
46,1 Milliarden DM – Herr Kollege Metzger hat gesagt, werden von der Bevölkerung anerkannt.
die Koalition wolle unter 45 Milliarden DM gehen –, be-
(Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann
trüge der prozentuale Unterschied zwischen den Investi-
[CDU/CSU]: Dann müssten wir ja noch an der
tionen und der Nettokreditaufnahme 25 Prozent. Das
Regierung sein!)
heißt, die Investitionen wären um 25 Prozent höher als die
Nettokreditaufnahme. Im Jahre 2002 wären es – bei Kon- – Bei 1 400 Milliarden DM Schulden müssten Sie, Herr
tinuität in der mittelfristigen Finanzplanung – 23 Prozent, Kollege, eigentlich republikflüchtig werden, sich einen
im Jahre 2003 wären es bei ständiger Rückführung der Wohnwagen kaufen und außerhalb des Landes gehen, an-
Nettokreditaufnahme, also neuer Schulden, 42 Prozent statt hier immer noch die Regierung zu stellen.
und im Jahr 2004 bei einer geplanten Nettokreditauf-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
nahme von noch 20 Milliarden DM sogar 62 Prozent.
Dass wir auf dem besten Wege sind, belegt nicht nur
Ich erinnere an einen Haushalt der Vorgängerregie-
unser Optimismus und das, was die Regierung sagt. Das
rung, nämlich den Haushalt 1996, der schlichtweg verfas-
Weltwirtschaftsforum in Genf, WEF, hat vor kurzem eine
sungswidrig war. Sie haben es damals geschafft, dass die
Studie veröffentlicht, nämlich die internationale Wettbe-
Nettokreditaufnahme deutlich höher war als die In-
werbsstudie 2000. Diese ist am 7. September in der „Süd-
vestitionsausgaben. Wir haben das massiv umgedreht. Ich
deutschen Zeitung“ veröffentlicht worden. Nach dieser
finde, das ist eine erfolgreiche Bilanz in der Steuerpolitik,
Studie belegt der Wirtschaftsstandort Deutschland hin-
eine Politik, die auf Solidität aufgebaut ist und in die Zu-
sichtlich seiner Attraktivität Platz drei, hinter Finnland
kunft hineinreicht.
und den USA.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Damit konnte sich der „Standort D“
Der Minister hat Recht gehabt: Die Schulden in Höhe
– so wird Deutschland in der Studie genannt –
von 1,4 Billionen DM, also 1 400 Milliarden DM, die
nach der Tilgung mithilfe der UMTS-Erlöse übrig blei- innerhalb eines Jahres um drei Plätze verbessern.
ben, sind doch Ihre Schulden. Da können Sie reden, was
Innerhalb eines Jahres! Vor einem Jahr waren nicht mehr
Sie wollen. Sie haben mit den Schulden die Kinder und
Sie, sondern wir an der Regierung.
Enkelkinder belastet, die diese Schulden abbauen müs-
sen. Wir versuchen, den Kindern und Enkelkindern zu (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11091
Hans Georg Wagner

(A) Wir freuen uns über diese Feststellung der Studie. toneuverschuldung in Höhe von etwa 50 Milliarden DM (C)
Deutschland belegt bezüglich des Internets Platz fünf. Wir 1983 auf fast 14 Milliarden DM 1989 zurückzuführen.
sind überall an der Spitze oder zumindest auf dem Weg Ohne deutsche Einheit hätten wir es damals auch ge-
zur Spitze. Eichel hat also Recht gehabt, als er sagte: Wir schafft, die Nettoneuverschuldung auf Null zurückzu-
sind auf dem Weg zur Spitze. führen. Das gehört einfach zur historischen Wahrheit. Wir
Spitze sind wir beispielsweise schon in diesem Jahr bei sollten auch nicht verschweigen, dass ein Teil unserer
Schulden mit dem Sonderfall der Geschichte zu tun hat,
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Bei den nämlich dass wir wieder ein Land sind und in einem Land
Steuereinnahmen!) leben können. Das muss man sehr deutlich sagen.
– nein! – im Bereich der Biotechnologie. Ihr Zwischenruf Sie haben uns auch auf Ihrer Seite, wenn Sie – zu
macht deutlich, dass Sie davon offenbar keine Ahnung ha- Recht – fordern: Die Sondereinnahmen aus der Versteige-
ben. Deutschland ist in Europa der neue Spitzenreiter im rung der UMTS-Lizenzen sollen zur Schuldentilgung
Bereich der Biotechnologie, heißt es im Zweiten Biotech- verwandt werden. Sie haben uns auch auf Ihrer Seite,
nologiereport, den die Stuttgarter Unternehmensberatung wenn die durch die Schuldentilgung gesparten Zinsaus-
Ernst & Young vorgestellt hat. Das heißt also im Klartext: gaben für Investitionen genutzt werden. Auch Kollege
Wir sind auf dem richtigen Wege – dort wollen wir auch Austermann hat nichts anderes gesagt. Diese finanzpoli-
hin –, ein modernes Deutschland mit soliden Finanzen zu tische Ausrichtung findet unsere ausdrückliche Zustim-
schaffen und dafür zu sorgen, dass Deutschland auch eine mung.
Zukunft in Europa hat.
Sie haben von konjunkturbedingten Mehreinnahmen
Ich möchte auf die Erdölkonzerne zurückkommen. Sie gesprochen. Ich fürchte, wir müssen allmählich von in-
sollten nicht jeder veröffentlichten populistischen Forde- flationsbedingten Mehreinnahmen sprechen, Herr Fi-
rung nachgehen. Wir sehen die Probleme des Kfz-Gewer- nanzminister. Sie wissen selbst so gut wie ich und alle
bes. Auch in unseren Wahlkreisen fahren die Leute Auto. anderen hier: Die Steuerschätzer gingen noch im Mai
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nicht dieses Jahres, also vor gerade einmal vier Monaten, da-
mehr lange!) von aus, dass die Inflationsrate bei 0,7 Prozent liegen
würde. 0,7 Prozent, so die Schätzung vor vier Monaten!
Sie gehen nicht nur zu Fuß oder fahren nur Fahrrad. Trotz- Die Inflationsrate wird wahrscheinlich am Ende die-
dem dürfen wir nicht einknicken, wenn die Konzerne ses Jahres über 1 Prozent höher sein. Bereits die Höhe
plötzlich beginnen, Preise zu erheben, die durch nichts der Isteinnahmen bis zum 30. Juni 2000 macht deutlich,
gerechtfertigt sind. Höhere Preise können bestenfalls dass rund 9 Milliarden DM von den zu erwartenden
durch die Feststellung gerechtfertigt werden, dass die rund 18 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen am (D)
(B) Erdölressourcen endlich sind und dass mit diesen Res-
Ende dieses Jahres inflationsbedingte Steuermehreinnah-
sourcen nicht so umgegangen werden kann wie bisher. men sind; denn eine um 1 Prozent höhere Inflationsrate
Wir sollten darauf vertrauen, dass die Bundesregierung bringt den Gebietskörperschaften etwa 9 bis 10 Milliar-
ihre Politik fortsetzt. Auch diesmal kämpft Rot-Grün – den DM an Steuermehreinnahmen ein. Wenn ich diese
leider Gottes – alleine für die Millionen und gegen die Basis sehe, dann wissen Sie sehr genau, dass die Steuer-
Millionäre. Sie machen es genau umgekehrt. schätzung vom Mai Makulatur ist. Auf der Basis des Jah-
Vielen Dank. res 2000, die sich ja fortsetzt, werden wir – unterstellt, die
realen Wachstumsgrößen bleiben so wie bei der Steuer-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schätzung angenommen – im Jahr 2003/04 30 bis 40 Mil-
DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: liarden DM mehr Steuereinnahmen gegenüber den An-
Oh!) nahmen vom Mai dieses Jahres haben.
Ich will auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als der mir viel mehr Sorgen bereitet. Es handelt sich um die
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Rauen Bemerkung unseres Kanzlers vor kurzem in New York,
von der CDU/CSU-Fraktion. dass er die Schwäche des Euro sehr gelassen sehe. Mich
erschreckt das. Gut, jeder Mensch wird durch seinen Um-
Peter Rauen (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine gang geprägt. Wenn er das aus der Sicht der exportieren-
sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass den Wirtschaft sieht – als ehemaliges Mitglied im Auf-
wir hier in aller Ruhe und ohne große Aufgeregtheiten sichtsrat von VW – dann mag er Recht haben. Das ist aber
über den Haushalt 2001 diskutieren, wenn ich von dem nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass
Ausfall von Herrn Poß einmal absehe. Dazu hat der Kol- wir natürlich Inflation importieren.
lege Rexrodt bereits das Nötige gesagt. Wenn wir heute über die Ökosteuer reden, die uns be-
Herr Finanzminister Eichel, Sie haben in einer zen- schwert, dann ist es ja wahr: Der Ökosteueranteil, die sie-
tralen Aussage Ihrer Rede festgestellt, dass wir aus der ben Pfennig inklusive Mehrwertsteuer, ist der eine Ge-
Schuldenfalle raus müssten. Da haben Sie die Union voll sichtspunkt. Wir haben aber zwei weitere Elemente:
und ganz auf Ihrer Seite, auch aus guter Tradition: Sie Das ist zum einen die Erhöhung der Rohölpreise, rund
wissen selbst – Finanzpolitik steht in der Kontinuität der 7 Pfennig pro Liter bei einem Anstieg von 25 auf
Regierungen –, dass es auch der damaligen CDU/CSU- 32 Dollar pro Barrel, und das andere Argument bezieht
F.D.P.-Regierung von 1983 bis 1990 gelungen ist, die Net- sich auf die Schwäche unserer Währung: Bei einer
11092 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Peter Rauen

(A) Entwicklung des Wertes des Dollars von 1,85 auf lediglich 1,2 Prozentpunkte niedriger liegen als im Jahr (C)
2,22 DM von heute zahlen wir 7 Pfennig mehr, weil Öl in 1998. 1,2 Prozentpunkte entsprechen 19 Milliarden DM.
Dollar fakturiert wird. Das heißt, Sie bewegen das Zweieinhalbfache dessen,
Jetzt möchte ich von den makroökonomischen Zahlen was Sie an Rentenversicherungsbeiträgen senken.
wegkommen und betrachte den Zusammenhang einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mikroökonomisch. Dann bin ich bei der Argumentation
Es ist einfach notwendig, dass man dies wirklich dar-
des Herrn Wagner. Er redet von den kleinen Leuten. Das
mache ich auch. Wer in diesen Monaten seinen Heizöltank legt, denn ich habe schon die Befürchtung, dass wir uns
füllt und 4 000 Liter tankt, bezahlt 50 Pfennig pro Liter mit der importierten Inflation eine ganze Menge Pro-
mehr als vor einem Jahr. Damit sind 2 000 DM weg, Herr bleme einhandeln, die wir noch nicht gelöst haben. Herr
Finanzminister. Die Beträge, die Sie aufgrund der Entlas- Finanzminister, Sie werden sich damit beschäftigen müs-
tung durch die Steuerreform genannt haben, hat man also sen, dass wir darüber reden, wie diese inflationsbedingten
bereits im August oder September 2000 ausgegeben. Der Mehreinnahmen bei den Steuern den Menschen viel
Betreffende hat davon nichts. Wenn er auch noch ein Auto schneller zurückgegeben werden müssen, als es bei der
benötigt, um zur Arbeit zu fahren, und eine Strecke von ganzen jetzigen Steuerreform geplant ist.
20 Kilometern zurücklegen muss, dann fährt er 800 Kilo- Es ist gerade einmal neun Wochen her, dass Sie macht-
meter im Monat. Bei einem Verbrauch von 10 Litern pro politisch einen Erfolg hatten. Über die Methode, wie das
100 Kilometer benötigt er 80 Liter. Für einen Liter Ben- im Bundesrat gelaufen ist, wie mit einem Verfassungs-
zin bezahlt er 60 Pfennig mehr als im letzten Jahr. Er zahlt organ umgegangen worden ist, will ich jetzt gar nicht re-
also rund 50 DM im Monat mehr als vor einem Jahr. Auch den. Ich fürchte nur, die Freude von Ihnen und vom Bun-
der Kollege Metzger, der jetzt nicht anwesend ist, kann deskanzler über diesen machtpolitischen Erfolg wird
ihm nicht erzählen, dass er bei der Rentenversicherung relativ schnell verfliegen. Manche Wirtschaftsverbände,
eine Erleichterung von 20 DM hat. Er hat einfach eine die die Verabschiedung noch erleichtert begrüßt hatten,
Mehrbelastung! weil sie meinten, der Spatz in der Hand sei ihnen lieber als
(Zuruf von der SPD) die Taube auf dem Dach, merken allmählich, dass das
Ganze wirklich nur ein Spatz ist und dass sie die Taube
– Rechnen Sie bitte nach! Herr Metzger hat eben das Bei- noch bis 2005 im Käfig betrachten müssen; denn in Wahr-
spiel gebracht, dass man bei einem Bruttogehalt von heit entlasten Sie erst dann die Arbeitnehmer und die Un-
5 000 DM 1 Prozent Erleichterung bei den Rentenver- ternehmer.
sicherungsbeiträgen hat. Das ist nicht ganz richtig. Es
sind nur 0,8 Prozent, 0,4 Prozent beim Arbeitnehmer. Das Das, was wir immer gesagt haben, beginnt allmählich
(B) sind bei 5 000 DM genau 20 DM. Demjenigen, der die zur allgemeinen Einsicht zu werden: Die Steuerentlas- (D)
Mehrkosten hat, weil er mit dem Auto zur Arbeit fährt, tung durch das Steuerreformgesetz ist sozial und wirt-
können Sie nicht erzählen, dass er eine tolle Entlastung schaftspolitisch unausgewogen: Sie bevorzugt die großen
hat. Im Kern hat er nur Mehrbelastungen. Kapitalgesellschaften zulasten des Mittelstandes und der
Arbeitnehmer; die einseitige Bevorzugung des thesaurier-
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der ten Gewinns ist wirtschaftspolitisch verfehlt und führt zu
SPD: Aber nicht durch die Steuer!) neuen steuerrechtlichen Verwerfungen. Sie ist nicht nach-
Es wird wirklich Zeit, dass wir mit den Märchen auf- haltig, weil durch das Vorziehen der oberen Proportional-
hören. Ich habe mich über den Kollegen Klimmt, den ich zone bereits ein immer größerer Teil von Durchschnitts-
persönlich sehr mag, weil wir seit vielen Jahren durch den verdienern den Spitzensteuersatz zahlen muss. Sie kommt
Fußball verbunden sind, maßlos geärgert, als er am Sonn- zu spät, weil der größte Teil der Tarifsenkungen für die
tag bei „Christiansen“ wieder verkauft hat, dass die Öko- Einkommensteuerzahler erst am Sankt-Nimmerleins-Tag
steuererhöhung zu einer Beitragssenkung führen wird. im Jahr 2005 kommt, und zwar bei all den anderen Belas-
tungen, die die Menschen, wie eben geschildert, ganz ele-
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ja, das wird mentar und ganz zeitnah belasten.
immer wieder gern erzählt!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir haben fünf Erhöhungen von je 6 Pfennig plus Mehr-
wertsteuer, das sind jeweils 7 Pfennig. Im Jahre 2003 wer- Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, bei dem
den Sie aus diesen Mineralölsteuererhöhungen 37 Milli- ich Gefahren für unsere Konjunktur und für unsere
arden DM einschließlich Mehrwertsteuer einnehmen. Wir Unternehmenskultur sehe. Kernstück der von Ihnen
haben bei den 630-DM-Jobs eine Umwälzung von der durchgepeitschten Reform ist eine Neuregelung der
Steuer zu den Rentenversicherungsbeiträgen. Zum ande- Unternehmensbesteuerung, von der alle Sachkenner sa-
ren haben wir eine Anpassung der Renten an die Inflati- gen – ich wiederhole mich –, dass sie eine Reform
onsrate, nicht an die Nettolohnentwicklung. Das sind rund zugunsten der Kapitalgesellschaften ist. Für die Kapital-
9 Milliarden DM. Hier werden also insgesamt fast 48 Mil- gesellschaften sinkt die Belastung des einbehaltenen Ge-
liarden DM bewegt, das heißt, den Leuten aus der Tasche winns um 13 Prozentpunkte, Herr Poß. Für die Personen-
gezogen, umstrukturiert oder ihnen nicht gegeben. Aus- gesellschaften sinkt die Grenzbelastung um lediglich drei
weislich der Zahlen Ihres Kollegen Riester – ich empfehle Prozentpunkte. Selbst wenn man die Gewerbeertrag-
Ihnen, sie sich anzuschauen – wird der Rentenversiche- steueranrechnung einkalkuliert, bleibt auf lange Sicht eine
rungsbeitrag im Jahr 2003, am Ende der dritten Stufe, um große Spreizung zwischen der Durchschnittsbesteuerung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11093
Peter Rauen

(A) der Kapitalgesellschaften und der Personengesellschaf- stellen, damit Umstrukturierungen möglich sind, Kon- (C)
ten. zernteile an andere verkauft werden und Unternehmen
effektiver arbeiten können, also die „Deutschland AG“
(Hans Eichel, Bundesminister: Das ist ganz aufgelöst wird. Wenn das aber, Herr Eichel, für Kapital-
falsch!) gesellschaften zutrifft, dann trifft das natürlich auch für
– Herr Eichel, Sie haben doch gewusst, warum Sie Personengesellschaften zu. Auch diese müssen in einer
zunächst das Optionsmodell wollten: Sie wollten die Per- Zeit umstrukturieren, wo sich Wissen alle fünf Jahre ver-
sonengesellschaften mit den Kapitalgesellschaften in doppelt und Schnelligkeit darüber entscheidet, wer seinen
etwa gleichstellen. Weil das Ganze ohnehin eine Krücke Weg gehen kann.
war, haben Sie den Plan fallen lassen, aber mit dem Er- Ich nenne Ihnen als Beispiel einen Sachverhalt, den
gebnis, dass die Personengesellschaften bis 2004 zu- Lafontaine kassiert hat, was Sie nicht zurücknehmen wol-
nächst enorm mehr belastet werden. Das ist im Vermitt- len. Es handelt sich um die Realteilung, die wir bei Per-
lungsausschuss unbestritten so gesagt worden. sonengesellschaften kannten. Ich will es einmal einfach
(Beifall bei der CDU/CSU) ausdrücken: Wenn zwei Personengesellschafter auseinan-
der gehen und das, was sie real im Betrieb haben, teilen
Ich komme zu einem anderen Punkt. Ein weiterer Ge- wollen, konnten sie bisher die stillen Reserven mitneh-
burtsfehler der Reform ist die Privilegierung des einbe- men. Diese müssen neuerdings aufgedeckt und versteuert
haltenen Gewinns. Dafür gibt es keine sachliche, sondern werden. Lassen Sie sich das doch noch einmal durch den
nur eine politisch-ideologische Rechtfertigung, und zwar Kopf gehen, ansonsten wirkt sich das verheerend auf die
den auf Lafontaine zurückgehenden, aber vom Bundes- notwendigen Umstrukturierungen bei Personengesell-
kanzler und von Ihnen ausdrücklich übernommenen schaften aus.
Wunsch, nur die Unternehmen, nicht aber die Unterneh-
mer zu entlasten. Ich nenne noch einen zweiten Fall, der auch mit Um-
strukturierungen zu tun hat: Für Erlöse aus Anteilsver-
Daraus ergeben sich einige Verwerfungen, über die wir äußerungen, die wiederum zur Umstrukturierung einer
sprechen müssen. In der Folge dieser Umstellung ist zum Firma stattfinden, brauchen wir weiterhin die Möglich-
Beispiel die Mindestbeteiligung, die früher einmal bei keit, sie einer Reinvestitionsrücklage zufließen zu lassen,
25 Prozent lag, auf 1 Prozent reduziert worden. Ich sage die zu 100 Prozent steuerfrei gestellt wird, wenn sie in die
Ihnen voraus: Das ist ein Anschlag auf Neugründungen Umstrukturierung der Firma fließt. Diese Möglichkeit
von Firmen, ein Anschlag auf die Notwendigkeit, dass wurde durch die Änderung von § 6b des Einkommen-
sich viele neue Firmen mithilfe anderer entsprechend steuergesetzes völlig kassiert. Das hat aus meiner Sicht
strukturieren. ebenfalls ziemlich verheerende Folgen für die notwendi-
(B) gen Umstrukturierungen bei Personengesellschaften. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg-Otto Spiller
[SPD]: Deswegen gibt es auch so viele Neu- Ich komme zu einem weiteren Punkt, den ich noch ein-
gründungen!) mal sehr ausdrücklich anspreche, weil er mir als einem am
Herzen liegt, der seit 34 Jahren selbstständig ist und im-
– Moment mal: Es hat sich eine Kultur herausgebildet, mer darauf bedacht war, dass es den Leuten, die bei ihm
die ganz gut angelaufen ist, nämlich die Kultur der arbeiten, auch gut geht. Die Entlastung für die Arbeit-
Business Angels. Es handelt sich um Persönlichkeiten, die nehmer ist völlig unzureichend. Ich sage es hier zum wie-
mit ihrer Erfahrung jungen Unternehmern nicht nur mate- derholten Male. Trotz der Absenkung des Spitzensteuer-
riell, sondern auch ideell helfen. Ich frage mich nur, satzes auf 42 Prozent verläuft der Tarif relativ steil,
warum diese Menschen in Zukunft noch Geld dort hi- wodurch der Durchschnittsfacharbeiter in den Spitzen-
neinstecken sollten. Am Anfang können sie kein Geld he- steuersatz hereinkommt und – das ist ein Faktum – im
rausholen, weil die Firmen erst einmal wachsen müssen. Jahre 2005 prozentual genau so viel Steuern zahlt wie im
Sie können nur Beteiligungen bekommen, die sie aber, Jahre 2000.
wenn sie über der Beteiligungsgrenze liegen, hoch ver-
steuern müssen. Sie werden doch dann lieber gleich Ak- (Beifall bei der CDU/CSU)
tien von großen Kapitalgesellschaften kaufen, wodurch Das hat mit dem langen Zeithorizont zu tun und damit,
sie unter der Grenze für wesentliche Beteiligungen, also dass die kalte Progression – das Zusammenwirken von In-
1 Prozent, bleiben und die Kapitalerträge nach einem Jahr flation und Progression – diesen Mehrlohn bei den Ar-
steuerfrei kassieren können. Über dieses Problem müssen beitnehmern auffrisst. Es wird auf Dauer nicht gelingen,
wir in der Tat nachdenken, weil hierdurch die Kultur, den so die Binnenkonjunktur wirklich anzuheizen und auf
Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, in hohem Grade dem Arbeitsmarkt Entscheidendes zu erreichen. Damit
gefährdet wird. wird das Reformziel, die Voraussetzungen für Wachstum
und Beschäftigung dauerhaft zu verbessern, zwangsläufig
Als Folge des Halbeinkünfteverfahrens haben Sie,
verfehlt.
meine Damen und Herren, Veräußerungsgewinne für Ka-
pitalgesellschaften von der Körperschaftsteuer befreit. Wie die Erfahrungen mit durchgreifenden Steuerrefor-
Demgegenüber wurden die Möglichkeiten zur steuerneu- men in anderen Ländern zeigen, sind die von ihnen aus-
tralen Umstrukturierung von Personengesellschaften be- gehenden Wachstums- und Beschäftigungsimpulse dann
reits 1999 massiv beschnitten. Ich habe dazu bei der am stärksten, wenn die Steuersenkungen von einer zu-
dritten Lesung gesagt, dass es richtig ist, die Veräu- rückhaltenden Lohn- und Tarifpolitik begleitet werden.
ßerungsgewinne bei Kapitalgesellschaften steuerfrei zu Ein solcher Effekt ist aber nur von einer fühlbaren, ein-
11094 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Peter Rauen

(A) schneidenden Senkung der Steuerlast zu erwarten, damit summiert sich bald auf 1 Milliarde DM. Herr Klimmt (C)
die Tarifpartner auch Spielräume haben und nicht 70 Pro- weiß das ganz genau.
zent einer Lohnerhöhung in Form von Steuern und Abga-
(Hans Eichel, Bundesminister: Das ist so, weil
ben wieder abgeführt werden müssen. Das ist insbeson-
Sie unterfinanziert hatten! Deshalb müssen wir
dere bei einer zeitlich lang gestreckten Reform der Fall,
jetzt nachlegen!)
bei der sich der Entlastungseffekt der einen Stufe verzehrt
hat, bevor die nächste Stufe erreicht ist. – Nein, wir mussten damals bei der deutschen Wiederver-
einigung Zeit einkaufen und haben gesagt: Es ist rechtens,
Zur Mehrwertsteuer möchte ich jetzt keine Ausführun-
dass man privates Kapital in den Bau von wichtigen Stra-
gen machen. – Eines in Ihrem Haushalt, Herr Eichel, ge-
ßenverkehrsmaßnahmen steckt. Das war 1990 eine völlig
fällt mir überhaupt nicht. Überlegen Sie einmal: Obwohl
richtige Entscheidung.
die Steuereinnahmen von 1995 bis 1997 sogar nominal
zurückgegangen sind – das hat auch mit den Sonderab- (Beifall bei der CDU/CSU)
schreibungen für Wohnungsbau, Bürobauten und derglei-
Aber dass jetzt die Rückzahlungen wie Investitionen be-
chen mehr im Rahmen der deutschen Einheit zu tun –, lag
handelt werden, ist mit Blick darauf, dass ein wichtiger
die Investitionsquote von 1992 bis 1997 im Schnitt bei
Konjunkturträger, die Bauwirtschaft, nach wie vor am
13,6 Prozent. Sie senken diese Investitionsquote jetzt auf
Stock geht, nicht zu respektieren.
11,4 Prozent. Ich kann nur hundertprozentig den Kollegen
Austermann unterstützen, der für unsere Fraktion massiv Ich kann abschließend nur eines sagen: Herr Eichel,
fordert, dass die Investitionen deutlich ausgeweitet wer- schaffen Sie die dritte, vierte und fünfte Stufe der Öko-
den. steuer ab!
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans Georg (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wagner [SPD]: Das wird!)
Ziehen Sie die Steuerentlastungsschritte bei der Einkom-
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. mensteuer deutlich vor, und zwar im Einklang mit den
Schade, dass der Kollege Metzger weg ist. Ich respektiere Bundesländern. Sie können das bezahlen, weil wir durch
ja, wenn er sagt, man müsse mehr auf die Schiene um- die Inflationsrate wesentlich höhere Steuereinnahmen ha-
steigen. Ich bin sehr dafür. Aber wir müssen eines wissen: ben. Beseitigen Sie die Nachteile, die Personengesell-
Wenn ich 10 Prozent des Verkehrs von der Straße auf die schaften bei Umstrukturierungsmaßnahmen im Vergleich
Schiene bringen will, dann muss ich den Schienenver- zu Kapitalgesellschaften nach wie vor haben. Denken Sie
kehr verdoppeln. Wenn Sie sich die Zugverdichtungen nicht zuletzt daran, eine Unternehmensgründungskultur
(B) anschauen, merken Sie, dass es ohne Schienenneu- nicht durch eine Mindestbeteiligungsregelung kaputtzu- (D)
baustrecken nicht geht. Ich möchte dann sehen, wie bei machen, die es nicht mehr ratsam erscheinen lässt, jungen
den Grünen das Geschrei losgeht, wenn wir diese Neu- Unternehmen sein Kapital zu geben.
baustrecken schaffen müssen.
Schönen Dank.
(Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Aber unabhängig davon haben wir überhaupt keine Al- Jürgen Koppelin [F.D.P.])
ternative dazu, auch im Straßenbau massiv weiterzu-
kommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Gerade in den neuen Bundesländern muss viel geschehen,
aber zum Beispiel auch noch in der Eifel, wo ich her-
komme. Dort sind für eine prosperierende Wirtschaft auch Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Straßenbauten dringend notwendig. Karl Diller weiß ganz Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben es
genau, wovon ich rede. jetzt relativ leicht, meine Damen und Herren von der Op-
position, weil Sie doch noch einen Punkt gefunden haben,
Aber Sie führen die Investitionen für den Straßenbau
den Sie in dieser Haushaltsdebatte strittig zu stellen ver-
im Bundesverkehrswegeplan nominal zurück. Das kann
suchen: Das ist die Sache mit der Ökosteuer. Aber ver-
einfach nicht gut gehen. Wir kassieren die Autofahrer ab
gessen Sie nicht, dass auch Sie in der Verantwortung sind.
und lassen sie gleichzeitig im Stau stehen. Das kann nicht
aufgehen, Herr Eichel! Der Spritpreis ist natürlich präsenter als die Summen
aus der Einkommensteuererklärung. Da geht es mir ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nauso wie vielen Millionen anderen Menschen in diesem
Ich möchte Sie noch auf eine Besonderheit aufmerk- Land. Kein Mensch weiß wirklich ganz genau, was er
sam machen, die mit den Konzessionsmodellen zu tun eigentlich in den letzten Jahren an Steuern gezahlt hat; das
hat. Ich habe in Ihrem Haushaltsentwurf Rückzahlungen hat keiner im Kopf.
gesehen, die der Bund aufgrund der umgesetzten Konzes-
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zu viel!)
sionsmodelle leistet und die im Prinzip Projekte betreffen,
die bereits gebaut sind. Aber im Haushaltsentwurf stehen Den Spritpreis kennt man; den sieht man jeden Tag an der
diese Mittel so, als würden sie gerade erst investiert. Das Tankstelle.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11095
Antje Hermenau

(A) Das enthebt uns aber nicht der Verantwortung, ge- gar nicht umschichten wollen. Gerade Länder wie Bay- (C)
meinsam darüber nachzudenken, wie gewisse Verhal- ern, Baden-Württemberg, auch Hessen und Nordrhein-
tensänderungen möglich werden. Die ganze Debatte, die Westfalen, die jetzt am lautesten das Wort führen und am
jetzt auch medial aufgeheizt und durch Sie unterstützt meisten herumstreiten, indem sie sagen, sie müssten zu
wird, fußt eigentlich nur darauf, dass alle zu bequem und viel Geld für die ostdeutschen Länder ausgeben, sind die
zu faul sind, ihr Verhalten zu ändern und zum Beispiel Länder, die durch andere Bundesergänzungszuweisungen
spritgünstiger zu fahren. wieder begünstigt werden, weil sie ja als „arme Länder“
nicht die Kraft haben, die Umstellung des Länderfinanz-
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das sieht
ausgleichs im Hinblick auf die Unterstützung der ostdeut-
aber auch der Bundeskanzler anders!)
schen Länder durchzuhalten.
Der ADAC hat Kurse angeboten, in denen man lernen
Die westdeutschen Länder bekommen also eine beson-
kann, wie man Sprit sparend Auto fahren kann. Diese
Kurse hat niemand besucht. Das heißt, niemand hat Lust, dere Bundesergänzungszuweisung dafür, dass sie an den
sein Verhalten zu ändern. Lieber wird versucht, die Re- Osten Geld abgeben müssen. Es gibt also eine Kompen-
gierung mit dieser Frage in die Enge zu treiben, um seine sation. Die ostdeutschen Länder bekommen eine Bundes-
bequeme Lebensweise fortführen zu können. Ich will den ergänzungszuweisung, weil sie zu schwache Kommunal-
Leuten ja nicht sagen, dass sie nicht bequem leben dürfen, finanzen haben. Zwar ist dieses System in gewisser Weise
aber so sehr auf Kosten der Natur und der Zukunft der marode, aber eines wird klar: Die Länder selbst speisen
Kinder sollte man es vielleicht nicht machen. Sie entzie- nicht die Finanzkraft der ostdeutschen Länder. Es ist viel-
hen sich dieser Verantwortung! mehr der Bund, der die ostdeutschen Länder stabilisiert.
Damit bin ich beim Schuldenberg und beim Gegenstand
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der heutigen Debatte.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der Schuldenberg, von dem hier dauernd gesprochen
Was ich einigermaßen amüsant finde, ist, dass das der wird, setzt sich nicht einmal zur Hälfe aus den notwendi-
einzige Punkt ist, bei dem Sie heute irgendetwas zu gen Transfers in die ostdeutschen Länder zusammen. Um
meckern haben. Ansonsten haben Sie bis jetzt während es einmal klar zu sagen: Man kann zwar behaupten, dass
der gesamten Haushaltsdebatte noch keinen Punkt gefun- die ostdeutschen Länder daran schuld seien, dass die
den, an dem Sie irgendetwas wirklich substanziell kriti- Bundesrepublik Deutschland so stark verschuldet ist, aber
sieren könnten. Das heißt: Unsere Politik ist offensicht- das stimmt einfach nicht. Ein großer Teil des Schulden-
lich sehr gut. berges beruht auf dem Konsum der vergangenen Jahre
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Jahrzehnte, der vor der Einheit stattgefunden hat.
(B) und bei der SPD) Diesen Konsum können Sie uns wirklich nicht anlasten; (D)
denn die paar Westfresspakete können es nicht gewesen
Ich möchte einen Punkt herausarbeiten, der mir beson-
sein.
ders am Herzen liegt, nämlich den Aufbau Ost. Es gab
hier und da einzelne verhaltene Stimmen, die meinen, wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
würden in diesem Bereich unglaublich dramatische Kür- sowie bei Abgeordneten der PDS)
zungen vornehmen. Dem kann man entgegenhalten, dass
Ich möchte gerne darüber sprechen, was wir versuchen
es sich prozentual nur um eine kleine Summe handelt, die
in 2001 weniger als in 2000 ausgegeben wird. zu unternehmen, um die Situation der ostdeutschen
Länder zu verbessern, damit ihre Steuerkraft und Fi-
Aber wer dieses Minus von 3 Milliarden DM bejam- nanzkraft durch ihre wirtschaftliche Stärkung gestärkt
mert, der muss sich an seinen Taten und Worten messen wird. Wir im Osten sollen in die Lage versetzt werden, un-
lassen, wenn es um den Länderfinanzausgleich geht. seren eigenen Steueranteil zu erhöhen, der jetzt nur bei
Dieser Punkt sollte nämlich in die Debatte einbezogen ungefähr einem Drittel liegt, was natürlich nicht sehr viel
werden. Es wird immer behauptet, dass die Finanzaus- ist.
stattung der ostdeutschen Länder auf 92 Prozent des
durchschnittlichen Länderniveaus angehoben werde. Das Es gibt zum Beispiel hinsichtlich der Bahn eine Ver-
ist aber nicht der Fall. Das wäre der Fall, wenn man nur einbarung mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschen
die Ländersteuern berücksichtigen und die kommunalen Länder, dass die Investitionen in die Schienenwege, die
Gelder herausrechnen würde. Die Kommunen im Osten nachzuholen sind, nicht mit dem Ablauf der gesetzlichen
sind aber deutlich finanzschwächer als die im Westen. Verpflichtung in 2003 eingestellt werden, sondern dass
Wenn die kommunalen Gelder eingerechnet werden wür- die gesamte vereinbarte Summe in Höhe von 33 Milliar-
den, dann käme je nach Bundesland im Osten ein Niveau den DM bis zum Jahre 2007 auszufinanzieren ist. Das
von 66 bis 72 Prozent zustande. Ich bin der Meinung, dass heißt: Es wird kein Geld eingespart. Die Verausgabung
wir bei der Diskussion um die Neuregelung des Länderfi- der Mittel wird vielmehr zeitlich gestreckt.
nanzausgleichs deutliche Fakten sprechen lassen müssen. Neben diesen Mitteln, die alle ausgegeben werden
Ich komme jetzt zu den einzigen Maßnahmen, die die können, stehen noch die Extramittel aus der Zinsersparnis
Finanzkraft der ostdeutschen Länder etwas stärken, näm- aufgrund der Versteigerung der UMTS-Frequenzen zur
lich den Maßnahmen des Bundes. Der Bund stärkt ihre Verfügung, die wir ebenfalls in die Bahn stecken können.
Finanzkraft durch die Bundesergänzungszuweisungen, Das sind Maßnahmen, mit denen wir sofort im nächsten
insbesondere durch die Sonderbedarfsergänzungszuwei- Jahr beginnen können und mit denen wir im Bereich der
sungen. Das heißt, der Bund tritt dort ein, wo die Länder Bahn Erfolge erzielen werden, die jeder spüren kann.
11096 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Antje Hermenau

(A) Unser Problem ist doch, dass die meisten Maßnahmen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- (C)
viel zu lange dauern, meistens länger als eine Legislatur- legin Hermenau, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
periode. Die Menschen fragen dann immer: Wann ge- Kollegen Koppelin?
schieht etwas? Wann wird etwas gemacht? Bei der Bahn
werden wir schon im nächsten Jahr spürbare Erleichte-
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rungen haben, wenn die Langsam-Fahrstrecken ausge-
Aber sicher.
baut und ausgebessert werden und damit die Pünktlichkeit
der Bahn deutlich gesteigert wird, was ich für einen wich-
tigen Punkt halte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte
schön, Herr Koppelin.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Gleiche gilt zum Beispiel für die Straße. Es gibt Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Kollegin Hermenau,
das Bundesprogramm Verkehrsinfrastruktur, das bis zum ich habe Ihnen zwar mit großem Interesse zugehört,
Jahr 2002 laufen soll. Ohne zusätzliche Gelder aus der möchte jetzt aber eine konkrete Frage stellen. Zu meiner
UMTS-Versteigerung sind schon 67 Milliarden DM vor- großen Überraschung las ich in der „Sächsischen Zei-
gesehen. Von diesen 67 Milliarden DM gehen 32 Milliar- tung“, dass Sie dem Sportbereich Mittel in Höhe von
den DM in die fünf neuen Länder. Bei dieser anteilsmäßig 400 Millionen DM versprochen haben. Es mag sein, dass
hohen Summe kann keiner sagen, dass die ostdeutschen man einer Regionalzeitung so etwas verkünden kann. Sie
Länder damit ihren Nachholbedarf im Bereich des haben erklärt, dass dieses Programm mit einem Teil der
Straßenbaus nicht decken könnten. Zinsersparnisse, die sich durch die Erlöse der Vergabe der
UMTS-Lizenzen ergeben, finanziert werden soll und dass
Das trifft genauso auf die Bereiche Bildung, Hoch- Sie dazu die Zustimmung der Koalitionsfraktionen hätten.
schulbau und Forschung zu. Auch dort liegt der Anteil der Könnten Sie mir einmal erklären, wie das ablaufen soll,
fünf neuen Länder über ihrem Bevölkerungsanteil. Man damit dies hier gleich zu Protokoll gebracht wird und wir
kann also nicht behaupten, dass die ostdeutschen Länder Sie daran erinnern können?
nur das bekommen, was jedem Bundesland normaler-
weise prozentual zustünde. Sie werden vielmehr bevor-
zugt – und das zu Recht. Das ist völlig korrekt und soll Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auch so sein. Herr Koppelin, Sie haben sich leider vertan. Ich wollte so-
fort zum Sportstättenbau kommen. Können Sie sich noch
Aber auf der anderen Seite bei irgendwelchen auslau- einen Moment gedulden?
(B) fenden Programmen von Kürzungen zu sprechen, das (D)
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Bei Ihnen habe ich
halte ich für einigermaßen perfide, wenn man überlegt,
immer Geduld!)
dass die ostdeutschen Länder im Rahmen bundesweiter
Programme sehr oft einen besonderen Bonus bekommen Denn ich würde gerne vorher noch auf zwei andere
und besonders bedacht werden. Das betrifft zum Beispiel Punkte eingehen.
die Bereiche Innovationen und Forschung. Es wurde oft die Frage aufgeworfen, ob wir in der Lage
Lassen Sie mich noch zur Gemeinschaftsaufgabe Ost, sein werden, den ostdeutschen Ländern für die Stärkung
zu den Geldern kommen, die wir benutzen, um eine ganze des Arbeitsmarktes genügend Gelder zur Verfügung zu
Reihe von Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Es stellen. Dadurch, dass sich die Arbeitslosenzahlen in
ist richtig: Dieser Betrag wird im nächsten Jahr leicht Deutschland insgesamt verbessert haben, ist die Bundes-
abgesenkt. Das ist ja auch ein schwieriges Haushaltsjahr. anstalt für Arbeit in die Lage versetzt worden, die aktiven
Er wird aber bei weitem nicht in der Stärke abgesenkt, wie Arbeitsmarktmaßnahmen in Ostdeutschland stabil zu hal-
man es, wenn man an die allgemeine Ausgabenreduzie- ten. Das halte ich für einen ganz wesentlichen Punkt. Man
rung denkt, prozentual gesehen in diesem Bereich tun darf nicht vergessen, dass die Hälfte aller Gelder, die für
eine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden, in
müsste. Außerdem bestehen jede Menge Möglichkeiten,
die fünf neuen Länder fließen, obwohl dort nur 20 Prozent
neue Projekte anzuschieben. Wenn man die Kofinanzie-
der Gesamtbevölkerung wohnt. Man darf aber auch nicht
rung der Länder und auch die EFRE-Mittel, das heißt die
vergessen, dass in Ostdeutschland der Arbeitslosenanteil
in diesem Zusammenhang gewährten europäischen Mit- doppelt so hoch ist. Insofern ist diese Maßnahme völlig
tel, mit einbezieht, können bei der Gemeinschaftsaufgabe gerechtfertigt.
Ost bzw. bei den Infrastrukturmaßnahmen neue Verpflich-
tungen in Höhe von 3,5 Milliarden DM eingegangen wer- Ganz kurz möchte ich noch die Pflegeeinrichtungen
den. Das halte ich für ein außerordentliches Bewilli- ansprechen. Auch in diesem Bereich gab es Komple-
gungsvolumen. Damit können wir uns sehen lassen. Dass mentärmittel der Länder. Die waren wesentlich geringer
natürlich die Anzahl der Anträge, etwas neu zu bauen, als die des Bundes. Wir haben den Stand gehalten. Es geht
höher ist, als es die Möglichkeiten unseres Bewilligungs- darum, den Standard der Pflegeeinrichtungen zu verbes-
volumens zulassen, ist nichts Neues und betrifft jeden Po- sern. Die Länder haben in den letzten Jahren die in diesem
litikbereich. Zusammenhang bereitgestellten Mittel nur zu ungefähr
80 Prozent abgerufen. Diesem Abrufverhalten haben wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns angepasst. Wir senken also nicht das gesamte Bewil-
und bei der SPD) ligungsvolumen ab. Vielmehr verzögern wir einfach zeit-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11097
Antje Hermenau

(A) lich gesehen die Auszahlungen, weil die Länder nicht gängerregierung verursachten Reformstaus im Bildungs- (C)
mehr Mittel abgefordert haben. Die können gar nicht so und Forschungsbereich, und sie erwartet in der Tat wirk-
schnell die entsprechenden Komplementärfinanzierungen same Schritte für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
leisten. Deswegen ist es meiner Meinung nach völlig ver-
Das geht in hohem Maße über Investitionen. Deshalb
nünftig, dass man über vereinbarte Zeiträume hinaus sagt:
ist es unverantwortlich, wenn im Haushaltsentwurf der
Wir strecken das Programm zeitlich. Das heißt natürlich,
Bundesregierung die Investitionen nach wie vor zurück-
dass im nächsten Jahr ein bisschen weniger Geld von
geführt statt angehoben werden. Das ist ein falsches Sig-
Bundesseite zur Verfügung gestellt wird, weil die Länder
nal.
gar nicht mehr abrufen bzw. kofinanzieren können.
Die PDS-Fraktion – Kollegin Höll hatte das angespro-
Jetzt komme ich zu den Sportstätten. Circa 20 Prozent
chen – ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,
des Bedarfs, den der Sportbund für den Osten Deutsch-
welche die 100-Milliarden-DM-Erlöse aus dem Milliar-
lands festgestellt hat, ist inzwischen in Angriff genommen
denpoker
worden. Das, was Sie, Herr Koppelin, gerade zitiert ha-
ben, ist ein mehrjähriges Programm. Das ergibt die hohe (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das war
Summe, die Sie genannt haben. Sie hätten den Artikel eine Versteigerung!)
gründlich lesen sollen. um die UMTS-Mobilfunklizenzen nicht ausschließlich
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Mit welcher für die Schuldentilgung verwenden will,
Summe wollen Sie denn anfangen?) (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das war
– Die Einstiegssumme nenne ich Ihnen, nachdem ich das eine gesetzlich vorgeschriebene Versteige-
konkret mit den Kollegen ausgehandelt habe. Sie wird ein rung!)
zweistelliger Millionenbetrag sein und deutlich über den sondern etwa 90 Prozent für die Schuldentilgung, aber
15 Millionen DM liegen, die im letzten Jahr bereitgestellt 10 Prozent für andere Aufgaben. Kollege Wagner, eine
worden sind. Zweckbindung dieser Erlöse ist im Telekommunikations-
Herr Koppelin, Sie können sich darüber freuen, an die- und auch im Haushaltsgesetz nicht vorgesehen;
ser Sache teilzuhaben. Sie können gerne in Ostdeutsch- (Hans Georg Wagner [SPD]: Doch!)
land darauf hinweisen, dass Sie durch eine anregende
Zwischenfrage versucht haben, die Koalition in dieser für andere Erlöse gibt es das, hier jedoch nicht.
Frage auf den richtigen Weg zu bringen. Unser Vorschlag ist wohl begründet, weil mit diesen
Ich bedanke mich recht herzlich. 100 Milliarden DM selbst die kühnsten Einnahmeerwar-
(B) tungen von Bundesfinanzminister Hans Eichel – er ging (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von etwa 25 Milliarden DM aus – übertroffen worden
und bei der SPD) sind. Da zugleich die Steuereinnahmen des Bundes ergie-
biger als in den Vorjahren fließen und – darauf wurde noch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nicht eingegangen – Erstattungen aus EU-Haushaltsmit-
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Uwe-Jens teln in Höhe von rund 3,5 Milliarden DM angezeigt sind,
Rössel von der PDS-Fraktion. gibt es für 2001 – darüber reden wir heute – durchaus
Spielraum ohne nennenswerte Abstriche am Kurs der
Haushaltskonsolidierung.
Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Hermenau, (Beifall bei Abgeordneten der PDS)
ich möchte Ihnen an dieser Stelle die Erwartung vieler Wie nun will die PDS diese Bundesaufgaben angehen?
Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland übermitteln, Welche Schwerpunkte und Prioritäten setzen wir für die
dass die Menschen dort keine leeren Versprechungen 10 Milliarden DM, die nicht für die Tilgung der Bun-
mehr hören wollen. Sie erwarten vielmehr einen konkre- desschulden eingesetzt werden sollen? Wir wollen erstens
ten Fahrplan der Bundesregierung dahin gehend, dass die mit der Auflage einer Investitionspauschale des Bundes
Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und West- in Höhe von rund 3 Milliarden DM für ostdeutsche Städte,
deutschland endlich zustande kommt, und sie erwarten, Gemeinden und Landkreise, aber ebenso für struktur-
dass dieser Fahrplan über den Haushalt umgesetzt werden schwache Regionen im Altbundesgebiet Impulse für den
kann. Das ist eine ganz wichtige Forderung, und darauf soziokulturellen und Bildungsbereich geben.
können Sie persönlich auch hinwirken.
(Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der PDS – Antje Hermenau
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Fahr- Das Geld soll, um es klar und deutlich auszudrücken,
plan habe ich heute vorgestellt!) vom Bund direkt an die Kommunen fließen, und zwar
ohne Mittel- und Zwischenebenen, ohne bürokratische
Ich will an dieser Stelle noch einmal den Standpunkt Hürden und ohne Zweckbindungen. Das wäre in der Tat
der PDS-Fraktion bekräftigen, wonach die junge Genera-
kommunale Selbstverwaltung pur, die von Bund und
tion nicht nur die Zurückführung der immens hohen
Ländern so ausgehöhlt wird.
öffentlichen Schulden erwartet – so wichtig das ist –, son-
dern zugleich erwartet, dass sich die öffentliche Hand Die Milliardenspritze des Bundes könnte gezielt Be-
ihrer Verantwortung für andere Zukunftsaufgaben be- schäftigung fördern und sie käme vor allem dem ange-
wusst wird. Sie erwartet die Auflösung des von der Vor- schlagenen Bau- und Baunebengewerbe zugute. Gerade
11098 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Uwe-Jens Rössel

(A) diese Branchen und ihre Beschäftigten leiden darunter, Diese Wohnungsunternehmen drohen unter dem Druck (C)
dass in diesem Jahr die kommunalen Investitionen preis- der finanziellen Lasten, auch unter dem Druck noch vor-
bereinigt um 33 Prozent unter dem Niveau des Jahres handener Altschulden zu zerbrechen. Eine Konkurs-
1992 liegen. Das ist ein unverantwortlicher Zustand. Die welle – das ist keine Übertreibung; Sie wissen, ich über-
Kommunen fallen damit immer mehr als wichtiger Auf- treibe nicht – wird um sich greifen, wenn hier nicht etwas
traggeber für das örtliche Handwerk und Gewerbe aus. getan wird.
Aber gerade dort werden Arbeits- und Ausbildungsplätze Ich sage auch offen: Der Einsatz dieser rund 3 Milliar-
geschaffen und gerade dort ist Hilfe seitens der Politik den DM ist noch nicht die Lösung des Problems; aber er
dringend notwendig. wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Für die Lösung
(Beifall bei der PDS) des Problems müssen wir in diesem Hause gemeinsam
mit dem Bundesrat bald ernsthafte und nachprüfbare
Die Städte und Gemeinden müsse anders als es Bun- Schritte vorlegen und sie dann auch sehr zügig umsetzen;
desfinanzminister Eichel, der selbst viele Jahre lang Ober- sonst droht bei 1 Million leer stehenden Wohnungen in
bürgermeister einer Großstadt in Hessen war, will, am Ostdeutschland tatsächlich ein Kollaps.
Milliardenkuchen aus den Lizenzversteigerungen der
Was nun die Verwendung der Zinseinsparungen be-
Mobilfunkfrequenzen partizipieren. trifft, kann man vieles von dem, was die Regierung unter-
(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) breitet hat, mittragen. Aber bisher sind in deren Vor-
schlägen Guthabenzinsen in einer Höhe von etwa
Die Städte und Gemeinden jedoch sind es, die wegen der 650 Millionen DM nicht berücksichtigt. Sie resultieren
Steuervergünstigungen für die Mobilfunkunternehmen in daraus, dass die Telekommunikationsunternehmen ihre
den nächsten Jahren allein bei der Gewerbesteuer auf Ein- Gelder in die Bundeskasse eingezahlt haben, deren Ver-
nahmen in Höhe von 17 Milliarden DM verzichten müs- wendung aber erst im nächsten Jahr erfolgen wird.
sen. Dadurch entstehen dem Bund – bei einer günstigen An-
lage – Guthabenzinsen in einem Umfang von 650 Mil-
Kollegin Hermenau und andere Kolleginnen und Kol- lionen DM. Auch über deren Verwendung muss entschie-
legen von der Koalition, wie sieht denn die Hilfe des Bun- den werden. Wir schlagen vor, dass dieses Geld für ein
des in einer Situation aus, in der auf die Kommunen mit Programm des Bundes zur Bekämpfung des Rechts-
dem jüngst beschlossenen Steuersenkungsgesetz allein in extremismus und zur Auseinandersetzung damit einge-
2001 Einnahmeausfälle in einem Umfang von 8,5 Milli- setzt wird.
arden DM zukommen werden? Wie sieht hier die Verant-
wortungswahrnehmung des Bundes aus? Dies könnten (Beifall bei der PDS)
Sie, Kollegin Hermenau, nicht nur auf Bundesergän- Dies wäre in der Tat ein Signal aus dem Berliner Reichs-
(B) zungszuweisungen zurückführen. Eine kommunale In- tagsgebäude, nicht nur in die Bundesrepublik hinein, son- (D)
vestitionspauschale des Bundes wäre da ein willkomme- dern auch an die Weltöffentlichkeit. Das Geld dafür ist da,
nes Signal, wenn in diesem Herbst zugleich auch von der die politische Notwendigkeit allemal.
Bundesregierung ein weiteres Signal ausgehen würde, Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
dass die längst überfällige Kommunalfinanzreform end-
lich in Angriff genommen wird. (Beifall bei der PDS)

(Beifall bei der PDS)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
Zweitens. Nach Berechnungen meiner Fraktion könnte nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von der
der Versteigerungserlös in Höhe von 3,8 Milliarden DM SPD-Fraktion das Wort.
für die Korrektur des von der rot-grünen Bundesregierung
im vergangenen Jahr durchgedrückten Systembruchs bei
Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Präsident! Meine sehr
der Anpassung der Renten sowie bei der Anpassung der verehrten Damen und Herren! Mitte der Wahlperiode ist
Arbeitslosen- und Sozialhilfe genutzt werden. Wir schla- es Zeit für eine Zwischenbilanz. In der Finanzpolitik fällt
gen daher vor, dass für den Zeitraum vom 1. Juli 2000 bis diese Bilanz rundum positiv aus.
zum 30. Juni 2001 die nettolohnbezogene Rentenformel
rückgängig gemacht und anstelle der von Minister Riester (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
systemwidrig verankerten Anpassung der Renten in Höhe BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der Inflationsrate wieder eingeführt wird. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition tun,
was sie 1998 versprochen haben. Sie tun es konsequent
(Beifall bei der PDS)
und erfolgreich.
Hierfür gäbe es einen Spielraum. Dies wäre ein Schritt, Die vier Grundelemente unserer Finanzpolitik sind:
der heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentnern erstens der Ausbruch aus der Schuldenfalle. Wir machen
zugute käme. eine entschlossene Politik zur Sanierung der Staatsfinan-
Drittens setzt sich die PDS dafür ein – und hat vor Ort zen.
recherchiert –, dass mit rund 3,2 Milliarden DM die Zweitens. Wir machen eine Steuerreform zur Entlas-
außerordentlich angeschlagenen ostdeutschen Woh- tung der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen.
nungsunternehmen unterstützt werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Ökosteuer ist
(Beifall bei der PDS) eine Belastung!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11099
Jörg-Otto Spiller

(A) Drittens. Wir stellen die Steuergerechtigkeit und das Wir werden bis zum Haushalt 2006 einen ausgeglichenen (C)
Prinzip wieder her, dass starke Schultern mehr zu tragen Haushalt erreichen. Erst dann, meine Herren von der
haben als schwache. CDU und – nicht zu vergessen – von der CSU, wird ein
tatsächlicher Abbau der Verschuldung, die Sie hinterlas-
Viertens. Unsere Finanzpolitik ist so ausgerichtet, dass
sen haben, möglich sein. Sie sollten nicht so viel darüber
sie zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt. Das haben
schreien. Sie sollten froh sein, dass sich die jetzige Koali-
wir versprochen und wir haben Wort gehalten.
tion der Probleme, die Sie hinterlassen haben, annimmt.
Noch ein paar Bemerkungen zu allen vier Punkten: Der zweite Punkt,
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Du musst (Zuruf von der CDU/CSU: Noch einer? –
hier nicht reden, wenn du keine Lust hast!) Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Vier hat
Als Helmut Kohl sein Amt als Bundeskanzler antrat, be- er!)
trug die Verschuldung des Bundes 350 Milliarden DM. die Steuersenkung und die Steuerreform. Es gibt einen
16 Jahre später hinterließ die Regierung Kohl eine Schul- engen Zusammenhang zwischen der Konsolidierung, der
denlast von 1 450 Milliarden DM. Drosselung der Ausgaben und der Senkung der Steuern.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Diese Lü- Denn wir machen keine Steuerentlastung auf Pump, son-
genmärchen können wir nicht mehr hören!) dern erhöhen die Ausgaben parallel in einem nur geringen
Maße, und senken die Steuern für die Bürger und Bür-
– Sie können offenbar nicht lesen. gerinnen stufenweise, verantwortungsbewusst.
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Und Sie Wir haben 1999 begonnen mit einer deutlichen Entlas-
nicht reden! Sie können nicht die Wahrheit sa- tung der Familien mit Kindern. Es stimmt, 1999 haben die
gen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Der Bürgerinnen und Bürger, die keine Kinder haben, wenig
ist gedopt, der Spiller!) von unserer Steuerentlastung gehabt. Das ist in diesem
Jetzt wird die Legende verbreitet – Herr Rexrodt hat Jahr ganz anders. In diesem Jahr haben alle von dieser
das heute auch getan –, dieser Anstieg der Verschuldung Steuersenkung wirklich Vorteile und im nächsten Jahr
habe nur etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Eine geht es weiter.
reine Legende! In der ersten Halbzeit der Regierung Kohl Ich nehme einmal ein Beispiel: Eine Arbeitnehmer-
von 1982 bis 1990 hat sich die Höhe der Bundesschulden familie mit zwei Kindern und einem monatlichen Brut-
exakt verdoppelt, von 350 auf 700 Milliarden DM. In dem toeinkommen von etwa 5 000 DM hat
gleichen Tempo sind sie weiter gestiegen. Sie haben sich
(B) von 1990 bis 1998 noch einmal verdoppelt. (Zuruf von der CDU/CSU: Zahlt heute (D)
1 000 DM Heizkosten mehr!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn die
in diesem Jahr monatlich 200 DM mehr in der Tasche als
erste Hälfte fabriziert?)
1998. Im nächsten Jahr wird diese Familie bei gleichem
Wenn Sie jetzt so tun, als sei dieser Anstieg der Ver- Bruttoeinkommen 250 DM mehr in der Tasche haben.
schuldung nur auf die deutsche Einheit zurückzuführen, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sollte sie
als seien sozusagen die Ostdeutschen schuld, dann ist das haben! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU:
eine kümmerliche Entschuldigung dafür, dass Sie nicht Plus Ökosteuer!)
mit Geld umgehen konnten.
Nun sagen Sie, das sei alles gar nichts. In Ihrer Zeit hat
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ es zwar ebenfalls einen Anstieg der Bruttoeinkommen
DIE GRÜNEN und der PDS) gegeben. Aber das Schlimme war, die Leute haben immer
Das Problem war – daran haben wir jetzt leider alle zu weniger davon gehabt, weil der Unterschied zwischen
knabbern –: Helmut Kohl hatte zwar ein Verhältnis zu brutto und netto immer größer wurde. Das hatte nichts zu
Bimbes; aber er hatte kein Verhältnis zum Geld der Steu- tun mit sozialer Gerechtigkeit.
erzahler. (Zuruf von der CDU/CSU: Diesel von 1,15 auf
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 1,75 DM!)
DIE GRÜNEN) Sie haben noch etwas anderes gemacht. Sie haben hin-
Der Konsolidierungskurs, den Hans Eichel mit Energie genommen, dass Leute mit guten Einkommen in legaler
und mit großer Unterstützung der gesamten Koalition be- Weise Steuerschlupflöcher nutzen konnten, um sich vor
treibt, dem Finanzamt arm zu rechnen. Damit haben wir gegen
den erbitterten Widerstand der Lobby, die leider auch von
(Zuruf von der CDU/CSU: Bei der Rückschau F.D.P. und CDU/CSU unterstützt wurde, Schluss ge-
würde ich Lafontaine auslassen!) macht.
ist sehr erfolgreich. Jahr für Jahr ist die Nettokreditauf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
nahme gesunken. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das müsst Es ist heute eben nicht mehr möglich, dass man sich bei
ihr erst mal leisten!) einem Spitzeneinkommen vor dem Finanzamt einfach
11100 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Jörg-Otto Spiller

(A) arm rechnet. Auch das gehört zur Steuergerechtigkeit: ben, weil nämlich eine Kapitalgesellschaft 25 Prozent (C)
dass aus hohen Einkommen ein fairer Beitrag zur Finan- Körperschaftsteuer plus im Bundesdurchschnitt etwa
zierung der öffentlichen Aufgaben geleistet wird. 13 Prozent Gewerbesteuer zahlt. Um einen solchen Satz
zu erreichen, braucht ein verheirateter Handwerksmeister
Sie haben eine totale Perversion der Marktwirtschaft
einen Jahresgewinn von etwa 400 000 DM. Das kommt in
betrieben. Es ist geradezu wahnwitzig, dass man Investi-
mittelständischen Handwerksbetrieben nicht so oft vor.
tionsentscheidungen an Verlustzuweisungen orientierte.
Die meisten liegen deutlich darunter, das heißt, es geht ih-
Investitionsentscheidungen müssen an Gewinnerwartun-
nen steuerlich mit unserem System nicht nur deutlich bes-
gen orientiert werden. Wir haben die marktwirtschaftliche
ser als vorher, sondern auch deutlich besser, als wenn sie
Grundordnung wiederhergestellt. Darauf sind wir stolz.
eine Kapitalgesellschaft wären. Dass, nebenbei bemerkt,
(Beifall bei der SPD) die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft auch noch
Einkommensteuer zahlen, sollte Ihnen bekannt sein.
Ich mache ein paar Bemerkungen zur Unternehmen-
steuerreform. Herr Rexrodt und auch Herr Rauen haben gemeint,
(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ein biss- dass doch die Fachwelt ihre Meinung teilt. Das ist aber
chen munterer! Das ist ja einschläfernd!) leider nicht so. Es liegt vielleicht auch daran, dass Sie zu
wenig lesen. Lesen Sie doch wenigstens die Ausführun-
Zunächst einmal profitieren alle selbstständigen Unter- gen der Bundesbank. Denn die Bundesbank ist doch nun
nehmer genauso wie Arbeitnehmer von der Senkung der eine anerkannte Institution. Sie schreibt in ihrem Monats-
Einkommensteuertarife. Obendrein haben wir durch die bericht vom August:
Verrechnung der Gewerbesteuer mit der Einkommensteu-
erschuld eine faktische Freistellung der Personenunter- Insgesamt gesehen
nehmen von der Gewerbesteuer, und zwar ohne dass die – das schreibt sie über unsere Steuerreform –
Finanzkraft der Gemeinden darunter leidet.
dürften ... die Personengesellschaften bei der Be-
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ich würde steuerung des laufenden Betriebsergebnisses nicht
jetzt gleich zu Punkt 4 kommen!) schlechter abschneiden als die Kapitalgesellschaften.
– Ja, das hören Sie nicht gern. Das kann ich mir gut vor- Das ist ein eindeutiges Votum. Die Bundesbank ist nicht
stellen. Sie haben das nämlich nie fertig gebracht. Sie ha- die einzige, die das so sieht.
ben immer nur darüber geredet.
(Detlev von Larcher [SPD]: So eine Scheiße
(Beifall bei der SPD) aber auch, gelt?)
(B) Es ärgert Sie jetzt, dass diese Koalition Erfolg hat. Was Der Kern unserer Körperschaftsteuerreform ist die (D)
Sie uns vorführen, ist der schwarz-gelbe Neid, weil Sie Senkung des Tarifes auf 25 Prozent, und zwar einheitlich.
das nicht zustande gebracht haben. Wir machen keine Unterscheidung zwischen einbe-
(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ haltenem und ausgeschüttetem Gewinn, sondern der Tarif
CSU und der F.D.P. – Detlev von Larcher beträgt einheitlich 25 Prozent. Als Sie noch regierten, be-
[SPD]: Familie und Mittelstand, das sind die trug der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne
Gewinner!) in Deutschland 45 Prozent. Jetzt beträgt er 25 Prozent. Ra-
ten Sie mal, was die Unternehmen besser finden. Raten
Der Mittelstand gehört zu den Hauptgewinnern unserer Sie auch mal, was das Ausland interessanter findet. In den
Steuerreform. Das sagen wir, auch wenn es Ihnen nicht letzten Jahren Ihrer Regierung galt Deutschland als ein
gefällt, immer wieder. Das Erfreuliche ist: Wir finden lahmes Land, das nicht die Kraft aufbrachte, seine Pro-
damit immer mehr Zustimmung. bleme zu lösen. Das hat sich geändert. Es ist ein Ruck
Herr Rexrodt, meinen persönlichen Glückwunsch zu durch Deutschland gegangen. Das wird überall anerkannt.
Ihrem Geburtstag! Aber alles kann man Ihnen trotzdem Das bringt uns Zustimmung.
nicht durchgehen lassen. Sie haben vieles erzählt, was (Beifall bei der SPD)
einfach nicht stimmt.
Wir haben bei der Ausrichtung der Unternehmensteu-
(Joachim Poß [SPD]: Das ist nicht neu bei erreform eine Stärkung der Investitionskraft verfolgt,
dem!) insbesondere auch mit Blick auf die Wirkung für Ost-
Sie sagten, der Mittelstand stehe viel schlechter da als die deutschland. Dort ist die Kapitalstärke überall unzurei-
Kapitalgesellschaften. Dazu ist zunächst zu bemerken, chend. Bei den wirklich ostdeutschen Unternehmen gibt
dass es viele mittelständische GmbHs gibt. Das wissen es einen krassen Mangel an Eigenkapital.
auch Sie, und das darf man nicht verschweigen. Auch der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ein krasser
Mittelstand macht von der Rechtsform der Kapitalgesell- Mangel an Einsicht! – Gegenruf des Abg.
schaft lebhaft Gebrauch. Wenn Sie bei den Personenge- Joachim Poß [SPD]: Das muss man als Zitat
sellschaften bleiben, müssen Sie sich fragen: Wann er-
von Ihnen nach Ostdeutschland geben: „ein
reicht eine Personengesellschaft einen Gewinn, der zu
krasser Mangel an Einsicht“!)
einer steuerlichen Belastung ähnlich wie bei einer Kapi-
talgesellschaft führt? Sie müsste einen Durchschnittssteu- – Solche Bemerkungen werden Ihnen überhaupt nicht
ersatz von insgesamt – Pi mal Daumen – 38 Prozent ha- helfen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11101
Jörg-Otto Spiller

(A) Der Mangel an Eigenkapital, die Unfähigkeit aus eige- Ich empfehle Ihnen, dass Sie vielleicht lhr Programm ein- (C)
ner Kraft zu investieren, ist eine der Hauptschwächen der stampfen. 1998 sind Sie mit folgendem Passus in den
ostdeutschen Wirtschaft. Diese Reform der Unterneh- Wahlkampf gegangen – –
mensbesteuerung wird gerade dafür eine wesentliche
Hilfe sein. Das wird uns in Deutschland insgesamt weiter
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol-
voranbringen. lege Spiller, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zu der letzten Bemerkung, zum Abbau der
Arbeitslosigkeit. Wir haben inzwischen eine konjunktu- Jörg-Otto Spiller (SPD): Ich komme zum Schluss.
relle Situation, in der der Funke übergegriffen hat: vom Wenn Sie mir gestatten, Herr Präsident, möchte ich mit ei-
Export, von der Auslandsnachfrage auf die inländische nem Zitat aus dem Wahlprogramm der CDU für die Bun-
Nachfrage, auf die Binnenkraft der Konjunktur. Wir ha- destagswahl 1998 enden:
ben, beginnend mit den Ausrüstungsinvestitionen, eine
kräftige Zunahme der Binnennachfrage, einen realen Zu- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das wollen
wachs bei den Ausrüstungsinvestitionen gegenüber dem wir hören!)
Vorjahr um etwa 9 Prozent. Im nächsten Jahr wird es in Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
ähnlicher Größenordnung weitergehen. Wir haben einen besonders teuer, wovon wir gegenwärtig im Über-
deutlichen Zuwachs auch beim privaten Konsum. Das fluss haben: Arbeit. Dagegen ist das, woran wir spa-
hängt nun in der Tat mit der Kaufkraftentwicklung zu- ren müssen, eher zu billig zu haben: Energie- und
sammen, und zwar mit dem, was die Leute netto in der Rohstoffeinsatz. Dieses Ungleichgewicht müssen
Hand haben. wir wieder stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren
Ich zitiere noch einmal aus dem Monatsbericht der beiden Hauptzielen, mehr Beschäftigung und weni-
Bundesbank vom August. Die Bundesbank schreibt: ger Umweltbelastung, näher kommen wollen.
Die Steuerreform ist ein wichtiger Schritt zur Ver- (Joachim Poß [SPD]: Das haben die alles ver-
besserung der Rahmenbedingungen für das Wirt- gessen! Die Leute mit dem kurzen Gedächtnis!
schaftswachstum und die Beschäftigung in Deutsch- Zuruf von der CDU: Aber doch nicht so!)
land. Es stimmt.
Das ist eindeutig. (Beifall bei der SPD)
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle schreibt
noch prägnanter und eindeutiger, wie ich finde, die Stär- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als
(B) kung der Binnenkaufkraft und der Binnenkonjunktur in nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen (D)
Deutschland sei durch unsere Finanzpolitik stark ange- Bartholomäus Kalb von der CDU/CSU-Fraktion.
regt. Die Hallenser schreiben wörtlich:
Der entscheidende Schub kommt im Jahr 2001 von Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Präsident!
der dritten Stufe des Steuerentlastungsgesetzes, die Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was mich bei
in Verbindung mit der Unternehmensteuerreform Ihnen, Herr Kollege Spiller, aber auch bei allen Rednern
vorgezogen werden soll. – es beginnt beim Bundeskanzler und dem Finanzmini-
Die Nettoerwerbseinkommen werden vor allem in- ster – ganz gewaltig stört, ist: Wenn Sie über den Schul-
folge der Erhöhung des Grundfreibetrages und der denstand dieses Landes sprechen, tun Sie so, als hätte es
spürbaren Senkung des Eingangssteuersatzes so die Wiedervereinigung in Deutschland und die damit ein-
stark wie lange nicht expandieren... hergehenden finanziellen Herausforderungen nie gegeben.

Dann fährt das Institut in Halle fort: (Beifall bei der CDU/CSU)

Im Jahr 2001 ist ... ein deutlich expansiver Impuls Sie wollen offensichtlich mit diesem Thema immer noch
durch das Steuerreformpaket zu erwarten. nichts zu tun haben.

Maßgeblich dafür ist (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben


ein gestörtes Verhältnis zur Einheit!)
vor allem die deutliche Entlastung bei der Lohn-
steuer ... – Sie haben ein absolut gestörtes Verhältnis, wie Kollege
Ramsauer gerade dazwischenruft.
So ist es. Millionen Bürger dieses Landes, die täglich
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute Mor-
zur Arbeit gehen und von ihrer Arbeit leben, haben jetzt
gen hat es der Bundesfinanzminister wieder vorgezogen,
endlich wieder mehr Kaufkraft, die Sie ihnen über lange
Superlative zu gebrauchen. Er sprach von der größten
Zeit verweigert haben.
Sparaktion im letzten Jahr und der größten Steuerreform
Meine Herren, das Einzige, von dem Sie meinen, uns in diesem Jahr. Wenn wir uns die Zahlen anschauen,
jetzt kritisieren zu können, das sind die Energiepreise und ist davon nicht viel übrig. Er musste ja zunächst den
die Ökosteuer. Lafontaine-Effekt beim Haushalt wettmachen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber sehr Wenn ich auf die Zahlen schaue, so hatten wir 1998 ein
viel!) Haushaltsvolumen von 456 Milliarden DM, 1999 eines
11102 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bartholomäus Kalb

(A) von 483 Milliarden DM und jetzt sind wir für dieses und onsquote. Herr Metzger hatte ja Recht, als er schon im (C)
das kommende Jahr bei einem von rund 478 Milliar- Frühsommer bestätigte, dass unsere diesbezügliche Kritik
den DM. Trotz des groß angekündigten Sparpakets, das sehr berechtigt ist.
Sie letztes Jahr verkündet haben, haben Sie es nicht ge-
Investitionen sind die Voraussetzung dafür, dass der
schafft, die von Lafontaine verursachten Erhöhungen
Wohlstand der Bürger erhalten und gemehrt und die Wett-
wieder zurückzunehmen. Sie haben gerade einmal 5 Mil-
bewerbs- und Leistungsfähigkeit unseres Landes sicher-
liarden DM zusammengebracht und die haben Sie noch
gestellt werden kann. Investitionen sichern auch die Er-
auf die Länder und die Gemeinden weggedrückt. Auch
tragskraft der öffentlichen Hände und des Sozialsystems
das müssen Sie korrekterweise zugeben. Wenn Sie sparen,
in der Zukunft. Man muss auch säen, wenn man ernten
sparen Sie an der falschen Stelle und zulasten Dritter, wie
will.
ich eben gesagt habe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundes-
(Beifall bei der CDU/CSU)
finanzminister hat heute Morgen wieder von der größten
Wenn ich von der „falschen Stelle“ rede, komme ich Steuerreform und von den großartigen Entlastungen ge-
zurück auf die Investitionen. Kollege Dr. Rexrodt und die sprochen. Ich kann mich daran erinnern, wie er uns und
Redner der Union haben bereits darauf hingewiesen: Wir den bayerischen Finanzminister Faltlhauser kritisiert hat,
haben einen historischen Tiefstand, was die Investitions- als wir eine Reform vorgelegt haben, die noch nicht ein-
quote betrifft: 11,4 Prozent, das war noch nicht da. Meine mal in der heutigen Dimension Entlastungen vorgesehen
feste Überzeugung ist, dass ein Bundeshaushalt mit einer hat. Er hat sie damals von dieser Stelle aus als völlig un-
Investitionsquote, die wesentlich unter 13 Prozent liegt, finanzierbar bezeichnet. Ich frage Sie nur, Herr Bundes-
nicht vertretbar ist. Der Haushalt hat eine Schieflage. Er finanzminister: Warum steigt denn dann die Steuerlast-
hat erhebliche strukturelle Schwächen. quote in den kommenden Jahren, wenn Ihre Steuerreform
wirken sollte? Ein Großteil der nominalen Entlastung
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)
wird doch durch die Inflation und die Steuerprogression
Ich will gerne wiederholen, was Kollege Metzger hier im Tarifverlauf aufgefressen. Am Ende des Jahres 2005
ausgeführt hat. Er hat ja angekündigt, man wolle bei werden die Menschen weniger Entlastung haben, als Sie
Investitionen 4 Milliarden DM drauflegen. Das wollen heute versprechen.
wir, Kollege Austermann, hier gerne festhalten. Wir wer-
(Beifall bei der CDU/CSU)
den das bei den Beratungen dann auch einfordern. Sie
werden es aber trotzdem nicht schaffen, die Kürzungen, Die Steuerreform kommt zu spät; sie ist zaghaft und
die Sie dem Verkehrsetat verpasst haben, nämlich 4,8 Mil- ungerecht, weil sie einseitig die großen Kapitalgesell-
liarden DM, damit wieder aufzuheben. schaften zulasten des Mittelstandes bevorzugt. Es blieb
(B) dem „Handelsblatt“ vorbehalten, zu schreiben – ich zi- (D)
Wenn wir auf das Jahr 1998 zurückgehen, als Bau-
tiere aus dem Gedächtnis –: Die große Kapitalgesellschaft
ministerium und Verkehrsministerium noch zwei ge-
ist derzeit der SPD liebstes Kind. Das sagt eigentlich al-
trennte Häuser waren, dann müssen wir feststellen, dass
les aus.
Sie heute 9 Milliarden DM weniger für Investitionen in
diesen beiden Bereichen ausgeben, als wir seinerzeit Die Verbesserungen, die ganz am Ende in einer Nacht-
dafür eingestellt hatten. und Nebelaktion noch erreicht worden sind, kamen oh-
nehin nur auf Druck der F.D.P. und der CDU/CSU vor der
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bundesratsentscheidung zustande. Wie Sie mit dem Ver-
Gleichzeitig belasten Sie gerade die Verkehrsteilnehmer fassungsorgan Parlament umgegangen sind, ist eine an-
in einer unverantwortlichen Art und Weise, lassen sie aber dere Frage. „Ein Schlag ins Gesicht des Parlaments“, ti-
im Stau stehen, weil Sie für den Fernstraßenbau nichts telte eine Zeitung. Auch das Karl-Bräuer-Institut weist
tun, ebenso wenig für die dringende Modernisierung der darauf hin, wie unseriös dies alles gemacht worden ist, so-
Schienenwege. Sie lassen die Menschen im Stau stehen wie darauf, dass am Ende des Jahres 2005 die Bürger
und nehmen ihnen gleichzeitig unverschämt viel Geld mehr und nicht weniger Steuern zu zahlen haben werden,
dafür ab. Das ist ungerecht. weil die Steuerreformschritte viel zu zaghaft sind und viel
zu spät greifen werden. Auch war noch nie eine Steuerre-
(Beifall bei der CDU/CSU)
form so angelegt, dass die letzten Schritte erst zum Ende
Das ist aber auch sehr schädlich, denn es werden dadurch der nächsten Legislaturperiode greifen.
wertvolle volkswirtschaftliche Ressourcen vergeudet:
Aber, Herr Finanzminister, eines kann ich Ihnen nicht
Wer im Stau steht, kann kein Bruttoinlandsprodukt er-
ersparen: Sie haben in der 114. Sitzung am 6. Juli von die-
wirtschaften.
ser Stelle aus die Unionsvertreter im Vermittlungsaus-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schuss als „Ölgötzen“ bezeichnet,
Der Herr Verkehrsminister verkündet ein Anti-Stau- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was?)
Programm für die Jahre nach der nächsten Bundestags-
weil sie sich angeblich nicht bewegten. Dieser Vorwurf
wahl, das mit Geld bezahlt werden soll, das er noch nicht
fällt auf Sie zurück. Sie haben sich bis zu dem Zeitpunkt,
hat, und Instrumente ausweist, die, wie Herr Staatssekre-
zu dem der Bundeskanzler die Show brauchte, nicht be-
tär Diller zugeben musste, er ebenfalls noch nicht hat. So
wegt.
kann es nicht gehen; das ist keine seriöse Politik. Wir
brauchen wieder eine deutliche Erhöhung der Investiti- (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11103
Bartholomäus Kalb

(A) Ich habe das Protokoll dieser Sitzung hier liegen. Diese hohen Energiepreise belasten vor allen Dingen (C)
die Menschen, die sich nicht dagegen wehren und nicht
Etwas anderes haben Sie hervorragend verstanden: Sie
ausweichen können: Rentner, sozial Schwache, Familien
haben im Haushaltsplan für die Öffentlichkeitsarbeit – ich
zitiere: Information der Bevölkerung über die Maßnah- mit Kindern, Menschen im ländlichen Raum, die täglich
men der Steuerreform – 7,5 Millionen DM eingesetzt. weit entfernt ihrer Arbeit nachgehen müssen, Menschen
im ländlichen Raum insgesamt und nicht zuletzt auch das
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss) Transportgewerbe. Deswegen fordern wir: Schluss mit
Wir haben gesehen, was Sie damit zuwege gebracht ha- den weiteren Stufen der Ökosteuerreform! Die Stufen für
ben: Sie haben schon im Mai ganzseitige Anzeigen mit die Jahre 2001, 2002 und 2003 müssen aufgehoben wer-
Ihrem mehr oder weniger schönen Gesicht, aber mit rela- den. Sonst ruinieren Sie die Zukunft unseres Landes.
tiv wenig Informationsgehalt geschaltet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Was sagt denn Frau
Susanne Kastner [SPD]: Mit „mehr schönem Merkel? Die wollte es doch auch! – Weiterer
Gesicht“, bitte!) Zuruf des Abg. Hans Georg Wagner [SPD])
Die Leichtfertigkeit, mit der der Herr Bundeskanzler – Also, Herr Kollege Wagner, ich habe Ihnen schon vor-
persönlich mit dem Thema Ökosteuer umgeht, wird deut- hin gesagt, wie sehr sich die Großwirtschaft mittlerweile
lich, wenn man sich an seine Interviews erinnert. Ich habe auf die SPD verlassen kann. Sie brauchen hier keinen
das Sommerinterview und zwei weitere Interviews gese- Zwischenruf anzubringen. Was mich eher besorgt, ist die
hen. In allen diesen Interviews hat er gesagt, der Auf- Schwäche der Währung, für die Sie mitverantwortlich
schlag auf das Mineralöl werde nur 6 Pfennig ausmachen. sind.
Er hat dabei wohl vergessen, dass bereits die zweite Stufe
in Kraft getreten ist. Jetzt hat er durch einen Ghostwriter (Susanne Kastner [SPD]: Für alles!)
bestätigen lassen, dass es doch schon 12 Pfennig seien. Er – Frau Kollegin, Sie werden doch nicht glauben, dass eine
ist vielleicht der Meinung erlegen, die er selbst einmal so verantwortungslose Europapolitik, wie sie von dieser
verbreitet hat, 6 Pfennig seien genug. – Das ist ein Bundesregierung gemacht wird – ich erinnere an die ver-
unverantwortliches Abzocken des Bürgers. antwortungslose Politik gegenüber Österreich –, das
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vertrauen der Menschen in Europa und damit in den Euro
und das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte
Wenn jetzt der Herr Bundesfinanzminister und Herr stärkt.
Poß die Verantwortung für die höheren Ölpreise leugnen,
(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der
(B) kann ich nur fragen: Warum tun Sie das? Es war doch er- SPD) (D)
klärtes Ziel der Grünen und der SPD, die Kosten für Ener-
gie zu verteuern.
(Susanne Kastner [SPD]: Von Frau Merkel Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Kalb,
auch!) Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Sie sind durch die erfolgten direkten steuerlichen Belas-
tungen dafür verantwortlich. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Es ist doch gera-
dezu blamabel und schädlich, den Österreichern drei
(Susanne Kastner [SPD]: Herr Schäuble und
Weise zu schicken und zu glauben, dadurch das Vertrauen
Frau Merkel auch!)
der Menschen und das Vertrauen der internationalen Fi-
Zudem sind Sie dafür verantwortlich, weil Sie für den nanzmärkte gewinnen zu können. Die „Passauer Neue
Verlust des Wertes unserer Währung einstehen müssen Presse“ hat Recht, wenn sie schreibt: Eine bodenlose Bla-
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) mage für die EU-14. Sie haben damit dem Europagedan-
ken geschadet. Sie haben auch der europäischen Währung
und sich als Preistreiber auf dem Markt bewegt haben. massiv geschadet, weil Sie das Vertrauen der Finanz-
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt beispielsweise: märkte, der Menschen, der Mitgliedsländer und der Bei-
„Massive Kritik an Schröders Europolitik“. Das ist nicht trittsländer zerstört haben.
nur meine Meinung. Viele Fachleute teilen die Meinung, Ich danke Ihnen.
dass die Politik der Bundesregierung ganz wesentlich an
dem Verfall der Währung schuld ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner für
Sie betätigen sich auf den internationalen Märkten die SPD-Fraktion ist der Kollege Hans-Eberhard
auch als Preistreiber. Bereits im vergangenen November Urbaniak.
hat der Hamburger Energieexperte Heino Elfert geschrie-
ben, Länder wie Großbritannien und Deutschland wollten
Ölprodukte wie Benzin und Diesel verteuern, sei es aus Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Frau Präsidentin!
umweltpolitischen oder aus fiskalpolitischen Gründen. Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kalb, Sie können es
Da sagen sich die Öllieferländer, so schreibt er weiter: drehen und wenden, wie Sie wollen: Hans Eichel hat ei-
Das können wir viel besser! nen ganz soliden Haushaltsentwurf vorgelegt. Er hat mit
11104 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Hans-Eberhard Urbaniak

(A) Hilfe der Koalitionsfraktionen die Nettokreditaufnahme Der Finanzminister von Baden-Württemberg bewertet (C)
im letzten Jahr senken können und spielt im Welt- und Eu- die Steuerausfälle durch Betrügereien mit 23 Milliar-
ropakonzert eine ganz wichtige Rolle. Wir sind hoch an- den DM. Das hat er so zu Protokoll gegeben. Er fordert
erkannt. Die wirtschaftlichen Kräfte entwickeln sich gut. deshalb selbst, hier müsse mehr gegen den Missbrauch
Wir werden uns in den Haushaltsberatungen über Alter- getan werden, was wir auch tun. Es muss sicherlich mehr
nativen sachlich auseinander setzen. Wir erwarten Ihre in Personal und in dessen Ausstattung investiert werden,
konkreten Vorschläge. Wir sind sehr gespannt, welche um den Kriminellen auf die Spur zu kommen.
weiteren Einsparungsmöglichkeiten Sie vorschlagen wer- Dazu ist eine konzertierte Aktion des Bundes und der
den. Länder notwendig; darüber sind wir uns einig. Die Steu-
erfahndung muss ausgebaut werden. Für den Bund be-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer regiert denn?)
deutet dies insbesondere die Überprüfung des Umsatz-
Da müssen Sie Farbe bekennen. Bisher haben Sie sich in steuer- und Verfahrensrechts, die Einrichtung einer
dieser Beziehung sehr bedeckt gehalten. Das war nicht in zentralen Stelle auf Bundesebene zur Koordinierung der
Ordnung. Prüfungstätigkeit der Länder, die – das muss geprüft wer-
den – Schaffung einer Bundessteuerfahndung und die Be-
(Beifall bei der SPD) reitstellung und Auswertung von relevanten Informatio-
Ich möchte mich eigentlich mit einem ganz anderen nen, um diesen Kriminellen auf die Spur zu kommen. Zur
Thema beschäftigen, obwohl hierzu noch einiges gesagt Erledigung dieser Aufgaben ist – das habe ich betont –
werden könnte. Anstatt den Bundeskanzler anzugreifen, qualifiziertes Personal notwendig.
der gerade eine hohe Auszeichnung in New York bekom- Die Niederländer haben uns in der EU einiges vorge-
men hat, sollten wir alle auf ihn stolz sein. Die Auszeich- macht. Sie haben in diesem Bereich investiert und die Ka-
nung des deutschen Bundeskanzlers ist nämlich Ausdruck russellbetrügereien wirksam bekämpfen können. Daran
der Anerkennung seiner Politik. können wir uns ein Beispiel nehmen. Sie haben die Ein-
nahmen aus dieser Steuerart erheblich erhöhen können.
(Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer
[CDU/CSU]: Um Gottes willen! Und die klei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nen Leute vergisst er!) Nachdem der Handlungsbedarf erkannt ist, wollen wir
– Nein, er vergisst die kleinen Leute nicht. Er kommt den Bundesminister bitten, die notwendigen Maßnahmen
selbst aus diesem Milieu und hat seine Bindung zu diesem einzuleiten, damit wir diesen Betrügern auf die Spur kom-
Milieu nicht verloren, im Gegensatz zu Ihrer Truppe, die men. Denn wir brauchen für den Schuldenabbau mehr
ihre Bindungen zu diesen Leuten schon lange verloren Einnahmen. Je schneller dies geht, umso besser.
(B) hat. (Beifall bei der SPD) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, ich zitiere den Chef der
Ich möchte mich mit einem Sachverhalt beschäftigen, Steuer-Gewerkschaft, Dieter Ondrazcek. Er kritisiert,
dass sich Bayern und Baden-Württemberg mit seltenen
der im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht oft zur
Betriebsprüfungen einen Standortvorteil verschaffen.
Sprache kommt, nämlich mit der Bekämpfung von Be-
So seien 1998 in Baden-Württemberg auf einen Prüfer
trügereien bei der Umsatzsteuer im Rahmen des Waren- 609 Unternehmen gekommen, in Bayern 661 Unterneh-
und Dienstleistungsverkehrs. Die Stärke der auf diesem men, in Nordrhein-Westfalen aber 455 Unternehmen.
Gebiet an den Tag gelegten kriminellen Energie, um den Wenn das ein Standortvorteil, also ein Vorteil für das An-
Staat um berechtigte Steuereinnahmen zu bringen, ist werben von Betrieben ist, dann ist die Solidarität unter
schon sehr erstaunlich. Seit Öffnung der EU-Grenzen hat den Ländern auf das Härteste strapaziert. Dies ist unse-
sich die Zahl der betrügerischen Manipulationen in die- riös.
sem Bereich ständig erhöht. Der Trend hält an. Es ist ja
eine wilde Geschichte, wenn man sieht, wie durch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Scheinunternehmen und Scheinrechnungen Vorsteuerma- DIE GRÜNEN)
nipulationen begangen werden und die Umsatzsteuer hin-
terzogen wird. Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege
Urbaniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
(Joachim Poß [SPD]: Das sind alles CDU- Kalb?
Wähler!)
Hinzu kommen noch die Kraftfahrzeugbetrugsfälle. Der Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Ja.
Umsatzsteuerbetrug, dessen Umfang in erheblichem
Maße zugenommen hat, muss – das sage ich in aller Klar-
heit – bekämpft werden; denn wir haben eine neue Form Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege
des Betrugs erkannt, nämlich den Karussellbetrug: Die Urbaniak, ist Ihnen bekannt, dass – vielleicht zum Leid-
Kriminellen organisieren sich so, dass sie Bund, Länder wesen der Betroffenen – in Bayern das Prüfpersonal ver-
und Gemeinden auf die eben geschilderte Weise betrügen stärkt worden ist? Ist Ihnen zweitens bekannt, dass die
und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Großbetriebe – das sind Betriebe mit einem Umsatz ab
11 Millionen DM – im Turnus alle dreieinhalb Jahre ge-
(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist die prüft werden und das Mittelbetriebe mit einem Umsatz ab
Ursache?) 1,1 Millionen DM auch im Turnus geprüft werden?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11105

(A) Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Kollege Also, gehen wir jetzt gemeinsam daran – wir greifen es (C)
Kalb, wenn es so sein sollte, wie Sie sagen, würde es uns auf –, diesen Betrügern und Kriminellen das Handwerk zu
freuen. Ich habe mir diese Zahlen aktuell geben lassen und legen, damit der Staat diejenigen Einnahmen hat, die er
gehe davon aus, dass sie stimmen. Darüber werden wir im nach dem Gesetz haben darf, gerade auf dem Felde der
Haushaltsausschuss weiter diskutieren und dazu die Fak- Umsatzsteuer. Da müssen wir Hans Eichel unterstützen.
ten zusammentragen. Wenn ihr die Situation im Süden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
verbessert habt, dann habt ihr euch gebessert. Das war DIE GRÜNEN)
aber auch bitter nötig.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht die Kol-
Wir bemühen uns, über das Schuldenmanagement, legin Susanne Jaffke, CDU/CSU-Fraktion.
das eine neue Form bekommen wird, dafür zu sorgen,
dass wir die Schulden noch effektiver abbauen können. Susanne Jaffke (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
Im Haushaltsausschuss werden wir noch über den Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Urbaniak,
schäftsbesorgungsvertrag reden, der die Arbeit dieser In- Sie haben so schön gesagt, der Herr Bundeskanzler sei
stitution, die unter der Kontrolle des Bundesfinanzminis- ausgezeichnet worden. Das ist zugegebenermaßen von ei-
ters steht, konkret regelt. Wir gehen davon aus, dass der ner Institution geschehen, die ich nicht kenne;
Abbau des horrenden Schuldenberges von 1,5 Billio-
nen DM, der durch die Regierung Kohl verursacht wurde, (Hans Georg Wagner [SPD]: Das muss nichts
effektiver erfolgen kann. Hinzu kommt die Verringerung heißen! Henry Kissinger ist ja nicht unbe-
der Nettokreditaufnahme. Ich meine, das sind gute Aus- kannt!)
sichten, um auch das Wirtschaftswachstum in unserem aber ich gehe einmal davon aus, dass er diese Auszeich-
Lande weiter zu beflügeln. nung bestimmt bekommen hat, weil er vorher 14 Tage
Sieht man sich nun speziell den Haushalt des Bundes- Sonderurlaub in den neuen Bundesländern gemacht hat.
finanzministeriums an, dann erkennt man, dass es noch Die Reise war für ihn sicherlich sehr angenehm, weil er
zwei Punkte gibt, die man erwähnen muss: sich von den Problembereichen in den neuen Bundeslän-
dern fern gehalten hat. Wenn irgendjemand mit einem Pla-
Erstens. Wir benötigen eine Reform im Bereich des kat aufgetaucht ist, dann hat er dieses glanzvoll ignoriert.
Zolls, insbesondere in den östlichen Ländern. Daran wird Von den Menschen, die angeblich überall Schlange ge-
gegenwärtig gearbeitet. Erfahrungen haben wir bei der standen haben, war nichts zu sehen. Als er des Nachts kurz
Reform im westlichen Teil der Republik gesammelt, die nach 23 Uhr in meiner Heimatstadt Anklam ankam, wa-
wir für diese Arbeit verwerten können, sodass ich sage: ren weder der Bürgermeister noch der stellvertretende
(B) All dies wird unter dem Gesichtspunkt einer ordentlichen Bürgermeister anwesend. Der Bürgermeister ist zugege- (D)
und sauberen sozialen Flankierung geschehen. Das ist ein benermaßen CDU-Mitglied, der stellvertretende Bürger-
ganz wichtiger Punkt. meister ist bei der SPD; wir gehen da vernünftig mitei-
Zweitens. Beim Branntweinmonopol haben wir es nander um. Diese Personen waren zur Durchreise des
noch immer mit einer Subvention von 260 Millio- Herrn Bundeskanzlers nicht einmal offiziell geladen, was
nen DM – ein erheblicher Betrag – zu tun. An dieser Stelle einen tiefen Einblick auf die Art und Weise des Umgangs
wird weiter abgebaut, der Betrag wird sinken und wir wer- sowohl mit anderen als auch mit den eigenen Genossen
den unser Ziel, dass gerade in Kleinbetrieben und bäuer- gewährt.
lichen Einrichtungen eine Stützung erfolgt, erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU)
Ich bitte also – das ist auch eine Aufforderung an die Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein
Länder –: Kümmert euch mit dem Bund darum, dass wir paar Bemerkungen dazu, wie die Bundesregierung zum
eine effektive Steuerfahndung bekommen. Ich habe hier Aufbau Ost steht. Die vielen Schulden werden ja nun
eine Kleine Anfrage der Kollegin Hasselfeldt, die mich hinlänglich strapaziert. Wenn ich mich dann schon sozu-
beim Studium doch erstaunt hat. Die Kollegin hat im Juli sagen einer Gesamtschuld unterwerfen soll, dann stehe
angefragt, wie nach Wegfall der Grenzkontrollen dem er- ich auch unter einer Gesamtschuld für die deutsche Ein-
höhten Kontrollbedarf im Bereich des Umsatzsteuerbe- heit. Auf die Straße gegangen sind die Leute in den neuen
truges Rechnung getragen werden soll. Die Bundesregie- Bundesländern, in Leipzig, in Dresden und auch in
rung hat geantwortet: Rostock.
1994 wurde in der Steuerabteilung des Bundesminis- (Zuruf von der SPD: Herr Kohl!)
teriums der Finanzen ein eigenständiges Referat für
die Umsatzsteuerkontrolle eingerichtet. Im Zuge der Diese Schuld – dazu steht die ehemalige CDU/CSU-
im Hinblick auf den Berlin-Umzug notwendigen F.D.P.-Koalition – haben wir mit aller Kraft abzutragen
Umstrukturierung der Steuerabteilung im Jahre 1998 und zu ordnen versucht, um daraus für unser deutsches
Vaterland etwas Gutes zu entwickeln.
ist – unter der alten Bundesregierung – dieses Refe-
rat aufgelöst und die Umsatzsteuerkontrolle einem Wenn man heute in den Haushalt schaut, sieht man,
bestehenden Umsatzsteuerreferat angegliedert wor- dass für den Aufbau Ost nicht mehr viel Sympathie da ist.
den. Gleichzeitig wurde die Personalausstattung für Die Mittel für die GA „Regionale Wirtschaftsförderung“
den Bereich der Umsatzsteuerkontrolle reduziert. werden um fast 300 Millionen DM abgesenkt,
Dazu kann man doch wohl sagen: Das ist keine gute Ar- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]:
beit, die da seinerzeit geleistet wurde. Hört! Hört!)
11106 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Susanne Jaffke

(A) der Etatansatz für den Straßenbau (Ost) wird um 207 Mil- worten: Die Schülerbeförderungskosten im ländlichen (C)
lionen DM abgesenkt Raum sind um einen zweistelligen Prozentsatz gestiegen.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ich habe mir gestern noch die Zahlen zu den Kosten-
Hört! Hört!) steigerungen in der Bundesfinanzverwaltung geben las-
sen. Die Kostensteigerungen für die Bundesbehörden und
und die Gelder für Forschungs- und Entwicklungsvorha- die nachgeordneten Einrichtungen bei den Heizkosten,
ben speziell in den neuen Ländern werden um 30 Milli- den Benzin- und Dieselkosten betragen in diesem Jahr
onen DM gekürzt. Abgesehen davon gibt es im Haushalts- 26 Prozent. Das sind die Mehrkosten, die im Einzel-
entwurf auch noch die globalen Minderausgaben; sie plan 08 allein durch die Ökosteuer entstehen.
stehen ja immer ganz am Ende des jeweiligen Einzelpla-
(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Das ist mit Sicher-
nes. Diese globalen Minderausgaben – das wissen wir heit falsch, was Sie sagen!)
sehr genau – können nur bei den freiwilligen Leistungen
erwirtschaftet werden. Sie werden wie in den Jahren 1999 – Diese Zahlen kann ich Ihnen gerne geben. Ich gehe da-
und 2000 jetzt mit Sicherheit wieder den Mittelstand und von aus, dass die Beamten des Bundesfinanzministeriums
die Investitionen in den neuen Bundesländern treffen. überhaupt keinen Anlass haben, irgendwelche falschen
Zahlen zu veröffentlichen.
Noch ein Wort zur Ökosteuer. Diese Ökosteuer wurde
Da der Kollege Urbaniak auch so blumenreich ange-
ja schon reichlich strapaziert. Aber warum gehen Sie ei-
sprochen hat, dass es in der Bundesfinanzverwaltung eine
gentlich nicht auf die besonderen Bedingungen der neuen Strukturveränderung geben soll, gestatten Sie mir noch
Bundesländer ein? Sie ignorieren damit schlicht und er- ein paar wenige Bemerkungen zur Zollstrukturreform.
greifend die anders gelagerte Struktur in den neuen Bun- Es ist natürlich nicht so, dass sich die Zollstruktur in den
desländern. Der seit zehn Jahren andauernde strukturelle neuen Bundesländern in den nächsten Jahren verändern
Wandel in der Wirtschaft hat heute noch nicht für solch wird – ich sage Ihnen ganz ehrlich: Gott sei Dank –; denn
eine Festigkeit gesorgt, dass eine derartig hohe Steuerbe- die Annahmen, die immer gemacht wurden, dass spätes-
lastung aufgefangen werden könnte. tens im Jahr 2002 die Grenzen zu Osteuropa fallen, haben
sich als falsch erwiesen. Das überarbeitete Konzept der
Am ehesten – das können Sie mir glauben – lässt sich
Arbeitsgruppe „Strukturreform“ sieht vor, dass die Struk-
das bei landwirtschaftlichen Unternehmen und bei den turen bis zu einer vollen Mitgliedschaft der Staaten Ost-
Unternehmen, die im Bereich Güterfernverkehr tätig sind, und Mitteleuropas – gerade Polens – erhalten bleiben.
ablesen. In den landwirtschaftlichen Unternehmen ist eine
Entlastung durch die angebliche Senkung von Lohnne- Aber man zerschlägt die Strukturen im Altbundesge-
benkosten wegen der geringen Anzahl von Fremdbe- biet, wovon ich mich unlängst bei einem Besuch in Ba-
den-Württemberg überzeugen konnte. In Horb, das im
(B) schäftigten nicht zu erkennen. Aber die Kosten für Diesel Schwarzwald, in Baden-Württemberg, liegt – wo es sehr (D)
und Strom schlagen in der Landwirtschaft voll durch.
viele mittelständische Firmen gibt, die auf den Zoll als
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Leider Dienstleister angewiesen sind und die zu ihrem Zollamt
wahr!) ein sehr gutes Verhältnis haben –, habe ich erfahren, dass
die Zollämter flächendeckend gestrichen werden. Im Mi-
Die Probleme aufgrund der Kosten, die sich in diesem nisterium gibt es eine Faustformel: Rund 40 Kilometer
Jahr durch die außergewöhnliche Vorsommertrockenheit, hin und zurück, also circa 80 Kilometer, sollte der Radius
die erschwerten Erntebedingungen aufgrund des starken des Einzugsbereiches betragen, für den die Zöllner tätig
Regens und die Aufwendungen für Trocknung ergaben, sind. Dazu kommt noch, dass von den Zöllnern verlangt
werden im nächsten Jahr ein Sterben von Landwirt- wird, dass sie ihren Dienst mit dem privaten PKW leisten.
schaftsbetrieben in einer gewaltigen Größenordnung ver- Wer kann einem Zollbediensteten zumuten, seinen Dienst
ursachen, wenn da nicht gegengesteuert wird. mit dem privaten PKW zu verrichten? Abgesehen davon
verfügen die Zöllner im gesamten Hauptzollamtsbereich
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von über nur einen einzigen Laptop, was schon ein Unding an
der Regierungskoalition, auch bitten: Denken Sie irgend- sich ist.
wann noch einmal an die Einwohner in den Flächenlän-
dern. Gerade die Menschen in Mecklenburg-Vorpom- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das wird
mern, die in diesem sehr dünn besiedelten Bundesland als alles sozialverträglich geregelt!)
Berufspendler lange Wege zur Arbeit zurücklegen müs- Die Fallzahlen, die zugrunde gelegt werden, sprechen
sen, können überhaupt nicht erkennen, dass irgendwelche diesen Überlegungen insgesamt Hohn, weil auch durch
Senkungen von Lohnnebenkosten in kleinem Umfang die neuen Handelsströme, die sich durch E-Commerce er-
– das ist schon häufig beschrieben worden – die Belastung geben, die Dienstleistung des Zolls vor Ort mehr gefragt
durch die Ökosteuer abfangen könnten. Die höheren wird. Sie werden uns immer auf Ihrer Seite haben, wenn
Heizkosten schlagen ebenso zu Buche. Im Übrigen wer- Sie eine Zollstrukturreform durchführen, die Sinn macht.
den sich auch die sozialen Dienstleistungen in den Sie würde dann Sinn machen, wenn es eine so genannte
Flächenländern massiv verteuern bzw. haben sich schon Abschichtung von Aufgaben nach unten gäbe, sodass der
verteuert. „Essen auf Rädern“ und Pflegedienste rechnen Zoll in schlagkräftigen kleinen Einheiten flächendeckend
bei den Kassen heute schon höhere Kosten ab. Eine Ge- vor Ort ist und seine Funktion als Dienstleister für die
sundheitsreform lässt aber weiterhin auf sich warten. Wirtschaft wirklich wahrnehmen kann.

Wenn Sie mich fragen, inwieweit die kommunalen (Beifall bei der CDU/CSU)
Haushalte betroffen sind, kann ich Ihnen darauf nur ant- Darum lassen Sie uns im Haushaltsausschuss kämpfen!
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11107
Susanne Jaffke

(A) Leider ist die Zeit hier immer knapp bemessen. Ich Darüber hinaus möchte ich aber daran erinnern, dass (C)
hätte gern noch etwas zu den so genannten Versprechun- die Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag der
gen, die der Herr Bundeskanzler zur Steuerreform ge- Vertrag mit Polen war. Diesen Punkt dürfen wir nicht
macht hat, gesagt. Dazu kann ich nur wiederholen: vergessen. Damit knüpfe ich an die aktuelle Debatte an.
Vollmundige Ankündigungen, gerade für das Land Meck- Damals gab es nicht die Überlegung, dass über den
lenburg-Vorpommern, wie der Ausbau einer Bahntrasse deutsch-polnischen Grenzvertrag eine Volksabstim-
von Berlin nach Rostock, hat es gegeben. Das ist im Haus- mung stattfinden sollte. Das war gut so. Die Anerkennung
halt bisher nicht aufgetaucht. der deutschen Ostgrenze und der polnischen Westgrenze
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! war die Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Hört!) Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war schließlich die Voraus-
Das gilt auch für das Gaskraftwerk am Standort Greifs- setzung für die Wiedervereinigung in Freiheit. So war die
wald/Lubmin. Dort soll es angeblich Bundesbürgschaften Reihenfolge.
geben. Aber die Antwort von Staatssekretär Otto Ebnet, An diesem Tag möchte ich besonders an die Debatten
SPD, Chef der Staatskanzlei in Mecklenburg-Vorpom- über die schwierigen Fragen der vor uns liegenden politi-
mern, auf die Anfrage meines Kollegen Dietrich schen Integration Europas erinnern. Ich komme nachher
Austermann lautete: Über diese Bürgschaften wurde noch auf diesen Punkt zu sprechen.
überhaupt nicht verhandelt. Ich frage: Was stimmt eigent-
lich? Wir befinden uns jetzt zur Halbzeit der Legislaturperi-
In diesem Sinne kann ich Ihnen nur eines sagen, liebe ode, was einen Rückblick und auch einen Ausblick not-
Kollegen von der Regierungskoalition: Lassen Sie sich wendig macht.
von Ihrer Regierung nicht vorführen, sondern seien Sie Unser Etat stand wie alle anderen Einzeletats unter
endlich einmal kreativ, auch in den Verhandlungen. Neh- dem Zwang knapper Kassen. Eine Trendwende einzulei-
men Sie das Angebot zur Veränderung dieses Haushaltes ten war notwendig. Die neue Koalition hat es sich zur
an! Dann können wir uns vielleicht irgendwann über gute Aufgabe gemacht, die Sanierung des Staatshaushaltes als
Erfolge für Deutschland unterhalten.
einen zentralen Beitrag zur Gesundung der deutschen
Herzlichen Dank. Volkswirtschaft herbeizuführen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Für diese Trendwende gab es viele innenpolitische
Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.] – Hans- Gründe. An erster Stelle stand die hohe Arbeitslosigkeit,
Eberhard Urbaniak [SPD]: Wir machen die nicht länger hingenommen werden konnte. Aber auch
das nach unserer Vorstellung!) aus europa- und außenpolitischer Sicht war und ist es
(B) zwingend notwendig, dass wir die volle ökonomische (D)
Vizepräsidentin Petra Bläss: Weitere Wortmeldun- Handlungsfähigkeit wiedergewinnen, damit wir unsere
gen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Verantwortung im Konzert mit unseren wichtigsten
Bündnispartnern wahrnehmen können.
Wir kommen jetzt zum Einzelplan 05, Geschäfts-
bereich des Auswärtigen Amtes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- und bei der SPD)
minister des Auswärtigen, Joseph Fischer. Obwohl ich als Ressortchef den Kopf für die Einsparun-
gen hinzuhalten habe, sage ich, dass man in Zukunft
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: abwägen muss, ob nicht bei weiteren Einsparungen das
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie Vertrauen, das über Jahrzehnte gewachsen ist, gefährdet
mich zu Beginn dieser heutigen Debatte an einen histo- wird.
rischen Tag erinnern, der für das Schicksal Deutschlands
von entscheidender Bedeutung war. Es handelt sich um Da die Opposition, nachdem sie 16 Jahre die Verant-
den Jahrestag des Zwei-plus-Vier-Vertrages, jenes Ver- wortung für diese Entwicklung hatte, schon nach zwei
trages, der die völkerrechtliche und staatsrechtliche Vo- Jahren Erholungspause – eine sehr kurze Erholungspause,
raussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands ge- die zweifellos noch länger andauern wird, Herr Kollege
schaffen hat. Lamers – anscheinend an Gedächtnisschwund leidet,
kann ich Ihnen nur sagen: Sie hätten die Voraussetzungen
Es war vor allen Dingen das persönliche Verdienst von für Veränderungen in den Jahren Ihrer Regierungsverant-
Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister,
wortung – das ist kein billiges Ablenken auf die 16 Jahre
diesen für die Wiedervereinigung Deutschlands wichtigen
Vertrag mit den Garantiemächten zustande zu bringen. Ihrer Regierungszeit –, spätestens nach der deutschen
Einheit schaffen müssen, sodass wir die Einschnitte in den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vergangenen zwei Jahren nicht mehr gebraucht hätten.
bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Trendwende wäre früher möglich und nötig gewesen,
Ich meine, dass wir an dieser Stelle nicht nur dieses Er- Kollege Lamers. Das wissen Sie so gut wie ich.
eignisses gedenken, sondern ihm auch ganz persönlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
danken sollten. und bei der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CSU]: Ihr habt doch Gedächtnisschwund! Wie
bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) war das mit der Volksabstimmung bei Ihnen?)
11108 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesminister Joseph Fischer

(A) – Zur Volksabstimmung komme ich nachher noch. Wenn – Günter Verheugen war bei mir Staatsminister. Ich (C)
sich CDU und CSU in diesem Punkt mittlerweile auf eine schätze ihn überaus; denn Günter Verheugen macht eine
gemeinsame Position geeinigt haben, freut mich das. Ich kompetente Politik. Gerade bei den Beitrittsstaaten findet
höre dazu höchst unterschiedliche Stimmen. er große Zustimmung. Günter Verheugen hat ohne Wenn
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- und Aber gesagt: Das war ein Fehler; ich bin hier miss-
wie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] verstanden worden.
[SPD]) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Entweder
Ich höre sehr verantwortungsvolle Positionen von der es war ein Fehler oder er ist missverstanden
CDU und die üblichen populistischen Verlautbarungen worden! Billig!)
von der CSU. Wie wir ja wissen, sind sie nicht so ernst ge- Ich finde es richtig, dass ein Politiker, wenn er einen Feh-
meint. Beim Euro haben wir es ja gesehen. ler macht, dies zugibt. Denn dies stellt Vertrauen wieder
(Walter Hirche [F.D.P.]: Populismus ist Ihnen her. Ich würde mir wünschen, dass Sie von der CDU/CSU
aber nicht fremd!) Ihre Fehler genauso offen eingestehen. Wenn das so wäre,
wären wir wesentlich weiter.
Da Sie die Volksabstimmung angesprochen haben:
Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Frage der Ost- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
erweiterung Gegenstand einer Volksabstimmung werden und bei der SPD)
kann? Ich bin nun als Mitglied meiner Fraktion weiß Gott Möge Günter Verheugen mit seiner Ehrlichkeit über
kein Gegner von Volksabstimmungen. Aber es muss sich
Herrn Koch kommen und uns allen wäre sehr gedient!
um abstimmungsfähige Fragen handeln.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wer sagt
DIE GRÜNEN und bei der SPD – Karl Lamers
denn das?)
[CDU/CSU]: Wie ist es mit Österreich? –
Über den Zwei-plus-Vier-Vertrag und auch über den Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]:
deutsch-polnischen Vertrag konnte nicht abgestimmt wer- Wie ist die deutsche Außenpolitik verkommen!
den. Wohl aber kann über weitere Souveränitätsübertra- Es ist nicht zu glauben, Herr Fischer, was Sie
gungen in Richtung der Vollendung der europäischen In- sich hier erlauben!)
tegration abgestimmt werden. Darüber nachzudenken, in
diesem Bereich einen Konsens herzustellen, weil dies – Dass hier ausgerechnet ein langjähriges Mitglied des
eine Verfassungsänderung notwendig macht, halte ich für CDU-Landesvorstandes Hessen von Verkommenheit
richtig. spricht, erstaunt mich, mit Verlaub, sehr, Frau Kollegin.
(B) (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann (D)
loch] [SPD]) [CDU/CSU]: Iris Blaul war der schlimmste Fall
in Hessen!)
Wenn es dafür eine verfassungsändernde Mehrheit gibt,
bedarf dies der sorgfältigen Diskussion und Prüfung. Ich kann mir das bei Ihnen nicht verkneifen. Wir beide
sind Hessen, also Landsleute. Angesichts dessen kann ich
Was wir als Altmitglied der Europäischen Union aber Ihnen nur sagen: Dieser Zuruf von Ihnen schlägt dem Fass
auf keinen Fall machen dürfen, ist, im Rahmen einer nun wirklich den Boden aus.
Volksabstimmung zu entscheiden, ob unsere Nachbarlän-
der Polen oder Tschechien beitreten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS) Meine Damen und Herren, wir stehen in Europa mit
der Erweiterung vor der größten Herausforderung, die die
Denn wenn diese Volksabstimmung Sinn machen soll,
dann müssten wir unseren Bürgerinnen und Bürger sagen: Geschichte uns gestellt hat. Ich habe den Zwei-plus-Vier-
Eigentlich habt ihr über gar nichts abzustimmen. Wenn Vertrag erwähnt. Die deutsche Einheit war das Ergebnis
wir mit Nein stimmen würden, müssten wir die erfolgrei- des Endes der europäischen Teilung. Die jetzige Bun-
che deutsche Außenpolitik der letzten fünf Jahrzehnte, desregierung hat sich ebenso wie die Vorgängerregierung
also auch die CDU/CSU-geführter Regierungen, ad acta immer dafür eingesetzt, dass die Europäische Union nicht
legen. an der ehemaligen Blockgrenze, nicht am ehemaligen Ei-
sernen Vorhang aufhört und dass die europäische Eini-
(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Was für gungsidee gesamteuropäisch ist. Wenn unsere östlichen
ein Quatsch!) Nachbarn Mitglied der Europäischen Union werden wol-
In diesem Punkt wird eine Volksabstimmung nicht ge- len, dann dürfen wir ihnen dies nicht verweigern, und
hen. Sie ist bei diesem Anlass das falsche Instrument. Das zwar nicht nur aus historisch-moralischen Gründen, son-
ist mein Argument dagegen. Das weiß Herr Stoiber sehr dern auch aus deutschem Interesse heraus.
genau. Herr Lamers hat dies sehr klar artikuliert. Unser Handel mit den neuen ost- und mitteleuropäi-
(Karl Lamers [CDU/CSU]: Er hat das nicht ge- schen Demokratien übersteigt heute mittlerweile das
fordert, sondern Herr Verheugen, Ihr Koaliti- Handelsvolumen, das wir als Europäische Union in Bezug
onspartner! – Weiterer Zuruf von der auf die USA und Kanada haben. 40 Prozent davon entfal-
CDU/CSU: Der war doch bei Ihnen Staats- len auf die Bundesrepublik Deutschland. Das führt zu Ar-
minister!) beitsplätzen und Perspektiven für die Menschen hier, vor
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11109
Bundesminister Joseph Fischer

(A) allen Dingen für die Menschen in den neuen Bundeslän- Ich habe bei einem Kommentator, der das sehr herab- (C)
dern. Aus historischen und moralischen Gründen, aber gewürdigt hat, gelesen, es würde sich dabei nur um ge-
auch aus aktuell-politischem Interesse heraus halten wir drucktes Papier handeln. Ich halte das für eine völlig
die Osterweiterung der Europäischen Union für unver- falsche Einschätzung. Das ist der Beginn einer europä-
zichtbar. ischen Verfassung, was die Grundrechte betrifft. Sie regelt
noch nicht die institutionellen Fragen. Deswegen stimme
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ich all denen zu, die fordern, dass in die Verhandlungen
und bei der SPD)
von Nizza die ersten Bestandteile einer europäischen
Nur, es geht hier nicht um abstrakte Versprechungen, Verfassungsdebatte einfließen müssen und diese euro-
sondern ganz konkret um die Umsetzung des Beschlusses päische Verfassungsdebatte nach Nizza in Richtung eines
von Helsinki, darum, in den entsprechenden Verhandlun- umfassenden europäischen Verfassungsvertrags fortge-
gen Nägel mit Köpfen zu machen: Rechtsgebiete müssen führt werden muss. Denn ich bin der festen Überzeugung
übernommen werden; Strukturen müssen angepasst wer- – das ist mein Eindruck aus der Diskussion mit den Men-
den; eine gegenseitige Wettbewerbsfähigkeit muss aufge- schen –, dass ein Gutteil des vorhandenen Eurofrusts von
baut werden. – Diesen Prozess hat Günter Verheugen vo- der Nicht-mehr-Nachvollziehbarkeit, der Intransparenz
rangebracht. Hierbei hat er unser volles Vertrauen. Er wird der Kompromissstrukturen der Staatengemeinschaft
die gute Arbeit, die er meines Erachtens bisher geleistet herrührt, die in Brüssel im bestehenden institutionellen
hat, genauso gut fortführen. Gefüge die Beschlüsse ausarbeitet.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das heißt, wir müssen im Rahmen einer Verfassungs-
und bei der SPD) debatte und eines Verfassungsvertrags klären, was wo
entschieden wird. Diese Frage ist eine Frage der Souve-
Der entscheidende Punkt hierbei ist die Solidität, die
ränitäts- und Machtverteilung zwischen Nationalstaaten,
Art, wie diese Arbeit gemacht wird. Dafür ist die Kom-
zwischen den Ebenen der Länder, der Kommunen und der
mission, dafür sind aber auch die Mitgliedstaaten Garan-
europäischen Ebene. Dies muss so entschieden werden,
ten. Denn wir wollen einen Erfolg. Dort, wo es Ängste
dass die Menschen nicht nur nachvollziehen können, was
gibt, müssen diese Ängste aufgegriffen, dort, wo Auf-
in Berlin geschieht – das ist manchmal schwierig genug –,
klärung notwendig ist, muss Aufklärung betrieben wer-
sondern auch, was in Brüssel geschieht. Das wird der ent-
den. Die Bundesregierung ist entschlossen, dies zu tun,
scheidende Punkt sein.
weil wir das Volk mitnehmen wollen.
Ich habe allen Kollegen beim letzten informellen Tref-
Wir müssen sehen: Der Einwanderungsdruck von der
fen gesagt: Wenn wir diesen Schritt jetzt nicht gehen,
Iberischen Halbinsel ist 1986 nach dem Beitritt geringer
(B) geworden. Wir müssen den Menschen doch sagen: Be- wenn wir nicht mehr Transparenz und Demokratie schaf- (D)
fen, dann sehe ich keine denkbare demokratische Mehr-
züglich des Arbeitsmarktes müssen wir keine Angst vor
heit im Deutschen Bundestag – egal, wie die Zusammen-
Polen, Tschechien und Ungarn, die in die Europäische
setzung der Bundesregierung nach der kommenden
Union eintreten, haben. Es wird die notwendigen Über-
Bundestagswahl sein wird –, die nach 2006 bereit wäre,
gangsfristen und Überprüfungsklauseln geben. Wenn
zusätzliche Belastungen mehrheitsfähig zu machen. Sie
festgestellt wird, dass diese Übergangsfristen nicht mehr
wird es schlicht und einfach deshalb nicht tun, weil es
notwendig sind, weil die Anpassung erfolgreich abge-
dafür kein Verständnis beim deutschen Volk mehr geben
schlossen wurde, kann der Prozess abgekürzt werden –
wird.
wenn nicht, dann nicht.
Auch aus diesem innenpolitischen Grund wird es ganz
Das alles sind Erfahrungen, die bereits bei der Süd-
entscheidend sein, dass wir die Erweiterung als histori-
erweiterung gemacht wurden. Wir müssen aber gleich-
sche Herausforderung begreifen. Wir dürfen keine Ku-
zeitig auch sagen, dass die Süderweiterung eines der
lanzentscheidung treffen. Es darf aber auch keine Verzö-
großen politisch und ökonomisch erfolgreichen Projekte,
gerungen, keine vorgeschobenen Gründe scheinbar
auch was die Arbeitsplätze betrifft, war. Diesen Erfolg
objektiver Natur geben, weil einem ein Mitgliedsland
wollen wir bei der Osterweiterung wiederholen.
nicht passt. Wir müssen die Vertiefung vorantreiben. Das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist die wichtigste Herausforderung, vor der die deutsche
und bei der SPD) Außenpolitik in den kommenden Jahren steht.
Es besteht ein enger Zusammenhang mit der Vertie- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
fung. Diese Debatte wurde Gott sei Dank im Vorfeld von SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Nizza geführt. Ich stimme all denen zu – zumindest unter
Das ist eine Herausforderung, an der man auch klar-
den Pro-Europäern gibt es in allen Fraktionen einen ho-
machen kann, was die Außenpolitik in unserem Land
hen Konsens –, die sagen: Wir werden neben den drei ent-
tatsächlich in den vergangenen zwei Jahren geprägt hat:
scheidenden Punkten – Zusammensetzung und Größe der
Das ist der Wandel in der Kontinuität.
Kommission, Stimmgewichtung und Mehrheitsentschei-
dung – die Frage der verstärkten Zusammenarbeit als Das gilt auch für den Balkan. Natürlich waren all diese
vierten Punkt dazunehmen, wir werden die Frage der An- Elemente schon unter der Vorgängerregierung angelegt:
nahme des Entwurfs für eine Europäische Grundrechte- etwa die Aufstellung des Kontingents zu wesentlichen
Charta aufgreifen. Sie wird der erste Teil einer euro- Teilen, oft kontrovers diskutiert und dann von Teilen der
päischen Verfassung sein. Opposition mitgetragen.
11110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesminister Joseph Fischer

(A) Wir stehen heute vor schwierigen Entscheidungen. Wir können. Aber wir müssen es tun. Das ist eine der ganz zen- (C)
hoffen – obwohl wir wissen, dass Milosevic alles tun tralen Herausforderungen.
wird, um die freie Willensäußerung des serbischen
Die Frage der Zukunft Russlands ist eine zweite, uns
Volkes, wenn es denn dazu kommt und eine Mehrheit für
sehr bedrängende Frage. Voraussetzung wird sein, dass es
ihn nicht in Sicht ist, zu verfälschen –, dass alles getan
gelingt, dort dem Rechtsstaat zum Durchbruch zu verhel-
wird, damit die demokratische Opposition einen Erfolg
fen. Das ist das A und O auch für die ökonomische Stabi-
hat, und wir hoffen vor allen Dingen, dass die Diktatur
lisierung.
von Milosevic in Belgrad keine Zukunft hat, sondern auch
in Belgrad Demokratie einziehen wird. Das ist der ganz Weitere Fragen betreffen die neuen Konfliktregionen
entscheidende Punkt. in Zentralasien, den neuen Krisengürtel, der mit dem nu-
klearen Rüstungswettlauf auf dem indischen Subkonti-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nent bis nach Südasien reicht, ferner die Chancen für die
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Europäische Union im Nahen Osten und im Mittelmeer-
F.D.P.)
raum sowie unsere Rolle in den Vereinten Nationen.
Die Entwicklung in Montenegro steht damit in engem
Ich nenne auch noch Afrika, diesen scheinbaren Kon-
Zusammenhang. Wir müssen alles tun, um die demokra-
tinent der Hoffnungslosigkeit, bei dem wir allerdings die
tische Regierung von Präsident Djukanovic vor allen
Hoffnung nicht aufgeben dürfen, weil er direkter Nachbar
Dingen ökonomisch zu stabilisieren. Der Versuch von
ist und wir auch dort eine tief empfundene humanitäre
Milosevic geht dahin, den Rückhalt im montenegrini-
Verpflichtung haben. Wir müssen vor allen Dingen die
schen Volk für den gewählten Präsidenten und seine Re-
Chancen, die es dort gibt, sehen und fördern. All das sind
gierung zu unterminieren, indem die Wirtschaft, indem
Punkte, die noch diskutiert werden müssten.
die sozialen Verhältnisse entsprechend negativ beeinflusst
werden. Hier können wir unseren Beitrag leisten, hier Ich möchte jedoch einen letzten Punkt ansprechen. Das
müssen wir unseren Beitrag leisten. Ich denke, das ist ist die jetzt getroffene Entscheidung der 14 Mitgliedstaa-
unter Präventivgesichtspunkten von ganz entscheidender ten der Europäischen Union zu Österreich. Was hat man
Bedeutung. dazu in den letzten Tagen nicht alles an triumphierenden
Äußerungen – die Forderung, man möge sich entschuldi-
Aber auch im Kosovo wird es darum gehen, einen lan-
gen, und Ähnliches – gehört! Da kann ich nur fragen: Für
gen Atem zu haben. Ich höre immer die Frage nach der
was denn?
Exit-Strategie. Jüngst habe ich ein hochinteressantes
Buch über die amerikanische Nachkriegsgeschichte gele- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
sen. Kollege Lamers, die erste Debatte im Kongress über wie bei Abgeordneten der SPD – Walter Hirche
(B) die Exit-Strategie in Bezug auf Europa fand 1946 statt. Da [F.D.P.]: Das wäre notwendig!) (D)
ging es los: dieselben Argumente, dieselben Sätze, diesel-
– Entschuldigung, einen Teufel werde ich tun.
ben Worte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir müssen ge-
meinsam mit unseren Partnern die Dickschädeligkeit, den (Walter Hirche [F.D.P.]: Schlimm genug!)
langen Atem, aber auch die Entschlossenheit haben, diese
Ich sage Ihnen: Sie müssen den Bericht der Drei Wei-
Region, die Teil Europas ist, an Europa heranzuführen
sen einmal lesen.
und dann, wenn sie es will, langfristig in Europa hinein-
zuführen. Oder diese Region wird aus dem Teufelskreis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
von Gewalt und einem aggressiven mörderischen Natio- und bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/
nalismus nicht herauskommen. CSU]: Wer?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich hatte nie Zweifel daran. Für mich war das überhaupt
und bei der SPD) keine Frage. Ich zweifle nicht am Rechtsstaatlichkeits-
charakter der Republik Österreich.
Hier möchte ich allen Beteiligten, der Bundeswehr,
den eingesetzten Polizeibeamten, den Zivilbeamten, den (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ach was!)
Nichtregierungsorganisationen, meinen nachdrücklichen
– Was, ach was? Das war nie die Frage. Die Frage war,
Dank aussprechen. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundes-
warum die FPÖ von der ÖVP in die Regierung geholt
tag an seiner vollen Unterstützung für die Fortführung
wurde. Die Frage ist die nach dem Charakter der FPÖ.
dieser einst gemeinsam beschlossenen Politik festhält.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der – Lesen Sie einmal das Gutachten der Drei Weisen, das
F.D.P.) FPÖ-Kapitel, durch. Wenn Sie das lesen, wird Ihnen jedes
Triumphgeheule ersterben.
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe
von Themen, die ich angesichts der abgelaufenen Rede- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
zeit nicht mehr ansprechen kann. Ich möchte in diesem bei der SPD und der PDS)
Zusammenhang nur einige erwähnen.
Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesregie-
Es wäre wichtig, noch über die Erneuerung des trans- rung unterstützt gemeinsam mit den anderen Partnern voll
atlantischen Verhältnisses zu sprechen, wobei wir dies im das Vorgehen der französischen Präsidentschaft. Wir wer-
Lichte der Wahlentscheidung vermutlich profunder tun den hier umgehend die Konsequenzen aus dem Gutachten
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11111
Bundesminister Joseph Fischer

(A) ziehen. Das Gutachten ist entsprechend umzusetzen. des wider. Diese nämlich hängen immer mehr – das wis- (C)
Dazu brauchen wir überhaupt nicht die schönen Lippen- sen wir doch alle – von Wohl und Wehe all unserer Nach-
bekenntnisse über Verteidigung der Demokratie oder gar barn im engeren wie im weiteren Sinne ab.
über die Vollendung der politischen Integration Europas
Die Bedeutung der Außenpolitik für Sicherheit und
in den Mund zu nehmen. Wir müssen festhalten, dass eine
Wohlergehen der Völker hat in dieser einen, immer enger
Partei, die ganz offensichtlich Fremdenfeindlichkeit zum zusammenwachsenden Welt generell zugenommen. Für
Bestandteil ihres Programms – zumindest in Wahlkämp- Deutschland, wie wir alle völlig übereinstimmend sagen,
fen – erklärt und die ein dubioses Verhältnis zur national- gilt das doch in ganz besonderer Weise.
sozialistischen Vergangenheit hat, in einem vereinten
Europa als Regierungspartei nicht selbstverständlich sein Es geht heute um Sicherheit im umfassenden Sinne und
darf. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. damit in der Tat um existenzielle Fragen, um existenzielle
Abhängigkeiten. Das Bewusstsein von der Globalität,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, von der einen Welt, von der wechselseitigen existenziel-
bei der SPD und der PDS) len Abhängigkeit ist in allen westlichen Gesellschaften
Deswegen, meine Damen und Herren, gibt es an die- nicht gut entwickelt, in der deutschen ganz besonders we-
sem Punkt nichts zu entschuldigen, sondern es gibt jeden nig. Das mache ich Ihnen natürlich nicht zum Vorwurf,
Grund, genau hinzuschauen, wie es die Drei Weisen vor- Herr Minister. Ich mache Ihnen aber zum Vorwurf, dass
geschlagen haben. Das werden wir auch in Zukunft tun. Sie, indem Sie überhaupt nicht gekämpft haben, es den
Leuten noch weiter erschweren, zu erkennen, wie abhän-
Ich bedanke mich. gig wir eigentlich sind. Wie sollen die Bürger denn ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gefühl für diese Abhängigkeit entwickeln, wenn Sie zwar
und bei der SPD) heute sagen: „So geht es nicht weiter“ – wie auch auf der
Botschafterkonferenz –, das aber zum ersten Mal tun? Das
kann man beim allerbesten Willen doch nicht „kämpfen“
Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die CDU/CSU- nennen.
Fraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.
Indem Sie die Vorgängerregierung beschimpfen, wol-
len Sie nur davon ablenken, dass Sie nicht gekämpft ha-
Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte ben, Herr Minister. Sie sind doch angetreten mit dem Vor-
Kolleginnen und Kollegen! Die Lautstärke, mit der der satz, nicht alles anders, sondern alles besser zu machen.
Minister die Blamage, die er mit verschuldet hat, hier um- Sie machen es nicht besser, sondern Sie machen es
zudrehen versucht, den Vorgang als gerechtfertigt hinzu- schlechter.
(B) stellen versucht, kann natürlich beim allerbesten Willen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (D)
nicht verdecken, dass Sie, Herr Minister, nicht nur den bi-
lateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Bun- Das ist nichts als die Wahrheit.
desrepublik Deutschland, sondern auch der europäischen
Sache schweren Schaden zugeführt haben. Sie haben gesagt: Deutschland wird öfters gefordert
sein. – Ja, natürlich. Deutschland wird in globalem Um-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – fang gefordert sein. Die Folgen der von Ihnen ange-
Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kündigten strategischen Überprüfung unserer nationalen
NEN]: Keine Krokodilstränen! – Weiterer Zu- Interessen werden mit Sicherheit mehr Geld kosten. Der
ruf von der F.D.P.: Und dieses Trotzkopfverhal- Außenminister wird aber im nächsten Jahr real weniger
ten hier dazu!) Geld zur Verfügung haben als im letzten Jahr. Wenn Sie
Das ist ja nun wirklich nicht nur unser Urteil. In der das als einen Ausweis Ihrer Stellung in der Regierung
„Neuen Zürcher Zeitung“ von Montag ist die Rede von ansehen, dann habe ich dieser Aussage nichts hinzuzufü-
der politischen Sprengkraft, von der Fragwürdigkeit des gen.
Vorgehens, von der groben Missachtung der Verpflich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
tungen gegenüber einem Mitgliedstaat unter bewusster der F.D.P.)
Umgehung der Institutionen und einschlägiger Bestim-
mungen des Unionsvertrages; rechtlich mehr als fragwür- Herr Minister, wenn Sie nicht kämpfen, vielleicht weil
dig, in jeder Beziehung unsäglich. Sie sollten wirklich Sie zu verlieren drohen, dann können Sie nicht erwarten,
versuchen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun – auch dass Sie die Unterstützung der Öffentlichkeit, in diesem
Falle auch die Unterstützung der Opposition, bekommen.
im Interesse der eigenen Regierung – um die Sanktionen
Sie brauchen aber die Unterstützung aller politischen und
jetzt ohne weiteres Hakenschlagen oder Nachkarten und
gesellschaftlichen Kräfte.
ohne Bedingungen einzustellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Sie gehen nicht mit gutem Vorbild voran. Dennoch
schlage ich Ihnen vor, einmal zu überlegen, ob nicht Par-
Zuruf von der F.D.P.: Nachzugeben!)
lament und Regierung gemeinsam eine Gruppe von sach-
Wir reden heute über den Haushalt. Wenn der Haushalt verständigen und engagierten Frauen und Männern ein-
der Ausdruck der Prioritäten ist, die sich ein Land setzt, setzen sollten, die so konkret wie möglich abzuschätzen
dann setzt diese Regierung die Prioritäten falsch. Denn sucht, welche Mittel für die Außenpolitik adäquat wären
der Entwurf des Bundeshaushalts spiegelt nicht die lang- und den gestiegenen Anforderungen, von denen wir alle
fristigen, die wirklich nationalen Interessen unseres Lan- übereinstimmend reden, einigermaßen entsprächen. Ich
11112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Karl Lamers

(A) weiß, der Umgang der Regierung mit Kommissions Aber das alles zeigt doch, dass Sie sich hier hoffnungslos (C)
ergebnissen – Stichwort: Von-Weizsäcker-Kommission – verheddert haben, und gibt Aufschluss über die Stellung
ist nicht gerade ermutigend. Denn ohne eine Debatte über des grünen Außenministers in dieser Bundesregierung.
das Ergebnis einer Kommission ist ihre Einsetzung sinn-
los und nichts als eine Alibiübung. So verstehe ich das Im Übrigen wird die Sache noch absurder, wenn man
Ganze nicht. Ich mache das ernsthafte Angebot, dass wir sich vor Augen führt, dass die Türkei, auch wenn sie sich
einmal überlegen: Welche Mittel müssen in Zukunft für für das französische oder das amerikanische Produkt
die Außenpolitik zur Verfügung gestellt werden, wenn sie entscheidet, ein im Kern deutsches Produkt bekommt;
wirklich den Interessen unseres Landes gerecht werden denn das, was einen Panzer ausmacht – Mobilität und
soll? Feuerkraft –, ist in beiden Fällen deutsche Technik.
Schlimmer als das Hickhack bei dieser Angelegenheit
Das gilt natürlich auch für die von Ihnen zu Recht ge- kann es gar nicht sein, die in ihrer Bedeutung von mir
plante Reform des auswärtigen Dienstes. Wir werden nicht überschätzt wird, die aber doch einiges über den Zu-
dieses Projekt konstruktiv begleiten, wenn Sie es wollen. stand der Regierung beim Thema Türkei aussagt.
Aber auch hier wird es Geldes bedürfen.
Im Übrigen ist das Thema der Waffenlieferung in die
Die Bilanz der bisherigen Regierungspolitik auf dem Türkei ein letztes Fingerhakeln in Sachen Menschen-
auswärtigen Feld ist jedenfalls nicht sonderlich glänzend. rechte. Dieses Thema hätte ich vielleicht mit dem Mantel
Mir ist unklar, welche Stellung der Außenminister in des Schweigens gnädig zugedeckt, wenn nicht der Bun-
dieser Regierung hat. Zuweilen entsteht der Eindruck, deskanzler die Chuzpe, um nicht zu sagen die Dreistigkeit
Sie, Herr Fischer, seien zuständig für Moral und Vision besessen hätte, auf der erwähnten Botschafterkonferenz
und der Bundeskanzler für die Politik. Vielleicht ent- wörtlich zu behaupten: „Das Engagement für die Men-
spricht diese Aufgabenteilung der Art, mit der allein sich schenrechte steht auf der Prioritätenliste dieser Regierung
diese Koalition zusammenhalten lässt. Dabei frage ich weit oben.“
mich allerdings, wie lange es Ihre Fraktion noch mit-
macht, wenn Sie sich beispielsweise – ein sehr typischer Sie, Herr Fischer, waren so klug, das Thema Men-
Fall – im Bundessicherheitsrat in der Frage der Rüstungs- schenrechte in Ihrer Rede bei derselben Gelegenheit
exporte überstimmen lassen. Ihre Fraktion muss sich fra- gewissermaßen nur kursorisch zu erwähnen, wohl wis-
gen, ob Sie sich nicht gerne überstimmen lassen. send, dass die Behauptung Schröders nun wirklich durch
(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gar nichts zu belegen ist und dies eine offene Wunde in
NEN]: Das ist aber eine Unterstellung, Herr Ihrer Fraktion ist.
Lamers!) Wo konnte man denn, um nur zwei Beispiele zu nen-
(B) Die Entscheidung zur Lieferung der Munitionsfabrik in nen – Tschetschenien und China –, etwas von der be- (D)
die Türkei müsste auch den Weg zur Lieferung des Leo- haupteten Priorität der Menschenrechte spüren? Nichts
pard-2-Panzers ebnen, wenn sich die Türkei für dessen konnte man spüren. Auch Sie haben in der Opposition und
Kauf entschiede. Das wäre doch eigentlich ganz logisch. zu Beginn Ihrer Amtszeit behauptet, dass sich die gesamte
Deshalb wird in der Koalition dieser Streit geführt. Die Außenpolitik an den Menschenrechten orientieren müsse.
SPD scheint sich nun aber die Zusage zur Munitionsfa- Heute reduziert sich dieses Streben auf die erwähnten
brik mit der Absage der Leopard-Panzerlieferung er- grotesken Klimmzüge in der Frage der Waffenlieferung in
kaufen zu wollen. Die Inkonsequenz und die Doppel- die Türkei.
züngigkeit der deutschen Türkeipolitik können nicht
Ich war – das will ich gerne einmal heute sagen –
klarer zum Ausdruck gebracht werden.
ebenso gespannt wie skeptisch, ob es Ihnen gelingen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) würde, der deutschen Außenpolitik einen stärkeren men-
schenrechtlichen Stempel aufzudrücken. Sie kennen mich
Herr Fischer, wenn man der Türkei als NATO-Partner
gut genug, um mir zu glauben, wenn ich sage: Ich hätte
nicht einmal eine Munitionsfabrik liefern möchte, obwohl
sie damit eine NATO-Vorgabe erfüllen möchte, dann stellt keine Probleme gehabt, dies auch öffentlich anzuerken-
sich natürlich die Frage, ob sie überhaupt NATO-würdig nen, wenn Ihnen dieses Kunststück gelungen wäre.
ist. Wenn sie aber nicht NATO-würdig ist, dann ist sie In Ihrer Oppositionszeit haben Sie uns, die damalige
doch erst recht nicht EU-würdig. Das passt doch beim Regierungskoalition, in einer Art und Weise angegriffen,
allerbesten Willen vorne und hinten nicht zusammen. von der ich heute gerne gestehe, dass sie mir oft wehge-
(Beifall bei der CDU/CSU) tan hat, und zwar nicht, weil jeder sachliche Anlass Ihrer
Kritik gefehlt hätte, sondern weil Sie den Eindruck er-
Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der weckt haben, als fehle es uns nicht nur an gutem Willen,
Grünen, im Übrigen haben diejenigen, die, um die Muni- sondern als hätten wir kein Herz im Leibe, als würden wir
tionsfabrik zu verhindern, darauf hingewiesen haben, nicht unter dem Dilemma von Menschenrechten und den
dass Gewehre im Hinblick auf den Kurdenkonflikt ge- realen Möglichkeiten der Politik leiden.
fährlicher seien als Panzer, ein besonders gutes Argument
für die Lieferung der Panzer gebracht. Das war ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
gewiss nicht Ihre Absicht. Heute, Herr Minister, habe ich den Eindruck, dass Sie
(Walter Hirche [F.D.P.]: Daraus wird ein Schuh! nicht einmal unter diesem Dilemma leiden. Jedenfalls
Gewehre sind in diesem Zusammenhang viel habe ich es noch nie gespürt. Nicht nur ich frage mich,
problematischer!) welche Folgen es für die Identität und die Zukunft der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11113
Karl Lamers

(A) Grünen hat, nachdem sie während des Kosovokrieges Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Lamers, (C)
vom Pazifismus und mit dem Pseudoatomausstieg von Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
dem Kern- und Symbolthema ihrer Umweltpolitik Ab-
schied genommen haben. Herr Schröder steht bereit, sie Karl Lamers (CDU/CSU): Ich weiß das, Frau Präsi-
zu beerben. Darin sieht er auch einen wesentlichen Zweck dentin. – Mir lag daran, Ihnen auch diesen Gedanken mit
der Koalition mit Ihrer Partei. Allerdings wird er mit besonderem Nachdruck ans Herz zu legen. Ich glaube –
Sicherheit auch noch erleben, welche Folgen seine Politik insofern sind wir ja einer Meinung –, dass dies in der Tat
für den linken Flügel seiner eigenen Partei haben wird. eine der Schicksalsfragen für die Europäische Union und
(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist wahr!) natürlich vor allen Dingen für unser Land ist.
Das Thema Europa wird heute noch näher vom Kolle- Wenn Sie eine solche Politik mit mehr – ich möchte
gen Hintze behandelt werden. Ich will mich nur auf einen nicht sagen: Engagement – Realitätssinn verfolgen, dann,
Aspekt beschränken. Sie, Herr Minister, haben in Ihrer Herr Minister, haben Sie unsere Unterstützung, aber nicht,
Rede vor der Botschafterkonferenz davon gesprochen, wenn Sie aus koalitions- und parteiinternen Gründen
dass Sie hofften, im Jahre 2005 die ersten Beitrittsländer einen solchen Hickhack veranstalten wie bei den Themen,
in der Europäischen Union begrüßen zu können. Der Bun- die ich eben erwähnt habe.
deskanzler hat bei derselben Gelegenheit an dem Zielda- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
tum 2003 festgehalten.
(Gernot Erler [SPD]: Ohne Ratifizierung!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Der nächste Redner ist
– Nein, davon war nicht die Rede, Herr Kollege Erler. – der Kollege Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
Auch hier wäre ganz gewiss eine bessere Koordinierung
wünschenswert gewesen. Nun weiß ich, dass Ihre Sicht Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
der Dinge, Herr Minister, wahrscheinlich die realisti- ginnen und Kollegen! Die Bundesregierung präsentiert
schere ist. Ich weiß sehr wohl, dass hinter verschlossenen sich bei dieser Haushaltsdebatte mit einer positiven Leis-
Türen allenthalben auch in Brüssel über dieses von Ihnen tungsbilanz zur Halbzeit. Zu der hat auch die deutsche
genannte Datum gesprochen wird. Es ist sowohl die Folge Außenpolitik, haben auch die Aktivitäten der Bundesre-
unzureichender Reformfähigkeit der Beitrittsländer als gierung in der internationalen Politik beigetragen. Die Ba-
auch unzulänglicher Aufnahmefähigkeit der Europä- sis dafür ist die gute Zusammenarbeit zwischen dem Aus-
ischen Union – nicht nur, was die institutionelle Reform wärtigen Amt und dem Parlament, sind die koordinierten
angeht, sondern auch die finanziellen Voraussetzungen, Aktivitäten von Regierung und Regierungsfraktionen,
(B) von denen wir von Anfang an gesagt haben: Sie sind durch aber auch die im Kern derzeit nicht gefährdete Haltung (D)
die Agenda 2000 nicht geschaffen worden. Das wird ja eines Grundkonsenses zwischen allen Fraktionen in die-
jetzt indirekt von Ihnen und direkt von Brüsseler Kom- sem Raum.
missaren bestätigt. Herr Kollege Lamers, an diesem Eindruck haben Sie
Wenn diese Perspektive aber richtig ist, dann wissen durch Ihre – entschuldigen Sie – etwas lustlos vorgetra-
wir alle, welche Gefahren damit verbunden sind: ein gene Kritik in kleiner Münze nichts ändern können. Der
Nachlassen der Reformbereitschaft, tiefe Enttäuschungen Grundkonsens wird nicht beschädigt, wenn Sie etwas zu
bei unseren Nachbarn. Deswegen bitte ich, wirklich ein- Österreich sagen, ein bisschen zu etwas mehr Geld, wobei
mal zu überlegen – ein Gedanke, den Kollege Scharping Sie wieder nicht sagen, woher es kommen soll, und dann
und ich schon zu Beginn der 90er-Jahre zum Ausdruck ge- noch das Thema Rüstungsexporte antippen.
bracht haben –, ob es angesichts dieser Tatsachen, die ja Lokomotive dieses Erfolges ist der Außenminister
letzten Endes im wirtschaftlichen Bereich liegen, nicht selbst. Das kann er nur durch die tüchtige Arbeit von vie-
angemessen ist, eine Art politische Mitgliedschaft der len tausend Mitarbeitern, im Hause wie auch im Ausland.
Beitrittsländer ins Auge zu fassen, sie dort zu beteiligen, Ich finde, dafür muss man auch einmal Dank und Aner-
wo man sie beteiligen kann und wo wir sie, beispielsweise kennung in dieser Debatte aussprechen.
bei der Innen- und Justiz- sowie bei der Migrationspolitik,
dringend brauchen. Wir brauchen sie aber ebenfalls bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Verteidi- DIE GRÜNEN)
gung, sicher auch bei der Diskussion um einen Verfas- Der Lohn ist – auch das scheint Ihnen entgangen zu sein,
sungsvertrag, von dem auch Sie eben gesprochen haben. Herr Kollege Lamers – eine sehr breite, eine erstaunlich
Dieses große Projekt, das wir unverändert als ganz ent- breite Zustimmung der Bevölkerung für die Außenpolitik
scheidend für die innere Balance der Europäischen Union und für den Außenminister.
und für die Stabilität auf unserem ganzen Kontinent anse-
hen, darf nicht gefährdet werden durch eine tiefe Ent- Im Gegensatz zu Ihnen stelle ich für die SPD-Bun-
täuschung. destagsfraktion fest, dass die rot-grüne Regierung die
richtigen Prioritäten setzt. Es ist richtig, jetzt das Haupt-
Im Übrigen würde ein solches Vorgehen, wie ich es augenmerk – das haben wir gerade wieder gehört – auf
angedeutet habe, auch ermöglichen, zwischen den Bei- den Erfolg bei den strukturellen Reformen und beim Ver-
trittsterminen zu differenzieren, ohne bei anderen den trag von Nizza zu legen, zugleich die Osterweiterung
Eindruck der Diskriminierung hervorzurufen. sorgfältig vorzubereiten und Frankreich bei seiner
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Gernot Erler

(A) wahrscheinlich historischen Aufgabe im Rahmen der Wir nehmen viermal so viel Steuern pro Liter (C)
gegenwärtigen Präsidentschaft zu unterstützen. Herr wie die Förderländer!)
Außenminister, wir freuen uns, dass Sie jetzt – dabei wer-
– Hier handeln Sie schon wieder mit kleiner Münze.
den wir Sie unterstützen – mit guten Argumenten für die
Osterweiterung noch mehr in die Öffentlichkeit gehen (Walter Hirche [F.D.P.]: Es geht schon um
wollen. Entwicklung!)
(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen Schließlich nenne ich den letzten Punkt der Prioritäten:
[Wiesloch] [SPD]) Inzwischen ist unbestritten, dass die Entscheidung über
das Holocaust-Denkmal, unsere Beschlüsse zum Zwangs-
Es ist unverzichtbar, bei den Bemühungen um eine Sta-
arbeiterabkommen und die Art, wie sich die Deutschen
bilisierung in Südosteuropa keinen Moment nachzu-
mit dem Rechtsradikalismus im eigenen Land auseinan-
lassen, neue Perspektiven auch im Sinne der europäischen
der setzen, eine internationale und kaum zu überschät-
Integration dieser Länder für diese Region zu schaffen
zende Wirkung und Bedeutung haben. Aber besonders im
und dafür die Möglichkeiten des von Deutschland
Hinblick auf den Kampf gegen den Rechtsradikalismus
angestoßenen Stabilitätspaktes voll zu nutzen. Es ist
wäre es fatal, diese Aufgabe auf eine Standortfrage zu re-
vernünftig – das ist eine weitere Priorität –, die Instrumen-
duzieren. Gerhard Schröder hat bei seiner Rede vor den
te präventiver Politik zu erweitern und sie zum Beispiel
deutschen Botschafterinnen und Botschaftern am 4. Sep-
intensiv in jener konfliktreichen Zone anzuwenden, die
tember, die eben schon zitiert wurde, hierzu eine gute Po-
vom Nahen Osten über den Kaukasus bis hin zum Kaspi-
sition formuliert, die ich zitieren möchte:
schen Meer reicht. Hier geht es um die nächsten Be-
währungsproben einer vorausschauenden Friedenspoli- Ausländerfeindlichkeit und neonazistische Gewalt
tik. Deshalb wollen wir, dass Barak und Arafat zu einer werden wir in Deutschland nicht dulden. Hierzu ver-
Friedenslösung kommen. Deshalb wollen wir nicht nur, pflichten uns nicht nur historische Gründe. Es geht
dass im Kaukasus die Kampfhandlungen auslaufen, son- auch nicht allein um den Ruf unseres Landes im Aus-
dern auch, dass dort Konzepte einer politischen Stabilität land, um Investoren aus dem Ausland oder dringend
für die ganze Region Raum greifen. benötigte Spitzenkräfte für Wirtschaft und Wissen-
schaft. Nein, es geht um ein elementares Prinzip un-
(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen
serer Demokratie. Wir dürfen nicht an den Grund-
[Wiesloch] [SPD])
werten unserer Gesellschaft rütteln lassen. Wenn
Deshalb wollen wir, dass soziale, wirtschaftliche und po- Grundrechte wie Menschenwürde und körperliche
litische Dämme gegen eine Ausbreitung des gewaltberei- Unversehrtheit nicht für alle Bürger, also auch für
ten islamischen Fundamentalismus in Zentralasien und in die ausländischen Mitbürger, gleichermaßen gelten,
(B) der kaspischen Region errichtet werden. dann ist unsere Werteordnung in ihrem Keim gefähr- (D)
det.
Es ist gut, dass der Bundeskanzler in New York die
deutsche Unterstützung für eine handlungsfähige Welt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
organisation zum Ausdruck gebracht hat. Der deutsche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Beitrag zur Stärkung der Vereinten Nationen ist aus der Das ist eine hervorragende Position, die ich von unserer
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion noch ein bisschen Seite ausdrücklich unterstütze.
wichtiger als der Titel „Weltstaatsmann“, den der Bun-
deskanzler mitgebracht hat und zu dem wir ihm gleich- Meine Damen und Herren, Deutschland ist heute ein
wohl herzlich gratulieren. verlässlicher und anerkannter Partner in der interna-
tionalen Politik. Für die Bürger der Hauptstadt wurde
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das zuletzt sichtbar in den großen Staatsbesuchen von
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Clinton, Blair, Chirac, Putin, Zhu Rongji, Khatami und
Es ist notwendig, dass wir die Arbeit der Weltorganisa- vielen anderen.
tion durch Beiträge zu einer gerechteren Weltwirtschafts- Manchmal kann Ansehen und Einfluss des Heimatlan-
ordnung erleichtern. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der des auch für einen einzelnen Bürger Bedeutung bekom-
Bundeskanzler eine deutsche Beteiligung an Kofi Annans men. Wir freuen uns, dass die Bemühungen der Bundes-
Initiative angekündigt hat, die Zahl der Menschen, die am regierung um die Freilassung der Familie Wallert zum
stärksten in Armut leben, weltweit bis zum Jahr 2015 zu Schluss von Erfolg gekrönt wurden. Wir danken allen
halbieren. Das ist die vernünftige Fortsetzung der Kölner daran Beteiligten und auch der Republik Libyen für ihre
Entschuldungsinitiative, die eine Erweiterung auf dem Unterstützung. Ich finde, dass ebenfalls die Familie
G8-Gipfel in Okinawa erfahren hat. Wallert selbst, die unter größter Belastung ein Höchstmaß
Aus aktuellem Anlass füge ich, besonders an die rechte an Übersicht und Selbstkontrolle bewahrt hat, hier Dank
Seite des Hauses gerichtet, hinzu: Es kann nicht angehen, und Anerkennung verdient.
dass wir die Explosion der Rohölpreise auf dem Welt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
markt nur durch die Brille des deutschen Verbrauchers an DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
der Zapfsäule betrachten, anstatt uns auch um die Exis- CDU/CSU und der F.D.P.)
tenzgefährdung von Millionen von Menschen zu küm-
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesre-
mern, die ein Dauerhochpreis für Brennstoffe auslöst.
gierung in allen Hauptaufgaben der internationalen Poli-
(Beifall bei der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: tik, setzt selbst aber auch eigene Schwerpunkte. In dieser
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11115
Gernot Erler

(A) Haushaltsdebatte haben wir die drei wichtigsten zu nen- bei einer solchen fundamentalen Weiterentwicklung Eu- (C)
nen: Besondere Prioritäten haben für uns die erfolgreiche ropas. Unerwartet schnell hat sich im letzten Jahr der
Umsetzung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, die Hohe Repräsentant Javier Solana eine eigene Stellung
parlamentarische Begleitung der Entwicklung einer Ge- aufgebaut; zudem existieren inzwischen in der Umset-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europä- zung der Beschlüsse von Helsinki ein ganzes Bündel von
ischen Union, der so genannten GASP, und eine eigene neuen Institutionen der GASP, und zwar sowohl militäri-
Initiative zur öffentlichen Information und Argumenta- sche als auch nicht militärische. Wir haben Gespräche mit
tion in Sachen Osterweiterung der EU. Einzelheiten hi- allen unseren Schwesterparteien und mit Herrn Solana in
erzu wird nachher mein Kollege Günter Gloser vortragen. Brüssel geführt und dabei festgestellt: Es wird noch ein
Der Stabilitätspakt ist und bleibt der große Test für die langer Weg sein, bis die verschiedenen Kulturen bei der
Fähigkeit Europas zu einer langfristigen, auf Inklusion Aufgabe von Souveränitätsrechten zusammenkommen
und Kooperation abzielenden präventiven Friedenspoli- werden.
tik. Der EU-Sonderbeauftragte Bodo Hombach leistet Uns ist hierbei besonders wichtig, dass nicht militäri-
– das ist längst europaweit anerkannt – mit einem erstaun- sche Initiativen und Institutionen nicht zurückbleiben.
lich kleinen Team eine erstaunlich umfangreiche und Dies bedeutet die Verstärkung der präventiven Fähig-
wirksame Arbeit. keiten im Rahmen der GASP. Unsere Fraktion wird hierzu
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei im Herbst einen ausführlichen Bericht vorlegen.
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Es gibt einen Schwerpunkt bei dem Aufbau präventiver
GRÜNEN) Fähigkeiten und der muss sich auch in Haushaltsentschei-
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt und begleitet dungen niederschlagen.
diese Arbeit durch eine spezielle Arbeitseinheit. Wir ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ben den Anstoß dazu gegeben, in das vielgliedrige Ge- DIE GRÜNEN)
bäude des Stabilitätspakts auch ein parlamentarisches
Stockwerk einzuziehen, unter anderem durch die Organi- Nach meiner Meinung verträgt sich eine Kürzung um
sation und Durchführung von zwei Parlamentarierkonfe- 20 Millionen DM in diesem Bereich nicht mit der ange-
renzen: die erste im Oktober letzten Jahres in Berlin und sprochenen Prioritätensetzung. Auch hier werden wir uns
die zweite im Juni dieses Jahres in Dubrovnik. kräftig einsetzen, um eine Korrektur zu erreichen.
Wir freuen uns, dass unser Staffelstab inzwischen auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
von anderer Seite aufgenommen wurde. Gerade heute und DIE GRÜNEN)
(B) morgen findet in Zagreb ein Gipfel aller Parlamentspräsi- Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Kollege (D)
denten der Stabilitätspaktstaaten statt, an dem unter an- Gloser etwas zu dem dritten Schwerpunkt, nämlich zu der
derem Vizepräsidentin Antje Vollmer und die Kollegin EU-Erweiterung, vortragen wird. Deshalb kann ich mir
Uta Zapf teilnehmen. Wir erwarten von diesem Gipfel meine Ausführungen hierzu sparen. Ich möchte nur so viel
weitere Anstöße für die notwendige parlamentarische Di- sagen: Mit einem Teil seiner Initiative – diesen akzep-
mension des Stabilitätspakts. tieren wir alle in der SPD – hat Günter Verheugen offene
Im Zuge der Haushaltsdebatte möchte ich in Sachen Türen eingerannt, nämlich als er die politischen Eliten
Stabilitätspakt eine sehr klare Erwartung zum Ausdruck aufgefordert hat, aktiver auch mit den berechtigten,
bringen: Die Bundesrepublik hat mit der Ankündigung nachvollziehbaren und beantwortbaren Sorgen der Bürger
Eindruck gemacht, 1,2 Milliarden DM in vier Jahren zur umzugehen. Wir haben schon vor seinem Appell unsere
Verfügung zu stellen, und dieser wichtige Beitrag darf auf Entscheidung getroffen und eine Art Gesamtkonzept zu
keinen Fall in Frage gestellt werden, diesem Bereich vorbereitet.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mein Fazit ist: Es bekommt diesem Land gut, wenn der
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nationale und internationale Grundkonsens gewahrt
F.D.P.) bleibt. Herr Kollege Lamers, ich möchte betonen: Ich
habe Ihren Ausführungen nicht entnehmen können, dass
und zwar weder durch eine Reduzierung der 1,2 Milliar- die CDU/CSU diesen Pfad verlassen möchte. Wir sind
den DM noch durch eine zu weit greifende Streckung bereit, den Grundkonsens in den wichtigen Fragen auf-
noch durch eine Verwendung für andere Projekte als für rechtzuerhalten und auszubauen und zugleich für eine
die des Stabilitätspaktes. breite Zustimmung der Öffentlichkeit und der Bürgerin-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen und Bürger unseres Landes hierfür zu sorgen. Wir
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der können im Augenblick über das Ausmaß des Grundkon-
F.D.P.) senses hinsichtlich der Außenpolitik dieser Regierung
froh sein. Dass dies deutliche eigene Schwerpunkt- und
Ich kündige an, dass meine Fraktion hier sehr energische
Akzentsetzungen der größeren Regierungspartei nicht
Initiativen ergreifen wird, um diese drei Punkte sicherzu-
ausschließt, habe ich versucht darzulegen.
stellen und damit jeden Zweifel an dem für uns wichtigen
Punkt, Erfolg des Stabilitätspakts, im Keim zu ersticken. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
Bei dem zweiten wichtigen Schwerpunkt, GASP, geht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
es meiner Fraktion ebenfalls um die Rolle des Parlaments DIE GRÜNEN)
11116 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist für den Instrumentenkasten deutscher Außenpolitik, son- (C)
der Kollege Dr. Werner Hoyer für die F.D.P.-Fraktion. dern auch für die Mittel, mit denen die Diplomatie der
Politik helfen soll, ihre Ziele zu erreichen.
Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe Der deutsche auswärtige Dienst habe hinsichtlich der
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede mit Kürzungsmöglichkeiten das Ende der Fahnenstange er-
einem Dank an Bundesminister Fischer beginnen. Er hat reicht, so Joseph Fischer letzte Woche. Das habe ich schon
zu Recht darauf hingewiesen, dass heute vor zehn Jahren vor Jahren gehört.
ein überaus wichtiger Vertrag zustande gekommen ist. Ich
weiß es zu schätzen, dass Sie die Rolle vieler gewürdigt (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE
haben, die daran beteiligt waren, insbesondere die von GRÜNEN]: Von Ihrem Außenminister!)
Hans-Dietrich Genscher und von Markus Meckel. Es war Aber noch nie habe ich so wenige Anstrengungen er-
angemessen, dass Sie das hier getan haben. kennen können, daraus die Konsequenzen zu ziehen, wie
(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU bei diesem Minister.
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Ich hätte mir gewünscht – das sage ich, damit das der CDU/CSU)
Ganze nicht zu freundlich wird –, Sie hätten auf die Frage, Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Minister
die Ihnen mehrfach aus dem Saal entgegengeschallt ist, Fischer kämpft nicht für den Stellenwert deutscher und in-
konkret geantwortet: Was macht er denn jetzt? Hebt er ternationaler Politik und er kämpft nicht für sein Haus. Er
nun die Sanktionen gegen Österreich auf oder nicht? kämpft nicht für dessen Fähigkeit, den gewachsenen He-
Ihr Kollege, der dänische Außenminister Niels Helveg rausforderungen mit den Mitteln einer Diplomatie gerecht
Petersen, hat klar gesagt: Heute, innerhalb weniger Stun- zu werden, die auf diese Herausforderungen auch vorbe-
den, werden die Sanktionen aufgehoben. Punkt, aus! Eine reitet sein muss. Er gefällt sich darin, mit sorgenzerfurch-
solche Antwort haben wir heute auch vom deutschen ter Stirn den globalgalaktischen Diskurs zu führen und die
Außenminister erwartet. zusätzlichen Herausforderungen zu beschreiben.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Gernot Erler [SPD]: Komisch, dass er so er-
Die Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich ist für folgreich ist!)
den dänischen Außenminister natürlich außerordentlich Gleichzeitig gefällt er sich darin, die Platte vom solida-
wichtig; denn in Dänemark steht das Referendum über rischen Beitrag des Auswärtigen Amtes zur Haushalts-
den Euro an. Ich fürchte, dort ist schon ein großer Scha- konsolidierung aufzulegen. Das passt nicht zusammen.
(B) den entstanden. „Jyllands-Posten“, eine der großen däni- (D)
schen Zeitungen, schreibt in der heutigen Ausgabe: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Der Schaden für die Jaseite Wir brauchen – hier nehme ich die Anregung des Kol-
legen Lamers gerne auf – in Deutschland eine Debatte
– also für diejenigen, die den Beitritt Dänemarks zur über unsere Rolle in der Welt, über internationale Politik,
Euro-Zone befürworten – über internationale Wirtschaftsbeziehungen, über kultu-
ist geschehen. Ein eklatantes Fiasko, das auf Monate rellen Austausch, über alle Dimensionen von Globalisie-
die dänische EU-Debatte vergiftet hat, war diese rung und darüber, was uns das eigentlich Wert ist. Des-
Entscheidung gegen Österreich. wegen wäre in Anlehnung an die britische Royal
Commission eine Gruppe, die sich darüber grundsätzlich
Wenn der Bundeshaushalt das in Zahlen gegossene mit langfristiger Perspektive Gedanken macht, eine gute
Regierungsprogramm einer Bundesregierung ist, wie es Idee.
die Finanzwissenschaft auszudrücken pflegt, dann ist der
Entwurf des Einzelplans 05, nämlich der für das Auswär- (Beifall bei der F.D.P.)
tige Amt, eine Bankrotterklärung für die deutsche Außen- Alle reden von Globalisierung, nur die deutsche Po-
politik. Er entbehrt jeglicher Prioritätensetzung und lässt litik wird immer provinzieller. Wer, wenn nicht der
keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den veränderten Außenminister, müsste dagegen eigentlich Sturm laufen?
und gestiegenen Herausforderungen an die Rolle Aber weit gefehlt: Mit Ausnahme seiner als Privatmann
Deutschlands in der Welt erkennen. Damit steht er – das gehaltenen Europarede sind von Minister Fischer keine
ist wichtig – in krassem Kontrast zur Rhetorik des Außen- konzeptionellen Überlegungen zu zentralen Fragen der
ministers anlässlich der Botschafterkonferenz und der des Außenpolitik zu hören gewesen. Diese Rede bestach eher
Bundeskanzlers bzw. – wie hieß das noch? – des „World durch die Tatsache, dass sie gehalten wurde, als durch
Statesman“ anlässlich der Tagung der Vereinten Nationen ihren Inhalt im Detail.
letzte Woche in New York. Deshalb ist der Einzelplan 05
eine tiefe Enttäuschung für die Angehörigen des auswär- Der deutsche auswärtige Dienst ist heute kleiner als der
tigen Dienstes im In- und Ausland. Sie erwarten von einer der alten Bundesrepublik vor der Wende. Allein im
Botschafterkonferenz mehr als von einem erweiterten Rechts- und Konsularbereich haben sich die Aufgaben
Jahrgangstreffen. Sie erwarten nicht nur inhaltliche Per- vervielfacht. Das hat jetzt auch der Minister begriffen. In
spektiven. In dieser Hinsicht sind sie ja schon zur Genüge einem Brief vom 1. September schreibt der Bundesminis-
enttäuscht worden. Sie erwarten vielmehr auch Perspek- ter an die Berichterstatter für den Haushalt des Auswärti-
tiven für ihren Dienst, und zwar nicht nur für die Ziele und gen Amtes, wie sehr es im Visumsbereich brummt, und
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11117
Dr. Werner Hoyer

(A) bittet, man möge doch dafür sorgen, dass die Rechts- und bedenklichen Entscheidung über die Zielauswahl der Fall (C)
Konsularabteilungen der Auslandsvertretungen von den gewesen mit dem Ergebnis unnötiger Zwangssolidarisie-
zu erwartenden pauschalen Stellenkürzungen ausgenom- rung des serbischen Volkes mit seinem Diktator. Früher
men werden. So viel Chuzpe ist schon stark. Genau die- hätten Sie, Herr Fischer, gesagt: Der deutsche Außenmi-
sen Antrag hat die F.D.P. für den Haushalt 1999 und den nister organisiert die Abdankung der Politik gegenüber
Haushalt 2000 gestellt, sogar als Gesetzesantrag einge- dem Militär.
bracht. Er ist jedes Mal von Ihnen abgelehnt worden.
Vollends wirr wird es in der Rüstungsexportpolitik.
Wenn Sie diesmal mitmachen wollen, sind Sie herzlich
Da wird erst in einem großen Kraftakt einem NATO-Mit-
eingeladen. Sie können sicher sein, dass dieser Antrag von
glied der Kandidatenstatus für die EU verschafft, einer
uns wieder gestellt wird. Kämpfen Sie also endlich für
politischen Union, die sich auf Rechtsstaatlichkeit, De-
Ihren Haushalt! Kämpfen Sie für den Auswärtigen Dienst,
mokratie und Menschenrechte festgelegt hat. Als Nächs-
nicht mit uns, sondern bitte mit dem Finanzminister.
tes wird diesem NATO-Partner ein Spitzenprodukt deut-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) scher Rüstungstechnologie zum Ausprobieren geliefert.
Jetzt, wo sie das Ding ganz gerne hätten, und zwar gleich
Die Schwachstellen dieser Regierung sind nicht nur in
1 000 Stück, wird das mit dem Hinweis auf die Men-
den haushaltstechnischen Punkten zu sehen, sondern auch
schenrechtssituation abgelehnt. Das geschieht, obwohl
bei den Inhalten. Bei dem Thema Menschenrechte sind
die militärische Stärkung der Südostflanke der NATO ein
die Grünen als Tiger gestartet. Inzwischen ist ihr Außen-
von der Bundesregierung abgesegnetes Ziel des Bündnis-
minister als Bettvorleger gelandet. Der Stellenwert der
ses ist, bei dem die Leoparden helfen könnten. Um noch
humanitären Hilfe im Regierungsentwurf ist erbärmlich.
Das, was zum Thema OSZE und zum Stabilitätspakt an- eines draufzusetzen, wird die Lieferung einer Munitions-
gemerkt worden ist, wird von mir unterstützt. Auch hier fabrik an die Türkei genehmigt. Zum Beispiel sind Ge-
gibt es erhebliche Schwachstellen im Haushalt. Wir wer- wehrkugeln in den kurdischen Bergschluchten menschen-
den bei den Beratungen darauf zurückkommen. rechtspolitisch offenbar weniger brisant als Panzer. Diese
Logik schmerzt.
(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wir
können die Präsidentin der OSZE einmal ein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
laden!) Die gleiche Story könnte ich Ihnen über die Lieferung ei-
Der angekündigte Aufschwung in der auswärtigen ner MOX-Anlage nach Russland erzählen. Auch hierbei
Kulturpolitik findet nicht statt. Im Gegenteil. Um nur ein sind die Widersprüche evident.
Beispiel zu nennen, über das viel zu wenig gesprochen Ich denke, man muss Verständnis für die Frage haben,
(B) wird: Viele deutsche Auslandsschulen sind, obwohl sie (D)
die in der vergangenen Woche in der Zeitschrift „Die Wo-
von überragender Bedeutung sind, akut von Schließung che“ gestellt worden ist, ob nämlich „der Eindruck eines
bedroht. radikalen Wandels nicht bloß ein oberflächlicher Befund
(Uta Titze-Stecher [SPD]: Das ist nicht wahr!) ist. Ob Fischers Programm nicht schon immer das war, als
was es heute kenntlich wird: Fischer. Ein Machtmensch,
Die Führungsrolle Deutschlands bei der für uns und der sich beim Drang nach oben wechselnden Milieus an-
unserer wirtschaftlichen, politischen und insbesondere si- passt, Abhängige und Bewunderer um sich schart und al-
cherheitspolitischen Interessen so wichtigen Osterweite- lein das tut, was ihm nützt.“
rung der EU wird zunehmend weniger erkennbar. Deut-
sche Initiativen zur Überwindung der Blockade in der Zum Schluss möchte ich ein Wort zum Thema Öster-
Regierungskonferenz zur institutionellen Reform der EU reich sagen.
sind nicht in Sicht.
Man könnte das noch lange fortsetzen, zum Beispiel im Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Hoyer,
Hinblick auf die Außenwirtschaftspolitik. Hier reihen sich ich bitte Sie, sich kurz zu fassen.
der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesaußenmi-
nister in dieselbe Phalanx ein. Sie tun beide nichts dafür. Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Selbstverständlich, Frau
Ich finde es schon erstaunlich, Herr Bundesaußenminis- Präsidentin. – Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in
ter, dass Sie bei den vielen Gelegenheiten, die es in den dem wir das fordern, was die dänische Regierung sinn-
letzten Monaten gegeben hätte, nicht ein einziges Mal ei- vollerweise sofort angekündigt hat. Die Bundesregierung
nen der Gäste auf der EXPO empfangen haben. sollte das Gleiche tun und sie sollte sich nicht scheuen zu-
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) zugeben, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Ich
glaube, es ist auch ein Zeichen von Souveränität, wenn
Vollends wirr, meine Damen und Herren, wird es aber man sich zu Fehlern bekennen kann und alles tut, um ge-
bei der Balkanpolitik und der Rüstungsexportpolitik. In genüber dem österreichischen Volk einen solchen Fehler
der Balkanpolitik haben Sie wahrscheinlich einen Preis auszuräumen.
dafür zahlen müssen, dass Sie am Anfang Ihrer Amtszeit
bei einer nuklearstrategischen Frage schief gelegen ha- Herzlichen Dank.
ben, und hinterher nicht mehr aufmucken konnten, wenn (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
andere Fehler gemacht haben. Das ist zum Beispiel bei der der CDU/CSU)
11118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort für die PDS- Der Kanzler meint es so, wie er es ausgeführt hat. Der (C)
Fraktion hat der Kollege Wolfgang Gehrcke. Außenminister meint das auch, wenn er die Botschaften
auffordert, sich nach den Methoden der Wirtschaft umzu-
bauen. Sie sollen Dienstleistungsunternehmen werden
Wolfgang Gehrcke (PDS): Frau Präsidentin! Liebe
und PR-Arbeit machen.
Kolleginnen und Kollegen! In der Regel wird in der
Außenpolitik über das Eigentliche, über das, worum es PR-Arbeit statt Goethe-Institute – das kommt dabei he-
geht, immer eine weihevolle Soße ausgegossen. Dabei raus, wenn man deutsche Interessen mit Wirtschaftsinte-
gibt es für das Eigentliche einen Begriff, der zwar nicht ressen gleichsetzt. Das ist weder neu noch rot-grüne Poli-
schön, aber klar ist: Interessen. Über Interessen will ich tik; es ist im Grunde die gleiche Philosophie, die der
reden und über Interessen will ich streiten. berüchtigte Hermann Josef Abs verfolgte, als er sagte:
Das deutsche Interesse umschreibt die Bundesregie- „Was gut ist für die Deutsche Bank, ist gut für Deutsch-
rung lieber als „europäische Werte“, „Menschenrechte“ land“. Das mag für Rot-Grün inzwischen stimmen, für
oder „Bündnisverpflichtungen“. Mit diesen Argumenten uns demokratische Sozialisten jedoch nicht.
hat sie sich am NATO-Krieg gegen Jugoslawien beteiligt, (Beifall des Abg. Uwe Hiksch [PDS])
mit diesen Argumenten verficht sie die neue NATO-Stra-
tegie, die weltweite Interventionen selbst ohne UNO- Wir streiten dafür, dass in der deutschen Außenpolitik
Mandat erlaubt, und so werden auch Rüstungsexporte be- nicht nur die Interessen einer Gruppe eine Rolle spielen,
gründet. sondern die aller. Mit den vielen, davon sind wir über-
zeugt, kommt man eher zu fairem Welthandel, friedlicher
Ich habe mich oft gefragt, ob die Regierung nicht Konfliktlösung, partnerschaftlicher Kooperation und da-
merkt, welch hässliches Bild sie so von Deutschland zu, dass deutsche Außenpolitik tatsächlich Friedenspoli-
zeichnet: Krieg, Interventionsbereitschaft und Rüstungs- tik wird.
exporte. Dafür erwartet sie noch einen Platz im Weltsi-
cherheitsrat der UNO – absurd! Das sind aus meiner Sicht Die Bundesregierung hingegen bietet der Wirtschaft
keine taktischen Differenzen oder Stilfragen, sondern außenpolitischen Geleitschutz. Das wird beim Rüstungs-
grundsätzliche Gegensätze. Deswegen sage ich für meine export auf den Begriff gebracht. Die nationalen Richtli-
Fraktion, dass ich mich in den beschworenen außenpoli- nien zum Rüstungsexport hat die Regierung zwar ver-
tischen Grundkonsens, den der Kollege Erler für alle schärft, sie unterläuft sie aber gleichzeitig, indem sie den
Fraktionen dieses Hauses formuliert hat, nicht eingliedere grenzüberschreitenden Interessen der Wirtschaft folgt.
und nicht eingliedern lasse. Sie engagiert sich für europäische Rüstungsabkommen,
Rüstungsplanung und ein europäisches Rüstungskontor.
(Beifall bei der PDS) Es geht um internationale Marktdominanz auch im Waf-
(B) Wir haben grundsätzliche Differenzen, die man so nicht fengeschäft. „Rüstungsexport ist gut“, Kolleginnen und (D)
überbrücken kann. Kollegen von der SPD-Fraktion, betitelte Ihre Wehr-
expertin, Kollegin Wohlleben, knapp und präzise ihren
(Gernot Erler [SPD]: Schwerer Verlust für die Gastkommentar in der „Welt“ vom 7. September.
deutsche Demokratie!)
(Uwe Hiksch [PDS]: Ein schlimmer
In der Koalitionsvereinbarung hieß es noch: „Deutsche Kommentar!)
Außenpolitik ist Friedenspolitik.“ Jetzt, zwei Jahre später,
müsste es heißen: „Deutsche Außenpolitik sind die Inte- „Rüstungsexport ist gut“ – da kann man direkt Mitleid be-
ressen der deutschen Wirtschaft.“ Auf diese Linie hat kommen, wie sich die Rüstungslobby früher abmühen
Bundeskanzler Schröder beim Botschaftertreffen die Re- musste. Jetzt sagt man pauschal: Rüstungsexport ist gut.
form des diplomatischen Dienstes gebracht. Eine Reform Rüstungsexport ist immer noch das Geschäft mit Krieg
ist sicher nötig, nur nicht so. und Tod.
Die Wirtschaft, so der Kanzler, habe den Anspruch auf Für uns reicht die NATO-Mitgliedschaft der Türkei
„Geleitschutz durch die Politik“. Danach ist die Politik für eben nicht aus, um eine Munitionsfabrik zu exportieren.
die Wirtschaft Wegbereiter und Gefolgsmann zugleich. Menschenrechtsverletzungen begründeten für den Außen-
Umgekehrt wäre es richtig, das Primat der Politik gegen- minister den Krieg gegen Jugoslawien. Menschenrechts-
über der Wirtschaft zu betonen. Die Diplomaten sollen verletzungen in der Türkei gegen Kurdinnen und Kurden
sich, so Gerhard Schröder, „stärker als bisher für die In- wiegen wohl zu leicht, um den Waffenexport zu stoppen.
teressen der deutschen Wirtschaft einsetzen.“ Warum
(Beifall bei der PDS)
nicht für die Interessen der Künstler, der Kirchen, der
Wissenschaftler, der Frauen, für die Interessen von Ge- Nicht die Orientierung an Menschenrechten werfen wir
werkschaften oder Nichtregierungsorganisationen? der Bundesregierung vor, sondern wir werfen ihr vor, dass
(Beifall bei der PDS – Gernot Erler [SPD]: sie damit opportunistisch umgeht.
Das schließt sich doch nicht aus!) (Beifall bei der PDS)
Warum sollen sich Diplomaten besonders für eine sin- Zusammengefasst heißt das, die Außenpolitik der Bun-
guläre Gruppe einsetzen? Das Schlimme ist: Das ist die desregierung bewegt sich in dem Dreieck: Deutsche
Grundphilosophie dieser Regierung – sich einsetzen für Wirtschaftsinteressen haben Vorrang – die Führungs-
die Interessen der Wirtschaft. rolle der USA wird nicht infrage gestellt – Alternativen
(Beifall bei der PDS) zur NATO sind ein Tabu. Was ist an einer solchen Außen-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11119
Wolfgang Gehrcke

(A) politik eigentlich noch rot? Was ist an einer solchen äußert, die, wie ich finde, dem Thema und den Problemen (C)
Außenpolitik eigentlich noch grün? angemessen sind.
Der Administrator des Entwicklungsprogramms der
Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Gehrcke, Vereinten Nationen hat auf eine bedeutsame Trendver-
Sie müssen bitte zum Schluss kommen. schiebung in dieser Debatte aufmerksam gemacht, die in
den sich entwickelnden Ländern zu erkennen ist: Eine un-
abhängiger handelnde Weltwirtschaft wird nicht mehr
Wolfgang Gehrcke (PDS): Im auswärtigen Haushalt rundweg abgelehnt. Nicht vergessen, lieber Kollege
– mein letzter Gedanke – werden zu wenig Mittel einge- Gehrcke: Das sagen die Vertreter der Dritten Welt selbst.
setzt, die Frieden stiftenden Ansprüchen entsprechen Sie wollen in die Weltwirtschaft einbezogen sein, sie wol-
könnten. Ebenso unbefriedigend sind die Mittel zur För- len in der Weltwirtschaft anerkannt sein. Jetzt kommt es
derung internationaler Organisationen, die Haushaltstitel darauf an, dass wir mithelfen, die globalen Rahmenbe-
für Konsulararbeit oder Gelder für Konfliktvorbeugung. dingungen so zu setzen, dass alle in der Tat Zugang zur
Einer Außenpolitik, die auf einem solchen Grundkon- Weltwirtschaft haben. Es soll nicht so sein, wie Sie es
sens, wie ich ihn beschrieben habe, beruht, verweigern hier insinuiert haben, nämlich dass der Kapitalismus welt-
wir demokratische Sozialistinnen und Sozialisten unsere weit gesiegt hätte, sondern alle Menschen dieser Erde
Zustimmung. müssen über ihre Marktteilnahme die Chance haben, sich
an den Reichtümern dieser Erde zu beteiligen. Das ist ent-
Ich danke sehr. scheidend.
(Beifall bei der PDS – Dr. Helmut Lippelt Ich finde es sehr wichtig, dass Bundeskanzler Schröder
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jutta Ditfurth in der VN-Debatte genau auf diesen Punkt aufmerksam
würde das auch machen!) gemacht hat und dass der Außenminister und die Ent-
wicklungsministerin ihn dabei unterstützt haben. Ich
glaube, dass das deutlich macht, dass die Position der
Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner in
Bundesregierung in diesem Punkte sehr klar ist: Sie will
der Debatte ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Frak- mithelfen, dass die Länder der Dritten Welt aus der Ver-
tion. schuldungsfalle, in die sie hineingeführt worden sind,
auch wieder herauskommen. Das ist einer der wichtigsten
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsi- Bestandteile einer vernünftigen progressiven Politik.
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gegenwär- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) tige Präsident der Generalversammlung der Vereinten Na- DIE GRÜNEN) (D)
tionen, Theo-Ben Gurirab, Außenministers Namibias,
Inklusion also, die Einbeziehung der Menschen der
(Joseph Fischer, Bundesminister: Hat Dritten Welt, wird gefordert, damit alle ihre Fähigkeiten
gewechselt!) einbringen können und sich mit anderen Marktteilneh-
hat an uns eine völlig berechtigte Frage gestellt. Gerichtet mern messen können. Kofi Annan hat diesen Grundge-
an die industrialisierte Welt fragte er: „Können wir ihnen danken ebenfalls aufgenommen. Gegen die Globalisie-
vertrauen?“ Er meint damit diejenigen, die politische Ver- rung zu argumentieren, sagt er, sei vergleichbar damit,
antwortung tragen. „Globalisierung“, sagt er, „wird von gegen die Gesetze der Schwerkraft zu argumentieren.
– Aber – das muss man hinzufügen – das darf nicht be-
einigen als eine Kraft des sozialen Wandels gesehen, die
deuten, dass sie als Naturgesetz akzeptiert wird.
die Kluft zwischen den Reichen und den Armen schließen
hilft, zwischen dem industrialisierten Norden und dem (Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD])
sich entwickelnden Süden.“ Zugleich sagt er – ich finde, Im Gegenteil – das sagt Kofi Annan –: Wir müssen die
er hat Recht –: Globalisierung zu einer Lokomotive machen, die Men-
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Dann schen aus der Not herauszieht, und nicht zu einer Macht,
soll dieser Außenminister erst einmal seine Sol- die sie niederdrückt. Das ist die Aufgabe, vor der die
daten aus dem Kongo zurückziehen!) internationale Staatengemeinschaft steht. Der Millen-
nium-Gipfel der Vereinten Nationen hat genau darauf
„Aber Globalisierung wird auch gesehen als eine zerstö- aufmerksam gemacht. Ich bin stolz darauf, dass die
rerische Kraft.“ Bundesregierung an diesem Punkte klargemacht hat: Sie
Machen wir uns nichts vor: Aus dem Blickwinkel de- stellt sich eindeutig auf die Seite derer, die an diesem
rer, die als Dritte Welt bezeichnet werden, ergibt sich fairen Wettbewerb der Nationen und der Fähigkeiten der
diese Zwiespältigkeit der Globalisierung. Die stürmische Menschen teilnehmen wollen. Dieser entscheidende
Debatte über die Globalisierung hat schließlich die einzig Punkt ist auf dem Millennium-Gipfel der Vereinten Na-
wirkliche globale Institution der Welt, die es gibt, nämlich tionen deutlich geworden.
die Vereinten Nationen, jetzt auch erreicht. Was in Seattle Mehr als 1 Milliarde Menschen müssen mit einem Ein-
geschehen ist, wird vielleicht demnächst auch in Prag ge- kommen von 1 Dollar pro Tag leben; ebenfalls 1 Milli-
schehen, nämlich dass sich der Protest gegenüber den arde Menschen, die zumeist zu der Gruppe gehören, die
möglichen Folgeerscheinungen der Globalisierung jetzt ich eben genannt habe, haben keinen Zugang zu sauberem
endlich auch innerhalb der UNO in harten Debatten Wasser. Die Staats- und Regierungschefs haben sich bei
11120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Wolfgang Gehrcke

(A) dem Millennium-Gipfel verpflichtet, diese Zahlen bis trialisierten Nationalstaaten ist in ungeahnte Höhen ge- (C)
zum Jahr 2015 zu halbieren. Ist das etwa kein Beitrag zur stiegen. Die Systemkonkurrenz ist mit dem Ende der
sozialen Gerechtigkeit auf der Erde? organisierten Verantwortungslosigkeit der kommunis-
tischen Diktatur beseitigt worden. Die meisten der neu
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
entstandenen Transformationsländer haben sich entschie-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
den, sich in den modernisierenden Sog der Europäischen
Ist das kein Beitrag, der deutlich macht, dass die Vertreter Union zu begeben. Was die Dritte Welt genannt wurde,
der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den an- gruppiert sich neu, wird vielgestaltig, sucht eigene Wege,
deren Staatschefs das Problem dieser Erde sehr wohl er- Tradition und Moderne miteinander zu verbinden, wie
kannt haben? Thabo Mbeki mit seiner „afrikanischen Renaissance“.
Bis 2015 soll auch für alle Kinder eine volle Primar- Sollte einst der Westen – über diesen Punkt sollten wir
schulbildung geschaffen werden. Außerdem haben sich einmal gemeinsam diskutieren – seine Errungenschaften
die Regierungschefs darauf geeinigt und verpflichtet, bis selbst gefährden, dann, weil er die Warnzeichen überse-
zu diesem Jahr die Ausbreitung von Aids endlich zu hen hat. Eines der Warnzeichen, das leicht übersehen wer-
stoppen. An dieser Agenda für die nächsten 15 Jahre müs- den kann, ist der Unilateralismus. Die neokonservative
sen wir gemeinsam arbeiten, damit diese 1 Milliarde Men- Revolution in den USA dominiert das Mehrheitsverhalten
schen auf der Erde die Chance und eine Perspektive für der Legislative in den USA. In der Tat: Im Augenblick ist
wirkliches Überleben haben. kein ernsthafter Herausforderer der USA zu erkennen –
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nirgendwo. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sich
DIE GRÜNEN) die USA von ihrer multilateralen Verantwortung verab-
schieden.
Dieser Millennium-Gipfel zeigt auch, dass sich die
Vereinten Nationen wieder stärker auf ihre globale Ver- Ich finde es gut, dass der amerikanische Präsident Bill
antwortung konzentrieren: Forum zu sein, Arena der De- Clinton gegen Ende seiner Präsidentschaft deutlich ge-
batten, um Verständigung zu suchen, Wege aus den Ge- macht hat: Für die USA macht es künftig nur Sinn, mit den
fahren zu finden, in die die Menschen sich gegenseitig anderen Staaten kooperativ zusammenzuarbeiten, wenn
bringen. die USA diesen wesentlichen Grundzug akzeptieren, der
Globale Verantwortung übernehmen heißt aber auch, auch schon für die Politik bezüglich Deutschland bestand.
die innere Reform der Staatengemeinschaft vorantreiben, Multilateralität ist ein Gut, auf das niemand verzichten
um institutionell leisten zu können, was programma- darf.
tisch versprochen wird. Dazu gehört auch die überfällige Selbst – wie wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“ (D)
(B) Reform des Sicherheitsrates. Der Bundeskanzler hat
sehr ausführlich nachlesen konnten – wenn die USA heute
dies in New York klar ausgedrückt. Wir danken ihm dafür.
die letzte übrig gebliebene Großmacht der Erde sind, dann
Ich füge hinzu: Ich finde es angemessen, dass der Sicher-
zeigt sich ihre Kooperationsfähigkeit in ihrer Bereit-
heitsrat in einer fairen Weise reformiert wird. Wenn sich
alle Länder der Erde an Entscheidungen beteiligen kön- schaft, auf unilaterale Schritte zu verzichten. Deswegen
nen, dann darf die Bundesrepublik Deutschland nicht bei- begrüßen wir es, dass das National-Missile-Defense-Pro-
seite stehen. jekt wenigstens zeitweilig beiseite gelegt worden ist. Ich
wünsche mir sehr, dass der neue amerikanische Präsident
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und der neue amerikanische Kongress eben an jener mul-
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des tilateralen Tradition der USA festhalten und sie gemein-
Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.] – Widerspruch sam mit uns, mit Europa und mit allen anderen Staaten
des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]) dieser Erde weiterentwickeln.
Es ist gut zu wissen, dass der Bundeskanzler, der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Außenminister und die Ministerin für wirtschaftliche Zu- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner
sammenarbeit dabei deutlich gemacht haben: Die Bun-
Hoyer [F.D.P.])
desrepublik Deutschland wird ihren Beitrag zur weltwei-
ten sozialen Gerechtigkeit leisten und dafür eintreten, Die Aufrüstungstendenzen sind bisher nicht abge-
dass aus der Welt, wie sie ist, ein besserer Platz zum klungen. Im Gegenteil: Wenn wir nach Asien blicken – ob
Leben für alle Menschen dieser Erde werden kann. Denn es der Konflikt zwischen Indien und Pakistan oder andere
– so haben Gerhard Schröder, Tony Blair, Wim Kok und Konflikte sind –, dann erkennen wir sehr wohl selbstzer-
Göran Persson in ihrem Manifest geschrieben –: störerische Kräfte. Die europäische Erfahrung der letzten
Wir können den Wandel nicht aufhalten, aber wir 25 Jahre zeigt klar – wir sollten aber nicht so tun, als ob
können ihn so gestalten, dass er nicht nur wenigen wir besser seien oder alles besser wüssten als andere –:
nutzt, sondern vielen. Kooperativ zu sein ist immer besser als Konfrontation.
Wir müssen versuchen zu erreichen, dass die Staaten den
Was könnte man dem hinzufügen? anderen Staaten gute Nachbarn sind. Es kommt entschei-
Der Millennium-Gipfel war zu Beginn eines neuen dend darauf an, das Neue zuerst zu denken und dann das
Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung ein Moment des Neue zu tun. Das ist das große Erbe von Willy Brandt. Ich
Innehaltens. Trotz aller seiner inneren Konflikte kann der bin stolz darauf, dass die Bundesregierung mit Bundes-
Westen bilanzieren: Der materielle Reichtum der indus- kanzler Gerhard Schröder und dem Außenminister
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11121
Wolfgang Gehrcke

(A) Joschka Fischer die deutschen Interessen in dieser Tradi- nicht der Außenminister. Kollege Lamers hat dies schon (C)
tion international wahrt und durchsetzt. angesprochen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Bei
DIE GRÜNEN) den Sozis regiert das Geld!)
Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Gefahr
Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat der Kol- besteht, dass die Überwindung der europäischen Teilung
lege Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion. auf die lange Bank geschoben wird. Die Kandidatenlän-
der fragen sich, ob sie überhaupt noch erwünscht sind.
Hinzu kommt, dass die deutsche Öffentlichkeit durch die
Peter Hintze (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine überzogene Ausweitung des Kreises potenzieller Kandi-
sehr geehrten Damen und Herren! Die Tatsache, dass sich daten irritiert und alarmiert wurde.
in diesem Moment auf Einladung des Bundestagspräsi-
denten ein riesiger Pulk von Journalisten im Innenhof des Herr Außenminister, ich will dazu etwas aus Sicht des
Reichstags um den Erdtrog von Herrn Haacke versam- Parlaments sagen: Die Bundesregierung betreibt in der
melt, könnte davon ablenken, dass es hier im Plenarsaal Frage der Erweiterung eine Geheimdiplomatie, die der
um die eigentlich wichtigen Dinge geht: um die entschei- Sache nicht gut tut. Weder die Öffentlichkeit noch der
denden Zukunftsfragen Europas und um entscheidende Deutsche Bundestag – auch nicht dessen Ausschüsse – er-
Diskussionen des Deutschen Bundestages. Ich denke, wir, fahren ausreichend über den Stand der Verhandlungen.
die wir hier im Plenarsaal zusammengekommen sind, Wir haben hier im Parlament bisher kein vollständiges
sollten uns diesen Fragen widmen. Verhandlungsergebnis vorgelegt bekommen. Die Erwei-
terung wird nur dann ein Erfolg, wenn wir diese Fragen
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ist der mit der Öffentlichkeit diskutieren und die kritischen
Präsident da auch?) Punkte ansprechen und wenn daraus keine Geheimveran-
staltung der Bundesregierung gemacht wird.
Denn Europa steht zurzeit an einem Scheidepunkt. So-
wohl die interne EU-Reform als auch die Erweiterung (Beifall bei der CDU/CSU – Rita Grießhaber
haben eine kritische Phase erreicht. Es ist wichtig, dass [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger ge-
wir uns darüber austauschen. heim als die CDU-Gelder!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Karl-Heinz Die großen politischen und ökonomischen Chancen
Hornhues [CDU/CSU]: Weiß das denn auch der der Osterweiterung der EU und der Gewinn an Stabilität
Bundestagspräsident? Der wäre doch bestimmt für alle Beteiligten dürfen nicht verspielt werden. Ich sage
(B) hier, wenn er das wüsste!) hier für die CDU/CSU-Fraktion klipp und klar Ja zur Ost- (D)
erweiterung. Dies ist eine politische, ökonomische und
Die CDU/CSU-Fraktion will den Erfolg der beiden euro- moralische Aufgabe für uns.
päischen Projekte. Wir wollen eine Reform, die die EU
handlungsfähiger, demokratischer und bürgernäher (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
macht, und wir wollen, dass die Erweiterungsverhandlun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
gen einen großen Sprung nach vorne machen. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])

EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Bundesre- Wir müssen die Osterweiterung gründlich vorbereiten.
gierung mit seinem Vorschlag einer Volksabstimmung Wir haben in diesem Zusammenhang eine Große Anfrage
zur Osterweiterung in erhebliche Unruhe versetzt. – Der eingebracht. Wir müssen darüber öffentlich diskutieren.
Außenminister hat in diesem Zusammenhang Mao Auch dazu soll unsere Anfrage eine Grundlage sein. Denn
es muss mit den Menschen im Lande eine breite öffentli-
Tsetung zitiert; ich weiß nicht, ob das im Plenum richtig
che Diskussion über die Ängste und Sorgen, aber auch
angekommen ist.
über die großen Chancen im Rahmen des Erweiterungs-
(Joseph Fischer, Bundesminister: Sie!) prozesses eingeleitet werden.
– Herr Fischer, Sie haben Ihren Mao nicht richtig gelesen. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Und
Hier geht es jetzt um Europa. – Herrn Stoiber überzeugen!)
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ein demokratischer Rückschritt wäre allerdings die
DIE GRÜNEN) Aufnahme von Volksabstimmungen in unser Grundge-
setz. Ich finde es positiv, dass sich der Bundesaußenmi-
Jedenfalls hat Herr Verheugen mit seiner Intervention den nister mittlerweile von seinen ehemaligen Radikalpositio-
Finger auf eine offene Wunde gelegt. Die Bundesregie- nen entfernt hat. Es haben sich ja einige aufgeregt, dass er
rung verhält sich in der Frage der Osterweiterung der Eu- heute anders spricht als früher. Ich bin sehr beruhigt; das
ropäischen Union ausgesprochen zurückhaltend. muss ich Ihnen sagen. Denn wenn er so handeln würde,
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Selt- wie er früher gesprochen hat, müssten wir sagen: Gute
sam verhält sie sich!) Nacht, Deutschland! Dies wäre schrecklich. Er hat gesagt,
dass man über Grundsatzfragen, darüber, ob Polen aufge-
Sie begibt sich in einen ressortinternen Clinch zwischen nommen werden soll oder nicht, keine Volksabstimmung
dem Außenminister und dem Finanzminister, der vor ei- durchführen kann. Er hat ja nicht völlig Unrecht. Nur, zu
nigen Tagen erklärt hat, eigentlich sei er zuständig und unterscheiden, bei welchen Fragen eine Volksabstim-
11122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Peter Hintze

(A) mung möglich ist und bei welchen nicht, ist sehr uner- denfalls nach dem Bericht der Drei Weisen? Das ist das (C)
quicklich. Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten.
Ich sage eines klipp und klar: Für mich bedeutet die
Diskussion, die jetzt von der linken Seite des Hauses – in Peter Hintze (CDU/CSU): Es schädigt nicht die Qua-
Wiedererweckung eines alten Politzombies – angestoßen lität eines Berichtes, wenn nach 114 richtigen Sätzen ein-
worden ist, einen demokratischen Rückschritt. Warum? mal ein falscher kommt, Herr Kollege Erler.
Was ist das Hauptargument für die repräsentative De-
mokratie? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
(V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters) Ich will noch einen ernsten Punkt hinzufügen. Der
Bundesaußenminister hat immer argumentiert, dass ge-
Die Welt wird zunehmend komplizierter und komple- rade wir Deutsche, obwohl Österreich unser Nachbar ist
xer, und alle politischen Entscheidungen sind im Zusam- und wir wissen, wie zuverlässig er ist, gar nichts anderes
menhang zu verstehen: Wofür gibt man das Geld aus? hätten machen können als die anderen. Ich muss sagen,
Welche Bündnisstrategien geht man ein? Welche Ent- ich empfinde es als besonders peinlich, dass wir als ein
scheidungen trifft man? Nur die repräsentative Demokra- Land, das in seinen Bundesländern zum Teil mit üblen
tie hat die Stärke, die Komplexität der Entscheidungen rechtsradikalen Ausschreitungen zu kämpfen hat, diese
entsprechend aufzunehmen. Damit sind wir sehr weit ge-
Zeigefingerkoalition gegen Österreich angeführt haben.
kommen; das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
Ich finde das peinlich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
Der Bericht der Drei Weisen zur innenpolitischen Si- Gernot Erler [SPD]: Haben wir doch
tuation in Österreich kaschiert nur mühsam den großen gar nicht!)
Fehler der übrigen EU-Staaten, Österreich mit erhobenem
Finger auszugrenzen. Durch die Sanktionen gegen Öster- Ich hoffe, dass die Bundesregierung jetzt den Schaden
reich wurde nämlich die Gefahr erhöht, die zu bekämpfen rasch wieder gutmacht.
sie vorgaben, und das europaweit. Das ist ein schwerwie- Dabei ist eines beachtlich: Uns wurde im Parlament
gender Fehler, den sich auch unsere deutsche Bundesre- immer vorgetragen, es handele sich nicht um eine Maß-
gierung zurechnen lassen muss. nahme der EU – das stimmt ja auch, dafür gibt es keine
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rechtsgrundlage –, sondern um bilaterale Maßnahmen
der 14 anderen EU-Mitglieder. Was sagte die Regierungs-
Im Übrigen: Das, was die Weisen ermittelt haben, sprecherin gestern aber auf die Frage, ob Deutschland nun
spricht für ihre Weisheit und wäre den beteiligten Regie- die Sanktionen einstellen wird? Sie antwortete, das werde (D)
(B) rungen schon durch oberflächliche Zeitungslektüre deut-
die französische Präsidentschaft entscheiden. Meine Da-
lich geworden. men und Herren, was ist das für eine Logik? Entweder ist
es eine Sache der EU, dann ist das eine klare Vertragsver-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Hintze, letzung, oder es ist unsere Sache, dann dürfen wir nicht
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gernot auf die französische Präsidentschaft verweisen. In dieser
Erler? Frage wird ziemlich schräg gespielt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Peter Hintze (CDU/CSU): Aber ja.
Alle Kraft muss jetzt der Weiterentwicklung in der Eu-
ropäischen Union gelten. Wir haben interessante Gedan-
Gernot Erler (SPD): Herr Kollege Hintze, Sie haben ken vom Herrn Außenminister in seiner Eigenschaft als
soeben den Bericht der Drei Weisen angesprochen. Haben Joseph Fischer an der Humboldt-Universität gehört. Ich
Sie die Ziffer 115 dieses Berichtes zur Kenntnis genom- fand den Vortrag – ich will das hier noch einmal sagen –
men? Dort heißt es: durchaus interessant. Er hat eine Diskussion in Europa an-
Die Maßnahmen der XIV Mitgliedstaaten der EU ha- gestoßen und an dieser Diskussion beteiligen wir uns.
ben nicht nur in Österreich, sondern auch in den an- Ich freue mich, dass er jetzt ganz ungebrochen von ei-
deren Mitgliedstaaten das Bewusstsein für die ge- nem Verfassungsvertrag spricht. Das ist eine Idee, die
meinsamen europäischen Werte gestärkt. Es kann Wolfgang Schäuble und Karl Lamers in Deutschland ge-
kein Zweifel bestehen, dass im Falle Österreichs die gen nicht geringe Widerstände in die politische Diskus-
von den XIV Mitgliedstaaten getroffenen Maßnah- sion gebracht haben. Aber, lieber Herr Bundesaußenmi-
men die Anstrengungen der österreichischen Regie- nister, bis jetzt wächst in mir die Befürchtung, dass diese
rung verstärkt haben.
Rede ein rein rhetorisches Ereignis blieb. Ich habe nichts
Der Absatz schließt: gegen gute Reden, aber für die praktische Politik ist es
schade, wenn einer guten Rede nicht gute Taten folgen.
Sie haben auch die Zivilgesellschaft motiviert, diese
Werte zu verteidigen. Die Regierungskonferenz tritt auf der Stelle. In den
zentralen Fragen der Weiterentwicklung Europas – den-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ken wir beispielsweise an die Mehrheitsentscheidung – ist
Würden Sie zugeben, dass das eigentlich ein Beleg die Konferenz ein halbes Jahr lang über kreative Vor-
dafür ist, dass die 14 Staaten richtig gehandelt haben, je- schläge nicht hinausgekommen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11123
Peter Hintze

(A) Auch die Beitrittsverhandlungen kommen nicht so Drittens. Die Arbeitsweise des Rates ist überbürokrati- (C)
recht voran. Was wir heute in dieser Debatte beklagen, ist, siert. Es gibt über 300 Ratsgruppen auf Beamtenebene
dass diese Bundesregierung – da ist sie seit vielen Jahren und mehrere Hundert Gruppen auf Kommissionsebene.
und Jahrzehnten übrigens die erste – als europäischer Mo- Die Folge ist null Transparenz und eine zweifelhafte Le-
tor ausfällt. gitimation. Wer gibt politische Vorgaben? Wer übernimmt
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der politische Verantwortung? Der Rat muss politischer und
SPD: Oh! – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/ parlamentarischer arbeiten. Das ist eine mittel- und lang-
CSU]: Bei den hohen Benzinpreisen!) fristige Aufgabe, aber das müssen wir bei der Reform der
Institution angehen.
Für uns sind die Prioritäten in der laufenden Regie-
rungskonferenz klar: Wir wollen Mehrheitsabstimmun- Lassen Sie mich nun ein Thema ansprechen, das die
gen im Rat als Regel. Wir wollen die Stärkung der Menschen in Deutschland massiv beschäftigt und bei dem
Demokratie durch eine Stärkung des Europäischen Parla- der in New York jüngst hochdekorierte Bundeskanzler,
mentes und durch die bessere Berücksichtigung der Be- der Sachen ja auch richtig macht, einen groben Fehler ge-
völkerungszahlen in den Institutionen der EU. Ich nenne macht hat. Es geht um die Frage des Außenwertes des
hier nur die Stichworte „größere Proportionität im Euro- Euro und der – wenn man dieses Wort überhaupt ver-
päischen Parlament“ und „Einführung der doppelten wenden kann – politischen Begleitung durch die Bundes-
Mehrheit bei Abstimmungen im Rat“. Wir wollen mehr regierung und durch den Herrn Bundeskanzler. Wir alle
Flexibilität vor allen Dingen in der Außen-, Sicherheits- wissen, dass die D-Mark auch in früheren Zeiten gegen-
und Verteidigungspolitik und eine präzisere Aufgaben- über dem US-Dollar eine Schwankungsbreite hatte. Wir
verteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene. wissen, dass die Kaufkraft der Währung im Inland von
Schließlich wollen wir keine „leftovers“ der „leftovers“ solchen Schwankungen des Außenwertes zunächst einmal
von Amsterdam. Diese müssen jetzt geregelt werden. nicht betroffen ist. Dennoch dürfen wir die negativen Fol-
Aber wir wissen heute, dass es natürlich „leftovers“ von gen eines nach außen dauerhaft schwachen und eines vor
Nizza geben wird. Sie haben erfreulicherweise schon ge- allen Dingen immer schwächer werdenden Euros – die
sagt, dass Sie sich dazu bekennen: Kompetenzabgren- Bewegung geht ja nach unten – nicht unterschätzen. Hohe
zung, Grundrechte-Charta, Weiterentwicklung und Ver- Preise für Importe werden sich früher oder später auch in
einfachung der Verträge und die Reform des Rates. der Inflationsrate bemerkbar machen. Wer vor dem Win-
Nun komme ich zu einem Punkt, den ich langfristig für ter Heizöl einkauft oder heute seinen Wagen voll tankt,
sehr entscheidend halte. Wenn wir uns fragen, welche In- der zahlt einen guten Teil des hohen Preises: einmal we-
stitution in Brüssel am stärksten für Intransparenz, ge- gen der Ökosteuer – das ist jetzt aber nicht Thema – und
zum Zweiten wegen des schwachen Euro.
(B) ringe demokratische Legitimation und große Bürokratie (D)
verantwortlich ist, dann ist das der Rat. Der Ministerrat In einer solchen Situation muss sich die Bundesregie-
ist so, wie er sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, eine
rung bei ihren Äußerungen wirklich zurückhalten. Sie
Fehlkonstruktion, die es zu korrigieren gilt.
darf auf keinen Fall die falschen Signale setzen. Wenn der
(Hans Georg Wagner [SPD]: Stimmt!) deutsche Bundeskanzler – wie vor wenigen Tagen im
Ich will die kritischen Punkte nennen: Erstens. Der Rat Fernsehen weltweit übertragen – verkündet, es sei eigent-
ist Legislative, Exekutive und Kontrolleur der Exekutive lich eine gute Sache, dass der Euro schwach wird, dann
zugleich. Das bedeutet eine massive Verletzung der Ge- muss man sich nicht wundern, wenn die internationalen
waltenteilung; parlamentarische Beteiligung und öffentli- Devisenmärkte darauf reagieren und den Euro purzeln
che Kontrolle sind nicht gesichert. Deswegen müssen wir lassen. Das halte ich für einen schwerwiegenden Fehler
das reformieren. Der Rat sollte sich zur zweiten Kammer des deutschen Bundeskanzlers.
der Legislativen entwickeln. Die Aufgaben der Exekutive (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –
müssen bei der Kommission zusammengefasst werden. Gernot Erler [SPD]: So einen Einfluss hat der
Zweitens. Die innere Struktur des Ministerrates ist Kanzler?)
streng nach Fachressorts aufgesplittert. Das führt zu un- Jetzt versucht Herr Eichel, den politischen Weichspül-
sinnigen Entscheidungen. Da macht der Rat der Land- gang, den Herr Schröder eingelegt hat, wieder auszu-
wirtschaftsminister einen großen Beschluss zur Förde- schalten. Es ist eine Frage, wer von beiden gewinnt. Der
rung des Tabakanbaus in Europa, und der Rat der
Schaden für uns, für Deutschland, für die Bürger, ist schon
Gesundheitsminister stellt EU-Mittel zur Verfügung, um
eingetreten. Kollege Hoyer hat auf das Referendum in Dä-
die Menschen vom Tabakrauchen abzubringen.
nemark hingewiesen. Da geht es um die Frage, ob die Dä-
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das nen der Einführung des Euro zustimmen. Es wäre fatal,
läuft genauso wie bei der Bundesregierung!) wenn diese Entscheidung negativ ausfiele.
Diese Unsinnigkeit ist nur ein kleines Beispiel. Das muss Natürlich kann der deutsche Bundeskanzler mit seinen
aufgehoben werden. Das geht nur, wenn die ursprüngliche Ausführungen den Euro jetzt nicht wieder ganz schnell
Idee des Allgemeinen Rates aktiviert wird, wenn er in ei- hoch treiben. Das wäre ja eine wunderbare Sache. Er hat
ner festen Zusammensetzung von Europaministern tagt, ihn aber mit seinen Redereien heruntergeholt. Das finde
die ihrer Regierung tatsächlich verantwortlich sind, und ich sehr negativ.
wenn der Rat seine parlamentarischen Funktionen wahr-
nimmt und seine exekutiven Funktionen abgibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
11124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Peter Hintze

(A) Vor diesem Hintergrund kann ich gut verstehen, dass Es ist ja schön, dass Sie den Kalender unseres Außenmi- (C)
der Präsident der EZB, Herr Duisenberg, der letzten Kon- nisters so genau studieren. Sie sollten dann allerdings bei
ferenz der EU-Finanzminister fern geblieben ist. Da hat es der Wiedergabe nichts weglassen.
eine große Aufregung der Finanzminister gegeben. Er hat (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Ich bin beruhigt,
damit das klare Signal gesetzt, dass die Europäische Zen- wenn er nicht das Licht ausknipst auf der
tralbank – so wie in den Verträgen verankert – ihre Unab- EXPO!)
hängigkeit verteidigt und sich nicht an den Zügel der Fi-
nanzminister oder der Kanzler legen lässt. Das ist eine Lassen Sie mich – bei allem Streit – damit beginnen,
gute Sache. Er hat damit ein Zeichen der Unabhängigkeit dass wir natürlich alle darin übereinstimmen, dass wir uns
gesetzt. zusammen mit der Göttinger Bevölkerung sehr darüber
freuen, wenn sich die Familie Wallert heute in ihrer Hei-
(Beifall bei der CDU/CSU) matstadt wieder vereinigt.
Zum Schluss noch einen Gedanken: Einen Beschluss (Beifall im ganzen Hause)
haben die Finanzminister im Ecofin-Rat gefasst, den ich
Vielen ist dafür zu danken, auch dem libyschen Ver-
nicht verstehe und über dessen Korrektur noch einmal dis-
mittler, der immer wieder den Weg und die Kontakte zu
kutiert werden muss. Es geht um die Frage, wann die Bür-
den Entführern fand, aber in diesem Zusammenhang ins-
gerinnen und Bürger im Land das Euro-Bargeld bekom- besondere auch und für uns natürlich den Beamten und
men. Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, sich zu der leitenden Ebene des Auswärtigen Amtes. Denn wer
weigern, den Menschen vor dem 1. Januar 2002 den Um- die lange und zermürbende Geschichte dieser Geiselhaft
tausch zu ermöglichen. Es würde die Umtauschproze- verfolgte, der weiß, dass an manchen Punkten Entschei-
dur erheblich entkrampfen, wenn wir nicht alles auf den dungen sehr schnell hätten zu Katastrophen führen kön-
1. bzw. 2. Januar 2002 konzentrieren – das ganze Ban- nen. Dass solche Klippen umschifft wurden, ist auch der
kensystem droht dann zusammenzubrechen –, sondern Besonnenheit der beteiligten Diplomaten zu verdanken.
wenn wir den Menschen Gelegenheit geben, den Euro
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schon vor 2002, im Dezember 2001, in die Hand zu be-
kommen. Hier sollten die Finanzminister noch einmal Und nun zum Streit. Sie wären natürlich eine ganz
nachdenken. Das ganze Umtauschverfahren, der Einsatz schlechte Opposition, wenn Sie nicht in den Wunden der
der neuen Geldscheine würden erleichtert, wenn die Fi- Koalition herumbohren würden. Natürlich – das liegt ja
nanzminister sagen: Jawohl, wir machen es möglich, dass auf der Hand – mussten Sie über die Widersprüche in der
(B) das Geld bereits im Dezember 2001 umgetauscht wird. Rüstungsexportpolitik sprechen. (D)
Europa ist nicht nur eine Sache von Mark und Pfennig (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]:
und von Euro und Cent. Gerade mit dem Geld muss man Die ist chaotisch!)
aber behutsam umgehen, wenn man die Europabereit- Nur, die Fronten sind doch ganz klar: Haben wir vonsei-
schaft der Menschen im Lande stärken will. Dazu fordere ten der CDU – von der CSU muss ich gar nicht sprechen –
ich die Bundesregierung auf. oder zumindest von den Liberalen jemals eine Unterstüt-
zung unserer Standpunkte gefunden? Nie, hingegen von
Schönen Dank.
einem großen Teil der SPD sehr wohl. Deshalb bleiben
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – wir bei unseren Grundsätzen. Darüber müssen wir nun
Zuruf von CDU/CSU: Es ist höchste Zeit!) wirklich diskutieren.
Wir bleiben erstens dabei, dass Rüstung kein beliebi-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat nun- ges Wirtschaftsgut ist, sondern ein sehr spezielles Gut,
mehr für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Kollege Dr. dessen Export häufig in Form von Kriegen und Bürger-
Helmut Lippelt. kriegen in den Empfängerländern auf uns zurückschlägt.
Zwei Drittel der Rüstungsexporte – sie steigen im Mo-
ment global wieder – gehen auch heute noch in Länder der
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dritten Welt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoyer,
vielleicht befriedigt es ja den ehernen Zensor – wie Sie (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]:
hier vor uns standen –, wenn ich Ihnen mitteile, dass der Aber nicht von uns!)
Außenminister am 20. September auf der EXPO am Na- Bekennen Sie sich zu dem Spruch Ihrer Partei und Ihres
tionalitätentag der baltischen Länder teilnimmt, dass er Altbundeskanzlers: „Frieden schaffen mit immer weniger
dort die baltischen Außenminister empfängt, dass er am Waffen!“ Arbeiten Sie mit uns zusammen an einer klaren
18. Oktober – das ist dann mehr für Ihre Nachbarfrak- Restriktion des Rüstungsexports! Dann können wir über
tion – sogar den Außenstaatssekretär des Vatikans auf der diesen Punkt wieder reden.
EXPO empfängt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Zuruf von der CDU/CSU: Spät kommt er, und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU:
aber er kommt!) Sagen Sie mal etwas zu der Munitionsfabrik!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11125
Dr. Helmut Lippelt

(A) Zweiter Punkt. Es ist doch ganz klar, dass bei Rüs- Deshalb ist der Bericht der Drei Weisen ein sehr nützli- (C)
tungsproduktion das ökonomische Gesetz der Preisverbil- ches Instrument. Die beteiligten Regierungen, denke ich,
ligung durch große Serien nicht gelten kann, dass bei res- haben einen sehr nützlichen Konflikt geführt.
triktiver Rüstungsexportpolitik Rüstung auch teurer sein
(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Jetzt
kann, als sie bei ungehindertem Export wäre.
halten Ihnen die Weisen ein Silbertablett hin,
Drittens. Wir haben in der Koalition Rüstungsexport- damit Sie herauskommen, und Sie gehen wie-
richtlinien vereinbaren können, über deren Einhaltung wir der rein!)
immer wachen werden. Dann haben wir eben die Kon-
– Wer geht denn hier rein?
flikte, an denen Sie sich weiden. Aber das Problem ist für
uns ein noch größeres als das Abschalten der Atomkraft- Noch eine Bemerkung zum Thema Volksabstim-
werke. Auch das müssen Sie sehen. Wenn Sie an der Jahr- mung. Herr Hintze, Sie waren mit Ihren Worten gar nicht
hundertarbeit der globalen Reduzierung und letztlich des so weit von mir entfernt. Aber so allgemein geht es nicht.
Verbots von Rüstungsexporten mitarbeiten, dann sollten Deshalb noch einmal: Volksabstimmungen – das vertreten
Sie hier nicht so eine alberne Tanzerei machen. wir – sind in Fragen des „national destiny“, in Fragen des
Vor allem aber sollten Sie bei meinem vierten Punkt Schicksals der Nation abzuhalten. Volksabstimmungen
helfen. Wir brauchen hier im Parlament mehr Transparenz über andere Länder, über Nachbarn sind reine Arroganz.
auf diesem Gebiet. Das war der Fehler dieser Äußerung. Ihn hat Herr
Verheugen selber eingesehen. Er hat die berühmte Äuße-
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau! Schriftlich, rung gemacht, dass ihm jedes Jahr einmal ein Flop pas-
wohin jede Kugel fliegt!) siert. Gut, damit ist dieses Thema erledigt.
Mein letzter Punkt. Wir werden uns von den Rüstungs- Jetzt kommen wir zu den Verhandlungen über den
exportfans in Ihren Reihen nie das Stöckchen hinhalten Haushalt. Dabei sage ich in Richtung von Herrn Hoyer
lassen, wann die Frage einer Koalitionskrise oder gar ei- und Herrn Lamers: Ich habe mir einmal die Aufstellung
nes Koalitionsbruchs ansteht. Das bestimmen immer noch geben lassen. Es geht um den Anteil des Einzelplans 05
wir. Einmal stand sie an, und wir sind sehr froh, dass wir am Gesamthaushalt. Ich kann Ihnen sagen, dass der An-
dieses Problem gelöst haben. teil seit 1980 von damals 0,93, glaube ich, auf etwa
(Beifall der Abg. Angelika Beer [BÜND- 0,7 Prozent gesunken ist. Herr Hoyer, Sie waren doch da-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) mals selber in der Exekutive. Ich bilde mir ein, ich hätte
im Ausschuss immer angeboten, dass wir die Interessen
Sie sagen jetzt, Gewehre seien doch noch gefährlicher als des Auswärtigen Amtes gemeinsam vertreten. Diese billi-
Panzer. Ja, aber nicht jede Frage wird gleich eine Koaliti- gen Sachen habe ich mir nicht geleistet.
(B) onsfrage. Das wissen Sie ganz genau. (D)
Was ist passiert? Nach 16 Jahren, in der Ihre Fraktio-
Lieber Herr Lamers, jetzt komme ich auf ein anderes nen ihre Regierung nie verteidigt haben, wenn der Haus-
Ihrer Lieblingsthemen. Jetzt komme ich auf Österreich. halt des Einzelplans 05 als Sparbüchse benutzt wurde,
Ich höre immer von Sanktionen. Ich habe auch gehört, es kommen Sie jetzt und verlangen in dem ersten Jahr, in
sei ausgegrenzt worden. Aber was ist denn verabredet dem eine Konsolidierungspolitik dringend nötig ist und
worden? Von den Regierungen der beteiligten Mitglieds- gemacht werden muss und bei der der Vizekanzler weiß,
länder ist ein Verhaltenskodex verabredet worden, nicht dass er solidarisch mitmachen muss, er solle seinen Be-
Sanktionen im normalen Sinne dieses Wortes. Wer den reich nicht im Stich lassen. Nein, der richtige Kampf be-
Bericht der Drei Weisen liest – ich habe den Eindruck, Sie ginnt erst jetzt.
haben ihn überhaupt nicht gelesen –,
Ich bedanke mich für Herrn Lamers und Herrn Hoyers
(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Anmerkung, dass wir da zusammenarbeiten können.
Doch! Doch!) Okay, das Angebot habe ich umgekehrt auch immer ge-
der findet hinreichend Anlass zu sagen: Dieser Krach war macht. Jetzt werden wir das Auswärtige Amt stärken.
nötig. Wenn erstmalig eine klar fremdenfeindliche Partei Damit Sie sehen, dass wir das durchaus anders sehen
in eine Koalitionsregierung eintritt, dann bedarf das aller- können, dass wir auch als Regierungspartei durchaus et-
dings einer Reaktion. was zu bemängeln haben, hatte ich mir einige Sachen no-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tiert, die Herr Erler vorweggenommen hat. Ich sage noch
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) einmal: Es ist natürlich eine sehr fiskalische und von
Außenpolitikern überhaupt nicht zu billigende Sache,
In Ergänzung des Kollegen Erler lese auch ich etwas wenn im Zusammenhang mit der generellen Zusage zum
vor. Was fordern die Drei Weisen? Wir fordern die Ent- Stabilitätspakt jetzt wieder etwas in die Länge gezogen
wicklung eines „Präventiv- und Überwachungsverfahrens wird und auch ein bisschen fehlt. Das können wir uns
... innerhalb der EU“, um auf Entwicklungen innerhalb nicht bieten lassen. Darin sind wir uns, glaube ich, völlig
von EU-Mitgliedstaaten angemessen reagieren zu kön- einig.
nen. – Hier wird gesagt: Natürlich muss auf solche Sachen
reagiert werden. Wir stellen jetzt fest, dass bei diesem ers- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ten Mal eine Exit-Strategie fehlte. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ich sage noch eines: Die Kosten des Stabilitätspakts,
Das lässt ja Böses ahnen!) für vier Jahre finanziert durch eine Finanzierungszusage,
11126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Helmut Lippelt

(A) sind geringer, als die EXPO in einem halben Jahr im Mo- gegen Österreich haben in kleinen Ländern zu der Er- (C)
ment an Defiziten produziert. Das ist sehr viel weniger. kenntnis geführt, dass sich ein großes Land mit einer be-
Wir hätten ganz nebenbei für den Stabilitätspakt noch sonderen Verantwortung für Österreich nicht nur hinter
mehr Geld übrig, wenn wir das hätten. Frankreich, sondern auch hinter Parteipolitik der Sozialis-
ten und der Grünen in Europa versteckt hat und damit ei-
Beim zweiten Punkt ist es genau dasselbe. Es ist natür- nen Weg gegangen ist, der uns viel Zeit gekostet hat, der
lich völliger Unsinn, wenn das Finanzministerium, nach- zu durchschnittlichen Ergebnissen der portugiesischen
dem wir die Mittel für Frieden schaffende Konfliktbe- Präsidentschaft beigetragen hat und der weiter Zeit kosten
wältigung durch ein parlamentarisches Verfahren um wird.
20 Millionen DM aufgestockt haben, jetzt kommt und
sagt: Wir gehen von unserem Entwurf für 2000 aus und Herr Außenminister, Sie stehen heute vor dem Parla-
erklären die damalige Aufstockung zu einer einmaligen ment. Sie müssen vor dem Parlament heute noch erklären,
Sache. Nein, das war nicht einmalig. Hier wird eines der ob Sie eine Aufhebung der Sanktionen aus Sicht der Bun-
wichtigsten Instrumente zukünftiger Außenpolitik aufge- desregierung für richtig halten. Das wollen wir vor Ihrem
baut. Deshalb erwarte ich dringend vom Finanzministe- Abflug wissen.
rium, dass diese Mittel verstetigt werden und wir beim (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
nächsten Mal nicht wieder ein parlamentarisches Verfah- der CDU/CSU)
ren anwenden müssen, sondern dass es vom Fi-
nanzministerium selbst kommt. Zweitens. Das Vertrauen in Deutschland als Anwalt
Osteuropas ist inzwischen leider gestört. Gerade am heu-
Die Klingel hat geläutet. Herr Präsident, Sie haben tigen Tag ist dies äußerst bedauerlich. Schon die Agenda
Recht. 2000 in Berlin hat in den Finanzierungsfragen für Kenner
klar gezeigt, dass die Aufnahme Polens im Bereich Agrar
Vizepräsident Rudolf Seiters: Sie haben zu dem üb- nicht finanziert ist
lichen Mittel gegriffen und das rote Licht durch Ihr Ma- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein ganz
nuskript verdeckt. Deswegen die Klingel. wichtiger Punkt!)
(Heiterkeit im ganzen Hause) und der verbindliche Fahrplan nach wie vor nicht vorliegt.
Es geht nicht, Herr Außenminister, um den detaillierten
Beitrittstermin von Polen, Ungarn oder anderen Staaten,
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
aber es geht um eine Entscheidung der Bundesregierung,
Ich bedanke mich, Herr Präsident. um einen Fahrplan, unter welchen Bedingungen osteuro-
Ich möchte gern noch den Hinweis machen, dass in päische Staaten in Europa willkommen sind.
(B) (D)
14 Tagen eine für uns unglaublich wichtige Wahl stattfin- Ich kann Sie nur darin unterstützen: Am Ende dieses
det, bei der es sich um das Schicksal einer Nation handelt Jahres, in Nizza, muss dieser Fahrplan klar sein.
und bei der wir den Demokraten Jugoslawiens sagen müs-
sen, dass natürlich im Falle, dass sie sich durchsetzen (Beifall bei der F.D.P.)
– worauf wir alle hoffen – die Sanktionen aufgehoben Er muss ehrlich sein, aber er muss klar sein; denn er sorgt
werden und der Dialogprozess sofort wieder beginnt. Dies sonst in den Staaten für empfindliche Rückschritte. Die
alles noch einmal zu sagen halte ich für wichtig. Ansons- F.D.P.-Fraktion hat während ihrer dreitägigen Klausur in
ten bekommen wir ganz schwierige Verhältnisse, zum Dresden Vertreter aus Ungarn eingeladen. Es ist ganz
Beispiel in Montenegro. Folglich wird der Finanzminister deutlich geworden: In Ungarn wird erwartet, dass die
auch die nötigen Mittel für das eine wie für das andere fin- Bundesregierung dazu beiträgt, dass dann, wenn be-
den müssen. stimmte Voraussetzungen da sind, auch Beitrittsfähigkeit
eintritt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Drittens. Die Bundesregierung und insbesondere der
Bundeskanzler gefährden das wichtigste europäische Pro-
jekt, nämlich die gemeinsame Währung. Man sollte sich
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe für die keiner Illusion hingeben. Es ist schwierig genug, die Men-
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Professor Dr. Helmut schen in Deutschland für die Osterweiterung zu gewin-
Haussmann das Wort. nen. Wenn aber die Bundesregierung ihren Beitrag durch
strukturelle Reformen, durch ein Bekenntnis zum starken
Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Herr Präsident! Euro nicht leistet, wenn der Euro vor Eintritt als realer
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zweite Teil der De- Währung – uns trennen davon weniger als fünfhundert
batte gehört der Europapolitik. In meiner knappen Re- Tage –, nicht stärker wird, wird die Skepsis gegenüber
dezeit will ich sagen: Für einen überzeugten Europäer ist weiteren Integrationsschritten in Europa zunehmen. Ich
die Halbzeitbilanz dieser Regierung leider sehr enttäu- kann als Ökonom nur sagen: Das Gerede, ein billiger Euro
schend. Ich mache es an drei Punkten deutlich. ist gut für unsere Exporte, ist sehr kurzsichtig.

Erstens. Über Österreich hinaus leidet das traditionell (Beifall bei der F.D.P.)
gute Verhältnis Deutschlands zu den kleinen Staaten, das Eine Weichwährung gefährdet auf Dauer unsere Wirt-
von uns immer gepflegt wurde. Die baltischen Staaten, die schaftsfähigkeit, weil sie suggeriert, wir hätten unsere
Volksabstimmung in Dänemark zeigen: Die Sanktionen Hausaufgaben gemacht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11127
Dr. Helmut Haussmann

(A) Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika bei einer darauf hingewiesen hat, dass der Beitritt der mittel- und (C)
Währungsveränderung von 20 Prozent schon jetzt so osteuropäischen Staaten nicht möglich sei, wenn Volks-
wettbewerbsfähig sind, muss man sich die Frage stellen, entscheide kämen. Was heißt denn das? Die Menschen
ob Deutschland in der Tat wettbewerbsfähig ist. Deshalb sind noch nicht von der europäischen Idee überzeugt. Da-
kann ich den Außenminister und auch den Finanzminister ran müssen wir arbeiten. Deshalb macht die PDS-Bun-
nur dazu auffordern, das Ihre dazu beizutragen, dass der destagsfraktion immer wieder deutlich, dass im Mittel-
Euro stärker wird. Wir haben sonst keine Leitwährung. punkt der europäischen Politik die zentralen Fragen
(Joseph Fischer, Bundesminister: Genau!) stehen müssen: Wie kann über die Europäische Union Ar-
beitslosigkeit bekämpft werden und wie kann – diese
Die Entwicklungsländer warten auf eine zweite Leit- Frage stellen wir national, regional und auch auf europä-
währung. Sie warten auf eine Alternative zum Dollar. ischer Ebene – ein öffentlicher Beschäftigungssektor
Aber in der jetzigen Verfassung ist der Euro dazu zu aufgebaut werden, der den Staat wieder ernst nimmt und
schwach. dafür sorgt, dass sich die Politik endlich darum kümmert,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass jeder Mensch ein Recht auf Arbeit hat?

Ein Schlüssel liegt in der deutschen Innenpolitik. Be- (Beifall bei der PDS)
schleunigen Sie die Steuerreform. Setzen Sie die Öko- Zum Zweiten geht es darum, dass die Menschen als
steuer aus. Killen Sie nicht die Autokonjunktur. Ehrenamtliche – sei es in den Wohlfahrtsverbänden, sei es
(Widerspruch bei der SPD) in Initiativen – eine Antwort auf den Versuch der EU-
Kommission wollen, die Ökonomisierung der sozialen
Dann tragen Sie das Ihre dazu bei, dass der Euro und Dienstleistungen durchzusetzen. Wir müssen darüber
damit ein wichtiges Symbolprojekt für mehr europäische diskutieren, dass die Privatisierung des öffentlichen Per-
Einigkeit wahr wird. sonennahverkehrs sowie von Wasser und Abwasser kein
Danke schön. Ziel europäischer Politik werden darf und dass Alten-
heime und all das, was in der Bundesrepublik aus der Ge-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten schichte unseres Landes heraus entstanden ist, nämlich
der CDU/CSU) ein starker, von Wohlfahrtsverbänden getragener sozialer
Bereich, nicht einfach dem Wettbewerb unterworfen wer-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion der den dürfen. Auch wenn die PDS-Bundestagsfraktion
PDS spricht der Kollege Uwe Hiksch. Wettbewerb als richtig und wichtig ansieht, werden Pri-
vatisierungsorgien, wie sie zum Teil von der Bundesre-
(B) gierung betrieben und zum Teil von der EU-Kommission (D)
Uwe Hiksch (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin- angedacht werden, und der Versuch, unser bewährtes Sys-
nen und Kollegen! Die Debatte, die unser EU-Kollege tem der Wohlfahrtsverbände zu zerschlagen, eindeutig auf
Günter Verheugen über die Frage losgetreten hat, wie unseren Widerstand treffen. Wir verteidigen die sozialen
es gelingen kann, die Bürgerinnen und Bürger an dem Dienstleistungen und treten deshalb für einen starken öf-
schwierigen Prozess der Veränderung der Europäischen fentlichen Sektor ein.
Union zu beteiligen, ist ein wichtiger Beitrag dazu, end-
lich hier im Hohen Haus und auch bei der Bundesregie- (Beifall bei der PDS)
rung zu erkennen, dass wir die Bürger bei ihren Sorgen Als Drittes wird die PDS-Bundestagsfraktion dafür
und Nöten angesichts der Veränderungen in der Europä- kämpfen, dass Europa so verstanden wird, wie es einmal
ischen Union abholen müssen. Wir müssen darüber reden, gegründet wurde: als Zivilmacht und nicht als Militär-
wie die Menschen in den Prozess der europäischen Inte- macht.
gration einbezogen werden können und wie man ihre Sor-
gen über Arbeitslosigkeit und Sozialabbau ernst nehmen (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)
kann. Wir müssen darüber diskutieren, dass eine der vor- Wer sich anschaut, wie zwischenzeitlich leider auch bei
dringlichsten Aufgaben der Regierungskonferenz auch Bündnis 90/Die Grünen und SPD über die Militarisie-
darin besteht, endlich zu einer Demokratisierung der rung Europas diskutiert wird, gewinnt den Eindruck, dass
Europäischen Union zu kommen. das, was uns Willy Brandt einmal vorgegeben hatte, die
(Beifall bei der PDS) Betonung des Primats des Politischen in der Außenpoli-
tik, von der Regierungskoalition vergessen wurde und
Ein Europa, das sich nicht demokratisiert – hier hat dass nur noch der Primat der Stärke und der Waffen gese-
Oskar Lafontaine in seinen jüngsten Äußerungen absolut hen wird.
Recht gehabt –, das es nicht schafft, einfache, für die Men-
schen verständliche Entscheidungsprozesse zu organisie- (Beifall bei der PDS)
ren, und das wegen des heute vorhandenen Vetorechts von
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-
einzelnen Staaten blockiert werden kann – weshalb es
tion, wenn Sie den Kommentar lesen, den Ihre verteidi-
Mehrheitsentscheidungen als Regelprinzip braucht –,
gungspolitische Sprecherin Verena Wohlleben geschrie-
wird ein Europa sein, bei dem die Menschen nicht mit-
ben hat, dann müssten Sie sich eigentlich schämen, dass
machen wollen.
im Namen der Sozialdemokratie so etwas geschrieben
Das Interessante an der Kritik an Günter Verheugen wurde. Verena Wohlleben schreibt, heute gelte wie eh und
war vor allen Dingen, dass die Mehrheit der Kritiker nur je die Feststellung von Vegetius aus dem 4. Jahrhundert
11128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Uwe Hiksch

(A) vor Christus: „Wenn du den Frieden haben willst, sei Ich betrachte das als ziemlich zukunftsgerichtete (C)
kriegsbereit.“ Was für Worte! In diese Worte passt natür- Grundorientierung. Ich sehe an einzelnen Punkten der De-
lich, dass die rot-grüne Bundesregierung mittlerweile batte Fortschritte, und manches mag Sie jetzt vielleicht
Rüstungsexporte in die Türkei – seien es Panzer, sei es überraschen. Unter Umständen ist die gegenwärtige De-
eine Waffenfabrik – als normal empfindet. Meine lieben batte über den Euro – über seinen zu niedrigen oder zu
Grünen, auch Sie, Herr Außenminister Fischer: Wenn Sie hohen Wert, je nach Blickrichtung, denn jeder Ökonom
noch einigermaßen wüssten, was Sie vor wenigen Jahren wird zugeben, dass es verschiedene Aspekte gibt – die
hier im Hause gesagt haben, dass nämlich Rüstungsex- erste wirkliche europaweite Debatte über ein konkretes
porte an die Türkei ein Skandal seien, müssten Sie sich für europäisches Problem. Dann ist sie ein Fortschritt.
die heutige Politik schämen.
Sie wird die Forderung nach sich ziehen – darüber kann
Wir treten dafür ein, dass die Europäische Union und es gar keinen Zweifel geben –, zu fragen: Welches sind die
die Politik der Bundesrepublik Menschenrechte ernst geeigneten Institutionen und welche geeigneten Kontroll-
nehmen muss. Es muss gelingen, die Grundrechts- möglichkeiten gibt es, um den Euro zu stärken und
Charta rechtsverbindlich zu verankern. Vor allen Dingen stabiler zu machen? Es ist immer schwierig, sich dazu
muss es darum gehen, dass in der Bundesrepublik nicht zu äußern. Herr Kollege Hintze und Herr Kollege
die Wirtschaftsinteressen an erster Stelle stehen und die Haussmann, nehmen Sie es mir nicht übel: Wenn die
Fragen der Menschenrechte, der zivilen Verteidi-
Märkte, auf denen der Euro gehandelt wird, Sie sehr ernst
gungspolitik sowie die Forderung, dass nicht das Militär,
nähmen, was würde nach dem, was Sie hier gesagt haben,
sondern die Außenpolitik zu gelten hat, endlich wieder in
wohl passieren?
den Mittelpunkt kommen. In diesem Sinne wollen wir Eu-
ropa als zivile Gegenmacht gegen Militarismus und gegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
jede Form von international ungezügelten Kapital- und DIE GRÜNEN)
Finanzströmen. Die PDS kämpft für ein Europa der Men-
schen und nicht – wie leider zwischenzeitlich die rot- Ein weiterer Punkt ist die Debatte über die öster-
grüne Bundesregierung – für ein Europa, das nur noch die reichische Innenpolitik. Ich denke, sie war nützlich für
Ökonomie kennt. Europa. Sie hat europäische Werte herausgearbeitet. Ich
glaube, sie wird die Umsetzung des europäischen Grund-
Danke schön. rechtskatalogs erleichtern, dessen Erarbeitung ein großes
(Beifall bei der PDS) Verdienst ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort Sie war eine notwendige Debatte. Sie war vielleicht ein (D)
(B) dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph
wenig ein Anachronismus, weil es hier insofern bereits
Zöpel. um europäische Innenpolitik geht, als man nicht will, dass
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist er es noch?) in Europa an Regierungen Parteien beteiligt sind, die
fremdenfeindlich sind.
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen (Beifall bei der SPD)
Amt: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Aber ein letztes Mal: Wegen des Zustandes der euro-
Kollegen! Die letzten Wochen und auch diese Debatte
päischen Institutionen musste das mit diplomatischen
sind von der notwendigen Forderung nach mehr europä-
ischer Öffentlichkeit bestimmt. Ich stimme dem zu. An Mitteln gemacht werden. Diplomatie und Öffentlichkeit
den kritischen Anmerkungen, dass sie an vielen Punkten schließen sich doch vielfach aus. Das ist ein Problem der
in Europa fehlt, ist viel dran. Sie fehlt auch im Minister- Debatte.
rat. Noch stärker fehlt sie zwischen den Ländern; am
stärksten fehlt sie zwischen den Ländern, die bereits in der Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Zöpel,
EU sind, und denen, die in die EU kommen wollen. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Bevor man darüber nachdenkt, wie man weiterkommt
und was bereits passiert ist, ist es wichtig, sich zu ver- Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen
deutlichen, welche Kommunikation, welche Öffentlich- Amt: Selbstverständlich, immer.
keit und mit welchem Ziel dies notwendig ist. Die Debatte
über mehr europäische Öffentlichkeit macht nur dann ei-
nen Sinn und gibt nur dann eine richtige Orientierung, Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Staatsminister Zöpel, Herr
wenn sie in eine durch Wahlen erfolgende Legitimation Haussmann hat eben den Außenminister aufgefordert, zu
europäischer Politik, in die parlamentarische Wahl und erklären, wie es die Bundesregierung jetzt mit den Sank-
parlamentarische Kontrolle einer europäischen Exekutive tionen gegen Österreich hält. Nachdem mit Ihrer Person
mündet. wiederum ein Vertreter der Bundesregierung am Redner-
pult steht, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Was ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der denkt die Bundesregierung jetzt, nach dem Bericht der
CDU/CSU) Weisen, mit den Sanktionen gegen Österreich zu tun?
Wenn das in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, nützt Wollen Sie sie aufheben, ja oder nein, und, wenn ja,
es auch nichts, zu fordern, wir müssten mehr diskutieren. wann?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11129

(A) Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen werden wir in der effizientesten Form auch tun. Ich bin (C)
Amt: Kollege Irmer, ich kann Ihnen nach Rücksprache sicher, es wird einen Vertrag geben, mit dem sich das
mit dem Bundeskanzler die Antwort geben, die auch not- schaffen lässt. Der Vertrag wird in einigen Punkten wei-
wendig ist: Wir wollen es der französischen Präsident- terweisen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen,
schaft überlassen – natürlich nach Konsultationen mit al- etwa 2004 sei ein geeigneter Zeitpunkt, über eine europä-
len Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands –, die ische Grundordnung zu sprechen, die mehr Öffent-
Entscheidung bekannt zu geben. Alles andere als der lichkeit, mehr Demokratie und auch Kompetenzabgren-
engste Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutsch- zungen bringt. Dann können wir mit der Osterweiterung
land in dieser Frage wäre ein fataler Fehler der deutschen weitermachen.
Politik. Das Wichtigste der Osterweiterung für Deutschland
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist für mich in der bisherigen deutschen Debatte zu kurz
DIE GRÜNEN) gekommen: Die Osterweiterung ist aus deutscher Sicht
nicht allein ein Vorgang der Ausdehnung der Marktwirt-
Die Debatte, die durch einen solchen Fehler ausgelöst schaft nach Osteuropa und der Übernahme des Acquis.
würde, würden Sie nutzen, um eben diesen Fehler zu Die Osterweiterung – wer etwas anderes behauptet, macht
geißeln. Das wissen wir von Anfang an. So bleibe ich bei einen Fehler – ist auch die historische Aufgabe der Aus-
meiner Antwort: Wir überlassen es – nach Konsultatio- söhnung Deutschlands mit Polen und Tschechien.
nen – der französischen Präsidentschaft, die Entscheidung
der 14 EU-Mitgliedstaaten bekannt zu geben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Vertragswidriger
Zustand!) Es ist jetzt die Stunde gekommen, der Aussöhnung
Deutschlands mit Frankreich, um die wir weiterhin rin-
gen – meine eben gemachten praktischen Hinweise waren
Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine ein Zeichen dafür –, diese Aussöhnung folgen zu lassen.
zweite Zwischenfrage? Wer etwas anderes behauptet, der wird die Chance, die in
der Osterweiterung liegt, nicht nutzen. Konkrete Fort-
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen schritte sind bereits deutlich geworden: In der Helsinki-
Amt: Ich möchte eigentlich gerne weiterreden. gruppe ist ein Großteil der Kapitel und in der Luxem-
burggruppe sind alle Kapitel mit den Staaten eröffnet
Ich bin jetzt sehr konkret auf die Europapolitik einge- worden. Die ersten sind abgeschlossen. Aber ein Kapitel
gangen. Herr Kollege Hintze, eines nehme ich Ihnen per- öffnen und abschließen heißt: Im Augenblick geht es um
(B) sönlich übel, nämlich die Bemerkung, die Bundesregie- die Übernahme des Acquis. (D)
rung habe Sie über die Osterweiterung in den Aus-
schüssen nicht zulänglich informiert. Ich kenne keine ein- Eine realistische Einschätzung ist – jeder, der sich da-
zige Frage aus den letzten 12 Monaten, die ich Ihnen nicht mit beschäftigt, wird das so sehen –, dass die Gespräche
so ausführlich beantwortet habe, dass sich manche schon über den Acquis und seine Übernahme mit den entspre-
gewundert haben, wieso ich so ausführlich war. Das ist die chenden Ländern etwa zu dem Zeitpunkt abgeschlossen
Realität. sein werden, wenn Nizza von den 15 EU-Staaten ratifi-
ziert wird. Dann wird nur noch über wenige zentrale
(Beifall bei der SPD) Punkte zu diskutieren sein, nämlich zum Beispiel über die
Jetzt möchte ich auf das Konkrete, was in der Europa- Fragen der Übergangsbestimmungen und der Finanzie-
politik seit Ende 1998 durchgesetzt und fortgesetzt wird, rung. Ich glaube, dass es Sinn macht, wenn über die
eingehen. Übergangsbestimmungen, die für die, die schon Mitglied
in der EU sind, und für die, die noch hineinkommen wol-
(Zurufe von der CDU/CSU) len, von Bedeutung sind, sensibel gesprochen wird. Für
– Ich muss mir nicht den Vorwurf machen lassen, dem mich stehen die Übergangsbestimmungen in einem sehr
Parlament zu knapp berichtet zu haben. Ich habe eher zu engen Zusammenhang mit der Idee der Versöhnung. Ver-
ausführlich über das berichtet, was ich in einer transpa- söhnung ist auch Gewöhnung. Gewöhnung bedeutet in
renten Demokratie für notwendig gehalten habe. Ich bin einzelnen Fällen auch Übergangsbestimmungen; sei es
leidenschaftlich für Transparenz im Parlament und sogar wegen der Befürchtungen der Polen beim Erwerb von
im Ministerrat der EU. Grundstücken, sei es – zum Glück abnehmend, weil im-
mer bewusster wird, dass die Zahl der Menschen und auch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Zahl der Erwerbskräfte in Deutschland abnimmt – bei
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der der Frage der Zuwanderung von Arbeitskräften. Das mag
PDS) dann nach 2002 geschehen. Dann wird sich auch die Frage
Wir haben in Helsinki und während der portugiesi- der Finanzierung noch einmal stellen.
schen Präsidentschaft Fortschritte gemacht. Wir stehen Die Agenda 2000 ist doch klug gemacht: In der Mitte
jetzt unter der französischen Präsidentschaft vor der Not- ihrer Laufzeit ist eine Revisionsklausel vorgesehen. Sie
wendigkeit, die Voraussetzungen für die Osterweiterung liegt genau an dem Punkt, wo die harten Verhandlungen
zu schaffen. Unsere Linie ist, mit all unserem Tun Frank- über diese Themen beginnen. Die Revisionsklausel hat
reich zum Erfolg zu verhelfen. Das ist das Klügste und man vorgesehen, um neu nachdenken zu können. Das ver-
Notwendigste, was auch Sie immer gefordert haben. Das bindet sich dann mit der Debatte um die Agrarpolitik, die
11130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Staatsminister Dr. Christoph Zöpel

(A) man fair führen muss. Dass die polnische Agrarwirtschaft Staaten, die beitreten wollen, fragen: Wie wirkt das bei ih- (C)
noch nicht den Entwicklungsstand der deutschen Agrar- nen? Dann kann man mit ihnen auch viel offener reden.
wirtschaft erreicht hat, wissen die Polen so gut wie wir. Dann leisten wir etwas in diesem Jahrzehnt.
Aber dass insgesamt die Agrarwirtschaft der Welt im In-
Ich glaube, wir haben dabei Fortschritte gemacht. Die
teresse vieler ein wenig geändert werden muss, weiß je-
Weise, in der Sie mir zugehört haben, hat mich beein-
der, der schon einmal das Stichwort Agrarverhandlungen
druckt. Ich habe das Gefühl, Sie sind mit mir in dieser
im Rahmen der WTO gehört hat. Auch dies wird etwa
Notwendigkeit einer Meinung.
nach 2002/03 zusammenlaufen.
Herzlichen Dank.
Dann werden wir ratifizieren müssen, und dann zeigt
sich etwa in der Mitte dieses Jahrzehnts – der Außenmi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nister hat mutig, wenn ich das so sagen darf, 2005 ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nannt –, ob es die meisten der ersten acht osteuropäischen PDS)
Staaten und sicherlich mit Sonderüberlegungen Zypern
und Malta – das will ich hier nicht vertiefen, das weiß je-
Vizepräsident Rudolf Seiters: Zu einer Kurzinter-
der – geschafft haben. Das ist dann eine Erweiterung um
vention erhält das Wort der Kollege Peter Hintze.
70 Millionen Menschen. Das ist ein historischer Schritt.
Ich glaube, es ist nichts verzögert, es geht voran.
Peter Hintze (CDU/CSU): Herr Zöpel, Sie haben
Ich erlebe bei den Hunderten von Gesprächen, die ich
eben eine Ausführung, die ich hier im Bundestag gemacht
mit verschiedensten Gesprächspartnern führe, immer
habe, angegriffen und bestritten. Der intellektuellen Red-
mehr Zustimmung dazu, dass dieser Prozess recht objek-
lichkeit wegen will ich doch einmal kurz den Sachverhalt
tiv beschrieben werden kann. Es kann in der zweiten
darstellen.
Hälfte dieses Jahrzehnts dazu kommen, dass es auch den
Rumänen und Bulgaren gelingt hinzuzustoßen. Es wäre Wir fühlen uns von Ihnen persönlich auf die von uns im
wunderbar – eine Hoffnung im Hinblick auf die Wahlen Ausschuss gestellten Fragen zu den von uns angespro-
in den nächsten Tagen, die Herr Kollege Lippelt genannt chenen Komplexen immer fair, gut und zügig unterrich-
hat, steht damit im Zusammenhang –, wenn im Laufe die- tet. Ich habe hier einen anderen Komplex angesprochen,
ses Jahrzehnts auch mit den restlichen Europäern nord- möglicherweise war er Ihnen nicht präsent – ich werde es
westlich von Athen bzw. westlich der Grenze der ehema- mir jetzt auch verkneifen, auf die amtsinternen Auseinan-
ligen Sowjetunion gesprochen werden kann. dersetzungen einzugehen, wer für was zuständig ist –: Es
gibt im Zusammenhang mit der Osterweiterung mittler-
Ich sehe hier klare und deutliche Perspektiven und
(B) schließe mit dem, womit ich begonnen habe: Das bedarf weile mehrere Hundert Verhandlungsdokumente in den (D)
einzelnen Kapiteln über die einzelnen Länder, die die
einer gesamteuropäischen Kommunikation. Wer über
Bundesregierung freundlicherweise im Rahmen der guten
Polen oder Tschechien kommuniziert, sollte sich immer
Zusammenarbeit den Bundesländern zur Verfügung stellt.
überlegen: Wie hören die das? Das ist meine Sorge.
Ich habe hier angesprochen, dass es auch das gute Recht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Deutschen Bundestages wäre, wenn der Fachaus-
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Friedbert schuss, wenn wir als Opposition die Gelegenheit hätten,
Pflüger [CDU/CSU] – Zuruf von der CDU/ alle diese Dokumente zu bekommen, um nicht schlechter
CSU: Das müssen Sie Herrn Verheugen sagen!) als die Bundesländer gestellt zu werden. Das ist ein parla-
mentarisches Anliegen, das ich aus dem allgemeinen par-
Ich war vorhin mit einer Polin, die ich besonders schätze,
teipolitischen Streit heraushalten wollte. Das wollte ich
mit der polnischen Botschafterin in Wien, zusammen.
hier ansprechen. Ich bitte darum, in diesem Punkt keinen
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr falschen Widerspruch aufkommen zu lassen.
nette Dame! Sympathisch ist die!)
Schönen Dank.
– Eben. Sie ist im selben Krankenhaus geboren wie ich,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
so etwas verbindet.
der F.D.P.)
(Heiterkeit – Dr. Karl-Heinz Hornhues
[CDU/CSU]: Aber nacheinander!)
Vizepräsident Rudolf Seiters: Zur Erwiderung der
– Zehn Jahre später! Kollege Zöpel.
Sie hat mir erzählt, Sie habe den Gedanken, zunächst
in Österreich – weil sie dort eben Botschafterin ist – einen Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen
österreichisch-polnischen Journalistenpreis auszusetzen. Amt: Ich habe inzwischen auf jede entsprechende Bitte im
Ich halte das für einen hervorragenden Gedanken. Wir Ausschuss reagiert, indem ich festgestellt habe: Sie be-
sollten auch darüber sprechen, wie wir es honorieren kön- kommen diese Unterlagen. Das sage ich auch hier, im-
nen, wenn so sensibel wie möglich über die Menschen ge- mer – aber nur zur Absicherung – mit dem Hinweis: Es
schrieben wird, mit denen wir uns versöhnen müssen. Das gibt manchmal – aber viel seltener, als man glaubt – eine
ist für mich die große Herausforderung europäischer verfassungsrechtliche Restriktion. Wenn es die nicht
Kommunikation, die sich uns stellt und an der wir alle gibt – ich sehe sie nicht –, dann bekommen Sie, wie von
mitwirken müssen. Wir müssen bei jedem Reden über die mir jedes Mal zugesagt, jedes von Ihnen gewünschte Pa-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11131
Staatsminister Dr. Christoph Zöpel

(A) pier im Rahmen der Osterweiterung. Dies habe ich hier- Ich bin aber auch sehr dafür, dass wir unser Volk, die (C)
mit erneut zugesagt. Bürger, die uns gewählt haben, unsere Mitbürger, in die
Politik so ernsthaft einbeziehen, dass wir uns auch der
(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Da ist
Mühe unterziehen, zu argumentieren, wie notwendig die
ja mal was Konkretes herausgekommen!)
Integration Polens, Tschechiens und Ungarns ist. Es mag
dann natürlich das eine oder andere Thema geben, über
Vizepräsident Rudolf Seiters: Nun gebe ich dem das vertieft gesprochen werden muss und bei dem es Dis-
Kollegen Dr. – – , dem Kollegen Christian Schmidt, krepanzen gibt, die aus dem Weg geräumt werden müs-
CDU/CSU-Fraktion, das Wort. sen.
(Heiterkeit) Die Agenda 2000 wurde bereits angesprochen. Den
– Man kommt bei den Doctores und bei den Professoren Bürgern bei uns ist nicht klar, wie die Finanzierung der
schon ein bisschen durcheinander. Da gibt es auch Hono- Erweiterung der Europäischen Union vonstatten geht. Sie
rarprofessoren und andere. Also, der Kollege Schmidt hat sehen nur, dass die Beträge, über die in Berlin damals ver-
das Wort. handelt worden ist, nicht ausreichen. Ich will gar nicht al-
lein von der polnischen Landwirtschaft reden. Wir haben
eine ganze Reihe von Defiziten. 68 Milliarden DM für die
Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- Beitrittsländer ist zu wenig. Die Frage ist: Wie löst sich
dent! Ohne die Gepflogenheit zu missachten, den präsi- das Problem der Defizite?
dierenden Kollegen in irgendeiner Weise in die Debatte
einzubeziehen, stellt sich natürlich auch die Frage, in wel- Der luxemburgische Ministerpräsident Juncker hat ja
cher Funktion der Kollege vor mir in der Tat gesprochen nun vor einiger Zeit nicht gerade freundliche Sätze über
hat und ob Sie die Dauer seines Beitrags nicht eigentlich den Europäischen Rat gesagt, als er über die Art und
auf die Redezeit der SPD-Fraktion anrechnen müssten. Weise gesprochen hat, wie die Verhandlungen ablaufen
und wie intensiv bzw. weniger intensiv Vorlagen gelesen
Ich darf sagen: Ich habe die Art und Weise sehr ge-
werden. Es lohnt sich schon, die Agenda 2000 noch ein-
schätzt, wie Staatsminister Zöpel in einem Bereich, für
den er, wenn ich recht weiß, nicht mehr zuständig ist, ge- mal zu lesen. Ich befürchte, dass sie auch damals einige
antwortet hat. Manchmal lassen Äußerungen – auch die- nicht ganz gelesen haben.
jenigen, die Kollege Hintze angesprochen hat – von an- Der Bundeskanzler hat in einer Situation, in der er von
derer Seite der Bundesregierung Schärfe, Deutlichkeit Europa noch recht wenig Ahnung hatte – noch weniger,
und Klarheit vermissen. Es gibt in der Tat eine ganze als er gegenwärtig hat –, seine Zustimmung zu Entschei-
Reihe von Fragen, die wir angesprochen haben, von den dungen gegeben, bei denen eine deutsch-französische Ko- (D)
(B) Fragen der beabsichtigten Übergangsregelungen bis hin
operation nötig gewesen wäre. Ich will nur noch einmal
zu manchen anderen Dingen, über die dieses Parlament, das Thema Kofinanzierung ansprechen. Diese ist kein
das als Verfassungsorgan in der repräsentativen Demo- Heilmittel, aber notwendig.
kratie ausgehandelten Verträgen mit einer entsprechenden
Mehrheit zuzustimmen hat, gerne rechtzeitig informiert Wo ich schon bei den deutsch-französischen Bezie-
würde. Das ist ein Stück Bürgernähe und Demokratiever- hungen bin, möchte ich noch ein Vorgehen ansprechen,
ständnis, das notwendig ist. Es hat ganz und gar nichts mit das nicht unwidersprochen bleiben kann. In Bezug auf das
dem zu tun, was Herr Kollege Zöpel angesprochen hat. Vorgehen gegen Österreich wird das Argument ge-
Ich will einen Punkt aufgreifen, den er genannt hat. Er bracht, es sei dringend erforderlich, dem deutsch-franzö-
hat den Schwerpunkt auf die Osterweiterung und gerade sischen Verhältnis in dieser Frage die Priorität einzuräu-
auf unsere Nachbarländer gelegt. Es ist in der Tat eine men. Jawohl, es ist richtig, dass das deutsch-französische
ganz entscheidende Frage, wie die Wirkung unserer Posi- Verhältnis in allen Bereichen ein Schlüsselverhältnis für
tion auf Polen, auf die Tschechische Republik und auf das Gedeihen der europäischen Integration ist. Das kann
Ungarn gesehen wird; allerdings – ich gestatte mir, das aber nicht heißen, dass in solchen Fragen wie in denen der
dazuzusagen – gilt es auch zu berücksichtigen, wie die Behandlung von Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Wirkung der Fragestellungen auf unsere eigenen Bürger einer französischen Einlassung – wenn es denn so war –
ist. mit gewisser deutscher Unterstützung der Weg gebahnt
wird, Deutschland jetzt aber nicht bereit ist, die Initiative
Der Kollege Verheugen hat schon vor Monaten Fra-
gestellungen aufgeworfen, beispielsweise die der Konse- zu ergreifen – diese muss ja nicht coram publico stattfin-
quenz der Freizügigkeit, die mich vermuten lassen, dass den – und zu sagen: Meine lieben französischen Freunde,
seine Äußerung nicht ein rechter Ausrutscher war, son- ich glaube, wir müssen hier einen Ausweg finden. Der
dern eigentlich in der Konsequenz seines Denkens liegt. Ausweg, der jetzt in Form einer Brücke, die der Bericht
Ich bin sehr dafür, dass wir keine Unklarheit aufkommen der Drei Weisen baut, geboten wird, wäre da. Unter Ziffer
lassen und dass wir die Osterweiterung der Europä- 115 findet sich sogar etwas, durch das sich diejenigen be-
ischen Union als eine politische Jahrhundertaufgabe an- stätigt fühlen können, die immer noch meinen, die Sank-
sehen, an der wir alle arbeiten. tionen hätten irgendetwas Positives bewirkt, und was man
aufnehmen könnte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
GRÜNEN) NEN]: Wir sind hier coram publico!)
11132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Christian Schmidt (Fürth)

(A) Ich wiederhole das, was Kollege Haussmann gesagt gleitung, die wir anbieten, unterstützen. Lassen Sie sich (C)
hat: Ich fordere den Außenminister auf, sich hier und jetzt, vom Finanzminister nicht die Butter vom Brot nehmen.
bevor er zur Generalversammlung der Vereinten Nationen (Gernot Erler [SPD]: Das Problem ist, der
nach New York entschwindet, hinzustellen und zu sagen, nimmt nicht nur die Butter, sondern auch das
ob er wie sein dänischer Kollege und entsprechend der Brot!)
gestrigen Ankündigung von Herrn Moskovici bereit wäre,
die Sanktionen aufzuheben. Er geht ja inzwischen nicht nur so weit, dass er Ihnen Stel-
len streicht – ab und zu gibt Ihnen der Haushaltsausschuss
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ein paar Stellen, die Sie gar nicht wollten; vielleicht ver-
Wir sind doch hier öffentlich!) suchen Sie das auch in diesem Jahr –, sondern sogar noch
Ich möchte da schon noch einmal auf die Feinheiten Ihrer weiter. Wenn der Finanzminister sagt, die EU-Länder
Argumentation eingehen. Es geht nicht, zu sagen, das sei bräuchten untereinander keine diplomatischen Vertretun-
keine Angelegenheit der portugiesischen Präsidentschaft; gen mehr, dann sollten im diplomatischen Dienst und
deren Briefpapier sei nur versehentlich verwendet wor- auch bei unserer Außenpolitik alle Alarmglocken läuten.
den; es handle sich hierbei vielmehr um Einzelentschei- Die Vertretungen sind nicht nur ein Teil europäischer In-
dungen der 14 Staaten. Ich kann mich gut daran erinnern, nenpolitik, sondern auch ein Teil der Darstellung der Bun-
wie wir in der Fragestunde hier standen und wie unsere desrepublik Deutschland nach außen. Wenn es in Öster-
mündlichen Fragen von Herrn Staatsminister Volmer in reich keine Botschaft mehr gegeben hätte, dann hätten Sie
niemanden mehr gehabt, der nach Ihrer Version überhaupt
einer sehr herablassenden Art und Weise beantwortet und
noch mit Österreich hätte reden dürfen. Seien Sie also
korrigiert wurden.
dankbar, dass wir in Österreich eine Botschaft mit sehr
(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verdienten Mitarbeitern haben, die anständig und gut ge-
NEN]: Das ist das Schicksal der Opposition!) arbeitet haben.
Es ist nun so, dass jeder für sich entscheiden kann, denn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
es betraf nur die bilateralen Beziehungen. Herr Fischer, wie des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])
seien Sie mutig, nehmen Sie die bilateralen Beziehungen Wir stimmen in Bezug auf die Reform des auswärtigen
zu Österreich wieder auf, entschuldigen Sie sich anstän- Dienstes auch zu, dass dieser zahlenmäßig nicht reduziert
dig und sagen Sie: „Ich habe Blödsinn gemacht; ich will werden darf – ich will das noch einmal ansprechen – und
versuchen, das nicht mehr zu tun.“ Dann passt die Sache. dass wir dabei eine Art Generalrevision durchführen müs-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sen, nicht weil das Gesetz über den auswärtigen Dienst
(B) neten der F.D.P. – Dr. Karl-Heinz Hornhues aus dem Jahre 1990 nicht mehr gut wäre, sondern weil (D)
[CDU/CSU]: So muss das sein! – Joseph sich die politischen und technischen Realitäten geändert
Fischer, Bundesminister: So ein Schmarren!) haben. Wenn es aber stimmt – da ist die Zahl wohl eini-
germaßen zutreffend –, dass zahlenmäßig gerade einmal
– Nein, so einfach ist es nicht. Ich möchte Ihnen ganz die Hälfte der Diplomaten, die Frankreich oder Großbri-
ernsthaft sagen: Gehen Sie einmal nach Österreich und tannien in seinem Dienst hat, die gleiche Arbeit für das
sprechen Sie mit Ihren Genossen. Fragen Sie sie – viel- größere Deutschland leisten muss, dann zeigt das erstens
leicht in zwei bis drei Jahren, wenn sie ihre Wahlnieder- die Arbeitsbelastung unserer Diplomaten und zweitens
lage verdaut haben –, ob Sie ihrem Lande etwas Gutes ge- die Notwendigkeit, diese Arbeit neu zu definieren und in
tan haben. eine neue Politik mit einzubeziehen. Ich befürchte, allein
mit der klassischen Vorstellung vom Diplomaten wird bei
Ich habe es vorhin in allem Ernst als Zwischenruf ein-
keinem Finanzminister die Geneigtheit bestehen, mehr
gebracht. Wenn bei den anstehenden Kommunalwahlen in
Geld locker zu machen.
Belgien jetzt der Stimmenanteil des Vlaams Blok in
Antwerpen oder sonst wo möglicherweise noch zunimmt Das heißt, die Motivation muss gestärkt werden, die
– davor besteht ja Furcht –, dann muss man das auch an Aufgaben müssen neu definiert werden. Die Motivation
der Fragestellung messen, ob denn solche Sanktionen et- leidet allerdings dann, wenn beim internen Stellenkegel
was nützen oder nicht. Wenn Herr Haider jetzt öffentlich und vor allen Dingen bei den politischen „guidelines“, bei
triumphiert, dann ist das eine Konsequenz Ihrer Schnaps- den Richtlinien, Schwierigkeiten bestehen. Auf diese
ideepolitik mit diesen komischen Sanktionen. muss man noch einmal zu sprechen kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Da geht es beispielsweise um die Frage: Wie wird ei-
neten der F.D.P. – Zurufe von der SPD) gentlich mit Russland umgegangen? Wie wird mit dem
transatlantischen Verhältnis umgegangen? Wo ist da die
Eigentlich wollte ich ja mit einem Lob anfangen. Das Orientierung? In Ihrer Rede finde ich sehr wenig zu die-
Lob bezog sich auf die Botschafterkonferenz, die Sie, ser Frage; Sie haben es zum Schluss kurz angesprochen.
Herr Außenminister, durchgeführt haben, und auf die Re- Ich finde auch keine Beschäftigung mit den Schwierig-
den, die dort bezüglich der Perspektiven des auswärti- keiten, die insbesondere in Russland auftreten, nachdem
gen Dienstes gehalten worden sind. Ich finde, das passt Herr Putin in gewissen Bereichen seines politischen Ver-
durchaus da hinein. Ich möchte Sie nämlich darin bestär- haltens einen Weg eingeschlagen hat, der mit Demokratie
ken, dass Sie den auswärtigen Dienst bei der notwendigen nichts mehr zu tun hat. Hier muss etwas passieren. Hier
Reform mit einer entsprechenden parlamentarischen Be- muss auch im auswärtigen Dienst – nicht nur auf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11133
Christian Schmidt (Fürth)

(A) Botschafterkonferenzen – klar werden, dass wir eine Re- tegration kontinuierlich weitergegangen wird. Wir sind (C)
gierung brauchen, die in diesen Fragen eine klare Ziel- ein berechenbarer Partner geblieben und bleiben es auch
stellung hat. Unsere Regierung hat sie nicht und das ist be- in der Zukunft. Wir haben sehr viele wichtige Entschei-
dauerlich. dungen getroffen – ich erinnere nur an die ersten sechs
Monate unserer Ratspräsidentschaft –, beispielsweise
Etwas Versöhnliches zum Schluss – wenn es nicht so
Entscheidungen hinsichtlich des Kosovo. Ohne die Frie-
traurig wäre, könnte man darüber lachen –: Offensichtlich
densinitiativen der Bundesregierung wäre dieser Konflikt
neigt der Weltstaatsmann Schröder dazu, sich zum Dollar
nicht zu der Zeit der deutschen Präsidentschaft beendet
zu äußern. Erst hilft er mit, den Euro nach unten zu reden,
und nun versucht er anscheinend, auch den Dollar nach worden.
unten zu reden. Wie könnte es sonst sein, dass im Haus- Ich erwähne ferner die Agenda 2000. Ohne das Ver-
haltsentwurf für den Beitrag an die Vereinten Nationen handlungsgeschick der Bundesregierung wäre in Berlin
von 308 Millionen US-Dollar ein Wechselkurs von dieser zukunftsweisende Kompromiss – ja, es war ein
1,88 DM zugrunde gelegt wird? Kompromiss – nicht möglich gewesen. Erst dieser Kom-
(Peter Hintze [CDU/CSU]: Schön!) promiss im Rahmen der Agenda 2000, Herr Kollege
Schmidt, hat die Möglichkeit geschaffen, auch über die
Nach dem heutigen Wechselkurs wären das rund 700 Mil- EU-Erweiterung Beschlüsse zu fassen. Diesen Punkt
lionen DM. Das Haushaltsrisiko von rund 120 Millio- sollte man einmal festhalten. Staatsminister Zöpel hat
nen DM versucht der Bundeskanzler offensichtlich per- vorhin gesagt, dass man ausdrücklich eine Revisionsklau-
sönlich mit flotten, lockeren Sprüchen zu lösen, indem er sel aufgenommen hat, um Veränderungen aufgrund der
die Wirtschaft nach unten redet. aktuellen Diskussion einbeziehen zu können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Auch die Ausarbeitung einer Grundrechte-Charta
Peter Hintze [CDU/CSU]: Er rechnet mit einem wurde von Ihnen lange bekämpft. Jetzt gibt es darüber ei-
raschen Regierungswechsel!) nen Konsens. Weil es für die europäische Idee wichtig ist,
ein identitätsstiftendes Projekt zu haben, reden wir nicht
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort nur über ein bürgernahes Europa, sondern wir wollen mit
dem Kollegen Günter Gloser für die SPD-Fraktion. dieser Charta ein bürgernahes Europa schaffen.
Ein weiterer Punkt ist die europäische Beschäfti-
Günter Gloser (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! gungspolitik. Auch dafür wurden in Köln unter der deut-
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man so man- schen Ratspräsidentschaft wesentliche Akzente gesetzt
che Zwischentöne in der heutigen Debatte ein bisschen und von den Portugiesen weiterentwickelt. Zur Halbzeit
(B) beiseite schiebt, dann glaube ich, feststellen zu können, und nach Ende der ersten für diese Regierung sicherlich (D)
dass es in wichtigen Fragen der Außen- und Europa- nicht einfachen Jahre kann man sagen, dass es sich um
politik einen Grundkonsens gibt. Ich erwähne ausdrück- wichtige Meilensteine auf dem Weg zur europäischen In-
lich, Herr Kollege Hintze, dass Sie vorhin gesagt haben tegration handelte.
– ich denke, Ihre Aussage hat nicht nur heute, sondern Ich komme nun auf das Thema Osterweiterung zu
auch morgen und übermorgen Bestand –, die CDU/CSU- sprechen. Ich bin sehr erfreut darüber, dass entsprechende
Bundestagsfraktion wolle den Erfolg beider Projekte, also Signale von der Opposition kommen. Die SPD-Bundes-
den Erfolg bei der Regierungskonferenz in Nizza und den tagsfraktion wackelte an dieser Stelle zu keinem Zeit-
Erfolg im Rahmen der EU-Erweiterung. Das ist ein gutes punkt. Im Gegenteil: Wir haben vor wenigen Wochen in
Zeichen. Im Deutschen Bundestag – auch als Sie damals der Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass wir dieses
regiert haben – gab es in Grundfragen immer schon einen Projekt unterstützen. Wir wissen nämlich, dass es neben
Konsens. den Risiken vor allem Chancen birgt. Wir nehmen diese
Es ist vorhin schon gesagt worden – und ich komme Risiken ernst. Ich glaube aber, dass wir uns in diesem
darauf zurück –: In der Mitte der Legislaturperiode ist es Punkt nicht von allen, aber doch von einigen Kollegen der
Zeit, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Ich darf in die- CDU/CSU unterscheiden, indem wir diese Risiken offen
sem Zusammenhang ein paar kritische Anmerkungen zu ansprechen. Wir wollen die Bürger aber nicht noch mehr
den Vorwürfen machen, die die jetzige Opposition uns da- verängstigen. Wir sind nämlich der Auffassung, dass be-
mals gemacht hat: Wir würden Deutschlands Interessen stimmte Risiken durch Entscheidungen der Kommunen,
schaden; wir seien kein verlässlicher Partner; wir hätten der Länder und des Bundes und irgendwann – Sie erwäh-
die deutsch-französischen Beziehungen gestört. Ich muss nen ja immer das Subsidiaritätsprinzip – durch Unterstüt-
dazu sagen: Sie haben sich eine Scheinwelt aufgebaut. Sie zung der Europäischen Union politisch beherrschbar sind.
haben Ihre Meinung in der Zwischenzeit an bestimmten (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das
Stellen auch schon korrigieren müssen. Die deutsch-fran- ist ein gutes Prinzip!)
zösischen Beziehungen funktionieren gut. Sie sind der
Motor der europäischen Einigung. Angesichts der aktuellen Diskussion, die durch das In-
terview ausgelöst wurde, sage ich ganz deutlich: Nehmen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir die Ängste und die Befürchtungen ernst! Sprechen
DIE GRÜNEN)
wir mit den Menschen, aber bestärken wir sie nicht in
Ich halte es für einen Wert an sich, dass unter der Re- ihren Ängsten! Liebe Kollegen aus Bayern, Ihr Minister-
gierung Schröder/Fischer der Weg der europäischen In- präsident hat leider bei den Menschen Ängste geschürt,
11134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Günter Gloser

(A) anstatt aufklärerisch zu wirken. Wir von der SPD-Frak- sagen: „Wir können unsere Leistungen auch in Polen an- (C)
tion informieren, aber desinformieren nicht. bieten. Dazu müssen wir aber die Sprache beherrschen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir können ja nicht jedes Mal einen Dolmetscher mit-
DIE GRÜNEN – Christian Schmidt [Fürth] nehmen.“ Ich denke, dass es viele Initiativen in diesem
[CDU/CSU]: Man muss die Probleme anspre- Sinne gibt. Dies ist ein sehr gutes Beispiel. Es gibt noch
chen und dann lösen!) viele andere, die anzusprechen den zeitlichen Rahmen
sprengen würde.
In diesem Punkt gibt es Unterschiede bei Ihnen.
Merkel sagt dieses, Merz sagt jenes und Stoiber sagt et- In diesem Bereich besteht Handlungsbedarf. Wir
was anderes. Es wäre ganz wichtig, dass Sie wenigstens können die bestehenden Risiken beherrschen. Das soll-
in diesem Punkt einen gemeinsamen Weg finden. ten wir den Menschen sagen. Insofern teile ich Günter
Verheugens Einschätzung, dass wir noch mehr Informa-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tionen weitergeben müssen. Haushälter und andere
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) möchte ich darauf hinweisen, dass wir keine teuren Hoch-
Ein weiterer Punkt – dies möchte ich mit Hinweis auf glanzbroschüren brauchen. Die erreichen nämlich viele
unsere Regierung sehr deutlich feststellen –: Ohne Zwei- Menschen nicht. Wir brauchen andere Medien, um ent-
fel muss es zwischen Außenministern Treffen geben. sprechende Informationen zu den Menschen zu transpor-
Wichtig ist aber auch das Gespräch mit den Bürgerin- tieren.
nen und Bürgern, mit den Landräten und den Bürger-
Ich möchte Günter Verheugen für eine Äußerung aus-
meistern vor Ort in den grenznahen Regionen. Herr
drücklich danken, nachdem er so viel Schelte und Prügel
Dr. Müller, ich kann Sie beruhigen: Es gibt viele Bürger-
bekommen hat. Er hat zu Beginn des entsprechenden In-
meister – leider gibt es in Bayern immer noch zu viele Ih-
terviews gesagt: Die Erweiterung der Europäischen
rer Couleur; in Mecklenburg-Vorpommern habe ich ganz
Union nach Osten ist ein historischer Glücksfall. – Recht
andere Bürgermeister kennen gelernt –, die klar sagen:
hat er. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Weil dies ein
Wir sind für die EU-Erweiterung. Über das Ob gibt es
historischer Glücksfall ist, brauchen wir darüber auch
überhaupt keinen Dissens, nur über das Wie. Damit müs-
keine Volksabstimmung. Das Gefährliche an der ent-
sen wir uns hier im Parlament, aber auch in den Landta-
gen und in den Kommunen befassen. standenen Diskussion ist, dass bei den Menschen durch
bestimmte Äußerungen Erwartungen geweckt worden
(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und mit den sind. Der Vergleich mit der Einführung des Euro hinkt. Es
Bürgern!) ist vorhin in der Diskussion schon angesprochen worden:
Dann, wenn wir unsere Souveränität abgeben, sollten wir
(B) In Mecklenburg-Vorpommern fragt man sich zum Bei- (D)
spiel, warum man mit den Grenzübergängen nach Polen abstimmen, aber nicht in anderen Fällen. Wenn die Polen
nicht in die Gänge kommt, warum eine Verbesserung der im Rahmen ihres Beitritts eine Volksbefragung durch-
dortigen Situation so lange dauert. Da muss einmal nach- führen, dann ist das logisch. Denn sie werden Souverä-
gehakt werden. Ein anderer Bürgermeister einer Stadt an nitätsrechte auf die Ebene der Europäischen Union über-
der Grenze äußerte: Wenn die Grenzen geöffnet werden, tragen.
dann fließt der dadurch entstehende Verkehr durch meine Herr Kollege Hintze, ich hoffe, dass der jetzt beste-
Stadt. Das kann ich den Bürgern nicht zumuten. – Da ist hende Konsens nicht nur im Jahre 2000/2001 anhält, son-
die Frage an uns gerichtet, was man, wenn es sich zum dern dass er auch noch im Wahljahr 2002 besteht. An an-
Beispiel um eine Bundesstraße handelt, tun kann. derer Stelle ist es schon gesagt worden: Es wäre fatal, die
Oftmals sind es sehr banale Dinge, die in den nächsten EU-Erweiterung zu einem Wahlkampfthema zu machen.
Monaten im Rahmen der Vorbereitung der EU-Er- Dies wäre kein gutes Zeichen auch an unsere Nachbarn.
weiterung zu lösen sind, damit zum Beispiel, wenn sich Das heißt nicht, dass man in bestimmten Punkte nicht kri-
der Verkehr durch die Stadt schlängelt und es Staus gibt, tisch miteinander umgehen sollte. Das bringt das Rollen-
nicht gesagt wird: Die EU-Beitrittsländer sind die Schul- verständnis von Regierung und Opposition mit sich. Aber
digen. Wir wollten eigentlich keine EU-Erweiterung; für eine platte Auseinandersetzung über dieses Thema hielte
uns wird nichts getan. – Ich denke, wir alle sind gefordert: ich für gefährlich.
Sie in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, Auch ich sage noch einmal – ich weiß nicht, wer dies
und wir in den Ländern, in denen wir die Verantwortung vorhin angesprochen hat –: Es ist wichtig, sich in die
tragen, und hier auf Bundesebene. Köpfe unserer Nachbarn zu versetzen. Dort gibt es Re-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gierungen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern wahnsin-
DIE GRÜNEN) nige Opfer im Rahmen dieses Prozesses abverlangen
müssen. Auch dort gibt es Wahlen. Es ist nicht nur bei uns
CDU-Kommunalpolitiker aus Mecklenburg-Vor-
so, dass manches so oder so entschieden wird, weil
pommern haben mir gesagt – ich habe mich darüber sehr
Wahlen anstehen. Auch in Polen, in Tschechien und in
gefreut –, dass es bei ihnen mittlerweile Handwerker gibt,
Ungarn wird gewählt. Das ist bei bestimmten Prozessen,
die die polnische Sprache erlernen. An diesem Beispiel
die wir zu bewerkstelligen haben, zu berücksichtigen.
wird klar, dass sie nicht nur sagen: „Die Polen kommen zu
uns nach Mecklenburg-Vorpommern“, sondern dass sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den europäischen Markt auch anders begreifen, indem sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11135
Günter Gloser

(A) Nicht Frust auf Europa ist angesagt, sondern Lust auf Schauen Sie sich doch einmal an, was in anderen Län- (C)
Europa. Machen wir alle mit! dern, zum Beispiel in den nordeuropäischen Ländern oder
auch in Frankreich los ist. Dort gibt es eine hohe Erwerbs-
Vielen Dank.
quote von Frauen, dort sind gute Rahmenbedingungen für
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben. Dort
DIE GRÜNEN) können junge Menschen ihren Kinderwunsch relativ gut
umsetzen, und sie tun das auch.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Weitere Wortmel- Wir versuchen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen,
dungen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes damit junge Leute das auch bei uns tun können. Deswe-
liegen nicht vor. Wir kommen deshalb nunmehr zum Ein- gen geht es in der Familienpolitik auch darum, tradierte
zelplan 17, Geschäftsbereich des Bundesministeriums Rollenbilder aus den Köpfen zu bekommen. Hier haben
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie uns eine ganze Menge hinterlassen, die wir kräftig ab-
arbeiten.
Ich gebe zunächst das Wort der Frau Bundesministerin
Dr. Christine Bergmann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Sie wissen – darüber haben wir schon mehrfach disku-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! tiert –, dass am 1. Januar 2001 das neue Erziehungsgeld-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es ist gesetz in Kraft tritt.
in der heutigen Beratung schon deutlich sichtbar gewor-
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Und was für
den, dass die Bundesregierung mit dem Haushalt 2001
eins! Das ist eine große Enttäuschung!)
den Prozess der wirtschaftlichen, aber auch der sozialen
Erneuerung unseres Landes ganz konsequent fortsetzt. Ich denke, wir haben damit sehr deutlich gemacht, wo wir
Wir packen die notwendigen gesellschaftlichen Moderni- die Rahmenbedingungen verbessern. Wir räumen mit tra-
sierungen an. Dafür steht auch der Einzelplan 17, und dierten Rollenbildern auf und geben Vätern und Müttern
zwar mit all seinen Bereichen. die Möglichkeit, sich zur gleichen Zeit um die Kinder-
Lassen Sie mich mit der Familienpolitik beginnen. Fa- erziehung zu kümmern. Wir werden das Elternzeit nen-
milie ist bei jungen Leuten glücklicherweise nicht out. nen. Darauf konnten wir uns ja gemeinsam verständigen.
Das zeigen uns viele Studien, und ich hoffe, dass wir das Wir verbessern auch die finanzielle Situation. Es wer-
auch um uns herum erleben. Wir wissen aber auch, dass den immerhin 300 Millionen DM zusätzlich in den Erzie-
junge Leute beides wollen, sie wollen Erwerbsarbeit und hungsgeldetat fließen. Es werden wieder mehr Eltern Er-
(B) Familie miteinander vereinbaren. Deswegen ist es unsere (D)
ziehungsgeld bekommen. Das hat es seit 14 Jahren nicht
vorrangige familienpolitische Aufgabe, die Rahmenbe- mehr gegeben, da ging die Kurve nämlich nach unten.
dingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Dieser Betrag – der Finanzminister hat es Ihnen heute
zu verbessern; denn wir wollen den jungen Leuten die schon vorgerechnet – kommt zu den Dingen, die wir be-
Möglichkeit eröffnen, so zu leben, wie sie das selber reits getan haben, wie zum Beispiel die Kindergelder-
möchten. Wir wollen ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu höhung um 50 Mark, die steuerlichen Entlastungen und
leben haben. die Verbesserungen beim Wohngeld. Ich denke, das kann
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich sehen lassen.
DIE GRÜNEN) Wir machen mit der Flexibilisierung der Elternzeit
Ich habe mich aber manchmal über das erschrocken, deutlich, dass wir einen Modernisierungsprozess voran-
was in den letzten Wochen aus der familienpolitischen treiben; denn wir wollen ermöglichen, dass junge Väter
Ecke der Opposition kam. Das war schon ein Stück weit mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen können.
ein Griff in die Mottenkiste, das muss ich hier einmal so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
deutlich sagen. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sagen, dass sie das möchten. Nun erhalten sie das
DIE GRÜNEN) Recht auf Teilzeitarbeit. Sie dürfen bis zu 30 Wochen-
An vielen Punkten klang auch wieder der Wunsch durch: stunden während der Elternzeit arbeiten. Ich hoffe, dass
Am schönsten wäre es eben doch, wenn man die Frauen viele junge Väter davon auch Gebrauch machen werden.
wieder im Heim und am Herd hätte. Wir brauchen jetzt mutige Väter im Land, und wir alle
können dazu beitragen, dass die Väter ermuntert werden.
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wo leben Sie
denn, Frau Ministerin?) Wir werden dieses Gesetz, wenn es Anfang nächsten
Jahres in Kraft tritt, mit einer Väter-Kampagne begleiten.
Das wird mit uns nicht zu machen sein. Dadurch wollen wir versuchen, an die Rollenbilder he-
Die Gleichsetzung von Familien- und Bevölkerungs- ranzugehen und deutlich zu machen, dass für uns auch
politik – das war in den letzten Wochen durchaus zu ver- Väter, die sich um die Erziehungsarbeit kümmern, „ganze
nehmen – machen wir nicht mit. Wer diese propagiert, Männer“ sind. Wir werden außerdem natürlich auch mit
zeigt, dass er noch nicht ganz im 21. Jahrhundert ange- den Unternehmen zusammenarbeiten. Darüber hinaus
kommen ist. wird es einige andere Projekte geben.
11136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) Es gibt auch schon einige gute Beispiele. An ihnen Das ist – das will ich nochmals sagen – wirklich wich- (C)
wird deutlich, dass diese Entwicklung gut für die Unter- tig für den notwendigen Modernisierungsprozess in der
nehmen ist. Ich freue mich, wenn ich einen Personalchef Wirtschaft. Wenn Sie sich einmal die positiven Beispiele
treffe, der sagt, – davon gibt es nicht sehr viele – er wolle ansehen – ich nenne Ihnen gerne einige Beispielunterneh-
auch in der Führungsetage Männer haben, die sich nach- men, bei denen Sie sich informieren können; wir haben
weislich um die soziale Kompetenz bemüht haben, die dazu gerade eine Broschüre erstellt – und sich anhören,
also reduziert gearbeitet, vom Erziehungsurlaub Ge- was Unternehmen sagen, die diesen Weg gegangen sind,
brauch gemacht haben und sich wirklich um Familie und dann stellen sie fest, dass alle sagen, dass das nicht Kos-
Eltern kümmern. Das werden wir weiter unterstützen. ten verursacht, sondern spart. Die Unternehmen profitie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren davon. Sie haben diese kreativen Frauen an den ent-
DIE GRÜNEN) sprechenden Stellen eingesetzt. Sie kümmern sich um
familienfreundliche Arbeitszeiten und anderes mehr. Ich
In der Politik dieser Bundesregierung für mehr Chan- denke, das müsste eigentlich für alle zu vertreten sein.
cengleichheit von Frauen und Männern geht es auch um
gesellschaftliche Modernisierung. Wir haben hier Wir werden, nachdem wir mit den entsprechenden Ex-
schon ausführlich über das Programm „Frau und Beruf“, perten weitergearbeitet haben, sicher noch über einen Ge-
unser gleichstellungspolitisches Regierungsprogramm, setzentwurf zu diskutieren haben; wir haben für diese
diskutiert. Davon sind bereits viele Punkte umgesetzt. Eckpunkte vieles aufgegriffen, was wir in einem langen
Ich will nur einige nennen: Wir fördern Existenzgrün- Dialogprozess gemeinsam mit Gewerkschaften, mit der
dungen von Frauen – das läuft im Übrigen gut –, wir be- Wirtschaft, mit Unternehmen und mit der Wissenschaft
reiten sie im Rahmen des Projektes „Change/Chance“ erarbeitet haben. Darauf freue ich mich schon. Eines vor-
auf die Betriebsnachfolge in mittelständischen Betrieben neweg: Ich habe vonseiten der CDU/CSU unterschiedli-
vor. Außerdem kümmern wir uns in der Initiative che Äußerungen gehört. Von Ihnen, Frau Böhmer, habe
„D 21“ zusammen mit den führenden Computerfirmen in ich gehört, dass Ihnen dies nicht genug ist. Da habe ich
unserem Land darum, dass Frauen ihre Berufschancen in richtig gejubelt und gesagt: Na prima!
diesem wichtigen und zukunftsträchtigen Bereich besser
ergreifen können und dass darum geworben wird, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Mädchen auch Ausbildungsplätze in diesem Bereich an- DIE GRÜNEN)
nehmen. Ich denke, das ist genau der richtige Weg. Ich denke, Sie werden jetzt etwas vorlegen, das noch
Wir sind uns aber doch vielleicht darüber einig, dass über das hinaus geht, was ich vorgeschlagen habe. Wir
das nicht reicht; wir können nicht nur auf solche Angebote können darüber reden, ob wir noch mehr verlangen wol-
len. Ich bin durchaus dazu bereit. Ich habe auch andere
(B) und auf Freiwilligkeit setzen. Deswegen habe ich vorige Meinungen dazu gehört. Das kann ja noch ganz spannend (D)
Woche Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz vorge-
legt. Unser Ziel ist es, in diesem kommenden Gesetz alle werden.
Unternehmen zu verpflichten, Maßnahmen zur Gleich- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir an
stellung zu ergreifen. Es ist aber auch klar, dass unter- die letzten Wochen zurückdenken, stellen wir fest, dass
nehmerische Freiheit und Tarifautonomie Vorrang vor uns ein Thema sehr bewegt hat – das ist ein sehr bit-
staatlichen Interventionen haben. Wir wollen die Eigen- teres –, und zwar die rechtsextremen, die fremdenfeindli-
verantwortung der Betriebe erhalten, sodass zum Beispiel chen Gewaltexzesse in unserem Land. Diese Morde, diese
jeder Betrieb diejenige Betriebsvereinbarung abschließen Terrorakte, auch die Ausrufungen von so genannten na-
kann, die gerade notwendig ist.
tional befreiten Zonen durch Banden sind etwas, was wir
Deswegen soll dieses Gesetz zwei wesentliche Struk- sehr ernst nehmen müssen. Dies ist eine Kampfansage an
turelemente enthalten: In der ersten Stufe soll die Ver- unser demokratisches Gemeinwesen, eine Kampfansage,
pflichtung festgeschrieben sein, zu solchen Vereinbarun- die wir sehr entschieden beantworten müssen.
gen zu kommen. Dazu werden zurzeit noch Kataloge
entwickelt, in denen steht, welche Punkte wir uns vorstel- Einzelne Maßnahmen allein sind dazu nicht ausrei-
len können. Daran können noch viele Unternehmen mit- chend. Wir müssen wissen, dass wir uns auf einen langen
wirken. Es gibt also für die Unternehmen bei dem, was sie Prozess einrichten müssen. Natürlich geht es darum, dass
tun, viel Freiheit. Klar ist aber: Alle müssen etwas tun. der Staat handelt, wirklich unnachgiebige Sanktionen er-
Wir können nicht nur auf Freiwilligkeit setzen. Das haben lässt. Aber wir brauchen das Engagement aller Kräfte, die
wir schon bitter gespürt. sich vor Ort gegen Ausländerfeindlichkeit einsetzen und
engagieren – es können gar nicht genug sein –: Eltern,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmer, Unternehmerin-
DIE GRÜNEN) nen, Gewerkschafter, Gewerkschafterinnen.
In der zweiten Stufe heißt es deswegen: „Wer nicht Es war wichtig, dass wir diese Politik, über die wir hier
hören will, muss fühlen.“ Wer sich nicht engagiert hat, für schon mehrfach diskutiert haben, zum Schwerpunkt ge-
den legen wir fest, was zu tun ist. Es müssen dann zum macht haben, dass wir gefragt haben: Wie schaffen wir es,
Beispiel Mindestanforderungen erfüllt werden. Ich denke, dass alle Jugendlichen in diesem Land eine Chance ha-
das ist eine vernünftige Struktur: Wir schreiben den Be- ben?
trieben nur vor, dass sie hinsichtlich der Gleichstellung
und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf etwas tun (Ina Lenke [F.D.P.]: Das sind doch nicht die ar-
müssen. Wie sie das aber machen, das ist ihre Sache. beitslosen Jugendlichen, die Rechtsradikalen!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11137
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) Dafür machen wir das Sofortprogramm. Deshalb küm- zurückdrängen, wenn wir damit schon bei den Kindern (C)
mern wir uns ja so um Ausbildungsplätze. Das muss anfangen.
natürlich konsequent fortgeführt werden. Natürlich brau-
chen wir eine präventive Jugendarbeit auf allen Ebenen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die uns hierbei unterstützt. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke
[F.D.P.])
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Eine moderne Kinder- und Familienpolitik muss deutlich
machen, dass Gewalt kein akzeptiertes Mittel der Erzie-
Wir müssen die Gegenkräfte, die es ja wirklich gibt, hung ist.
stärken. Das heißt, wir müssen das alltägliche demokrati-
sche Engagement, auch die Netzwerke für Demokratie, (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
unterstützen. Dabei sind mir besonders die Projekte wich- NIS 90/DIE GRÜNEN)
tig, in denen sich junge Leute, Jugendliche zum Ziel ge- Es muss in unserer Gesellschaft selbstverständlich wer-
setzt haben, sich mit anderen Jugendlichen auseinander zu den – das ist mir wirklich bitterernst –, dass Kinder ohne
setzen, die ausländerfeindliche Einstellungen haben. Gewalt erzogen werden.
Sie haben vielleicht schon das eine oder andere über Wir haben vor der Sommerpause in diesem Haus das
das Projekt gelesen, das es in Sachsen gibt – ich habe es Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verab-
mir vor Monaten angesehen –, „Für Demokratie Courage schiedet. Nur reicht ein Gesetz nicht aus, um den not-
zeigen“, wo junge Leute Schulprojekttage durchführen, wendigen Bewusstseinswandel zu erzielen. Das wissen
sich mit Gleichaltrigen auseinander setzen, sich wirklich wir auch. Deswegen werden wir nächste Woche mit einer
in diese Thematik hineinbegeben. Ich denke, dass dieses Kampagne zur gewaltfreien Erziehung beginnen, die El-
direkte Gespräch sehr wirksam sein kann. tern Unterstützung geben will. Wir wollen Eltern auch ge-
Solche Ansätze zu unterstützen, das verfolgen wir mit genüber der Gesellschaft helfen. Es erziehen ja nicht nur
der Initiative „Arbeit und Qualifizierung gegen Rassis- die Eltern. Andere erziehen mit, und andere sorgen mit
mus und Fremdenfeindlichkeit“, für die die Bundesregie- dafür, dass Eltern gelegentlich ausrasten, indem sie sich
rung für die nächsten drei Jahre 75 Millionen DM aus dem nicht gerade solidarisch mit Eltern, die einmal ein Pro-
Europäischen Sozialfonds bereitstellt. Wir wollen hiermit blem mit ihrem Kind haben – die sind auch nicht immer
nicht wieder irgendein neues Programm auflegen, bei nur friedlich und freundlich, süß und nett, wie wir wis-
dem nach drei Jahren gefragt wird: Was machen wir denn sen –, verhalten.
nun wieder? Wer finanziert das weiter? Wir wollen die
Wir werden die Kampagne unter dem Motto „Mehr
Initiativen, die es vor Ort gibt, unterstützen. Ich denke,
Respekt vor Kindern“ durchführen. Es geht uns wirklich
(B) dass das enorm wichtig ist. um eine Veränderung des Bewusstseins. Wir werden nicht (D)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nur eine Kampagne mit Plakaten und Material durch-
DIE GRÜNEN) führen. Wir wollen viele Einzelprojekte und Vor-Ort-Ak-
Wir sehen in diesen Debatten natürlich auch, dass die tionen im ganzen Land unterstützen und Eltern in Erzie-
Erziehung zur Akzeptanz, zur Toleranz, zur Weltoffenheit hungsfragen helfen. Ich bitte alle in diesem Haus, sich
etwas ist, für das man gar nicht genug tun kann. Deswe- daran zu beteiligen. Ich denke, es lohnt sich.
gen will ich hier noch einmal sagen, in welchem Umfang (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
wir nach wie vor den internationalen Jugendaustausch NIS 90/DIE GRÜNEN)
fördern: Es gehen immerhin – Sie kennen den Haus-
halt ja – 60 Millionen DM in den internationalen Jugend- Es lohnt sich, den Weg zu gehen und es zu versuchen. Wir
austausch, in die Jugendwerke, in die Begegnungen. Wir wissen, dass wir das Problem nicht von heute auf morgen
alle sind uns wohl darin einig, dass wir das aus- lösen können. Aber wenn wir Gewalt in der Gesellschaft
bauen müssen. Wir haben den Etat im Haushalt des nächs- abbauen wollen, dann müssen wir bei den Kindern anfan-
ten Jahres schon ein bisschen ausgebaut. Wir wollen nicht gen.
nur das Bewährte fortführen, sondern zusätzlich mit der Meine Damen und Herren, auch in der Seniorenpoli-
Einrichtung des Koordinierungsbüros für den deutsch- tik stehen wir in den nächsten Wochen und Monaten vor
israelischen Jugendaustausch mit Sitz in Wittenberg in wichtigen Entscheidungen. Wir haben in der letzten Sit-
Sachsen-Anhalt einen wichtigen Schwerpunkt dieser Ar- zungswoche vor der Sommerpause ebenfalls das Gesetz
beit setzen. über die Berufe in der Altenpflege verabschiedet, das eine
Ich will einmal die Zahlen nennen. Im letzten Jahr wa- bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung vorsieht. Das
ren es 340 000 junge Menschen, die an einem solchen ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Qualität in der
Austauschprogramm teilgenommen haben. Das ist gut Pflege, zur Aufwertung des Berufsbildes, zur Weiterent-
und wichtig. Das darf aber nicht dazu führen, dass Länder wicklung der Pflegeberufe. Nun wissen wir, dass am
und Kommunen ihre Förderung zurückfahren, weil wir 29. September der Bundesrat darüber entscheiden muss.
unser Niveau halten. Wir haben fast alle Vorschläge, die aus den Ländern
kamen, umgesetzt. Aber wir haben das Problem, dass von
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der bayerischen Seite versucht wird, dieses Gesetz zu Fall
DIE GRÜNEN)
zu bringen, obwohl – das muss man einmal deutlich sa-
Meine Damen und Herren, Gewalt hat viele Facetten. gen – die Bayern selbst, die zurzeit eine zweijährige schu-
Aber wir können die Gewalt in der Gesellschaft nur lische Ausbildung haben, sehen, dass das so eigentlich
11138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

(A) nicht geht. Das müssen wir ändern. Wir brauchen wenigs- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Bundesministe- (C)
tens drei Jahre. Warum dann nicht gleich dieses bundes- rin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
einheitliche Gesetz? Müssen Sie denn in einem solchen
Punkt, wenn es um Pflegequalität und Sicherheit für ältere
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
Leute geht, einen parteipolitischen Streit führen? Ich
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, ich bin am
glaube, das kann man vor den Menschen, die Pflege brau-
Schluss.
chen, nicht vertreten.
Ich möchte Ihnen noch das Internationale Jahr der
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
Freiwilligen ans Herz legen. Wir haben in diesem Bereich
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten
noch viel Potenzial, das wir nicht genutzt haben. Das kön-
der F.D.P.)
nen wir im nächsten Jahr gemeinsam unterstützen.
Als zweiten Punkt haben wir – das wissen Sie – die
Wir stehen für eine Politik, die den Menschen in unse-
Novelle des Heimgesetzes auf der Tagesordnung.
rem Land gleiche Chancen eröffnet. Wir stehen für eine
(Ina Lenke [F.D.P.]: Da muss aber Politik, die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die
noch was gemacht werden!) Menschen ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten
können. Wir stehen für eine Politik, die Bürgerinnen und
Wir haben in den letzten Monaten viel mit Verbänden über
Bürger aktiv beteiligt und den gesellschaftlichen Zusam-
das Altenpflegegesetz beraten. Schon seit zehn Jahren
menhalt in diesem Land endlich wieder fördert. Das sind
geht es um das Thema der bundeseinheitlichen Altenpfle-
die Richtlinien unserer Politik.
geausbildung. Das kenne ich schon aus der Landespolitik.
Sie wollten es eigentlich auch immer, Ihre Regierung hat Danke schön.
es nur irgendwie nicht hingekriegt. Jetzt haben wir das auf
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
dem Tisch. Nun lasst es uns endlich machen. Ich denke,
NIS 90/DIE GRÜNEN)
es ist einfach wichtig.
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Es geht um das
Vizepräsident Rudolf Seiters: Zu einer Kurzinter-
Heimgesetz!)
vention gebe ich dem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
– Jetzt sind wir beim Heimgesetz, ja. Das wird nächsten
Monat im Kabinett sein. Da haben wir eine ganze Menge
Dr. Ilja Seifert (PDS): Vielen Dank, Herr Präsident.
zu leisten.
Da mir die Frau Ministerin leider keine Zwischenfrage
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Zu ändern!) gestattet hat, möchte ich zumindest anmerken dürfen,
(B) dass es im Zivildienst wirklich nicht so eiapopeia läuft. (D)
Ich denke, das ist klar. Wir haben sehr viele Abstim-
mungsprozesse durchgeführt; das wird vernünftig. Frau Ministerin, ich hätte schon erwartet, dass Sie we-
nigstens ein Wort dazu sagen, dass in einer großen Stadt
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
in Bayern, in Würzburg, der individuelle Schwerbehin-
Schluss noch ein paar Sätze zum Zivildienst sagen. Ich
dertenbetreuungsdienst in diesem Jahr eingestellt wurde,
denke, dass die Situation jetzt klar ist. Die Bundesregie-
weil beim Zivildienst so gekürzt wurde, dass der Betreu-
rung hat gesagt, die Wehrpflicht bleibt. Damit bleibt auch
ungsdienst nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
der Zivildienst. Die Erfahrungen, die wir im Sommer mit
Dort sind behinderte Menschen richtiggehend liegen ge-
der verkürzten Zivildienstdauer gemacht haben, haben
blieben. Ich finde, das kann nicht akzeptiert werden – in
gezeigt, dass die Kassandrarufe, die prophylaktisch aus
keiner Stadt, auch nicht in Bayern.
allen Ecken und Enden kamen, unberechtigt waren. Es
gibt immer wieder das eine oder andere Problem. Aber Ich will noch etwas hinzufügen. Sie haben gesagt: Da
diese Probleme, zum Beispiel bei der individuellen sich die Regierung entschieden hat, den Wehrdienst bei-
Schwerstbehindertenbetreuung, haben wir – ich sage das zubehalten, wird demzufolge auch der Zivildienst blei-
ganz klar, weil mir das ernst ist – schon seit Jahren. Schon ben. Das ist möglicherweise momentan richtig. Dennoch,
seit Jahren erklären sich immer weniger Zivildienstleis- finde ich, sollte eine Regierung für den Fall vorbereitet
tende bereit – das beruht ja auf Freiwilligkeit –, in diesem sein – diese Diskussion ist ja bedauerlicherweise nicht ab-
Bereich zu arbeiten. Wir haben alle Freiheiten gelassen. geschlossen –, dass der Zivildienst eines Tages nicht mehr
Die Steuerung hat gut funktioniert, was aus den Zahlen er- zur Verfügung steht, weil die Wehrpflicht doch – aus wel-
sichtlich ist, die ich auf dem Tisch habe. Ich denke, wir chen Gründen auch immer – abgeschafft wird. Dann soll-
werden auch das, was jetzt auf dem Tisch liegt, hinbe- ten Alternativen bereits funktionieren. Es gibt einiges,
kommen. was man nicht abschaffen kann, ohne bereits etwas Neues
zu haben. In dem Falle, wenn es um Betreuung von Men-
Auch die Verbände sehen das so. Sie wissen, dass bei
schen geht, müssen zuerst funktionierende Alternativen
einer Verkürzung des Zivildienstes auf zehn Monate – da-
geschaffen werden.
rüber freut sich niemand, jeder hätte seine Zivis gerne län-
ger – die Arbeit im Prinzip weitergehen kann. Es bedarf Ich weiß, dass der Zivildienst keinen sozialen Sicher-
natürlich einer organisatorischen Umstellung. Deswegen stellungsauftrag hat. Jeder aber weiß, dass momentan Zi-
haben wir die Arbeitsgruppe zur Zukunft des Zivil- vildienstleistende Aufgaben mit hoher Verantwortung
dienstes eingerichtet. Sie wird noch diese Woche ihre übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind und die sie
Empfehlung vorlegen. eigentlich nicht machen dürften. Ich finde, dazu hätten Sie
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11139
Dr. Ilja Seifert

(A) etwas sagen sollen. Wir sind hier in einer Haushaltsde- mutige Männer in diesem Land, wir brauchen vor allen (C)
batte. Ich hätte gerne gehört, mit wie viel Geld Sie das un- Dingen eine mutige Familienministerin.
terstützen wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Danke schön.
Bei dieser Bilanz, die Sie versucht haben anzureißen, Frau
Ministerin Bergmann, hilft Schönreden nichts. Die Bilanz
Vizepräsident Rudolf Seiters: Zur Beantwortung ist dürftig, wenn man sich anschaut, was in den letzten
Frau Bundesministerin Dr. Bergmann. zwei Jahren geschehen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
Sie häufen Minuspunkt auf Minuspunkt: beim Erzie-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Entschuldigung, aber hungsgeld zu kurz gesprungen, beim Kindergeld nur das
ich habe nicht mitbekommen, dass Sie vorhin eine Zwi- Nötigste, die Eigenheimförderung haben Sie als Erstes
schenfrage stellen wollten. Ich antworte natürlich gerne gekürzt, den Unterhaltsvorschuss haben Sie auf die Kom-
auf Ihre Frage, das hätte ich auch vorhin gemacht. munen verlagert und die älteren Menschen sind im War-
Zum Thema Steuerung. Wir haben den Verbänden und testand, was das Heimgesetz betrifft. Ich darf gar nicht an
den Beschäftigungsstellen wirklich freie Hand gelassen. unseren Antrag denken, den wir im Pflegebereich zu den
Es gab Kontingente, die vorgegeben waren. Aber wir ha- Demenzkranken gestellt haben. Jugendschutz im Me-
ben hier sogar noch ausgetauscht und gesagt: Wenn es ir- dienbereich scheint für Sie ein Fremdwort zu sein, der
gendwo zu Problemen kommt, dann verteilen wir um. Wir Zivildienst ist zur Spardose degeneriert. Bei der Alterssi-
hatten eine Extraregelung für den Bereich der individuel- cherung der Frauen – das muss ich Ihnen sagen – haben
len Schwerstbehindertenbetreuung und für den Bereich Sie bisher auf der ganzen Linie versagt.
der mobilen Dienste. Das gilt ebenso für den Kinderbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
reich. Wir haben, so gut es irgend ging, abgesichert, dass Lachen bei der SPD)
auch dort, wo es keine Kontingente mehr gab, jeder Zivi,
der kam, eingestellt werden konnte. Bezüglich des Programms „Frau und Beruf“, das immer
wieder angesprochen wird, hat die Steigerung ganze
Warum und weshalb das in Würzburg nicht geklappt 14 Pfennige pro erwerbstätige Frau betragen. Damit wol-
hat, weiß ich nicht; da muss ich einmal nachfragen. Man len Sie Frauen nach vorne bringen?
muss sich aber auch die Beschäftigungsstellen vor Ort an-
sehen und sich fragen: Haben sie jetzt vor lauter Angst an- Im Bereich der Frauenpolitik gibt es statt eines Geset-
ders reagiert? Ich habe bisher von solchen Fällen nichts zes, das wir jetzt debattieren könnten, wirklich nur küm-
(B) gehört. Wir sind wirklich jeder Beschwerde, die aus die- merliche Eckpunkte, wie wir in der letzten Woche erfah- (D)
sem Bereich gekommen ist, sofort nachgegangen und ha- ren haben. Ich muss Ihnen sagen: Unter diesen Um-
ben uns darum gekümmert, dass genau dies nicht eintritt. ständen darf es nicht wundern, dass die „Wirtschaftswo-
che“ am 17. August festgestellt hat, dass Sie, Frau Minis-
Wir werden im Jahresdurchschnitt 2000 immerhin terin Bergmann – es tut mir Leid –, ein Ausfall auf der
124 000 Zivildienstleistende haben. Und es gibt immer ganzen Linie seien.
ein paar Bereiche, wo man sagen kann: Wenn dort einmal
im Moment keiner ist, dann ist das nicht so schlimm. Aber Vier zentrale Politikfelder haben Sie vor sich. In vier
diesen Bereich haben wir vorrangig abgedeckt. zentralen Politikfeldern haben Sie so gut wie nichts be-
wirkt.
Ich muss auch noch einmal sagen, dass diese Arbeit auf
Freiwilligkeit beruht. Das Hauptproblem ist: Wie be- Ich nenne als Erstes – das tue ich bewusst – den
kommen wir genügend junge Leute, die freiwillig in Familienbereich. Sie haben im Koalitionsvertrag gesagt:
diesem Bereich arbeiten? Wir werden in den nächsten Ta- Wir wollen Deutschland wieder zu einem kinder- und fa-
gen die Empfehlung der Arbeitsgruppe vorstellen. Dabei milienfreundlichen Land machen. Das sind schöne Worte,
werde ich noch etwas zu dem Thema sagen: Wie können das sind gute Worte. Aber wie sieht die Realität aus? Die
wir Freiwilligendienste ausbauen? Wie können wir in be- Situation der Familien in Deutschland ist äußerst unbe-
stimmten kritischen Bereichen das eine oder andere mit friedigend. In der „FAZ“ war am 8. September zu lesen:
entsprechend qualifizierten Freiwilligen abfangen? Das fast jedes fünfte Kind arm. Kinder kosten Geld – gar keine
Thema fällt nicht unter den Tisch. Da brauchen Sie sich Frage.
keine Sorgen zu machen. (Christel Hanewinckel [SPD]: Aber es geht
doch gar nicht um die Armut!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) Aber Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden. Je
mehr Kinder, umso mehr kommt eine normal verdienende
Familie an die Grenze der Sozialhilfebedürftigkeit. Das
Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe nunmehr
ist sozial ungerecht; denn Kinder sind unsere Zukunft.
der Kollegin Dr. Maria Böhmer für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU)
Wie war das noch einmal mit dem Kindergeld, dessen
Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Erhöhung Sie ja immer wieder in den Blick rücken und
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen nicht nur auf das Sie auch heute wieder rekurrieren? Jedes Kind ist
11140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Maria Böhmer

(A) gleich viel wert, das habe ich von der SPD immer wieder Ich habe einmal in mein Regal gegriffen – das würde (C)
gehört. Wenn ich mir aber vor Augen führe, dass eine Fa- den anderen Kolleginnen hier auch nicht schwer fallen –
milie mit vier Kindern bei der Kindergelderhöhung im und jetzt eine Broschüre aus dem Jahre 1987 in der Hand:
Schnitt nur mit der Hälfte der Erhöhung wegkommt – sie „Leitfaden zur Frauenförderung in Betrieben“. Wenn ich
erhält umgerechnet pro Kopf statt 30 DM nur 15 DM –, die dünnen Eckpunkte, die Sie vorgestellt haben, mit dem
dann muss ich sagen: Der Weg, den Sie hier beschreiten, vergleiche, was 1987 von der ersten Frauenministerin
ist nicht der Weg in eine familienfreundliche Gesellschaft. Deutschlands gesagt worden ist, dann sehe ich keine Wei-
terentwicklung. Das ist Stagnation bei den Ideen. Wir
Familienförderung ist ein Stiefkind dieser Bundesre- brauchen gerade bei der Vereinbarung von Familie und
gierung, trotz aller Worte, die Sie finden, trotz aller finan- Beruf neue Ideen. Wir brauchen ein druckvolles Eintreten
ziellen Mittel, die Sie aufbringen. Hier muss ich Ihnen sa- für Verbesserungen.
gen: Die hochgelobten Kindergelderhöhungen werden
von steigenden Kindergartenbeiträgen und von den Aus- Jetzt möchte ich Ihnen einmal sagen, wo es solche
gaben für Strom, Benzin und Heizöl aufgefressen. neuen Ideen gibt. Nicht bei der SPD; aber schauen Sie ins
Saarland: Im Saarland werden jetzt die Weichen für die
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Finanzierung im Kindergartenbereich neu gestellt. Der
Das, was sich hier darstellt, ist ein dickes Minusgeschäft saarländische Ministerpräsident Müller geht einen muti-
für Familien. Es ist typisch SPD: In die eine Tasche geben gen Weg.
Sie etwas, aus der anderen Tasche nehmen Sie etwas. (Karl Diller [SPD]: Auf unsere Kosten!)
(Beifall bei der CDU/CSU) Die Kindergartenplätze sollen kostenlos sein. Das halte
Man muss doch Politik als eine Gesamtheit sehen, man ich für richtig. Werben Sie dafür, damit wir gemeinsam in
kann den Blick doch nicht nur auf eine Tat richten. Deutschland Verbesserungen erreichen können.
Nehmen Sie die Ökosteuer. Sie betrifft alle, aber be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
trifft die Familien ganz besonders. Die Familien müssen Wir brauchen eine qualitative Weiterentwicklung,
mit dem Auto zur Arbeit fahren, die Kinder müssen zur eine Modernisierung der Familienpolitik. Sie haben über
Schule gebracht werden, gerade im ländlichen Bereich, mehr Kindergeld und über die Änderungen beim Erzie-
und auf die Heizkosten kann doch niemand verzichten. hungsgeld gesprochen. Aber das alles ist nicht der große
Oder wollen Sie die Familien im Winter im Kalten sitzen Wurf; denn Familien müssen heute immer noch auf ver-
lassen? Das bedeutet in jedem Monat 130 DM mehr für schiedene Leistungen rekurrieren, müssen zu verschiede-
das Tanken und 33 DM mehr für das Heizen. nen Ämtern gehen und sind mit verschiedenen Einkom-
(Hildegard Wester [SPD]: Wie viel fahren die mensgrenzen konfrontiert. Wir treten dafür ein, ein
(B) Familiengeld zu schaffen, das es Eltern leichter macht, (D)
Leute denn?)
Kinder zu erziehen, und das Ja zum Kind erleichtert. Wir
Das heißt, dass den Familien unter dem Strich weniger werden dafür kämpfen und uns in der nächsten Zeit mit
bleibt, als sie vorher gehabt haben. Das ist Etiketten- Ihnen darüber auseinander setzen, wie eine zukunftswei-
schwindel. sende Familienförderung auszusehen hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Was das Familienbild angeht, so bin ich in letzter Zeit
Die Ökosteuer mutiert hier zur K.-O.-Steuer für Familien. sehr nachdenklich geworden; denn Sie sind dabei, das
Grundrecht in Art. 6 des Grundgesetzes, „Ehe und Fami-
Sie verschließen – das habe ich in allen Debatten heute lie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen
und in den letzten Tagen gemerkt – einfach die Augen vor Ordnung“, auszuhebeln. Sie wollen für die gleichge-
dieser Entwicklung. Wir sagen es Ihnen hier noch einmal schlechtlichen Lebensgemeinschaften eine „Ehe light“
ganz klar: Satteln Sie bei der Ökosteuer Anfang des schaffen. Wir sind dafür, Diskriminierungen abzubauen.
nächsten Jahres nicht erneut drauf, stoppen Sie diese Ent- Dort, wo es notwendig ist, dass Hilfe geleistet wird, sind
wicklung und schaffen Sie die Ökosteuer ab! wir für konkrete Hilfe. Aber wir werden es nicht mitma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen, dass jeglicher Unterschied zur klassischen Ehe von
Ihnen ausgehebelt wird.
Politik für Familien ist auch mehr als Finanzpolitik.
Wir müssen die gesellschaftlichen Veränderungen in (Beifall bei der CDU/CSU)
den Blick nehmen. Da sind wir nicht auseinander, wenn Die „Ehe light“ geht auf Kosten aller anderen. Beden-
es darum geht, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und ken Sie: Der Kuchen, den Sie zu verteilen haben, wird
Beruf zu erreichen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich nicht größer werden.
die Menschen wieder auf Kinder freuen, Ja zu Kindern
sagen und sich nicht zurückgehalten fühlen. Aber dazu (Hildegard Wester [SPD]: Was verteilen wir
müssen bestimmte Rahmenbedingungen in unserer Ge- denn?)
sellschaft verändert werden. Auch muss in der Arbeits-
Wenn mehr an diesem Tisch sitzen – das planen Sie mit
welt etwas geschehen. Nur, sehr geehrte Frau Ministerin
Ihren Vorschlägen zur „Ehe light“ –, dann werden die
Bergmann, mit den von Ihnen vorgelegten Eckpunkten für
Stücke kleiner. Das geht zulasten der kinderreichen Fami-
ein Gleichstellungsgesetz, mit denen erreicht werden soll,
lien und der Alleinerziehenden und das ist kein Weg in
dass Frauen in der Arbeitswelt vorankommen, werden Sie
eine familienfreundliche Gesellschaft.
– mit Verlaub – nicht viel ausrichten. Vor allen Dingen
sind keine neuen Ideen dabei. (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11141
Dr. Maria Böhmer

(A) Jetzt will ich einen weiteren Punkt ansprechen, der mir Ich habe bisher nichts erfahren. Die Länder – so ist mir zu (C)
seit längerer Zeit – gerade wenn ich mir Ihre Äußerungen Ohren gekommen – wollen jetzt den Jugendschutz im
bzw. Nichtäußerungen vor Augen führe, Frau Ministerin Medienbereich auf ihre Seite ziehen. Das heißt: Eine
Bergmann – sehr viel Sorgen macht: Es ist das Thema Kernkompetenz aus Ihrem Haus steht zur Disposition. Ich
Frauen und Rente. Ich habe die Pressemeldungen ver- kann Ihnen nur sagen: Wehren Sie sich! Im Zeitalter der
folgt. Ich habe Sie, Frau Ministerin, vermisst, als es da- Globalisierung und im Zeitalter von Internet kann es doch
rum ging, sich in dieses Themenfeld einzubringen und nicht sein, dass eine Kernkompetenz im Bereich des Ju-
Forderungen für Frauen zu erheben. Sie haben in New gendmedienschutzes von der nationalen Ebene völlig auf
York davon gesprochen, wir bräuchten ein „gender main- die regionale Ebene, auf die Länderebene verlagert wird.
streaming“, das heißt, die Integration der Anliegen von
Frauen in allen Politikbereichen. Nur: Wo erheben Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ihre Stimme, wenn es darum geht, für Frauen in der Wir brauchen klare, einheitliche Regelungen im Be-
Rentenreform etwas zu erreichen? Es ist die Mehrzahl reich des Jugendmedienschutzes. Wir brauchen bessere
der Rentner, um die es geht. Es geht um die Zukunft von Einrichtungen in diesem Bereich. Wir müssen diesen
11 Millionen Rentnerinnen in Deutschland. Hier erkenne Dschungel durchforsten. Das gilt es zu tun, hier erwarte
ich nichts, was von Ihnen an Gedanken eingebracht wor- ich Vorschläge aus Ihrem Haus und nicht nur von Länder-
den ist.
seite. Denn es gilt, schnell zu handeln, damit wir der Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- walt auf diesem Feld Einhalt gebieten können.
neten der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Das einzige, was ich aus Ihrem Hause registriert habe, neten der F.D.P. – Ulla Schmidt [Aachen]
war ein harscher Protest, als die Frauenverbände einen of- [SPD]: Wer war es denn, der das Privatfernse-
fenen Brief an Bundeskanzler Schröder schrieben und hen unbedingt wollte, ohne jede Einschrän-
darin erklärten, die Frauen stünden in Gefahr, eindeutige kung? Ich glaube, ich erinnere mich an etwas!)
Verliererinnen dieser Rentenreform zu werden, wenn die
Pläne von Rot-Grün Realität würden. Daraufhin hat Ihre
Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Niehuis, von ei- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin
ner unglaubwürdigen Allianz und von unglaubwürdigen Böhmer, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Luftblasen gesprochen.
So kann man in diesem Land nicht mit Frauen um- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Auch Ihnen, Frau
gehen. Sie haben die Frauen vor der Wahl benutzt, um die Ministerin, läuft die Zeit davon. Politik für junge Men-
(B) Rentenforderungen, die Sie aufgestellt haben und die Sie schen, für Ältere, für Frauen und für Familien muss man (D)
heute als Fehler bitter bereuen, im Lande zu verbreiten. richtig machen! Rot-Grün kann das nicht. Das kann nur
Wenn Ihnen aber die Botschaften nicht passen, greifen Sie die Union. Deshalb werden wir mit Ihnen weiterhin hef-
zu Beschimpfungen; das geht nicht. Wir müssen zurück- tig über die Zukunft der Familien in Deutschland streiten.
kehren zu einer Politik, die dazu führt, dass gerade in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Rentenversicherung Nachteile für Frauen abgebaut wer-
neten der F.D.P.)
den und vor allen Dingen keine neuen Nachteile entste-
hen.
Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
neten der F.D.P.)
Irmingard Schewe-Gerigk.
Ich hoffe sehr darauf, dass in dem Gesetzentwurf, den wir
erwarten, diese Bedingungen erfüllt sind und Sie Ihre
Stimme mit erheben. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
Ich will als letzten Punkt eines ansprechen: Sie haben legen! Während der Vorbereitung meiner Haushaltsrede
sich zur Jugendpolitik, zu Gewalt und zum Rechtsradika- stand ich ein wenig in der Versuchung, es dem Altbun-
lismus geäußert. Aber ich habe von Ihnen nichts zu einem deskanzler Kohl gleichzutun, als er seine Neujahrsrede
Bereich gehört, der in diesem Zusammenhang eigentlich gehalten hat, und die Rede aus dem letzten Jahr noch
in Ihrem Blickfeld liegen sollte: Es ist der Jugendschutz einmal vorzutragen; denn: Das Meiste ist gleich geblie-
im Medienbereich. Frau Ministerin, das ist eine Kompe- ben, sieht man einmal davon ab, dass die Ausgaben dies-
tenz, die in Ihren Händen liegt. Gewalt im Fernsehen, Ge- mal nur um 2 Prozent reduziert werden. Aber bei einem
walt im Internet, Pornographie im Internet und die Ent- 10-Milliarden-DM-Haushalt, bei dem fast 7 Milliar-
wicklung im digitalisierten Fernsehen, das alles muss uns den DM allein durch das Erziehungsgeld gebunden sind,
eigentlich alle umtreiben. ist auch nicht mehr viel zu holen. Die Kürzungen sind
Seit einem Jahr liegt der Bericht zum IuKDG, zum In- dennoch schmerzlich.
formations- und Kommunikationsdienste-Gesetz, vor. In
(Ina Lenke [F.D.P.]: Beim Zivildienst ist auch
diesem ist ausgeführt, dass die Bestimmungen zum Ju-
nicht mehr zu kürzen!)
gendschutz im Medienbereich nicht mehr den aktuellen
Anforderungen entsprechen. Welche Schlussfolgerungen Aber angesichts Ihrer Hinterlassenschaft von 1,5 Billio-
ziehen Sie aus dieser Aussage? Wo sind Ihre Vorschläge? nen DM an Schulden, die wir bei unserer Regierungs-
11142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Irmingard Schewe-Gerigk

(A) übernahme vorgefunden haben, kommt man an Einspa- meisten Fällen haben sie noch immer die Zuschauerrolle (C)
rungen nicht vorbei, in der Familie inne. Auch das werden wir ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Böhmer, wenn Sie vorhin gesagt haben, die Mi-
und bei der SPD) nisterin sei ein Ausfall in der Familienpolitik,
es sei denn, man spart auf Kosten der nächsten Genera- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das steht in
tion. Dies wollen wir nicht. der „Wirtschaftswoche“! Ich zitiere nur!)
Die Einsparungen waren durch die Verkürzung des Zi- dann muss ich Ihnen sagen, dass ich das, was Sie gesagt
vildienstes und durch eine geringere Inanspruchnahme haben, für einen Ausfall halte.
des Erziehungsgeldes aufgrund der gesunkenen Gebur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tenrate möglich. Frau Böhmer, ist es nicht so, dass Ihre und bei der SPD)
Kolleginnen von der CDU/CSU-Fraktion immer wieder
verbreiten, wir würden das Erziehungsgeld kürzen? Das Gerade in der Familienpolitik hat die Bundesregierung
wird nicht gekürzt. Wir haben 300 Millionen DM mehr entscheidende Weichenstellungen vorgenommen, ange-
eingestellt. Aber weil weniger Kinder geboren werden, fangen mit dem Elternzeitgesetz, das für drei Jahre den
wird auch weniger in Anspruch genommen. So weit zu Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit vorsieht,
den Mitteln des Einzelplans 17. und mit dem neuen Gesetz, mit dem jetzt die Möglichkeit
zur Teilzeitarbeit auch im Zusammenhang mit anderen
Sie sagen: Im Haushalt tut sich nicht viel. Wenn Sie nur Bedürfnissen generell festgeschrieben wird.
den Haushalt betrachten, könnte ich Ihnen vielleicht zu-
stimmen. Aber es ist nicht der Haushalt allein. Ich möchte Auch finanziell – im Rahmen der Einkommensteuer –
sind die Familien besser gestellt worden. Deshalb führe
jetzt an drei Beispielen aus den Bereichen Familien-,
ich folgendes Beispiel noch einmal an, Frau Böhmer: Ein
Frauen- und Seniorenpolitik, die konträr zu Ihrer Vorlage,
Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen
Frau Kollegin, stehen, deutlich machen, welchen Wandel
von 60 000 DM, das eine Fahrleistung von 15 000 Kilo-
die neue Bundesregierung eingeleitet oder sogar schon metern im Jahr und einen normalen Verbrauch an Gas und
umgesetzt hat. Strom hat, spart trotz aller Belastungen noch immer
Beispiel Familienpolitik: Die gesunkene Geburtenrate 2 000 DM. Deswegen können Sie hier nicht behaupten:
und ihre Auswirkung auf die sozialen Sicherungssysteme Die Ökosteuer sei schuld. Sie sollten intellektuell etwas
waren im Sommer Thema zahlreicher Veröffentlichun- redlicher sein.
gen. Besonders hat sich dabei der bayerische Minister- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
präsident Stoiber hervorgetan, in dem er eine aktive Be- und bei der SPD)
(B) völkerungspolitik gefordert hat. (D)
Zweimalige Erhöhung des Kindergeldes und auch Er-
(Lachen bei der SPD) höhung des Erziehungsgeldes – auch das sind ziemliche
Wie er die Frauen ködern möchte, mehr Kinder zu ge- Leistungen. Dass das Familienpolitikerinnen immer noch
bären, hat Herr Stoiber – vielleicht Gott sei Dank – nicht nicht genug ist, ist doch klar. Wir setzen das aber Schritt
gesagt. Verehrter Herr Stoiber, ich hatte gedacht, diese für Schritt um. Wir sind auf dem Weg, auch 2002 wieder
Zeiten seien eigentlich vorbei. Wir lehnen eine aktive Be- etwas finanziell für die Familien zu tun. Eine Kindergeld-
völkerungspolitik ab. erhöhung wäre meiner Ansicht nach die gerechteste Lö-
sung, weil dann kleine und mittlere Einkommen eine
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tatsächliche Förderung bekommen.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Auch bei Antworten zum demographischen Abwärts-
F.D.P. und der PDS)
trend steht das Thema Migration auf der Tagesordnung.
Wir müssen allerdings die Paare unterstützen, die zwar Im Jahre 2050 werden selbst bei einer eingerechneten Zu-
einen Kinderwunsch haben, diesen aber aus vielfältigen wanderung von 200 000 Menschen pro Jahr in Deutsch-
Gründen nicht realisieren. Von diesen Paaren gibt es eine land 10 Millionen Menschen weniger leben. Auch aus die-
Menge, wie Befragungen zeigen. Das ist das Ergebnis Ih- sem Grunde begrüße ich als Grüne ausdrücklich die
rer konservativen Familienpolitik, die stets auf dem EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung, die ja
Rücken der Frauen ausgetragen wurde. Es ist doch kein sehr weitgehend ist und nach der Kinder bis zum 21. Le-
Wunder, dass schon heute jede dritte Frau auf Dauer kin- bensjahr zu ihren Eltern nach Deutschland nachziehen
derlos bleibt. Das ist die Begründung dafür. Das ist in mei- können.
nen Augen eine stille Revolution der Frauen, die deutlich (V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)
macht, dass sie nicht mehr bereit sind, die alleinige Ver-
antwortung für die Kinder zu übernehmen. Eine weitere notwendige Maßnahme zur Sicherung der
sozialen Sicherungssysteme wäre die Erhöhung der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frauenerwerbstätigkeit. Auch hier haben Sie uns mit ei-
Der Arbeitsmarkt ist weit davon entfernt – auch darin ner Frauenerwerbstätigkeit von unter 40 Prozent eine
stimmen wir überein –, mit flexiblen Arbeitszeiten auf Hinterlassenschaft vermacht, bei der wir eine ganze
die Bedürfnisse von Eltern zu reagieren. Die meisten Kin- Menge nachholen müssen.
derbetreuungseinrichtungen und Schulen sind so gestal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tet, dass die Mütter mittags mit fertig gekochtem Essen und bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist ty-
zur Verfügung stehen müssen. Und die Väter? In den pisch grün!)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11143
Irmingard Schewe-Gerigk

(A) Damit bin ich beim zweiten Thema, der Gleichstel- Zum Schluss komme ich zu einem traurigen Kapitel, (C)
lungspolitik in der Privatwirtschaft. Noch nie hatten der Seniorenpolitik. Seit Jahren berichten die Medien
wir eine so gut ausgebildete Frauengeneration – Frau über Missstände in Heimen. Untersuchungen belegen,
Lenke, Sie werden mir da zustimmen. 55 Prozent haben dass 30 Prozent der Pflegeheimbewohner an qualvollen
die Hochschulreife; der Anteil der Studentinnen ist Schmerzen durch offene Wunden leiden, die durch Pfle-
52 Prozent. Frauen haben durchschnittlich die besseren gefehler entstanden sind. Fachleute gehen davon aus, dass
Noten. Diese Zahlen finden keine Entsprechung in der eine häufige Todesursache von Heimbewohnern das Aus-
Berufswelt. Frauen verdienen immer noch fast ein Drittel trocknen aufgrund mangelnder Flüssigkeitszufuhr ist.
weniger als Männer. Sie haben 1999 laut Eurostat 3,7 Pro- Festschnallen mit Gurten und Ruhigstellen mit Psycho-
zent der Führungspositionen inne. In den Hundert größten pharmaka sind an der Tagesordnung. So wird der Lebens-
Aktiengesellschaften hat es bis vor kurzem eine Vor- abend zur Hölle. Diese Vorfälle sind nicht neu. Trotzdem
standsfrau gegeben. Diese gibt es nun auch nicht mehr. Im wurde bisher nicht gehandelt. Auch hier wird die Politik
europäischen Vergleich liegen wir sowohl bei der Er- endlich reagieren.
werbsquote als auch bei den Verdienstchancen und bei der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinderbetreuung im unteren Drittel. Bei den Führungspo-
und bei der SPD)
sitionen bilden wir mit Italien das Schlusslicht. Das sind
keine Indikatoren für einen modernen Wirtschaftsstand- Eine Änderung des Heimgesetzes, die auch unangemel-
ort. dete Kontrollbesuche ausdrücklich vorsieht, und auch
eine bessere Ausbildung des Fachpersonals werden si-
(Ina Lenke [F.D.P.]: Sie wollten den Ländern
cherlich eine Verbesserung bringen. Das können aber nur
Geld für die Kinderbetreuung geben! Das haben
erste wichtige Maßnahmen sein, die meines Erachtens
Sie nicht gemacht!)
auch noch nicht ausreichen werden. Wir werden das Ge-
Ich finde, wir können es uns nicht länger leisten, in Eu- spräch mit bereits bestehenden Initiativen und Fachleuten
ropa das Schlusslicht bei der betrieblichen Gleichstellung suchen, damit diese Menschenrechtsverletzungen an alten
zu sein. Menschen ein Ende finden.
Beim Thema Europa denkt man natürlich sofort immer Ich glaube, dieser kleine Exkurs in die drei Fachberei-
an den sinkenden Euro. Es gibt eine Menge Erklärungen, che hat deutlich gemacht, wie wichtig und umfassend die
woran es liegt, dass er sinkt. Ich möchte noch eine hinzu- Arbeit unseres Ausschusses ist, ohne dass sich das im
fügen: Vielleicht liegt ja die Euro-Schwäche daran, dass Haushalt in Mark und Pfennig widerspiegelt. Lassen Sie
bei uns so wenige Frauen in Entscheidungspositionen uns um die besten Lösungen streiten. Ich denke, wir tun
sind, gut daran, unsere Konzepte vorzustellen und durchzuset-
(B) zen, damit sich in dieser Republik endlich etwas bewegt. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
während in den Vereinigten Staaten fast jede zweite Top-
position mit einer Frau besetzt ist. Diese Erklärung wäre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ja mal eine Überlegung wert. und bei der SPD)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann sinkt
der Euro auf 5 Pfennig!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Mein Kollege Schrift-
führer sagte mir, dass die Regelung hinsichtlich der Re-
Es gibt schon jetzt eine Reihe von Unternehmen – das
dezeit locker gehandhabt würde. Ich will eigentlich, dass
sind nicht nur Großbetriebe –, die erkannt haben, dass
die Redezeit eingehalten wird. Das sage ich jetzt. Eben
Chancengerechtigkeit letztendlich auch den Unterneh-
habe ich das ein bisschen laufen lassen.
men zugute kommt. Um diesen positiven Prozess zu be-
schleunigen, brauchen wir ein Gesetz, das die Unterneh- Nun erteile ich der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Frak-
men zur Gleichstellung verpflichtet. Das ist, Kollegin tion, das Wort.
Lenke, keine Politik mit der Brechstange,
(Ina Lenke [F.D.P.]: Aber sicher!) Ina Lenke (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! In der rot-grünen Frauen- und Familienpoli-
sondern das, was die Ministerin vorgeschlagen hat, würde
tik ist mehr Schein als Sein und mehr Zwang als Motiva-
ich als ein Werkzeug zur Feinjustierung bezeichnen. Es
tion. Das ist typisch sozialdemokratisch und typisch grün.
geht sehr genau auf die Dinge ein, die zu regeln sind.
Wir Liberale haben eben andere Vorstellungen von
Ihnen geht das alles viel zu weit. Den CDU-Kollegin- Frauen- und Familienpolitik. Wir sind nämlich nicht für
nen Süssmuth und Böhmer geht das viel zu langsam und Gesetze, die persönliches und wirtschaftliches Handeln
ist zu wenig verbindlich. Wir scheinen also auf dem rich- einschränken; vielmehr wollen wir politische Rahmenbe-
tigen Wege zu sein. dingungen, die wir nicht mit Androhung und Zwang er-
reichen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P.)
Wir hätten bei diesem schwierigen Projekt natürlich gerne Sie haben gesehen: Wir haben auf der Grundlage des
noch die eine oder andere unterstützende Stimme aus der Bundesverfassungsgerichtsurteils politische Alternativen
Opposition und der Koalition. zur Elternzeit, zur Erziehungszeit und zur Familienförde-
11144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Ina Lenke

(A) rung vorgelegt. Wir sind in Bezug auf die Möglichkeiten Ich meine, diese wenigen Beispiele zeigen, dass Sie in (C)
der Beschäftigung von Frauen wirklich weitergegangen dieser Regierung ganz kleine Brötchen backen müssen.
als Sie. Unsere Vorstellungen zielen mehr auf die indivi-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
duelle Ausgestaltung der Vereinbarkeit von Familie und
der CDU/CSU – Walter Hirche [F.D.P.]: Da
Beruf und natürlich auf die Unterstützung von Männern
wird jeder Bäcker vom Beruf ausgeschlossen!)
in der Familienphase. Unsere Konzepte liegen auf dem
Tisch. Sie haben sicherlich andere gehabt und Sie sind Ich will aber auch noch auf die SPD zu sprechen kom-
von Ihren überzeugt. Wir werden die zwei Jahre einmal men. Schröder hat im Wahlkampf am 17. April 1998 – ich
abwarten und schauen, ob sich auf der Grundlage Ihrer kann mich sehr genau daran erinnern; es ist auch im Fern-
neuen Konzepte wirklich etwas bewegt hat. Ich habe da- sehen gezeigt worden – versprochen, dass er eine Steuer-
ran meine Zweifel. politik zur Entlastung von Familien mit Kindern gestal-
Ich möchte kurz zu § 19a des Ausländergesetzes kom- ten will. Jeder weiß das. Aber Fakt ist doch, dass die
men. Wir im Deutschen Bundestag arbeiten über Frakti- indirekten Steuern durch steigende Energiepreise – das ist
onsgrenzen hinweg sehr konstruktiv zusammen. Wir jetzt wirklich nicht wegzudiskutieren; die hohen Heizöl-
konnten Sie überzeugen, dass diejenigen Frauen, die für und Benzinpreise sind nicht nur von Ihnen zu verantwor-
den Lebensunterhalt nachweislich nicht aufkommen kön- ten – –
nen, einen Sozialhilfeanspruch haben. Diesbezügliche
(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Heizöl hat
Maßnahmen waren in Ihrem ursprünglichen Gesetzent-
wurf nicht enthalten. Ich finde eigentlich ganz gut, dass keine Ökosteuer!)
Ihnen die F.D.P. in diesem Punkt weiterhelfen konnte. – Ja, dafür können Sie nichts; aber auch als Sie in der Op-
(Beifall bei der F.D.P.) position waren, haben Sie nicht gefragt, welche Preise
steigen und welche nicht. Jetzt müssen Sie sich sagen las-
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie haben sen, dass eine Entlastung der Familien faktisch nicht vor-
eine Halbzeitbilanz vorzulegen. Man fragt sich manch- handen ist.
mal, welche Vorstellungen Sie zu Beginn der Regierungs-
zeit hatten und was Sie in der Politik haben durchsetzen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ulla
können. Ich erinnere mich sehr gern an das, was Sie nicht Schmidt [Aachen] [SPD]: Das müssen wir uns
durchsetzen konnten. Zum Beispiel haben Sie in dieser nicht sagen lassen!)
Regierung bis heute das Ehegattensplitting nicht abschaf-
Machen Sie eine bessere Politik – Herr Fischer ist ja nicht
fen können – eine Forderung, die man von Ihnen immer
hören konnte. mehr da –, vielleicht wäre es etwas anders gekommen,
wenn er sich da ein wenig mehr eingesetzt hätte.
(B) Außerdem wollten Sie eine Gleichstellung mit der Ehe. (D)
Volker Beck ist heute nicht da. Er hat in den Veranstal- Meine Damen und Herren, ich möchte nur aus dem
tungen, bei denen ich war, immer gesagt: Wir wollen die „Focus“ dieser Woche zitieren – das haben Sie sicher auch
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der Ehe gleich- mit Interesse gelesen –:
stellen. Sie haben in dem Entwurf, den Sie zusammen mit Wie so oft leiden besonders die Familien unter stei-
der SPD vorgelegt haben, einiges zurückgenommen. genden Preisen. Die zusätzlichen Belastungen zwin-
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen die Familien zu schmerzhaften Einsparungen.
NEN]: Was haben Sie denn hingekriegt? Was
Das ist Fakt.
haben Sie denn auf die Kette gekriegt? Nichts!)
– Wir haben einen anderen Entwurf, der verfassungsfest Ich möchte noch ganz kurz auf einen weiteren Meilen-
ist, Herr Simmert, während Ihr Entwurf vor dem Verfas- stein Ihrer Regierungspolitik eingehen, nämlich auf das
sungsgericht überhaupt nicht standhält. Von daher werden Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft. Sie wol-
Sie noch viele Änderungen vornehmen, noch vieles bei len ja die Vergabe von Aufträgen an Frauenförderung bin-
dem Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften den. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass das sehr büro-
zurücknehmen. kratisch werden wird und dass der Schuss für die Frauen
nach hinten losgehen wird, Frau Wolf.
Herr Simmert, ich bleibe bei Ihnen. Ich habe in alten
Protokollen nachgelesen. Im Februar 1999 haben Sie für (Walter Hirche [F.D.P.]: Genauso ist es!)
die Koalitionsfraktionen und die von ihr getragene Regie-
Sie werden es sehen. Die Wirtschaft erhält von Ihnen Auf-
rung die zeitliche Gleichstellung des Zivildienstes mit
lagen über Auflagen:
dem Wehrdienst gefordert. Wir haben da so viele Ände-
rungen gehabt. Wieso ist Ihnen das eigentlich nicht ge- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
lungen? DIE GRÜNEN]: In Brandenburg ist die Wirt-
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft zusammengebrochen, seitdem wir es da
NEN]: Ist Ihnen entgangen, dass wir um zwei haben?)
Monate einseitig verkürzt haben, von 13 auf 11 Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der Erzie-
Monate? Das hat es bei Ihnen nicht gegeben! hungszeiten, 630-Mark-Gesetz, Gleichstellungsgesetz
Wo leben Sie denn?) und das Neueste – das habe ich gestern im Radio gehört –:
Das ist überhaupt kein Problem. Herr Simmert, wo ist ei- Sie wollen einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch
gentlich Ihre Erfolgsmeldung? bei Betrieben mit zwei bis drei Mitarbeitern einführen. Da
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11145
Ina Lenke

(A) sagen Sie mir einmal, wie ein Betrieb überhaupt überle- Zivildienst – das muss man sich einmal vorstellen, das (C)
ben kann. wären drei Monate länger als die Wehrpflicht – dauert,
einrichten. Ich halte das für happig. Für mich ist der Vor-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
schlag völlig unseriös. Vielleicht fragen Sie einmal nach.
der CDU/CSU)
Ich bekomme keine Antwort, denn diese Arbeitsgruppe
Mir ist es ein wirkliches Bedürfnis, mich jetzt noch tagt hinter verschlossenen Türen. Die Ministerin hat ja an-
dem Zivildienst zu widmen. gekündigt, dass es in der nächsten Woche eine entspre-
chende Vorlage geben wird. Ich bin sehr gespannt, ob sich
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dieser Vorschlag in dieser Vorlage wiederfindet.
NEN]: Schön!)
Im Einzelplan 17 werden für nächstes Jahr 2 Milliar-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt denken Sie aber
den DM veranschlagt. Im letzten Haushalt hat es ja aus-
an Ihre Redezeit.
schließlich massive Kürzungen gegeben. Darunter haben
die Zivildienstleistenden bis heute zu leiden.
Ina Lenke (F.D.P.): Ich achte jetzt darauf.
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was?)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nein, sie ist schon seit
– Ja, sicher. Sie haben einen geringeren Rentenanspruch.
über einer Minute abgelaufen.
Das wissen Sie doch, Herr Simmert, erzählen Sie doch
nichts.
Ina Lenke (F.D.P.): Über eine Minute? Dann will ich
Weiterhin müssen die Einrichtungen mehr Entlas-
nur zum Schluss Frau Bergmann noch ein Lob ausspre-
sungsgeld bezahlen und ihr Anteil bei den Tagegeldern
chen. Gemäß dem Haushaltsentwurf wollen Sie Mittel zur
liegt höher.
Stärkung des Ehrenamtes einsetzen. Da stimmen wir Ih-
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen uneingeschränkt zu. Ich hoffe, dass es nicht nur Gut-
NEN]: 5-prozentige Verschiebung!) achten geben wird, sondern auch vor Ort von den Verei-
nen und Verbänden praktische Arbeit durchgeführt
Sie haben die Zivildienstzeit während Ihrer Regie-
werden kann. Dabei sind wir Ihnen gerne behilflich.
rungszeit gekürzt. Gemäß dem Scharping-Konzept wer-
den Sie ihn bis 2002 von 13 auf 10 Monate kürzen, um (Beifall bei der F.D.P.)
nicht falsch verstanden zu werden.
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat die Kollegin
(B) NEN]: 11! Sie haben gerade 13 gesagt!) Petra Bläss, PDS-Fraktion, das Wort. (D)

– Ab 1. Januar 2002 wollen Herr Scharping und Sie eine


neunmonatige Wehrpflicht einführen, dann wären wir bei Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
10 Monaten. Das bedeutet, dass es in anderthalb Jahren nen und Kollegen! Zwei Jahre nach der Bundestagswahl
drei Monate weniger sind. ist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Auch in
der Frauenpolitik fällt diese ernüchternd aus. Der Re-
Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich halte es für
gierungswechsel zu Rot-Grün war zu Recht mit der Hoff-
sehr positiv, dass wir junge Leute zu kürzeren Zwangs-
nung auf einen Paradigmenwechsel in der Gleichstel-
diensten, Wehr- oder Zivildienst, verpflichten. Die jungen
lungspolitik verbunden. Lassen Sie mich aus aktuellem
Männer können dann eher eine berufliche Ausbildung
Anlass exemplarisch aufzeigen, warum die Enttäuschung
machen. Die Schwierigkeit, die ich jedoch mit der Regie-
über Ihre halbherzige Politik – übrigens nicht nur bei uns –
rungspolitik habe, ist, dass Sie immer kürzen, kürzen und
so groß ist.
kürzen, aber kein Konzept für den Zivildienst vorlegen.
Das haben Sie bis heute nicht geschafft. Frau Ministerin Bergmann, die Koalition hat vor zwei
Jahren ein effektives Gleichstellungsgesetz für die Pri-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
vatwirtschaft versprochen. Die Praxis hat gezeigt, dass
Ich habe wirklich den Eindruck, Frau Ministerin – ich be- in puncto Chancengleichheit in der Privatwirtschaft auf
gründe das jetzt auch noch –, dass das für Sie keine Her- freiwilliger Basis so gut wie nichts passiert und dass jah-
zensangelegenheit und deshalb auch keine Chefinnensa- relange Appelle an die Wirtschaft, an die Unternehmer, an
che ist. das Management nichts bewegt haben.
Durchgesickert ist ja nun in der letzten Woche, dass die Nun ist von einem effektiven Gleichstellungsgesetz
Arbeitsgruppe zur Zukunft des Zivildienstes, die in Ihrem für die Privatwirtschaft so gut wie keine Rede mehr. Nun
Ministerium hinter verschlossenen Türen tagt, einen frei- wollen Sie doch wieder auf Appelle setzen. Natürlich
willigen Zwangsdienst ausgebrütet haben soll. Man kann gibt es die Unternehmen, bei denen Appelle fruchten, die
sich also als Wehrpflichtiger oder Zivildienstleistender mit gutem Beispiel vorangehen, die zudem wissen, dass
zwei Monate länger, als der Zivildienst dauert, verpflich- sich die Gleichbehandlung der Geschlechter auch rech-
ten. Dann braucht man weder den Wehrdienst noch den net. Aber sie sind in der Minderzahl. Sie selber haben ver-
Zivildienst zu leisten. Sie wollen also jetzt, weil Sie gangene Woche gesagt, dass sich von über 2 Millionen
Schwierigkeiten mit den Einrichtungen haben, einen frei- Betrieben gerade einmal knapp 100 um Prädikate für
willigen Zwangsdienst, der zwei Monate länger als der Chancengleichheit bemühen.
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Petra Bläss

(A) Frau Ministerin, ich habe mich an den Dialogforen Ih- schwer, sich gegen persönliche Diskriminierung zur Wehr (C)
res Ministeriums zum Thema Chancengleichheit in der zu setzen. Das geltende Gesetz ist in der Praxis kaum
Wirtschaft beteiligt. Ich bin mit Ihnen der Meinung, dass wirksam, weil der Tatbestand „Diskriminierung aufgrund
Chancengleichheit für Männer und Frauen tatsächlich ein des Geschlechts“ nicht eindeutig definiert ist, weil die Be-
Erfolgsfaktor für die Wirtschaft sein kann. Aber intensi- weislast zu groß ist und die Sanktionen äußerst gering
ver Dialog ersetzt keine Handlungen, auch und vor allem sind.
nicht die des Gesetzgebers. Damit noch nicht genug. Wir müssen auch das
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) Beschäftigtenschutzgesetz überarbeiten. Denn der Schutz
vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wie
Wenn Sie sagen, unternehmerische Freiheit und Tarif- vor nicht ausreichend. Noch immer behandeln Betriebe,
autonomie haben Vorrang vor staatlichen Interventionen, Verwaltungen und Ausbildungsstätten sexuelle Belästi-
dann bringen Sie etwas durcheinander. Unternehmeri- gung als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine klare Defini-
sche Freiheit darf keinen Vorrang haben, wenn sie zur tion der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und effek-
Diskriminierung eines ganzen Geschlechts genutzt wird. tive Beschwerdemöglichkeiten. Außerdem brauchen wir
(Beifall bei der PDS) Schadenersatzansprüche für die betroffenen Frauen.
Die Tarifautonomie wird durch das Grundgesetz ge- Bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes
schützt. Im Übrigen hat niemand gefordert, hier von staat- schließlich müssen wir die Betriebsräte und seine Gre-
licher Seite zu intervenieren. Die Gleichstellung der mien quotieren und ihre Kompetenzen im Bereich der
Frauen aber ist ein Verfassungsauftrag. Ihn durchzusetzen Frauenförderung ausweiten. Nur so können wir wirklich
ist Aufgabe der Politik. Davor kann sich die Koalition sicherstellen, dass die Betriebsräte die Interessen von
nicht drücken. Frauen angemessen vertreten.
Aber genau das tun Sie, wenn Sie nun, wie vergangene Sie sehen also: Wir haben einen enormen Regelungs-
Woche angekündigt, die Verantwortung auf die Tarif- und bedarf.
Betriebspartner abschieben. Es mag ja gut klingen – wie (Beifall bei der PDS)
Sie eben noch einmal ausgeführt haben – dass sich dann
jeder das aussuchen kann, was er braucht. Aber das hilft Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn es auch mei-
den Frauen herzlich wenig. Warum meinen Sie, dass Ge- nes Erachtens sehr spät ist: Endlich ist unsere Gesellschaft
werkschaften und Betriebsräte gerade jetzt das durchset- angesichts des Ausmaßes rassistisch motivierter Gewalt-
zen können, was ihnen jahrelang nicht gelungen ist? Da übergriffe aufgewacht. Wir Politikerinnen und Politiker
hilft es auch nichts, dass Sie für einen späteren Zeitpunkt sind jetzt gefordert, unseren Worten Taten folgen zu las-
(B) gesetzlichen Zwang ankündigen. sen. Die PDS fordert, in den Haushalt im Rahmen des (D)
Kinder- und Jugendplanes einen neuen Titel zur Förde-
Nein, es bleibt dabei: Wir brauchen klare und verbind- rung des zivilgesellschaftlichen Engagements gegen
liche gesetzliche Vorgaben. Dazu gehören nun einmal ef- Rechtsextremismus und Rassismus einzustellen. Wir
fektive Quotierungsregelungen. halten es für absolut dringlich, nicht nur zu Zivilcourage
(Beifall bei der PDS) gegen den Rechtsextremismus aufzurufen, wir müssen
dafür auch öffentliche Gelder bereitstellen.
Wir brauchen Gleichstellungsbeauftragte in den Betrie-
ben, die entsprechende Rechte haben, die Gleichstellung Vielerorts sind es Jugendliche, die sich mit sehr viel
durchzusetzen. Mut gegen Rassismus und Gewalt zur Wehr setzen und
die eine unverzichtbare dialogorientierte Arbeit leisten.
(Ina Lenke [F.D.P.]: Das sind doch die Perso- Sie brauchen unsere Unterstützung. Frau Ministerin, wir
nalräte, die dafür zuständig sind!) alle, vor allem die Jugendlichen, nehmen Sie beim Wort.
– Das reicht eben nicht. Aber zur notwendigen Novellie- Sie haben eben sehr klare Worte gesprochen – ich finde
rung des Betriebsverfassungsgesetzes sage ich gleich das gut –, dass wir die Gegenkräfte stärken müssen.
noch etwas. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
Wenn das Gesetz nicht zum zahnlosen Papiertiger wer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
den soll, denn brauchen wir auch Sanktionen, vor allem SPD)
ein Verbandsklagerecht. Aber – jetzt kommt mein „Aber“ – der Haushaltsent-
(Walter Hirche [F.D.P.]: Auch noch!) wurf, also die in Zahlen gegossene Politik, lässt davon lei-
der herzlich wenig erkennen. Entgegen verschiedenen
Zudem müssen wir die Vergabe öffentlicher Aufträge da- Äußerungen aus dem Ministerium gibt es zumindest im
ran knüpfen, dass die Unternehmen Frauen fördern. Ei- Moment – ich hoffe, das ändert sich noch im Laufe der
nige Bundesländer haben bereits solche Regelungen. Sie Haushaltsberatungen – keine zusätzlichen Mittel, kein
beweisen, dass die Welt nicht untergeht und auch der Aktionsprogramm, noch nicht einmal die quasi angekün-
Standort nicht verloren ist, wenn Betriebe Anreize haben, digte Intensivierung, also die Aufstockung der Mittel für
nicht zu diskriminieren. politische Bildung.
Wir müssen auch das individuelle Diskriminierungs- In diesem Sommer sind viele Menschen hierzulande
verbot nach § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches neu wach geworden und haben das Ausmaß von Rassismus,
fassen. Denn es ist für Frauen heute noch immer äußerst Antisemitismus und Rechtsextremismus in diesem Land
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Petra Bläss

(A) erkannt. Es ist Aufgabe der Politik, also von uns allen, al- In diesem Sinne war die Wahl, die auf Frau Bergmann als (C)
les Erdenkliche zu leisten, damit wirksam und nachhaltig Ministerin fiel, nicht ein Ausfall, sondern ein sehr guter
dagegen angegangen werden kann. Wir alle sind hier ge- Einfall.
fordert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich danke Ihnen. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der PDS) Bei den Familien in Deutschland und vermutlich auch
bei Ihnen ist es fast schon in Vergessenheit geraten, dass
bereits zum 1. Januar 1999, also nachdem wir drei Monate
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich danke der Frau an der Regierung waren, das Kindergeld von 220 DM um
Kollegin Bläss dafür, dass sie 50 Sekunden ihrer Redezeit 30 DM auf 250 DM angehoben wurde. Seit Anfang die-
eingespart hat. ses Jahres haben wir das Kindergeld erneut um weitere
(Heiterkeit) 20 DM erhöht und einen Kinderbetreuungsfreibetrag von
rund 3 000 DM eingeführt. Alleinerziehende können die-
– Ich bitte, diese Bemerkung nicht zu ernst zu nehmen. sen Beitrag übrigens allein in Anspruch nehmen. Die Kin-
Nun spricht die Kollegin Hildegard Wester, SPD-Frak- dergelderhöhung um 20 DM kommt auch Familien mit
tion. besonders niedrigem Einkommen zugute, da sie nicht auf
die Sozialhilfe angerechnet wird.

Hildegard Wester (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Darum mussten wir
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lange kämpfen! Ihr wolltet das ja eigentlich gar
Mit dem dritten Haushalt seit dem Regierungswechsel im nicht!)
Jahre 1998 wird der Konsolidierungskurs der rot-grünen Seit Übernahme der Regierung wurde das Kindergeld so-
Bundesregierung fortgesetzt. Trotz Sparhaushalt ist es ge- mit um 22,7 Prozent erhöht.
lungen, die Prioritäten richtig zu setzen. Der von dieser
Diese und weitere Erhöhungen bei anderen familien-
Koalition eingeleitete Abbau der Staatsverschuldung
bezogenen Leistungen, zum Beispiel um 500 Millionen
liegt auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen so- DM beim BAföG, um 475 Millionen DM beim Wohngeld
wie der Familien und Senioren; und um 300 Millionen DM jährlich beim Erziehungsgeld,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind in der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel.
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
denn nur mit einem ausgeglichenen Haushalt kann man Diese Ausgaben für den Familienleistungsausgleich
(B) auf Dauer Zukunftsinvestitionen leisten. Wo wären Zu- werden 2001 erstmals das Niveau von 60 Milliarden DM (D)
kunftsinvestitionen sinnvoller und wichtiger als in dem überschreiten. 1998 waren wir bei einem Niveau von
Bereich, den wir gemeinsam hier vertreten? 49,9 Milliarden DM. Für die zweite Stufe der Umsetzung
So ist es für junge Menschen, aber auch für unsere So- des Verfassungsgerichtsurteils zum Familienleistungs-
zialsysteme von zentraler Bedeutung, dass die Arbeitslo- ausgleich ab 2002 werden wir aber noch deutlich drauf-
senzahlen endlich sinken, was im Augenblick der Fall ist. legen müssen. Auch das werden wir gemeinsam mit Re-
Das ist ein Erfolg rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpoli- gierung und Fraktionen – hoffentlich auch mit Ihrer
tik und gezielter Arbeitsmarktförderungspolitik. Mithilfe – schultern. Wir werden dabei darauf achten,
dass verheiratete und unverheiratete Eltern, Alleinerzie-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hende oder in Partnerschaft Erziehende befriedigende
DIE GRÜNEN) Antworten auf ihre Situation erhalten. Denn so wie wir bei
der ersten Stufe der Umsetzung der Karlsruher Vorgaben
Zu den Schwerpunkten des rot-grünen Zukunftspro-
darauf geachtet haben, dass mehr als 90 Prozent der Al-
gramms gehört ganz eindeutig auch die Besserstellung
leinerziehenden mit der Neuregelung besser fahren als
von Familien. In der Familienpolitik haben wir unser vorher, werden wir auch bei der zweiten Stufe darauf ach-
Wort, das wir vor der Wahl gegeben haben, eingelöst. Wir ten, dass Nachteile, die entstehen könnten, kompensiert
hatten nämlich versprochen, Frau Böhmer, die wirtschaft- werden.
liche und soziale Lage der Familien spürbar zu verbes-
sern. Familien profitieren aber nicht nur von unserer Fa-
milienlastenausgleichspolitik, sondern auch von der all-
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Und was ist gemeinen Steuerpolitik, deren nächste Stufe im Jahre
passiert? Die Ökosteuer!) 2001 wirksam werden wird. Die entsprechenden Zahlen
Das ist uns zu einem großen Teil gelungen. Ich werde Ih- sind zwar soeben schon genannt worden; ich möchte sie
nen gleich die Daten und Zahlen nennen. aber wiederholen, weil es hier offensichtlich verschiedene
Grundlagen gibt – vielleicht prägen sie sich besser ein,
In diesem Zusammenhang können wir ganz besonders wenn man sie immer wieder nennt –: Eine Familie mit ei-
stolz darauf sein, dass wir eine Bundesministerin haben, nem durchschnittlichen Einkommen von 60 000 DM und
die trotz des schweren Standes, den unser Ressort im Ka- zwei Kindern wird im Jahre 2005
binett häufig hat, durchgehalten und gekämpft hat.
(Ina Lenke [F.D.P.]: Wir haben noch gar nicht
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2005! Ein halbes Jahrzehnt! – Weiterer Zuruf
DIE GRÜNEN) von der CDU/CSU: 2005, ja!)
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Petra Bläss

(A) – bis dahin findet ja ein allmählicher Anstieg statt; schon nach den Gegebenheiten des Betriebes so flexibel wie (C)
jetzt kommt es zu einer Entlastung von knapp 2 000 DM – möglich sein. Wenn dort aber nichts passiert, werden
nur noch rund 2 400 DM Steuern zahlen. Das sind 45 Pro- Sanktionen eintreten.
zent weniger als im Jahre 1998. Diese Familien beziehen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bereits jetzt pro Jahr ein Kindergeld von 1 200 DM mehr, DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Genau das sind die Ziele und Absichten der Bundesregie-
DIE GRÜNEN) rung und der Ministerin Bergmann. Die Fraktion unter-
sodass diese Familien dann, wenn wir die letzte Stufe stützt diesen Weg und dieses Ziel intensiv.
unserer Einkommensteuerpolitik umsetzen, mehr als Ich sagte soeben, wir wollen Männern und Frauen er-
4 000 DM pro Jahr zusätzlich im Portemonnaie haben möglichen, Erziehung und Beruf miteinander zu verein-
werden. baren. Damit machen wir auf der einen Seite deutlich,
(Ina Lenke [F.D.P.]: Das stimmt nicht!) dass Erziehung eine gesellschaftliche und nicht nur eine
Aufgabe der Familien ist; denn die Betriebe und die Ge-
Natürlich kommt jetzt bestimmt wieder der Einwurf sellschaft werden in die Pflicht genommen. Wir machen
„Ökosteuer“. Darauf möchte ich kurz eingehen: Ich weiß aber auf der anderen Seite auch deutlich, dass wir er-
nicht, woher Sie die Zahlen nehmen, nach denen eine Fa-
kennen, dass es nicht nur der finanzielle Rahmen ist, der
milie allein aufgrund der Ökosteuer – das kam jedenfalls
Familien eventuell dazu bringen könnte, ihren Kinder-
bei mir so an – pro Monat 130 DM mehr für Sprit ausgibt.
wunsch zu realisieren. Die übrigen Bedingungen sind viel
(Ina Lenke [F.D.P.]: Aus dem „Focus“!) wichtiger als die Frage, ob es 10 DM oder 20 DM mehr
Etwas anderes als die Ökosteuer haben wir hier nicht zu an Kindergeld geben wird. Das heißt aber natürlich nicht,
vertreten. Wir machen Politik und sind nicht in der Wirt- dass ich nicht um jede 10 DM mehr an Kindergeld kämp-
schaft. Wir werden nicht dabei nachlassen, im Sinne der fen werde. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Ergän-
Umwelt und im Sinne der Entlastung der Arbeit eine ver- zung.
nünftige Steuerpolitik voranzutreiben und fortzuführen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bedeutsam für den Haushalt im Bereich des Erzie-
DIE GRÜNEN) hungsgeldes – wir wollen das neue Gesetz Elternzeit-
Wir werden uns nicht daran beteiligen, zu verschleiern, gesetz nennen – ist die Erhöhung der Einkommensgren-
wo die Verursacher der Erhöhungen der Energiekosten zen. Wir überlegen uns natürlich intensiv – wir wären
sind. Sie befinden sich jedenfalls nicht in der Politik. Die keine guten Familienpolitikerinnen und Familienpoliti-
(B) Politik wird sich an diesem Punkt nicht erpressen lassen. ker, wenn wir das nicht täten, und ich lade Sie recht herz- (D)
lich ein, mitzumachen –, wie wir gegebenenfalls noch
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das wird auch Spielräume für weitere Verbesserungen in diesem Bereich
nicht dadurch glaubwürdiger, dass Sie es zehn- erreichen können.
mal sagen!)
Es ist hier bereits häufig angesprochen worden, aber
Mit der Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes
ich muss es noch einmal bekräftigen, dass das Elternzeit-
haben wir weitere Meilensteine gesetzt.
gesetz allein nicht in vollem Umfang die Vereinbarkeit
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das sind von Familie und Beruf ermöglichen oder erleichtern kann.
keine Meilensteine, das sind Kieselsteine!) Es müssen durch die Kommunen und Länder Betreu-
Das wurde soeben schon einmal festgestellt; ich muss es ungseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen bereit-
wiederholen. Wir haben eine Reform auf den Weg ge- gestellt werden. Hier muss kräftig investiert werden. Ich
bracht, die überfällig war. 14 Jahre lang hat das Gesetz denke, wir täten dabei gut daran, der Ministerin bei ihren
Geltung gehabt, das Sie seinerzeit eingebracht haben und Verhandlungen, die sie zurzeit mit den Ländern führt, den
das nicht dazu angetan war, dass Männer und Frauen Be- Rücken zu stärken, damit hier weitere Anstrengungen un-
ruf und Familie miteinander vereinbaren können. ternommen werden. Das alles muss natürlich finanzierbar
sein.
Jetzt gibt es zudem für immerhin 75 Prozent der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben ei-
nen Rechtsanspruch auf Teilzeit. Das ist eine zukunfts- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
weisende Politik. Denn die Menschen wollen Beruf und ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Familie miteinander vereinbaren. Dies gilt nicht nur für
Frauen, sondern auch für Männer. Wir wollen gleichzei- Hildegard Wester (SPD): Ja, bitte.
tig eine gezielte Frauenförderungspolitik betreiben. Wir
sind auf dem besten Wege. Frau Bläss, es geht nicht nur
darum, zu appellieren. Vielmehr wird dabei ein verbindli- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr.
ches Gesetz herauskommen.
Es wird verbindlich sein, dass Frauenförderung ein Ziel Ina Lenke (F.D.P.): In den Vorstellungen der Bundes-
der Politik ist, das eingehalten werden muss. Nur – das regierung wurde ausgeführt, dass die Bundesregierung
müsste durchaus in Ihrem Sinne sein, Frau Lenke –, die die Länder und Kommunen finanziell unterstützt. Machen
Wahl der Mittel, die der einzelne Betrieb vornimmt, sollte Sie das in dieser Legislaturperiode, um mehr Betreuungs-
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Ina Lenke

(A) einrichtungen für Kinder aller Altersgruppen vorzuhal- Es kommt nicht von ungefähr, dass Sie in der Bekannt- (C)
ten? heitsskala der Bevölkerung am unteren Ende rangieren –
und das, obwohl Sie Fachbereiche vertreten, die nahezu
jede Bürgerin und jeden Bürger persönlich betreffen. Die
Hildegard Wester (SPD): Frau Lenke, Sie wissen, von Ihnen auf den Weg gebrachten Initiativen sind nur
dass die Bundesregierung die Kommunen und Länder bei von mäßiger Innovationskraft und werden öffentlich ent-
dieser Aufgabe nicht unmittelbar unterstützen kann. Es sprechend wenig wahrgenommen. Ihre Durchsetzungs-
gibt daher Gespräche, um auszuloten, auf welchen Wegen fähigkeit am Kabinettstisch wird nicht ohne Grund selbst
man Anreize schaffen kann. Das wird sicherlich nicht aus Ihrer eigenen Fraktion bemängelt.
durch eine direkte finanzielle Unterstützung möglich sein.
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Meine Damen und Herren, es ist weiterhin erfreulich, NEN]: Bei Frau Nolte war das anders! Die
zu beobachten, dass der zur Verfügung stehende Ansatz Speerspitze der Bewegung!)
beim Unterhaltsvorschussgesetz mit 555 Millionen DM
ausreichend ist. Wir haben durch die Veränderung des Fi- In einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 2. März die-
nanzierungsschlüssels, der zum 1. Januar dieses Jahres in ses Jahres beklagt Ihre Fraktionskollegin Ulla Schmidt,
Kraft getreten ist, erreichen können, dass auf der einen dass Sie ohne Not den Begehrlichkeiten Eichels nachge-
geben haben. Ich kann Ihre Kollegin nur unterstützen,
Seite der Bund entlastet und auf der anderen Seite die
wenn sie fordert – ich zitiere –: „Da muss man schon mal
Möglichkeit gegeben wurde, sich durch stärkere
Nein sagen!“. Frau Ministerin, setzen Sie sich auch ein-
Rückholaktivitäten von Kosten zu entlasten. mal durch! Wir unterstützen Sie gerne, wenn es um die
Wir sehen, dass es eine erfreuliche Entwicklung gibt; Anliegen von Familien, Senioren und Jugendlichen geht.
denn es sind zum Teil Steigerungen im Rückholfluss von (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner
4 bis 5 Prozent zu vermerken, und das in relativ kurzer [SPD]: Halten Sie hier eine Büttenrede?)
Zeit. Ich finde die Bemühungen ausgesprochen notwen-
dig, denn sie zeigen einerseits, dass mehr herausgeholt So sind viele Ihrer Ankündigungen und Versprechen
werden kann, sie zeigen andererseits aber auch, dass es ebenso wie zahlreiche Forderungen, die in der letzten Le-
viel zu lange versäumt worden ist, von denjenigen Unter- gislaturperiode von der Oppositionsbank aus lautstark er-
haltsleistungen einzufordern, von denen sie gezahlt wer- hoben wurden, dahingeschmolzen. Gesetzentwürfe wer-
den müssen, nämlich von den Unterhaltspflichtigen. den verschoben und verschoben; Versprechungen werden
Stück für Stück von allen Seiten zurechtgestutzt. Das Er-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ziehungsgeld hat diverse Entwürfe durchlaufen, die im-
DIE GRÜNEN) mer geringere Leistungen und Verbesserungen für die Fa-
(B) milien beinhaltet haben. Nach eineinhalb Jahren lag dann (D)
endlich der Regierungsentwurf vor, der nur noch gering-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, den-
fügige Mittelerhöhungen vorsah. Dafür, dass dies eine
ken Sie bitte an die Redezeit.
zentrale Maßnahme der Regierung sein sollte, nimmt sich
– Ja, ich denke an meine Redezeit. das sehr spärlich aus.
Dadurch, dass ich meine Redezeit überschritten habe, Besonders erstaunlich ist aber, dass der Haushalts-
kann ich den wichtigen Bereich der Seniorenpolitik nun ansatz 2001 um – man höre – 200 Millionen DM unter den
leider nicht mehr ansprechen; das Wesentliche haben die Ansatz von 2000 sinkt. Da kann dann auch jeder Laie se-
Ministerin und Frau Schewe-Gerigk aber schon gesagt. hen, dass Sie selbst nicht damit rechnen, dass Ihr neues
Sie haben mich mit Ihren Einlassungen zur Familienpoli- Gesetz gravierende Verbesserungen bringt. Natürlich sin-
tik dazu verleitet, hier etwas ausführlicher zu werden. Ich ken – das räume ich ein – mit rückläufigen Geburtenzah-
kann Ihnen jetzt nur anbieten: Bringen Sie Ihre Kritik in len die Ausgaben. Aber dann hätten Sie diese Mittel zum
die Haushaltsberatungen ein. Versuchen Sie mit uns das Beispiel für die Anhebung der Freibeträge beim Erzie-
zu machen, was zu machen ist; denn dass wir alle so viel hungsgeld verwenden können. Oder prognostizieren Sie
wie möglich für die Familien wollen, das ist, so denke ich, sinkende Ausgaben, weil Sie aufgrund der Budgetrege-
lung noch mit deutlichen Einsparungen für den Bundes-
selbstverständlich.
haushalt rechnen? Denn diese Budgetregelung verführt
Vielen Dank. junge Familien dazu, auf einen Teil ihres Erziehungsgeld-
anspruchs zu verzichten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Viel besser sieht es für die Familien auch beim Kin-
dergeld nicht aus. Der von der rot-grünen Regierung zäh-
neknirschend erhöhte Kinderfreibetrag ist nur die unab-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die wendbare Minimalantwort auf die Beschlüsse des
Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion. Bundesverfassungsgerichts und kommt nur circa 10 Pro-
zent der Bevölkerung zugute.
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Widerspruch bei der SPD)
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, die 14. Le-
gislaturperiode hat Halbzeit und die Bilanz für Ihr Haus Aber die große Mehrheit der Familien kann eben nicht die
fällt bislang kläglich aus. 3 000 DM an Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, son-
dern bekommt die 30 DM mehr Kindergeld im Monat –
(Widerspruch bei der SPD) und das nur für das erste und zweite Kind.
11150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Maria Eichhorn

(A) Das Bundesverfassungsgericht fordert ein familienpo- Gleiche Chancen und gerechte Entlohnung für Frauen (C)
litisches Gesamtkonzept. Bis jetzt ist das, was Sie vorge- im Beruf sind ein Anliegen, das fraktionsübergreifend
legt haben, nur Stückwerk. Mit den jetzt für 2002 an- große Unterstützung findet. Trotzdem ist das für Frauen
gekündigten 30 DM mehr an Kindergeld – rechtzeitig zur nur eine Seite des Lebens. Die andere ist die Familie.
nächsten Wahl –
(Zuruf von der SPD: Siehst du,
(Hildegard Wester [SPD]: Die ersten 30 DM da haben wir es ja!)
haben wir nach der Wahl erhöht!) Wenn man Ihre bisherigen Gesetze und Vorhaben be-
werden Sie die Ungerechtigkeiten gegenüber Familien trachtet, Frau Ministerin, dann stellt man fest, dass Sie in
nicht beseitigen – schon gar nicht, wenn Sie entgegen aller erster Linie immer an die Berufstätigkeit denken und dass
Vernunft an der familienfeindlichen Ökosteuer festhalten. die Familie nur zweite Priorität hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der (Zuruf von der SPD: Gleichgewicht!
Abg. Ina Lenke [F.D.P.]) Wann begreifen Sie das?)
Als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie im- Wir wollen, dass Sie beides gleich behandeln, Frau Mi-
mer von Gerechtigkeit für Familien gesprochen. Jetzt sind nisterin.
Sie an der Regierung; jetzt haben Sie die Möglichkeit, Vor einigen Wochen hat das Kabinett im Hinblick auf
Ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Da der Fi- die Diskussion um den Rechtsextremismus eine Initia-
nanzminister wesentlich mehr Geld in der Tasche hat als tive für Jugendliche beschlossen. Auf Nachfrage konnten
ursprünglich erhofft, könnten Sie tatsächlich Familien- wir in Erfahrung bringen, dass es sich dabei um arbeits-
politik machen. Machen Sie diese! Legen Sie ein Ge- politische Maßnahmen handelt. Dagegen ist nichts zu sa-
samtkonzept vor! Kleckern Sie nicht! gen. Aber mir fehlt das Engagement der Jugendministe-
Auch für die Seniorinnen und Senioren gehen die rin. Denn es gab bereits unter Frau Nolte Projekte gegen
Dinge nur langsam voran. Das Heimgesetz liegt nach Aggression und Gewalt. Im Haushalt des Jugendministe-
zwei Jahren Regierungszeit noch nicht vor, riums, den wir heute einbringen, ist keine zusätzliche
Mark für dieses Thema vorgesehen. Wir fordern jugend-
(Christel Hanewinckel [SPD]: Das liegt daran, politische Maßnahmen zur Gewaltprävention und zur
dass wir uns ewig mit anderen Sachen beschäf- Gewaltbekämpfung, zur Bekämpfung von Radikalismus
tigen mussten, die Sie uns alle hinterlassen ha- jedweder Art, nicht nur von rechts, sondern auch von
ben!) links.
obwohl es von Anfang an zugesagt war. Aber es gibt stän- (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) dig grundlegend geänderte Entwürfe. Das ist immerhin Frau Ministerin, großen Schaden haben Sie durch die (D)
mehr als das von langer Hand versprochene Ambulante- Sparmaßnahmen im Zivildienstbereich angerichtet. Ent-
Dienste-Gesetz. Denn dort gibt es noch gar nichts. Sie be- gegen allen vollmundigen Versprechungen und Ihren heu-
tonen zwar immer die Notwendigkeit, dass die Qualität in tigen Behauptungen sind auch im Pflegebereich deutliche
der Pflege sobald wie möglich gesichert werden muss, Verschlechterungen erfolgt. Die Betreuung von chronisch
aber von Ihnen ist dazu bisher noch nichts vorgelegt wor- Kranken und von Behinderten hat durch die Verkürzung
den. des Zivildienstes auf elf Monate deutliche Einschränkun-
gen erfahren. Übergänge zwischen den Zivildienstleisten-
Lange, lange warten wir auch schon auf Ihr vielfach den sind für die Verbände kaum lückenlos organisierbar,
angekündigtes Gleichstellungsgesetz. Aber auch die Vor- sodass es zu entsprechenden Sommerengpässen kam und
stellung am letzten Freitag enthielt wieder nur eine auch in Zukunft wieder kommen wird.
Ankündigung. So kann man seine Pressemitteilungen und
Reden natürlich auch füllen. Die Verbände beklagen einhellig große Planungspro-
bleme und Verschlechterungen insbesondere bei den so
(Hildegard Wester [SPD]: Sie wollen sowieso, genannten Diensten am Menschen.
dass die Frauen alle an den Herd gehen!)
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Aber Politik muss konkret sein und darf nicht nur aus NEN]: Zitieren Sie mal! – Susanne Kastner
Ankündigungen bestehen. [SPD]: Sie sollten mehr auf die Leute hören als
auf die Verbände!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Im Juli war aufgrund der Kürzungen nur noch etwa die
Denn noch sind die Eckpunkte des Gleichstellungs- Hälfte der Zivildienstplätze besetzt. Der Paritätische
gesetzes nur erahnbar. Mehr als die Grundidee konnten Wohlfahrtsverband – dieses Schreiben haben Sie sicher-
Sie auch dieses Mal wieder nicht bieten. Diese spärlichen lich auch bekommen – hat soeben hilferufend mitgeteilt,
Aussagen lassen darauf schließen, dass dann tatsächlich dass er im Juli nur 40 Prozent der Stellen besetzen konnte.
verwirklichte Aussagen nur minimal sein werden. Wir Damit lässt sich keine kontinuierliche Hilfe für die behin-
werden sehen, ob die immer noch bestehenden eklatanten derten oder chronisch kranken Menschen planen. So über-
Benachteiligungen für Frauen im Erwerbsleben im Er- legen einzelne Verbände jetzt bereits, ob sie den Einsatz
gebnis wirksam abgebaut werden. von Zivildienstleistenden in Zukunft nicht ganz streichen.
(Christel Hanewinckel [SPD]: Wo sind denn (Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ihre Vorschläge?) NEN]: Welche Verbände?)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11151
Maria Eichhorn

(A) Die geplante Verkürzung des Ersatzdienstes auf zehn liegenden Haushaltsentwurf des BMFSFJ den anstehen- (C)
Monate verschärft die Situation zusätzlich und entspricht den Herausforderungen.
weder der Wehrgerechtigkeit noch dem sinnvollen Ein-
Gerade die Bekämpfung des Rechtsextremismus und
satz von Zivildienstleistenden. Dass dann gerade im wich-
die damit verbundene Stärkung der Zivilgesellschaft kann
tigsten – im pflegerischen – Bereich Zivildienstleistende
natürlich nicht ausschließlich mit Haushaltstiteln gestaltet
kaum noch angemessen eingearbeitet werden können,
werden. Dazu bedarf es mehr. Die Bundesregierung hat
wurde offensichtlich auch in Ihrem Haus entdeckt. Nun
jedoch – Frau Eichhorn, vielleicht nehmen Sie das einmal
sollen deshalb nach Plänen des Ministeriums Freiwillige
zur Kenntnis – zusätzlich 75 Millionen DM aus Mitteln
die Lücke füllen, wie letzte Woche bekannt wurde; Frau
des Europäischen Strukturfonds bereitgestellt.
Lenke hat es angeführt. Das heißt, Zivildienstleistende
sollen ihren Dienst um zwei Monate verlängern. Glauben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie denn wirklich, dass ohne irgendwelche Anreize die und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/
weniger attraktiven Einsatzstellen auf diese Weise besetzt CSU]: Arbeitspolitische Mittel!)
werden können?
Es werden weitere Maßnahmen ergriffen, die Sie auch im
Wenn ich Ihr Vorgehen im Zivildienstbereich in den Haushalt finden. Die Bundesregierung ist nämlich nicht
letzten Monaten verfolge, werde ich den Verdacht nicht – wie vielleicht manches Mal die alte Regierung – auf
los, dass Sie den Zivildienst eigentlich abschaffen wollen. dem rechten Auge blind.
Die CDU/CSU ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dazu gehört untrennbar – schon im Hinblick auf die
Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sind Sie viel-
Wehrgerechtigkeit – der Zivildienst. Dass der Zivildienst
leicht auf dem linken Auge blind?)
gerade im Pflegebereich unverzichtbare, wertvolle Diens-
te leistet, hat die aktuelle Diskussion eindrucksvoll be- Bündnis 90/Die Grünen treten seit langem für ernst-
stätigt. hafte, konzeptionelle Anstrengungen in diesem Bereich
ein. Strohfeuer oder blinden Aktionismus können wir uns
Von der Oppositionsbank aus haben Sie, meine Damen
an dieser Stelle nicht mehr leisten. Dies betrifft auch die
und Herren von der Regierung, gerade im Bereich des
Jugendarbeit. Bund und Länder müssen ihr Engagement
Einzelplans 17 immer die tollsten Dinge gefordert. Die
verstärken. Wir brauchen einen Bewusstseinsbildungs-
heutige Regierungsrealität hält Ihren früheren Forderun-
prozess nicht nur bei jungen Menschen, der Zivilcourage,
gen nicht im Entferntesten stand. Im Haushalt 2001 fin-
aber auch das Wissen um die deutsche Vergangenheit in
den sich gewaltige Mittelsteigerungen für Geschäftsbe-
den Mittelpunkt stellt. Schule und Jugendarbeit kommen
darf und Kommunikation. Aber für Mehrausgaben
hierbei in Ost und West eine besondere Bedeutung zu. Wir
(B) zugunsten von Familie, Senioren, Frauen und Jugend ha- müssen in diesem Punkt die Vernetzung unterschiedlicher (D)
ben Sie kein Geld. Ich bin gespannt, wie Sie das bei den Akteure, die Vernetzung unterschiedlicher Menschen för-
Beratungen rechtfertigen werden. dern: kein Nebeneinander, sondern ein stärkeres Mit-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einander für Toleranz und gegen Rassismus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Denken Sie an die Re- und bei der SPD)
dezeit, bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rechtsextremismus
darf nicht noch stärker zur Jugendkultur werden. Ich teile
Maria Eichhorn (CDU/CSU): Ein letzter Satz: Frau die Aufforderung des Vorsitzenden des Zentralrats der Ju-
Ministerin, ich fordere Sie auf, nicht vor dem Finanz- den in Deutschland, Paul Spiegel, dass gerade in puncto
minister zurückzuweichen, sondern um die Anliegen Ih- Jugendarbeit stärkere Anstrengungen nötig sind. Dies ist
res Hauses zu kämpfen. eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gleichzeitig aber
auch eine dauernde Herausforderung an die Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ein Baustein zur Vernetzung unterschiedlicher Akteure
vor Ort ist das Programm „Entwicklung und Chancen“
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das
von Ministerin Bergmann. Diesen innovativen Weg neuer
Wort dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die
Projekte gilt es weiter zu gehen. Das machen wir.
Grünen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genauso vielfältig wie geht 2001 mit dem Sofortprogramm JUMP in eine neue
die junge Generation ist der hier vorliegende Haushalt- Runde. Das Programm ist weiterhin wichtig. Gerade in
sentwurf des Familienministeriums. Der Kampf gegen den neuen Bundesländern gilt es jedoch draufzusatteln.
Jugenderwerbslosigkeit, das Eröffnen von neuen Chan- Notprogramme werden allerdings in keinem Fall das im-
cen für junge Frauen und Männer, die Bekämpfung des mer noch vorhandene strukturelle Defizit an Ausbil-
Rechtsextremismus – er ist im Übrigen nicht ausschließ- dungsplätzen ausbügeln können. Dies gilt besonders für
lich ein Jugendproblem – und die Neuordnung des Zivil- junge Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie be-
dienstes: Die rotgrüne Koalition stellt sich mit dem vor- nachteiligte Jugendliche.
11152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Christian Simmert

(A) Hier ist nach wie vor die Wirtschaft gefragt. Nur dann, Hintergrund der deutschen Vergangenheit den Dialog der (C)
wenn junge Frauen und Männer einen Ausbildungs- und Generationen untereinander verstärken.
Arbeitsplatz im ersten Markt finden, können wir von ei-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
ner wirklichen beruflichen Perspektive für junge Men-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
schen sprechen.
Ob der Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Ausch-
Perspektiven eröffnen heißt aber auch, im nationalen,
witz, die freiwillige Arbeit in israelischen Pflegeheimen
europäischen und internationalen Kontext zu denken. Ge-
mit Schoah-Überlebenden oder ein trinationaler Jugend-
rade für junge Menschen ist es besonders wichtig, andere
austausch, dies alles ist mehr als Erinnerungskultur. Dies
kulturelle Zusammenhänge zu erfahren und zu verstehen.
alles ist ein aktiver Beitrag für einen nachhaltigen Be-
Dies gilt auch für soziale oder ökologische Dimensionen.
wusstseinsbildungsprozess, für Toleranz und für die Stär-
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich deshalb für einen
kung einer pluralen Zivilgesellschaft und damit Grund-
Ausbau der Freiwilligendienste ein. Einen kleinen
stein jeder lebendigen Demokratie.
Schritt haben wir bereits im vorliegenden Haushalt ge-
macht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Das anstehende UN-Jahr der Freiwilligen ist für uns
Anlass genug, die rechtlichen Rahmenbedingungen von Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Kollege
Freiwilligen zu verbessern. Dazu bedarf es neben einer Seifert – liebe Frau Lenke, bitte hören Sie zu – ich komme
verstärkten finanziellen Förderung auch eines Frei- jetzt zu dem im Einzelplan 17 größten Bereich, den des
willigendienstentsendegesetzes, das die rot-grüne Koali- Zivildienstes. Die rot-grüne Bundesregierung hat im Ge-
tion auf den Weg bringen wird. Ein wichtiger Baustein gensatz zur schwarz-gelben die Gleichbehandlung von
wurde bereits mit den Kooperationsbüros – das hat Frau Wehr- und Zivildienst nahezu hergestellt.
Ministerin gerade angesprochen – für den deutsch-israe-
(Ina Lenke [F.D.P.]: Ach so?)
lischen Jugendaustausch gelegt.
– Jetzt hören Sie gut zu, was wir alles getan haben. Viel-
leicht waren Sie bei den verschiedenen Gelegenheiten
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat-
nicht dabei. – Gleiche Besoldung und die einseitige Ver-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
kürzung des Zivildienstes auf elf Monate machen deut-
lich, dass Rot-Grün die Gleichbehandlung der Dienste
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wichtig ist, wichtiger zumindest als Ihnen früher, während
Gerne. Ihrer Regierungsbeteiligung.
(B) (Ina Lenke [F.D.P.]: Die eigentliche (D)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr. Gleichbehandlung gibt es nicht!)
– Frau Lenke, hören Sie mir zu.
Dr. Ilja Seifert (PDS): Lieber Herr Kollege Simmert,
Gleichzeitig konnten wir dabei auch noch sparen. Die
habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie jetzt – im Ge-
alte Bundesregierung hat weder das eine noch das andere
gensatz zur Situation von vor zwei oder drei Monaten –
auf die Beine gestellt, was wir in den ersten zwei Jahren
für den Ausbau von Freiwilligendiensten anstelle des Zi-
erreicht haben.
vildienstes oder ähnlicher Dienste sind? Wollen Sie da-
rauf verzichten, daraus feste Arbeitsplätze zu machen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wie darf ich Ihre jetzige Bemerkung verstehen? und bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: Ihre De-
finition von Gleichstellung lese ich noch nach!)
Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie als Person
und auch die Grünen insgesamt die Dienstkategorie bis- – Annähernd, annähernd.
her eher abgelehnt. Es würde mich schon interessieren
Natürlich ist es ein schwieriger Weg gewesen, die
und es wäre auch nicht unwichtig, ob Sie sagen: Wir wol-
Gleichbehandlung der Dienste und die Kernbereiche des
len richtige Arbeitsplätze mit gut bezahlten und gut aus-
Zivildienstes ausgewogen zu steuern; das bestreite ich
gebildeten Arbeitnehmern, die eine Perspektive haben,
nicht. Aber das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
oder Dienste, die irgendwelche Löcher stopfen sollen.
von der Opposition, uns noch vor wenigen Monaten und
auch heute wieder, Frau Eichhorn, zum Vorwurf gemacht
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben, ist in keiner Weise eingetreten, zumindest größ-
Kollege Seifert, wenn Sie mit der Frage etwas gewartet tenteils nicht. Was war da von Ihnen nicht alles zu hören
hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich zu der Passage und zu lesen über Engpässe in den Pflegediensten,
Zivildienst später komme. Hier geht es mir jetzt um inter-
(Ina Lenke [F.D.P.]: Aber sicher gibt es die!)
nationalen Freiwilligendienst. Die Antwort auf Ihre Frage
werde ich Ihnen gleich geben. Ist das in Ordnung? – Gut. über gravierende Ausfälle im sozialen Bereich; nie und
nimmer würde man die Verkürzung der Zivildienstzeiten
Ich will mit dem Bereich Freiwilligendienst und
verkraften.
Jugendaustausch fortfahren, weil beide Punkte, wie ich
finde, ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Rechts- Kollege Seifert, ein Punkt ist richtig: Es scheint einige
extremismus sind. Nicht nur mit Israel, sondern auch mit Problemfälle zu geben. Frau Ministerin hat gesagt: Man
unserem Nachbarn Polen müssen wir gerade vor dem muss sich das anschauen. Das werde auch ich tun. Aber
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11153
Christian Simmert

(A) hier davon zu reden, Frau Eichhorn, dass die Verbände Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun müssen Sie bitte (C)
Sturm laufen würden, das ist falsch. DPWV vor einigen zum Schluss kommen.
Wochen: Die Delle werden wir verkraften, sie ist nicht so
groß, wie befürchtet. AWO: keine gravierenden Ausfälle Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
in Bereichen, wo wir dies gedacht haben. Also, kein Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss und
Chaos. Die Verbände konnten sich in einem angemesse- danke Ihnen.
nen Zeitraum auf die Veränderungen einstellen und den
Einsatz von Zivildienstleistenden selbst steuern. Das von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ihnen beklagte Horrorszenario blieb nun wirklich aus. und bei der SPD)
(Ina Lenke [F.D.P.]: Also, kein Konzept,
Herr Simmert! – Gegenruf der Abg. Christel Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat Kollege
Hanewinckel [SPD]: Natürlich haben wir eins! Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Sie müssen es nur lesen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stehen wir Klaus Haupt (F.D.P.): Frau Präsidentin! Verehrte Kol-
gerade beim Zivildienst durch die anstehende Wehrstruk- leginnen und Kollegen! Diesen Sommer sind wir nur allzu
turreform vor neuen Herausforderungen. Kollege Seifert, deutlich daran erinnert worden, welch bedeutsame Auf-
jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen Punkt. gabe die Jugendpolitik darstellt.
Ich glaube, für uns alle ist es erschreckend, wie die
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Obwohl Sie eigent- Hemmschwelle für Gewalt bei verblendeten Jugendlichen
lich keine Redezeit mehr haben. zwischen Bier und Hakenkreuz so weit gesunken ist, dass
der Zynismus der Worte umschlägt in Drangsalierung, ja
sogar Mord.
Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin gleich am Ende. Ich wollte auf die Frage innerhalb Die beschämenden rechtsextremistischen Straftaten
meiner Rede noch eingehen. der vergangenen Monate zeigen den Ungeist der Gedan-
kenlosigkeit, der Fremdenangst, der Menschenverach-
(Zurufe) tung als Quelle der Intoleranz.
– Dass Sie mir nicht zuhören wollen, ist mir klar, aber im (Beifall bei der F.D.P.)
Ausschuss werden Sie sich noch mit uns beschäftigen
müssen. Sie zeigen aber auch deutlich die Defizite unserer Gesell-
schaft bei der Erziehung zur Demokratie.
(B) Also, die Position von Bündnis 90/Die Grünen ist be- (D)
kannt und bleibt – konzeptionell untermauert – weiterhin (Beifall bei der F.D.P.)
die, dass wir eine Konversion des Zivildienstes wollen. Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft auf
Im Übrigen finde ich es gut, dass Sie uns nachfolgen wol- der Straße und vor allem in den Köpfen unserer Jugend ist
len und die Wehrpflicht abschaffen möchten. eine Kriegserklärung an unsere Demokratie, eine gesamt-
(Ina Lenke [F.D.P.]: Aussetzen!) gesellschaftliche Herausforderung an alle Demokraten,
an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und nicht zuletzt
– Aussetzen, ach, so weit gehen Sie nicht. Na ja, wir wer- auch an die Politik.
den sehen. Der Zivildienst wird jedoch nicht von heute auf
morgen abzuschaffen sein. Auch das haben wir immer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten
deutlich gesagt. Die vom BMFSFJ eingesetzte Kommis- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sion wird in den nächsten Tagen ihre Ergebnisse dazu vor- Auch und gerade das Jugendministerium ist gefordert,
stellen, wie der Umbau gestaltet werden kann. Der grüne gegen diesen braunen Spuk vorzugehen und praktisch
Faden in diesem anstehenden Diskussionsprozess für geistige Vorsorge zum Schutz unserer Jugend zu leisten.
meine Fraktion ist dabei klar: Unser Grundgedanke bleibt Das muss sich aber auch im Haushalt widerspiegeln. Wie
weiterhin der der Gleichbehandlung. schon einige meiner Vorrednerinnen kritisierten, liegt lei-
der ein Haushaltsentwurf von der Bundesministerin vor,
Wir wollen auch hier konzeptionell den attraktiven in dem die Maßnahmen der Jugendpolitik nicht unerheb-
freiwilligen Dienst ausbauen. Wir wollen über den Be- lich, nämlich um 6 Millionen DM, gekürzt werden.
reich der Arbeitsplatzschaffung und über Beschäfti-
gungspotenziale reden und diskutieren. Das werden wir Wir Liberalen glauben, dass alle demokratischen
machen. Wir bleiben bei dem Beschluss, den wir im Mai Kräfte gemeinsam offensiv für eine freiheitlich-demokra-
gefällt haben. Ich glaube allerdings, dass der Dialog und tische Gesellschaft werben sollten. Die F.D.P. schlägt da-
das, was wir mit den Verbänden zusammen auf den Weg her eine Initiative „Erziehung zur Demokratie“ vor.
gebracht haben – das steht für diese Kommission –, der (Beifall bei der F.D.P.)
richtige Weg ist. Den werden wir zusammen gehen.
Wir fordern ein Sonderprogramm zur Förderung der
Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine weni- kommunalen Jugendarbeit, insbesondere für politische
ger hektische und eher konzeptionelle politische Diskus- Bildung, soziales Engagement und kulturelle Arbeit
sion, Frau Lenke, nach Vorlage der Kommissionsergeb- nichtstaatlicher Organisationen mit einer Mindestausstat-
nisse, und nicht vorher. tung von 300 Millionen DM, von denen 250 Milli-
11154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Klaus Haupt

(A) onen DM vom Bund kommen sollen. Wir fordern ein Christel Hanewinckel (SPD): Frau Präsidentin! (C)
Bund-Länder-Programm zur Verbesserung der politi- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Politik für Jugend
schen Bildungsarbeit. Allein die Versorgung mit Posten verdient Ihren Namen, wenn sie der jungen Generation
für Genossen bei der Bundeszentrale für politische Bil- zum Beispiel durch Schuldenabbau Zukunft eröffnet,
dung ist noch kein Konzept. wenn sie die jungen Leute mit ihren Möglichkeiten und
Fähigkeiten zum Beispiel durch Ausbildung in die Ge-
(Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der
sellschaft aufnimmt, sodass sie dann als junge Erwach-
SPD)
sene, die eine Familie gründen, Anerkennung und Sicher-
Wir fordern eine Verbesserung des internationalen Ju- heit in unserem Land finden.
gendaustauschs besonders dahin gehend, dass von deut-
Jugendpolitik ist nicht an ein Ressort gebunden und das
scher Seite Jugendliche aus allen, wirklich allen Landes-
ist gut so. Übergreifende Ansätze sind sowohl inhaltlich
teilen teilnehmen.
als auch finanziell nötig. Deshalb gibt es jugendpolitische
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine offensive Erzie- Ansätze, Programme und Gelder im Bundesministerium
hung zur Demokratie darf nicht an kleinlichen Kostenar- für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, im Bildungs-
gumenten scheitern. Sie muss uns allen etwas wert sein. ministerium, im Arbeitsministerium und im Innenminis-
Wir Liberalen werden entsprechende Anträge in die Haus- terium.
haltsdebatte einbringen und hoffen hier auf parteiüber-
Wichtig für junge Frauen und Männer sind vor allen
greifenden Konsens, auf eine Koalition der Vernunft zur
Dingen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, damit sie ihren
Stärkung unserer Demokratie.
Platz in der Gesellschaft finden können und nicht am
(Beifall bei der F.D.P.) Rande leben müssen. Die Ausbildungssituation der letz-
ten Jahre war ausgesprochen schlecht. Unser JUMP-Pro-
Beim Jugendaustausch erfüllt uns mit Besorgnis, dass gramm hat das auffangen können. 2 Milliarden DM an
dem Austausch mit Polen noch bei weitem nicht die glei- sinnvollen Investitionen in die Zukunft unseres Landes
che Beachtung wie dem mit Frankreich zuteil wird. Natür- und in die Zukunft der jungen Frauen und Männer haben
lich hängt die Situation des Deutsch-Polnischen Jugend- jetzt bereits über 200 000 Jugendlichen eine neue Chance
werkes unmittelbar mit der Haushaltslage in Polen zu- gegeben. Dieses Programm muss und wird weitergehen.
sammen.
(Beifall bei der SPD)
(Christel Hanewinckel [SPD]: So ist es!)
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Veränderung und
Doch die diesbezügliche Antwort der Bundesregierung die Verbesserung der Strukturen für Kinder und Jugendli-
auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion lässt leider allzu che vor Ort. Wir haben dieses Programm „Entwicklung
(B) wenige kreative Lösungsansätze erkennen. Der deutsch- und Chancen für junge Menschen in sozialen Brennpunk- (D)
polnische Jugendaustausch braucht mehr Unterstützung ten“ genannt. Im Kinder- und Jugendplan des Bundes sind
als bisher. Mit einem Weiterwursteln nach bisherigen dafür – wie im letzten Jahr – erneut 15 Millionen DM be-
Prinzipien ist es nicht getan. Hier muss ein Paradigmen- reitgestellt worden. Damit kann vor Ort gezielt gearbeitet
wechsel her. werden.
(Beifall bei der F.D.P.) Jetzt muss ich leider von meiner so schön vorbereite-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Liberalen freuen ten Rede abweichen und mich auf die Vorwürfe der CDU
uns darüber, dass immerhin die Mittel im Rahmen des einlassen. Liebe Kollegin Eichhorn, wenn ich höre, dass
Kinder- und Jugendplanes um 2 Millionen DM für den Sie Programme gegen Rechtsextremismus bzw. gegen
deutsch-israelischen Jugendaustausch aufgestockt werden. Rechtsextreme fordern, erinnere ich Sie an Ihr damaliges
tolles Programm mit dem Namen AGAG. Nach diesem
(Beifall des Abg. Dieter Dzewas [SPD]) Programm wurde Geld immer dorthin geschickt, wo es
Doch im Hinblick auf die Jugendkriminalität in den gerade gekracht und geknallt hat. So sagten sich junge
neuen Ländern und die rechtsextremen Umtriebe scheint Leute: Offensichtlich muss man sich in diesem Land eine
Glatze scheren und irgendetwas kaputtschlagen, um end-
eine Erhöhung der Aktionsprogramme als vordringlich.
lich Geld an die Basis zu bekommen. So kann es doch
Leider erfolgt hier aber nur eine Verstetigung des Vorjah-
nicht gehen.
resansatzes in Höhe von 6,1 Millionen DM. Eine Schwer-
punktbildung mit entsprechender Mittelerhöhung wäre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
aus Sicht der F.D.P. zu begrüßen. DIE GRÜNEN)
Liebe Kollegen, wenn es um die Chancen und Per- Sie haben sich zwar das AGAG-Programm einfallen las-
spektiven unserer Kinder und Jugendlichen geht, ist die sen, haben aber versäumt, Geld in die Strukturen der Ju-
Politik mehr denn je gefordert. Lassen Sie uns gemeinsam gendarbeit in den östlichen Bundesländern zu investieren.
dieser Verantwortung gerecht werden! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Danke. DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]:
Es gab auch Jugendprogramme für die östlichen
(Beifall bei der F.D.P.) Bundesländer!)
– Ja, es gab Programme, aber die liefen nur von hier bis
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin da und dann war Schluss. Wer auffällig wurde, bekam et-
Christel Hanewinckel, SPD-Fraktion, das Wort. was – genau so darf es nicht weitergehen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11155
Christel Hanewinckel

(A) Es muss so sein, dass die Programme intensiviert wer- dem es um jugendliche Aussiedler und um jugendliche (C)
den und stabil bleiben. Die Jugendlichen vor Ort und die- Ausländer geht, die entsprechende Sprachkurse brau-
jenigen, die in der Jugendarbeit tätig sind, müssen sich da- chen. Hierfür sind 6 Millionen DM weniger eingestellt.
rauf verlassen können. Acht Jahre dieser schlimmen Zeit,
in der der Rechtsextremismus bzw. die Gewalt weiter ge- (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ist das nicht
wachsen ist, haben Sie zu verantworten – wenn wir schon eine Maßnahme für Integration?)
von Verantwortung sprechen. – Ja, das ist eine Maßnahme für Integration. Es ist darauf
hingewiesen worden, dass die Zahl der jugendlichen Aus-
(Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer
[F.D.P.]: Waren Sie nicht einmal Pfarrerin?) siedler sehr stark zurückgegangen ist. Wir werden im
Rahmen der Haushaltsberatung prüfen, ob der Ansatz so
Wenn wir uns unseren Haushalt ansehen, stellen wir angemessen ist oder ob bei ihm nicht noch etwas drauf-
fest, dass 16 Millionen DM für internationale Jugend- gesattelt werden muss.
arbeit ausgegeben werden. Internationale Jugendarbeit
hat nicht nur völkerverbindende, sondern auch Frieden Im Bereich der Frauenpolitik kann man sehr deutlich
schaffende Wirkung. Die Erfahrungen von jungen Leuten zeigen, dass eine innovative und den Wünschen der
über Grenzen hinweg spielen eine große Rolle für die Er- Frauen entsprechende Politik auch mit begrenzten Mitteln
haltung von Demokratie sowie Weltoffenheit und sind möglich ist.
wichtig für die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Wo denn?)
und Rassismus.
40 Millionen DM, die für Projekte, Initiativen und Maß-
Aus diesem Grund haben wir zwar kein neues Werk, nahmen im Bereich der Frauenpolitik bereitgestellt wer-
aber einen neuen Jugendaustausch mit Israel – neben die den, sind zwar ein wichtiger Aspekt, aber genauso wich-
bestehenden Werke mit Frankreich, Polen und Tsche- tig ist die Frage: Wie gehe ich mit dem Geld um? Nicht
chien, die intensiviert und stabilisiert worden sind – ge- nur Gelder, sondern auch solche Ressourcen wie Kreati-
stellt. In Zukunft werden wir uns Gedanken darüber ma- vität, Mut und eben auch „gender mainstreaming“ sind
chen müssen, wie Jugendaustausch und Jugendbegeg- wichtig, um neue Wege zu beschreiten.
nung zwischen Deutschland und den osteuropäischen so-
wie südosteuropäischen Ländern aussehen können. Dafür Die Ausgaben sind im Haushalt 2001 stabil geblieben.
werden wir Geld bereitstellen müssen. Wenn Sie sie mit den Zahlen des Haushalts von 1998 ver-
gleichen, dann werden Sie feststellen, dass es bestimmte
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Titel in Ihrem Haushalt überhaupt nicht gegeben hat. Uns
DIE GRÜNEN) ist wichtig, dass wir eine Politik für die Frauen machen
Das Jahr 2001 wird das Jahr des Ehrenamtes bzw. das und dass das gemacht wird, was sie für sich als wichtig
(B) Jahr der Freiwilligen sein. Bürgerinnen und Bürger enga- empfinden. (D)
gieren sich für eine gerechte und lebenswerte Gesell- Das Allensbach-Institut–ich erwähne es nur, damit Sie
schaft. Freiwilligenengagement und die Unterstützung nicht denken, dass das ein uns nahe stehendes Institut ent-
durch den Staat gehören zusammen. Deshalb haben wir deckt hat – hat mittels einer Umfrage herausgefunden,
den entsprechenden Haushaltstitel seit 1999 von damals dass das Thema Gleichstellung in der Bevölkerung einen
952 000 DM auf 4 Millionen DM für das Jahr 2001 auf- sehr hohen Stellenwert hat. Zwei Drittel der befragten
gestockt. In diesem Titel wird deutlich, dass Bürgernähe, Männer und Frauen sagen ganz klar: Hier besteht auf al-
Demokratie und Verantwortung eben auch entsprechende len Ebenen Handlungsbedarf, also nicht nur beim Staat,
Flankierungen brauchen und dass die Rahmenbedingun- sondern auch in der Privatwirtschaft. Für die Frauen ist
gen für das ehrenamtliche Engagement deutlich verbes- die Gleichstellung das Wichtigste. Sie wollen für die glei-
sert werden müssen. Zum Bereich der Freiwilligendiens- che Arbeit den gleichen Lohn, eine gleich gute Altersver-
te hat der Kollege Simmert bereits einiges gesagt. Natür- sorgung und die gleichen Aufstiegschancen im Beruf wie
lich werden wir sie nicht nur weiterhin unterstützen, son- die Männer bekommen.
dern auch prüfen, wo sie auszubauen sind.
An zweiter Stelle steht für die Frauen die Bekämpfung
Jugendliche selbst – das finde ich sehr wichtig – emp- von Gewalt gegen Frauen. Die Studie zeigt also, dass das
finden eine starke Förderung ihrer Selbstständigkeit, so- Ministerium und die Koalition bundespolitisch die richti-
zialen Kompetenz und Toleranz durch ihre Arbeit im frei- gen Schwerpunkte in der Frauenpolitik gesetzt haben. Ich
willigen sozialen oder ökologischen Jahr. Andere, zum nenne das Programm „Frau und Beruf“ und den Aktions-
Beispiel bei den Jugendfeuerwehren, stellen fest, dass der plan der Bundesregierung „Bekämpfung von Gewalt ge-
Einsatz für andere nicht nur Mühe, sondern auch Spaß gen Frauen“.
macht und sie dort ein Erlebnis von Gemeinschaft haben.
Ich denke, auch das ist sehr wichtig für heranwachsende Frauenförderung bedeutet nicht, Defizite bei Frauen
junge Leute hinsichtlich ihres späteren Engagements als wettzumachen, die sie gar nicht haben; Frauenförderung
Erwachsene in der Zivilgesellschaft. bedeutet vielmehr, Frauen endlich die gleichen Chancen
wie Männern zu geben. Wir werden den Begriff „Gleich-
Fazit: Wir haben die Kinder- und Jugendpolitik nicht
stellung“ langsam, aber sicher ins Bewusstsein aller brin-
nur verstetigt – die Titelansätze sind geblieben –, sondern
gen. Davon können Sie ausgehen.
wir haben finanziell noch zugelegt und dieses Niveau
werden wir auch in der Zukunft halten. Sie, Herr Kollege Es gilt aber auch, neue Wege zu beschreiten. Dazu
Haupt, haben nicht die Frage der Jugendarbeit angespro- gehört – an erster Stelle – unbedingt das Gleichstellungs-
chen, Sie haben sich vielmehr auf den Titel bezogen, in gesetz für die Privatwirtschaft. Liebe Frau Kollegin
11156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Christel Hanewinckel

(A) Bläss, das neue Gleichstellungsgesetz wird für die Unter- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Als letzter Redner in (C)
nehmen verpflichtend sein. Aber die Tarifpartner haben dieser Debatte hat das Wort der Kollege Manfred Kolbe,
die Möglichkeit, Regelungen miteinander zu gestalten. CDU/CSU-Fraktion.
Tun sie das nicht in dem vorgegebenen Rahmen, können
sie sicher sein, dass der gesetzliche Zwang auf dem Fuß
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Prä-
folgt. Es wäre also günstig, sich etwas genauer mit den
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Großes hatte
Vorgaben bzw. den Eckpunkten zu beschäftigen.
sich die rot-grüne Regierungskoalition in der Koalitions-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vereinbarung vom 20. Oktober 1998 gerade im Politikbe-
DIE GRÜNEN) reich Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgenom-
men. Umso kläglicher fällt heute die Zwischenbilanz aus.
„Gender mainstreaming“ ist nach dem Willen der rot-
grünen Bundesregierung als Querschnittsaufgabe als (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Simmert
durchgängiges Leitprinzip in den Ministerien verankert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Sie ein
worden. Das ist gut und richtig so. Es wurde allerhöchste echter Experte!)
Zeit, dass das geschehen ist.
Meine Vorrednerinnen haben schon aus der „Berliner Zei-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tung“ und aus der „Wirtschaftswoche“ zitiert. Normaler-
DIE GRÜNEN) weise hat man es dann als dritter Redner schwer, noch ein
Zitat zu finden.
Als Querschnittsaufgabe vieler Ministerien und Fach-
bereiche sehe ich auch die Jugendpolitik. In den Haus- (Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
halten für Bildung und Forschung sowie für Arbeit und NEN]: Sie haben aber so tief gebuddelt!)
Sozialordnung sind entsprechende Summen veranschlagt
Ich kann aus dem „Stern“ von vor zwei Wochen zitieren.
worden. Für Frauen und Jugendliche ist zwar wichtig, wie
groß der jeweils für sie vorgesehene Titel ist. Aber ihre (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Aus dem „Stern“
Wünsche und Hoffnungen finden die größte Wert- wurde auch schon zitiert!)
schätzung in einer ressortübergreifenden Politik, die da-
Der sicherlich nicht CDU-nahe „Stern“ hat Halbzeitzeug-
mit automatisch zur Sachpolitik wird.
nisse verteilt. Ich darf einmal aus dem „Halbzeitzeugnis“
Ich muss zum Schluss noch einen Punkt ansprechen. für die Familienministerin zitieren:
Frau Böhmer, Sie haben das eingebrachte Gesetz für ein-
Die Familienministerin traut sich nichts zu; kann sich
getragene Partnerschaften gleichgeschlechtlicher Paare
nicht gegen den Kanzler durchzusetzen ...
angesprochen. Ich bin immer wieder überrascht, wieso ei-
(B) gentlich bei denen, die in einer Ehe leben, oder auch bei (Dr. Christel Hanewinckel [SPD]: Das soll die (D)
denen, die zwar nicht in einer Ehe leben, aber meinen, Familienministerin gesagt haben? Das glauben
man könne der Ehe etwas wegnehmen, plötzlich Ängste Sie doch selber nicht!)
entstehen, wenn wir gleichgeschlechtlichen Paaren, die
verantwortlich miteinander leben wollen, die Chance Magere Reform des Erziehungsurlaubs, gemessen an
eröffnen, das auch öffentlich zu tun. Ihnen wird doch an dem, was die SPD wollte. Erziehungsgeld wurde
keiner Stelle etwas weggenommen, nicht erhöht. Bei den Frauenverbänden ist sie unten
durch. Als Ministerin für Senioren, Jugend und Fa-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ milie ein Totalausfall. Gesamturteil: „Mangelhaft“.
DIE GRÜNEN)
Ich bedauere das. Das ist übrigens ein Urteil, das ansons-
im Gegenteil: Wir sorgen lediglich dafür – eigentlich ten nur noch von der Bundesgesundheitsministerin
müsste noch viel mehr passieren –, dass an dieser Stelle Andrea Fischer erreicht wird,
endlich die Diskriminierung von Erwachsenen, die sich
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
verantwortlich füreinander fühlen, beendet wird.
NEN]: Jetzt geht’s los!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die ich in meiner weiteren Funktion als Berichterstatter
DIE GRÜNEN)
für Gesundheit hier ganz herzlich begrüße: Frau Fischer,
Da wird es wirklich allerhöchste Zeit, dass etwas passiert. hallo!
Aus meiner Sicht ist das ein Punkt, der kommen muss,
Persönlich tut mir das Leid, Frau Bergmann, weil ich
weil er nämlich verfassungskonform ist
Sie nicht unsympathisch finde.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: So, wie Sie
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das gemacht haben, ist das nicht verfas-
DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer
sungskonform!)
[F.D.P.]: Ein richtiger Chauvi!)
bzw. weil Art. 3 des Grundgesetzes diese Regelung gera-
Politisch ist dem aber leider nichts hinzuzufügen. Die Fa-
dezu einfordert.
milienpolitik der rot-grünen Regierungskoalition ist man-
Vielen Dank. gelhaft. Ihre Rede, Frau Bergmann, war genauso lustlos
wie die Familienpolitik einfallslos war.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11157
Manfred Kolbe

(A) Der Beifall, der aus Ihren Reihen kam, war genauso dürf- – Diese Zahlen können Sie auch durch Ihr Geschrei nicht (C)
tig wie die in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare Fa- widerlegen, Herr Küster.
milienpolitik.
Besonders das Erziehungsgeld wird von Ihnen ge-
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie doch mal rupft. Dort liegt der stärkste Rückgang in diesem Haus-
zur Sache! Kommen Sie zum Thema!) halt: minus 200 Millionen DM. Es sinkt von 7,1 Milliar-
Da wir in einer Haushaltsdebatte sind, komme ich zum den DM auf 6,9 Milliarden DM – trotz der Novellierung
Haushalt. des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Frau Ministerin, die
angeblich zu den Kernstücken Ihrer sozialdemokratischen
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind im wahrsten Familienpolitik gehört.
Sinne des Wortes der letzte Redner!)
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
Von diesem Haushalt war bisher auch kaum die Rede. DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, woran das
(Christian Simmert [F.D.P.]: Sie stehlen uns die liegt?)
Zeit!) Frau Bergmann, es ist ein familienpolitisches Trauerspiel:
Warum war von diesem Bundeshaushalt bisher kaum die Sie propagieren lautstark angebliche Verbesserungen
Rede? Weil auch dort die Ergebnisse mager sind. beim Erziehungsgeld und gleichzeitig lesen wir, dass im
Haushalt 200 Millionen DM weniger für die Familien
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vorgesehen sind. Das sind die Tatsachen.
NEN]: Sagen Sie doch mal, wo! – Dr. Uwe
Küster [SPD]: Sie fallen doch vor Magersucht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
fast über das Rednerpult!)
Wer den Gesetzentwurf genau gelesen hat, konnte
Ich ziehe eine Bilanz Ihrer zweijährigen haushaltspo- bereits dort unter dem Punkt Kosten finden – Frau
litischen Tätigkeit, Frau Bergmann: Im Bundeshaushalt Bergmann, Sie mussten es eigentlich wissen –:
1999 wurden die Ausgaben für die Förderprogramme von
771 Millionen DM auf 751 Millionen DM reduziert, Die Leistungsverbesserungen führen zu Mehrausga-
während gleichzeitig der Gesamthaushalt um 25 Milliar- ben, die größtenteils kompensiert werden, unter an-
den DM anstieg. Unter Lafontaine wurde einzig die Fa- derem durch Einsparungen auf Grund der erhöhten
milienpolitik reduziert. Im Bundeshaushalt 2000 wurde Minderungsquote für das Erziehungsgeld bei Ein-
Ihr Haushalt gerupft: minus 7,4 Prozent, während der Ge- kommen oberhalb der Einkommensgrenze sowie
samthaushalt nur um 1,4 Prozent zurückging. Im Haushalt durch die Entwicklung der Einkommen im Verhält-
(B) 2001, zu dem der Regierungsentwurf vorliegt, geht Ihr (D)
nis zur nicht dynamisierten Einkommensgrenze.
Haushalt wieder um 245 Millionen DM zurück – mi-
nus 2,23 Prozent –, während der Gesamthaushalt im Das stand schon damals im Gesetzentwurf, der angeblich
Übrigen stabil bleibt. wesentliche Verbesserungen für Familien bringt, unter
dem Punkt Kosten.
In allen drei Jahren, die Sie zu verantworten haben,
Frau Bergmann, ist Ihr Haushalt also unterproportional (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Und nach der parla-
bedacht worden. Welches politische Fazit bleibt uns da mentarischen Beratung? – Hildegard Wester
nur zu ziehen? – Die Familienpolitik hat unter dieser rot- [SPD]: Das ist doch geändert worden! Sie haben
grünen Regierungskoalition den Stellenwert verloren, den immer alles einkassiert!)
sie bei uns hatte.
Dort stand, dass durch die Erhöhung der Minderungs-
(Beifall bei der CDU/CSU) quote und durch die Nichtdynamisierung der Einkom-
mensgrenzen, wie sie die Union gefordert hatte, keine
Seit Ihrem Amtsantritt, Frau Bergmann, ist Ihr Etat um
1 Milliarde DM zurückgegangen, während gleichzeitig Mehrkosten, also keine Mehrleistungen für die Familie,
der Gesamthaushalt um 22 Milliarden DM angestiegen entstehen. Sie haben, gelinde gesagt, die Öffentlichkeit et-
ist. Trotz des angeblichen Sparkommissars Eichel hat der was hinters Licht geführt. Sie wussten, dass es zu Leis-
Bundeshaushalt 2001, den Sie jetzt vorlegen, ein Volumen tungseinschränkungen und nicht zu Mehrleistungen für
von 22 Milliarden DM mehr als der letzte Waigel-Haus- die Familien kommen wird. Trotzdem haben Sie Ihr Re-
halt. So stark spart Herr Eichel also gar nicht. Man kann formwerk gepriesen.
das der deutschen Öffentlichkeit gar nicht oft genug sa-
gen. Aber bei der Familienpolitik wird gespart. Deren Etat (Hildegard Wester [SPD]: Natürlich!)
geht in der Tat zurück. – Frau Wester, lesen Sie doch den Bundeshaushalt: minus
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie stehen immer noch 200 Millionen DM für die Familien beim Erziehungsgeld.
im Schatten des Schattenhaushalts von Waigel!) (Hildegard Wester [SPD]: Ich habe ihn gelesen!
– Herr Küster, das sind die Zahlen. Aber für die einzelne Familie kommt trotzdem
mehr bei rum!)
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Halten Sie sich an das,
was Waigel vorgelegt hat! Da kriegen Sie einen Das ist doch eine Tatsache. Wir würden uns freuen, wenn
Schreck!) es anders wäre; aber es ist leider so.
11158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Manfred Kolbe

(A) Auch in anderen Bereichen – das meiste ist von mei- 23. Mai 1999 von dem Thema „Frauen in Führungsposi- (C)
nen Vorrednern schon gesagt worden – tionen“ nichts mehr.
(Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Gutes Thema! Das ist
NEN]: Ja, dann kommen Sie zum Schluss!) eine gute Idee! Machen Sie weiter! Da fällt mir
zu Ihrer Fraktion eine Menge ein! Das ist eine
haben Sie wenig vollbracht bzw. Sie, Frau Bergmann, ha-
Steilvorlage!)
ben sich gar nicht geäußert. Das muss man Ihnen als Fa-
milienministerin vielleicht am meisten vorwerfen. Man Frau Schewe-Gerigk, Sie haben den niedrigen Anteil von
kann Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie sich nicht immer Frauen in Führungspositionen beklagt. Da gebe ich Ih-
durchgesetzt haben – das ist nicht immer einfach; das wis- nen teilweise Recht. Nur, was tun Sie denn in Ihrem urei-
sen wir –, aber man kann Ihnen vorhalten, dass Sie sich genen Bereich, über den Sie bestimmen?
nicht geäußert haben. Sie haben zum Beispiel zur Steuer-
politik nichts gesagt. Ich jedenfalls habe nichts gehört. (Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Was haben Sie 16 Jahre getan? Reden Sie
Frau Wester hat von Steuererleichterungen für die Fa- darüber! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Kolbe,
milien im Jahre 2005 fabuliert. Sie sind auf Glatteis!)
(Dr. Edith Niehuis [SPD]: Das ist die letzte Nehmen wir die drei höchsten Staatsämter, die Sie
Stufe!) während der Regierungszeit Ihrer rot-grünen Koalition
Frau Wester, machen Sie das einmal auf einer Versamm- wieder besetzt haben.
lung. Die Menschen lachen Sie aus, weil sie merken, was (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei
sie heute weniger in der Tasche haben. der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU) Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben wir keine
Wer heute tankt, der zahlt für Ihre Entlastung, die er Frau in einem der höchsten drei Staatsämter. Das ist Ihre
vielleicht im Jahre 2005 einmal zu spüren bekommt, frauenpolitische Leistung.
schon jetzt. Das ist es, was die Familien trifft. Wenn dem- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
nächst Heizöl bestellt wird, dann werde ich den Bürgerin-
nen und Bürgern in meinem Wahlkreis erzählen: Die Frau
Wester verspricht Ihnen aber Steuererleichterungen im Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken
Jahre 2005. Die Leute werden Sie auslachen und werden Sie bitte an die Redezeit.
auch ihren Unmut äußern. So können Sie das doch nicht
(B) machen! Manfred Kolbe (CDU/CSU): Wir dagegen kehren ge- (D)
(Beifall bei der CDU/CSU – Christel legentlich auch vor der eigenen Türe und haben eine Par-
Hanewinckel [SPD]: Gehen Sie mit Frau Wester teivorsitzende. Wir gehen also mit gutem Beispiel voran.
Kaffee trinken; dann erklärt sie Ihnen das! – Folgen Sie uns!
Hildegard Wester [SPD]: Tun Sie mir das nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der
an!) SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frau Bergmann, Sie haben dazu nichts gesagt. Ich meine NEN)
schon, dass Sie als Bundesfamilienministerin gefordert Lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen: Wir
sind, zu dieser Steuerpolitik, die die Familien besonders brauchen in Deutschland wieder eine Familienpolitik; wir
belastet, Stellung zu beziehen. brauchen wieder eine Politik für die Jugend; wir brauchen
Frau Bergmann, Sie haben sich auch nicht zur Rente wieder eine Politik für die Senioren; wir brauchen wieder
geäußert. Jedenfalls habe ich es nicht gehört. Geäußert hat eine Politik für Frauen. Die CDU/CSU wird dafür sorgen.
sich aber die Ministerpräsidentin von Schleswig-Hol- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der
stein, die bekanntlich nicht in meiner Partei ist. Frau SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Simonis hat am Wochenende erklärt, die Absenkung des NEN)
Standardrentenniveaus auf circa 61 Prozent wirke sich
insbesondere für Frauen verheerend aus, da sie, bedingt
durch die Kindererziehungszeiten, nicht die hierfür gefor- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Weitere Wortmeldun-
derten 45 Beitragsjahre erreichen können. Der drohenden gen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Altersarmut von Frauen könne, so Frau Simonis, nur Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen nicht vor.
durch eine klare familienpolitische Komponente entge-
gengewirkt werden. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-
(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) desministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15.
Frau Simonis gehört nicht meiner Partei an, Frau Die Familienpolitiker dürfen gerne bei der Gesund-
Bergmann. Auch dazu müssen Sie sich einmal äußern. heitspolitik hier bleiben.
Zum Schluss kommen wir zu Ihrem ehemaligen Lieb- Nun beginnen wir mit der Aussprache. Das Wort
lingsthema, von dem wir heute ebenfalls nichts mehr hat die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea
gehört haben. Genauer gesagt hören wir seit dem Fischer. Bitte sehr.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11159

(A) Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: rückläufig. Das ist ein erfreuliches Ergebnis aus der Sicht (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt we- von Bürgerinnen und Bürgern, deren Belastung mit
nige Einzelpläne des Bundeshaushalts, in denen der Haus- Sozialversicherungsbeiträgen längst die Schmerzgrenze
haltsplan selber nur so eingeschränkt die Ressortpolitik erreicht hatte.
wiedergibt wie in diesem Fall. Deswegen werde auch ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
mich heute hauptsächlich zu den Fragen der Gesundheits-
und bei der SPD)
politik äußern, die uns alle umtreiben. Gestatten Sie mir
aber vorher noch ein paar Worte zum Einzelplan des Dieses Ergebnis war nur durch Anstrengungen, aber
BMG. natürlich auch über Konflikte zu erreichen gewesen. Das
ist vollkommen klar. Weil das politische Gedächtnis ja
Dass der Etat in diesem Jahr niedriger liegt als im letz-
manchmal nur ziemlich kurz zurückreicht, würde ich
ten, ist zum einen einigen Sondertatbeständen geschuldet
doch gerne daran erinnern, dass seit Mitte der 90er-Jahre
wie zum Beispiel einem rückläufigen Bedarf an Mitteln
nicht nur die Beiträge zur Krankenversicherung, sondern
für den Umzug des BfArM nach Bonn. Zum anderen ist
auch die Zuzahlungen ständig gestiegen waren. Nach
das natürlich auch Ausdruck der Disziplin des gesamten
meiner Erinnerung war das nicht minder konfliktträchtig.
Bundeskabinetts und damit auch des Bundesministeriums
für Gesundheit, das sich ebenfalls nicht der Aufgabe ver- Wir haben mit der Gesetzgebung im vergangenen Jahr
weigert, im eigenen Haus sorgsam zur Haushaltskonsoli- eine ganze Reihe von Veränderungen eingeleitet, von de-
dierung beizutragen. nen die meisten zurzeit der Selbstverwaltung überantwor-
tet sind, die sie umsetzt. Es ist sicher davon auszugehen,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dass sich das nicht nur auf die künftige Entwicklung der
und bei der SPD)
Ausgaben, sondern auch auf die Qualität positiv auswir-
Ich möchte zwei Aspekte besonders positiv hervorhe- ken wird. Ich möchte stellvertretend anführen, dass es in-
ben: Die Ansätze für die Anti-Aids-Kampagne, die Dro- zwischen eine Grundsatzeinigung zwischen den Parteien
genaufklärung und die allgemeine Aufklärung sind ge- der Selbstverwaltung zur Frage eines neuen Kranken-
halten worden. Wir lösen damit eine Zusage gegenüber hausfinanzierungssystems gegeben hat und dass außer-
dem Parlament aus dem letzten Jahr ein. dem die Vereinbarungen der Selbstverwaltung im Bereich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der integrierten Versorgung vorankommen – bei allen
und bei der SPD) Schwierigkeiten, die es da noch gibt. Wir wollen errei-
chen, dass es auch zu einer Stärkung der hausärztlichen
Ich freue mich darüber hinaus, dass es mit der Etatisierung Versorgung kommt.
(B) des Sonderprogramms „Umwelt und Gesundheit“ Es gibt trotzdem Risiken für die Beitragsentwicklung (D)
endlich gelungen ist, erste Schritte in diesem bislang sträf-
lich vernachlässigten Bereich zu unternehmen. und es gibt natürlich eine vielstimmige Kritik, auf die ich
gleich noch näher eingehen werde. Wir haben von der al-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Bundesregierung nicht nur Schulden in der gesetzli-
und bei der SPD) chen Krankenversicherung geerbt, insbesondere in den
Aufgrund einschlägiger Erfahrungen gehe ich davon neuen Bundesländern,
aus, dass die Beratungen im Haushaltsausschuss auch (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das stimmt doch
diesmal so konstruktiv wie gewohnt verlaufen werden. gar nicht!)
Damit möchte ich mich der Gesundheitspolitik im All- die bis heute große Solidaritätsanstrengungen der Bürge-
gemeinen zuwenden, rinnen und Bürger im Westen verlangen.
(Detlef Parr [F.D.P.]: Jetzt wird es spannend!) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Es waren doch
Überschüsse da! Eine Frechheit!)
der, wie ich höre, die Opposition in Zukunft besondere
Aufmerksamkeit widmen will. Das ist sicherlich auch für Wir haben von der alten Bundesregierung in diesem Som-
Sie lohnenswert, weil wir da ja immerhin eine bemer- mer – Auslöser waren zwei einschlägige Urteile des Bun-
kenswerte Entwicklung vorweisen können, desverfassungsgerichtes – außerdem zwei Kuckuckseier
ins Nest gelegt bekommen, die uns noch schwer zu schaf-
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
fen machen werden. Das Verfassungsgericht hat in diesem
[CDU/CSU]: Das ist wahr!)
Sommer bestätigt, dass die Regelung zur Berücksichti-
die manchen Unkenruf der vergangenen zwei Jahre als ge- gung von Einmalzahlungen beim Krankengeld verfas-
genstandslos erscheinen lässt. sungswidrig war. Der Gesetzentwurf, den die Bundesre-
gierung jetzt vorgelegt hat, um auf dieses Gerichtsurteil
Die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung
zu reagieren, sieht eine verfassungskonforme Regelung
entwickeln sich im Jahre 2000 positiv; das Defizit geht
für die Zukunft vor. Für die laufenden Fälle und ebenfalls
zurück, sodass für das gesamte Jahr 2000 mit einem aus-
rückwirkend für die noch nicht bestandskräftigen Fälle
geglichenen Finanzergebnis gerechnet werden kann.
wird es Rückzahlungen geben. Damit entsprechen wir
(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Nur im BMG!) sämtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
Gleichzeitig sind die Beitragssätze stabil, verglichen (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das wird
mit dem Stand bei Regierungsübernahme sogar leicht eine fabelhafte Reaktion geben!)
11160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Bundesministerin Andrea Fischer

(A) Die Kritik hat sich in den letzten Wochen daran ent- des Heilens zu stark einschränken würden. Was denn nun? (C)
zündet, dass das Krankengeld nicht rückwirkend bei de- Mehr Geld und gleichzeitig keine Orientierung an allge-
nen erhöht werden soll, deren Ansprüche schon bestands- mein gültigen Standards der Medizin, also noch mehr
kräftig sind, unter anderem weil sie keinen Widerspruch Überflüssiges auf der einen Seite und noch mehr Unter-
eingelegt haben. Das stimmt; eine ganze Reihe von Ak- versorgung bei bestimmten Krankheiten auf der anderen
teuren haben Seite?
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Nehmen wir dafür ein Beispiel aus der letzten Zeit. Der
[CDU/CSU]: Versprochen!) Diabetiker-Bund hat in der vergangenen Woche beklagt,
versprochen, dass dies geschehen sollte. Ich kann auch dass es an den Budgets liege, wenn wir in Deutschland
verstehen, warum solche vollmundigen Zusagen nicht eine beklagenswert schlechte Behandlung von Diabeti-
eingelöst werden. Trotzdem bleiben diejenigen, die das kern haben.
jetzt vollmundig fordern, die Antwort auf die Frage schul- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da hat er Recht!)
dig, auf wessen Kosten das geschehen soll. Nach Schät-
zungen der Krankenkassen geht es dabei um einen bis zu Das sehe ich genauso.
4 Milliarden DM höheren Betrag gegenüber den gut (Aribert Wolf [CDU/CSU]: Aber sie tun
1 Milliarde DM, die unser Gesetzentwurf bislang bereits nichts!)
an Mehrbelastungen für die gesetzliche Krankenversiche-
rung vorsieht. In dieser Größenordnung – das ist meine Er rechnet vor, dass die Behandlung eines gut eingestell-
feste Überzeugung, zumal wenn man bedenkt, dass auch ten Diabetikers rund 1 700 DM im Jahr, die Behandlung
noch ein zweites Verfassungsgerichtsurteil auf seine Um- eines aufgrund seiner Diabetes zusätzlich schwer Er-
setzung wartet – kann die gesetzliche Krankenversiche- krankten – weil er zum Beispiel schlecht behandelt wurde
rung diese Ausgaben nicht ohne Beitragssatzerhöhungen – aber bis zu 80 000 DM koste.
verkraften. Ich kann einfach nicht erkennen, warum das Budget
Es wäre dann von Ihnen noch zu erklären, woher das daran schuld sein soll.
Geld kommen soll. Es kann auch nicht im Interesse der (Aribert Wolf [CDU/CSU]: Das ist genau Ihr
Versicherten sein, dass man ihnen erst in die eine Tasche
Problem, Frau Fischer!)
mehr gibt und ihnen hinterher aus einer anderen Tasche
mehr nimmt, und es kann ebenso nicht sein, dass – noch Es ist ja offenkundig die gute Behandlung, die die kos-
schlimmer – das Geld für die Versorgung von Kranken tengünstigere ist. Hier scheint mir viel eher ein Fall für
fehlen würde. Leitlinien vorzuliegen, die dann in die Praxis überführt
Wer hier vollmundig anderes fordert – noch dazu, werden müssen.
(B) wenn er damals gegen den Rat der Juristen das verfas- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sungswidrige Gesetz zu verantworten hatte –, der ruft und bei der SPD)
keck „Haltet den Dieb!“ und ist doch selbst vor Jahr und
Tag mit der Kasse durchgebrannt. Diese Maßnahme streben wir zum Beispiel durch die Ein-
führung des Koordinierungsausschusses an, die wir im
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetz vorgesehen haben und wofür die Selbstverwaltung
und bei der SPD) zuständig ist.
Weil auch absehbar ist, was die im Haushaltsentwurf Die Koalition wird sich sicherlich weiterhin mit der
enthaltene Absenkung der Bemessungsgrundlage für Frage beschäftigen, ob die Budgets in der jetzigen Form
die Beiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern zur Folge handhabbarer gemacht werden müssen. Aber was nicht
hat, möchte ich Sie daran erinnern – das hat meiner Ziel- angehen kann, ist, dass der Ruf nach mehr Geld die Aus-
richtung entsprochen –, dass die alte Bundesregierung
weichlosung für all diejenigen wird, die sich den Qua-
1995 dieses Prinzip der Beitragsentrichtung in allen an-
litätsmängeln der gesundheitlichen Versorgung nicht stel-
deren Zweigen der Sozialversicherung selber eingeführt
hat. Im Übrigen wäre diese Erhöhung ohne weiteres zu len wollen.
verkraften gewesen, wenn jetzt nicht noch die Hypothe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ken der alten Regierung dazukämen. Ich gehe davon aus, und bei der SPD)
dass diese neueren Entwicklungen vom Parlament in den
Haushaltsberatungen berücksichtigt werden. Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass all das zu-
sätzliche Geld, das immer wieder gefordert wird, nur von
Dann möchte ich noch zu einer weiteren Kritik kom- Patienten und/oder Versicherten kommen kann. Das müs-
men, die immer gerne von denen geäußert wird, die sta- sen sowohl diejenigen, die höhere Honorare fordern, als
bile Beitragssätze nur dann für wichtig halten, wenn sie auch diejenigen, die sich diese Forderungen zu Eigen ma-
selber in der Regierung sind. Das ist das wohlfeile Lied, chen, offen und ehrlich sagen.
es sei zu wenig Geld im System und wir würden mit der
Begrenzung der Ausgaben die medizinische Versorgung Die Bundesregierung wird mit einer Reihe von Vorha-
behindern. ben die drängenden Fragen in der gesetzlichen Kranken-
versicherung anpacken. Ganz oben auf unserer Liste steht
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Tat!) die Wettbewerbsordnung. Mit Verlaub: Die Wettbe-
Interessanterweise kommt diese Kritik immer aus dersel- werbsordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung
ben Ecke wie die Klage darüber, dass wir mit Qualitätssi- ist vor vielen Jahren eingeführt worden. Es war nicht ab-
cherung, Leitlinien, Positivliste und anderem die Kunst sehbar, dass es trotz Risikostrukturausgleich offensicht-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11161
Bundesministerin Andrea Fischer

(A) lich noch Möglichkeiten einer lohnenden Risikoselektion Ich bin mir aber nicht sicher. Eigentlich hatte ich erwar- (C)
gibt. Maßnahmen gegen diese Wettbewerbsverzerrung tet, dass Sie heute reden würden. Da das aber nicht der
müssen wir jetzt anpacken. Fall ist, bin ich etwas vorsichtig und warte ab, bis Sie das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nächste Mal hier reden werden.
und bei der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Zu einer unserer wichtigen Aufgaben gehört auch das Frau Ministerin, ich habe das Gefühl, dass Sie – von
so genannte Transparenzgesetz, mit dem wir die Black- wem auch immer – ernsthaft getroffen worden sind; denn
box Gesundheitswesen erleuchten wollen. das Ende Ihrer Rede ging über das hinaus, was eigentlich
(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Erleuchtung kann angemessen gewesen wäre. Es geht ja nun wirklich um
der Regierung nicht schaden!) Patienten, um Versicherte. Diese sollen jedoch nicht ver-
unsichert werden. Vielmehr soll hier einmal realistisch
Die jüngst aufgedeckten Betrugsfälle machen offenkun- dargestellt werden, wie sich die Lage seit dem Antritt der
dig deutlich, dass es eine gewisse Dringlichkeit auf die- jetzigen Bundesregierung verändert hat.
sem Gebiet gibt. Aber von diesen akuten Fällen abgese-
hen ist schon lange bekannt, dass wir zu wenig wissen, Im Juli hatte sich der Bundeskanzler als „Erfolgskanz-
was wir im Gesundheitswesen genau tun. Mehr Daten- ler“ in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet.
transparenz könnte sicher dazu beitragen, die alte Streit- In diesem Zusammenhang ist noch eine umfangreiche Er-
frage, wie viel Geld man für welche Leistungen braucht, folgsbilanz aufgestellt worden. Interessant ist aber, dass er
besser beantworten zu können. die Gesundheitspolitik ausgespart hat. Offensichtlich
genügt sie seinen Erfolgsansprüchen nicht. Die „Rheini-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sche Post“ fragt sogar: „ Macht Schröder Gesundheits-
und bei der SPD) politik nun zur Chefsache?“ Ich zitiere einmal weiter:
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir legen kei- Wie aus dem Arbeitskreis Gesundheit der SPD-
nesfalls die Hände in den Schoß, nur weil wir gesagt ha- Bundestagsfraktion zu hören ist, zeigt sich der Re-
ben, es werde keine so genannte große Gesundheitsreform gierungschef zunehmend unzufrieden mit der Amts-
geben. Es gibt keinen gordischen Knoten, den man durch- führung der grünen Ressortchefin Andrea Fischer.
schlagen könnte. Das Problem liegt in vielen kleinen Kno-
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht nur der
ten, die aufgeknüpft werden müssen.
Kanzler! – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die Bür-
Ich kann mir schon vorstellen, dass die Versuchung für ger auch!)
die Opposition groß ist, sich populistisch auf dem The-
(B) menfeld Gesundheit zu tummeln. Aber würden Sie offen Nicht nur der Kanzler – hast du meine Rede schon ge- (D)
lesen? – ist mit diesen Leistungen unzufrieden, Frau Mi-
und ehrlich sein, dann wäre Ihnen vergleichbare Kritik
nisterin, auch die Bürgerinnen und Bürger. Sie beurteilen
wie die, die Sie uns entgegenbringen, ebenfalls gewiss.
– ich komme auf das Zitat des Kollegen Kolbe aus dem
Nur weil Sie nicht wissen, wie es mit Ihnen weitergehen
„Stern“ zurück; ich mache es aber kürzer – Ihre Politik
soll, haben Sie noch längst nicht das Recht, die Kranken
überwiegend mit „weniger gut“ oder „schlecht“, und
und die Versicherten zu verunsichern.
das – Sie wollen ja auch etwas zu Ihrem Haushalt hören –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trotz Steigerung Ihres für die Werbung vorgesehenen
und bei der SPD – Widerspruch bei der Etats um 300 Prozent. Insofern scheint dieses Geld nicht
CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Der gut angelegt zu sein. Die Bürger jedenfalls haben Ihre Po-
letzte Satz war gemein!) litik nicht positiv aufgenommen.
Überwiegend weniger gut bzw. schlecht ist auch die
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt der Stimmung im deutschen Gesundheitswesen. Frau Minis-
Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion. terin, Sie sind offensichtlich weder in der Lage, Ihr Res-
sort und die nachgeordneten Behörden zu führen, noch
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid) (CDU/CSU):
in der Lage, die in der Gesundheitspolitik dringend zu lö-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- senden Probleme wirklich anzupacken.
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche So streitet Ihr Haus über Monate mit dem Bundesver-
zunächst nicht von dem letzten Satz. Ich möchte zuerst die sicherungsamt über die Einschätzung der Finanzlage der
Gelegenheit nutzen, Frau Schaich-Walch zu ihrem Wahl- Pflegeversicherung.
sieg gestern in der Fraktion herzlich zu gratulieren.
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Tat!)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der
ist nach Angaben der Industrie nach seinem Umzug von
F.D.P.)
Berlin nach Bonn personell so ausgedünnt, dass an eine
Vielleicht kann man damit den Wunsch verbinden, dass beschleunigte Zulassung von Medikamenten nicht mehr
nach dem Abgang von Herrn Dreßler und nach der Nie- zu denken und die Gefahr einer Verlagerung von Zulas-
derlage von Herrn Schreiner nun die Gedanken etwas sungen ins Ausland offenbar gegeben ist. Das Institut –
mehr auf modernere Ideen in der Gesundheitspolitik im nehmen Sie das in Bonn, wo Sie mit Sicherheit die
Rahmen einer sich verändernden Welt gerichtet werden. Verantwortung tragen – hat im Rahmen der Finanzpla-
11162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

(A) nung Mittel für „geringe Umbaukosten“ in Höhe von Budgetierungspolitik fest, bisher jedenfalls. Es darf trotz- (C)
650 000 DM und weitere für die Anschaffung von Gerä- dem schon jetzt die Frage gestellt werden: Wie lange
ten benötigte Gelder in derselben Höhe überhaupt nicht noch?
eingestellt. Das ist aber nicht alles. Insgesamt sind jetzt
Der finanzielle Crash ist bislang nur wegen der Mehr-
außerplanmäßige Ausgaben in Höhe von 32 Milli-
einnahmen aus den geringfügigen Beschäftigungsverhält-
onen DM zusätzlich zu finanzieren. Mit der Zentralen
nissen vermieden worden. Ist dieser Effekt erst einmal
Kommission für Biologische Sicherheit, die die Bundes-
verpufft, wird die im Ausgabewachstum liegende Dyna-
regierung in allen gentechnikrechtlichen Sicherheitsfra- mik, die unvermeidlich ist, wieder stärker zum Tragen
gen beraten soll, hat man sich total überworfen und die kommen. Es wird sich erneut die Frage stellen, welche
Stelle des Abteilungsleiters für Verbraucherschutz und Steuerungsinstrumente dann zur Verfügung stehen oder
Veterinärmedizin ist seit Monaten verwaist. gestellt werden sollen.
(Detlef Parr [F.D.P.]: Hört! Hört!) Vielleicht kommt diese Frage auch schon viel früher
Insofern müssen Sie sich Kritik gefallen lassen. Aber auf die Bundesregierung zu; denn die Ministerin hat den
die Führung des Hauses ist es nicht allein. Sie haben nach Herren Eichel und Riester erlaubt, ungeniert in das Porte-
unserer Auffassung auch Probleme, die aus falschen monnaie der Krankenkassen zu greifen. Ebenso wie schon
gesundheitspolitischen Entscheidungen erwachsenden 1999 bei der sozialen Pflegeversicherung wird jetzt bei
Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. der gesetzlichen Krankenversicherung eine Kürzung der
Beiträge für Arbeitslosenhilfebezieher in Kauf genom-
Mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz und der men. Etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden DM werden dadurch in
GKV-Gesundheitsreform 2000 sollten, so wird jetzt deut- den Kassen fehlen.
lich, 1999 und bis in das Jahr 2000 hinein im Grunde ge-
nommen nur Wähler geködert werden. Kleinere Leis- Sie, Frau Ministerin, haben zwar im Rahmen der Pres-
tungsverbesserungen wie beispielsweise die Übernahme sekonferenz zu den Halbjahresergebnissen vor wenigen
der Kosten für die Soziotherapie sollten das Bild vermit- Tagen versprochen, die Senkung in den Haushaltsbera-
teln, es sei genügend Geld in der gesetzlichen Kranken- tungen noch einmal zu überdenken, aber ich habe erhebli-
versicherung vorhanden, man müsse nur die Wirtschaft- che Zweifel an Ihrem Kampfesmut – um zu vermeiden zu
lichkeitsreserven ausschöpfen und dann ließen sich sagen: an der Ehrlichkeit Ihrer Aussage. Warum? Weil Sie
Leistungsverbesserungen vornehmen. Um dies zu be- schon anlässlich der Ressortgespräche zum Haushalt
werkstelligen, werden die alten Rezepte von Budgetie- 2000/2001 angekündigt hatten, sich vehement gegen die
rung und Reglementierung unbeirrt fortgesetzt. Kürzung zur Wehr zu setzen. Auch Frau Schaich-Walch
erklärte im Juni in der „Süddeutschen Zeitung“: Sollte
(B) Aber, meine Damen und Herren, die Menschen merken Riester Erfolg haben –wörtlich –, (D)
inzwischen, dass mit sektoralen Budgets die in der Ge-
sundheitspolitik bestehenden Probleme eben nicht zu lö- ist absolut klar, dass die Kassen die Beiträge im kom-
sen sind. Kranke und schwerstkranke Patienten machen menden Jahr erhöhen.
tagtäglich die Erfahrung, dass ihnen medizinisch notwen- Deshalb wolle auch sie sich gegen die Kürzung der
dige Behandlungen vorenthalten werden. Ihre Sorgen Beiträge aussprechen.
werden immer drängender. Zuckerkranke beklagen, dass
ihnen die zur Blutzuckerkontrolle notwendigen Blut- Offensichtlich haben die beiden Damen in ihrem Pro-
zuckerteststreifen vorenthalten werden. Krebskranke test sehr vorsichtig agiert, denn die Herren – in diesem
weisen darauf hin, dass in der Heilmittelversorgung drin- Fall Riester und Eichel – haben sich beim Kanzler durch-
gend notwendige Therapien wie Lymphdrainage oder gesetzt, und das, obwohl sie sich doch eigentlich als die
Krankengymnastik nicht mehr verordnet werden. Patien- Gralshüter der Beitragssatzstabilität in den Vordergrund
ten, die aus Krankenhäusern entlassen werden und der spielen wollten und uns, wenn wir sagen, dass es so nicht
ambulanten Nachbehandlung bedürfen, wird unter Hin- weitergeht, vorhalten, wir wollten Beitragserhöhungen in
weis auf Regressandrohung und Budget das Medikament, Kauf nehmen.
auf das sie in der Klinik eingestellt wurden, verweigert. Nun drohen der gesetzlichen Krankenversicherung
Wenn wir darauf hinweisen, dann ist das keine Verun- – Sie haben das gerade gesagt – als Folge der Urteile des
sicherung, sondern die Darstellung und das Aussprechen Verfassungsgerichts zu den Beiträgen der freiwilligen
von Tatsachen, so wie sie heute vorzufinden sind. Rentner und den Einmalzahlungen weitere Belastungen.
Ich sage: Auf diese wäre die gesetzliche Krankenversi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cherung vorbereitet, hätte Rot-Grün ihr nicht seit Regie-
Auch die Ärzte, denen unter Regressandrohung die rungsantritt laufend die Finanzmittel entzogen. Der
Einhaltung der Budgets aufoktroyiert wird, empfinden es Einnahmeausfall durch Reduzierung der Zuzahlungen
als unerträglich, auf eine medizinische Behandlung ver- beläuft sich auf rund 1 Milliarde DM, das Aussetzen der
Krankenhaussonderregelung – sie wird immer als Notop-
zichten zu müssen, die sie im Rahmen ihrer Verantwor-
fer bezeichnet – führt zu Einnahmeausfällen in Höhe von
tung im Einzelfall für angezeigt halten.
rund 700 Millionen DM, die Ausweitung von Leistungen,
Immer weniger Patienten – resümiere ich – kommen in zum Beispiel der Soziotherapie, führt zu Mehrausgaben in
den Genuss von Arzneimittelinnovationen, für die nur Höhe von rund 1 Milliarde DM und die Ausnahmerege-
wenig oder gar kein Geld da ist. Dessen ungeachtet hält lung bei den Krankenhäusern führt zu Mehrausgaben in
die rot-grüne Bundesregierung verbissen an ihrer Höhe von rund 2 Milliarden DM.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11163
Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid)

(A) Zusammen mit der Kürzung der Renten in 2000 und Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stelle ich fest, dass die (C)
2001 und der Kürzung der Beiträge für Arbeitslose – ich Bundesregierung nicht weiß, was sie in der Gesundheits-
habe das gerade angedeutet – spricht man von einer Be- politik wirklich will. Die Fragen lauten also: Wollen Sie
lastung der Kassen – man kann das nachrechnen – von die grundlegenden Probleme der GKV ernsthaft angehen?
5,3 Milliarden DM in diesem Jahr und von 7,5 Milliar- Kommt das Festbetragsneuordnungsgesetz? Wie steht es
den DM im Jahr 2001. um eine Reform des Organisationsrechts und des Risiko-
Die immer wieder zur Entlastung zitierten Mehrein- strukturausgleichs? Was passiert in der Pflegeversiche-
nahmen von 2 Milliarden DM bis – wie Sie in Ihrer Pres- rung? Bisher hört man nur von einem Referentenentwurf
severöffentlichung schreiben – möglicherweise 3 Milliar- zur Qualitätssicherung, der aber bei den Betroffenen we-
den DM durch das Abkassieren bei geringfügig gen Überreglementierung auf erhebliche Kritik stößt.
Beschäftigten reichen mit Sicherheit nicht aus, um Bei- Die angekündigte Verbesserung der Situation Demenz-
tragssatzerhöhungen zu vermeiden. Auch der wirtschaft- kranker lässt weiter auf sich warten. Bei der häuslichen
liche Aufschwung wird bei immer weniger Beitragszah- Krankenpflege haben Sie es zu verantworten, dass
lern nicht ausreichen, die Einnahmeausfälle zu kompen- Schwerstkranke keine hinreichenden pflegerischen Leis-
sieren. tungen mehr erhalten.
Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der Re- (Beifall bei der CDU/CSU – Regina Schmidt-
gierungskoalition, glauben Sie wirklich ernsthaft, dass die Zadel [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)
Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung mit im-
mer weniger Beitragzahlern und rigiden Budgets zu Ihre eigene Klientel war bei einem Pflegefachgespräch
stabilisieren sind, ohne die medizinische Versorgung der – so nannte sich das – so aufgebracht, dass sie Sie, Frau
Bevölkerung weiter zu verschlechtern? Erste Zweifel an Fischer, wiederum so aufgebracht hat, dass die „Süddeut-
Ihrer eigenen Sicht haben Sie offenbar schon, Frau Mi- sche Zeitung“ titelte: „Bundesministerin fällt aus der
nisterin. Denn während Sie anlässlich der Pressekonfe- Rolle“.
renz, die ich bereits zitierte, noch erklärten, in dieser Le- Frau Ministerin, fallen Sie nicht aus der Rolle. Packen
gislaturperiode keine Reform mehr auf den Weg bringen Sie die notwendige und zukunftsweisende Reform in der
zu wollen, sagten Sie auf einer Podiumsdiskussion der GKV zum Nutzen der Kranken, der Versicherten und - das
Bertelsmann-Stiftung – ich habe es selbst gehört –
ist mir wichtig - um der Glaubwürdigkeit unserer gesetz-
Es ist eine falsche Vorstellung, dass es mit einer Ge- lichen Krankenversicherung an; denn diese muss erhalten
sundheitsreform getan ist. bleiben. Auf die Weise, wie Sie das zurzeit machen, ist
Gefahr im Verzuge.
Wären Sie anlässlich der Gespräche zur GKV-Gesund-
(B) heitsreform 2000 auf unsere Angebote eingegangen, dann Schönen Dank. (D)
hätten Sie jetzt keine Torsoreform und müssten nicht über
eine wirklich grundlegende Reform der GKV nachden- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ken. Offensichtlich finden Sie und die Koalitionäre immer
mehr Geschmack an unseren Alternativen. Diesen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
Schluss ziehe ich, nachdem ich aus Ihrem Munde lobende Eckhart Lewering von der SPD-Fraktion das Wort.
Worte über das System der Krankenversicherung in der
Schweiz anlässlich der Podiumsdiskussion bei der Ber-
telsmann-Stiftung gehört habe. Der Schweiz ist wegen Eckhart Lewering (SPD): Frau Präsidentin! Meine
ihrer marktwirtschaftlichen Anreizsysteme der Carl- sehr geehrten Damen und Herren! Der Einzelplan 15
Bertelsmann-Preis verliehen worden. In der Jury saß übri- für das Bundesministerium für Gesundheit sieht für das
gens auch Herr Dreßler. Ich weiß nicht, wie Sie sich kommende Haushaltsjahr Ausgaben von rund 1,75 Milli-
gefühlt haben: Sie saßen als Weltkind in der Mitten zwi- arden DM vor. Im laufenden Jahr sind im Einzelplan 15
schen diesen beiden Ministerinnen aus der Schweiz und rund 1,84 Milliarden DM veranschlagt. Die Ausga-
aus den Niederlanden, die sehr gelobt wurden, während ben weisen im Vergleich zum Vorjahr eine kontinuier-
ich Lobesworte für Ihre Politik nicht gehört habe. liche Entwicklung auf. Der Ausgabenrückgang um rund
85 Millionen DM beruht im Wesentlichen auf besonderen
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Umständen des laufenden Jahres, die im kommenden
GRÜNEN]: Können Sie kurz sagen, wofür?) Haushaltsjahr in dieser Höhe nicht mehr ausgabenwirk-
– Sie sind für ihre Reformbemühungen, für ihre zukunft- sam sind.
weisenden Reformen gelobt worden und haben dafür ei- Zu den Ausgaben im Einzelnen: Für gesundheitspoli-
nen Preis bekommen. Es ist eine einmalige Sache gewe- tisch relevante Maßnahmen sind circa 127 Millionen DM
sen, dass dort drei Ministerinnen saßen, von denen die veranschlagt. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die
eine immer wieder den Kopf einziehen musste, wenn es Modellprogramme zur Verbesserung der Versorgung Pfle-
um das Lob für eine moderne, zukunftsgewandte Politik gebedürftiger, Maßnahmen gegen Drogen- und Suchtmit-
ging. telmissbrauch, Vorhaben zur medizinischen Qualitätssi-
Und dann ist da noch der Bundeskanzler, der sich in ei- cherung und Maßnahmen zur Krebsbekämpfung. Zudem
nem Beitrag für die „Frankfurter Hefte“ für die Selbstbe- finanziert das Gesundheitsministerium Maßnahmen zur
teiligung der Versicherten ausgesprochen hat: „Unver- gesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung, insbeson-
zichtbar“, sagte er. dere im Bereich der Drogen- und Aidsprävention.
11164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Eckhart Lewering

(A) Die Modellprogramme werden auch in diesem Jahr Unter den in Deutschland bestehenden Umweltbedin- (C)
weiter zurückgeführt. Das frühere hohe Ausgabenniveau gungen haben vor allem chronische Erkrankungen Be-
entsprach dem Nachholbedarf in den Jahren nach der deutung. Das Programm trägt dazu bei, fehlerhafte Dia-
deutschen Einigung. Die meisten Vorhaben sind mittler- gnosen und die damit übliche Odyssee der Patienten
weile in die Regelversorgung übernommen worden. Die durch verschiedene Arztpraxen – mit entsprechenden Kos-
Maßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärung werden in tenfolgen auch für das System der gesetzlichen Kranken-
vergleichbarem Umfang fortgeführt. Sowohl bei der Aids- versicherungen – abbauen zu helfen. Dem Schutz der Ge-
aufklärung als auch für die Informationen gegen Drogen- sundheit durch Erhalt der Umwelt oder durch
missbrauch und für die allgemeine gesundheitliche Wiederherstellung gesundheitsfördernder Umweltbedin-
Aufklärung stehen weiterhin entsprechende Mittel zur gungen gebührt Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen.
Verfügung. Die Erfolge der Präventionsmaßnahmen ver- Dem tragen wir Rechnung.
gangener Jahre dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass das Wissen über gesundheitsgefährdendes Verhalten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
permanent erneuert werden muss. DIE GRÜNEN)
Vielerorts ist eine Verdrängung der Aidsproblematik Wir haben vor der Wahl versprochen, den Schutz der
zu beobachten. Hierzu tragen auch die Erfolge und leider Menschen vor Gesundheitsgefahren zu einem Leitgedan-
auch die vermeintlichen Erfolge bei der Entwicklung ken der Gesundheitspolitik zu machen. Auch in diesem
neuer Medikamente bei. International sind hohe Steige- Punkt halten wir Wort.
rungsraten bei der Zahl der Aidsinfektionen zu beobach-
ten: Weltweit haben sich im vergangenen Jahr mehr als Überhaupt kann man sagen, dass man, wenn man eine
5 Millionen Menschen allein mit Aids infiziert. Im Zeital- Zwischenbilanz der Arbeit der rot-grünen Koalition
ter der offenen Grenzen und der internationalen Zusam- zieht, konstatieren muss, dass wir bereits nach der Hälfte
menarbeit kann man darüber nicht einfach hinwegsehen. der Legislaturperiode einen großen Teil unserer gesund-
Aids ist eine weltweite Bedrohung und erfordert unser heitspolitischen Ziele erreicht haben.
weltweites Engagement, nicht zuletzt zu unserem eigenen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Nutzen. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90 Wir haben Leistungsbeschränkungen und Zuzahlungs-
DIE GRÜNEN) pflichten, die die Vorgängerregierung verhängt hatte, ab-
Moderne Konzepte gegen den Drogenmissbrauch er- gebaut oder vermindert und moderne Konzepte der Ge-
fordern ein ideologiefreies Herangehen an die Problema- sundheitsförderung und -vorsorge wieder eingeführt. Wir
(B) tik, wie es auf kommunaler Ebene, wo man mit den Pro- haben die Rolle des Hausarztes neu definiert und Mög- (D)
blemen unmittelbar konfrontiert wird, zum Glück schon lichkeiten für moderne, integrierte Versorgungsformen
vielfach über alle Parteigrenzen hinweg möglich ist. Ich auf den Weg gebracht.
denke hier an Frankfurt und auch an Hannover. Der An-
stieg der Drogenkriminalität und der Opfer illegaler Dro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
gen fordern weiterhin ein hohes Engagement auch auf der DIE GRÜNEN)
Bundesebene. Die Rehabilitation ist gestärkt worden. Die rot-grüne
Einen neuen Ausgabeposten stellt das Aktionspro- Koalition setzt Akzente für eine Gesundheitspolitik, die
gramm „Umwelt und Gesundheit“ dar. 1 Million DM zum Ziel hat, vermeidbare Kosten schon in ihrer Entste-
sind für das Programm im kommenden Jahr im Einzelplan hung zu bekämpfen. Aus diesem Grund haben wir mit der
15 vorgesehen. Darüber hinaus erfolgt eine gleich hohe Gesundheitsreform 2000 Prävention wieder zu einem
Finanzierung durch das Bundesumweltministerium. Im zentralen Bestandteil der Gesundheitspolitik gemacht.
Finanzplanungszeitraum für die nächsten Jahre steigt der Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ wird in Zu-
Betrag auf 2,5 Millionen DM an. kunft konsequent umgesetzt werden.
Mit dem Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ (Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Thomae
werden neue Wege beschritten. Zum einen eröffnet die [F.D.P.]: Hoffentlich! – Ulf Fink [CDU/CSU]:
systematische und ganzheitliche Herangehensweise die Das wird aber Zeit!)
Möglichkeit, Wechselwirkungen und Summationseffekte
im erforderlichen Rahmen zu berücksichtigen, zum ande- – Ja, das machen wir auch so.– Das ist eine Politik, die die
ren wird das Prinzip der Vorsorge als primäres Grund- Interessen der betroffenen Menschen und die Vermeidung
prinzip von Umwelt- und Gesundheitspolitik betont. unnötiger Kosten miteinander zu vereinbaren vermag.
Grundlagen dieses Programms sind erstens die Samm- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
lung und Bewertung aller fachlichen Informationen sowie [CDU/CSU]: Versucht!)
die Schaffung fundierter fachlicher Grundlagen für um-
weltbedingte Krankheiten, zweitens die Überprüfung und Selbsthilfegruppen und Patientenrechten haben wir die
Verbesserung bestehender Verfahren der Risikobewer- Bedeutung zugemessen, die Ihnen gebührt. Der Anstieg
tung und Standardsetzung, drittens die Verbesserung von der Krankenversicherungsbeiträge ist gestoppt und die
Diagnose und Therapie in der Umweltmedizin und vier- solidarische Krankenversicherung gestärkt. Anstelle der
tens die Umsetzung vorbeugender Maßnahmen in der vorhergesagten Defizite gab es im vergangenen Jahr so-
Umwelt- und Gesundheitspolitik. gar Überschüsse.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11165
Eckhart Lewering

(A) Wir sind unserem Ziel, ein qualitativ hochwertiges Ge- den zweitgrößten Ausgabenblock. Ein großer Teil der (C)
sundheitssystem zu schaffen, das seine Leistungen für alle Stellen wird durch Einnahmen finanziert, insbesondere
Versicherten in gleicher Weise bereitstellt, im Bereich der Arzneimittelzulassung.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Der Einzelplan 15 enthält Investitionen im Umfang
[CDU/CSU]: Meilenweit entfernt!) von circa 1 Milliarde DM. Ich schenke mir jetzt die ein-
zelnen Zahlen dazu.
bereits ein gutes Stück näher gekommen.
Ich komme zum Schluss zu den im Einzelplan 15 vor-
gesehenen Einnahmen. Sie belaufen sich auf circa
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- 92 Millionen DM. Die Einnahmen aus Zulassungsaufga-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDS- ben der Institute dienen zur Deckung der Personal- und
Fraktion? Sachausgaben. Mögliche Steigerungen der Gesamtein-
nahmen wurden im vergangenen Jahr zu hoch angesetzt.
Eckhart Lewering (SPD): Bitte, Herr Seifert. Aus diesem Grunde wurden die erwarteten Einnahmen
für dieses Jahr angepasst.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, bitte Mit dem Haushaltsentwurf 2001 schreitet die Bundes-
sehr. regierung weiter fort auf ihrem erfolgreichen Weg der
Haushaltskonsolidierung. Sie schafft damit die finanzielle
Grundlage für ein funktionierendes Gemeinwesen und für
Dr. Ilja Seifert (PDS): Lieber Herr Kollege, Sie spra- den Erhalt unseres Gesundheitswesens.
chen gerade davon, dass Sie die Selbsthilfeförderung so
Ich danke Ihnen.
sehr unterstützt hätten. Ich anerkenne sehr die Leistung
des BMG, das die Selbsthilfe fördert. Aber was tun Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen endlich ihrer NIS 90/DIE GRÜNEN)
Verpflichtung nachkommen – es gibt ja jetzt das Gesetz –,
Selbsthilfe zu fördern? Jeder weiß doch, dass sie das nicht Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
oder nur so restriktiv tun, dass bei den Betroffenen kaum Dr. Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
etwas ankommt. Wir brauchen die Hilfe dringend.
Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
Eckhart Lewering (SPD): Herr Dr. Seifert, wie Sie sehr geehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesund-
wissen, haben wir in dem Gesetz im Jahre 2000 festgelegt, heitspolitik ist in der Tat gescheitert. Auch die Bürger
(B) dass die Krankenkassen die Pflicht haben, etwas für die draußen merken dies. (D)
Selbsthilfegruppen zu tun,
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sie machen es aber
Erstens wollen wir klar feststellen, dass wir beim Re-
nicht!)
gierungswechsel einen Überschuss und kein Defizit über-
und das werden sie sicher auch tun. geben haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
von der PDS) Zweitens. Durch die Maßnahmen seit der Regierungs-
Ein weiteres Beispiel für diese Politik ist ein neu in den übernahme sind Summen ins Spiel gekommen. Diese
Haushalt aufgenommener Posten. Es handelt sich hierbei kann man nur einhalten, indem eine strenge Budgetie-
um 3,3 Millionen DM für den Bundesanteil an laufenden rung realisiert wird. Das bedeutet, dass letztlich
Rentenzahlungen zur Entschädigung von Hepatitis-C- Leistungskürzungen erfolgen. Diese strenge Budgetie-
Opfern der ehemaligen DDR. Ich erinnere hier nochmals rung merken die Bürger ganz genau.
daran, dass die alte Koalition diese Aufgabe lange vor sich Ist es sehr sinnvoll, wenn wir heute erleben, dass eine
her geschoben hatte und erst die neue Bundesregierung Frau, die eine Brustamputation durchmachen musste,
dieses Problem erfolgreich angepackt hat. noch zweimal Lymphdrainage bekommt? Das ist ein Fak-
tum.
Die Finanzhilfen zur Förderung von Investitionen in
Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern betragen Es ist ein Faktum, dass Patienten ins Krankenhaus
867 Millionen DM und stellen damit den größten Einzel- überwiesen werden, die eigentlich Krankengymnastik be-
posten im Gesundheitshaushalt dar. kommen sollten. Aber der Arzt sagt, das Budget ist er-
schöpft, und überweist diesen Patienten für 14 Tage ins
83 Millionen DM sind für internationale Aufgaben des Krankenhaus. Er bekommt im Krankenhaus zweimal am
Gesundheitswesens vorgesehen. Der hierin enthaltene Tag Physiotherapie.
WHO-Beitrag ist in US-Dollar zu zahlen und muss wegen
der Kursentwicklung nachträglich angepasst werden. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

Mit 53 Millionen DM werden wissenschaftliche For- Meine Damen und Herren, das kostet hohe Summen
schungsinstitutionen finanziert, die der Bund gemeinsam und ist unverantwortlich.
mit den Ländern fördert. (Widerspruch bei der SPD)
Die Personalausgaben bilden mit 314 Millionen DM – Das sind Fakten!
11166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Dieter Thomae

(A) Es geht weiter. Die Krankenkassen sagen heute ein- system wird nach dem 30. September ganz neu und anders (C)
deutig: Häusliche Pflege wird nicht mehr verschrieben; betrachtet werden. Das sage ich Ihnen heute voraus. Nach
der Patient wird ins Krankenhaus überwiesen. dem 30. September wird über Beitragssatzsteigerungen
(Zurufe von der SPD) diskutiert werden, weil Sie es über die Budgetierung nicht
mehr im Griff haben. Die Bürger machen es nicht mehr
– Ich weiß, das alles passt Ihnen nicht. mit, dass Leistungskürzungen fast bis auf die Haut gehen,
(Zuruf von der SPD: Es ist die Unwahrheit!) sogar bis ins Rückenmark, weil sie die Leistungen nicht
mehr bekommen.
Weitere Beispiele aus der Praxis: das Arzneimittel- und
Heilmittelbudget, bei dem der Patient massiv betroffen Ein zweiter wichtiger Punkt: Frau Ministerin, Sie kün-
wird und gerade der chronisch Kranke darunter leidet. Sie digen immer Sachen an, egal ob es nun im Pflegebereich
sagen, Sie machen eine Politik für den Patienten? Nein, oder im Gesundheitsbereich ist, doch es bleibt bei den
diese Patienten werden in den Bereichen Diabetes, Par- Ankündigungen. Wir haben im Pflegebereich schon un-
kinson, Krebs und in anderen Bereichen massiv berührt. sere Probleme. Wir sind im Defizit. Sie behaupten, wir
kommen nächstes Jahr aus dem Defizit heraus. Aber Sie
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten müssen gerade auch im Pflegebereich erkennen, wohin
der CDU/CSU) der Trend geht. Es geht sowohl im ambulanten als auch im
Ich bin erstaunt, dass die Fragen und die bisherigen Er- stationären Bereich hin zu den Sachleistungen. Die Geld-
gebnisse der Rheuma-Liga nicht diskutiert werden. leistungen werden reduziert. Dafür gibt es sicherlich viele
Schade, dass die Rheuma-Liga nicht zur Anhörung am Argumente: Kleinfamilie, Überforderung der Familie.
27. September eingeladen wird. Dort könnten Fakten ge- Diese Kosten steigen nennenswert an. Dies ist bisher von
nannt werden, die sehr interessant sind, weil die Betreu- Ihnen so gut wie gar nicht berücksichtigt worden.
ung auch dieses Patientenkreises massiv betroffen wird. Wenn Sie glauben, Sie könnten ein Gesetz nur für De-
Ich könnte Ihnen noch weitere Beispiele aufzählen, bei menzkranke, vielmehr für die zu pflegenden Demenz-
denen Sie durch Gesetzesänderungen finanzielle Mittel kranken machen, dann werden Sie nicht erfolgreich sein.
entziehen und dadurch eben sehr stark Patienten treffen. Es gibt genau ähnliche Krankheitsbilder, bei denen Fami-
Aber nicht nur das, ich würde Ihnen auch empfehlen, mit lienmitglieder diese Patienten pflegen und draußen vor
Ärzten in den neuen Bundesländern intensiv zu reden. der Tür stehen. Dann haben Sie die Klagen am Hals.
Gerade die Allgemeinärzte in den neuen Bundesländern, Eines haben wir bisher nicht berücksichtigt. Wir haben
aber auch die Fachärzte werden in der Honorierung mas- bisher die Leistungen in diesem System nicht fortge-
siv getroffen. schrieben. Auch das wird ein großes Thema werden. Ist
(B) (D)
Sie wissen selber: Nicht nur die Ärzte, sondern auch das überhaupt haltbar?
Physiotherapeuten und Psychologen ringen gerade in den (Zuruf von der SPD)
neuen Bundesländern um ihre Existenz. Gehen Sie hin
und schauen Sie, wie die durchschnittlichen Jahresein- – Ja, ich weiß. Aber da Sie nun in diesem Pflegebereich
kommen von diesen Bürgern sind. Sie werden feststellen, die große Verantwortung tragen, muss man Sie schon da-
dass zu diesen Beträgen kaum noch gearbeitet werden ran erinnern, dass Sie Versprechungen einhalten müssen,
kann und eine Freiberuflichkeit nicht mehr gesichert ist. die Sie vor den Wahlen verkündet haben. Wir werden ge-
nau diese Themen nutzen.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Mit Ihrer Politik zerstören
Sie dieses System. Sie zerstören die Freiberuflichkeit in Meine Damen und Herren, ich spreche hier noch ein
diesem System. Thema an: Diese Woche hat ja beim Bundeskriminalamt
eine größere Zusammenkunft im Gesundheitssektor statt-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gefunden. Ich sage dazu ganz deutlich: Ich bin wirklich
Es ist wahrscheinlich Ihre Absicht, diese Freiberuflichkeit für Strafverfolgung für diejenigen, die hier nicht sauber
zu zerstören und damit Ihre Planwirtschaft noch stärker zu abrechnen. Aber ich sage Ihnen auch: Eine Hetzjagd in
realisieren. diesem Bereich auf den Weg zu bringen, um von den
tatsächlichen Problemen abzulenken, dies werden wir
(Zurufe von der SPD: Oh!) nicht mitmachen. Das sage ich Ihnen heute voraus.
Wenn Sie das nicht wollen, dann ändern Sie doch Ihr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zu-
Gesetz. Dann sprechen Sie doch mit den Ärzten. Dann ruf von der SPD: Betrug gilt auch bei den Ärz-
gehen Sie doch in die neuen Bundesländer und sprechen ten als Betrug!)
bei Veranstaltungen mit den Ärzten. Nein, Sie sagen bei
Veranstaltungen ab. Die KV Sachsen organisiert eine
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die
große Veranstaltung – keiner von der SPD kommt. Das
Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
sind unfaire Methoden. Bekennen Sie sich dazu! Von den
Grünen rede ich erst gar nicht. Sie kommen generell nicht.
Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
men und Herren! Wenn heute in erster Lesung über den
Über einen weiteren wichtigen Punkt wird bisher viel Einzelplan 15 debattiert wird, muss erneut festgehalten
zu wenig diskutiert. Wir alle wissen: Dieses Gesundheits- werden: Die Absenkung der Kassenbeiträge für die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11167
Dr. Ruth Fuchs

(A) Arbeitslosenhilfeempfänger zugunsten des Bundes- gefahr besteht darin, dass die Versicherten ebenso wie die (C)
haushaltes war und bleibt ein schwerer Fehler. Mitarbeiter in den Einrichtungen das elementare Ver-
trauen in die GKV verlieren. Schlimmer noch, die Ak-
(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Wolfgang
zeptanz des Solidarsystems in der Bevölkerung kann irre-
Zöller [CDU/CSU])
versiblen Schaden nehmen.
Auch wenn Sie das anders sehen, Frau Ministerin Fischer:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenigstens darin
Die damit verbundene Mittelkürzung ist angesichts der fi-
sollte Übereinstimmung bestehen: Durch Privatisierung
nanziellen Belastungen, die auf die gesetzliche Kranken-
versicherung noch zukommen, und angesichts der realen und Deregulierung können weder die bestehenden Ver-
Situation im Gesundheitswesen nicht zu verantworten. sorgungs- noch die Finanzprobleme des Gesundheitswe-
Wo Sie Ihre Zufriedenheit hernehmen, kann ich beim bes- sens gelöst werden.
ten Willen nicht nachvollziehen. Denn die Grundpro- (Beifall bei der PDS)
bleme des Bereiches sind da, sie sind nach wie vor un-
gelöst, und überall wachsen neue Spannungen und daraus Das gilt für ein Zusammenstreichen des Leistungskata-
resultierende Proteste. logs im Gefolge von Basis- und Wahlleistungen ebenso
wie für einen ökonomischen Verdrängungswettbewerb.
In den Krankenhäusern verschlechtern sich die vie- Wer das Solidarsystem zerstört, zerstört die entschei-
lerorts schon heute unhaltbaren Arbeitsbedingungen wei- dende Grundlage unseres Gesundheitswesens und einen
ter. Ende dieses Monats wollen die Ärzte in Sachsen und zentralen Eckpfeiler des Sozialstaates.
Sachsen-Anhalt mit einer Aktionswoche auf erneute
Honorareinbußen aufmerksam machen. Die Brisanz der (Beifall bei der PDS)
Situation in den neuen Bundesländern erwächst auch Ich denke aber, noch hat die Regierung das Heft des
daraus, dass den Ärzten in der eigenen Niederlassung Handelns in der Hand. Wenn sie die solidarische Kran-
– wie damals allen Menschen in den neuen Bundeslän- kenversicherung bewahren will – davon gehen wir nach
dern – blühende Landschaften versprochen wurden, sie wie vor aus –, dann muss sie jetzt alles tun, um das Ver-
aber heute eine ganz andere Wirklichkeit erleben. trauen der Menschen in das System zu stärken, statt zu-
Nun weiß ich, dass ich Sie für dieses Versprechen nicht zulassen, dass es zunehmend zerredet und Schritt für
verantwortlich machen kann, aber Sie haben jetzt die Ver- Schritt ausgehöhlt wird. Auf diese Weise kann auch die
antwortung. Ich möchte deshalb an die Bundesregierung notwendige Zeit gewonnen werden, um eine wirkliche
appellieren, den hier bestehenden dringenden Hand- Reform des Gesundheitswesens endlich einmal sorgfältig
lungsbedarf keinesfalls zu unterschätzen. vorzubereiten.

(B) (Beifall bei der PDS) Erforderlich sind tatsächlich neue Strukturen und eine (D)
Konsolidierung der Finanzgrundlagen, die strikt am Soli-
Viele AOKen und Ersatzkassen geraten immer mehr in darprinzip orientiert bleibt. Notwendig ist auch, zügig die
Schwierigkeiten; dies vor allem, weil der finanzielle Aus- Verfassungsgerichtsurteile zu den Krankengeldzahlungen
gleich zwischen den Kassen nicht richtig funktioniert und und zu den Beiträgen der freiwillig versicherten Rentner
Betriebskrankenkassen mit Dumping-Beiträgen junge umzusetzen. Im Interesse von Glaubwürdigkeit und Ver-
und gesunde Mitglieder abwerben. Dabei geht es letzt- trauensstärkung kann es dabei nur um Lösungen gehen, in
endlich nicht um die Existenz einer Einzelkasse, sondern deren Ergebnis alle – ich betone: alle – betroffenen Lang-
es geht um die Leistungsfähigkeit des Systems der soli- zeitkranken Rückzahlungen erhalten und die freiwillig
darischen Krankenversicherung. versicherten Rentner den pflichtversicherten gleichge-
(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!) stellt werden.
Meine Damen und Herren, es ist ein beschämender Zu- Ich danke für die Aufmerksamkeit.
stand, dass die Menschen in einem der wohlhabendsten (Beifall bei der PDS)
Länder der Welt inzwischen Woche für Woche durch neue
Horrormeldungen aus dem Gesundheitsbereich er-
schreckt werden. Das ist unverantwortlich angesichts der Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt erteile ich dem
Tatsache, dass alle Probleme im Gesundheitswesen von Kollegen Dr. Martin Pfaff, SPD-Fraktion, das Wort.
den Menschen mit hoher Sensibilität verfolgt werden.
Wenn die Gesundheitsministerin vor diesem Hinter- Dr. Martin Pfaff (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol-
grund stolz verkündet, dass die Krankenkassen in diesem leginnen und Kollegen! Traditionsgemäß bietet die Haus-
Jahr voraussichtlich ohne Defizite abschließen werden, haltswoche, vor allem die in der Mitte einer Legislaturpe-
und dies als den entscheidenden Erfolg der jüngsten riode, Anlass zum Rückblick, aber auch zum Ausblick.
Gesundheitsreform wertet, dann kann es nicht verwun- Sie ist auf ganz besondere Weise eine Nagelprobe für die
dern, wenn viele Menschen das geradezu als Hohn emp- Regierung selbst – es geht um die Frage, ob sie klare Vor-
finden. – Mehr sage ich nicht; das lasse ich weg. stellungen über die Ziele und die notwendigen Maßnah-
men in der laufenden Legislaturperiode und darüber hi-
(Heiterkeit)
naus hat –, aber natürlich auch eine Nagelprobe für die
Wir meinen, die entscheidende Frage im Gesundheits- Opposition: Wird sie alles in Bausch und Bogen verdam-
wesen ist heute nicht, ob der allgemeine Beitragssatz in men, auch Maßnahmen, die sie in der Vergangenheit sel-
der GKV 13,60 oder 13,57 Prozent beträgt. Die Haupt- ber durchgeführt hat oder im Konsens mit durchgeführt
11168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Martin Pfaff

(A) hat, wird sie Populismus pur in den Vordergrund stellen, Ohne diese Situation würde Walter Riester nicht seinen (C)
weil dies der Opposition leichter fällt, oder wird sie dort Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts leisten müssen.
Verantwortung mit tragen, wo es erforderlich ist? Ich
Zum anderen darf ich, da Sie ja besondere Experten für
muss ganz offen sagen, die Bemerkungen, die ich heute Verschiebebahnhöfe sind, daran erinnern, was eigentlich
gehört habe, stimmen mich nicht gerade optimistisch. in Ihrer Regierungszeit geschehen ist. Erstes Beispiel: die
(Beifall bei der SPD) Senkung des Rentenbeitrags von 18,7 Prozent auf
17,7 Prozent, später auf 17,5 Prozent bei gleichzeitiger
Herr Kollege Lohmann, Sie sagen hier, eine moderne Erhöhung des Beitrags der Bundesanstalt für Arbeit. Das
Gesundheitspolitik sei gefordert. Besteht eine moderne war eine Zweckentfremdung des Reservepolsters der
Gesundheitspolitik darin, dass man Rentenversicherung. Zweites Beispiel – wohlgemerkt, ich
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ komme zur GKV –: Absenkung von Reha-Leistungen in
CSU]: Tatsachen zur Kenntnis nimmt!) der Rentenversicherung, Anstieg ambulanter Leistungen
in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das haben Sie
Gesundheitsrisiken privatisiert, dass man die Zuzahlun- gemacht. Drittes Beispiel: Ausgliederung der medizini-
gen erhöht, dass man den Leistungskatalog mindert und schen Rehabilitation als Regelleistung der GKV. Das war
die Risiken den Menschen aufbürdet, Ihre Absicht und das bedeutet eine weitere Belastung der
(Zuruf von der CDU/CSU: Das macht ihr gesetzlichen Pflegeversicherung. Durch das so genannte
doch!) 2. GKV-Neuordnungsgesetz wollten Sie darüber hinaus
die häusliche Krankenpflege und die ambulante Rehabili-
die zum Teil nicht in der Lage sind, sie zu tragen? Diese tation von einer gesetzlichen Anspruchsleistung auf eine
Vorschläge haben einen langen grauen Bart. Das ist nicht satzungsgemäße Mehrleistung umsatteln. Das hätte eine
modern, auch wenn man es wieder auf neues Briefpapier Mehrbelastung der gesetzlichen Pflegeversicherung be-
kopiert; das muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen. deutet.
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- In den fünf Jahren zwischen 1992 und 1997 haben Sie
NIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Lohmann der gesetzlichen Krankenversicherung 17 Milliarden DM
[Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Aber die Leistun- entzogen, und zwar durch die Senkung der Bemessungs-
gen vorzuenthalten ist richtig?) grundlage für die Krankenversicherungsbeiträge aus
Entgeltersatzleistungen von 100 Prozent auf 80 Prozent
Zweitens sprechen Sie das Problem der Zulassung von – 4,5 Milliarden DM pro Jahr –, durch die Anhebung der
Arzneimitteln an. Es besteht ja in der Tat. Aber hier muss Bemessungsgrundlage vom Nettoentgelt bei den Ren-
doch die bescheidene Frage erlaubt sein, was Sie denn in tenversicherungsbeiträgen – 1 Milliarde DM pro Jahr –,
(B) den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan haben, um die- durch die Senkung der den Krankenkassen zustehenden (D)
sen Stau bei den Zulassungen zu beseitigen? Angemahnt Beitragseinzugsvergütungen – einen Bruchteil einer Mil-
wurde es von uns und von den europäischen Institutionen liarde DM – und durch die Senkung der Entgeltfortzah-
schon lange. Wer im Glashaus sitzt, sollte sicher nicht mit lung. Ich könnte die Liste fortsetzen.
Steinen werfen.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) CSU]: Warum haben wir dann 1997 und 1998
Sie haben die sektoralen Budgets kritisiert. Wir wis- Überschüsse gehabt?)
sen, sie haben auch negative Effekte. Aber dann frage ich Sie haben dem System 17 Milliarden DM entzogen. Ich
Sie: Warum haben Sie denn das Globalbudget verhindert, sage noch einmal: Wer im Glashaus sitzt, sollte wirklich
das eine intelligentere Form gewesen wäre nicht mit Steinen werfen.
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
CSU]: Nein, eine Katastrophe wäre das gewe- NIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Lohmann
sen!) [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: 1997 und 1998
sind Überschüsse entstanden! Wie kommt denn
und mehr Flexibilität zwischen den Sektoren erlaubt das? – Gegenruf von der SPD: Weil die Patien-
hätte? Auch hier erfordert die Glaubwürdigkeit einiges. ten zur Kasse gebeten worden sind!)
In einem Punkt haben Sie ja nicht Unrecht: Die Kür- Im Übrigen: Zu dem, was Bundeskanzler Schröder
zung der Beiträge der Arbeitslosen zur gesetzlichen über die Stärkung der Eigenverantwortung gesagt hat,
Krankenversicherung stellt einen Verschiebebahnhof stehen wir.
dar. Ich sage das in aller Deutlichkeit. Nun muss aber zum
einen auch daran erinnert werden, dass die Haushaltskon- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
solidierung, die Sparbemühungen eine logische Konse- CSU]: Nur verbal, nicht mit Tatsachen!)
quenz der Finanzsituation sind, die wir bei der Über- Mit Eigenverantwortung meinen wir aber nicht eine
nahme der Regierungsverantwortung vorfanden. Erhöhung der Zuzahlung. Wir meinen die Verantwortung
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- der Menschen für ihre Lebensführung, für das Lebens-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Lohmann umfeld, vor allem aber für die Lebensführung: das ist Ei-
[Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das kann doch genverantwortung.
kein Argument für Verschiebebahnhöfe sein, je- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
denfalls kein professorales Argument!) NIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11169
Dr. Martin Pfaff

(A) Es ist klar, dass das Ernährungs-, Bewegungs- und Ar- müssen mit aller Konsequenz des Gesetzes rechnen, so (C)
beitsverhalten einen wesentlichen Einfluss auf die Zivili- wie es in anderen Bereichen ebenso der Fall ist.
sationskrankheiten hat. Mit diesem Konzept der Eigen-
So viel nur als erste Replik. Ich sagte ja schon, dass
verantwortung können wir uns anfreunden, nicht aber mit
eine solche Haushaltswoche auch Anlass zum Rückblick
einer Anhebung der Zuzahlungen.
insgesamt geben kann.
Geschätzter, lieber Dieter Thomae: Die rot-grüne Ge- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aber auch zum
sundheitspolitik hat sicher dieses vernichtende Urteil Ausblick!)
nicht verdient. Das ist ganz klar.
Nachdem der Kollege Eckhart Lewering schon einiges
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Die Patienten sa- gesagt hat, kann ich nur wiederholen: Wir haben nach Be-
gen es!) ginn unserer Regierungsverantwortung das unselige
Der Überschuss, den ihr uns am Ende der Periode über- Krankenhausnotopfer gestrichen. Das wissen die Men-
lassen habt – es gab einen rechnerischen Überschuss –, schen draußen. Wir haben die Zuzahlungen bei Arznei-
war das Produkt einer enormen Anhebung der Zuzahlun- mitteln reduziert. Auch das ist angekommen.
gen. Die Anhebung der Zuzahlungen zur Entlastung des (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Aber die Leistun-
Budgets ist die Kunst der Primitiven. Das kann jeder ma- gen gekürzt!)
chen
Leider konnten wir es wegen der Finanzlage nicht so weit
(Beifall bei der SPD und dem BÜN- reduzieren, wie wir es gerne getan hätten.
NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Thomae
[F.D.P.]: Jetzt bekommt der Patient gar nichts! – (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Dafür verrotten
Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ die Krankenhäuser!)
CSU]: Dann schaffen Sie doch die Zuzahlun- Wir haben die Zuzahlungen für chronisch Kranke nach
gen sofort ab!) dem ersten Jahr gestrichen. Das ist doch eine sozialpoliti-
Die andere Frage ist, wie sich Budgets auswirken. Ich sche Leistung, die eigentlich auch von Ihnen Anerken-
finde es sehr eigenartig, mit welcher Begeisterung noch nung verdienen würde. Wir haben bei den Psychothera-
unter dem früheren Bundesgesundheitsminister Seehofer peuten die Zuzahlungen gestrichen, wir haben die
Budgets eingeführt wurden. Das war damals in Ordnung, Dynamisierung der Zuzahlungen ebenfalls gestrichen,
jetzt aber soll es auf einmal Teufelswerkzeug sein. Ich und den unseligen Koppelungsmechanismus, den man Ih-
frage Sie zum Arzneimittelbudget: Bedeutet Ihre Kritik an nen, verehrter Herr Kollege Seehofer – ich erinnere an den
diesem Budget, dass alle Ärztinnen und Ärzte, die mit berühmt-berüchtigten Spaziergang im Altmühltal –, zu-
(B) ihrem Budget zurechtkommen, ihren Patientinnen und schreibt, dass nämlich bei einem Steigen der Beiträge die (D)
Patienten die notwendige Versorgung verweigern? Versicherten zu höheren Zuzahlungen genötigt werden,
Bedeutet das, dass nur der geringere Anteil, der nicht zu- also sozusagen als Hebel gegenüber den Kassen benutzt
rechtkommt, die Norm ist, obwohl alle anderen offen- werden, haben wir Gott sei Dank auch gestrichen. Darauf
sichtlich damit zurechtkommen? Wenn wir die Spielre- sind wir auch ein wenig stolz. Ich glaube, die Menschen
geln kennen, wissen wir auch, dass in begründeten Fällen werden das auch zu würdigen wissen.
auch Erklärungen für Überschreitungen angebracht wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
den können. NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD:
Was die Freiberuflichkeit der Ärzte angeht: Wir wis- Haben sie schon! – Gegenrufe von der CDU/
sen alle, dass die Ärzte einen sozial gebundenen Beruf ha- CSU: Das sieht man an den Umfragen! – Die
ben. Sie werden aus Zwangsbeiträgen der Mitglieder der Sympathiewerte von Frau Fischer sind enorm!)
gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Im Übri- Wir haben den Zahnersatz, den Sie für nach 1978 Ge-
gen: Auch dieses Gebot der sozialen Gebundenheit der borene privatisiert haben, als Sachleistung wieder einge-
freien Berufe verpflichtet doch nicht die Sozialversiche- führt. Wir haben die unseligen PKV-Elemente, die in der
rungen, oder den Gesetzgeber, Überkapazitäten, die zu privaten Krankenversicherung durchaus richtig am Platz
enormen Ausgabensteigerungen führen, zu finanzieren. sind, wieder aus der gesetzlichen Krankenversicherung
Wollen Sie denn wirklich, dass die Versicherten mit ihren gestrichen. Ich fasse zusammen: Diese Bundesregierung
Zwangsbeiträgen Kapazitäten finanzieren, die nicht er- hat – gemessen an ihren Ankündigungen aus dem Wahl-
forderlich sind und über den Bedarf hinausgehen? kampf – auch in der Gesundheitspolitik Wort gehalten.
(Zurufe von CDU/CSU: Aber wo sind die (Beifall bei der SPD und dem BÜND-
denn? – Wo sind die denn konkret?) NIS 90/DIE GRÜNEN)
Das kann ja wohl nicht der Sinn der sozialen Kranken- Nehmen wir einmal das GKV-Strukturreformgesetz
versicherung sein. als Beispiel. Ich stelle mit aller Ernsthaftigkeit fest: An-
gesicht der Kritik an unserem System – die WHO hat uns
(Beifall bei der SPD und dem BÜND-
wieder einen Spiegel vorgehalten, auch wenn er etwas
NIS 90/DIE GRÜNEN)
verzerrt war – sind wir uns doch darüber einig, dass es ei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, nige Defizite in unserem System gibt, zum Beispiel die
wir wollen keine Hetzjagd auf Ärzte. Ich finde, das wäre mangelnde Verzahnung. Die Antwort auf dieses Problem
nicht richtig. Aber diejenigen, die das Gesetz brechen, sind Maßnahmen in Richtung integrierter Versorgung. Ein
11170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Martin Pfaff

(A) weiteres Problem sind falsche Anreize im Vergütungssys- uns angesichts des Bedarfs, der nicht gedeckt ist, nicht (C)
tem. Die Antwort sind beispielsweise durchgehend leis- voll befriedigen. Aber auch hier gibt es einige Missver-
tungsbezogene Vergütungen und Fallpauschalen im Kran- ständnisse.
kenhaus, die Stärkung der Prävention, die Sie geschwächt Das große Problem sehen wir nicht in der Entwicklung
haben, Steigerung der Transparenz, Qualitätssicherung, der Durchschnittsbeiträge, sondern in der Entwicklung
über die schon viel gesprochen wurde, sowie Stärkung der der Beitragssätze nach Kassenarten, und zwar beson-
Patientenrechte und der Rolle der Hausärzte. ders in der neuesten Entwicklung nach 1999. Wir haben
Wir können auch darauf stolz sein, dass wir die unse- gemeinsam in Lahnstein den Risikostrukturausgleich be-
lige Sozialmauer, die im Gesundheitswesen durch die schlossen. Wir haben auch gemeinsam die Ausweitung
Mitte Deutschlands ging, endlich zum Abriss freigegeben der Wahlfreiheit beschlossen. Wir haben uns auch ge-
haben. Die Einführung eines gesamtdeutschen Risiko- meinsam gefreut – ich hoffe, jedenfalls die meisten von
strukturausgleichs war ein wichtiger Punkt. uns –, dass die intendierten Wirkungen auch erzielt wur-
den. Aber vor allem seit 1999 ist ein ganz besonderes Pro-
(Beifall bei der SPD und dem BÜND- blem entstanden. Das betrifft auch schon das Jahr 1998,
NIS 90/DIE GRÜNEN) aber besonders danach hat sich das Problem bis zum heu-
Zur finanziellen Lage der gesetzlichen Krankenver- tigen September vergrößert.
sicherung hat die Frau Bundesministerin einiges gesagt. Deshalb hat der heutige Termin auch eine gewisse sym-
Ich sage es ganz deutlich: Hier gibt es Licht und Schatten. bolische Bedeutung. Es ist ganz offensichtlich, dass hier
Es gibt Licht, weil die Finanzsituation der gesetzlichen ein erhebliches Problem auf uns zukommt. Schon im Jahr
Krankenkassen am Ende des Jahres wie im vergangenen 1999 haben rund eine Million Menschen die Kranken-
Jahr wahrscheinlich wieder ausgeglichen sein wird. Es kasse gewechselt, wahrscheinlich sind es in diesem Jahr
gibt auch etwas Licht, weil jetzt die Einkommen aus ge- noch etwas mehr. Dass sie die Kassen wechseln wollen
ringfügiger Beschäftigung in der gesetzlichen Kranken- oder können, ist aber nicht das Problem. Das war als In-
kasse berücksichtigt werden. Hier lagen Sie, meine liebe strument des Wettbewerbs sogar intendiert.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, deutlich
daneben. Wenn der Umfang der geringfügigen Beschäfti- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
gung wirklich so drastisch zurückgegangen wäre, wie Sie [CDU/CSU]: Das meine ich auch!)
prognostiziert hatten, dann würden die Einnahmen in die- Das Problem besteht darin, dass es überwiegend 25-
sem Jahr nicht bei 2 Milliarden DM und im nächsten Jahr bis 40-Jährige sind, die ihre Kasse wechseln. Wenn man
sogar über 2 Milliarden DM liegen. Sie wären dann deut- sich die Auswertung einer großen Kassenart anschaut,
lich geringer ausgefallen. Hieran zeigt sich wiederum, dann zeigt sich, dass von den Abgewanderten weniger als
(B) dass unser Schritt richtig war. 1 Prozent in den letzten drei Jahren überhaupt einen (D)
Krankenhausaufenthalt hatte. Das heißt, die Wechsler
Die Beitragssätze in Ost und West haben sich bis auf
sind jung, allein stehend, Gutverdiener und vor allem ge-
drei Zehntel Beitragssatzpunkte – wohlgemerkt: im sund; das betrifft also vor allem eine bestimmte Alters-
Durchschnitt – angenähert. Sie werden für einige Zeit sta- gruppe. Das heißt im Klartext: Den großen Kassen, den
bil sein. AOKen und den Ersatzkassen werden Ressourcen entzo-
Es gibt aber auch Schatten. Das möchte ich in aller gen, die dem gesamten System fehlen.
Deutlichkeit sagen. Die Urteile des Bundesverfassungs- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
gerichts bedeuten, dass die Ausgaben um 3 Milliarden bis CSU]: Also wollen Sie den Wechsel untersa-
6,5 Milliarden DM steigen werden. Die Einmalzahlungen gen?)
beim Krankengeld und die Angleichung der Krankenkas-
senbeiträge für freiwillig versicherte Rentner bedeuten für Diejenigen, die breitere Schultern haben, entziehen sich
die Krankenkassen Mindereinnahmen in Höhe von unge- der Solidarpflicht. Das ist doch nicht etwas, das nur eine
fähr 500 Millionen DM. Wir wissen, dass dies finanzielle Hälfte des Hauses interessieren kann. Ich sagte es schon:
Risiken in sich birgt. Auch der Verschiebebahnhof, der Wir haben das gemeinsam beschlossen.
durch die Sparzwänge notwendig wurde, ist eine weitere Im Wesentlichen geht es um circa 15 Betriebskranken-
Belastung. Dazu habe ich schon einiges gesagt. kassen, die den Löwenanteil dieser Wechsler aufnehmen.
Diese haben in der Regel kein Servicenetz, kein Dienst-
Dennoch meinen wir, dass die Finanzlage kurzfristig leistungsangebot in der Fläche. Sie sind in der Regel nicht
überschaubar ist, auch wenn mittelfristig erhebliche Risi- gleichermaßen für alle, sondern hauptsächlich für die Jun-
ken bestehen und sich große Gewitterwolken zusammen- gen und Gesunden zu erreichen, die zum Beispiel im In-
brauen. Darauf werde ich noch eingehen. In den Progno- ternet surfen und die günstigeren Beitragssätze finden
sen wird davon ausgegangen, dass die gesetzliche können. Das kann ja keine Lösung für alle sein. Es kann
Pflegeversicherung zwar übergangsweise Defizite auf- nicht der Zweck dieses Wettbewerbs sein, dass sich die
weisen wird, dass aber in relativ wenigen Jahren die Bud- „guten Risiken“ der Solidarpflicht entziehen; nicht nur,
gets wieder ausgeglichen werden können bzw. in der weil die Ressourcen entzogen werden, sondern weil dies
zweiten Hälfte des Jahrzehnts sogar Überschüsse entste- in der Tendenz dazu führen muss, dass es zwei Arten von
hen werden, sobald die Situation der Demenzkranken ver- Kassen geben wird: Kassen mit geringen Beitragssätzen
bessert ist, was unabdingbar ist. Niemals wird die gesetz- für Junge und Gesunde und Kassen für Alte, Kranke, Fa-
lich erforderliche Mindestreserve unterschritten. Das milien mit Kindern und Menschen mit besonderen
muss man auch einmal deutlich sagen. Ich weiß, das kann gesundheitlichen Risiken oder mit geringeren Einkom-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11171
Dr. Martin Pfaff

(A) men. Ich frage: Wie lange kann eine solche Entwicklung Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort der (C)
andauern, bis es wirklich zum Crash kommt? Hierfür tra- Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.
gen wir alle zusammen eine besondere Verantwortung.
Wir haben es zusammen beschlossen. Ich meine, wir kön-
nen nicht nur zusehen, wie die Entsolidarisierung in die- Aribert Wolf (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
ser Legislaturperiode ein Ausmaß erreicht, das erhebliche sehr verehrten Damen und Herren! Nach zwei Jahren
Konsequenzen nach sich zieht. rot-grüner Regierungspolitik lautet die nüchterne Dia-
gnose in der Gesundheitspolitik: Das deutsche
Kurzfristig müssen wir also der Risikoselektion im Gesundheitswesen ist krank. Ärzte fürchten um ihr Ein-
Kassenwettbewerb etwas entgegensetzen, ohne aber die kommen und verschreiben Patienten wichtige Arzneimit-
Konstruktion dieses Mechanismus grundsätzlich in Frage tel nicht mehr. Zu leiden haben insbesondere die chro-
zu stellen. Wir müssen darüber hinaus mehr Transparenz nisch Kranken. Weil das Geld nicht reicht, müssen zum
schaffen. Beispiel Rheumapatienten um die dringend notwendige
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]) [CDU/ Krankengymnastik betteln. Immer mehr Menschen sind
CSU]: Machen Sie einen Vorschlag!) von der Gesundheitspolitik dieser rot-grünen Bundesre-
gierung bitter enttäuscht.
Wir müssen das Krankenhausfinanzierungsgesetz und die
Bundespflegesatzverordnung an die Situation nach dem (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das kann man
Jahre 2003 anpassen. Wir müssen den Fremdkas- wohl sagen!)
senausgleich regeln. Mittelfristig – das sage ich in gebo-
Frau Fischer, Sie haben ganze Arbeit geleistet. Sie ha-
tener Kürze – müssen wir Rationalisierungsreserven dort
ben sich zu einem echten Negativposten der Regierung
mobilisieren, wo sie zu mobilisieren sind. Das ist eine
Schröder ausgewachsen. Mit Ihrer rückwärts ausgerichte-
sehr schwierige Aufgabe. Wenn das nicht ausreicht, dann
kommt sicherlich die Diskussion, ob nicht die Verbreite- ten Gesundheitspolitik brechen Sie bei Umfragen alle
rung der Bemessungsgrundlage über neue Einkommens- Minusrekorde. Während man in der Rentenpolitik neue
arten oder die Anhebung der Beitragsbemessungs- Wege geht und aus der Überalterung unserer Gesellschaft
und/oder Versicherungspflichtgrenze aufs Tapet muss. endlich Konsequenzen ziehen will, leugnen Sie noch im-
mer die auch für die Krankenversicherung bestehenden
Wenn wir schon über Verbreiterung und Erhöhung der Herausforderungen. Sie jagen lieber mit Rezepten von
Einkommensgrenzen für diejenigen, die ihren Solidarbei- vorgestern vermeintlichen Wirtschaftlichkeitsreserven
trag leisten sollen, reden, dann müssen wir auch über den nach; aber vor den wirklichen Problemen drücken Sie
Arbeitgeberbeitrag reden; sich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu dem, was die Bürger davon halten, darf ich aus ei-
(B) DIE GRÜNEN) nem offenen Brief der Deutschen Vereinigung Morbus (D)
denn auch dort gibt es Ungerechtigkeiten zwischen denen, Bechterew – Morbus Bechterew, das ist Rheuma an der
die vielen Menschen Brot und Arbeit geben, und den an- Wirbelsäule; genau die davon betroffenen chronisch
deren, die eben mehr Maschinen einsetzen. Kranken sind die Opfer Ihrer Politik – vom 2. August die-
ses Jahres zitieren:
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Selbst bei der für Morbus-Bechterew-Patienten
notwendigen Verordnung der kostengünstigen und
Diese Diskussion muss erlaubt sein. Sie muss aber in die-
sehr effektiven Morbus-Bechterew-Gymnastik in
ser Legislaturperiode beginnen und wird dann hoffentlich
Gruppen stellen unsere Mitpatienten und wir in der
in der nächsten Legislaturperiode Früchte tragen.
Verordnungspraxis eine wachsend starke Beschrän-
kung fest. ... Wir sehen ein, dass durch die Mittelbe-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, denken grenzung nicht alle Wünsche erfüllt werden können.
Sie bitte an die Redezeit! Damit aber einen spürbar schlimmeren Verlauf von
chronischen Krankheiten hinzunehmen, ist unsozial
Dr. Martin Pfaff (SPD): Ich komme zum Schluss. und unmenschlich.

Die Dinge, die Sie anbieten – Pflicht- und Wahlleis- Diese Sätze sprechen für sich.
tungen, Reduzierung des Risikostrukturausgleichs, Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
schaffung der Budgets – sind keine Alternative für uns.
Wir halten folgende drei Folgerungen fest: Erstens: Auch Ich sage ganz ehrlich: Mich berührt das.
in Zukunft muss gelten, gleiche Gesundheitschancen für Aber noch mehr berührt mich – ich dachte, dass das ei-
alle – unabhängig vom Einkommen – zu gewährleisten. gentlich auch Sozialdemokraten auf die Palme treiben
Zweitens: Mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit muss müsste –, dass die Situation für die Menschen draußen nur
auch in Zukunft unser Ziel sein. Drittens und letztens: So- dann besser ist, wenn man privat versichert oder Sozial-
lidarisch organisierte und vor allem finanzierte Gesund- hilfeempfänger ist; denn für deren Behandlung unterlie-
heitssysteme sind sowohl kosteneffektiver als auch ver- gen die Doctores nicht Ihren strengen Spargesetzen. Wo
teilungsgerechter. Wir müssen ja wirklich bekloppt sein, bleibt denn da die soziale Gerechtigkeit? Die viel be-
wenn wir diesen Weg verlassen wollen. schworene Mehrklassenmedizin ist doch längst Wirk-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lichkeit in den bundesdeutschen Wartezimmern. Das ist
DIE GRÜNEN) die traurige Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik.
11172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- bzw. gute Frau, ich kann Ihnen das nicht mehr verordnen, (C)
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner? denn mein Budget ist erschöpft. Da helfen weder Härte-
fallregelungen noch eigene Entscheidungen der Bürger.
Vielmehr werden diese Entscheidungen von anderen ge-
Aribert Wolf (CDU/CSU): Ja, gerne.
troffen. Deswegen ist das Ansehen, das Ihre Gesund-
heitspolitik in der Öffentlichkeit genießt, auch so niedrig.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr.
(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden
[CDU/CSU] – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da
Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Wolf, in dem hat er Recht!)
Papier für eine sozial gerechte Gesundheitsreform, dessen
Mich beunruhigt, dass mit dieser rot-grünen Gesund-
Mitunterzeichner Sie zusammen mit den Kollegen Zöller
heitspolitik ein dramatischer Ansehensverlust der gesetz-
und Seehofer sind, reden Sie von Wahlleistungen und
lichen Krankenversicherung einhergeht. Vor der Wahl ha-
führen Beispiele an, wonach letzten Endes, so heißt es da,
ben uns die rot-grünen Regierungsparteien noch
ein Kernbeitragssatz von zwölf Beitragssatzpunkten er-
vollmundig mehr soziale Gerechtigkeit versprochen.
zielt werden könnte. Nach dem heutigen Stand wäre das
Doch dieses rot-grüne Wahlversprechen ist wie eine Sei-
eine Senkung um 1,6 Beitragssatzpunkte. Das macht rund
fenblase zerplatzt.
29 Milliarden DM aus. Zusammengerechnet ist das mehr,
als die gesamten Hilfsmittel – Fahrtkosten, Kuren, Heil- Das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
mittel und häusliche Krankenpflege – ausmachen. Kön-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Bremen?)
nen Sie den Patientinnen und Patienten erklären, was Sie
ihnen alles wegstreichen wollen, um den Beitragssatz zu wertete im April 2000 die Antworten von 4 000 repräsen-
erreichen, der in Ihrem Papier für eine sozial gerechte Ge- tativen Versicherten der Gmünder Ersatzkasse aus. Von
sundheitsreform steht? den Befragten waren im vierten Quartal 1999 58 Prozent
in Behandlung. 27 Prozent dieser Menschen wurde die
Verschreibung bisher verordneter Arznei- oder Heilmittel
Aribert Wolf (CDU/CSU): Herr Kirschner, Ihre Frage
verweigert bzw. auf das Jahr 2000 verschoben. Bei
zeigt eigentlich, wie fantasielos die Regierungsparteien
68 Prozent der Ablehnungen von Verordnungen gaben die
an die Gesundheitspolitik herangehen. Wir denken
Ärzte als Begründung an, sie müssten wegen der Budge-
schlicht und ergreifend nicht daran, ganze Leistungsfelder
tierung die Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen.
auszugrenzen.
In 24 Prozent der Fälle gaben die Versicherten, denen Me-
(Klaus Kirschner [SPD]: Aber 29 Milliar- dikamente verweigert wurden, an, sie hätten spürbare ge-
(B) den DM zu streichen!) sundheitliche Nachteile gehabt. Meine Damen und Her- (D)
ren, eine Ministerin, die sich angesichts solcher Probleme
– Habe ich jetzt das Wort oder wollen Sie weiterreden?
noch ihrer Erfolge rühmen will, taugt allenfalls für eine
Darauf können wir uns gerne verständigen; wir müssen
Comedyserie im Fernsehen, nicht aber für das Bundes-
nur wissen, wie.
kabinett.
(Klaus Kirschner [SPD]: Das ist eine ganze
Ihre rot-grüne Politik beschädigt nicht nur das Ver-
Menge Holz, wo Sie rangehen! Das müssen Sie
trauen in unser Gesundheitswesen, sie demotiviert auch
überlegen!)
die Leistungserbringer und schadet den Patienten. Auch
Wir wollen nicht ganze Leistungsfelder ausgrenzen. die Ärzte sind zu Recht sauer. Denn Erfolg lohnt sich
Wir wollen beispielsweise ermöglichen, dass Menschen nicht für sie. Wenn die Arzneimittelausgaben insgesamt
entscheiden können, ob sie, zum Beispiel in den betref- überschritten werden, wird der Sparsame genauso bestraft
fenden Bereichen, eine Selbstbeteiligung wählen. Das ist wie der Vielverordner. Ist das etwa gerecht?
ein überlegenswertes Modell.
Der Präsident der Bundesärztekammer kritisiert die
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Oh, hätten Sie ge- Zustände in den deutschen Krankenhäusern. Mit dem
schwiegen!) Kostendruck steigt auch die Arbeitsbelastung des Klinik-
personals. Immer mehr Patienten werden von übermüde-
Wir können ferner darüber nachdenken, ob wir quer-
ten Medizinern behandelt. Dass das Risiko für Leib und
beet, über alle Leistungsbereiche hinweg, vom Kranken-
Leben, das davon ausgeht, und die Gefahr, durch Be-
haus über ambulante Leistungen bis hin zur Kran-
handlungsfehler Schäden zu erleiden, steigen, kann sich
kengymnastik etc., einfach zulassen, dass der Einzelne
ja jeder ausmalen. Dieses Risiko gehen Sie bewusst ein,
entscheiden kann, ob er die entsprechenden Leistungen
ganz zu schweigen von der Menschlichkeit, die in den
selbst finanziert oder ob er sich dagegen versichern will.
Krankenhäusern immer öfter auf der Strecke bleibt. Für
Das bedeutet für diejenigen, die jetzt betroffen sind, kei-
die grüne Gesundheitsministerin ist dies alles kein Pro-
nerlei Mehrbelastung, sondern mehr Freiheiten, da der
blem. Statt für Patienten – das haben wir ja auch heute
Bürger selbst entscheidet, welche Leistungen er für nötig
wieder gehört – interessiert sie sich vorwiegend für Zah-
und welche er für unnötig hält.
len. Das ist beschämend.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aber auch bei den Zahlen steht es nicht zum Besten.
Bei Ihrer Politik ist es so, dass einem der Arzt heute, 2,5 Milliarden DM beträgt das aktuelle Defizit der Kas-
wenn man in eine Arztpraxis geht, sagt: Guter Mann sen. Ab nächstem Jahr fehlen den Krankenversicherungen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11173
Aribert Wolf

(A) dank rot-grüner Verschiebebahnhöfe weitere 1,2 Milliar- – Ja, das ist neben der Kappe; das finde ich auch. Aber (C)
den DM. Denn der Staat zahlt dann für seine Arbeitslosen warum machen Sie es dann?
einfach weniger Beiträge. Dies ist ein Finanzloch, das der
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine Narrenkappe hat
kleine Mann, das Otto Normalverbraucher mit seinen Bei-
er auf!)
trägen wieder auszugleichen hat.
Auch in den anderen Bereichen hat man sich im BMG
Keines der grundlegenden Finanzierungsprobleme
wenig hervorgetan. In der Pflegeversicherung fehlen
ist gelöst. Ich erinnere nur daran, was Sie von Rot-Grün
400 Millionen DM. Mit der Genehmigung der Richtlinien
der Krankenversicherung mutwillig an Einnahmen entzo-
gen oder an zusätzlichen Zahlungsverpflichtungen aufge- zur häuslichen Krankenpflege verschlechtern Sie die
bürdet haben: Durch die Reduzierung der Zuzahlungen häusliche Versorgung von Pflegebedürftigen; auch da
ergibt sich ein Einnahmeausfall von 1 Milliarde DM jähr- Pfusch ohne Ende.
lich, durch das Aussetzen des Krankenhausnotopfers ein Weil Sie gerne hören, was wir möchten, möchte ich Ih-
Einnahmeausfall von 700 Millionen DM jährlich. Durch nen in kurzen Zügen unser Konzept vortragen. Wir wol-
die Ausweitung von Leistungen, zum Beispiel in Form len nicht Ihre alten Trampelpfade weiter auslatschen, son-
von Soziotherapie und Selbsthilfegruppen, entstehen dern wir wollen mutig neue Konzepte angehen und neue
Mehrausgaben von 1 Milliarde DM jährlich, durch die Ideen in die Tat umsetzen.
Ausnahmeregelung vom Budget bei den Krankenhäusern
Mehrausgaben von 2 Milliarden DM jährlich und durch (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun ist aber genug
die Kürzung bei Renten in den Jahren 2000 bzw. 2001 hier! Die Zeit ist um!)
Mindereinnahmen von 600 Millionen DM bzw. 1,4 Milli- Wir meinen, der Versicherte muss stärker in den Blick-
arden DM. punkt rücken. Er braucht mehr Rechte, mehr Transparenz
Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammen- und mehr Wahlmöglichkeiten.
rechnen, ergibt sich allein für das Jahr 2000 eine Mehrbe- Warum eigentlich soll ein gesetzlich Versicherter nicht
lastung der gesetzlichen Krankenversicherungen in Höhe wissen dürfen, was seine Behandlung beim Arzt gekostet
von 5,3 Milliarden DM und für das Jahr 2001 von 7,5 Mil- hat? Warum soll er nicht erfahren, welcher Arzt gute Be-
liarden DM. Wir werden nächstes Jahr sehen, Frau handlungsqualität und welcher schlechte abliefert? Wir
Fischer, wer Recht hat. Mitte nächsten Jahres – das pro- wollen, dass die Bürger aus verschiedenen Versorgungs-
gnostiziere ich Ihnen – werden die Beiträge saftig steigen. angeboten das für sie passende auswählen können. Die
Dann werden Sie sinkende Behandlungsqualität und Menschen sollen die Wahlmöglichkeiten haben; nicht Po-
höhere Kosten verantworten müssen. Das sind die trauri- litiker sollen für sie entscheiden, was richtig und was
gen Brandzeichen, die Sie dem deutschen Gesundheits- falsch ist.
(B) wesen aufdrücken. (D)
Wir wollen einen solidarischen Kernbereich, der si-
Aber auch ein anderes Feld haben Sie ganz toll be- cherstellt, dass keiner in jungen Jahren, in denen er we-
ackert. Das Gutachten zum RSA, das noch Horst Seehofer nige Leistungen braucht, zu viele Leistungen abwählt.
in Auftrag gegeben hat, kassieren Sie erst ein, um es dann Zum Schutz der Kranken muss die gesetzliche Kranken-
mit einer einjährigen Verzögerung versicherung auch die Risikopatienten versichern und
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zweijährige diejenigen aufnehmen, die schon heute Leistungen aus
Verzögerung!) der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen.
doch wieder auf den Weg zu bringen. Auch das ist ein Für die Leistungserbringer wollen wir mehr Wettbe-
trauriger Meilenstein Ihrer rückwärts gewandten Politik. werb und vor allem für die Selbstverwaltung mehr Ge-
Damit ist wertvolle Zeit verstrichen, um eine fundierte staltungsspielräume und weniger Budgetierung.
Grundlage für die Organisationsreform der gesetzlichen Unser Gesundheitswesen braucht diese neuen Ideen
Krankenversicherungen auf den Weg zu bringen. und diesen neuen Mut und nicht die rot-grünen Pannen bei
Aber es kommt noch pikanter. Die Ministerin sagt öf- der Gesetzgebung zur Gesundheitsreform, Auftritte im
fentlich, sie sei für einen Ausschluss von kinderlosen Ehe- Zirkus Roncalli oder das Fabulieren über Patientenrechte,
paaren aus der beitragsfreien Mitversicherung, um Selbsthilfegruppen und ärztliche Ethik. All dies soll ei-
dann, ein paar Wochen später, mit dem Entwurf des gentlich nur verdecken, dass die grüne Ministerin mit
Lebenspartnerschaftsgesetzes neue Personengruppen in ihren Rezepten am Ende ist. Offensichtlich hat sie nicht
die beitragsfreie Mitversicherung aufzunehmen. Statt mehr die politische Kraft, die brennenden Probleme
Ehepaaren sollen bei Frau Fischer also künftig nur noch gesetzgeberisch zu lösen. Eigentlich müsste jetzt der
schwule und lesbische Partner beitragsfrei in der Kran- Kanzler selbst rasch die Notoperation einleiten. Denn Ge-
kenkasse mitversichert sein. sundheit ist ein hohes Gut und kein Versuchskaninchen
für eine überforderte Ministerin.
(Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Ich bedanke mich.
Die Bundesregierung hat offensichtlich auch in dieser (Beifall bei der CDU/CSU)
Frage keine vernünftige Linie.
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Völlig neben der Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kollegin
Kappe!) Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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(A) Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Augenblicklich werden Gespräche über Honorie- (C)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und rungssysteme geführt. Ich kann nicht dem Argument fol-
Kollegen! Nach diesem Redebeitrag – man weiß schon gen, dass das Mindestdurchschnittseinkommen vor Steu-
vorher, wer zu dem Thema spricht – bin ich mir nicht si- ern für niedergelassene Ärzte bei 250 000 DM liegen
cher: Soll man froh sein über diesen Beitrag oder eher fra-
muss und sie zugleich Leistungseinschränkungen in der
gen, ob es für diese Themen nicht einen Qualifizierteren
hätte geben können? Größenordnung von 25 Prozent durchführen wollen. Das
kann ich nicht gutheißen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]:
Als Sie angefangen haben, habe ich einen Moment ge-
stutzt und mich gefragt: Möchte der Kollege Aribert Wolf Gehen Sie mal in die neuen Bundesländer!
jetzt tatsächlich eine Renaissance des Wahl- und Regel- 250 000 DM sind doch ein Witz!)
leistungsprinzips, das insbesondere für chronisch Kranke Herr Dr. Thomae, Sie wissen um die Tatsache, dass die
eine Leistungsausgrenzung bedeutet? gesamtdeutsche Grundlohnsummenanbindung und die
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Transfers vom Westen in den Osten Leistungen sind, die
Möchte er genau das, weshalb die Vorgängerregierung ab- Sie während Ihrer Regierungszeit nicht erbracht haben.
gewählt worden ist, wieder einführen? Die niedergelassenen Ärzte in den alten Bundesländern
erbringen solidarische Leistungen an ihre Kollegen in den
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] neuen Bundesländern. Um die Zeit der Wende und danach
[CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)
waren dort noch ein sehr profundes Wissen und eine fach-
Dann würde ich sagen: Machen Sie weiter so in der De- lich sehr hohe Kompetenz vorhanden hinsichtlich einer
batte, dann haben wir gar nichts zu befürchten. integrierten Versorgung. Diese Kompetenz und die ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprechende Struktur hat ihnen die alte Bundesregierung
und bei der SPD) genommen, als sie darauf gesetzt hat, dass alle in die
Natürlich ist die Haushaltsdebatte immer der Zeit- Zwangsniederlassung kommen.
punkt, zu dem man Bilanz zieht, nach vorne schaut – völ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
lig richtig – und sich – gerade beim Gesundheitshaushalt bei der SPD und der PDS)
– am wenigsten mit Zahlen des Haushalts selber aufhält.
Aber es ist sicherlich richtig, dass die Leistung, die wir Es war strukturell ein eklatanter Fehler, den wir direkt
gleich zu Beginn erbracht haben – das Prinzip der Sach- nach der Vereinigung auf das Heftigste kritisiert haben.
(B) leistung unter der Bedingung der Beitragssatzstabilität, (D)
die ebenfalls erreicht worden ist, wieder zur vollen Gül- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
tigkeit zu bringen –, eine politische Leistung ist, die auch CSU]: Jetzt kommen Sie mit diesen alten Ka-
Sie nicht schmälern können und die die Bevölkerung sehr mellen!)
wohl zu honorieren weiß.
Jetzt liegt die Zukunft in der integrierten Versorgung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn vorhin in den Debattenbeiträgen die Beispiele
und bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüden- Schweiz und Niederlande genannt worden sind, dann
scheid] [CDU/CSU]: Ja? Wo denn? In welchen frage ich: Wofür sind diese Länder gelobt worden? Sie
Umfragen?)
sind dafür gelobt worden, dass sie entsprechende Be-
Wir wissen – ich gestatte mir zu sagen: auch Sie wis- handlungsleitlinien haben, sich an Qualitätssicherung und
sen –, dass sektorale Budgets nicht das sind, was sich Qualitätsstandards orientieren und eine integrierte Ver-
zukunftsorientierte Gesundheitspolitikerinnen vorstellen. sorgung durchführen.
Wir alle wissen, dass die Diskussion unter den Leistungs-
trägern und Leistungserbringern darüber sehr weit voran- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Wie hoch ist denn
geschritten ist, wie man Behandlungsleitlinien und Orien- die integrierte Versorgung in der Schweiz? Wis-
tierung in die Versorgung hineinbringen kann und wie sen Sie das überhaupt?)
Qualität und Transparenz in den Honorierungssystemen
abgebildet werden können. Ein Schritt in diese Richtung Wer versucht nun, dies auf den Weg zu bringen? Das ist
sind die weltweit nirgendwo sonst in dieser Umfänglich- ein Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetzes.
keit vollzogenen Fallpauschalen im Krankenhaus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie wissen das. Aber die Bevölkerung kann es in die- und bei der SPD)
ser Klarheit nicht wissen, weil die Sachlage kompliziert
ist. Aber Ihnen als verantwortlichen Politikerinnen und Sie können sagen, dass in der jetzigen Form eine Gefahr
Politikern ist bekannt, dass die Kassenärztliche Vereini- darin besteht, dass es interessengeleitet zu Einkaufsmo-
gung als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Verant- dellen kommen könnte, die niemand von uns will. Lassen
wortung, aber auch die Pflicht hat, ihr Honorierungssys- Sie uns über solche Fragen sprechen.
tem der Zukunftsorientierung anzupassen.
(Aribert Wolf [CDU/CSU]: Bei Ihnen sind die Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, gestat-
anderen schuld!) ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolf? – Bitte
Die Politik kann nur sehr schlecht dort hineinregieren. sehr, Herr Kollege.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11175

(A) Aribert Wolf (CDU/CSU): Meine Frage, Frau von psychisch Kranken ist mit diesem Leistungsanspruch (C)
Knoche: Stimmen Sie mir zu, dass zum Beispiel die vollzogen worden!
Schweiz ein System von Kern- und Wahlleistungen hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und deshalb so erfolgreich arbeitet? Das ist genau das und bei der SPD – Wolfgang Zöller
Konzept, das die Union vorschlägt. [CDU/CSU]: Bei der Rente habt ihr es auch ver-
sprochen!)
Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Wie viel Antidiskriminierung und Gleichstellung von dro-
weiß, dass das Schweizer System in seiner gesamten genkranken Menschen ist im Rahmen der Heroinsubstitu-
Struktur ein anderes ist als unseres. Das weiß ich sehr tion vollzogen worden!
wohl. Ich weiß aber auch, dass unser System nur dann sta-
bil und eine Grundvoraussetzung für solche Innovationen (Aribert Wolf [CDU/CSU]: Der Anstieg der
ist, wenn das solidarische Sachleistungsprinzip bestehen Zahl der Drogentoten spricht Bände!)
bleibt. Wie viel Zustimmung aus der Bevölkerung haben wir
dafür, dass wir die durch die neuen Biotechnologien ent-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei der
standenen medizin-ethischen Fragen auf der festen Basis
PDS – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!) der Grundwerte dieser Gesellschaft aufgeworfen haben,
Nur darüber kann man sicherstellen, dass ein für mich uns deren Beantwortung annehmen und darüber gesund-
bürgerrechtlich sehr hohes Ziel gehalten werden kann, heitspolitisch verantwortungsvollst diskutieren! Dies ist
nämlich dass alle Versicherten an dem medizinischen eine sehr wichtige Debatte.
Fortschritt partizipieren können, ohne zusätzlich selbst in (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Müssen wir
die eigene Tasche greifen zu müssen. Das halte ich für dafür das Sachleistungsprinzip haben?)
eine außerordentlich wertvolle Grundvoraussetzung, die
wir haben. – Frau Schwaetzer, ich will Ihnen dazu Folgendes ant-
worten: Wenn wir das Sachleistungsprinzip, das für
Wir haben, wie Sie wissen, in der gesetzlichen Kran- mich ein Ausdruck von Kultur, des Sozialen ist,
kenversicherung keinerlei steuerliche Anteile. Alle Vor- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid]
schläge, die die Bevölkerung in der Tat irritieren – Verän- [CDU/CSU]: Für Sie!)
derung der Bemessungsgrundlage, Wahl- und Regel-
leistungen usw. –, sind unverantwortlich, weil sie einen nicht hätten, dann hätten wir bei allen ethischen Fragen,
wichtigen Aspekt außen vor lassen –, ich bin sehr dank- die mit den versprochenen Veränderungen zu tun haben,
bar, Herr Dr. Pfaff, dass Sie dies angesprochen haben –: sofort das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Das wis-
(B) sen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Nichts (D)
Zum Solidarprinzip und zu den Prinzipien der sozialen ist wichtiger – auch auf diesem medizin-ethischen Gebiet
Marktwirtschaft gehört es, dass die Unternehmen den – als der Punkt, dass wir in der GKV ein solidarisches, sta-
gleichen Anteil an der Sicherstellung der Finanzierungs- biles Finanzierungssystem bewahren, verteidigen und
grundlagen des Sozialsystems leisten. weiterentwickeln. Das soll an dieser Stelle eine sehr wich-
tige Botschaft an die Bevölkerung sein.
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten
der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS – Dr. Irmgard
In diesem Zusammenhang gibt es viele Ideen und Vor- Schwaetzer [F.D.P.]: Zulasten zukünftiger Me-
schläge, die vor der Entscheidung, ob man die Pflichtver- diziner!)
sicherungsgrenze anhebt oder nicht, berücksichtigt wer-
den müssen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege
Eine wichtige Botschaft ist in den letzten zwei Jahren Ulf Fink das Wort.
gesendet worden und wird für den Rest der Legislatur und
für künftige Wahlversprechen gelten: Unter Rot-Grün Ulf Fink (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr
wird es in der gesetzlichen Krankenversicherung nie wie- verehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesund-
der ein Antasten der paritätischen Finanzierung geben, heitspolitik sieht so schlecht aus und muss scheitern, weil
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Sie einen grundlegenden Zusammenhang missachten.
CSU]: Sehen wir einmal, was Ihr Kanzler dazu Dieser grundlegende Zusammenhang lautet: Es gibt in der
Welt kein Gesundheitswesen, das mit begrenzten Mitteln
sagt!)
unbegrenzte Leistungen versprechen kann.
weil wir das als Zukunftsgarantie und als sichere Basis für (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Das
die Weiterentwicklung all dessen, wovon ich gesprochen teuerste Europas!)
habe, brauchen.
Sie können die Einkommen der im Gesundheitsbereich
Ich will eines hinzufügen: Es steht Ihnen zu, die Re- Beschäftigten senken, Sie können Kapazitäten verringern
gierung nicht zu loben. Aber wichtig finde ich doch, dass usw. Sie kommen aber immer wieder an den Punkt, dass
die neuen Leistungen im Bereich der Soziotherapie mehr- Sie sich vor die Frage gestellt sehen, ob Sie mit begrenz-
fach nur fiskalisch-kritisch betrachtet worden sind. Wel- ten Mitteln wirklich unbegrenzte Leistungen versprechen
cher Zuwachs an Antidiskriminierung und Gleichstellung können.
11176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Ulf Fink

(A) Sie tun es. Die Budgetierung ist nichts anderes, als im Gesundheitswesen geben müsste. Damit habe er aber (C)
dass Sie den Eindruck erwecken, auf der einen Seite blie- nicht so etwas Böses wie Zuzahlungen gemeint, sondern
ben die Beitragssätze stabil und auf der anderen Seite eher Leibesübungen und Ähnliches. Lieber Professor
könne alles, aber auch alles – selbst das Kleinste – finan- Pfaff, das hat er nicht gemeint. Ich habe nämlich vorlie-
ziert werden. Das geht aber nicht. Die Konsequenzen ha- gen, was er gesagt hat. Er sagt ausdrücklich:
ben die Ärzteschaft, die Physiotherapeuten und viele an-
Ein Gesundheitswesen ohne finanzielle Selbstbetei-
dere zu tragen. Das wurde bereits dargelegt; die Kollegen
ligung der Versicherten ist nicht mehr vorstellbar.
Thomae und Wolf haben entsprechende Beispiele ge-
nannt. Das hat er ganz offensichtlich gemeint.
Ist es denn wirklich in Ordnung, wenn heute wichtige Es ist aber auch merkwürdig. Auf der einen Seite sagen
Leistungen nicht mehr gewährt werden und sich die Be- alle zu Recht: Mehr Eigenvorsorge im Alter muss sein. Sie
treffenden dagegen nicht wehren können? sagen, es sei eine wunderbare Errungenschaft, die Sie
dem deutschen Volke präsentieren. Beim Gesundheits-
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Überhaupt nicht!) wesen aber sagen Sie: Nein, hier nicht, hier ist es des Teu-
Ist es wirklich sozialer, wenn bestimmte Leistungen, ohne fels, grausam und furchtbar. – Irgendetwas ist hier nicht
dass der Betreffende das vorher erkennen kann, später ganz stimmig.
nicht gewährt werden? Wäre es nicht viel sozialer, wenn Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Liebe
Sie den Leuten vorher genau sagten, was geht und was Frau Bundesgesundheitsministerin, wir haben über die
nicht geht? Zukunft des Gesundheitswesens viele Debatten geführt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie haben dabei im Frühsommer dieses Jahres einen Vor-
schlag gemacht und gesagt, dass eine Finanzierung, die
Wäre es nicht viel sozialer, wenn Sie ihnen sagten: „Ihr nur am Erwerbseinkommen anknüpfe, falsch sei. Statt-
müsst vielleicht ein paar Mark dazuzahlen, dafür be- dessen müsse man – das sei gerechter – auch die sonsti-
kommt ihr das aber auch“? Bei der Selbstbeteiligung, wie gen Einkünfte heranziehen. Sie haben dafür eine gute Be-
wir sie eingeführt haben, gibt es ausdrücklich Härtefälle, gründung gegeben.
es gibt die Überforderungsklausel. Die sozial Schwachen
werden so geschützt. In Ihrem System der Budgetierung Nun hatten Sie verhältnismäßig schnell Gelegenheit,
aber gehen die Ärmsten am schlechtesten aus, denn die diesen Grundsatz in die Praxis umzusetzen, und zwar auf-
Reichen können sich die Zuzahlung leisten. grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Es gibt
nämlich schon einige in der Krankenversicherung, die
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht nur von ihrem Erwerbseinkommen, sondern auch
von ihren sonstigen Einkünften Beiträge zahlen. Das sind
(B) Langer Rede kurzer Sinn: Die Budgetierung – das sage (D)
ich in vollem Bewusstsein – ist eine besonders infame Art die freiwillig versicherten Rentner. Auf die pflichtver-
und Weise, die Schwachen in unserer Gesellschaft von sicherten Rentner trifft das nicht zu. Man hätte meinen
können, dass Sie in Verfolgung Ihrer guten Überlegungen
den wichtigen Leistungen auszuschließen.
vom Frühsommer gesagt hätten: Jetzt wollen wir die an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deren wie die freiwillig versicherten Rentner behandeln.
Die Wahrheit aber ist: Sie sind ins Bundeskanzleramt ge-
Ich sehe das besonders im Osten. Im Osten Deutsch-
gangen und haben gesagt, alle sollten nur noch von ihrem
lands ist die Morbidität, also die Krankheitshäufigkeit, Erwerbseinkommen Beiträge bezahlen, andere Einkünfte
größer als in Westdeutschland. Man sieht das bei den Hy- würden nicht mehr herangezogen. Ob das eine nach vorne
pertonien, bei den Stoffwechselerkrankungen und an der weisende Politik ist, kann ich nicht sagen. Ich komme da-
Zahl der Herzinfarkte. Die Zahl all dieser Erkrankungen mit offen gestanden auch schwer zurecht; von Verschie-
ist deutlich höher als im Westen. Nun müsste man eigent- bebahnhöfen ist vorhin ja schon gesprochen worden.
lich meinen, dass – gemessen an dieser Tatsache – der
Ressourceneinsatz in Ostdeutschland höher ist als im So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen: Bei
Westen. Bezug der Arbeitslosenhilfe sind zunächst die Beiträge
an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und
(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Nichts!) die Krankenversicherung auf der Grundlage von 80 Pro-
Die Wahrheit ist aber genau umgekehrt: Für die ambu- zent des früheren Bruttoentgelts gezahlt worden. Dann ist
lante Versorgung pro Versicherten in Ostdeutschland wird der Anteil reduziert worden. Die Rentenversicherung be-
nicht mehr Geld als im Westen eingesetzt, sondern 22 Pro- kommt das nicht mehr, die Pflegeversicherung bekommt
zent weniger. Das bedeutet: Ein Arzt im Osten Deutsch- das nicht mehr. Dadurch fehlen der Pflegeversicherung
lands muss fünfzehnmal mehr tun als ein Arzt im Westen, über 400 Millionen DM. Die Beiträge an die Krankenver-
bekommt dafür aber 13 Prozent weniger Honorar als ein sicherung aber wurden nach wie vor auf Grundlage von
Arzt im Westen. Das schreiben Sie mit Ihrer Budgetierung 80 Prozent des früheren Bruttoentgelts gezahlt. Man hätte
in alle Ewigkeit fort. Das kann doch nicht richtig sein. Das denken können, dass dies hier wie bei der Renten- und bei
ist einfach falsch. der Pflegeversicherung gemacht wird – ich finde das
falsch; es wäre aber logisch gewesen –, aber nein, es soll
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ein Mittelweg gefunden werden. Da frage ich mich: Was
ist das für eine Logik?
Kollege Pfaff hat gesagt, Bundeskanzler Gerhard
Schröder habe in der „Neuen Gesellschaft Frankfurter (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Von wem
Hefte“ davon gesprochen, dass es Selbstbeteiligungen fordern Sie Logik ein?)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11177
Ulf Fink

(A) Zum Thema Pflegeversicherung. Es wird von der Bun- Jetzt wird immerzu davon geredet, demenzkranke (C)
desregierung und von der Regierungskoalition dargetan, Menschen über die Pflegeversicherung wenigstens ein
dass es wegen der Überalterung der Gesellschaft dra- bisschen abzusichern, genau genommen ihre Angehöri-
matische Probleme bei der Alterssicherung gebe, die gen. Wie aber wollen Sie das machen, Frau Ministerin,
gelöst werden müssen. Bei der Pflegeversicherung, die wenn Sie nicht einmal ansatzweise den rein somatischen
durch die Überalterung der Bevölkerung mindestens Pflegebegriff kritisieren? Demente Menschen brauchen
ebenso betroffen ist, weil mit dem Alter die Pflegebedürf- doch nicht somatische Hilfe, sie brauchen einfach jeman-
tigkeit steigt – das ist jedem bekannt –, brauche man aber den, der da ist. Das ist ein Zeitfaktor, nichts sonst.
keine Beitragsatzsteigerung; auch Professor Pfaff hat das
heute gesagt. Ich frage: Kommt es bald zu Beitragsüber- Die Pflegerichtlinien zwingen beispielsweise zu Fol-
schüssen? Wie soll das gehen? So etwas kann doch nie- gendem: Die Abrechnung für die Begleitung außer Haus
mand glauben. darf zwei- bis dreimal im Monat vorgenommen werden,
und zwar nur für ganz bestimmte Dinge, nämlich für so
(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ genannte Verrichtungen, bei denen der Betreffende bzw.
CSU]: Das weiß selbst der Professor nicht! – die Betreffende unbedingt persönlich anwesend sein
Gegenruf des Abg. Dr. Martin Pfaff [SPD]: Ab-
muss: für Arztbesuche und Bankgeschäfte. Wie aber wol-
warten!)
len Sie dementen Menschen und ihren Angehörigen über
Seit 1992 – 1996 ist die Pflegeversicherung eingeführt die Pflegeversicherung helfen, wenn sie zwei- bis dreimal
worden; die Berechnungsbasis ist aber 1992 – gab es pro Monat eine Stunde außer Haus dürfen? Allen Ernstes:
keine Anpassungen bei den Leistungen der Pflegever Das ist nicht lächerlich, das ist traurig. Dies muss man ein-
sicherung. Das bedeutet, dass die Menschen der Pflege- mal sagen.
stufe 3 scharenweise in die Sozialhilfe fallen. Das wollten
wir doch gerade verhindern. Deswegen müssen Sie die Ich möchte in der knappen Zeit gern noch etwas zu der
Leistungen anpassen. Pflegesituation in Heimen sagen. Jeder weiß, dass ich
die nicht besonders mag, dass ich vielmehr dafür wäre, die
Zu den Demenzkranken. Ich habe gehört, dass dafür
ambulante Pflege wesentlich auszuweiten, indem tatsäch-
500 Millionen DM veranschlagt waren. Nach eigenen
lich Zeitbudgets bezahlt werden. Aber es gibt Menschen,
Schätzungen sollen es aber im nächsten Jahr nur 200 Mil-
die in Pflegeheimen leben. Ich will Ihnen jetzt einmal sa-
lionen DM und im darauffolgenden nur 300 Millionen
DM sein. Dazu möchte ich nur sagen: Eine nach vorne ge- gen, wie frei die Träger da in ihren Verhandlungen sind.
richtete Gesundheits- und Pflegepolitik müsste wirklich In einer mittleren Stadt in Sachsen, Bischofswerda,
anders aussehen als die Politik, die Sie betreiben. zahlt ein Pflegeheim für die Reparatur einer Automatiktür (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 60 DM pro Stunde an den Handwerker. Für den Kunden-
dienst in der Küchentechnik zum Beispiel in eben diesem
Pflegeheim zahlt man 114 DM pro Stunde an den Elektri-
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege ker. Die Pflegestunde wird mit 48 DM bezahlt – wohlge-
Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion das Wort. merkt, bei 50 Prozent Fachkräften und 50 Prozent Hilfs-
kräften. Wie soll, bitte schön, eine menschenwürdige,
Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Präsidentin! Meine lieben ganzheitliche Pflege – assistierende Begleitung, unter-
Kolleginnen und Kollegen! Auch die wenigen außerpar- stützende Betreuung – stattfinden, wenn nicht die perso-
lamentarischen Zuhörinnen und Zuhörer begrüße ich nale Anwesenheit von Menschen gestärkt wird? Das trifft
ganz herzlich. Wenn ich die heutige Debatte Revue natürlich für die GKV genauso zu. Wenn von Überforde-
passieren lasse, so habe ich den Eindruck, dass es sich hier rungen in Krankenhäusern die Rede ist, ist das genau das
um ein Ministerium der GKV handelt; von der Pflegever- Gleiche. Es müssen mehr Menschen in das System, nicht
sicherung wurde nur marginal geredet. Ich denke aber, nur mehr Geld. Das ist das Problem.
dass auch die Behandlung dieses Themas eine wichtige
Aufgabe Ihres Ressorts ist. Dementsprechend hätte dieses (Zuruf von der CDU/CSU)
Thema seinen gebührenden Platz finden müssen. Das war –Über Geld dann auch die Menschen, einverstanden.
leider nicht der Fall. Ich werde das mit meiner drei-
minütigen Rede sicherlich nicht umreißen können. Aber Aber es kann nicht sein, dass eine Pflegestunde das
vielleicht können wir zumindest daran erinnern, dass auch Heim 48 DM kostet, dasselbe Heim aber für den Türauto-
dieses Thema wichtig ist. matikservice 60 DM und für den Küchentechnikservice
114 DM zahlen muss. Ich kann Ihnen auch noch die Preise
Ich will hier ja auch nicht das ganze Pflegeversiche- für die Services einer Aufzug- oder einer Computerfirma
rungsgesetz in Bausch und Bogen kritisieren, sondern ein- nennen: Sie liegen alle oberhalb dessen, was im Rahmen
fach sagen: Wenn Sie, Frau Ministerin, sich schon darauf der Pflegeversicherung bezahlt wird. Das kann nicht sein,
eingelassen haben, zu sagen, Sie wollten das System der meine Damen und Herren.
Pflegeversicherung nicht mehr ändern – ich bin der Mei-
nung, es wäre immer noch möglich und auch nötig –, dann Ich bitte Sie: Machen Sie eine Pflegeabsicherung, die
muss man auch einmal sagen, was in diesem Rahmen die Menschen und die personale, das heißt: zeitliche Zu-
überhaupt möglich ist. wendung in den Mittelpunkt stellt und nicht irgendwelche
11178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

Dr. Ilja Seifert

(A) Verrichtungen mit einem rein somatischen Begriff. Dann Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen (C)
werden wir vorankommen und dann können wir vielleicht nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Ta-
sogar innerhalb des Pflegeversicherungssystems eine ver- gesordnung.
nünftige Verbesserung erreichen, wenn Sie schon nicht
das System ändern wollen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, tages ein auf morgen, Mittwoch, den 13. September 2000,
dass wir alle gut nach Hause kommen. 9 Uhr. Ich wünsche allen noch einen schönen
Abend.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das waren dann auch,


Die Sitzung ist geschlossen.
wie es sich gehört, fünf Minuten. Ich danke dem Kollegen
für seinen Beitrag. (Schluss: 22.14 Uhr)

Berichtigung
114. Sitzung, Seite IV; Rednerliste zu Zusatztagesordnungspunkt 7,
statt „Dr. Heinrich Fink (PDS)“ ist „Ulf Fink (CDU/CSU)“ zu lesen.

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11179

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO


des Abgeordneten Peter Letzgus (CDU/CSU) zur
entschuldigt bis Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes
Abgeordnete(r) einschließlich zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Ver-
antwortung und Zukunft“ (Drucksachen 14/3206
und 14/3459) (114. Sitzung, Tagesordnungspunkt
Altmaier, Peter CDU/CSU 12.09.2000 7 a)
Behrendt, Wolfgang SPD 12.09.2000* Die NS-Herrschaft hat vielen Menschen großes Leid
zugefügt. Zwangsarbeiter wurden deportiert, inhaftiert
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 12.09.2000 und ausgebeutet.
Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht betei-
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 12.09.2000* ligt waren, tragen eine hohe Verantwortung.
Klaus
Ihre Bereitschaft zur finanziellen Wiedergutmachung
Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 12.09.2000 begrüße ich.
DIE GRÜNEN Da in den Verhandlungen jedoch keine optimale
Rechtssicherheit erzielt werden konnte, gehe ich davon
Elser, Marga SPD 12.09.2000 aus, dass weitere Forderungen an Deutschland und deut-
sche Unternehmen gestellt werden. Der Zwangsarbeiter-
Frick, Gisela F.D.P. 12.09.2000 fonds wird kein finanzieller Schlussstrich werden.
Ich bin nicht damit einverstanden, dass einige Opfer-
Hauer, Nina SPD 12.09.2000
gruppen, an die bisher bereits Entschädigungsleistungen
Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 12.09.2000 gezahlt wurden, gegenüber anderen Opfergruppen privi-
legiert werden, obwohl Letztere einem gleich schweren
DIE GRÜNEN Schicksal ausgesetzt waren.
(B) Die Diskussion um Zwangsarbeit hat auch viele Deut- (D)
Hörster, Joachim CDU/CSU 12.09.2000
sche, die ähnliche Schicksale zu erdulden hatten (darunter
Hoffmann (Chemnitz), SPD 12.09.2000 auch meine Mutter), in ihrem Gerechtigkeitssinn getrof-
Jelena fen.
Lösungen zur Wiedergutmachung für diese Menschen
Dr. Hornhues, CDU/CSU 12.09.2000* sind weder in der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
Karl-Heinz und Zukunft“ noch an anderer Stelle vorgesehen.
Ich stimme dem Gesetzentwurf nicht zu.
Marquardt, Angela PDS 12.09.2000

Dr. Meyer (Ulm), SPD 12.09.2000 Anlage 3


Jürgen
Neudruck einer zu Protokoll gegebenen Rede
Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 12.09.2000
zur Beratung des Antrags: Vererblichkeit von Bo-
Rauber, Helmut CDU/CSU 12.09.2000 denreformeigentum (105. Sitzung, Seite 9916 D)

Rupprecht, Marlene SPD 12.09.2000 Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir ha-
ben den Antrag der PDS-Fraktion zum Thema „Ver-
Scheffler, Siegfried SPD 12.09.2000 erblichkeit von Bodenreformeigentum“, Drucksache
14/1063, bereits vor einem Jahr, am 24. Juni 1999, an die-
Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 12.09.2000 ser Stelle behandelt. Gegenstand der heutigen Debatte ist
DIE GRÜNEN die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Angele-
genheiten der neuen Länder vom 16. Dezember 1999 zu
Zapf, Uta SPD 12.09.2000 dieser Thematik.
Die mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungs-
gesetz 1992 in das EGBGB eingefügten Regelungen des
Art. 233, §§ 11 bis 16 waren und sind die notwendigen
* für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Konsequenzen aus unregelmäßiger Rechtsanwendung in
11180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) der ehemaligen DDR. Die Quelle der Ungerechtigkeit grundstück festgestellt, weil kein zuteilungsfähiger Erbe (C)
müssen Sie dort verorten, werte Kolleginnen und Kollegen vorhanden war. In 0,1 Prozent der Fälle hat das Land auf-
von der PDS, und für diesen Zustand tragen Sie ein Stück grund persönlicher Härten der Betroffenen auf seine An-
Mitverantwortung. sprüche verzichtet.
Der Bundesgesetzgeber hat sich 1992 aus gutem Grund Ich bin der Auffassung, dass sich an diesen Zahlen
für die so genannte Nachzeichnungsregelung entschieden. zeigt, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle die An-
Nur so konnte eine Gleichbehandlung aller Erben von Bo- wendung der bestehenden Gesetze zu Klarheit und einer
denreformland erreicht werden. abschließenden Regelung der Eigentumsfragen geführt
hat. Damit ist zehn Jahre nach der deutschen Einheit die
Es ging dabei nicht nur darum, eine formale Rege- rechtmäßige Zuordnung der Bodenreformgrundstücke
lungslücke zu schließen; es ging vielmehr darum, eine weitestgehend abgeschlossen.
Gleichbehandlung zu erreichen, und zwar zwischen den-
jenigen Neubauern-Erben, die bereits zu DDR-Zeiten ihr Ich glaube, dass wir zehn Jahre nach der deutschen Ein-
Bodenreformgrundstück verloren hatten, weil die zustän- heit auf einem guten Weg sind, dieses schwierige Kapitel
digen Behörden die Besitzwechselvorschriften konse- des Einigungsprozesses abzuschließen. Klar ist aber auch
quent angewandt haben, und denjenigen Personen, bei – und das möchte ich der Ehrlichkeit halber sagen –, dass
denen die Behörden aufgrund der praktischen Bedeu- vollständige Gerechtigkeit auf diesem Gebiet nicht zu er-
tungslosigkeit des Privateigentums an Grund und Boden reichen ist.
eine konsequente Löschung im Grundbuch vernachlässigt
haben.
Anlage 4
Es geht also im Kern um die Frage: Welche Lösung hat
der bundesdeutsche Gesetzgeber, welche Lösung hat die- Technisch bedingter Neudruck eines Redebei-
ses Parlament gewählt, um ein inkonsistentes und will- trages (115. Sitzung, Seite 11022 C)
kürliches Handeln der DDR-Behörden im Nachhinein
unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu
korrigieren? Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die
Unter diesen Vorbedingungen war die Nachzeich- Debatte über die europäische Grundrechte-Charta mit
nungsregelung der einzig gangbare Weg. Man kann die zwei Vorbemerkungen beginnen.
Nachzeichnungsregelung mit der einfachen Formel ver-
In der letzten Sitzung des Konvents in Brüssel hat das
anschaulichen: Kein Neubauern-Erbe soll dadurch be-
Präsidium mitgeteilt, dass Roman Herzog den Vorsitz des
(B) nachteiligt sein, dass die DDR-Behörden die Besitzwech- Konvents demnächst wieder übernehmen wird. (D)
selvorschriften konsequent umgesetzt haben, bzw.
umgekehrt: Kein Neubauer-Erbe soll dadurch einen Vor- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
teil gewinnen, dass die DDR-Behörden die Besitzwech- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)
selvorschriften nachlässig angewendet haben. Es ging hier Wir alle wissen, dass er wegen der schweren Erkrankung
also darum, den durch die Willkür der DDR-Behörden seiner Frau den Vorsitz im Konvent niedergelegt hatte.
entstandenen Zustand nach dem Gleichbehandlungs- Die Rückkehr von Roman Herzog ist vom Konvent und,
grundsatz aufzulösen. Dies war nur über die Nachzeich- wie ich sehe, auch von Ihnen sehr positiv aufgenommen
nungsregelung möglich, mit der das Kriterium der Zutei- worden. Roman Herzog gelingt es, mit seiner Kompetenz
lungsfähigkeit in das bundesdeutsche Recht eingefügt und seinem Ansehen, auch widerstreitende Gruppen im
wurde. Konvent zusammenzuführen und das Projekt der Grund-
Der Bundesgerichtshof hat in seinen Urteilen vom De- rechte-Charta zum Erfolg zu führen.
zember 1998 zwar anerkannt, dass eine grundsätzliche Meine zweite Vorbemerkung gilt der Rede von Präsi-
Vererbbarkeit von Bodenreformland in der DDR gegeben dent Chirac, die er im Deutschen Bundestag gehalten hat.
war – aber er ist nicht so weit gegangen, daraus einen Än- Ich fand es sehr erfreulich, dass Präsident Chirac deutlich
derungsbedarf beim geltenden Recht abzuleiten. Vielmehr gemacht hat, dass es auch bei der Grundrechte-Charta da-
gilt nach wie vor die Definition der Zuteilungsfähigkeit, rum geht, mehr Demokratie in Europa zu wagen. Dies
die der BGH mit seinem Urteil vom 18. Juli 1997 gegeben spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Kon-
hat. Danach ist zuteilungsfähig im Wesentlichen nur der- vents wider, denn drei Viertel der Mitglieder dieses Gre-
jenige Erbe, der am 15. März 1990 in der Landwirtschaft miums sind Parlamentarier. Es ist ein Signal für mehr De-
tätig war. mokratie, wenn eine Weichenstellung in Richtung einer
Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, und die Länder Konkretisierung der Werteordnung in Europa durch ein
haben mit unterschiedlichem Nachdruck die Überprüfung solches Gremium vorgenommen wird. Deshalb sollten wir
der Grundbücher betrieben, um das Eigentum an Boden- alle dazu beitragen, das Projekt zum Erfolg zu führen.
reformgrundstücken zu klären. Das Land Mecklenburg- Weil wir in früheren Debatten und auch in der Debatte
Vorpommern, in dem auch die meisten Bodenreform- im Mai in diesem Hause ein hohes Maß an Konsens fest-
grundstücke liegen, ist hierin am weitesten fortgeschritten: gestellt hatten, habe ich seinerzeit vorgeschlagen, nach-
97 Prozent der Fälle sind bislang überprüft worden. In dem die Anträge der Koalitionsfraktionen einerseits und
7 Prozent der Fälle wurde ein Anspruch des Landes als so der Oppositionsfraktionen andererseits vorgelegt worden
genannter „Besserberechtigter“ an einem Bodenreform- waren, diese zu einer gemeinsamen Entschließung zu-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000 11181

(A) sammenzufassen. Die fast zweimonatigen Bemühungen gen des Konvents in Brüssel. Ich finde, man sollte die Aus- (C)
nach der letzten Debatte schienen erfolgreich zu sein. Lei- einandersetzung, die auf nationaler Ebene zu führen ist,
der ist es heute doch nicht möglich, eine gemeinsame Ent- vor allem dann nicht nach Brüssel verlagern, wenn man sie
schließung zu verabschieden. auf nationaler Ebene nicht gewinnen kann; denn für eine
Grundgesetzänderung gibt es keine Mehrheit.
Bevor ich dazu eine Bemerkung mache, möchte ich
aber feststellen, dass alle Fraktionen in diesem Parlament Außerdem werden wir in die Grundrechte-Charta auf-
in zahlreichen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Wir nehmen, dass das Niveau weiter gehender nationaler
sind uns darin einig, dass die Arbeiten des Konvents zur Grundrechte durch die Charta nicht abgesenkt werden
Erarbeitung der Grundrechte-Charta weiter unterstützt darf. Diese Forderung wurde von Delegierten verschiede-
werden. Wir sind uns einig darin, dass die Bedeutung der ner Länder erhoben. Die Finnen sind zum Beispiel in
Grundrechte-Charta auch in der deutschen Öffentlichkeit Sorge, dass das Niveau ihrer hochmodernen Verfassung
erkannt und gewürdigt und darüber eine breite gesell- durch die Grundrechte-Charta gesenkt werden könnte.
schaftliche Debatte geführt werden sollte. Dies darf nicht geschehen. Deshalb sind wir der Auffas-
Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, für sung – mit den eben skizzierten Folgen für das deutsche
den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Asylrecht –, dass durch die Grundrechte-Charta der hohe
Menschenrechtskonvention einzutreten. Wir sind uns ei- Grund-rechtsstandard der nationalen Verfassungen in kei-
nig darin, dass der Konvent fortschrittliche und für die eu- nem Fall gesenkt werden darf. Darauf haben wir uns be-
ropäische Integration zentrale Grundrechte formulieren reits verständigt. Warum also streiten wir im Zusammen-
sollte, wozu insbesondere ein Diskriminierungsverbot, ein hang mit der Charta dann über diesen Punkt?
aktives Gleichstellungsgebot sowie kulturelle Grundrech- Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in den nächsten
te gehören. Wir sind uns auch einig darin, dass die Auf- zwei Wochen im Konvent sehr intensiv beschäftigen wer-
nahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unter den, sind die sozialen Grundrechte. Wir hatten uns ei-
Berücksichtigung der europäischen Sozialcharta und der gentlich darauf verständigt, klarzustellen: Es ist an der
Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Ar- Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und
beitnehmer in die Charta unterstützt werden sollte. Und: Universalität der Menschenrechte auch dadurch zu doku-
Ich denke, wir sind uns einig darüber, dass sich die Bun- mentieren, dass – dem Auftrag von Köln entsprechend –
desregierung im Europäischen Rat für die Rechtsverbind- die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in
lichkeit der Grundrechte-Charta mit individueller Kla- die Charta finden. Warum streiten wir also darüber? Im
gemöglichkeit einsetzen sollte. Konvent besteht Einigkeit, dass durch die Grundrechte-
Nun werden manche mit Recht fragen: Warum legen Charta die Kompetenzen der EU-Organe nicht erweitert
(B) die Fraktionen des Deutschen Bundestages angesichts ei- werden dürfen. (D)
ner derart weitreichenden inhaltlichen Übereinstimmung Ich bin der Auffassung, wir sollten gemeinsam überle-
nicht eine gemeinsame Entschließung vor? Dabei kann gen, ob die bevorstehende Debatte im Konvent in Brüssel
es natürlich nicht darum gehen, so etwas wie einen „Ein- nicht auch von uns unterstützt werden sollte. Es ist offen-
heitsbrei“ herzustellen oder abstrakte Formulierungen zu sichtlich, dass es Streit über die sozialen Grundrechte gibt.
Papier zu bringen, die letztlich wenig aussagen. Die Sub- Wer wollte das in Abrede stellen? Es ist auch offensicht-
stanz dessen, was uns verbindet, ist so groß, dass die Fra- lich, dass einige Länder großen Wert darauf legen, eine
ge, warum es nicht zu einer gemeinsamen Entschließung Vielzahl sozialer Grundrechte zu formulieren. Wir sind da-
gekommen ist, nur schwer beantwortet werden kann. gegen der Auffassung – ich habe das eben als gemeinsa-
Die uns Anfang dieser Woche von der CDU/CSU-Frak- me Auffassung dargestellt –, dass man nur Grundrechte
tion mitgeteilte Ablehnung kam für viele von uns völlig formulieren sollte, die auch einklagbar sind. Deshalb wer-
überraschend. Ich habe natürlich versucht, rational nach- be ich um Unterstützung für den Versuch – den ich ge-
zuvollziehen, worauf sich diese Ablehnung gründet, und meinsam mit dem Delegierten der französischen Regie-
festzustellen, ob sie vielleicht nur ein Mittel ist, Profil auf rung, Herrn Braibant, unternommen habe –, in dieser
einem ungeeigneten Feld der Auseinandersetzung zu ge- Frage einen Mittelweg zu finden. Roman Herzog hat, als
winnen. Vonseiten der CDU/CSU wurde – es hat ja keinen die Debatten im Konvent sehr streitig ausgetragen wurden,
Sinn, darum herumzureden – bezüglich des Grundrechts die Mitglieder des Konvents ausdrücklich aufgefordert,
auf Asyl auf angeblich unüberbrückbare Meinungs- einen solchen Mittelweg zu suchen.
unterschiede hingewiesen. Dies verwundert uns, da wir Dieser sollte auf drei Säulen beruhen. In die Präambel
uns ursprünglich auch mit der CDU/CSU darauf verstän- der Charta und in die Überschrift des Kapitels über die so-
digt hatten, uns dem Bekenntnis des Europäischen Rates zialen Grundrechte sollte – als erste Säule – der Grundsatz
von Tampere, dem künftigen europäischen Asylrecht die der Solidarität festgeschrieben werden. Als zweite Säule
Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und all- sollten in acht Artikeln, gruppiert um die Elemente Arbeit,
umfassend zugrunde zu legen, anzuschließen. Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die Respek-
Ich bin der Auffassung, dass die auf nationaler Ebene tierung und der Schutz sozialer Grundrechte in die Charta
sicherlich notwendige Auseinandersetzung um das von aufgenommen werden. In der dritten Säule sollte deutlich
der CDU/CSU-Fraktion lediglich gewünschte institutio- gemacht werden: Es wird auch künftig Konventionen mit
nelle Asylrecht und das von uns weiterhin für richtig er- neuen – auch sozialen – Grundrechten geben. Diese sind,
achtete einklagbare individuelle Grundrecht auf Asyl auch wenn alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, Grundlage
geführt werden muss. Aber heute geht es um die Beratun- der Auslegung und Anwendung der Charta.
11182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 12. September 2000

(A) Um deutlich zu machen, dass wir uns eigentlich ver- (Beifall im ganzen Hause) (C)
ständigen könnten, will ich einmal die drei Sätze vorlesen,
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genau dies hatten
die Herr Braibant und ich in Bezug auf das Recht auf Ar-
wir für unsere gemeinsame Entschließung vorgesehen.
beit vorgeschlagen haben. Ich wüsste gerne, ob irgendje-
mand in diesem Raum ist, der der folgenden Formulierung (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Schreiben
nicht zustimmen kann: Sie das in die Charta und wir stimmen zu!)
Jeder hat das Recht zu arbeiten und das Recht auf Mir ist klar, dass Sie in Ihrer Fraktion dafür gekämpft
Schutz seines Arbeitsplatzes. Insbesondere hat jeder haben, sich aber letztlich gegenüber Ihren CSU-Kollegen
das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszu- nicht durchsetzen konnten. Ich bitte Sie dringend, dieses
üben, sowie das Recht auf freien Zugang zu unent- Problem zu lösen und nicht zuzulassen, dass das, was Frau
geltlicher Arbeitsvermittlung. Merkel zu diesem Thema gesagt und durchgesetzt hat,
Jeder hat Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter von Herrn Stoiber wieder aus dem Gefecht gezogen wird.
oder missbräuchlicher Entlassung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eckart von
Wer kann gegen ein so formuliertes soziales Grundrecht Klaeden [CDU/CSU]: Wir stehen ja gar nicht im
auf Arbeit sein? Gefecht! Nicht so martialisch!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich habe sehr genau beobachtet, dass Sie in unserer letz-
DIE GRÜNEN) ten Debatte am 18. Mai irritiert reagierten, als der CSU-
Kollege Dr. Müller als ausdrückliche Bedingung für die
Ich habe gehört, dass die Debatte in der CDU/CSU- Ratifizierung der Charta bezeichnete:
Fraktion letztlich deshalb zur Ablehnung einer gemeinsa-
men Entschließung geführt hat, weil man sich über die Wir wollen keine Kompetenzausweitung, sondern er-
Aufnahme eines kleinen Satzes nicht einig geworden ist. warten Kompetenzbeschränkungen.
Wir haben im Entwurf der gemeinsamen Entschließung Wie kann man so etwas von der Grundrechte-Charta, die
folgenden Satz vorgesehen: sich mit der Kompetenzfrage bekanntlich nicht zu befas-
Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlechtli- sen hat, überhaupt erwarten? Kommen Sie zu einer ver-
che Paare nicht benachteiligt werden dürfen. nünftigen Einigung mit den CSU-Kollegen in Ihrer Frak-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tion! Wenn das geschehen ist, dann legen wir – das ist
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) meine Überzeugung – wieder gemeinsame Entschließun-
gen vor. Die Grundlage dafür ist breit genug.
Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
(B) CDU/CSU-Fraktion, gegen diesen Satz? Mir ist schon Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Es geht bei der (D)
klar, dass ich eigentlich diejenigen Ihrer Kollegen anspre- Grundrechte-Charta um die Identität der Europäer, die ih-
chen müsste, die nicht da sind. re Werteordnung, an die sie gebunden sind, deutlich ma-
chen sollten. Genauso wichtig ist: Es geht um die Kon-
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Herr trolle von Machtausübung durch die EU-Organe in
Altmaier wird das gleich in vernichtender Deut- Brüssel.
lichkeit klarmachen!)
(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]:
Bezogen auf den von Ihnen kritisierten Satz darf ich Ih- Das ist der Kern!)
nen in Erinnerung rufen, was Sie vor kurzem auf Ihrem
Parteitag in Essen zu diesem Thema beschlossen haben Dass wir dafür gemeinsam eintreten, sollte künftig wieder
und auch von Ihrer Vorsitzenden, Frau Merkel, sehr un- deutlicher werden, als es heute durch Mehrheitsentschei-
terstützt worden ist. Ich zitiere aus Ihrem Parteitagsbe- dungen über einen Antrag der Koalition deutlich werden
schluss: kann. Überlegen Sie bitte, ob Taktik nicht Übertaktieren
bedeutet, wenn man die Taktik über die Sache stellt.
Wir respektieren die Entscheidung von Menschen,
die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Le- Ich werde mich jedenfalls durch die Abstimmungen,
bensentwurf zu verwirklichen suchen. die heute leider nicht im Konsens erfolgen werden, nicht
davon abhalten lassen, auch mit den Europapolitikern der
(Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!) Oppositionsfraktionen, die für eine gemeinsame Ent-
Wir anerkennen, dass auch in solchen Beziehungen schließung gekämpft haben und denen es in erster Linie
Werte gelebt werden können, die für unsere Gesell- um die Sache und nicht um parteitaktischen Vorteil geht,
schaft grundlegend sind. Dies gilt für nicht eheliche weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Partnerschaften zwischen Frauen und Männern; dies
Ich danke Ihnen.
gilt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen jede (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Form von Diskriminierung. DIE GRÜNEN)
Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44
ISSN 0722-7980

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