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Plenarprotokoll 17/112

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Inhalt:

Begrüßung der anwesenden amerikanischen Tagesordnungspunkt 25:


Stipendiatinnen und Stipendiaten des Par-
lamentarischen Patenschafts-Programms . 12815 A Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin
Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeord-
Abwicklung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 12815 B neter und der Fraktion DIE LINKE: Rekom-
munalisierung beschleunigen – Öffentlich-
Private Partnerschaften stoppen
Tagesordnungspunkt 24: (Drucksache 17/5776) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12835 D

Abgabe einer Regierungserklärung durch den Harald Wolf, Senator (Berlin) . . . . . . . . . . . . 12836 A
Bundesminister der Verteidigung: zur Neu- Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12837 B
ausrichtung der Bundeswehr . . . . . . . . . . . 12815 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12837 D
BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12815 D
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12818 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12840 A
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12820 D Harald Wolf, Senator (Berlin) . . . . . . . . . . . . 12840 B

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12822 A Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12841 B

Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12823 C Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12843 A

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12844 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12824 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12846 A
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . 12825 D
Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12847 C
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . 12827 A
Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12848 D
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 12828 B
Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12849 B
Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12829 D
Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12851 B
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12830 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . 12852 A

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12853 B


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12832 A Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12855 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12833 C Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12856 B
Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12834 C Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . 12857 D
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Tagesordnungspunkt 28: Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion


der FDP: Klima- und Umweltschutz im und
a) Antrag der Abgeordneten Gero Storjohann, durch den Sport stärken – Für eine verant-
Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, wortungsvolle Sportentwicklung in Deutsch-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion land
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (Drucksache 17/5779) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12876 C
Oliver Luksic, Patrick Döring, Werner
Simmling, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Die Verkehrssicher-
Tagesordnungspunkt 29:
heit in Deutschland weiter verbessern
(Drucksache 17/5530) . . . . . . . . . . . . . . . . 12859 A Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von
Notz, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae,
b) Antrag der Abgeordneten Kirsten Lühmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ELENA – Mel-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: depflicht aufheben und Daten der Beschäf-
Sicher durch den Straßenverkehr – Für
tigten löschen
eine ambitionierte Verkehrssicherheits- (Drucksache 17/5527) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12876 D
arbeit in Deutschland
(Drucksache 17/5772) . . . . . . . . . . . . . . . . 12859 B Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12877 A
Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12859 C
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12878 A
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12860 D
Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12878 D
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12863 A
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12880 C
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12864 B
Dr. Konstantin von Notz (BÜND-
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . 12881 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12865 C
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12882 D
Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12866 C

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12883 D


Tagesordnungspunkt 27:
Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Anlage 1
Christine Lambrecht, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12885 A
Korruption im Gesundheitswesen wirksam
bekämpfen
(Drucksache 17/3685) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12867 C Anlage 2
Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12867 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Klima- und Umweltschutz im
Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12868 D und durch den Sport stärken – Für eine verant-
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12870 B wortungsvolle Sportentwicklung in Deutsch-
land (Tagesordnungspunkt 26)
Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12871 C
Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12886 A
Maria Anna Klein-Schmeink
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 12872 D Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12888 A

Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12874 A Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . 12889 B

Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12875 A Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . 12890 B

Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 12876 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . 12891 A
Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12892 B
Tagesordnungspunkt 26: Viola von Cramon-Taubadel
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 12893 A
Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
Eberhard Gienger, Stephan Mayer (Altötting),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Anlage 3
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
Günther (Plauen), Dr. Lutz Knopek, Gisela Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12894 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12815

(A) (C)

Redetext

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Sitzung ist eröffnet. Bundesminister der Verteidigung
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, zur Neuausrichtung der Bundeswehr
möchte ich die anwesenden 350 amerikanischen Sti-
pendiatinnen und Stipendiaten des Parlamentari- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
schen Patenschafts-Programms sowie Vertreter der die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
deutschen und amerikanischen Austauschorganisa- rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
tionen auf den Tribünen herzlich begrüßen. Diese jun- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
gen Amerikanerinnen und Amerikaner bilden bereits den Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
27. Jahrgang des PPP und besuchen zum Ende ihres ein- nun der Bundesminister der Verteidigung, Thomas
jährigen Aufenthaltes in Deutschland zurzeit Berlin und de Maizière.
(B) heute den Deutschen Bundestag. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Parlamentarische Patenschafts-Programm wurde
1983 vom Bundestag und dem amerikanischen Kongress Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
vereinbart, und seitdem sind fast 20 000 junge Stipendia- teidigung:
ten jeweils für ein Jahr in das Partnerland gereist. In
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Gastfamilien und im unmittelbaren Kontakt mit den Mit-
Kolleginnen und Kollegen! Die Neuausrichtung der
schülern oder den Arbeitskollegen lernen die Stipendia-
Bundeswehr hat begonnen. In der vergangenen Woche
ten, was unsere Länder gesellschaftlich, kulturell und
habe ich die Eckpunkte dafür und neue Verteidigungs-
politisch verbindet. Dieser Jugendaustausch fördert das politische Richtlinien vorgestellt und ausführlich be-
gegenseitige Verständnis und trägt dazu bei, die Bezie- gründet. Am Mittwoch haben wir meine Entscheidungen
hungen zwischen Deutschland und Amerika weiter zu und Überlegungen in den Verteidigungsausschüssen des
stärken. Bundestages und des Bundesrates diskutiert. Das werden
Sie, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, sind wir sicher auch weiter tun. Der richtige Ort für die öf-
schon in jungen Jahren aufgebrochen, um außerhalb des fentliche Diskussion über die Neuausrichtung der Bun-
deswehr ist aber natürlich das Plenum des Deutschen
eigenen Landes Erfahrungen zu sammeln, von anderen
Bundestages. Deshalb bin ich für die Möglichkeit dank-
zu lernen und quasi als „junge Botschafter“ ihr Land auf
bar, mit der heutigen Regierungserklärung und der
der anderen Seite des Atlantiks zu vertreten. Ich wün- gleich folgenden Aussprache die sicherheitspolitische
sche Ihnen im Namen des ganzen Bundestages weiterhin Debatte in dieses Hohe Haus zu führen.
einen interessanten Aufenthalt in Deutschland und eine
erfolgreiche Zukunft und wünsche mir, dass Sie Bot- Wir brauchen diese politische Diskussion; denn ich
schafter der deutsch-amerikanischen Freundschaft sein bin davon überzeugt: Die Neuausrichtung der Bundes-
mögen. wehr geht nicht nur die Bundeswehr an. Gerade eine Ar-
mee ohne Wehrpflicht braucht die öffentliche Debatte
(Beifall) über sie, und sie braucht öffentliche Unterstützung für
die Nachwuchsgewinnung und für die Einsätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Tagesordnung.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord- Die Bundeswehr hat seit ihrer Gründung 1955 einen
nungspunkte 26 und 28 zu tauschen. Sind Sie damit ein- wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens in Frei-
verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das heit im geteilten Deutschland geleistet, aber auch zum
so beschlossen. Frieden in Europa und in der Welt.
12816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière der Verteidigung
Bundesminister
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Militärische Einsätze ziehen weitreichende Folgen (C)
nach sich, auch politisch. Das muss man vor jedem Ein-
Sie hat auch das Bild eines weltoffenen und seiner Ver- satz bedenken. Auch das Ende muss man bedenken. Da-
antwortung bewussten Deutschland mitgeprägt. Dafür
her ist in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die
war es von Zeit zu Zeit immer wieder notwendig, die Frage notwendig, inwieweit die unmittelbaren oder mit-
sich ändernden Herausforderungen für unsere Sicherheit telbaren Interessen Deutschlands oder eben auch die
neu zu bewerten und den Auftrag der Bundeswehr ent-
Wahrnehmung internationaler Verantwortung den jewei-
sprechend neu zu definieren. Jetzt ist es wieder notwen- ligen Einsatz erfordern und rechtfertigen, aber auch,
dig. welche Folgen die Entscheidung hat, nicht an einem Ein-
Unsere Bundeswehr ist jetzt so auszurichten, dass sie satz teilzunehmen. Wir bleiben dabei zurückhaltend und
für die erkennbaren sicherheitspolitischen Herausforde- verantwortungsvoll – in jede Richtung.
rungen von heute gewappnet ist, aber auch für die noch
nicht klar erkennbaren Herausforderungen von morgen – Unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslandsein-
so gut es eben geht. Dieses Ziel verbindet uns alle. Es ist sätzen sind hervorragende Repräsentanten unseres Lan-
eine gute Tradition, dass wir zu den grundlegenden Ent- des. Sie sind gerade auch mit ihrer Uniform sichtbarer
scheidungen zur Sicherheitspolitik ein großes Einver- Ausdruck der Tatsache, dass wir unseren Beitrag zu
nehmen zwischen Regierung und Opposition hatten und Frieden und Sicherheit in der Welt leisten.
haben. Ich will mich auch jetzt darum bemühen – und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
habe es bereits getan.
Im Grundgesetz steht:
Meine Damen und Herren, die Verteidigungspoliti-
schen Richtlinien sind der Ausgangspunkt für die Neu- Eigentum verpflichtet.
ausrichtung. Die Organisation der Bundeswehr folgt
ihrem Auftrag und nicht umgekehrt. Die Verteidigungs- Das ist, wenn Sie so wollen, die Kurzformel für die so-
politischen Richtlinien formulieren die sicherheitspoliti- ziale Marktwirtschaft. Auf die internationale Politik
schen Zielsetzungen und die langfristigen Sicherheitsin- übertragen, heißt das: Wohlstand verpflichtet. Daraus er-
teressen Deutschlands deutlich und in klarer Sprache. wachsen auch internationale Verantwortung und Solida-
Auf dieser Grundlage werden die Aufgaben der Bundes- rität, und das kann auch heißen: Beteiligung an interna-
wehr festgelegt. Unsere nationalen Interessen wahren, tionalen Einsätzen aus internationaler Verantwortung.
internationale Verantwortung übernehmen und die Si- Wir haben den Anspruch, ein souveräner, starker und
cherheit gemeinsam gestalten – das ist der Anspruch an verlässlicher Partner im Bündnis, in Europa und in der
unsere Politik und an unsere Bundeswehr. Welt zu sein.
(B) (D)
Eigentlich sollte es inzwischen eine Selbstverständ-
lichkeit sein, dass wir uns über unsere nationalen Inte- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
ressen im Klaren sind und sie offen vertreten. Es sollte bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
ebenso selbstverständlich sein, dass wir in den interna- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
tionalen Organisationen – in den Vereinten Nationen, in Wir erfüllen diesen Anspruch. Das umfassende Engage-
unserem nordatlantischen Bündnis, in der Europäischen ment der Bundeswehr etwa im Kosovo steht beispielhaft
Union – die internationale Verantwortung übernehmen, dafür, dass es Deutschland mit seiner internationalen
die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man Verantwortung ernst meint. Durch den vernetzten Ein-
von uns erwartet. Das ist mehr, als es bisher in Deutsch- satz von zivilen und militärischen Mitteln haben wir den
land bekannt oder wohl auch akzeptiert ist. Menschen auf dem Balkan nicht nur Frieden gebracht,
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern tragen wir auch weiterhin zur Stabilität der Re-
NEN]: Das ist richtig!) gion bei. Der Einsatz im Kosovo zeigt, wie wichtig es
ist, Streitkräfte zum richtigen Zeitpunkt und in geeigne-
Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich ter Weise zum Einsatz zu bringen.
aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den
internationalen Verflechtungen unseres Landes und un- Die Wahrung unserer nationalen Interessen und die
serer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung ist
und rohstoffarme Exportnation. Auch Bündnisinteressen nicht eine Aufgabe für die Bundeswehr alleine. Der Ein-
sind meist zugleich unsere nationalen Sicherheitsinteres- satz von Streitkräften muss nicht immer als zeitlich letz-
sen. Sicherheit für unser Land zu gewährleisten, bedeu- tes Mittel erfolgen. Er darf aber immer nur dann erfol-
tet heute insbesondere, Auswirkungen von Krisen und gen, wenn es keine geeigneteren Mittel gibt, um den
Konflikten möglichst auf Distanz zu halten und sich ak- Einsatzauftrag zu erfüllen.
tiv an deren Vorbeugung und Einhegung zu beteiligen.
Das Konzept der vernetzten Sicherheit setzt konse-
Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbst-
quent auf einen ressortgemeinsamen Einsatz. Wer zur in-
behauptungswillens und staatlicher Souveränität zur
ternationalen Sicherheit beitragen will, kann dies nur,
Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum natio-
wenn die Instrumente richtig aufgestellt sind und in-
naler Handlungsinstrumente im Rahmen des Völker-
einandergreifen. Wer etwa einen von inneren Konflikten
rechts einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von
geschundenen Staat stabilisieren will, kann nicht in ers-
Streitkräften.
ter Linie nur Soldaten einsetzen, sondern muss vielmehr
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch Entwicklungshelfer, Lehrer, Richter und Polizei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12817
Bundesminister Dr. Thomas
Dr. Thomas de Maizière, de Maizière der Verteidigung
Bundesminister
(A) ausbilder sowie Wirtschaftsförderer zum Einsatz brin- Es ist unsere nationale Zielvorgabe, langfristig zeit- (C)
gen. gleich rund 10 000 Soldatinnen und Soldaten in zwei
großen und in mehreren kleineren Einsatzgebieten flexi-
Als ich in New York war, hat mich der Satz eines UN- bel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des in-
Botschafters eines großen Staates sehr bewegt, der ge- ternationalen Krisenmanagements bereitstellen zu kön-
sagt hat: Wir bekommen heutzutage in der Welt in ein nen. Das nennt man den internationalen „Level of
Krisengebiet leichter zwei schwere Kampfbataillone als
Ambition“. Für den Schutz der Heimat halten wir ausrei-
zehn Richter. – Denken wir einmal über diesen Satz
chend Kräfte bereit. Zusätzlich setzen wir auf unsere
nach, darüber, was dies eigentlich bedeutet und ob wir
Reservisten. Ihre Aufgabe wird wichtiger denn je. Insge-
nicht, was vernetzte Sicherheit angeht, noch etwas wei-
samt soll die Bundeswehr künftig über eine Personal-
ter denken müssen.
stärke von bis zu 240 000 Angehörigen verfügen, davon
Über die Mandate der Bundeswehr entscheidet der bis zu 185 000 Soldaten und 55 000 zivile Mitarbeiter.
Deutsche Bundestag. Wer einen Auftrag erteilt und ein
entsprechendes Mandat beschließt, der übernimmt Ver- Zur Zahl der Soldaten. Wir planen 170 000 Berufs-
antwortung. Verantwortung zu tragen, heißt dann auch und Zeitsoldaten ein, plus rund 5 000 freiwillig Wehr-
Mitsorge und Fürsorge für die Bundeswehr, ihre zivilen dienstleistende. Es können bis zu 10 000 weitere freiwil-
Mitarbeiter und die Soldaten. Die verfassungsrechtlich lig Wehrdienstleistende hinzukommen. Sie kennen die
gebotene Einbindung des Deutschen Bundestages für die Formel, die ich in der letzten Woche so zusammenge-
Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte fasst habe: 170 plus 5 plus x. Ich freue mich, wenn über
bleibt wichtig. Sie stärkt auch die Soldaten im Einsatz. die 5 000 eingeplanten weitere 10 000 freiwillig Wehr-
Zu speziell oder zu eng sollten die Mandate allerdings dienstleistende hinzukommen. Aber ich möchte mit
nicht formuliert sein. Die Soldaten vor Ort müssen lage- Blick auf die Bevölkerungsentwicklung lieber sicher
angepasst verantwortlich entscheiden können. planen und Erwartungen übertreffen, als Erwartungen
nicht erfüllen.
Ziel der Neuausrichtung ist es, dass wir über eine leis-
tungsfähige Bundeswehr verfügen, die der Politik ein Auch das Ministerium ordnen wir neu. Wir straffen
möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen bietet Hierarchieebenen, verringern die Zahl der Ministeriums-
und mitten in der Gesellschaft verankert bleibt. Die Auf- mitarbeiter von jetzt über 3 000 auf dann nur noch rund
gaben der Bundeswehr sind vielfältig: die Landes- und 2 000. Damit wir diese Ziele erreichen, müssen wir
Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO, die interna- gleichzeitig Personal halten, Personal gewinnen und Per-
tionale Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung im sonal abbauen. Das wird nicht leicht. Das erfordert neue
Rahmen der Vereinten Nationen, die militärische Beteili- Ansätze und Ideen in der Nachwuchsgewinnung, beim
(B) gung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Personalumbau und auch beim Personalabbau. Das gilt (D)
Verteidigungspolitik der Europäischen Union, die Ret- umso mehr mit Blick auf die Tatsache, dass wir gleich-
tung und Evakuierung deutscher Staatsbürger ein- zeitig den Umbau zu einer reinen Freiwilligenarmee zu-
schließlich der Geiselbefreiung im Ausland, Einsätze im stande bringen müssen.
Rahmen der humanitären Hilfe sowie Unterstützung bei
heimischen Katastrophen und Heimatschutz. Das ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neuausrichtung
breites Aufgabenspektrum. der Bundeswehr beginnt. In den nächsten sechs bis acht
Jahren wird sich die Bundeswehr stärker verändern, als
Krisen und Konflikte unterscheiden sich in ihren An- dies vielen heute vielleicht schon bewusst ist. Wir wol-
forderungen und treten meist kurzfristig und leider oft len, dass die Hauptveränderungen in den nächsten zwei
unvorhergesehen auf. Um sie eindämmen und lösen zu Jahren stattfinden werden.
können, müssen wir in der Lage sein, auch über große
Distanzen hinweg schnell und variabel einzugreifen. Ein Die Bundeswehr setzt alles daran, ihre starke Bindung
dem entsprechendes Fähigkeitsprofil können unsere in die Gesellschaft auszubauen. Dazu setzen wir auch
Streitkräfte jedoch heute noch nicht vorweisen. auf unsere Reservisten als Staatsbürger in Uniform. Das
Die Bundeswehr ist zudem strukturell unterfinanziert Angebot des freiwilligen Wehrdienstes ist nur ein Bei-
für die Aufgaben, die ihr gestellt sind. Sie verfügt nicht spiel dafür, dass auch die neue Bundeswehr das vertritt,
über ausreichende Mittel, nicht über ausreichende Fähig- was unsere Soldatinnen und Soldaten heute schon aus-
keiten und nicht über optimale Führungsstrukturen, um zeichnet: die Bereitschaft zum Einsatz für andere und die
ihre Aufgaben effizient zu erfüllen. Unser Ziel ist des- Bereitschaft zum Dienst für unser Land als Staatsbürger
halb eine Bundeswehr, die ihren Auftrag mit den Mit- in Uniform.
teln, die sie hat, erfüllen kann, eine Bundeswehr, die
Vergessen wir nicht: Während wir hier in Berlin über
nachhaltig finanziert ist, und eine Bundeswehr, deren
die Neuausrichtung der Bundeswehr diskutieren, erfül-
Personalplanung demografiefest ist, also Rücksicht
len Soldaten der Bundeswehr gleichzeitig weiterhin die
nimmt auf das, was an Menschen da ist.
bestehenden Einsatzverpflichtungen – in Afghanistan,
Wir setzen auf ein breites Fähigkeitsprofil der Bun- im Libanon, auf dem Balkan, in Afrika und an anderen
deswehr. Das neue Fähigkeitsprofil gibt eine Antwort Orten weltweit. Diese Einsätze und das Tagesgeschäft
auf die Frage, was wir können wollen, nachdem die Si- können nicht ruhen, während wir die Neuausrichtung der
cherheitspolitik die Antwort auf die Frage gegeben hat, Bundeswehr planen. Auch das muss gleichzeitig erfol-
was wir wollen können. gen.
12818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Bundesminister
Dr. Dr. Thomas
Thomas de Maizière, de Maizière der Verteidigung
Bundesminister
(A) Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten bei der Er- Die Bundeswehr leistet eine gute Arbeit. Wir sollten (C)
füllung der von uns erteilten Mandate einen hervorra- bei der Reformdebatte nicht so tun, als ob man mit allem
genden Dienst, häufig unter Einsatz ihres Lebens und neu beginnen müsste. Bei der Bundeswehr gibt es viel
Gefahren für ihre Gesundheit. Heute gedenken wir des- Vernünftiges; es ist ein Niveau, das sich im Vergleich zu
wegen besonders des vor zwei Tagen gefallenen Kame- unseren internationalen Partnern wirklich sehen lassen
raden und seiner Angehörigen. kann. Trotzdem ist es richtig: Es muss immer wieder neu
bedacht werden, inwieweit sich die Welt verändert hat
Meine Damen und Herren, dass unsere Streitkräfte
und die Herausforderungen, auch für die Truppe, neue
vollumfänglich in der Lage sind, zu kämpfen, ist auch
und andere sind. Wir wissen aber auch: Die Debatte der
die Maßgabe dafür, ob unsere Bundeswehr einsatzbereit
letzten Monate dauert eigentlich schon ein wenig zu
ist. Die Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr wie-
lang; sie schlägt natürlich auch auf die Motivation der
derum ist die Maßgabe dafür, ob wir als Deutscher Bun-
Soldaten durch, die jetzt dringend Klarheit für sich und
destag unserer Verantwortung nachkommen – gegenüber
ihre Familien brauchen.
den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, gegen-
über den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und Herr Minister, ich finde es gut, dass Sie hier eine De-
gegenüber den Freunden und Partnern in der Welt. batte über nationale Interessen und die Legitimation von
Einsätzen führen. Wir nehmen daran gerne teil. Ich
Die Umsetzung beginnt. Der Grund ist gelegt. Die
glaube, das ist in Deutschland in der Vergangenheit zu
Feinplanung ist in Arbeit. Im Herbst lege ich die Details
kurz gekommen. Dazu gehört aber noch etwas anderes:
zu den Fähigkeiten der Bundeswehr im Einzelnen, zum
Es muss deutlich werden, dass Sicherheitspolitik und
neuen Personalsoll und das Stationierungskonzept vor.
Verantwortung für die Streitkräfte eben nicht nur Sache
Mit der Verabschiedung des Haushalts in diesem
der Verteidigungspolitik sind, sondern die gesamte Re-
Sommer besteht dann auch im Detail Klarheit über die
gierung hier in der Verantwortung steht. Wenn man ge-
Finanzierung.
nau zugehört hat, hatte man den Eindruck: Vieles von
Wir können diesen Auftrag am besten erfüllen, wenn dem, was Sie gesagt haben, ist eigentlich Aufgabe des
wir ihn gemeinsam wahrnehmen: Bundesregierung, Außenministers. Es wäre auch Aufgabe der Kanzlerin, in
Deutscher Bundestag, Bundesrat und die deutsche Öf- den internationalen Organisationen das Gewicht Deutsch-
fentlichkeit. Die Bundeswehr reicht der Öffentlichkeit lands einzubringen und Prozesse anzustoßen. Dazu ist
die Hand. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit diese Hand diese Regierung in den letzten Monaten leider in keiner
annimmt und gemeinsam daran arbeitet, dass die Neu- Weise in der Lage gewesen.
ausrichtung der Bundeswehr gelingt. So dienen wir
(Beifall bei der SPD)
Deutschland, so schützen wir die Menschen in unserem
(B) Land, so sorgen wir für unsere Sicherheit. Wenn wir über die Legitimation von Einsätzen reden, (D)
Vielen Dank. ist es sicherlich richtig: Deutschland hat als wirtschafts-
starkes Land eine ethische Verantwortung. Es kann nicht
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und einfach zuschauen, wenn in der Welt Völkermord statt-
der FDP) findet – das ist richtig –, und natürlich haben wir wohl-
verstandene Stabilitätsinteressen. Das bedeutet aller-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dings auch, dass man nicht immer Ja sagt, und das
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen bedeutet, dass man sich vor dem Hintergrund dieser Sta-
Rainer Arnold für die SPD-Fraktion das Wort. bilitätsinteressen insbesondere der Umbruchsituation im
nördlichen Afrika in anderer Art und Weise stellt, als die
(Beifall bei der SPD) Bundesregierung dies in den letzten Wochen getan hat.
Natürlich kann man auch über wohlverstandene Wirt-
Rainer Arnold (SPD):
schaftsinteressen reden. Das heißt nicht, dass sie gegen
Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen!
andere gerichtet sind, sondern das bedeutet vielmehr:
Herr Minister, es ist gut, dass mit Ihrer Amtsübernahme
Stabilität als Voraussetzung für fairen Handel, von dem
ein Stück weit Vernunft und Sachlichkeit in die Arbeit
die Menschen in Deutschland, aber auch in den Ländern,
zurückgekehrt sind. Seither wird noch deutlicher, wie
mit denen wir handeln, große Vorteile haben. Das ist da-
oberflächlich vor Ihrer Amtsübernahme leider monate-
mit gemeint. Dann ist das auch in Ordnung.
lang mit dem ernsten Thema Bundeswehr umgegangen
wurde. Sie haben etwas Neues hinzugefügt. Sie haben gesagt:
Dieses reiche Land muss möglicherweise auch ohne un-
(Beifall bei der SPD)
mittelbare Interessen agieren. – Ja. Ich glaube aber nicht,
Hier geht es für uns um etwas ganz Wichtiges: Parla- dass Deutschland in diesen Fällen keine Interessen hat.
mentsarmee bedeutet, dass sich alle Fraktionen, Regie- Deutschland hat ein Interesse daran, internationale Pro-
rungskoalition und Opposition, der gemeinsamen Ver- zesse wirklich gestalten zu können. Auch das ist ein
antwortung für die Soldaten stellen, die wir miteinander wohlverstandenes Interesse. Erinnern wir uns daran,
in gefährliche und schwierige Einsätze entsenden. Diese dass wir Soldaten nach Osttimor geschickt haben. Ost-
gemeinsame Verantwortung wird gerade auch in diesen timor liegt nicht vor unserer Haustür. Damals hatten wir
Tagen sehr deutlich, wenn wir an die Familie denken, die großes Interesse an der Beilegung des Konfliktes. Es
ihren Sohn verloren hat, und an die anderen Familien, muss weiterhin unser Ziel sein, die Idee der Vereinten
die hoffen, dass ihre Kinder bald wieder genesen. Nationen zu stärken, dass das Gewaltmonopol aus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12819
Rainer Arnold
(A) schließlich bei den Vereinten Nationen liegt. Deshalb denn erst dann werden die Probleme deutlich zutage tre- (C)
war der Einsatz in Osttimor legitim. Das ist eine richtige ten.
und sinnvolle Debatte.
Herr Minister, Sie haben ein zweites Problem. Am
Es gibt noch ein paar weitere positive Dinge, die ich letzten Mittwoch haben Sie die Erwartung geweckt, Sie
nennen möchte, bevor ich zu der eigentlichen Opposi- würden die Öffentlichkeit und die Soldaten endlich da-
tionsaufgabe komme und die kritischen Punkte heraus- rüber informieren, wie Sie das fiskalische Loch auffüllen
stelle. Herr Minister, Sie haben sich die Struktur des wollen. Darauf haben alle gewartet. Ihre erste Reaktion
Ministeriums genau angeschaut und ein paar gravierende aber war, zu sagen: Ich verstehe mich gut mit dem
Fehler, die Ihr Vorgänger begangen hat, korrigiert. Das Finanzminister. – Das ist prima, das glauben wir Ihnen
ist in Ordnung. Wenn in einem Ministerium manche auch. Ihre zweite Antwort war: Das regeln wir in der
Dinge nicht gut laufen, liegt das meistens nicht an den Haushaltsdebatte. – Das regeln wir jedes Jahr in der
Mitarbeitern, sondern an den Strukturen, die Politik vor- Haushaltsdebatte, das ist etwas ganz Normales. Sie kom-
gegeben hat und die sie selbstverständlich auch wieder men nicht weiter, weil Sie einen Koalitionspartner ha-
ändern kann. Wir unterstützen Sie auf dem Weg, die Ent- ben, dem Sparen um jeden Preis wichtiger ist als eine
scheidungsprozesse im Ministerium zu straffen. verantwortungsvolle Sicherheitspolitik, und zwar des-
halb, weil Steuersenkungen nach wie vor im Mittelpunkt
Zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Was hat
der FDP-Politik stehen.
sich in der Welt eigentlich verändert? In den letzten
zwei, drei Jahren doch nicht so viel. Deshalb enthalten (Zurufe von der CDU/CSU)
die Verteidigungspolitischen Richtlinien auch nicht so
viel Neues; Sie brechen vielmehr das Weißbuch der alten Wenn jetzt einige Kollegen von der CSU schreien, muss
Bundesregierung auf die Verteidigungspolitischen Richt- ich Sie daran erinnern: Sie dürfen nicht klagen, dass
linien herunter. Geändert hat sich eigentlich nur, dass wir Standorte geschlossen werden, wenn Sie gleichzeitig der
erkannt haben: Der Einsatz in Afghanistan ist viel Auffassung sind, dass die Senkung der Steuern für Ihre
schwieriger, als wir uns das am Anfang vorgestellt ha- Hoteliers in Bayern wichtiger ist als eine seriöse Finanz-
ben. Ebenfalls geändert hat sich, dass die Schulden- ausstattung der Bundeswehr.
bremse uns alle zwingt, ein Stück weit auf die Haus- (Beifall bei der SPD)
haltssituation zu achten.
Herr Minister, unsere Erwartung ist: Finanzieren Sie die
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen aber Bundeswehrreform seriös. Wenn dies nicht gelingt, wer-
auch ein Defizit auf. Bisher war die Feststellung, dass den die Soldaten kein Vertrauen in weitere Reform-
Deutschland im Rahmen der internationalen Politik Mo- schritte haben, und ohne Vertrauen werden Sie die not-
(B) tor der Rüstungskontrolle und Abrüstung ist, ein wichti- wendige Motivation nicht erzeugen können. (D)
ger Punkt in den VPR. Wir finden es sehr bedauerlich,
dass sich das in dem neuen Buch nicht wiederfindet. Lassen Sie mich auch etwas zum Umfang der
Bundeswehr sagen, Herr Minister. Sie sprachen von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 170 000 Zeit- und Berufssoldaten. Das ist knapp, das ist
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf Kante genäht. Ich glaube, das wissen alle. Aber wir
Aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien kann der können da mitgehen – allerdings unter einer Vorausset-
Umfang der Streitkräfte nicht abgeleitet werden. In zung: Die Zahl muss eindeutig und klar sein. Dahin ge-
Wirklichkeit beinhaltet diese Reform nichts anderes als hend bitten wir Sie um Korrektur. Sie beziehen bei den
die Aussetzung der Wehrpflicht und eine deutliche Re- 170 000 Zeit- und Berufssoldaten auch die Reservisten
duzierung des Personalkörpers. Dies steht bis zum heuti- ein, ohne auszuweisen, um wie viele Zeit- und Berufs-
gen Tag im Mittelpunkt der Reform. soldaten bzw. Reservisten es sich dabei handelt. Das ent-
spricht eigentlich nicht Ihrer sonstigen Vorgehensweise.
Diese Reform ist auch nicht in erster Linie sicher- Unsere Bitte ist, bei den 170 000 Zeit- und Berufssolda-
heitspolitisch getrieben; sie ist nun mal fiskalisch getrie- ten, wie bisher, die Reservisten getrennt auszuweisen,
ben. Dies war der Auslöser. Herr Minister, Sie sind in und zwar mit Dienstposten. Das ist notwendig und wäre
eine Falle getreten, die Sie selbst mit aufgestellt haben. auch richtig.
Die Bundeswehr hat entsprechend der laufenden Haus-
haltsplanung von Jahr zu Jahr Sparmaßnahmen im Um- Herr Minister, Sie sprachen davon, dass die Bundes-
fang von 700 Millionen Euro zu erbringen. Hinzu kom- wehr mitten in der Gesellschaft bleiben soll. Ja, das ist
men Preissteigerungen und Betriebskostensteigerungen. unser gemeinsames Anliegen und entspricht unserem
Dann hat diese Regierung gesagt: Wir müssen auf das Bild von Streitkräften in der Demokratie. Dazu braucht
bereits geplante Sparvolumen noch einmal 8,3 Milliar- die Bundeswehr nicht nur eine große Zahl von Köpfen,
den Euro draufsatteln. – Herr Minister, Sie haben dem sondern sie braucht vor allen Dingen die richtigen Men-
zugestimmt. Ich sage Ihnen: Das ist eine Luftbuchung. schen bei den Streitkräften. Das ist die große Herausfor-
Das ist angesichts dessen, was Sie vorsehen, überhaupt derung.
nicht realisierbar. Vor allen Dingen finde ich es nicht in
Hier machen Sie einen weiteren Fehler, Herr Minister.
Ordnung, dass Sie dieses Problem der nächsten Bundes-
Es gab die richtige Idee, mit der Aussetzung des Wehr-
regierung vor die Tür legen;
dienstes einen freiwilligen Wehrdienst einzuführen. Da-
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das sind wir, Mensch! mit könnte es uns wie bisher gelingen, die gesamte ge-
Der schafft wieder unsere Probleme hier!) sellschaftliche Breite anzusprechen und junge Menschen
12820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Rainer Arnold
(A) aus allen sozialen Schichten für die Bundeswehr zu ge- sich deutlich gezeigt: Je weniger Soldaten es gibt, umso (C)
winnen. Die Zahlen sehen im Augenblick eher positiv mehr Unterstützung durch zivile Mitarbeiter – vor allen
aus. Da hatten Sie im Verteidigungsausschuss recht, Herr Dingen im anspruchsvollen technischen Bereich – ist
Minister; wir haben uns von den Zahlen überzeugt. Bei notwendig. Überdenken Sie diese Zahlen noch einmal.
den jungen Menschen ist die Bereitschaft für den Frei- Wir haben den Eindruck, dass es hier nur um eine Schät-
willigendienst vorhanden. Leider wird dieses Projekt zung geht und es keine seriöse Planung gibt. Wenn Sie
von der Regierung in der ganzen Breite der Jugendfrei- zu sehr kürzen, werden Sie am Ende merken, wie not-
willigendienste, von der Bundeswehr bis hin zum sozia- wendig die zivilen Beschäftigten sind.
len Bereich, völlig unengagiert und uninspiriert ange-
Lassen Sie mich zum Schluss Ihr Angebot annehmen.
gangen. Den jungen Menschen wird lediglich ein
liebloser Brief bzw. ein Flyer zugeschickt. Das reicht
nicht aus. Es muss ein Projekt der Politik werden, Ju- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
gendfreiwilligendienste attraktiv zu machen, und zwar Sie müssen wirklich zum Schluss kommen, Herr Kol-
sowohl ideell als auch materiell. Unser dringender Rat lege.
lautet: Werfen Sie einen Blick in die Bundesländer.
Schauen Sie sich beispielsweise die guten Vorschläge Rainer Arnold (SPD):
aus Rheinland-Pfalz an. Ich komme zum Schluss.
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oijoijoi!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie brauchen die Bundesländer, wenn Sie diese Idee ins Herr Minister, wenn Sie an diesen Stellen nachjustie-
Bildungssystem implementieren wollen. Sie brauchen ren, kann es in der Tat so sein, dass die Sozialdemokra-
ebenso den Städte- und Gemeindetag, um aus dieser ten diese Reform am Ende politisch mittragen; aber die
grundsätzlich guten Idee eine Anerkennungskultur zu von mir skizzierten Punkte sind unabdingbar. Ich glaube,
entwickeln. die Reform würde besser, wenn Sie hier zuhören; sie
Aber nichts passiert, Herr Minister. Das mangelnde würde besser für unsere Gesellschaft, für deutsche Si-
Engagement erkennt man an dem, was Sie selbst vorge- cherheitsinteressen und auch für die Soldaten.
tragen haben. Die ursprüngliche Idee war es, 15 000 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dienstposten zu schaffen. Diese Zahl haben Sie bereits
auf 5 000 reduziert, und jetzt warten Sie ab, ob noch (Beifall bei der SPD)
mehr dazukommen. Nein, Herr Minister, Sie müssen
15 000 Freiwillige wollen und alles dafür tun, dass sie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(B) auch kommen. Das ist Ihre Aufgabe. Das Wort hat nun Kollegin Elke Hoff für die FDP- (D)
(Beifall bei der SPD) Fraktion.

Deshalb muss auch an dieser Stelle nachjustiert werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Das Wichtigste in den nächsten Jahren aber wird sein,
den Soldatenberuf unter veränderten demografischen Elke Hoff (FDP):
Voraussetzungen und einer veränderten Wirtschaft mit
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
mehr Wettbewerb um die klugen jungen Leute attraktiv
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
zu halten. In einer Schublade im Ministerium liegen seit
ren! Herr Minister, lassen Sie auch mich zu Beginn mei-
Jahren 82 Vorschläge für ein Attraktivitätsprogramm.
ner Rede Ihnen im Namen der FDP-Fraktion unsere
Wir erwarten nicht, dass diese über Nacht umgesetzt
herzliche Anteilnahme am Tod eines jungen Hauptman-
werden. Wir erwarten aber, dass Prioritäten gesetzt wer-
nes im Einsatz zum Ausdruck bringen. Auch wir sind in
den und dass den Soldaten und den potenziellen Bewer-
Gedanken bei der Familie, den Angehörigen und den
bern genau erklärt wird, welche Attraktivitätsschritte in
Freunden.
den nächsten Jahren unternommen werden. Das wird
Geld kosten; das gehört zur Wirklichkeit. Wenn wir die- Ich glaube, es wird in dieser schwierigen Zeit in
ses Attraktivitätsprogramm jetzt nicht aufs Gleis setzen, Afghanistan nicht das letzte Mal sein, dass wir uns damit
werden wir in 10 bis 15 Jahren vielleicht noch die aus- auseinandersetzen müssen. Deswegen ist es so wichtig,
reichende Zahl von Köpfen bei der Bundeswehr haben, dass Sie heute in dieser Debatte einen Akzent gesetzt ha-
wir werden jedoch eine andere Bundeswehr haben. Wir ben, der über den Alltag hinausgeht. Wir diskutieren
werden nicht mehr die Bundeswehr haben, auf die wir so heute nicht nur darüber, wie die Strukturen der Bundes-
stolz sein können, weil sie die Prinzipien vom Staatsbür- wehr in Zukunft aussehen sollen, wir diskutieren auch
ger in Uniform und der Inneren Führung durchgängig nicht nur über die Wehrform oder über die Attraktivität
von den Generälen bis zu den Mannschaften lebt und der Streitkräfte, sondern wir diskutieren auch über das
versteht. Daher ist die Attraktivitätssteigerung für uns veränderte sicherheitspolitische Umfeld weltweit, in das
die zentrale Herausforderung. wir unsere Streitkräfte in den nächsten Jahren entsenden
werden.
Letzter Punkt. Herr Minister, kürzen Sie die Zahl der
Zivilbeschäftigten nicht so stark wie vorgesehen! Bei al- Sie haben mit der Vorlage der Verteidigungspoliti-
len Armeen, die ihre Streitkräfte verkleinert haben, zum schen Richtlinien etwas getan, das von vielen Soldatin-
Beispiel Frankreich, Großbritannien und die USA, hat nen und Soldaten im Einsatz in Gesprächen vor Ort im-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12821
Elke Hoff
(A) mer wieder gefordert wird: Erklärt uns, warum wir vom Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, an dieser (C)
Deutschen Bundestag in einen Einsatz geschickt wer- Stelle darauf einzugehen. Sie haben klugerweise immer
den! – Ich glaube, es ist sehr wichtig, an dieser Stelle zu wieder darauf hingewiesen, dass die Reform der Struktur
erwähnen, dass die zukünftigen Herausforderungen in der Streitkräfte nicht nur in finanzieller Hinsicht und
der Sicherheitspolitik weit von dem entfernt sind, wofür nicht nur durch die bestehenden Herausforderungen de-
die Streitkräfte seinerzeit in der Bundesrepublik terminiert ist, sondern auch durch die demografische
Deutschland aufgestellt worden sind. Die Sicherheits- Entwicklung. Wir müssen uns darauf einstellen, dass
lage hat sich verändert; der symmetrische Krieg von da- sich in Zukunft nicht mehr so viele junge Männer und
mals hat sich zu einer asymmetrischen Herausforderung Frauen für den Dienst an der Waffe entscheiden werden,
entwickelt. Das bedeutet, dass auch die Herausforderun- wie es in der Vergangenheit der Fall war.
gen für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
mehr denn je davon abhängen, welche Rückendeckung Vor diesem Hintergrund kommt der Attraktivität des
sie von der Politik haben und wie klar der Auftrag ist, Soldatenberufes eine erhebliche Bedeutung zu. Die Re-
mit dem sie in Einsätze gesendet werden. gierungsfraktionen und die Bundesregierung haben sehr
klare Vorstellungen davon, wie die Attraktivität der Bun-
Meines Erachtens müssen wir auch viel intensiver da- deswehr gesteigert werden kann. Ich glaube, dass auch
rüber diskutieren, dass die Zivilbevölkerung in den je- die Opposition bereit ist, sich konstruktiv in diese Dis-
weiligen Krisengebieten immer mehr zum Mitstreiter, kussion einzubringen und die notwendigen Entscheidun-
zur Zielgruppe, zur Partei, zum Beteiligten in Konflikten gen im Sinne der Bundeswehr und der deutschen Sicher-
wird. Das heißt, unsere Soldatinnen und Soldaten wer- heitspolitik mitzutragen. So habe ich Sie, Herr Kollege
den in ein Umfeld geschickt, das unklar ist. Die Fähig- Arnold, trotz aller Kritik, die Sie geäußert haben, ver-
keiten, die sie in Zukunft brauchen werden, dürfen daher standen.
nicht allein den Umgang mit militärischem Gerät be-
inhalten. Sie müssen weitere Qualifikationen haben, zum Wir diskutieren heute nicht zum letzten Mal darüber,
Beispiel kulturelle Kompetenz, Sprachfähigkeiten und wie die Bundeswehr der Zukunft aussieht. Für meine
die Fähigkeit, sich mit zivilen Beschäftigten vor Ort zu Begriffe müsste die heutige Diskussion eigentlich der
vernetzen. Sie müssen auch den vernetzten Ansatz, den Beginn einer breiten sicherheitspolitischen Debatte sein.
Sie hier mit Recht deutlich hervorgehoben haben, voran- Wir dürfen nicht den Fehler machen, lediglich zum Aus-
bringen. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur das druck zu bringen: Ja, wir werden die Bundeswehr in Zu-
militärische Portfolio und das militärische Spektrum ei- kunft in internationale Einsätze schicken. – Das reicht
nes Einsatzes der Bundeswehr festlegen, sondern weit nicht aus. Wir müssen uns auch fragen: Kann sie das
darüber hinausgehen müssen. Ich darf an dieser Stelle leisten? Können wir die notwendigen zivilen und militä-
(B) eine persönliche Bemerkung machen: Ich glaube, dass rischen Fähigkeiten überhaupt bereitstellen? Wann über- (D)
wir über kurz oder lang nicht an der Definition einer na- fordern wir unser eigenes Gemeinwesen, wenn es darum
tionalen Sicherheitsstrategie vorbeikommen werden, geht, in Konfliktregionen dieser Welt zu intervenieren
und sich dort einzusetzen? Ich glaube, dass wir es nicht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur uns selbst, sondern auch der Bevölkerung schuldig
der CDU/CSU) sind, ganz klar zu sagen, was wir können und was wir
nicht können.
weil die Herausforderungen ungleich größer werden.
Wir haben in letzter Zeit, gerade in der Diskussion
Wir müssen uns auch damit befassen, die Legitima- über Libyen, viel über „responsibility to protect“ gespro-
tion zukünftiger Einsätze der Bundeswehr durch zwei chen. Das klingt sehr gut, und das ist ein hehrer morali-
wichtige Komponenten zu ergänzen: Erstens bedarf es scher Anspruch. Dennoch sollten wir gleichzeitig auch
der Legitimität der Zivilbevölkerung im Einsatzland, an „ability to protect“ denken. Verfügen wir tatsächlich
zweitens aber auch der Unterstützung und der Legitimi- über die notwendigen Fähigkeiten? Wenn es um den
tät der entsendenden Nation. Das heißt, die Erklärung, Einsatz unserer Streitkräfte geht, dürfen wir nicht Emo-
warum wir uns an einem Einsatz beteiligen, ist meines tionen zur Grundlage unserer Entscheidung machen. Es
Erachtens wichtiger und notwendiger denn je, insbeson- darf nicht so sein, dass wir dort tätig werden, wo die
dere dann, wenn das, was Sie, Herr Minister, vorgetra- meisten Fernsehbilder entstehen und wo die mediale
gen haben, zutrifft: wenn ein originäres nationales Inte- Aufmerksamkeit am größten ist. Vielmehr müssen wir
resse möglicherweise nicht so klar zu definieren ist, wie bei unserer Entscheidung bedenken: Wo haben wir ein
es in der Vergangenheit der Fall war. Interesse? Wo können wir helfen? Haben wir die Mittel?
Was ist das Ziel, was soll am Ende herauskommen? Es
Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in Zukunft
ist nämlich leichter, einen militärischen Konflikt zu be-
auf internationaler Ebene auch über die Frage diskutie-
ginnen, als ihn zu beenden.
ren müssen: Wie definieren wir den Status eines Kom-
battanten? Neue Technologien und neue Herausforde- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
rungen führen dazu, dass die Zivilisierung auch der CDU/CSU)
militärischer Fähigkeiten immer weiter voranschreitet.
Die Frage „Was sind die Sicherheitsherausforderungen Ich glaube, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten
des 21. Jahrhunderts?“ geht weit über das hinaus, wo- schuldig sind, sehr genau zu erwägen, in welches Szena-
rüber wir hier und heute in Bezug auf die zukünftige rio wir sie schicken, weil sie es am Ende sind, die den
Struktur der Bundeswehr diskutieren. ultimativen Preis dafür bezahlen müssen, wenn wir eine
12822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Elke Hoff
(A) sicherheitspolitische Fehleinschätzung vorgenommen ha- Die Grundrichtung stimmt nicht. Sie wollen die Per- (C)
ben. sonalstärke der Streitkräfte zwar verringern; aber den
Anteil der Soldatinnen und Soldaten, die dauerhaft in
Ich möchte meine Rede mit den Worten des berühm-
Auslandseinsätzen kämpfen können, wollen Sie noch er-
ten chinesischen Generals und Militärphilosophen Sun
höhen. Wofür? Wozu? Unter welchen Voraussetzungen?
Tzu beenden. Er hat gesagt: Das bleibt unklar, Hauptsache: allzeit bereit – und das
Die Kunst des Krieges ist für den Staat von ent- weltweit.
scheidender Bedeutung. Sie ist eine Angelegenheit Wenn Sie auch noch sagen: „Wir wollen eine Bundes-
von Leben und Tod, eine Straße, die zur Sicherheit wehr zur Sicherung der außenpolitischen Handlungsfä-
oder in den Untergang führt. Deshalb darf sie unter higkeit des Landes“ – das sagen Sie so –, dann ist das in
keinen Umständen vernachlässigt werden. unseren Augen nichts weiter als ein Blankoscheck für
Vielen Dank. Interventionismus, und dafür gilt: Ohne uns!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien sind
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – man muss es so sagen – ein alter Hut. Sie beschwören
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion wieder einmal die bekannten diffusen Risiken, denen wir
Die Linke. zukünftig ausgesetzt sein werden – Flüchtlingsströme,
knapper werdende Rohstoffe, Weiterverbreitung von
(Beifall bei der LINKEN)
Atomwaffen –, und präsentieren wieder nur die alte Ant-
wort, dass man in der Lage sein müsse, diesen Risiken
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): auch militärisch zu begegnen. Unsere Antwort ist eine an-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- dere: Die neuen globalen Probleme können nachhaltig
ren! Natürlich ist man froh, wenn ein Bundesminister nur mit nichtmilitärischen, das heißt mit zivilen Mitteln
der Verteidigung sich seriös und weniger glamourös prä- und mit einer Politik globaler Gerechtigkeit gelöst wer-
sentiert. den. Das ist das, für das sich die Bundesrepublik Deutsch-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) land im UNO-Sicherheitsrat stark machen müsste.

Aber nicht auf die Inszenierung, auf die Inhalte kommt (Beifall bei der LINKEN)
es an, und die sind falsch – bei zu Guttenberg wie bei de Neu, Herr Minister, ist allenfalls die Tonlage, mit der
Maizière. Sie über den Zusammenhang von Militär und wirtschaft-
(B) (Beifall bei der LINKEN) lichen Interessen reden. Sie haben bei der Präsentation (D)
der Verteidigungspolitischen Richtlinien gesagt, unser
Herr Minister, Sie wollen eine Armee, die weltweit Platz in der Welt werde dadurch bestimmt, dass wir von
einsetzbar ist, die im Zweifelsfall auch Krieg führen soll Rohstoffen und Exporten abhängig seien, und dann un-
und die auch ein Instrument durch Durchsetzung macht- verblümt festgestellt – ich zitiere –:
und wirtschaftspolitischer Interessen sein kann. Das al-
Wir haben ein nationales Interesse am Zugang zu
les halten wir für falsch.
Wasser, zu Lande und in der Luft.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! So ist
Sie reden, Herr Minister, von einer Neuausrichtung das!)
der Bundeswehr. Doch davon kann überhaupt keine
Das ist kühn. Meinen Sie das auch weltweit? Sie sollten
Rede sein. Sie setzen den unter SPD und Grünen begon-
schon höllisch aufpassen, wenn Sie eine solch aggres-
nenen Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee fort.
sive, zumindest missverständliche Sprache gebrauchen.
Eine wirkliche Reform müsste innehalten und eine kriti-
Die Linke will jedenfalls nicht, dass Bundeswehrsolda-
sche, schonungslose Bilanz der Auslandseinsätze ziehen.
ten für Wirtschaftskriege in Marsch gesetzt werden. Das
Daraus müssten Schlüsse gezogen werden. Aber genau
ist mit uns nicht zu machen.
das tun Sie nicht. Die Bundeswehr ist seit zehn Jahren
im Einsatz im Afghanistan. Ein Ende ist nicht absehbar. (Beifall bei der LINKEN)
Die Sicherheitslage hat sich von Jahr zu Jahr verschlech-
Es geht uns also nicht darum, die vorhandenen Struktu-
tert. Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich. Für den
ren zu optimieren; es geht darum, sie zu revidieren. Dazu
Einsatz wird eine Riesenmenge an Geld und Ressourcen
haben wir unsere Position als Bundestagsfraktion kon-
benötigt. Deshalb kann man sagen: Afghanistan ist keine
kretisiert.
Blaupause für künftige Bundeswehreinsätze; es ist ein
abschreckendes Beispiel. An erster Stelle steht für uns die Rückbesinnung auf
den Auftrag in Art. 87 a des Grundgesetzes:
(Beifall bei der LINKEN)
Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.
Die Lektion lautet: Man kann mit militärischen Mitteln
den Terrorismus nicht schlagen und auch keine Nationen Davon ist auch unsere zweite Forderung bestimmt:
aufbauen. Aber Sie machen weiter, haben jetzt sogar Die Bundeswehr sollte in ihren Strukturen auf Defensive
noch Pakistan als möglichen neuen Einsatzort ins Ge- ausgerichtet sein. Das heißt, wir brauchen keine verleg-
spräch gebracht. Da wird einem angst und bange. baren Hauptquartiere und keine Einsatzverbände, die,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12823
Paul Schäfer (Köln)
(A) 6 000 Kilometer oder weiter entfernt, in anderen Staaten Volker Kauder (CDU/CSU): (C)
Operationen durchführen können. Milliardenschweres Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Gerät wie den Jagdbomber Eurofighter brauchen wir Herren! Wir haben heute Morgen hier im Deutschen
auch nicht. Bundestag eine bemerkenswerte Regierungserklärung
erlebt.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wenn der Satz gilt, dass wir auf absehbare Zeit nicht
Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie bei
militärisch bedroht sind, dann heißt das drittens: Wir
Guttenberg auch schon gesagt!)
können den Umfang der Streitkräfte erheblich reduzie-
ren, wir sagen: um die Hälfte. Eine Bundeswehr mit In Nüchternheit und Klarheit und mit bestechender logi-
125 000 Soldatinnen und Soldaten reicht aus, um die scher Konsequenz wird die Bundeswehr in eine neue
Aufgaben der Landesverteidigung wahrzunehmen. Zeit geführt. Herr Minister, herzlichen Dank dafür!
Viertens. Unser Konzept der zukünftigen Bundeswehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ist eng verknüpft mit einer stärkeren Demokratisierung, Michael Groschek [SPD]: Endlich!)
mehr Zivilität, mehr Parlamentsheer. Es geht schlicht da-
Bei der Regierungserklärung des Verteidigungsministers
rum, dass die Bundeswehr, will sie in der Gesellschaft
ist deutlich geworden – so viel zu den kritischen Anmer-
verankert bleiben, auch die Normen und Werte dieser
kungen zum Verhältnis von Außenministerium und Ver-
Gesellschaft verinnerlichen muss. Wir reden von Bin-
teidigungsministerium –, dass die Bundeswehr in das au-
dung an Recht und Gesetz, ebenso wie von soldatischer
ßenpolitische Konzept der Bundesregierung eingebettet
Interessenvertretung und humaner Menschenführung; da
ist und dass es da eine gemeinsame Politik und Strategie
ist noch viel zu tun.
gibt.
Fünftens. Wir sagen klar Nein zur Ausweitung der
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bundeswehreinsätze im Innern. Bewaffnete Einsätze im
NEN]: Es ist umgekehrt, Herr Kauder!)
Innern müssen grundsätzlich tabu bleiben.
– Warten Sie einmal ab. Es ist nicht so, wie Sie es gern
(Beifall bei der LINKEN)
hätten. Ich schildere, wie es tatsächlich ist.
Der weiteren Vermischung von Zivilem und Militäri-
(Beifall bei der CDU/CSU)
schem ist ein Riegel vorzuschieben. Katastrophenschutz
ist eine zivile Angelegenheit, und dafür müssen dort die Außenpolitik und Verteidigungspolitik bilden in unserer
Kapazitäten ausgebaut werden. Regierung eine Einheit.
(B) (Beifall bei der LINKEN) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D)
SES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜND-
Mit das Beste an unserem Bundeswehrkonzept ist: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)
Eine solche Reform wäre finanzierbar. Sie würde Mittel
freisetzen für soziale und entwicklungspolitische Be- Das bedeutet, dass in der Außenpolitik und in der Vertei-
lange, auch für solide Konversionsprogramme, womit digungspolitik gemeinsam die Ziele formuliert werden,
man den Kommunen helfen würde, und auch für das die für uns wichtig sind.
Bundeswehrpersonal stünde mehr Geld zur Verfügung.
Thomas de Maizière hat gesagt, dass die Bundeswehr
Ihre Sparvorgabe von 8,3 Milliarden Euro kann man in-
die Aufgaben erfüllen muss, die wir politisch formuliert
zwischen getrost vergessen. Sie werden noch genug
haben. Sie hat natürlich zum einen die Sicherheit unseres
schieben, tricksen und täuschen, um das Geld zusam-
Landes zu gewährleisten; zum anderen hat sie die Auf-
menzubekommen. Das wird nicht funktionieren.
gaben zu erfüllen, die im Rahmen unserer Bündnisver-
Dass – diese Bemerkung kann ich mir am Schluss pflichtung, wie Thomas de Maizière es formuliert hat,
nicht verkneifen – die SPD mit dieser Reform nur ein auf uns zukommen und die wir bisher nicht immer so
Problem zu haben scheint, nämlich dass man noch mehr deutlich in der Öffentlichkeit haben darstellen können.
Geld in das System Bundeswehr stecken muss, ist für Wir sind in das System sowohl der UNO als auch der
eine Partei, die sich einmal zu Frieden und Abrüstung NATO eingebettet. Hier erfüllen wir unsere Aufgaben.
verpflichtet hat, kläglich. Die Bundeswehr leistet einen Beitrag zur Friedenssiche-
rung, und das hat eine ganz andere Bedeutung als früher.
(Beifall bei der LINKEN) Die Friedenssicherung findet nämlich nicht mehr aus-
Wir als Linke werden den Zielen Abrüstung und Frie- schließlich in unserem Land statt. Unser Frieden ist viel-
den jedenfalls weiterhin verpflichtet bleiben. mehr durch vielfältige, auch terroristische Aktionen auf
der ganzen Welt bedroht. Wer hier für Frieden und Si-
Danke schön. cherheit sorgen will, kann keine Bundeswehr aufstellen,
(Beifall bei der LINKEN) die ihre Arbeit nur im eigenen Land verrichtet. Das ist
unsere Botschaft.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSU-
Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Bun-
Fraktion.
deswehr über ihren Auftrag hinaus tätig wird. Im Übri-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen waren es Sie von den Grünen und den Roten, die die
12824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Volker Kauder
(A) Bundeswehr zum ersten Mal im Ausland eingesetzt ha- tun. Deswegen sage ich einen herzlichen Dank an alle (C)
ben. Sie waren es, die den Auftrag der Bundeswehr neu Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an alle Soldatinnen
formuliert haben. und Soldaten in der Bundeswehr. Wir sind dankbar da-
für, dass sie diesen Dienst für unser Vaterland verrichten.
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das haben wir zusammen getan!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen kann ich Ihnen nur raten, an der Diskussion
über die Reform der Bundeswehr, darüber, sie auf die Die Reform der Bundeswehr hat begonnen. Thomas
neuen Aufgaben auszurichten, teilzunehmen. Herr Kol- de Maizière hat darauf hingewiesen, dass dies ein Pro-
lege Trittin, hier haben Sie sich so verhalten, wie Sie das zess ist. Deswegen ist Ihre Kritik nicht angebracht, Herr
in Ihrer Regierungsverantwortung vielfach getan haben. Arnold.
Sie haben Dinge angestoßen, aber die Konsequenzen
Selbstverständlich werden im Zuge dessen, was an
nicht bedacht. Sie haben die Reform der Bundeswehr
notwendigen Veränderungen vorgestellt worden ist, die
nicht vorangebracht. Diese Aufgabe haben Sie schön an-
finanziellen Grundlagen dargelegt. Diese finanziellen
deren überlassen.
Grundlagen werden nicht, wie Sie es formuliert haben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie immer im Haushaltsplan berücksichtigt; sie werden
zum ersten Mal im neuen Haushaltsplan berücksichtigt,
Diese Aufgabe werden wir nun erfüllen. Thomas de der im Herbst beraten und verabschiedet wird. Es ist völ-
Maizière hat die Punkte angesprochen. Die Bundeswehr lig richtig, dass Thomas de Maizière jetzt keine Zahlen
ist auf die neuen Herausforderungen auszurichten, aber nennt und darauf verweist, dass wir im Rahmen der
sie muss ihren Auftrag auch unter veränderten Bedin- Haushaltsplanberatungen und der mittelfristigen Finanz-
gungen erfüllen können. Wir haben über Jahre hinweg planung auch das Finanzierungskonzept für die Reform
gesehen, dass die Wehrpflicht nicht mehr so konsequent vorlegen werden.
durchgesetzt werden konnte, wie es notwendig war. Des-
wegen war es richtig, dass wir Überlegungen angestellt Als Sie, Herr Arnold, gesprochen haben, habe ich Ih-
haben, wie wir darauf reagieren, und nun sagen: Wir ha- nen angemerkt, dass Sie wissen, dass da jemand seine
ben in der Bundeswehr einen festen Stamm und Freiwil- Arbeit macht, der die Dinge konsequent und logisch an-
lige. Ich kann mir nur wünschen, dass die Bundeswehr geht und das in einer Ruhe und Selbstverständlichkeit
durch die Reform so attraktiv wird – schon deshalb ist macht, die Sie im Grunde genommen sehr beeindruckt
die Reform so wichtig; Thomas de Maizière hat es ange- hat. Das hat man bei Ihrer Rede nämlich auch gemerkt,
sprochen –, dass sich junge Menschen für die Bundes- lieber Herr Arnold.
(B) wehr interessieren und im Hauptberuf und als Freiwil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D)
lige bei der Bundeswehr ihren Dienst tun.
Rainer Arnold [SPD]: Es konnte ja nur besser
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden!)
Wir müssen klarstellen, dass wir Freiwilligendienste Man hat Ihnen angesehen, wie Sie sich gesagt haben:
in unserem Land brauchen, dass wir junge Menschen „Mensch, es wird mir doch noch irgendetwas einfallen,
brauchen, die im sozialen Bereich, in unseren Hilfsorga- was ich kritisch anmerken kann.“ Entsprechend schlecht
nisationen tätig sind, dass aber der freiwillige Dienst in war es dann auch, weil Ihnen nämlich nichts Gescheites
der Bundeswehr genauso wichtig und ehrenhaft ist wie eingefallen ist.
jeder andere freiwillige Dienst. Das müssen wir deutlich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
machen. der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man kann nämlich überhaupt keinen kritischen Einwand
Es gibt hier keine Abstufung nach dem Motto: Im sozia- gegen dieses Konzept vorbringen.
len Bereich ist das gut, bei der Bundeswehr weniger. Herr Bundesminister, wir sind dankbar für die
Nein, der Freiwilligendienst ist ein Dienst an unserem Schritte, die Sie eingeleitet haben. Wir begleiten Sie bei
Land – bei der Bundeswehr oder in sozialen Einrichtun- dieser Aufgabe, und wir stehen zu dieser Reform der
gen. Dafür müssen wir werben. Bundeswehr. Wir wünschen Ihnen dabei viel Erfolg.
(Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Dann macht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mal!)
Es hat doch mit Prestige zu tun, wenn wir vom Dienst in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der Bundeswehr sprechen. Das Wort hat nun Jürgen Trittin für die Fraktion
Wir sehen natürlich, dass der Dienst in der Bundes- Bündnis 90/Die Grünen.
wehr etwas Besonderes ist, weil er die ganze Person for-
dert und natürlich auch gefährlich ist. Wir haben in die- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sen Tagen wieder erleben müssen, dass der Dienst in der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeiten
Bundeswehr lebensgefährlich ist. Ich finde, umso größer haben sich geändert. Früher erlebten wir ein permanen-
muss unser Respekt vor denjenigen sein, die in unserem tes Schaulaufen des Verteidigungsministers mit dem Au-
Auftrag und für unsere politischen Ziele ihren Dienst ßenminister, wer der Wichtigere im Kabinett sei.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12825
Jürgen Trittin
(A) Mit der heutigen Regierungserklärung müssen wir Ausrichtung. Sie haben gesagt: Für uns kommt die Ver- (C)
feststellen: Die Zeiten haben sich geändert. Die Frage ist teidigung im Bündnis an erster Stelle.
auch entschieden. Über die strategische und sicherheits-
Wir glauben, dass Sie hier nicht konsequent sind. Es
politische Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland
wird die Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein,
wird im Verteidigungsministerium entschieden. Dort wird
der internationalen Verantwortung stärker gerecht zu
formuliert. Insofern muss man Ihnen an dieser Stelle, Herr
werden. Internationale Verantwortung bedeutet nicht, wie
de Maizière, ein Kompliment machen.
einige glauben, dass man sich unilateral um die Sicherung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Rohstoffquellen kümmert; so habe ich das nicht ver-
und der SPD sowie bei Abgeordneten der standen. Internationale Verantwortung heißt, dass wir uns
CDU/CSU und der FDP) an den Gefahren für die Sicherheit, die sich auf der Welt
ergeben, orientieren. Es geht dabei nicht mehr um zwi-
Sie haben begonnen, sich der Realität zu stellen. Die schenstaatliche Konflikte zwischen hochgerüsteten Ar-
CDU/CSU verabschiedet sich von etwas, das lange Zeit meen. Aber genau daran halten Sie noch immer in Ihrer
für sie identitätsstiftend war: der Wehrpflicht. Sie versu- Prioritätenreihenfolge fest. Es geht typischerweise um
chen jetzt, in diese Richtung Grund hineinzubringen. asymmetrische Konflikte. Es geht typischerweise um das
Sie sagen der deutschen Öffentlichkeit: Wir wollen mit Vorgehen in gemischten zivil-militärischen Missionen.
einem Konzept von 175 000 plus x künftig diese Aufga- Es geht typischerweise um die Sicherung vor Staatszer-
ben einer Bundeswehr bewältigen. Ich hätte in Ihrer heu- fall und Ähnlichem.
tigen Regierungserklärung, gerade weil ich wichtige stra- In einer solchen Debatte, in der wir über die Ausrich-
tegische Grundentscheidungen, die Sie mit benannt tung der Bundeswehr sprechen, will ich sagen: In diesem
haben, teile, gerne von Ihnen eine Begründung gehört, Zusammenhang wird mehr auf die Bundesrepublik
warum das, was Ihnen Ihr eigener Generalinspekteur auf- Deutschland zukommen als in der Vergangenheit. Das
geschrieben hat, nicht Leitlinie gewesen ist. Warum hat- ist eine Botschaft, die man in einer solchen Debatte aus-
ten Sie nicht den Mut, auf die Größe der Bundeswehr zu sprechen muss. Ich will nicht spekulieren. Wenn ich mir
gehen, die von der Aufgabe her definiert vom Generalin- aber anschaue, wie sich beispielsweise der Trennungs-
spekteur auf etwas über 160 000 beziffert wurde? Sie mö- prozess zwischen dem Südsudan und dem Sudan entwi-
gen das für kleinlich halten, was die Zahlen angeht. Ich ckelt, dann bin ich mir nicht sicher, ob wir weiterhin mit
glaube aber, dass hinter dem Unterschied zwischen den etwas mehr als 20 unbewaffneten Militärbeobachtern
185 000, auf die Sie kommen wollen, was nach Ansicht auskommen oder ob nicht andere mehr von uns erwar-
der SPD vielleicht noch zu knapp ist, und den 160 000, ten. Wenn das alles so ist, dann brauchen wir eine konse-
die nach Auffassung des Generalinspekteurs und meiner quente Ausrichtung der Bundeswehr im Hinblick auf
(B) Fraktion angemessen wären, genau das Stück Halbher- multilaterale Einsätze im Auftrag der Vereinten Natio- (D)
zigkeit steht, das immer noch in dieser Reform steckt. nen zur Stabilisierung von zerfallenden Staaten; das wird
Dieses Stück Halbherzigkeit finden Sie in den Verteidi- die Kernanforderung sein. Nur so werden wir unserer in-
gungspolitischen Richtlinien, die die Grundlage der Re- ternationalen Verantwortung gerecht.
form sein sollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute ha-
ben Sie zu der Feststellung, dass jetzt anders als in den Deutschland muss seiner internationalen Verantwor-
Verteidigungspolitischen Richtlinien unter Peter Struck tung gerecht werden. Das zielt insbesondere auf die Si-
bei den Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr der Aus- cherung und die Herstellung der Herrschaft des Rechts.
landseinsatz im multilateralen Verband an vorderer Wir dürfen keine rechtsfreien Räume auf diesem Globus
Stelle steht, sondern die Verteidigung im Bündnis, ge- dulden. Das heißt für uns: Ausbildung, Ausrichtung und
sagt, das sei keine Rangfolge, sondern nur eine Reihen- Ausrüstung der Bundeswehr müssen sich klar an dieser
folge. Ich halte dies für beschönigend und für falsch. Es Priorität orientieren. Da haben Sie noch ein bisschen Ar-
ist offensichtlich eine Rangfolge, die Sie hier vorgenom- beit vor sich, Herr Minister.
men haben. Sie gewichten die Verteidigung im Bündnis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wieder höher als die Aufgabe, die wir alle als wichtig
identifiziert haben, nämlich mehr Einheiten sowie mehr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Soldatinnen und Soldaten für Auslandseinsätze bereitzu- Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Frak-
stellen. tion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP)
Wir teilen die Auffassung, dass wir 10 000 Soldatinnen
und Soldaten für Auslandseinsätze vorhalten müssen. Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP):
Aber das gefährden Sie, bis hin zur Beschaffung. Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus
müssen dem Hohen Haus einmal erklären, warum wir unserer Sicht ist das, was der Minister heute vorgetragen
noch immer über 1 000 Panzer – wir haben festgestellt, hat, seit der Zusammenlegung von Bundeswehr und NVA
dass es 1 048 sind – haben. Warum müssen wir an Rüs- vor über 20 Jahren die größte Reform, die wir bei der
tungsprojekten wie Tiger und MEADS festhalten, die da- Bundeswehr durchführen. Diese Reform wäre auch not-
rauf ausgerichtet sind, große Panzerverbände zu bekämp- wendig gewesen – davon sind wir überzeugt –, wenn wir
fen? All dies ist Folge der von Ihnen vorgenommenen die Wehrpflicht nicht ausgesetzt hätten. Die FDP hat im-
12826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) mer gefragt: Werden die Haushaltsmittel richtig einge- fern, weil wir dann zukünftig mehr Geld zur Verfügung (C)
setzt? Sind die Beschaffungsmaßnahmen, die einst be- hätten.
schlossen wurden, noch richtig? Herr Trittin, Sie haben
die Frage gestellt, warum wir an dem einen oder anderen Des Weiteren stellt sich die Frage, ob das Liegen-
– Sie haben als Beispiel MEADS genannt – noch festhal- schaftsmanagement, das uns Rot-Grün eingebrockt hat,
ten. Ich kann Ihnen sagen, warum. wirklich etwas Gutes für die Bundeswehr ist. Ich habe
erhebliche Zweifel. Wir plagen uns in dieser Zeit auch
Wir halten gar nicht daran fest. Aber wir haben aus im Haushaltsausschuss damit herum.
der Zeit der rot-grünen Koalition – bei den großen Be-
schaffungsprojekten waren die Grünen voll dabei – Ver- Sie haben uns wirklich unglaublich viele Baustellen
träge, aus denen man nur schwer herauskommt. Das ist hinterlassen, Herr Kollege Arnold. Insofern kann ich
eines unserer Probleme. Sie als Grüne haben bei allen verstehen, dass Sie zu der wirklich ausgesprochen guten
großen Rüstungsprojekten mitgemacht, beispielsweise Rede des Ministers und zu dem, was wir als Reform
bei MEADS. Wir haben es Gott sei Dank geschafft, die wollen, keine Alternativen angeboten haben. Ihr Beitrag
Anzahl der Transportflugzeuge zu reduzieren. Sie woll- wäre – lassen Sie es mich süffisant sagen – eher für ei-
ten 90 bestellen; dann hat Peter Struck die Anzahl auf 60 nen Lyrikkongress geeignet gewesen als für eine vertei-
reduziert. Nur in dieser Koalition – ich sage ausdrück- digungspolitische Debatte. Sie haben keine Alternativen
lich Danke schön an den Koalitionspartner; Volker vorgetragen. Herr Trittin sprach von „halbherzig“. Was
Kauder hat es ja in seiner Rede deutlich gemacht – ist ist denn halbherzig? Ich kann nur sagen: Das eine oder
diese Reform möglich gewesen. Wir haben es gesehen: andere wird zu korrigieren sein – das wird sich im Laufe
Sie als Grüne haben sich bei den Sozialdemokraten nie der Zeit herausstellen –, aber die Richtung stimmt doch.
durchsetzen können. Sie waren ähnlich wie wir für die Man kann doch bei dieser Reform nicht von halbherzig
Aussetzung der Wehrpflicht. sprechen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ma-
chen Sie mit! Bringen Sie sich ein! Bringen Sie Ihre Vor-
(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schläge ein! Sie haben sich, Herr Trittin – das kann ich
NEN]: Wir wollten sie abschaffen!) verstehen, weil Sie im Auswärtigen Ausschuss sitzen –,
Sie haben sich nicht durchsetzen können. Die Freien De- mehr in die Außenpolitik geflüchtet. Das Entscheidende
mokraten haben sich in dieser Koalition mit dieser For- wäre aber gewesen, konkret zu sagen, was Sie für unsere
derung durchgesetzt. Das war nicht leicht für unseren Bundeswehr wollen. Das wäre besser gewesen als das,
Koalitionspartner, aber er hat mitgemacht. Das ist eine was heute vorgetragen worden ist.
der größten Reformen, und dafür sagen wir als FDP Im Haushaltsausschuss sollen wir ja die Beschaf-
Danke an die Christlich Demokratische Union. fungsmaßnahmen finanziell untermauern. Insofern ist es
(B)
(Beifall bei der FDP) mir als Haushälter sehr wichtig, dass wir alles auf den (D)
Prüfstand stellen. Wir haben zu viele Eurofighter; das ist
Aber die Frage ist durchaus berechtigt: Wie finanzie- unser Problem, denn diese Entscheidung stammt noch
ren wir zukünftig die Bundeswehr? Hier kann ich für die aus der Zeit der alten Koalition. Gott sei Dank haben wir
FDP sagen: Natürlich wollen wir Einsparungen vorneh- beim A400M einiges korrigiert. Wir werden uns weiter-
men. Aber es wird auf keinen Fall auf Kosten der Solda- hin Herkules ansehen. MEADS ist – da gibt es kein Ver-
ten oder der Zivilangehörigen gehen. Wir gehen an die tun – für uns beendet; das war ein großes Projekt aus rot-
vielen Beschaffungsmaßnahmen heran – davon habe ich grüner Zeit. Wir schauen uns noch einmal das Liegen-
schon gesprochen –, die nach unserer Auffassung über- schaftsmanagement und den Bundeswehrfuhrpark an.
flüssig sind. Herr Kollege Arnold, Sie haben uns doch Das Entscheidendste ist aber, dass das Ministerium ver-
mit dem Herkules-Projekt ein Milliardengrab einge- kleinert wird – das eine oder andere kann ich mir noch
brockt. Wir versuchen nun, das Beste daraus zu machen. vorstellen –, damit die Entscheidungsabläufe in der Bun-
Das funktioniert doch heute noch nicht richtig. Das sind deswehr zügiger vonstatten gehen. Es kann einfach nicht
Ihre Entscheidungen gewesen, nicht unsere. Das Gleiche sein, Herr Minister – ich nenne nur ein Beispiel –, wenn
gilt für das Übermaß an Bürokratie. unsere Soldaten in Afghanistan Schutzbrillen brauchen,
(Beifall bei der FDP) dass die Entscheidung darüber nach zwei Jahren noch
nicht gefallen ist. Das kann nur an dem großen Apparat
Sie fordern hier jetzt: Herr Minister, finanzieren Sie liegen. Woran kann es denn sonst liegen? Diese Forde-
seriös! – Dass Sie das überhaupt wagen. Herr Scharping rung ist doch berechtigt.
hat uns die Privatisierung eingebrockt. Das war nicht die
FDP. Wir waren gegen diese Privatisierung. Wir sind Vor allem – lassen Sie mich das zum Schluss sagen;
nämlich nicht für Privatisierung um jeden Preis. Wir ha- werfen Sie darauf bitte auch einen Blick – muss es für
ben gesagt, dass wir auch bei der Logistik nicht mitma- das, was wir beschaffen, jeweils einen Verantwortlichen
chen. Aber wer hat uns denn den Bundeswehrfuhrpark geben. Es kann nicht sein, dass es immer nur der beam-
und alles andere eingebrockt, ohne je zu überprüfen, ob tete Staatssekretär ist. Es wäre gut für die Bundeswehr,
es effektiv ist? Kümmern Sie sich um die Projekte, die wenn mehr Verantwortung auf einzelne Personen über-
Sie uns eingebrockt haben, die heute die Bundeswehr tragen würde. Auch das gehört für uns zu dieser Reform
sehr viel Geld kosten und bei der Bundeswehr überhaupt dazu.
nicht ankommen! Überprüfen Sie das selber und bringen Viel Glück bei dieser Reform! Wir sind dabei.
Sie Korrekturvorschläge ein! Dann würden Sie einen
wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Bundeswehr lie- (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12827

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie diesen Dienst attraktiver! Es geht nicht nur mit Ehre. (C)
Das Wort hat nun Hans-Peter Bartels für die SPD- Werben Sie flächendeckend für das freiwillige Engage-
Fraktion. ment junger Leute in allen Formen, die unser Land an-
bietet und braucht: bei der Bundeswehr, im Freiwilligen
(Beifall bei der SPD) Sozialen oder Ökologischen Jahr, im Entwicklungs-
dienst, im neuen Bundesfreiwilligendienst und natürlich
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): im THW und bei den anderen Diensten des Katastro-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe phenschutzes, die auch alle bisher auf Wehrpflichtige
Kollegen von der Koalition, ich glaube, wenn Sie sagen rechnen konnten.
müssten, was jetzt genau das Ziel dieser Bundeswehr-
Der unorganisierte, überstürzte Ausstieg aus der
reform sein soll, dann kämen Sie ganz schön ins
Wehrpflicht war ein Fehler. Das werden Sie demnächst
Schwimmen. Geht es vorrangig um die Schuldenbremse
sogar bei den Bewerbungen für den Dienst als Zeitsoldat
als höchsten strategischen Parameter, wie Ihr verflosse-
merken. Wundern Sie sich dann nicht. Sie müssen jetzt
ner Minister zu Guttenberg das genannt hat, oder geht es
für eine Kultur der Freiwilligkeit in diesem Land wer-
um die bessere Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte?
ben, nicht mit Abenteueranzeigen in der Bild-Zeitung,
Dann frage ich Sie: Wo genau sind die Verbesserungen
sondern massiv, flächendeckend, umfassend, für alle
versteckt? Oder ging es einfach nur um die Abschaffung
Dienste. Rufen Sie eine „Woche der Freiwilligkeit“ aus,
der Wehrpflicht, womit die FDP – herzlichen Glück-
in der sich alle Träger öffentlich darstellen, oder denken
wunsch, Herr Koppelin! – sich nun fast vollständig
Sie sich etwas anderes aus! Das ist eine aktive Gestal-
durchgesetzt hat? Ich glaube, Sie sind selbst ein bisschen
tungsaufgabe. Wer bloß abwartet, will vielleicht gar kei-
unglücklich darüber, dass man nicht wirklich erkennen
nen Erfolg. Ich wünschte mir eine Regierung, die nicht
kann, welcher Rationalität diese Operation folgt.
reaktiv, sondern die aktiv an diese Fragen herangeht.
Sie bekommen eine kleinere Bundeswehr; das ist klar.
(Beifall bei der SPD)
Aber wenn wir nicht alle aufpassen, dann erleben wir
den Übergang von einer größeren unterfinanzierten Bun- Fangen Sie damit an, wir machen dann schon weiter.
deswehr zu einer etwas kleineren unterfinanzierten Bun-
deswehr. Ich warne davor, liebe Kolleginnen und Kolle- Herr Minister, da dies nun nicht die erste Reform von
gen. Die Finanzierung muss stimmen. Streitkräften ist, gibt es schon einige Erfahrungen, die
auch zum Beispiel Sozialdemokraten in Regierungsver-
Auch bei dem gerade neu eingeführten freiwilligen antwortung gemacht haben und die Sie sicher gern mit
Wehrdienst sind alle Parameter unklar. Wie viele freiwil- uns teilen wollen. Ich nenne sechs Punkte:
lig Wehrdienstleistende wollen Sie denn nun haben?
(B) Erstens. Begrenzen Sie den Umzugsaufwand so stark (D)
7 500, wie es in den ersten Papieren von Generalinspek-
wie möglich. Auch diese Reform schafft keine Struktu-
teur Wieker hieß, oder 15 000 wie der Amtsvorgänger
ren und Stationierungen für die Ewigkeit. Kleine Stand-
des jetzigen Ministers in Aussicht gestellt hat, oder nur
orte können effektiv, größere können uneffektiv sein. Sie
5 000 plus, wie jetzt Herr de Maizière sagt? Was wollen
kennen Beispiele. Sparen Sie unnötige Transaktionskos-
Sie wirklich? Wollen Sie möglichst wenige Freiwillige,
ten.
damit Sie nicht mehr bezahlen müssen, oder wollen Sie
den freiwilligen Wehrdienst so schnell wie möglich ganz Zweitens. Bleiben Sie mit der Bundeswehr in der Flä-
abschaffen? Das Vorgängermodell, der von Ihnen einge- che. Der Arbeitgeber Bundeswehr muss sichtbar und er-
führte sechsmonatige Grundwehrdienst, hat auch nur für lebbar sein. Das Militärische darf dem Zivilen nicht zu
drei Quartale gegolten. fremd werden.
Ich sage Ihnen heute voraus: Auch der freiwillige (Beifall bei der SPD)
Wehrdienst wird bei Ihnen jetzt nur eine Durchgangssta-
tion auf dem Weg zur völligen Abschaffung dieser Drittens. Vorsicht mit den Ärmelschonerklischees
Wehrform sein. Das ist schade, das ist bitter, das ist nicht über die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr. Wir brau-
gut. Wir hätten hier im Parlament gemeinsam zwischen chen diese Mitarbeiter. Wer überproportional Zivilperso-
Koalition und Opposition etwas Besseres vereinbaren nal abbaut, der bürdet den immer weniger werdenden
können, etwas Dauerhaftes. Wir Sozialdemokraten hät- Soldaten Aufgaben auf, die nicht zu deren Kernauftrag
ten im Übrigen diesen leichtfertigen Umgang mit der gehören, oder er füttert private Dienstleistungsfirmen.
Wehrpflicht gerade von der CDU und CSU nicht erwar- Wir brauchen aber Experten in den Wehrtechnischen
tet. Dienststellen, wir brauchen die erfahrenen Kollegen in
den Arsenalbetrieben, in den Bundeswehr-Dienstleis-
(Beifall bei der SPD) tungszentren, in der Wehrverwaltung, in den Kranken-
häusern, in den Instituten und in den Streitkräftestruktu-
Ich fordere Sie auf: Stehen Sie zum freiwilligen
ren selbst, etwa die zivilen Seeleute im Trossgeschwader
Wehrdienst, den Sie vor acht Wochen doch selbst erst
der Marine. Das ist kein überflüssiges Zusatzpersonal,
hier im Bundestag beschlossen haben! Planen Sie dann
das ist die Bundeswehr selbst: Soldaten und Zivilbe-
eine substanzielle Zahl von Freiwilligen ein, auf richti-
schäftigte.
gen Dienstposten, für einen Dienst, der gebraucht wird,
nicht auf Extrastellen außerhalb der Streitkräftestruktur, Viertens. Das Heer leidet stärker als andere Teilstreit-
nicht als fünftes Rad am Wagen! Das nämlich hätten die kräfte unter dem Wegfall der Wehrpflichtigen. Ihr An-
jungen Leute, die sich melden, nicht verdient. Machen satz, Herr Minister, dennoch das Spektrum der Fähigkei-
12828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. Hans-Peter Bartels


(A) ten des Heeres in geringerer Stärke weitgehend zu Verteidigungsminister seine Arbeit richtig gut gemacht (C)
erhalten, ist richtig, solange es keine wirkliche europäi- haben.
sche Streitkräfteplanung, kein Pooling und Sharing gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Aber bleiben Sie bitte konsequent. Erhalten Sie zum
Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
Beispiel auch ein Element Heeresflugabwehrtruppe und
Besser als der Vorgänger!)
bei der Marine zum Beispiel auch die U-Abwehrfähig-
keit der Flotte. Mit den Eckpunkten und den Verteidigungspolitischen
Richtlinien ist eine hervorragende Grundlage für die not-
Fünftens. Die Spitzengliederung der Teilstreitkräfte
wendige Neuausrichtung der Bundeswehr vorgelegt
zu straffen, aus drei Stäben jeweils eine Kommandobe-
worden.
hörde zu machen, findet unsere Unterstützung, ebenso
die Stärkung des Generalinspekteurs. Aber entlassen Sie Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundes-
die Inspekteure der Teilstreitkräfte – oder Befehlshaber, tagsfraktion dankt Ihnen für Ihre sorgfältige, seriöse und
wie sie wohl künftig heißen sollen – nicht aus der minis- ungeschönte Analyse der Lage.
teriellen Mitverantwortung. Nicht ihre Führungsstäbe,
(Michael Groschek [SPD]: Ich dachte, für die
aber die Befehlshaber in Person brauchen einen Platz im
Rede in der Fraktion!)
Ministerium als Mitglieder des Militärischen Führungs-
rates. Vermeiden Sie die Konfliktlinie: hier Berlin, da Sie haben die Gründe für die Neuausrichtung der Bun-
Truppe. Teilstreitkraftübergreifendes Denken muss die deswehr ausführlich angesprochen. Ihre Darlegungen
Rationalität der neuen Bundeswehr sein. zeigen die Größe der Herausforderungen und die
Schwierigkeiten auf, die Pläne für die Neuausrichtung
Sechstens. Herr Minister, Sie sind Abgeordneter für
der Bundeswehr umzusetzen, zumal wir schon heute die
Meißen im Freistaat Sachsen. Auch Sachsen hat bedeu-
zu erwartenden Widerstände in den Apparaten, aber
tende Bundeswehrstandorte. Auf die Stationierung der auch in der Fläche gut abschätzen können, wenn es da-
kleineren Bundeswehr angesprochen, werden Sie mit
rum geht, Veränderungen und tiefgreifende Einschnitte
dem Satz zitiert: „Ich weiß, wo ich herkomme.“ Das ist
zu akzeptieren. Wir alle stehen vor der Frage: Wollen
nicht zu kritisieren, aber Sie wissen, dass es vielen Kol- wir eine moderne, effiziente Bundeswehr mit zukunfts-
legen hier im Hause auch so geht wie Ihnen. Fast überall
fähigen Strukturen, die den sicherheitspolitischen Auf-
identifizieren sich Kommunen, Bundesländer und Abge-
gaben im 21. Jahrhundert und dem Heimatschutz gerecht
ordnete mit ihrer Bundeswehr vor Ort. Das ist kein be- wird, die bündnisfähig ist und die als Instrument der Au-
dauernswerter Kirchturmpatriotismus und sollte auch
ßenpolitik zur Wahrung unserer Interessen beitragen
nicht so verstanden werden, sondern das ist ein gutes
kann, oder wollen wir das nicht? Die CDU/CSU-Bun-
(B) Fundament für die Verankerung unserer Bundeswehr in destagsfraktion will eine solche Bundeswehr. Deshalb (D)
unserer Gesellschaft.
unterstützen wir Sie, Herr Minister, bei Ihren Reform-
Abschließend: Diese Reform ist chaotisch gestartet, plänen nachdrücklich.
der neue Minister hatte nicht mehr wirklich die Chance, Meine Damen und Herren, die drängendste Frage
die Reset-Taste zu drücken. Aber wir nehmen Ihnen ehr- – das wurde zu Recht angesprochen – ist die der Perso-
lich ab, dass Sie bemüht sind, jetzt das Beste daraus zu nalgewinnung. Die Bundeswehr muss sich gegen die
machen. Lassen Sie uns versuchen, dabei so viel partei- Konkurrenz am Arbeitsmarkt künftig noch stärker be-
übergreifenden Konsens wie möglich zu finden. haupten. Deshalb müssen wir die Attraktivität des
Schönen Dank. Dienstes deutlich verbessern. Wir brauchen ein neues
Konzept für die Rekrutierung von Nachwuchs. Es gibt
(Beifall bei der SPD) inzwischen viele Vorschläge, wie dies geschehen könnte,
beispielsweise durch Maßnahmen zur Verbesserung der
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vereinbarkeit von Familie und Dienst, durch attraktivere
Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die Laufbahnen oder durch die Ausweitung der Möglichkei-
CDU/CSU-Fraktion. ten, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben. Vor allem
aber muss ein wirksames Attraktivitätsprogramm ziel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gruppenorientiert formuliert, konzipiert und kommuni-
ziert werden. Aus unserer Sicht geht es dabei vorrangig
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): um Besoldung, Dienstzeitregelungen, Aus- und Weiter-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bildungsmöglichkeiten, attraktive Standorte, angemes-
Wenn eine Tageszeitung, die unserer Regierungsarbeit sene Unterkünfte sowie umfassende Einsatzversorgung
nicht immer wohlwollend gegenübersteht, einschließlich der Nachsorge.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weil das Thema von Herrn Bartels und Herrn Arnold
NEN]: Die FAZ?) angesprochen wurde, möchte ich festhalten: Es ist realis-
tisch, dass der Verteidigungsminister die Zahl der frei-
schreibt: „… was Thomas de Maizière … als knallharte willig Wehrdienstleistenden zunächst mit 5 000 ansetzt.
Analyse der Lage präsentiert und als künftige Ausrich- Es war uns von Anfang an klar, dass die Bereitschaft zu
tung der Bundeswehr vorgegeben hat, das hat Hand und diesem Dienst in der Übergangszeit eher niedriger sein
Fuß“, und wenn dies die überwiegende Meinung der wird. Es ist daher besser, weniger einzuplanen und dann
meisten Kommentatoren widerspiegelt, dann muss der mehr zu erhalten als umgekehrt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12829
Dr. Andreas Schockenhoff
(A) Natürlich, Herr Arnold und Herr Bartels, rennen Sie Es wird kein Weg daran vorbeiführen, zu prüfen und (C)
bei uns offene Türen ein, wenn Sie sagen, man müsse al- dann auch umzusetzen, wo wir Fähigkeiten mit anderen
les tun, damit es mehr als 5 000 junge Menschen wer- teilen wollen, wo wir Fähigkeiten übernational mit ande-
den, die den freiwilligen Wehrdienst leisten wollen. ren einbringen wollen und auf welche Fähigkeiten wir
ganz verzichten wollen, weil andere sie verlässlich und
(Rainer Arnold [SPD]: Tun Sie es doch!) günstiger bereitstellen.
– Sehr richtig, aber dann müssen auch Sie und Ihre Par- (Michael Groschek [SPD]: Dann muss man
tei alles dafür tun. – Das heißt zunächst einmal, dass der das schreiben!)
Bundeswehr die Möglichkeit gegeben wird, in den Schu-
len offensiv zu werben. Es ist richtig:
Gegenseitige Abhängigkeiten für den Einsatz und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
im Einsatz dürfen nur in dem Maße zugelassen wer-
Stattdessen besteht doch in den SPD-regierten Bundes- den, wie dies die Wahrnehmung der Aufgaben er-
ländern und Kommunen die Tendenz, Soldaten in Uni- fordert.
form mehr und mehr aus den Schulen herauszudrängen So steht es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien.
oder Jugendoffiziere erst gar nicht mehr hereinzulassen.
Das ist die Realität. Das muss aufhören. Aber es sind eben gegenseitige Abhängigkeiten, die
uns als Parlament mit unserem Recht der Mandatierung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Bundeswehreinsätzen vor neue Herausforderungen
stellen; denn unsere Partner werden berechtigterweise
Meine Damen und Herren, über die Verteidigungspo-
fragen, ob wir als Bundestag im entscheidenden Moment
litischen Richtlinien hat Stefan Kornelius vor wenigen
bereit sind, die deutschen Streitkräfte zur Verfügung zu
Tagen in der Süddeutschen Zeitung geschrieben:
stellen, auf die sich unsere Partner in einem solchen
De Maizières Richtlinie ist ein bemerkenswertes Konzept der Aufgabenteilung stützen. Das müssen wir
Dokument sicherheitspolitischer Reife, sachlich natürlich auch von unseren Partnern wissen. Es geht
kühl, punktgenau und ohne sprachliche Verbrä- hierbei um Berechenbarkeit, um Verlässlichkeit und um
mung. gegenseitiges Vertrauen unter Bündnispartnern. Dies er-
fordert eine ehrliche Diskussion darüber, wo wir der-
Es ist gut, dass ein solches Dokument in verständli- artige Streitkräfte einsetzen wollen und wo wir sie nicht
cher Klarheit unsere sicherheitspolitischen Interessen, einsetzen wollen.
Aufgaben und Ziele beschreibt. Kernpunkt der Neuaus-
(B) richtung ist, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr Meine Damen und Herren, wir begrüßen es ausdrück- (D)
aus ihrem Auftrag und ihren Aufgaben ableiten. Die Be- lich, dass der Verteidigungsminister die Debatte über
deutung, die die Verteidigungspolitischen Richtlinien diese sicherheitspolitischen Fragen und unsere sicher-
der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewäl- heitspolitischen Interessen offensiv führt. Nur durch eine
tigung beimessen, wird von uns ausdrücklich geteilt. solche Debatte werden wir das Verständnis der Men-
Derartige Einsatzszenarien bleiben für die Bundeswehr schen in unserem Land für die Herausforderungen und
auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten Aufgaben. Bedrohungen für unsere Sicherheit und für die sich da-
Dazu gehört auch, dass Deutschland bei der Wahrneh- raus ergebenden Aufgaben der Bundeswehr befördern
mung dieser Aufgaben aufgrund seines Gewichts und können. Das ist dringend notwendig.
seiner Wirtschaftskraft grundsätzlich eine besondere Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundes-
Verantwortung hat. tagsfraktion hält Ihre Überlegungen und Pläne zur Neu-
ausrichtung der Bundeswehr für richtig. Diese in die Tat
Ich stimme dem Verteidigungsminister zudem aus-
umzusetzen, ist eine Mammutaufgabe, die uns über viele
drücklich zu, dass wir vor der Entsendung von deutschen
Jahre fordern wird. Wir werden Sie dabei tatkräftig un-
Soldaten zuvorderst unsere primär sicherheitspolitischen
terstützen.
Interessen diskutieren sollten. Dies ist gerade auch wich-
tig für die Beantwortung einer Frage, die wir jetzt ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stärkt angehen müssen – zunächst bei uns und dann mit
unseren Partnern –: Welche Aufgaben können künftig in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der EU und im Bündnis gemeinsam oder arbeitsteilig
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
wahrgenommen werden? Denn eines ist klar: In der EU
Die Linke.
geht die Zeit von voll ausgerüsteten Armeen zu Ende.
Will Europa dennoch seine Handlungsfähigkeit zur Ver- (Beifall bei der LINKEN)
teidigung seiner Sicherheit und seiner Interessen wah-
ren, braucht es starke und effiziente europäische Streit- Christine Buchholz (DIE LINKE):
kräfte. Diese werden sich nur aus einer verstärkten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Bündelung von nationalen Fähigkeiten und Kapazitäten Minister hat gesagt, er möchte zeitgleich 10 000 Solda-
(Michael Groschek [SPD]: Richtig!) tinnen und Soldaten in zwei großen und mehreren klei-
neren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig ein-
sowie aus einer verstärkten Rollen- und Aufgabenvertei- setzen können. Herr Trittin möchte noch mehr davon.
lung ergeben. Das heißt im Klartext, dass Sie in Zukunft in der Lage
12830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Christine Buchholz
(A) sein wollen, zwei Einsätze wie den in Afghanistan niemand, dass man fett wird, wenn man 5 Kilogramm (C)
durchzuführen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! davon isst. Das, meine Damen und Herren, ist zynisch.
Der eine Einsatz, den wir haben, ist schon viel zu viel.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Bundeswehr muss sofort aus Afghanistan und den
anderen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden. Die Bundeswehr steigert ihre Aktivitäten an Schulen
sowie in der Lehrer- und Referendarausbildung. Wir
(Beifall bei der LINKEN)
meinen: Die Bundeswehr hat an der Schule nichts zu su-
Sie sagen, neben den finanziellen Anreizen gehe es chen. Politische Bildung ist die Aufgabe von ausgebilde-
darum, die jungen Menschen davon zu überzeugen, den ten Pädagoginnen und Pädagogen. Dafür muss Geld aus-
Reiz des Besonderen zu erfahren, sich selbst einen gegeben werden, nicht aber für die Propaganda der
Dienst zu erweisen und unserem Land zu dienen. Am Bundeswehr.
Mittwoch ist nun ein weiterer junger Mann in Afghanis- (Beifall bei der LINKEN)
tan getötet worden. Meinen Sie ernsthaft, dass Ihre sal-
bungsvollen Worte ein Trost für die Eltern und Freunde Es kann ja wohl nicht wahr sein: Erst strangulieren Sie
der inzwischen 49 in Afghanistan getöteten und der un- mit Ihrer Kürzungspolitik das Bildungssystem, und dann
zähligen traumatisierten Soldaten sind? springt die Bundeswehr mit ihrer Propaganda ein.
(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind In vielen Bundesländern regt sich Widerstand von
zynisch!) Schülern, Eltern und Lehrern gegen die Auftritte von
Bundeswehr an Schulen und auf Berufsmessen. Wir hal-
Um genügend junge Männer und Frauen für den frei- ten das für gut.
willigen Wehrdienst zu ködern, rührt das Verteidigungs-
ministerium nun kräftig die Werbetrommel. Was viele (Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/
nicht wissen: Mit diesem freiwilligen Wehrdienst ist ein CSU]: Regen Sie sich mal nicht so auf!)
Einsatz im Ausland verbunden. GEW, kirchliche Gruppen und Schüler schließen sich
Seit 2006 haben sich die Anzahl der öffentlichen Auf- zusammen und setzen sich zur Wehr. Neulich erzählte
tritte der Bundeswehr auf Ausbildungsmessen und ande- mir eine Lehrerin aus dem Bezirk Tempelhof-Schöne-
ren Veranstaltungen sowie die Kosten dafür mehr als berg, dass sich das Robert-Blum-Gymnasium in einer
verdoppelt, und das bereits vor der Aussetzung der Schulkonferenz zur Schule ohne Militär erklärt hat.
Wehrpflicht. Seit März läuft eine millionenschwere Wer- Schüler der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf
bekampagne in der Springer-Presse, auf Radio- und haben ihre Lehrer und Eltern überzeugt, keine Bundes-
Fernsehkanälen. wehr mehr an ihre Schule zu lassen. Das sind die richti-
(B) gen Schritte, die Schüler, Eltern und Lehrer machen kön- (D)
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Frau spricht im nen.
militärischen Befehlston!)
(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen
Neulich hat das ARD-Magazin Panorama einen inte- [FDP]: Genau das Gegenteil! – Henning Otte
ressanten Beitrag zu diesem Thema gebracht. Ein Lehrer [CDU/CSU]: Deswegen dürfen Sie nicht ge-
berichtete darin über den Besuch eines Wehrdienstbera- wählt werden!)
ters in einer Schule in Prerow, Mecklenburg-Vorpom-
mern. Der Lehrer wunderte sich, warum der Wehrdienst- Ich denke oft an eine Mutter aus Thüringen, die mir
berater eine Karriere bei der Bundeswehr als einen Job berichtete, ihre beiden Söhne seien nach dem Einsatz in
wie jeden anderen, wie bei BMW, Mercedes oder einer Afghanistan traumatisiert, hätten selbst nach Monaten
Werft, darstellte, aber von Krieg und posttraumatischen nicht in den Alltag zurückgefunden. Für sie und alle
Belastungsstörungen nicht redete. Eltern wünsche ich mir, dass sie mit Reinhard Mey sa-
gen: Nein, unsere Söhne geben wir nicht – und unsere
Bei der Werbekampagne der Bundeswehr kommen Töchter auch nicht.
die hässlichen Bilder aus Afghanistan nicht vor. Darin ist
immer von Chancen, Karriere und Ausbildung die Rede. (Beifall bei der LINKEN)
Aber welche Chancen haben jetzt die Soldaten, die getö-
tet wurden, oder all die Soldaten, die mit körperlichen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und seelischen Verletzungen heimgekommen sind? Sie Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion
geben vor, den Jugendlichen eine Perspektive zu bieten; Bündnis 90/Die Grünen.
doch Sie verschweigen die Risiken und Nebenwirkun-
gen. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, Sie haben in Ihrer Rede heute, aber auch mit
Dies betrifft besonders die Jugendlichen aus struktur- der großen – nein, ich korrigiere mich –, mit der langen
schwachen Regionen. Rede in der letzten Woche einiges gesagt, was unsere
Zustimmung findet. Aber Sie haben viele Fehler der Re-
Die Geschäftsführerin der Werbeagentur, die mit der
form nicht behoben bzw. gar nicht angehen können.
Werbekampagne der Bundeswehr beauftragt worden ist,
hat es ganz ehrlich auf den Punkt gebracht: Wenn man Ich beginne mit der sicherheitspolitischen Ableitung,
für Schokoriegel Werbung macht, dann sagt Ihnen auch mit dem Geburtsfehler der Reform. Die Reform ist von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12831
Omid Nouripour
(A) der Reihenfolge her auf den Kopf gestellt. Normaler- ein halbes Jahr nachdem die politische Entscheidung be- (C)
weise definiert man Aufgaben, und anschließend sagt reits gefallen war. Die sinngemäße Antwort des Staats-
man, welche Strukturen man dafür braucht. Ihr Vorgän- sekretärs war: Das ist eine gute Frage; wir denken jetzt
ger hat erst erklärt, was alles in den Strukturen passieren einmal darüber nach, wie wir das machen.
muss, wie das Ministerium möglicherweise auszusehen
Über unglaublich viele relevante Details Ihrer Reform
hat, und hat dann gesagt: Am Ende machen wir viel-
wurde nicht entschieden. Sie sind auf diese Details auch
leicht auch noch ein neues Weißbuch. – Sie haben jetzt
in Ihren Reden überhaupt nicht eingegangen. Wie wollen
versucht, die sicherheitspolitische Begründung nachzu-
Sie eigentlich mehr Freiwillige gewinnen? Das ist mir
liefern. bisher nicht klar geworden. Sie haben nur gesagt, dass
Sie haben mittlerweile die Verteidigungspolitischen sich die Bundeswehr auf Veranstaltungen vorstellen soll.
Richtlinien verfasst, die aber – das muss man feststellen, Das ist aber kein schlüssiges Konzept, wie man Freiwil-
wenn man ehrlich ist – nur so etwas wie Ihre Privat- lige gewinnen kann; wir verstehen es nicht. Es ist auch
meinung sein können. Die Inkraftsetzung der Verteidi- nichts, was bisher zu Ende gedacht worden ist.
gungspolitischen Richtlinien ist ein Verwaltungsakt. Das gilt natürlich auch für die Beschaffung. Die Be-
Das, was Sie heute hier beschrieben haben, ist nicht schaffungsfrage ist von zentraler Bedeutung, wenn es
deckungsgleich mit dem, wie beispielsweise der Außen- darum geht, das Geld zusammenzuhalten. Es gibt Be-
minister im UN-Sicherheitsrat gehandelt hat. schaffungsprojekte, die in den 80er-Jahren begonnen
Das heißt, wenn wir eine kohärente verteidigungs- wurden – da haben die Grünen im Übrigen nicht regiert,
und sicherheitspolitische Ableitung brauchen, dann Herr Koppelin – und die bis heute noch nicht abge-
schlossen sind. Die Frage ist, welche Philosophie man in
muss es eine sein, die auch innerhalb der Bundesregie-
Bezug auf die Beschaffung verfolgt. Die Beschaffung
rung abgestimmt ist. Das, was Sie heute beschrieben ha-
darf sich nicht daran ausrichten, wie man am besten
ben, wird in der Bundesregierung möglicherweise gar Standortpolitik macht. Auch dazu haben Sie bisher kein
kein Konsens sein. Sie hatten Vorgänger, die versucht einziges Wort gesagt.
haben, die Verteidigungspolitischen Richtlinien im Ka-
binett beschließen zu lassen. Sie hingegen haben dies gar Das Zusammenhalten des Geldes ist ein wichtiger
nicht erst versucht. Wenn ich mir das Kabinett anschaue, Punkt, wenn man das Ziel erreichen möchte, die Bundes-
verstehe ich das zwar in emotionaler Hinsicht, allerdings wehr flexibel zu gestalten. Flexibilität ist bekannter-
ist es handwerklich unsauber. maßen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Bun-
deswehr. Wir konnten uns vor zehn Jahren noch nicht
Damit bin ich beim zweiten großen Problem. Die vorstellen, dass wir in den Afghanistan-Einsatz gehen.
Auseinandersetzung begann mit der Frage nach den Ein- Wir haben vor drei Monaten noch nicht daran gedacht, (D)
(B) sparzielen: Wie sehen die aus? Wie sparen wir? Was
was in Libyen passiert. Wir wissen auch nicht, über was
kostet das alles? Das alles wissen wir nicht; das alles sa- wir in fünf oder zehn Jahren diskutieren.
gen Sie uns nicht. Sie sagen zwar: „Wir führen jetzt eine
große Reform durch“, aber die Information über das, Wie gesagt, die Flexibilität ist ein entscheidender
was die Grundlage dafür ist, nämlich die finanzielle Punkt. Um sie zu gewährleisten, müssen Sie angemes-
Ausstattung, enthalten Sie uns komplett vor. sene Strukturen schaffen und an die Beschaffungsfrage
anders herangehen. Außerdem müssen Sie das Geld zu-
Fakt ist: Das Kabinett hat beschlossen, 8,3 Milliarden sammenhalten. Mit der Feilscherei um die Sparziele leis-
Euro in vier Jahren einzusparen. Dafür haben der dama- ten Sie der Bundeswehr einen Bärendienst. Was Sie
lige Verteidigungsminister, die Bundeskanzlerin, der da- heute nicht einsparen, was Sie dem Finanzminister heute
malige Gesundheitsminister, der Außenminister und der doch noch abknapsen, müssen Sie morgen zweimal oder
ehemalige Innenminister die Hand gehoben. Sie alle dreimal bezahlen.
haben die Hand für Einsparungen in Höhe von
8,3 Milliarden Euro in vier Jahren gehoben. Wenige Letzter Punkt. Sie haben viel von Bündnissolidarität
Wochen später hat dasselbe Kabinett beschlossen, dass und Bündnispolitik gesprochen. In einer Zeit, in der we-
die Bundeswehr eine Gesamtgröße von 185 000 Solda- gen der Finanzfrage alle relevanten Bündnispartner
ebenfalls Reformen durchführen – viele sparen ein; darin
ten haben soll. Im Anschluss hat der damalige Verteidi-
liegt eine große Chance für Abrüstung, worüber Sie
gungsminister gesagt: Im Übrigen sind die Einsparziele
ebenfalls kein Wort verloren haben –, führen Sie aber
nicht mehr zu erreichen. – Angesichts dessen stellt sich
eine rein nationale Reform durch, statt sich im NATO-
die Frage: Weiß das Kabinett eigentlich noch, was es be-
Bündnis und auf Ebene der EU abzusprechen, wie man
schließt? In einer solchen Situation ist es kein Wunder, Potenziale schaffen, wie man gemeinsam einsparen und
dass Sie nicht das gesamte Kabinett mit Ihren Plänen be- wie man Synergieeffekte nutzen kann.
trauen. Was Sie vorhaben, passt vorne und hinten nicht
zusammen; die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie gehen aber auch nicht auf Fragen ein, die sich auf Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ihr eigenes Handeln beziehen. Mit Blick auf die Ausset- Das Wort hat nun Ernst-Reinhard Beck für die CDU/
zung der Wehrpflicht stellt sich beispielsweise die Frage, CSU-Fraktion.
wer den Objektschutz durchführt, wenn es keine Wehr-
dienstleistenden mehr gibt. Diese Frage habe ich gestellt, (Beifall bei der CDU/CSU)
12832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und NEN]: Jetzt bestätigen Sie mich aber!)
Herren! Herr Kollege Bartels hat, in Frageform geklei- Ich nenne zum Beispiel: Cyberwar. Das ist eine neue Art
det, festgestellt, er habe noch nicht verstanden, was der der Bedrohung. Ich nenne auch die Abwehr ballistischer
Sinn dieser Reform sei. Entweder hat er nicht zugehört, Raketen. Diese Bedrohungen bestehen, wenngleich es
oder er hat nur eine rhetorische Frage gestellt, die er al- keine konventionelle Bedrohung an den Grenzen gibt.
lerdings am Schluss seiner Rede selbst beantwortet hat.
Die sechs Punkte, die er vorgestellt hat, habe ich so ver- Herr Kollege Schäfer, ich höre, Sie wollen, dass sich
standen, dass er die Grundannahmen dieser Reform zwar die Bundeswehr allein auf die Landesverteidigung kon-
für richtig hält, dass er aber bestimmte Aspekte noch im zentriert. Ich mache Sie deshalb auf Art. 24 Grundgesetz
Detail diskutieren will. Ich glaube, genau das ist der Sinn aufmerksam, der das kollektive Sicherheitssystem und
dieser Debatte. Daher fordere ich Sie zu einer konstruk- die Mitwirkung der Staaten an der Aufrechterhaltung der
tiven Zusammenarbeit auf. Polemik dieser Art gehört internationalen Stabilität und Sicherheit zum Thema hat.
vielleicht am Anfang der Debatte dazu; aber am Ende Ihre Aussage zeigt im Grunde, dass Sie diese Verantwor-
muss sie konstruktiv verlaufen. tung, die Sie bisher bei allen Auslandseinsätzen ausblen-
den, bewusst ausblenden. Das finde ich nicht in Ord-
Was der Minister hier unaufgeregt vorgetragen hat, nung; ich muss das in aller Klarheit sagen.
war ein klar definiertes Konzept zur künftigen Rolle der
Bundeswehr im Rahmen nationaler Sicherheitsvorsorge (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Un-
und internationaler Bündnisverpflichtungen. Die Eck- sere Verantwortung für das Leben von Solda-
punkte der Neuausrichtung basieren auf einer fundierten ten sollten wir auch wahrnehmen!)
sicherheitspolitischen Analyse, aus der sich Aufgaben
und Aufgabenprofil der Bundeswehr geradezu zwangs- – Die Verantwortung für das Leben von Soldaten neh-
läufig ableiten lassen. men wir dadurch wahr, dass wir sie gut ausbilden, gut
ausrüsten und mit einem entsprechenden Auftrag in den
Herr Kollege Schäfer, die Verteidigungspolitischen Einsatz schicken. Ich glaube, es ist eine ethische Verant-
Richtlinien sind eben kein alter Hut, sondern das Ergeb- wortung, den Schutz des Lebens der Zivilbevölkerung
nis einer nüchternen Beschreibung von sicherheitspoliti- und die Hilfeleistung im Einsatz zu gewährleisten. Frau
schen Fakten. Sie bilden im Grunde eine realistische Ba- Kollegin, der Schutz von Soldaten allein kann nicht das
sis für eine Analyse der Fähigkeiten unserer Streitkräfte. oberste Prinzip des Handelns sein; sonst dürften wir sie
Sie zeichnen sich durch Klarheit, durch eine gewisse erst gar nicht in den Einsatz schicken.
Schärfe in der Formulierung, aber auch durch Sachlich-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Heimat- (D)
(B) keit aus. Sie zeigen auf, wie unsere Sicherheitsinteressen
von unseren Werten und Zielen abgeleitet werden. Ich schutz – für viele ein Relikt aus vergangenen Zeiten –
finde es also richtig, dass wir an dieser Stelle auch über wird ausdrücklich an privilegierter Stelle erwähnt. Die
unsere Interessen diskutieren. Bundeswehr hat sich hier in der Vergangenheit als tat-
kräftiger Helfer erwiesen und zugleich die Verbunden-
Herr Kollege Trittin, ich halte es für erfreulich, dass heit mit den Menschen in unserem Land unter Beweis
an erster Stelle im Aufgabenspektrum die Landesvertei- gestellt.
digung als Bündnisverteidigung steht. Ich sage Ihnen
Der Minister hat dankenswerterweise an mehreren
auch, warum. Wir können semantisch darüber streiten,
Stellen darauf hingewiesen, dass wir ein modernes Re-
ob es „Reihenfolge“ oder „Rangfolge“ heißen sollte.
servistenkonzept brauchen. Reservisten sind nicht nur
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein Bindeglied zwischen Bundeswehr und Gesellschaft,
NEN]: Das hat der Verteidigungsminister ge- sondern auch eine Verstärkung der Truppe bei den viel-
macht, nicht ich!) fältigen Aufgaben, die jetzt auf uns zukommen.

– Aber Sie haben es angesprochen. – Zur Rangfolge Die deutschen Sicherheitsinteressen werden mit Kon-
möchte ich sagen, dass in Art. 87 a Abs. 1 Grundgesetz fliktverhinderung, sicherheitspolitischer Glaubwürdig-
steht: keit, transatlantischer und europäischer Partnerschaft, in-
ternationaler Geltung der Menschenrechte, Demokratie
Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. und Völkerrecht umfassend beschrieben. Ich brauche
hier nicht im Einzelnen darauf einzugehen.
Das ist völlig richtig; es ist die primäre, von der Bevöl-
kerung zu nahezu 100 Prozent akzeptierte Aufgabe von Lassen Sie mich zum Umfang der Bundeswehr kom-
Streitkräften, den Schutz des eigenen Landes und der men. 170 000 länger dienende Berufs- und Zeitsoldaten
Bürger zu gewährleisten. Ich finde es richtig, dass das sind eine realistische Zahl; es ist für mich die Grenze,
am Anfang steht und damit eine gewisse Wertigkeit hat. die Deutschland als ein Land, das in Europa eine beson-
dere Verantwortung trägt, nicht unterschreiten sollten.
Sie leiten aus der geringeren Bedeutung der Landes-
verteidigung ab, dass man bei der Ausrüstung auf Altes, Lassen Sich mich ein Wort zum Thema Freiwilligen-
was man früher für die Landesverteidigung im klassi- werbung sagen. Herr Kollege Arnold, Sie haben hier
schen Sinne benötigte, verzichten kann. Dazu muss ich frühzeitig ein Konzept zum Scheitern verurteilt, dessen
sagen: Das wäre eine fahrlässige Vernachlässigung po- Umsetzung eigentlich noch gar nicht richtig begonnen
tenzieller Bedrohungen. hat. Es wäre eigentlich schade, wenn es scheitern würde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12833
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
(A) (Rainer Arnold [SPD]: Finde ich auch!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Denn ich glaube, dass eine Chance darin liegt, Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall des Abg. Klaus Barthel [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
an die jungen Menschen zu appellieren: Tut etwas für neten der FDP)
euer Land, egal ob bei der Bundeswehr, in einem sozia-
len Jahr, im Entwicklungsdienst oder auf andere Art und Florian Hahn (CDU/CSU):
Weise! Wir sollten im Grunde klarmachen: Wir brauchen
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
junge Menschen, die sich für die Gemeinschaft einset-
gen! Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben CDU,
zen.
CSU und FDP die Neuausrichtung der Bundeswehr an-
(Michael Groschek [SPD]: Sie müssen sich gelegt. Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-
auch eingeladen fühlen!) Theodor zu Guttenberg hat diese Aufgabe mit großer
Entschlossenheit angenommen.
– Herr Groschek, da sind wir uns einig. – Es geht darum,
dass in einem bestimmten Teil der Biografie nicht nur (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
das Ich im Vordergrund steht, sondern auch deutlich Aber hallo!)
wird, dass es eine Verpflichtung gegenüber den anderen
gibt. Lassen Sie uns daran arbeiten und nicht vorzeitig Er hat eine der größten Reformen dieser Legislatur mit
aufgeben. Wir müssen mit einer Anerkennungskultur für Weitblick, mit Dynamik und mit großem Mut auf den
die Freiwilligendienste, das Ehrenamt und den Einsatz richtigen Weg gebracht.
für die Gemeinschaft werben. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael
(Rainer Arnold [SPD]: Sagen Sie das Ihrer Re- Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das klang
gierung, nicht uns!) heute schon anders!)
Kollegin Buchholz, es ist einfach primitive Polemik, Das ist ein Verdienst, das bleibt.
wenn Sie von der Propaganda der Bundeswehr und ähn- Dies haben Sie, Herr Minister de Maizière, in Ihrer
lichen Dingen sprechen. Ich halte es für wichtig, dass Rede zur Neuausrichtung der Bundeswehr am 18. Mai
junge Menschen informiert – nicht indoktriniert – wer- 2011 in Berlin deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen
den: über die Aufgaben der Streitkräfte, über die ele- ausdrücklich danken. Sie haben darauf aufgebaut, und
mentare Aufgabe des Staates, für die Sicherheit eines Sie haben mit der Fertigstellung der Verteidigungspoliti-
Landes zu sorgen. Das ist eine wichtige Bildungsauf- schen Richtlinien der Reform unserer Streitkräfte die
(B) gabe, und keine Propaganda; lassen Sie sich das an die- notwendige und vor allem richtige sicherheitspolitische (D)
ser Stelle sagen. Ausrichtung gegeben. Damit ist ein solides Fundament
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gegossen, auf das wir nun fähigkeits- und einsatzorien-
FDP) tiert aufbauen können. Dies erfolgt unter den richtigen
Prämissen der nachhaltigen Finanzierbarkeit und der De-
Zum Finanzkonzept. Seitens der Opposition ist viel mografiefestigkeit.
Kritik daran geübt worden. Es wurde auch gesagt, dass
ein solches Konzept im Augenblick fehlt. Ich meine, Wie sich Fundament und Prämissen auf die Neuge-
diese Kritik ist dem politischen Ritual geschuldet. Natür- staltung auswirken, zeigt sich beispielsweise bei der Pla-
lich steht und fällt die Reform mit einer soliden Finanz- nung des zukünftigen Personalumfangs. Mit 240 000 mi-
inie; das ist völlig klar. Ich bin sicher, dass wir diese be- litärischen und zivilen Dienststellen haben wir einen
kommen werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle daran Level erreicht, der verteidigungspolitisch noch verant-
erinnern, dass das gesamte Parlament Verantwortung für wortbar ist. Das ist aber auch ein Umfang, der mit Blick
die Parlamentsarmee trägt und nicht nur die Regierung auf die demografische Entwicklung erreichbar zu sein
und die sie tragenden Fraktionen. Ich lade die Opposi- scheint, ohne Qualitätseinbußen hinnehmen zu müssen.
tion herzlich ein, bei der Bewältigung dieser schwierigen Denn was nützt es uns, wenn wir auf dem Papier mit
Finanzierungsaufgabe mitzuwirken. Nachwuchs planen, die gewünschte Zahl an qualifizier-
ten Nachwuchskräften aber nicht erreichen können?
Kritisch angemerkt wurde auch die fehlende Einbin- Diese wichtige demografische Dimension haben Sie,
dung, etwa in den europäischen Kontext. Ich glaube, Herr Minister, in vielen Gesprächen in den letzten Wo-
dass sich jeder Bündnispartner bei der Reform seiner chen immer wieder sehr eindrucksvoll aufgezeigt.
Streitkräfte zunächst am nationalen Rahmen orientiert
und dabei die entsprechenden Potenziale aufrechterhält. Mit einer sicherheitspolitisch verantwortbaren und
demografiefesten Reduzierung des Personalumfangs
Der Präsident zeigt mir an, dass meine Redezeit abge-
kann langfristig auch ein entscheidender Sparbeitrag ge-
laufen ist. Ich möchte schließen mit dem Dank an den leistet werden. Bis dahin verlangt der Personalumbau
Minister für das Konzept. Ich möchte ihm für diese aber wahrscheinlich zusätzliche Mittel, die es aus meiner
schwierige Aufgabe die Unterstützung meiner Fraktion
Sicht entsprechend einzelplanunschädlich zu berücksich-
zusichern und ihm eine glückliche Hand wünschen. tigen gilt.
Vielen Dank.
(Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Was heißt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das?)
12834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Florian Hahn
(A) – Es ist genau so, wie ich es gesagt habe, Herr Bartels: nen unsere Anerkennung und nicht parteipolitisches (C)
einzelplanunschädlich. Das wäre mein Vorschlag an die- Klein-Klein.
ser Stelle.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Insgesamt gilt, dass Sicherheit Kernelement staatli-
Allen Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Familien
chen Handelns ist und wir die Bundeswehr finanziell
wünsche ich von dieser Stelle aus Gottes Segen.
nachhaltig ausstatten müssen, damit unsere Soldatinnen
und Soldaten ihren Auftrag bestmöglich erfüllen kön- Es freut mich nun, dass nach mir Frau Julia Klöckner
nen. Zur optimalen Auftragserfüllung gehört die Bereit- ihre Rede hält. Es ist immer besonders bedauerlich,
stellung einer modernen, schützenden Ausrüstung. Hier- wenn mit dem Ausscheiden einer Kollegin aus diesem
bei leisten gerade die deutsche und die europäische Haus auch Kompetenz, Schlagfertigkeit und Charme
Wehrtechnik einen wichtigen Beitrag. Den Erhalt deut- verloren gehen. Glück und Gottes Segen für Ihre neue
scher Kernfähigkeiten im Bereich dieser Hochtechnolo- Aufgabe in Rheinland-Pfalz!
gien gilt es daher unbedingt zu berücksichtigen. Wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
müssen unsere Soldaten weiterhin optimal ausstatten
können, ohne uns von anderen abhängig zu machen.
Hierzu brauchen wir – auch das wurde schon angespro- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
chen – optimale Beschaffungsprozesse. Nun hat mir Kollege Hahn schon die Arbeit abge-
nommen. Also, Kollegin Klöckner, ergreifen Sie das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wort.
Ich möchte Ihnen, Herr Minister, auch dafür danken, (Beifall bei der CDU/CSU – Florian Hahn
dass Sie am 18. Mai so deutliche Worte zur Frage der [CDU/CSU]: Ich war mir nicht sicher, ob Sie
Standorte gefunden und sich für ihre Erhaltung in der das gut machen!)
Fläche ausgesprochen haben.
(Michael Groschek [SPD]: Wir zählen nach!) Julia Klöckner (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Gerade in regionaler Nähe wird die Bundeswehr als at-
der Tat, es ist meine letzte Rede hier im Deutschen Bun-
traktiver Arbeitgeber wahrgenommen. Das ist als ein
destag, zumindest meine vorerst letzte Rede.
Aspekt erfolgreicher Personalrekrutierung zu sehen. Da-
rüber hinaus erhält eine Flächenpräsenz die große Ver- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Von der Bun-
bundenheit mit der Bevölkerung am Standort und damit desratsbank aus sehen wir Sie in fünf Jahren
die Verankerung der Armee in unserer Gesellschaft auf- dann wieder!)
(B) recht. Diese Verankerung wird durch die Verkleinerung (D)
auf der einen Seite und die Aussetzung der Wehrpflicht Ich möchte das einhalten, was ich vor der Wahl verspro-
auf der anderen Seite nicht leichter. Die damit verbun- chen habe: dass ich komplett nach Rheinland-Pfalz
dene Herausforderung müssen wir bei der Neuausrich- wechsele.
tung im Auge behalten. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da sind
Sie gut aufgehoben, beim Ministerpräsidenten
Um gerade jungen Menschen die wichtige Rolle der
Beck!)
Bundeswehr in unserem Staatswesen zu vermitteln, hat
sich beispielsweise das Konzept der Jugendoffiziere be- Für meine Rede heute habe ich mir bewusst das
währt. Das gilt es zu erhalten und zu stärken. Die Bun- Thema Bundeswehr ausgesucht. Ich komme aus einem
deswehr als attraktiver Arbeitgeber muss weiterentwi- Bundesland, in dem die Bundeswehr eine große Rolle
ckelt werden. Vor allem muss ihre Attraktivität mit spielt. Das gilt nicht nur für die Soldatinnen und Solda-
geeigneten Instrumenten kommuniziert werden. Die be- ten, sondern auch für die Zivilbeschäftigten, sei es in
rufliche Ausbildung sowie das Konzept der Bundes- Birkenfeld, in Baumholder, im Grunde in ganz Rhein-
wehruniversitäten sind dabei wichtige Markenzeichen land-Pfalz.
der Bundeswehr.
(Jörg van Essen [FDP]: Idar-Oberstein nicht zu
Kolleginnen und Kollegen, im Hinblick auf die zuvor vergessen! Als Artillerist ist mir das ganz
geführte Diskussion und gerade im Hinblick auf die Dis- wichtig!)
kussion im Ausschuss möchte ich dem Minister noch
– Dazu wollte ich gerade kommen. – Ich habe in Idar-
einmal ganz herzlich danken. Er hat ein solides und trag-
Oberstein regelmäßig Gespräche mit Menschen geführt,
fähiges Konzept auf den Tisch gelegt. Dabei ist es ihm
deren Angehörige beispielsweise in Afghanistan sind.
gelungen, zumindest die ernstzunehmenden Fachpoliti-
Wenn ich diese Gespräche beendet hatte, hatte ich meist
ker der Opposition für weite Teile der Reform zu gewin-
mehr Fragen, als ich Antworten bekommen hatte. Ich
nen. Der Versuch, auch heute ein Haar in der Suppe zu
weiß nicht, wie es Ihnen geht: Im Deutschen Bundestag
suchen, ist ihrer Oppositionsrolle geschuldet und natür-
haben wir häufig über Einsätze im Ausland entschieden.
lich okay.
Nicht selten sind wir danach bei parlamentarischen
(Stefan Rebmann [SPD]: Wie großzügig!) Empfängen gewesen und zur Tagesordnung übergegan-
gen.
Für unsere Soldatinnen und Soldaten ist es wichtig,
dass die Reform auf einer breiten parlamentarischen Ich kann für mich sagen: Manche Entscheidungen
Mehrheit fußt. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdie- habe ich schweren Herzens getroffen. Wir erleben dieser
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12835
Julia Klöckner
(A) Tage, dass Menschen, die wir in den Auslandseinsatz ge- Das halte ich für nicht angemessen. (C)
schickt haben, ums Leben kommen. Es ist gleich, ob wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
diese Einsätze als Krieg bezeichnen oder nicht. Sie las-
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist
sen ihr Leben im Dienst für unser Land. Das verdient unglaublich, was Sie hier machen! Unfassbar!)
Anerkennung. Das gilt auch für diejenigen, die sich in
Zukunft für die Bundeswehr entscheiden. Die Bundeswehr hat etwas in der Schule zu suchen; denn
sie bietet Berufsperspektiven. Die Bundeswehr bietet
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Studienmöglichkeiten, handwerkliche Ausbildungen und
Ich gebe zu: Ich war immer eine Anhängerin der auch Sanitätsausbildungen.
Wehrpflicht. Aber ich musste einsehen, dass die Wehr- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dass Sie
pflicht aufgrund des demografischen Wandels und der nicht Ministerpräsidentin geworden sind, war
fehlenden Wehrgerechtigkeit so nicht mehr aufrechtzuer- gut! – Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter
halten ist. Ich war auch eine Verfechterin der allgemei- [CDU/CSU]: Nur getroffene Hunde bellen!)
nen Dienstpflicht. Dienst an einem Land kann ganz ver-
schiedene Gesichter haben. Man kann sich um alte Deshalb wird es auch Aufgabe der Bundeswehr sein,
Menschen oder um Natur und Umwelt kümmern, und zu werben, damit sich junge Menschen für den Dienst in
man kann sich für die Sicherheit des Landes einsetzen. der Bundeswehr entscheiden. Wir haben bisher keine ei-
Eine allgemeine Dienstpflicht ist verfassungsmäßig pro- genen Erfahrungswerte, wie wir geeigneten Nachwuchs
blematisch. auf einer Freiwilligenbasis gewinnen können. Wir brau-
chen jeden. Ich bin auch Realistin: Das Ehrenvolle ist
Deshalb setzt der Weg, den unser Bundesverteidi- das eine; aber bei der Gewinnung von Vollbeschäftigten
gungsminister eingeschlagen hat und fortführen wird, werden wir aufgrund der Attraktivität vieler anderer Ar-
großes Vertrauen voraus. Er hat bereits große Zustim- beitsplätze vor besonderen Herausforderungen stehen.
mung bei den Betroffenen hervorgerufen. Deshalb bitte
Deshalb sollten wir bei dieser Zäsur darauf achten,
ich Sie alle hier im Parlament – ich werde das Nötige
dass das Gespräch über die Bundeswehr, über ihre ver-
von Rheinland-Pfalz aus tun –, den Minister bei diesem
fassungsgemäße Verankerung nicht von den Tischen der
Weg zu unterstützen und die Gelder zur Verfügung zu Familien, nicht aus der Gesellschaft verschwindet. Die
stellen, die wir jetzt brauchen, damit wir auf längere Bundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr steht
Sicht – nach der Neustrukturierung der Bundeswehr – auch unter einer Kontrolle. Die Bundeswehr ist für uns
weniger Geld brauchen. Das ist keine parteipolitische im Einsatz. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
Frage, sondern gesamtgesellschaftliche Verantwortung. darüber entscheiden, wen Sie wohin schicken. Die Men-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen können freiwillig wählen, ob sie Dienst in der
(B) Bundeswehr leisten – ja, das stimmt -; aber wir sollten (D)
Herr Arnold hat vorhin Rheinland-Pfalz gelobt. Ich nicht leichtfertig über die Einsätze entscheiden.
finde, Rheinland-Pfalz ist ein super Bundesland.
Wie gesagt, sehr geehrter Herr Minister, von Rhein-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der land-Pfalz aus werde ich Sie unterstützen. Ich bedanke
SPD und der FDP – Rainer Arnold [SPD]: Es mich bei Ihnen und euch allen für eine tolle Zeit in neun
wird auch gut regiert! – Christian Lange Jahren.
[Backnang] [SPD]: Seit Jahrzehnten sozialde-
mokratisch regiert! Da haben Sie recht! Her- Herzlichen Dank.
vorragend!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
Dass es so super ist, hat es seinen Bürgerinnen und Bür- der FDP)
gern, sicherlich auch den Winzerinnen und Winzern, zu
verdanken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Klöckner, ich bedanke mich bei Ihnen im Na-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Als men des ganzen Hauses für Ihre engagierte Arbeit im
was reden Sie jetzt?) Deutschen Bundestag. Ob das allerdings Ihre letzte Rede
Bei allem geschätzten Können Ihrer Parteikollegen: Es im Deutschen Bundestag war, kann man heute in Anbe-
geht auch um die Kraft der Menschen und darum, was tracht Ihres Alters noch nicht vorhersehen.
die Menschen selber dort erreichen können. Ich halte es (Beifall)
für nicht angemessen, dass in dem jetzigen Koalitions-
vertrag von Rot und Grün steht, dass die Schule kein Re- Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesord-
krutierungsort für die Bundeswehr sein soll. nungspunkt 25 auf:
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer
Damit stellen Sie die Bundeswehr mit Rechtsradikalen- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
gruppen und Sekten gleich, die nicht in der Schule wer-
ben dürfen. Rekommunalisierung beschleunigen – Öffent-
lich-Private Partnerschaften stoppen
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Omid Nouripour – Drucksache 17/5776 –
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen bildet! Überweisungsvorschlag:
Entschuldigung, das steht da nicht drin!) Haushaltsausschuss (f)
12836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) winne für die Haushalte sind in der Regel nicht eingetre- (C)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ten; sie bestanden vor allen Dingen aus Steuerersparnis-
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sen für Leasinggesellschaften oder andere Betreiber. Die
Federführung strittig Risiken blieben in der Regel bei der öffentlichen Hand.
Deshalb hat übrigens das Abgeordnetenhaus von Berlin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vor geraumer Zeit mit einer breiten Mehrheit, die über
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es die Mehrheit der Koalition von SPD und Linken hinaus-
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist ging, beschlossen, keine Projekte der Öffentlich-Priva-
das so beschlossen. ten Partnerschaft einzugehen. Der Grundsatz Öffentlich-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Privater Partnerschaften lautet nämlich: Public – das
ner dem Wirtschaftssenator von Berlin, Harald Wolf, das heißt die Öffentlichkeit – pays, Private profits.
Wort. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
(Beifall bei der LINKEN) Na ja! Das ist aber nicht passiert!)
Für die Kommunen lohnen sie sich nicht.
Harald Wolf, Senator (Berlin):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr
letzten Jahren haben immer mehr Kommunen ehemals von Stetten [CDU/CSU]: Das ist ja schon
privatisierte Unternehmen der öffentlichen Daseins- Wahlkampf, was Sie jetzt machen! – Gegenruf
vorsorge rekommunalisiert, wieder in kommunales des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das
Eigentum überführt. Das geschah unabhängig von der macht er doch immer!)
politischen Couleur: Bürgermeister, Stadträte und Ge- Die Erfahrungen mit der Privatisierung von Unterneh-
meinderäte von CDU, SPD, Linken und Grünen – von men der öffentlichen Daseinsvorsorge waren häufig,
der FDP ist mir nichts bekannt; aber selbst das will ich dass die Preise gestiegen sind, dass insbesondere bei den
nicht ausschließen – haben sich im Interesse ihrer Kom- infrastrukturgebundenen Leistungen Monopolstellun-
munen entschieden, öffentliches Eigentum in öffentliche gen zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher aus-
Verantwortung zurückzunehmen, und damit die Voraus- genutzt wurden, dass teilweise Investitionen und In-
setzungen für die Kommune geschaffen, in Verantwor- standhaltung zurückgefahren worden sind und
tung für die Bürgerinnen und Bürger die Gewährleistung Arbeitsbedingungen sich verschlechtert haben; auch der
öffentlicher Daseinsvorsorge zu verbessern. Verlust der öffentlichen Steuerung ist selbstverständlich
(Beifall bei der LINKEN) eine der Folgen.
(B)
Seit 2007 sind 42 neue Stadtwerke gegründet worden, Ich will an dieser Stelle sagen: Es hat sich auch finan- (D)
und 100 Konzessionsverträge für die Netze sind von ziell für die Kommunen nicht ausgezahlt; denn für eine
Stadtwerken übernommen worden. Bei der Abfallentsor- kurzfristige Einnahme – einmalig in einem Haushalts-
gung hat es zwischen 2004 und 2008 im Rahmen von jahr – wurde eine langfristige, nachhaltige Einnahme-
Neuvergaben 49 Rekommunalisierungen gegeben. Bür- quelle aufgegeben. Ich will Ihnen das an einem Beispiel
gerinnen und Bürger wehren sich mit Volksentscheiden deutlich machen.
gegen Privatisierungspläne oder haben über Volksent- Ich habe schon die Teilprivatisierung der Berliner
scheide Rekommunalisierungen durchgesetzt. In Berlin Wasserbetriebe angesprochen. Damals ist für
haben wir vor einiger Zeit den Erfolg eines Volksent- 1,7 Milliarden Euro die Hälfte der Anteile an Private
scheids erlebt, der unter dem Motto „Wir wollen unser veräußert worden. Wenn man ausrechnet, welche Zinser-
Wasser zurück“ den Protest gegen die Teilprivatisierung sparnis das bedeutet – 1,7 Milliarden Euro, 4 Prozent
der Berliner Wasserbetriebe im Jahre 1999 durch die da- Zinsen –, kommt man auf circa 70 Millionen Euro. Die
malige Große Koalition artikuliert hat. Über 700 000 Privaten haben eine Rendite von circa 120 Millionen
Berlinerinnen und Berliner haben diesen Volksentscheid Euro. Das heißt, ich könnte für den Haushalt jährlich
unterstützt. diese Zinsersparnis von 70 Millionen Euro sozusagen als
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. öffentliche Einnahme verbuchen, wenn ich die Anteile
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE noch hätte, und gleichzeitig hätte ich ein Tarifsenkungs-
GRÜNEN]) potenzial zugunsten der Kundinnen und Kunden in Höhe
von 50 Millionen Euro. Es hat sich also weder für die
Dies zeigt: Immer mehr in den Kommunen Verant- Kunden noch für die Kommune gerechnet.
wortliche und immer mehr Bürgerinnen und Bürger ha-
ben mit der Privatisierungswelle der 90er-Jahre Erfah- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil Sie das
rungen gemacht. Viele der Versprechungen, die damals falsch angefangen haben!)
gemacht wurden, haben sich nicht erfüllt, und viele Ver- Aus derartigen Privatisierungserfahrungen müssen die
heißungen, die damals an die Wand gemalt wurden, ha- Lehren gezogen werden.
ben sich nicht realisiert.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Öffentlich-Privaten Partnerschaften haben sich
als nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme er- Deshalb hat der Senat von Berlin auch beschlossen,
wiesen. Die kommunalen Haushalte wurden durch lang die Berliner Wasserbetriebe zu rekommunalisieren. Wir
laufende Verbindlichkeiten weiter belastet. Effizienzge- stehen gegenwärtig in Verhandlungen mit RWE über den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12837
Senator Harald Wolf (Berlin)
(A) Rückkauf der Anteile und in Verhandlungen mit dem (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
zweiten Anteilseigner, Veolia, über einen Neuabschluss Berlin ist ganz anders!)
der Verträge.
Verbunden war damit die Auflage des Verfassungsge-
Wir haben eine breite Diskussion über die öffentliche richts, dass wir nur noch gesetzlich vorgeschriebene
Verfügung über die Energienetze, weil 2014 die Konzes- Ausgaben tätigen dürfen und alle möglichen Einnahmen
sionsverträge auslaufen. realisieren müssen. Der Senat hat damals jene Entschei-
dung getroffen, um die finanzielle Handlungsfähigkeit
Wir haben in Berlin eine kommunale Wertstofftonne zu gewährleisten – vor dem Hintergrund des von Ihrer
eingeführt, um unseren kommunalen Entsorger zu stär- Partei, von den Grünen und von der CDU angeregten
ken. Verfassungsgerichtsurteils mit der Auflage, Handlungs-
Wir haben noch eine Konsequenz aus den Erfahrun- fähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten.
gen der Vergangenheit gezogen, nämlich die, dass bei (Manfred Grund [CDU/CSU]: Eine unglaubli-
der Übertragung öffentlicher Aufgaben der Daseinsvor- che Frechheit, wie Sie das hier darstellen!)
sorge an Dritte die Verträge offengelegt werden müssen,
dass keine vertraulichen Verträge mehr abgeschlossen Ich sage im Nachhinein: Wir hätten an dieser Stelle
werden dürfen. Wir haben ferner die Voraussetzung da- standhafter sein müssen.
für geschaffen, dass derartige Verträge auch rückwirkend (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
offengelegt werden können. Ich würde mich freuen, Das ist schade!)
wenn andere Bundesländer sich daran ein Beispiel neh-
men würden, weil das die Transparenz stärkt. Aber nehmen auch Sie Ihre Mitverantwortung oder die
Ihrer Parteifreunde wahr. Niemand hat damals einen
(Beifall bei der LINKEN) Vorschlag zur Finanzierung des Berliner Haushalts ma-
chen können. Vor diesem Hintergrund ist jene Entschei-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dung getroffen worden.
Herr Senator Wolf, ich darf Sie kurz unterbrechen.
Wir haben mittlerweile eine klare Beschlussfassung
Der Kollege Mücke von der FDP und der Kollege
– das ist eine Lehre aus diesem Fehler –: Es gibt keine
Ströbele von den Grünen würden Ihnen gerne jeweils
Rekommunalisierung kommunalen Wohnungsbestandes,
eine Zwischenfrage stellen.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Harald Wolf, Senator (Berlin): Das ist gut so!)
Gern. und es gibt keine Privatisierung von Unternehmen der
(B) (D)
Daseinsvorsorge. Das ist klare Beschlussvereinbarung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bei uns, das ist Koalitionsvereinbarung, und das ist auch
Bitte schön. Beschlusslage im Senat, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN)
Jan Mücke (FDP):
Herr Senator, wir haben jetzt Ihre Skepsis gegenüber Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Privatisierungen gehört. Ich vertrete als Liberaler dazu Jetzt der Herr Kollege Ströbele.
eine andere Auffassung. Es ist bemerkenswert, welche
Position Sie einnehmen. Deshalb meine Frage.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE
Der rot-rote Senat hatte vor einiger Zeit die größte GRÜNEN):
landeseigene Wohnungsbaugesellschaft an die Börse ge- Herr Senator, ich begrüße Sie im Deutschen Bundes-
bracht und damit privatisiert. Plant der Senat von Berlin tag. – Sie haben lobend den Volksentscheid zu den Berli-
jetzt einen Rückerwerb dieser Anteile, und, wenn ja, wie ner Wasserbetrieben erwähnt. Meine Frage lautet: Haben
will er diesen Rückerwerb finanzieren? der Senat von Berlin und Sie persönlich den Volksent-
scheid unterstützt, oder hat sich der Volksentscheid ge-
Harald Wolf, Senator (Berlin): gen den Senat gerichtet, nachdem der Senat von Berlin
Herr Abgeordneter, Sie sind nicht richtig informiert. und der zuständige Senator sich geweigert haben, die
Wir haben diese Gesellschaft nicht an die Börse ge- Verträge über den Verkauf der Wasserbetriebe von Ber-
bracht. lin offenzulegen, und der Senat trotz einer Entscheidung
des Berliner Verfassungsgerichts diese Verträge weiter-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hin nur sehr unvollständig offengelegt hat und deshalb
Sie haben sie erst verkauft, und jetzt sind sie durch den Volksentscheid dazu gezwungen werden
an der Börse!) musste, die Verträge vollständig offenzulegen? Sie tun
so, als wenn das ein Volksentscheid gewesen wäre, der
2003 gab es eine Privatisierung – das ist richtig –, unter
vom Berliner Senat unterstützt, vielleicht sogar initiiert
folgenden Bedingungen, nämlich dass damals die verei-
worden ist. Ich finde es hervorragend, dass Sie das jetzt
nigte Opposition von Grünen, CDU und FDP vor dem
prüfen; aber wir wollen doch der historischen Wahrheit
Verfassungsgericht gegen den Berliner Landeshaushalt
die Ehre geben.
geklagt und ihn für verfassungswidrig hat erklären las-
sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
12838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Harald Wolf, Senator (Berlin): Das Abgeordnetenhaus hat die Verträge auf der Grund- (C)
Lieber Christian Ströbele, auch ich bin sehr dafür, der lage einer Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes of-
historischen Wahrheit die Ehre zu geben, und ich stelle fengelegt, und zwar vor dem Volksentscheid.
fest, dass, wenn grüne Politiker aus Berlin im Deutschen
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber
Bundestag sitzen, sie manchmal die Verästelungen der
nicht vollständig! Das wissen Sie doch!)
Berliner Politik nicht wirklich wahrnehmen;
Das ist die Wahrheit, wenn Sie eine ganz kurze Antwort
(Lachen des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) wollen.
das stellen wir gegenwärtig auch im Wahlkampf fest. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Lisa Paus [BÜND- Jetzt fahre ich in meinen Ausführungen fort.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wollen wir doch
mal gucken, was Herr Wolf in der taz zu dem (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
Thema gesagt hat! – Manfred Grund [CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal die
CSU]: Die Belehrungen können Sie im Senat Frage beantworten? Beantworten Sie doch mal
machen, aber nicht hier!) die Frage! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar
Enkelmann [DIE LINKE]: Hat er doch beant-
– Ich spreche gerade mit dem Kollegen Ströbele, der mir wortet!)
eine Frage gestellt hat, die ich, wie sich das gehört, an-
ständig beantworten will.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist so beantwortet, wie er sie beantworten
Dann geben Sie sich mal Mühe!) wollte. Der Herr Senator kann jetzt mit seiner Rede fort-
Herr Ströbele, das Abgeordnetenhaus von Berlin hat fahren. – Bitte schön, Herr Senator.
eine Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes beschlos- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
sen und damit der Intention des Volksbegehrens Rech- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist nicht
nung getragen; denn auf der Grundlage dieses vom Par- beantwortet! Das ist doch albern!)
lament – übrigens mit aktiver Mitwirkung der Fraktion
der Grünen – beschlossenen Gesetzes können die Ver- Harald Wolf, Senator (Berlin):
träge veröffentlicht werden. Ich würde einfach bitten, die Frage, von der Sie mei-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – nen, dass sie noch nicht beantwortet ist, jetzt noch ein-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- mal zu wiederholen. Ich beantworte sie dann gern, falls
(B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber nicht mir doch die Fragestellung entgangen sein sollte. (D)
die Frage! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
GRÜNEN]: Gutes Gesetz!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich gebe Ihnen nicht
– Das ist ein gutes Gesetz, genau. Die Offenlegung ist noch drei Minuten mehr Zeit! Hören Sie doch
erfolgt, und zwar vor dem Volksentscheid. Der Senat einfach zu!)
bzw. das Abgeordnetenhaus hat alles getan, um der In- – Okay. Dann wird die Frage nicht gestellt, und deshalb
tention des Volksbegehrens Genüge zu tun. kann ich sie auch nicht beantworten. Ich fahre jetzt fort.
Ich kann mich erinnern – um auch das einmal zu sa- (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
gen, Kollege Ströbele –: [CDU/CSU]: Die Partei hat immer recht!)
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Bei dem Antrag der Fraktion Die Linke geht es da-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie endlich rum, die Rahmenbedingungen für Rekommunalisierung
die Frage beantworten?) zu verbessern und Rahmenbedingungen, die in der Ver-
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordneten- gangenheit geschaffen wurden, um Privatisierung zu be-
haus hatte auch – – fördern, abzuschaffen bzw. zurückzudrängen. Dazu dient
der Vorschlag, das ÖPP-Beschleunigungsgesetz, mit
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- dem Privatisierungen befördert werden sollen, aufzuhe-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ging doch darum, ben und stattdessen gesetzliche Regelungen zu treffen,
was Sie und der Senat dazu gemeint haben!) mit denen Rekommunalisierung, die Rückführung von
– Ja, aber das habe ich doch gerade gesagt. privatisierten Unternehmen in öffentliches Eigentum,
befördert werden kann. Das heißt auch, dass die ÖPP
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Deutschland AG aufgelöst wird und es eine Anlaufstelle
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine ganz für die Kommunen gibt, um sie bei ihren Rekommunali-
einfache Frage! Da kann man doch kurz drauf sierungsbestrebungen zu unterstützen. Dazu gehört, dass
antworten!) das Förderprogramm der KfW Bankengruppe „Kommu-
nal investieren“ umgewidmet werden muss. Statt mit
– Ja. Ganz einfache Frage.
diesem Programm Privatisierungsprojekte zu unterstüt-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- zen, soll damit in Zukunft eine kosten- und zinsgünstige
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um Ihre Finanzierung von Rekommunalisierungsprojekten be-
Meinung und die des Senats!) reitgestellt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12839
Senator Harald Wolf (Berlin)
(A) (Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Schauen Sie sich an, welche Auseinandersetzungen in (C)
meldet sich zu einer Zwischenfrage) den Kommunen gegenwärtig geführt werden. Dabei geht
es auch um die Höhe des Rückkaufwerts in dem Fall,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass man die Konzession nicht verlängern, sondern die
Netze selbst übernehmen will.
Herr Kollege.
(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Irgendwie versteht er uns nicht!)
Harald Wolf, Senator (Berlin):
Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage mehr zu. Hier sage ich ganz klar: Im Sinne einer Rekommunali-
sierung muss geregelt werden, dass nicht der Sachzeit-
wert oder der Ertragswert, sondern der kalkulatorische
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Restbuchwert entscheidend ist. Durch die Rekommuna-
Keine Zwischenfrage. lisierung müssen die alten Netzbetreiber nicht auch noch
zusätzlich verdienen. Deshalb fordern wir hier eine sol-
Harald Wolf, Senator (Berlin): che klare Regelung.
Ich habe ausführlich geantwortet und führe meine (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
Rede jetzt im Zusammenhang zu Ende. Also doch Enteignung!)
(Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr Hieran schließen wir die Forderung an, dass es eine
von Stetten [CDU/CSU]: Sagen Sie doch ein- klare Verpflichtung zur Offenlegung aller Daten gibt, die
mal etwas zu den Stadtwerken! – für die Netzübernahme notwendig sind. Dies muss vier
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Jahre vor Auslaufen des Konzessionsvertrages erfolgen,
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade haben Sie weil hier gegenwärtig langwierige Prozesse und juristi-
dazu aufgefordert, eine Frage zu stellen! Jetzt sche Auseinandersetzungen notwendig sind. Auch hier
lassen Sie sie nicht mehr zu! Die Linke weiß bedarf es also einer Klarstellung.
einfach nicht, was sie will! – Gegenruf der
(Beifall bei der LINKEN)
Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Wir haben im Antrag deutlich gemacht, was Auch bei der Novellierung des Personenbeförde-
wir wollen!) rungsgesetzes kommt es darauf an, dass es keinen Vor-
rang für kommerzielle Betreiber gibt, sondern dass im
Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen muss Gegenteil den Möglichkeiten, die EU-rechtlich gegeben
klargestellt werden, dass die interkommunale Zusam- sind – Tariftreue, soziale und ökologische Standards bei
(B) menarbeit der Kommunen vergaberechtsfrei ist; denn für (D)
der Vergabe –, ein großes Gewicht eingeräumt wird.
die Kommunen – gerade für die kleinen – ist es wichtig,
dass sie hier untereinander kooperieren können. Das ist (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Sie
übrigens auch eine Forderung, die der deutsche Bundes- können doch die Inhouse-Regelung anwen-
rat gestellt hat, und ich finde, der Deutsche Bundestag den!)
täte gut daran, das zu unterstützen. Ich muss zum Schluss kommen.
Gerade in der gegenwärtigen Diskussion um die (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Energiewende hat das Thema Energienetze eine beson- Schade!)
dere Bedeutung. Die Energiewende wird nur möglich
sein, wenn wir die Energienetze, und zwar nicht nur die Ich glaube, dass wir bei derartigen positiven Rahmenbe-
Übertragungsnetze, sondern auch die Verteilnetze, dafür dingungen für die Rekommunalisierung einen Zugewinn
ertüchtigen, dass sie regenerative Energien, die von ihrer an Demokratie in den Kommunen erzielen können, weil
Natur her dezentral und fluktuierend sind, aufnehmen die Aufgaben der Daseinsvorsorge, die ja ganz entschei-
können, und wenn wir die Energienetze kommunal zu dend für die Lebensbedingungen und das Funktionieren
einem virtuellen Kraftwerk miteinander verbinden. einer Kommune sind, wieder der politischen und demo-
kratischen Kontrolle unterworfen werden können. Dane-
Dafür sind Investitionen in diese Netze notwendig. ben können wir bessere und notwendige Voraussetzun-
Um diese Investitionen steuern zu können, müssen die gen für eine wirkliche Energiewende schaffen und dafür
Kommunen Einfluss auf die Netze nehmen können. Die- sorgen, dass Wertschöpfung und Arbeitsplätze in den
ser öffentliche Einfluss ist eine Voraussetzung für die Kommunen erhalten bleiben; denn rekommunalisierte
Energiewende; denn diese wird nicht dadurch herbeige- Unternehmen stärken – das zeigt die Erfahrung – durch
führt werden, dass man die vier großen Oligopolisten ihre Auftragsvergabe gerade die örtliche, lokale Ökono-
große Offshoreanlagen bauen lässt und damit die Zentra- mie. Wir können auch eine gute kommunale Infrastruk-
lisierung der Energieversorgung weiter zementiert; viel- tur entwickeln.
mehr muss die Energieversorgung kommunalisiert, de-
zentralisiert und damit auch regenerativ gestaltet Deshalb glaube ich, dass es richtig und wichtig ist,
werden. den Kommunen den Weg zur Rekommunalisierung zu
erleichtern und damit die Voraussetzungen für bessere
(Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr Lebensbedingungen in den Kommunen und für bessere
von Stetten [CDU/CSU]: Wollen Sie auch ent- öffentliche Dienstleistungen für die Bürgerinnen und
eignen?) Bürgern zu gewährleisten.
12840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Senator Harald Wolf (Berlin)


(A) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage dieses Gesetzes sind die Verträge (C)
veröffentlicht worden.
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: So viel Dialektik! Ein großer (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Dialektiker, der Herr Wolf!) GRÜNEN]: Das stimmt nicht! – Lisa Paus
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht voll-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ständig!)
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der – Vollständig.
Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/Die Grünen.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein!)
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Senator Wolf, da Sie die Zwischenfrage nicht Zweitens kann ich mich gut erinnern, dass die Frak-
mehr zugelassen und die Frage meines Kollegen Herrn tion der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus die Be-
Ströbele nach der Haltung des Senats zu dem Volksent- denken, ob der Gesetzentwurf, der zum Volksentscheid
scheid nicht beantwortet haben, will ich Sie ein bisschen zur Abstimmung stand, in den einzelnen Formulierun-
in Ihrem Erinnerungsvermögen unterstützen. gen verfassungsmäßig ist, geteilt hat. Ich kann mich gut
erinnern, dass der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/
Wir beide wissen doch, dass Sie als Senator noch kurz Die Grünen vor der Volksabstimmung gefragt hat, wie
vor dem Volksentscheid in einem Interview in der taz ge- wir ein verfassungswidriges Gesetz verhindern können.
raten haben, diesem Volksentscheid nicht zuzustimmen. Auch das gehört zur Wahrheit.
Wir beide wissen auch, dass die Haltung des Senats ge-
genüber dem Volksentscheid insgesamt über die ganze Jetzt können Sie nicht so tun, als ob die Fraktion der
Zeit hinweg sehr zögerlich gewesen ist. Am Anfang ging Grünen oder die grüne Partei dieses Volksbegehren un-
es sogar um die Frage, inwieweit dieser Volksentscheid terstützt hätte. Nein, wir haben die Intention der Offen-
verfassungsrechtlich zulässig ist. Die ganze Zeit über hat legung der Verträge unterstützt, und wir haben die recht-
der Senat den Volksentscheid nicht positiv begleitet, lichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Auf dieser
sondern ihm im Gegenteil sämtliche Steine in den Weg Grundlage sind die Verträge veröffentlicht worden.
gelegt.
Setzen Sie ein solches Informationsfreiheitsgesetz
Erlauben Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Wir dort um, wo Sie als Grüne in der Landesregierung sind!
beide sind uns grundsätzlich in der kritischen Haltung Dann wären wir in der Bundesrepublik Deutschland wei-
gegenüber Öffentlich-Privaten Partnerschaften einig. ter.
(B) Nichtsdestotrotz gehört zur Wahrheit auch, dass die rot- (D)
rote Praxis in den letzten zehn Jahren leider deutlich an- (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
ders war. Es ist nicht nur die Wohnungsbaugesellschaft [CDU/CSU]: Bitte keine Drohungen!)
privatisiert worden, die hier bereits Thema gewesen ist, Drittens. Ja, Frau Paus, unter unserer Ägide ist auch
sondern auch eine Gewerbesiedlungsgesellschaft, und es die Königliche Porzellan-Manufaktur privatisiert wor-
hat weitere Aktivitäten gegeben. den. Das stimmt, aber sie gehört nicht zur öffentlichen
Sie haben in Ihrer Verantwortung als Wirtschaftssena- Daseinsvorsorge. Ich bin nicht der Auffassung, dass die
tor über zehn Jahre lang das Thema Wasserbetriebe nicht Produktion von Tellern und Tassen eine öffentliche Auf-
etwa in Richtung Rekommunalisierung bewegt. Im Ge- gabe ist.
genteil, Sie haben ein Verfassungsgerichtsurteil, das wir (Beifall bei der LINKEN)
beide noch 1999 zusammen erstritten haben, wasserdicht
gemacht, sodass jetzt eine Rekommunalisierung der Aber Wasser, Elektrizität und alle anderen Bereiche der
Wasserbetriebe schwieriger ist, als sie 2000/2001 gewe- Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand.
sen wäre.
Vierter Punkt, Teilprivatisierung. Sie wissen genauso
Von daher sollten Sie ein bisschen näher an der Wahr- gut wie ich, dass die Große Koalition 1999 einen Vertrag
heit bleiben. Wir sind immerhin im Deutschen Bundes- geschlossen hat, in dem das Land zu einem Ausgleich al-
tag. ler wirtschaftlichen Nachteile, die aus dem damaligen
Verfassungsgerichtsurteil erwachsen könnten, verpflich-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tet wurde. Wir waren damals – genauso wie heute – an
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) diesen Vertrag rechtskräftig gebunden. Daran hätten
auch die Grünen nichts ändern können. Vor diesem Hin-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tergrund haben wir eine Gesetzesänderung vornehmen
Herr Senator, ich bitte Sie, vom Platz aus zu antwor- müssen, um das Teilprivatisierungsgesetz an das Verfas-
ten. sungsgerichtsurteil anzupassen. Aber wir haben in kei-
nem Punkt mit unserer Kritik nachgelassen.
Harald Wolf, Senator (Berlin): Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach
Frau Paus, erstens hat der Senat, um das noch einmal auch die Wasserversorgung der kartellrechtlichen Miss-
zu sagen, ein Informationsfreiheitsgesetz beschlossen, brauchsaufsicht unterliegt, haben wir nun das Bundes-
durch das die Offenlegung der Verträge möglich wurde. kartellamt eingeschaltet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12841

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: volle Tafelsilber des Landes Berlin zu verkaufen. Das (C)
Herr Kollege Wolf, Ihre Redezeit ist zu Ende. war notwendig, weil Sie in Ihrer Ausgabenpolitik nicht
einhalten wollten.
Harald Wolf, Senator (Berlin): (Zuruf von der LINKEN: Das sagen Sie!)
Ich komme sofort zum Ende. – Heute sind wir zumin-
dest in der Lage, eine Rekommunalisierung in Erwägung Wenn die Opposition ihr Recht wahrnimmt, die Regie-
zu ziehen; denn es gibt politischen Druck auf die Priva- rung zu kontrollieren, und feststellt, dass die Regierung
ten. Es ist klar, dass Privatisierungen in Berlin nicht keinen verfassungsgemäßen Haushalt aufgestellt hat,
mehr akzeptiert werden und nicht gewollt sind. 2003 war dann sagen Sie quasi im Umkehrschluss, die Opposition
die Situation anders. Damals gab es rechtskräftige Ver- sei daran schuld, dass die Regierung ein Wohnungsbau-
träge, die wir erfüllen mussten. unternehmen verkaufen müsse. Diese Logik ist interes-
sant, aber nicht richtig.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sehr gut
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. herausgearbeitet!)
Zuerst habe ich mich gefragt, warum wir über Ihren
Harald Wolf, Senator (Berlin): Antrag überhaupt diskutieren. Schließlich geht es nur
Diese Verträge müssen wir noch heute erfüllen. um ein paar Hochbauprojekte im Rahmen von ÖPP.
Wenn man aber genau hinschaut, stellt man fest, dass Ihr
(Beifall bei der LINKEN) Antrag sehr stringent ist. Die dort erhobenen vier Forde-
rungen greifen sehr klar ineinander. Entgegen Ihrer Auf-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fassung geht es im Wesentlichen aber nicht darum, über
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Kruse von der Privatisierungen zu reden. ÖPP ist nicht mit Privatisie-
CDU/CSU-Fraktion. rung gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich um eine
Partnerschaft zwischen Privaten und Öffentlichen zum
(Johannes Kahrs [SPD]: Früher habt ihr mal Zwecke der Durchführung und des Betreibens von Pro-
geklatscht, als eure Leute nach vorne gegan- jekten. Es geht Ihnen also gar nicht darum, Fehler der
gen sind! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund Vergangenheit aufzuarbeiten. Als Hamburger weise ich
[CDU/CSU]: Wir klatschen für Leistung und darauf hin: Wir haben als CDU ganz klar gesetzlich fest-
nicht für das Nach-vorne-Gehen!) gelegt, dass die Wasserwerke nicht verkauft werden dür-
fen. Ich glaube, das ist eine sehr gute Entscheidung ge-
Rüdiger Kruse (CDU/CSU): wesen.
(B) (D)
Ja, damals, Johannes. – Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Grundsätzlich freue ich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
mich sehr, wenn auf der Bundesratsbank Leute sitzen. DIE GRÜNEN)
Wenn diese dann auch noch sprechen, ist das in der Re- Ihr Antrag stellt keine Einladung dar, um über die
gel nett. Als Hamburger habe ich dann erst einmal den Vorteile und Nachteile von ÖPP anhand der knapp
positiven Reflex: Der ist immerhin Senator. – Aber die 100 Projekte, die bisher durchgeführt wurden, zu disku-
Erwartungen werden nicht immer so erfüllt, wie man es tieren. Es gibt ja einen Erfahrungsbericht. Dieser Erfah-
sich wünscht. rungsbericht sagt aus, dass 14 Prozent der Projekte un-
Sie haben leider sehr wenig zu dem vorliegenden An- terhalb der Kostenschätzung vor Ausschreibungsbeginn
trag gesagt. Das mag man Ihnen nachsehen; denn Sie sind lagen. Die Verteilung der Aufträge ist ja immer kritisch.
kein Mitglied dieses Parlaments. Ich komme gleich auf Siegen immer nur die Großen? Die Verteilung ist um
die Punkte Ihres Antrages zu sprechen. Aber Sie haben 5 Prozent besser als bei der herkömmlichen Vergabe,
immerhin tiefe Einblicke in Ihr politisches Selbstver- wenn mittelständische Betriebe, vor allen Dingen die im
ständnis und das Ihrer Regierung gegeben. Am Schluss regionalen Umkreis von 100 Kilometern, mit einbezo-
haben Sie gesagt, Ihre Vorstellungen seien ein Weg für gen werden. Bei den 16 bisher fertiggestellten, schluss-
mehr Demokratie. Wenn ich mir Ihre gesamte Rede in Er- gerechneten Projekten ist das Verhältnis so, dass drei da-
innerung rufe, dann frage ich mich, was Sie eigentlich zu von etwas teurer geworden sind, drei etwas billiger und
Ihrem Demokratieverständnis gesagt haben. Als das Par- logischerweise zehn auf den Punkt abgeschlossen haben.
lament in Berlin sein vornehmstes Recht und seine vor- Das ist alles nicht sehr spannend. Das würde derartige
nehmste Pflicht, Sachwalter des Haushaltes zu sein und Maßnahmen also nur im Einzelfall erlauben; da gebe ich
die Haushaltskontrolle auszuüben, wahrgenommen hat den Antragstellern recht. Natürlich gibt es auch Projekte,
und – weil Sie nicht hören wollten – vor Gericht ziehen bei denen man sagen muss: Da ist ÖPP nicht sinnvoll ge-
musste, um Sie zu zwingen, einen verfassungsgemäßen wesen. Es ist also kein Allheilmittel.
Haushalt vorzulegen, haben Sie sich von dunklen Mäch- Der Antrag will aber etwas anderes. Wenn wir diesen
ten umgeben und verfolgt gefühlt. Antrag beschließen würden, dann würde sich die Repu-
blik verändern. Warum? Der Einstieg betrifft nur ÖPP.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Dann sagen Sie, Sie wollen mehr in die Kommunen ver-
Diese dunklen Mächte – FDP, Grüne und CDU, also Par- lagern. Dem kann man natürlich entgegnen, dass es nach
teien, die einen wesentlichen Bestandteil dieser Demo- unserer Erinnerung in der Vergangenheit nicht immer so
kratie darstellen – haben Sie dann genötigt, das wert- gewesen ist, dass Kommunen automatisch besser gewirt-
12842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Rüdiger Kruse
(A) schaftet hätten; das ist ein weites Feld. Sonst wären wir sie von ihm als Mensch und von seiner Fachkompetenz (C)
ja auch nicht auf die Idee gekommen, private, marktwirt- und seiner moralischen Kompetenz überzeugt ist. Die
schaftliche Elemente mit einzubauen. schickt ihn in ein Unternehmen, damit er zum Wohle
dieses Unternehmens und im Interesse der Anteilseigner
Dann sagen Sie, wir möchten, dass dort, wo die Kom- handelt. Sie mit Ihrem grundsätzlichen Misstrauen ge-
mune beteiligt ist, das Aktienrecht geändert wird. Und genüber jedem Individuum wollen das nicht. Sie wollen
Sie sagen, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen ihm detailliert vorgeben, was er zu tun hat. Er soll wei-
Tätigkeit von Kommunen aufgehoben werden soll. sungsgebunden handeln. Er soll zurückberichten, wieder
Wozu würde das Ganze führen? hinlaufen und sagen: Meine Partei hat mir gesagt, ich
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Zu Transparenz!) soll dieses oder jenes entscheiden.
– Zu Transparenz, das ist interessant. Es hat nichts mit (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir nennen
Transparenz zu tun, wenn die Einschränkung der wirt- das Sozialismus! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]:
schaftlichen Tätigkeit von Kommunen aufgehoben wird, Mein Stadtrat, nicht meine Partei!)
sondern dies ist eine Wettbewerbsverzerrung. Warum? – Ja, Ihr Stadtrat. Dass Sie gerne eine Räterepublik ha-
Ein kommunaler Betrieb kann kaum pleitegehen. Ich ben wollen, das habe ich Ihrem Antrag auch entnommen.
weiß, Berlin bzw. Sie arbeiten daran, aber das dauert Das ist nicht der richtige Weg.
sehr lange.
Was würde am Ende passieren, wenn Ihr Projekt
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Norbert Barthle durchgesetzt würde? Sie würden eine Gesellschaft be-
[CDU/CSU]: Irgendwann schon!) kommen, in der es nur staatliche Betriebe und Großkon-
Die meisten unter uns sind sich einig, dass die Was- zerne gäbe. Großkonzerne würden sicherlich in Ihrem
serwerke staatlich bleiben müssen. Nun kann ein Was- System überleben. Verschwinden würden kleine und
serwerk natürlich sagen: Wenn wir schon die Wasserlei- mittelständische Betriebe. Genau das ist Ihr Ziel. Das ist
tung legen, dann könnten wir auch den Hausanschluss auch okay, und das Ziel ist legitim. Sie wissen, dass die
legen. Und wenn wir schon einmal da sind, dann – nach Gesellschaft, die Sie wollen, keine Gesellschaft ist, in
dem Motto: alles aus einer Hand, „one face to the custo- der es kleine, selbstständige Einheiten und ein freies Un-
mer“ – bauen wir Ihnen auch noch die Badewanne ein. ternehmertum gibt.
Dann sagt man noch: Wir brauchen ja Arbeitsplätze im (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Deshalb fördern
Handwerk, von daher stellen wir Leute ein. – Ihr Ange- wir dezentrale Energiestrukturen und Sie die
bot für diese Badezimmergestaltung erstellen sie vor großen Vier! Das ist ein Widerspruch in sich!)
dem Hintergrund der Gebühreneinnahmen. Das heißt,
(B) sie können auf dem Markt interessante Angebote ma- – Bei der Kritik, die eben durchschien – auch ich bin (D)
chen und müssen keine Konkurrenz scheuen; denn im kein Freund der großen Vier –, müssen Sie eines sehen:
Zweifelsfall liegen sie in ihrem Preis unter dem der Kon- Die Energiestruktur, die wir heute haben, ist nicht auf
kurrenz. Das bedeutet, der kleinere Betrieb hat das privatwirtschaftlicher Basis entstanden. Kein einziges
Nachsehen. Der kann sich nicht so rückfinanzieren wie Atomkraftwerk ist von einem privaten Unternehmen ge-
ein kommunales Unternehmen, weil er natürlich nicht plant oder gebaut worden. Die Atomkraftwerke sind
das Rating hat wie eine Kommune. Darüber hinaus kann staatlich entstanden. Das heißt, dass staatliche Systeme
er auch nicht auf Gebühreneinnahmen zurückgreifen. sehr wohl zu Fehlern neigen. Das haben wir überall be-
Das ist keine Transparenz, sondern die Zerstörung von wiesen, Sie besser als wir.
Strukturen.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Norbert
Dann wollen Sie das Aktienrecht mal so eben – nur Barthle [CDU/CSU]: Das war ein vergiftetes
wegen Ihrer Rekommunalisierung – dahin gehend än- Lob!)
dern, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates weisungsge-
bunden sein sollen und Bericht erstatten müssen. Zu argumentieren, wenn ein Unternehmen in kommu-
nalem Besitz sei, würden immer die richtigen Entschei-
Nehmen wir zunächst einmal den letzten Punkt, die dungen getroffen, ist falsch. Die Energiewende, die in
Berichterstattung. Sie wollen, dass die Mitglieder des unserer Gesellschaft stattfindet, ist nicht von den Kom-
Aufsichtsrates verpflichtet sind, die vertraulichen Infor- munen ausgegangen, sondern von privaten Stromanbie-
mationen, die sie dort bekommen, an ihre Entsender wei- tern wie LichtBlick, die darauf vertraut haben, dass es in
terzugeben. Das können Sie auch einfacher haben: Ich diesem Land Kunden für Ökostrom gibt. Diese haben
würde das Ganze einfach auf YouTube oder anderweitig bahnbrechend gewirkt. Nur deswegen ist das so. Wenn
ins Internet stellen. Die Vertraulichkeit ist dann natürlich heute kommunale Betreiber anfangen, in der Kreislauf-
weg. Sie können dann Unternehmensinterna nicht mehr wirtschaft Angebote zu machen, dann tun sie das nur,
diskutieren, bzw. sie sind nicht mehr intern. Das ist, weil private Unternehmen ihnen das vormachen.
glaube ich, ein großer Nachteil.
Das Subsidiaritätsprinzip sollten wir nicht anrühren.
Zweitens, die Weisungsgebundenheit. Man kann na- Wenn Ihr Projekt greift, die Kommunen vor Ort, vor allen
türlich das tun, was Sie da wollen, aber das ist ein ande- Dingen in strukturschwachen Gebieten, die Führung
res System. Wir haben ein System, das aus Verantwor- übernehmen und die Stadtreinigung auch noch Garten-
tung, Freiheit und Gewissen besteht. Das bedeutet, die bauleistungen anbietet, dann wird die Vielfalt verschwin-
Gewerkschaft, die einen Vertreter entsendet, tut das, weil den, und die Städte und Gemeinden werden grauer. Die-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12843
Rüdiger Kruse
(A) ses Modell ist erst 20 Jahre her. Wir möchten es nicht der auch von der mittelständischen Wirtschaft Berlins (C)
wiederhaben. Deswegen werden wir Ihren Antrag ableh- gelobt wird. Das ärgert häufig Ihre Bundespartei, aber
nen. die Linke in Berlin findet das gut.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss sich mit diesem Antrag inhaltlich beschäf-
tigen. Wenn wir das tun, kommen wir zu dem Ergebnis,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass es nicht so ist, dass die Kommune immer alles rich-
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs von tig macht, aber auch nicht so, dass die Privaten alles
der SPD-Fraktion. richtig machen. Wenn wir den Antrag lesen, stellen wir
fest, dass in einer, wie ich finde, unerträglichen Art und
(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ Weise der Bereich der Privatisierung und Rekommunali-
CSU]: Herr Kahrs, bei Ihnen haben vier Leute sierung mit ÖPP vermischt wird. Das eine hat nur sehr
geklatscht!) begrenzt mit dem anderen etwas zu tun; das hat Herr
Kollege Kruse auch gesagt.
Johannes Kahrs (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Es ist doch so, dass die umfangreichste Verstaatli-
Kollegen! Es ist immer wieder eine Freude, wenn man chung gerade in Baden-Württemberg stattgefunden hat.
hier im Deutschen Bundestag eine inhaltliche Debatte Die Anteile an EnBW wurden, glaube ich, nicht von der
führen kann. Bisher habe ich das vermisst. Ich habe et- Linkspartei zurückgekauft, sondern von einer Koalition
was vom Berliner Lokalwahlkampf erlebt. aus CDU und FDP.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich auch!) (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Völlig überteuert!)
Ich frage mich, ob hier der Ort dafür ist. Ich bin mir si-
cher, dass die Debatte, die zwischen den Kollegen von Also können Sie den vorliegenden Antrag mit sehr viel
den Grünen und der Linken geführt worden ist, im Berli- mehr Wohlwollen lesen als wir Sozialdemokraten.
ner Abgeordnetenhaus sehr viel qualifizierter mindes- (Florian Toncar [FDP]: Alle Parteien haben
tens 20- bis 30-mal geführt worden ist. Deswegen frage zugestimmt!)
ich, warum man uns hier damit behelligen muss.
Ich glaube nicht, dass es für das Land ein wirklich tolles
Im Ergebnis stellt man, wenn man den Antrag der
Geschäft war, was der damalige und zu Recht abge-
Linken liest, fest, dass reine Ideologie gefeiert wird. Hier
wählte Ministerpräsident da eingefädelt hat.
wird gesagt: Staat ist immer besser als privat. – Das ist
genauso intelligent wie die Aussage der FDP: Privat geht Wenn wir uns mit der Sache – kurze Ausflüge seien (D)
(B)
vor Staat. – An den Rändern sitzen die Ideologen, und mir gestattet – beschäftigen,
jetzt ist es an uns in der Mitte, zu erklären, dass das Le-
ben nicht ganz so einfach ist, wie sich das manch (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie haben eine
schlichter Antragsteller vorstellt. große Sachkenntnis, Herr Kollege!)
(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Florian dann können wir feststellen, dass es im Bereich ÖPP so-
Toncar [FDP]) wohl Licht als auch Schatten gibt. Am Anfang haben
viele gedacht: Wunderbar, das ist die Lösung, jetzt kön-
– Nur getroffene Hunde bellen, Herr Kollege. nen wir uns als Kommune endlich all das leisten, was
Als ich diesen Antrag gelesen habe, habe ich gedacht: wir uns früher nie leisten konnten. Irgendwer muss das
Das ist wieder die übliche grüne, Entschuldigung, linke einmal bezahlen, aber das ist noch ewig hin.
Schreibe. In dieser Situation sind auch Fehler passiert; das muss
(Heiterkeit bei der LINKEN – Britta Haßelmann man zur Kenntnis nehmen. Ich als Haushälter finde, dass
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen man sich die ÖPP sehr misstrauisch und sehr genau an-
Sie mal den Textbaustein ändern! – Weiterer schauen muss. Es gibt sehr viele Chancen, und es gibt
Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was sehr viele Risiken. Ich glaube, dass man jeden Fall ein-
denn nun?) zeln betrachten muss. Deswegen taugt das Thema weder
für den Berliner Kommunalwahlkampf noch für lustige
Im Ergebnis kann man sagen, dass es wohl auch so ist. Anträge der Linken, sondern es geht um die durchaus
Was mich wirklich gewundert hat, ist, dass Sie, Herr ernstzunehmende Frage, wo ÖPP Sinn machen oder
Senator, sich dafür hergegeben haben, diesen Senf auch eben nicht.
noch zu verteidigen. Die Aussage des Kollegen Kruse
Ich als Haushälter bin ein großer Anhänger der Ka-
über die Wertschätzung von Senatoren teile ich; denn bei
meralistik. Das mag für viele hier im Haus eine sehr
uns in Hamburg sind Senatoren in der Regel sehr seriöse
langweilige Materie sein. Man kann auch über viele an-
Personen. Wenn Sie einen solchen Antrag verteidigen,
dere Systeme, zum Beispiel die Doppik, reden, in denen
bringen Sie das Bild ins Wanken, das ich bisher von Ih-
man sich die Zahlen so hindrehen kann, wie man sie
nen hatte. Ich kenne Sie nur als sehr kompetenten Sena-
braucht. Die Kameralistik hingegen ist ehrlich. Sie zeigt
tor,
genau auf, wo man Geld hat, wie viel Geld man hat und
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Deshalb unter- was man mit dem Geld tun kann oder auch nicht. Das ist
stützt er die Rekommunalisierung!) für die Bürger sehr transparent.
12844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Johannes Kahrs
(A) Man muss die ÖPP so gestalten, dass sie mit der Ka- Natürlich muss eine Kommune auch in der Lage sein, (C)
meralistik in Übereinstimmung gebracht werden. Man Grundstücke zu verkaufen, zum Beispiel an Wohnungs-
muss abbilden, wie sich die Kosten für eine bestimmte unternehmen oder an Genossenschaften, die darauf
Maßnahme im Rahmen der ÖPP im Laufe der Zeit im bauen wollen. Das ist ein wichtiger Bestandteil des so-
Haushalt widerspiegeln. Sie müssen im Haushalt auftau- zialen Wohnungsbaus.
chen. Die Menschen müssen wissen, was die Vorhaben
kosten. Man kann den Menschen doch ehrlich sagen: Das alles gehört zusammen. Deswegen muss man,
Wir haben kein Geld, um eine Schule zu bauen oder sie wie ich finde, den vorliegenden Antrag der Linken ab-
zu sanieren, aber wir glauben, dass es dringend notwen- lehnen. Er ist nämlich erstens undifferenziert und zwei-
dig ist, weil Bildung wichtig ist. Es gehört dazu, dass tens hochideologisch. Deswegen, Herr Senator, war es
Schulen anständig aussehen. – Wenn man dann sagt: „Es bedauerlich, dass Sie sich dafür hergegeben haben.
gibt eine Möglichkeit, ein Vorhaben umzusetzen, das Vielen Dank. Schönen Tag noch!
kostet Geld, aber damit kann man das Ganze nachvoll-
ziehbar gestalten“, dann kann man das in einer Kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
mune ernsthaft diskutieren. der CDU/CSU und der FDP)
Man muss allerdings aufpassen, dass bestimmte Feh-
ler nicht passieren. Es muss ein transparentes Verfahren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
geben, die Verträge müssen einsehbar sein, man muss sie Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil von der
offenlegen können. Wenn einige Parteien sagen: „Wir FDP-Fraktion.
wollen alles offenlegen“, dann ist es nicht so, dass nur
die Unternehmen die Bösen sind. Es gibt auch viele Un- (Beifall bei der FDP)
ternehmen, die die Verträge gerne offenlegen würden. Es
gibt dazu ein Schreiben von der deutschen Bauindustrie. Klaus Breil (FDP):
Darin heißt es, dass man ein großes Interesse an mehr Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Transparenz und an der Offenlegung von ÖPP-Vertrags- gen! Der Antrag der Linken, den wir heute debattieren,
werken hat, weil man nämlich glaubt, dass dies für alle ist blanke Augenwischerei. Sie von der Linken reden da
Beteiligten Sinn macht, auch was die Akzeptanz angeht. von Beratung kommunaler Unternehmen und von wirt-
Denn die Bürger wundern sich doch: Auf der einen Seite schaftlich arbeitenden Unternehmen. In Wirklichkeit
ist ihre Kommune pleite, und auf der anderen Seite wer- sollen Räte gebildet werden, um die Unternehmen kon-
den Schwimmbäder, Kindergärten und Schulen saniert. trollieren zu können. Sie schreiben da von Änderungen
Natürlich wundern sich die Bürger und fragen sich, wo- im Aktiengesetz. Tatsächlich wollen Sie die Aktionäre (D)
(B) her das Geld auf einmal kommt. Dann muss man ihnen
entmachten. Sie fordern in Ihrem Antrag die Rekommu-
den Sachverhalt erklären und darauf hinweisen, dass nalisierung öffentlich-privater Projekte. Ihr wahres Ziel
ÖPP Sinn machen kann. Man muss die Kosten offen- ist aber die Verstaatlichung der Wirtschaft. Die mate-
legen. Dann muss man sich das Ergebnis genau an- rielle Gleichheit aller – das ist das zentrale Ziel der
schauen. Es darf nicht dazu führen, dass die Schulden in Linkspartei. Niemand darf mehr haben als der andere.
die Zukunft geschoben werden und dass die, die jetzt zur
Schule gehen, diese am Ende ihres Arbeitslebens immer (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
noch abbezahlen. Man muss die Vorteile und die Nach- doch Unsinn!)
teile abwägen. Wenn man dann zu dem Ergebnis kommt,
dass man das machen kann, ist das gut. Sie haben keinen Bezug zu den Menschen, die hart
und fleißig arbeiten. Sie haben keinen Bezug zu den
Es gibt gute Beispiele für ÖPP, und es gibt schlechte Leistungsträgern in unserer Gesellschaft, außer natürlich
Beispiele. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Privati- den, dass Sie deren Erfolg abgreifen wollen.
sierung und Entkommunalisierung. In Hamburg wurde
ein Volksentscheid durchgeführt: Der Stadt sollte zu- (Zurufe von der LINKEN)
künftig verboten werden, irgendetwas zu verkaufen. Er Bevor allerdings die Linkspartei das Eigentum dieser
ist durchgefallen – normalerweise sind solche Begehren fleißigen Menschen großzügig verteilen kann, muss sie
immer erfolgreich –, und zwar deswegen, weil nicht klar es „vergesellschaften“ oder, wie Sie es neuerdings for-
und transparent gesagt wurde, was denn dann verkauft mulieren, „demokratisieren“. Alles Geplänkel! Der rich-
werden soll. Es wurde einfach gesagt: Die Kommune tige Begriff lautet: verstaatlichen. Sie lassen dabei be-
darf gar nichts mehr verkaufen. wusst offen, in welchem Ausmaß und in welcher Form
Ich finde es auf der einen Seite richtig, in Hamburg Sie diese Enteignungen vornehmen wollen. Doch wie
die Wasserwerke oder die öffentlichen Unternehmen des Eisenfedern aus einem uralten Sofa, so baumeln Ihre
Wohnungswesens, SAGA/GWG, nicht zu verkaufen. wahren Ziele schlaff aus dem heutigen Antrag.
Das ist richtig, wichtig und gut. Auf der anderen Seite ist (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der
nicht einsehbar, warum es nicht möglich ist, dass man CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-
sich von Unternehmen – Hapag-Lloyd oder andere –, die SES 90/DIE GRÜNEN)
in Schwierigkeiten geraten sind und denen man finan-
ziell geholfen hat, dieses Geld zurückholt, sobald es ei- Vorformuliert ist das alles in den Gründungsdoku-
nem solchen Unternehmen wieder besser geht. menten der Linkspartei. Sie bekennen dort schamlos:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12845
Klaus Breil
(A) Die Demokratisierung der Wirtschaft erfordert, die (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (C)
Verfügungsgewalt über alle Formen des Eigentums NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gleichzeitig hat man
sozialen Maßstäben unterzuordnen. den Kommunen das Geld abgegraben!)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ein Beispiel: Unsere christlich-liberale Koalition hat
bei der Neuregelung des SGB II eine bedeutende Kor-
Schließlich sagt Ihr Genosse, unser Kollege Diether rektur vorgenommen. Der Bund wird schrittweise die
Dehm: Kosten der Grundsicherung im Alter übernehmen:
Unser Fernziel ist, Konzerne wie Daimler-Chrysler, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
BMW und Großbanken wie die Deutsche Bank zu NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nimmt man der
vergesellschaften. Bundesagentur für Arbeit weg!)
(Zurufe von der LINKEN: Richtig!) 45 Prozent im Jahr 2012, 75 Prozent in 2013 und
100 Prozent ab 2014. Die Kosten dafür betragen aktuell
Das ist das, was die Linken unter Demokratisierung und 3,9 Milliarden Euro pro Jahr, bei einer geschätzten Stei-
unter Vergesellschaftung verstehen: Verstaatlichung auf gerung von 5 Prozent im Jahr. 4,5 Milliarden Euro Zu-
allen Ebenen. schuss vom Bund für die Kommunen im Jahr 2014 – das
ist eine klare Ansage.
Hier und heute sind eben die Kommunen fällig. Klar-
heit schafft das linke Wahlprogramm von 2005: Gleichwohl ist es auch immer erste Aufgabe der
Kommunen, sorgsam mit ihren Mitteln zu wirtschaften.
Die Versorgung der Menschen mit Wasser und
Strom, die Müll- und Abwasserentsorgung, der (Johannes Kahrs [SPD]: Linke und FDP-Ideo-
öffentliche Personenverkehr, … sind Leistungen, logie auf einmal ist schwer zu ertragen!)
die … nicht der privaten Konkurrenz unterworfen
werden dürfen. Wenn sich zum Beispiel eine Kommune durch Über-
nahme des Stromnetzes Effizienzvorteile oder Synergie-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ulla effekte erhofft, kann eine solche Übernahme durchaus
Lötzer [DIE LINKE]: Weil es Leistungen der sinnvoll sein. Auch für Investitionen kann der Zusam-
Daseinsvorsorge sind!) menschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebs-
führung gelegentlich Vorteile bringen.
So steht es in Ihrem Wahlprogramm.
Aber pauschal eine Rekommunalisierung zu verord-
Um diesen Sichelschnitt den Kommunen schmack- nen, kann nicht im Interesse der Kommunen liegen;
(B) haft zu machen, entdecken Sie auf einmal Ihr Herz für denn der Drang zum eigenen Stadtwerk entspringt ge- (D)
das regionale Handwerk, ein Handwerk, das, wie Sie in rade bei kleineren Kommunen vielfach dem Wunsch,
Ihrem Antrag ausführen, von öffentlich-privaten Ge- vermeintlich versäumte Versorgungssicherheit nachzu-
meinschaftsunternehmen nur gequält wird und schließ- holen. Dabei werden komplexe Regelungen und deutlich
lich leer ausgeht. gestiegene Geschäftsrisiken gerade für kleine Versor-
gungsunternehmen vehement verkannt. Wenn dann noch
Kommen wir nun zur Wahrheit: Die Kommunen lei- die Kommune die Kosten für künftige Aufrüstungen,
den unter einem strukturellen Defizit. Dies kann unserer Zinsen und Erhaltung unterschätzt, schadet sie sich
Ansicht nach nur mit sinnvollen strukturellen Reformen selbst und damit vor allem ihren Bürgern.
behoben werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein glänzendes Bei-
(Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE]) spiel für gelungene Öffentlich-Private Partnerschaft fin-
det sich hier ganz in der Nähe. Es ist ein Beispiel, das
Ziel muss sein, die kommunalen Einnahmen zu versteti- gerade die Linke in freudige Erregung versetzen muss;
gen und die Ausgabenseite zu entlasten. Das ist nur im denn in Kürze werden Sie sich dort auf der frisch polier-
Gesamtpaket zu erreichen. ten Regierungsbank niederlassen. Es ist der Landtags-
Den Kommunen wurden in den letzten Jahrzehnten neubau in Potsdam, Kostenpunkt 120 Millionen Euro.
ständig neue Aufgaben übertragen, und das ohne ausrei- Das Gebäude wird von dem niederländischen Konsor-
chende Finanzausstattung. tium Royal BAM errichtet und die nächsten 30 Jahre be-
trieben. Ab 2013 wird das Land Brandenburg 30 Jahre
(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Sie waren lang 9 Millionen Euro Miete pro Jahr zahlen. Übrigens
daran nicht beteiligt? – Zuruf des Abg. Sven- wirkt die Bayerische Landesbank, die Bayern LB, feder-
Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führend an der Finanzierung des PPP-Modells mit. Sie
NEN]) sehen, es geht doch.
Es ist die christlich-liberale Bundesregierung, die damit (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Schluss gemacht hat. NEN]: Wenn es die Bayerische Landesbank
dann noch gibt! – Heiterkeit bei der SPD und
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie hat mit der FDP dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian
Schluss gemacht!) Lange [Backnang] [SPD]: Kurze Schock-
starre!)
Sie hat damit begonnen, Entlastungen der Kommunen
auf der Ausgabenseite einzuleiten. Danke.
12846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Klaus Breil
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – munalisierung und Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand (C)
Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir haben auf ist. Die Tatsache, dass Sie eine Wohnungsbaugesell-
mehr von der Bayerischen Landesbank ge- schaft und die Siedlungsbaugesellschaft veräußern
lauscht!) mussten, damit zu begründen, dass es eine Verfassungs-
klage der Grünen und der CDU gegen Ihren Haushalt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gab, ist doch völlig absurd.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann von (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau
Bündnis 90/Die Grünen. Haßelmann, da muss ich Ihnen schon wieder
zustimmen!)
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich habe auch schon Urteile von Verfassungsgerichten
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen gesehen. Das Verfassungsgericht gibt Ihnen in solchen
und Kollegen! Ich kann heute weder mit Sichelschnitt Fällen bestimmte Auflagen, aber es zwingt Sie nicht
noch mit Eisenfedern dienen; ich versuche es sachlich in dazu, Wohnungen zu veräußern.
Bezug auf die Themen, die im Antrag der Fraktion Die
Linke angesprochen worden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das wäre ja der FDP)
neu bei Ihnen, Frau Haßelmann!)
Diesen Beschluss, Herr Wolf, hat Rot-Rot zu verantwor-
– Hallo, Herr Kampeter, schön, dass Sie der Debatte fol- ten. Darum sollten sich die Linken kümmern.
gen! Im Haushaltsausschuss wird das ja auch noch zu
thematisieren sein. Viele der Vorschläge der Linken wer- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie wäre es
den dort diskutiert werden, weil sie Ihren Fachausschuss mal mit Sparen? – Steffen Kampeter [CDU/
betreffen. CSU]: Zwei Partys weniger für Wowereit!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wollen Sie da Ich bin zwar keine Berlinerin – ich lebe hier nur mit
jetzt Mitglied werden?) Zweitwohnsitz –, aber ich glaube, dass dies Berlin bis
heute nachhängt und dass auch heute noch Wohnungen
Es geht hier ja nicht nur um einen kritischen Blick veräußert werden. Das halte ich wirklich für nicht ver-
und eine kritische Reflexion im Hinblick auf ÖPP und antwortlich. Da klafft eine große Lücke zwischen dem
die Frage, welche Risiken eigentlich in diesem Projekt Anspruch, den Sie hier formulieren, und Ihrer realen
bestehen. Als der Kollege Breil das letzte Projekt gerade Politik, die Sie in Berlin bereits seit zehn Jahren zu ver-
so glanzvoll beschrieben hat, mussten wir allesamt ein antworten haben.
(B) bisschen schmunzeln, weil als Garant für die Realisie- (D)
rung die Landesbank in Bayern genannt worden ist. (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist wie bei den
Grünen!)
(Heiterkeit des Abg. Johannes Kahrs [SPD] –
Klaus Breil [FDP]: Die ist auch öffentlich! – Dieser Diskussion müssen Sie sich stellen. Es geht nicht,
Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Man hier überall zu erklären, Sie seien die ausgewiesenen
muss manchmal nur Geduld haben!) Verfechter der Rekommunalisierung, obgleich Sie jede
Menge öffentliches Eigentum verkauft haben, wobei Sie
Ich glaube, dass wir über die Fragen, wie ÖPP-Pro-
auch andere Akzente hätten setzen können.
jekte wirken, wie viele Risiken dort bestehen, wie Trans-
parenz hergestellt wird, wie nachvollziehbar solche Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
träge sind und wie einseitig oder auch nicht Lasten und
Denken Sie doch einmal an die massive Kritik, die
Verantwortung in solchen Verträgen verteilt sind, eine
Sie seitens der Sparkassenverbände und anderer Institu-
kritische Debatte zu führen haben. Das ist der erste
tionen bekommen haben, als Sie die Landesbank ver-
Punkt; deshalb ist es auch in Ordnung, dass wir die De-
kauft haben.
batte heute hier vertieft führen, dann aber auch in den
Fachausschüssen. Ich halte eine solche Debatte für not- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sa-
wendig. gen Sie doch einmal etwas Vernünftiges! Dann
können wir auch klatschen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir können das gern vertiefen, nicht nur im Berlin-Dis-
Der zweite Punkt: Das, was Sie angesprochen haben,
kurs.
Herr Senator Wolf, sind aber die Themen Rekommunali-
sierung und Privatisierung. Sie müssen es an einer sol- Das Thema „Privat vor Staat“ wird oft sehr ideolo-
chen Stelle schon aushalten, dass Sie nicht besonders gut gisch und sehr radikal diskutiert. Zu den Verfechterinnen
aussehen, wenn Sie hier im Parlament Ihren Vortrag mit und Verfechtern gehören einige der Kolleginnen und
Vehemenz halten und sich als Garant für die Rekommu- Kollegen zu meiner rechten Seite des Hauses. Wir haben
nalisierung und gegen die Privatisierung darstellen. damit in Nordrhein-Westfalen hinreichende Erfahrungen
gemacht, wo in der letzten Legislaturperiode unter
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aller-
Schwarz-Gelb die wirtschaftliche Betätigung der Kom-
dings wahr!)
munen massiv eingeschränkt wurde. Dies stieß nicht nur
Sie hatten zehn Jahre Zeit, in Berlin politisch unter Be- auf Kritik aufseiten der SPD oder Grünen oder des Ver-
weis zu stellen, wie wichtig Ihnen das Thema Rekom- bandes kommunaler Unternehmen. Nein, auch der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12847
Britta Haßelmann
(A) Handwerkskammertag und die kommunalen Spitzenver- Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Weil nicht jeder (C)
bände, in denen nach meiner Information auch viele Hinterbänkler hier redet!)
CDU-Mitglieder aktiv sind,
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt rutschen Jan Mücke (FDP):
Sie ins Unsachliche ab!) Frau Kollegin Haßelmann, auch Sie haben jetzt zur
Kenntnis gegeben, dass Sie Privatisierungen sehr kri-
haben massiv Kritik an dieser einseitigen Privilegierung tisch gegenüberstehen, insbesondere wenn es sich um
und Ausrichtung auf „Privat vor Staat“ geäußert. Wohnungen handelt, die im öffentlichen Eigentum ste-
(Christian Lindner [FDP]: Was für ein Unsinn! hen oder gestanden haben. Wenn ich richtig informiert
Was erzählen Sie da für einen Unsinn!) bin, hat im Jahr 2000 Rot-Grün regiert.
– Herr Lindner, wir haben das alles jetzt gemeinsam mit (Johannes Kahrs [SPD]: Gut!)
dem Handwerkskammertag wieder zurückgenommen. Wenn ich weiter richtig informiert bin, hat im Jahr 2000
(Christian Lindner [FDP]: Den Vertreter der eine rot-grüne Bundesregierung 114 000 Wohnungen
Handelskammer habe ich damals im Landtag veräußert, nämlich die sogenannten Eisenbahnerwoh-
von Nordrhein-Westfalen mit angehört! Die nungen. Wie können Sie mir erklären, dass Sie heute
haben das etwas präziser gesagt! Sie scheinen diese Position einnehmen und damals eine andere hat-
die letzten Jahre in Nordrhein-Westfalen je- ten?
doch nicht viel hinbekommen zu haben! – Ge- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
genruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD]: Es NEN]: Wir reden doch von Nordrhein-West-
muss sich doch nicht jeder Hinterbänkler der falen! – Gegenruf des Abg. Steffen Kampeter
FDP hier melden!) [CDU/CSU]: Eigentlich reden wir über Bun-
– Ich weiß. Herr Lindner, dass Sie zu der Zeit im Land- despolitik!)
tag waren, macht es ja nicht besser, oder? Stimmen Sie mir zu, dass Ihre Argumentation angesichts
(Christian Lindner [FDP]: Aber ich kenne die dieser Fakten ein bisschen zwielichtig erscheint?
Fakten!)
Ich weiß auf jeden Fall, dass wir diesen Punkt der Ge- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
meindeordnung längst geändert haben. Nein, ich teile Ihre Einschätzung an dieser Stelle
nicht. Über die Frage, ob der Bund zur Erfüllung seiner
(Christian Lindner [FDP]: Waren Sie einmal in Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge bestimmtes
(B) Brüssel?) Eigentum besitzen muss oder nicht, können wir hier gern (D)
– In Brüssel war ich noch nie als Abgeordnete. Aber diskutieren und streiten. Aber Sie haben mich an Ihrer
vielleicht können wir uns darüber an anderer Stelle aus- Seite, wenn klar ist, dass zum Beispiel ein Land wie
tauschen. Nordrhein-Westfalen beim Verkauf der Wohnungen der
Landesentwicklungsgesellschaft einen Fehler gemacht
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine schöne hat.
Reise, Frau Kollegin!)
Ich kann Ihnen auch das Beispiel Freiburg nennen.
Darum geht es jetzt auch nicht. Ich war nicht für den Verkauf der Wohnungsbaugesell-
Der Umgang mit dem Thema wirtschaftliche Betäti- schaft oder städtischer Wohnungen.
gung hat sich in Nordrhein-Westfalen geändert, und dies (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
wird nicht nur von den Städten und Gemeinden begrüßt. Dort gibt es aber auch einen grünen Oberbür-
Darüber hinaus wird es auch vom Handwerk sehr be- germeister!)
grüßt. Das ist ein Fakt, mit dem Sie sich abfinden müs-
sen. Ich habe selbst elf Jahre Kommunalpolitik gemacht
und weiß, dass wir Steuerungsinstrumente in der Woh-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nungspolitik als Mittel für die sozialräumliche Integra-
tion brauchen, und diese Anforderung erfüllen wir in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erster Linie durch sozialen Wohnungsbau und Woh-
Frau Kollegin Haßelmann, entschuldigen Sie die Un- nungsbaugesellschaften, auf die wir Einfluss ausüben
terbrechung. Der Kollege Mücke möchte Ihnen gern können.
eine Zwischenfrage stellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb ist das für mich überhaupt kein Widerspruch.
Ja, bitte. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat aber et-
was völlig anderes gefragt! Herr Mücke hat
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nach Ihrer Position zu der Privatisierung ge-
Bitte, Herr Mücke. fragt! – Johannes Kahrs [SPD]: Sie müssen die
Frage beantworten!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Warum nicht Herr Lindner? – Gegenruf des – Das habe ich gerade schon gemacht.
12848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Britta Haßelmann
(A) Die Kommunen brauchen einen Rechtsrahmen, inner- Frage, welche Akzente Sie da setzen. Hier fahren Sie (C)
halb dessen sie selbst entscheiden können, ob und wie vonseiten der Koalition einen völlig falschen Kurs, in-
sie ihre Leistungen erbringen wollen. Wichtig dabei ist dem Sie falsche Entscheidungen, die gegen die Kommu-
doch, dass bestimmte Kriterien erfüllt sind: Es muss eine nen gerichtet sind, treffen und indem Sie die Privaten
strategische, vor allem transparente Entscheidung ge- privilegieren, anstatt den Kommunen die Möglichkeit zu
troffen werden, die den Städten und Gemeinden die lassen, selbst darüber zu entscheiden, wie kommunale
politische Steuerungsfähigkeit und demokratische Kon- Aufgaben wahrgenommen werden sollen.
trolle lässt, und die Aufgabe muss effizient wahrgenom-
men werden. Das ist die Grundentscheidung. Wir haben auch eine Debatte im Zusammenhang mit
dem Energiewirtschaftsgesetz zu führen. Ganz viele
Es geht nicht um einen theoretischen Diskurs über das Kommunen wollen ihre Stromnetze wieder im eigenen
Verhältnis von Privat zu Staat. Wir müssen immer da- Verantwortungsbereich haben. Das ist auch gut so. Ihre
rüber nachdenken, wie Städte und Gemeinden ihre kom- Entscheidung, den Atomkonsens rückgängig zu machen,
munalen Aufgaben in transparenter Weise wahrnehmen war nicht nur in der Sache, also energiepolitisch, falsch.
können und welche Steuerungsmöglichkeiten die ge- Dies war auch eine Entscheidung gegen die Städte und
wählten Gemeindevertreter haben sollen. Darum geht es, Gemeinden. An dieser Stelle ist es deshalb so wichtig,
wenn wir über die Wahrnehmung von Aufgaben vor Ort dass wir auch im Zusammenhang mit der Rekommunali-
reden. sierung über das Thema Energiewende und über die Ver-
fügbarkeit von Energienetzen vor Ort reden. Da gibt es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch viele inhaltliche Fragen, die wir zu erörtern haben.
Machen wir uns nichts vor: Viele Städte- und Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
meinderäte entscheiden sich parteiübergreifend für eine
Rekommunalisierung. Ich weiß, dass das der FDP be- Ich bin mir sicher, dass wir eine konstruktive Debatte
sonders wehtut. in den entsprechenden Fachausschüssen führen. Es ist
notwendig, einen Akzent in Richtung Rekommunalisie-
(Florian Toncar [FDP]: Gar nicht!) rung zu setzen. An die Adresse der Linken sage ich: Ich
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass sich nach würde mir wünschen, dass Sie nicht nur im Deutschen
einer Privatisierung von Aufgaben die Gemeinderäte da- Bundestag über dieses Thema reden.
für entscheiden, ebendiese Aufgaben in den Verantwor-
tungsbereich der Stadt zurückzuholen. Warum tun sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
das? Sie haben den Eindruck, dass hier eine Schieflage Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
entstanden ist. Oftmals ist es nämlich so, dass Gewinne Skudelny?
(B) privatisiert und Verluste sozialisiert wurden, sodass die (D)
Städte auf den Kosten sitzen blieben. Dass dies vonsei-
ten der Städte und Gemeinden sowie der Bürgerinnen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und Bürger nicht akzeptiert wird, ist doch klar. Man Ja, gerne.
möchte nicht, dass private Unternehmen die Gewinne
einstecken und dass die Verluste über Gebühren und an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dere Abgaben auf die Bürger umgelegt werden. Bitte, Frau Skudelny.
Ganz viele Städte und Gemeinden entschließen sich
daher, Aufgaben zu rekommunalisieren. Das ist auch in Judith Skudelny (FDP):
Bayern, Baden-Württemberg und anderswo der Fall. Da- Stimmen Sie mir zu, dass man über die Netze über-
rüber gibt es mittlerweile Erhebungen. Unterhalten Sie haupt keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des
sich einmal mit den Leuten vor Ort. Es gehört zum Spek- transportierten Stroms hat? Die Netze sind grundsätzlich
trum kommunalpolitischen Handelns, dass Aufgaben in barrierefrei. Das heißt, der Eigentümer des Netzes kann
die Entscheidungskompetenz der Kommunen wieder zu- überhaupt nicht bestimmen, auf welche Art der Strom,
rückgeholt werden. der durch seine Netze fließt, erzeugt wird. Deswegen ist
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das geht immer der Einfluss der Netzbetreiber in Richtung Ener-
so oder so! Das geht immer zweigleisig!) giewende relativ beschränkt.

– Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass (Florian Toncar [FDP]: Gleich Null! – Markus
ich das versucht habe zu erläutern. Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber
an den Anschlussstellen kann man bestim-
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein! Sie haben men!)
nur von Einseitigkeit gesprochen!)
Die Kommunen wissen, dass sie von den Bürgerinnen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und Bürgern für Aufgaben, die sie eigentlich delegiert Ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen ausspre-
haben, in die Verantwortung genommen werden. chen, dass Kommunen über Netze verfügen
Es ist gut, dass wir eine vertiefte Diskussion über Re- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
kommunalisierung führen. Demnächst wird über das Das tut sie doch gar nicht! Aber sie ist gegen
Abfallwirtschaftsgesetz zu diskutieren sein und über die Enteignungen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12849
Britta Haßelmann
(A) und damit diejenigen sein können, die klar darüber ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
scheiden, wie sie ihre Energieversorgung gestalten wol- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das wollen
len; darum geht es doch im Kern. wir nicht! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Im Ge-
genteil!)
(Judith Skudelny [FDP]: Nein!)
Ein anderes Thema sind die Menschen, die Arbeits-
Es geht nicht darum, die Netze bei den vier großen Ener- plätze haben wollen. Im Zusammenhang mit ÖPP-Pro-
gieversorgern zu belassen und Verträge, die vor 20 oder jekten ist immer wieder über die Frage diskutiert wor-
40 Jahren geschlossen wurden, mit bestimmten vertrag- den, ob ein Auftrag für eine große Firma – beim
lichen Grundlagen auf immer zu zementieren. Ich weiß, Landtagsbau in Potsdam war es zum Beispiel eine nie-
dass das der Wunsch vieler großer Konzerne ist. Aber derländische Firma – dazu führt, dass Arbeitsplätze vor
ich finde es toll, dass momentan in den Städten und Ge- Ort verloren gehen. In Baden-Württemberg hat es ein ei-
meinden eine lebhafte Debatte darüber geführt wird, genes Forschungsprojekt gegeben, bei dem exakt diese
weil sie das Gefühl haben, dass sie viel mehr Chancen Frage untersucht worden ist. Siehe da: Gerade bei ÖPP-
und Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihr eige- Projekten erhalten mittelständische Unternehmen 83 Pro-
nes Energie- und Klimakonzept vor Ort haben, wenn sie zent der Aufträge, bei der klassischen Vergabe sind es
an Einfluss auf die Netze gewinnen. Deshalb sprechen nur 81 Prozent.
wir uns dafür aus, ihren Einfluss zu steigern.
Zudem ist untersucht worden, ob die Aufträge in der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Region bleiben. Konkret wurde untersucht: Wie viele
Meine Damen und Herren, wie gesagt: Ich wünsche Aufträge werden in einem Radius von 100 Kilometern
mir von der Linken, dass solch ein Antrag nicht nur ein- vergeben? Bei ÖPP-Projekten sind es 73 Prozent der
gebracht wird, sondern es auch in Berlin, in der realen Aufträge, bei klassischen Vergaben lediglich 65 Prozent.
Politik zu Ergebnissen führt. Das heißt, bei ÖPP-Projekten werden mehr Aufträge in
der Region vergeben.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben
nicht zugehört! Das ist unverschämt! Das ist (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
unter Ihrem Niveau!) Das sind doch deutliche Zahlen!)

Es liegt ganz offensichtlich auf der Hand, dass die rot- Dann kann man noch die Frage stellen, womit die
rote Koalition in Berlin dies in zehn Jahren nicht ge- Menschen hinterher zufriedener sind. Auch das hat man
schafft hat; mir fehlt die Redezeit, um das mit weiteren untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass ÖPP-Pro-
Beispielen zu belegen. jekte mit einer Note von 2,4 benotet wurden, während
die selbst vergebenen Projekte mit 2,6 bewertet wurden.
(B) Vielen Dank. (D)
Das heißt, die Menschen sind obendrein auch noch zu-
friedener.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Pakt gegen
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann von der Ideologie! Sehr gut!)
CDU/CSU-Fraktion. Das zeigt deutlich, dass es bei Ihrem Antrag um Ideo-
logie geht, nicht darum, dem Mittelstand Aufträge zuzu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
führen und den Menschen eine zufriedenstellende Lö-
sung anzubieten.
Norbert Brackmann (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich habe aber
Kollegen! Sonst bemühen sich die Linken immer, sich ganz andere Zahlen! – Gegenruf des Abg.
den Anstrich zu geben, die Initiativen vor Ort aufzuneh- Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Na
men und für die Menschen da zu sein. Aber was sind die ja, das haben die Griechen auch!)
Kriterien, nach denen wir die aufgeworfene Frage der – Frau Höll, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen ha-
Rekommunalisierung im Zusammenhang mit dem ÖPP- ben.
Beschleunigungsgesetz bewerten sollten? Das können
doch in Wirklichkeit nur die Menschen sein. Dann kön- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Von der
nen wir wiederum schauen, ob die Menschen einen Nut- Hans-Böckler-Stiftung!)
zen aus kommunalen Investitionen ziehen: Erhalten sie Meine Zahlen sind aber veröffentlicht; Sie können sie
dadurch Arbeitsplätze? nachlesen.
Ich kann feststellen: Der Antrag würde, wenn man ihn Ich komme zu einem weiteren Punkt. Im Antrag der
beschließen würde, zunächst einmal die Freiheit der Grünen mit dem Titel „Transparenz in Public Privat
Kommunen einschränken, darüber zu entscheiden, in Partnerships im Verkehrswesen“ wurde darauf hingewie-
welcher Form sie ihren Bürgern Gutes tun wollen. sen, dass man den Sinn oder Unsinn von ÖPP-Projekten
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: So ein Unsinn!) anhand von Einzelfallentscheidungen bewerten kann
und muss; die Zahlen ändern nichts. Das finde ich auch.
Insofern sind Ihre Forderungen unmittelbar gegen die Insofern wundere ich mich ein Stück weit über die Rede
Freiheitsrechte der Menschen gerichtet. meiner Vorrednerin. Darin stimmen wir völlig überein.
12850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Norbert Brackmann
(A) Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Frage: Ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
ÖPP per se gut, oder ist eine Rekommunalisierung per se Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!
gut? Man kann das immer nur an Einzelfällen festma- Unglaublicher Vorgang!)
chen.
Ich kann Ihnen an Beispielen aus meinem Wahlkreis
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) auch die Vorteile von ÖPP aufzeigen. Die Stadt Schwar-
zenbek – sie ist ebenso wie viele andere Kommunen in
In dieser Zeit, in der sich Bund, Länder und Kommu- dieser Region hochverschuldet – hat ein neues Gymna-
nen in einer Konsolidierungsphase befinden, in der wir sium zuzüglich einer Drei-Feld-Sporthalle gebraucht.
auf jeder Ebene darüber streiten, aber auch entscheiden Die Gebäude waren zu errichten, aber nicht zu finanzie-
müssen, welches der richtige und wirtschaftlich vernünf- ren. Wie das heute bei einem solchen Projekt Pflicht ist,
tigste Weg zur Beschaffung ist, dürfen wir bestimmte wurde eine Wirtschaftlichkeitsanalyse durchgeführt. Was
Lösungsmöglichkeiten nicht von vornherein außer Be- ist günstiger? Eine Öffentlich-Private Partnerschaft oder
tracht lassen. Wir werden nicht zulassen, dass es in die klassische Vergabe durch die Kommune selbst? In
Deutschland wieder Denkverbote gibt. dieser Analyse hat man festgestellt, dass die Öffentlich-
Private Partnerschaft einen Kostenvorteil von 19 Prozent
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit sich bringt. Dann wurde das Ganze gebaut. Es gab
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich! ein paar Probleme. Der Kostenvorteil betrug am Ende
Wir wollen keine Denkverbote! – Ulla Lötzer 12 Prozent. Durch diese wirtschaftliche Betätigung stan-
[DIE LINKE]: Deshalb werden ÖPP-Projekte den der Stadt Schwarzenbek für Aufgaben der Daseins-
gefördert!) vorsorge 3 Millionen Euro mehr zur Verfügung.

Ich frage Sie von der Fraktion Die Linke, wo Sie das (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
ganze Geld hernehmen wollen, das uns heute fehlt. Es hat ein paar Nebenwirkungen gegeben, die wir hier
nicht verschweigen wollen: Der Neubau der Schule war
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aus dem früher fertig als geplant. Das ist etwas, was wir bei der
SED-Vermögen wahrscheinlich!) kommunalen Vergabe nicht täglich finden.
Man muss nur einmal vor die Haustür treten, um festzu- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Leider wahr!)
stellen, dass es überall einen riesengroßen Investitions-
bedarf gibt. Angesichts dessen ganz pragmatisch darüber Die Schülerzahlen steigen seitdem. Dafür gibt es einen
nachzudenken, ob wir durch Öffentlich-Private Partner- Grund: Die Schule wurde als modernste Schule in Nord-
schaften einen Schritt weiterkommen können, muss zu- deutschland ausgezeichnet.
(B) lässig sein. (D)
(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Na also!
Geht doch!)
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das rechnet
sich für die Kommunen langfristig nicht!) Das ist ein Beleg von vielen, dass Öffentlich-Private
Partnerschaften wirtschaftlich sein können. Durch dieses
Nun mögen Sie sagen, dass eine Kommune überfor- sparsame und effiziente Agieren können wir das Beste
dert ist, wenn es darum geht, zu entscheiden, welches aus den Steuermitteln herausholen. Deswegen kann man
das bessere Modell ist. Aber auch diesbezüglich ist der ÖPP nicht so pauschal verunglimpfen, wie Sie das mit
Bund vorangegangen und hat unter anderem mit der Ihrem Antrag versuchen.
ÖPP Deutschland AG eine Institution geschaffen, bei
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der sich Kommunen beraten lassen können. Dort können
sie Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Qualitätsanaly- Natürlich gibt es auch negative Beispiele. Ich will
sen durchführen lassen und sich beraten lassen, um dann jetzt gar nicht darauf eingehen, dass sich Ihr Antrag
frei zu entscheiden, ob sie den Weg gehen wollen oder – angefangen beim Redner über die Beispiele bis hin zu
nicht. den Debattenschwerpunkten – ausdrücklich mit Berlin
beschäftigt hat. Als jemand, der in Berlin nur einen
In Ihrem Antrag führen Sie ein negatives Beispiel aus Zweitwohnsitz hat, will ich auch gar nicht die Berliner
meinem Wahlkreis an. In Ahrensburg wurde die Gasver- Situation bewerten. Ich stelle einfach nur fest, dass ers-
sorgung in private Hand überführt. Später ist sie rekom- tens in wenigen Monaten hier eine Landtagswahl statt-
munalisiert worden, weil das schiefgegangen ist. Mich findet, dass zweitens ein spezifisches Berliner Problem
wundert, dass Sie, wenn Sie schon auf Ahrensburg im Vordergrund steht und dass sich drittens Berlin auf-
schauen, selektiv die Stadtwerke herausgreifen; denn grund seiner Verhaltensweise nicht gerade in einer vor-
Ahrensburg hat gerade drei ÖPP-Projekte durchgeführt. teilhaften Finanzsituation befindet.
Es wurden eine Seniorentagesstätte und eine Schulsport-
halle gebaut. Das sind Vorzeigeprojekte für Öffentlich- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Private Partnerschaften. Das Verhältnis ist also 2 : 1. Die Verschuldung Berlins in Höhe von 70 Milliarden
Nun ist das keine statistische Erhebung, zeigt aber, wie Euro bedeutet eine Größenordnung, mit der sich der Sta-
selektiv Sie die Wirklichkeit draußen wahrnehmen, und bilitätsrat beschäftigen muss. Der Rechnungshof warnt
belegt, dass Sie aufgrund Ihrer ideologischen Verblen- vor Ihrem politischen Vorhaben der Rekommunalisie-
dung alle bevormunden wollen, sobald Sie irgendwo et- rung, weil das die Verschuldung noch weiter in die Höhe
was gefunden haben, was Ihre Annahmen bestätigt. treiben und den Menschen in Berlin damit noch mehr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12851
Norbert Brackmann
(A) Zukunftsperspektiven nehmen würde. Angesichts dessen munen nicht ein Instrument aus der Hand schlagen, das (C)
ist es schon ein Stück aus dem Tollhaus, dass Sie mit Ih- sie dringend brauchen.
rem Antrag den Deutschen Bundestag für den Berliner
Landtagswahlkampf missbrauchen wollen. Erstens. Wenn die Öffentlichkeit ÖPP hört bzw. Ihren
Antrag liest, dann entsteht der Eindruck, es ginge bei Öf-
(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Freiherr fentlich-Privaten Partnerschaften um das Veräußern von
von Stetten [CDU/CSU]: Das sind schon grie- Anteilen kommunaler Unternehmen. Dem ist nicht so.
chische Verhältnisse, was der Wowereit da hat! – Das ist eine Begriffsverwirrung, die wir aufklären müs-
Gegenruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE sen.
LINKE]: Wer hat denn in Berlin so lange re-
(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:
giert und den Schlamassel verursacht!)
Eine bewusste Täuschung!)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit
Es ist eine Täuschung, ein Vermischen unterschiedlicher
komme ich zum Schluss. Bei ÖPP-Projekten handelt es
Sachverhalte, was dazu führt, dass in der Öffentlichkeit
sich um Einzelfallentscheidungen, die jede Kommune
ein falscher Eindruck entsteht und ein durchaus sinnvol-
für sich selbst treffen muss. Warum soll der Bund die
les Instrument desavouiert wird.
Kommunen an dieser Stelle bevormunden? Dafür gibt es
überhaupt keinen Grund. (Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD] –
Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl
wahr!) Zweitens. Wir müssen darüber reden, warum die Kom-
munen überhaupt über derartige Instrumente nachden-
Darum rufe ich Ihnen zu: Die Menschen haben es ver- ken. Das heißt, hinter unserer Debatte verbirgt sich die
dient, die Luft der Freiheit zu atmen. Das umfasst auch Frage, wie es um die Finanzausstattung der Kommunen
die Freiheit, einzelfallbezogen selbst entscheiden zu dür- bestellt ist und ob die öffentliche Hand genug Geld hat,
fen, welche Form der Aufgabenerledigung für sie das ihre Aufgaben wahrzunehmen. Da hilft es nicht, meine
Beste ist. Der Geist der Freiheit ist es, der unser demo- sehr verehrten Damen und Herren von Schwarz-Gelb,
kratisches Gemeinwohl – – dass wir einerseits von starken Städten reden – bei Ihnen
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Der Geist der Frei- von der Union –, andererseits vom teuren Schwächling
heit ist nicht der Geist der Privatisierung!) – bei der FDP – und dann wieder die Gewerbesteuer
schleifen wollen oder mit einem sogenannten Wachs-
– Der Geist der Freiheit ist aber, darüber zu entscheiden, tumsbeschleunigungsgesetz den Kommunen pro Jahr
ob man privatisieren will oder nicht. 1,4 Milliarden Euro entziehen und ihnen bei der Finan-
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter zierung von Projekten, die Arbeitsplätze schaffen, den fi- (D)
[CDU/CSU]: Sehr wahr!) nanziellen Teppich unter den Füßen wegziehen.
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist die Wahrheit!)
Wir wollen nicht den Geist volkseigener Betriebe, um
es auf den Punkt zu bringen. Finden Sie Ihren inneren Das verträgt sich nicht mit dem Thema, das wir heute
Frieden mit der Vergangenheit. Kommen Sie endlich in diskutieren.
der Gegenwart an. Dann haben Sie auch die Chance, da-
rüber nachzudenken, wie Sie die Zukunft für die Men- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schen gestalten wollen. DIE GRÜNEN)

Danke schön. Jetzt zu den ÖPP. Meine sehr verehrten Damen und
Herren von der Linken, sehr geehrter Herr Senator Wolf,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mich wundert es, dass Sie dieses Anliegen vertreten.
Denn diejenigen, die sich mit den wirtschaftlichen Ver-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hältnissen der Kommunen auseinandersetzen, wissen,
dass wir dieses Instrument – maßvoll und unter ganz be-
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee von der
stimmten Kriterien und Restriktionen angewendet – drin-
SPD-Fraktion.
gend brauchen. Warum? Es geht darum, dass wir Investi-
(Beifall bei der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: tionen oder Beschaffungen gemeinsam mit privaten
Guter Mann!) Partnern vornehmen, wenn wir dadurch einen Nutzeffekt
haben.
Wolfgang Tiefensee (SPD): Welches sind die Nutzeffekte? Ich will Ihnen ein Bei-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und spiel nennen, das Sie besichtigen und demzufolge auf
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen können. Es geht
meine Redezeit darauf verwenden, eine Antwort auf die um die Stadt Magdeburg und meinen sehr verehrten Kol-
Frage zu geben, worum es eigentlich geht, wenn von legen Trümper, den sozialdemokratischen Oberbürger-
ÖPP – Öffentlich-Private Partnerschaften – die Rede ist, meister. Wie viele Oberbürgermeister stand er im Jahr
und damit etwas mehr Klarheit schaffen. Außerdem 2008 vor folgender Frage: Soll ich in den Schulen, Kin-
möchte ich dafür werben, dass wir – ähnlich wie es dertagesstätten und Sporthallen weiterhin notdürftig sa-
meine Vorredner zum Teil gemacht haben – dieses In- nieren, Flickschusterei betreiben, oder nehme ich mit
strument etwas differenzierter betrachten und den Kom- dem Instrument der ÖPP 20 Schulen, Kindertagesstätten
12852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Wolfgang Tiefensee
(A) und Sporthallen auf einmal in Angriff, und – man höre – Wolfgang Tiefensee (SPD): (C)
schaffe eine grundlegende, auch energetische Sanierung Frau Höll, Sie hätten Ihrem Senator nicht so viel Re-
innerhalb einer Frist bis zum Jahre 2015? Das ist die Al- dezeit geben sollen, dann hätten auch Sie hier regulär die
ternative. Möglichkeit zu einem Redebeitrag gehabt. Ich will Ih-
Jetzt kommen Sie und sagen: Dieses Instrument will nen auf Ihre drei, vier Fragestellungen sehr gern antwor-
ich dem Oberbürgermeister aus der Hand schlagen. Das ten.
ist schlecht. Wir sollten der Öffentlichkeit sagen, dass Erstens. Wir sind uns bezüglich der Finanzausstattung
ein solcher Antrag, würde er hier die Mehrheit finden, der Städte einig; das habe ich deutlich gemacht. Ich
dazu führen würde, dass es ein solch segensreiches Wir- stehe dafür. Meine Fraktion und meine Partei stehen da-
ken insbesondere für die Schülerinnen und Schüler nicht für. Wir sind eine Partei, die aus den Städten kommt, die
geben würde. aus der schwierigen Situation in den Städten im ausge-
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wie wäre es, die henden 19. Jahrhundert entstanden ist. Dies ist also eines
Finanzausstattung zu verbessern? – Abg. unserer Urthemen. Wir stehen dafür, dass die öffentliche
Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] meldet sich zu Hand, ein aktiver Staat, dafür Sorge tragen muss, dass
einer Zwischenfrage) die Kommunen ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge für
die Bürger erledigt bekommen.
– Es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage.
Außerdem fragten Sie nach der Privatisierung der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Energieunternehmen, speziell in Leipzig. Ich muss fest-
Bitte schön. stellen: Sie sind wieder dabei, beide Themen zu vermi-
schen. Ich möchte die Öffentlichkeit und uns alle bitten,
das nicht zu tun. Wir reden hier über das Thema ÖPP.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Herr Tiefensee, als ehemaliger Oberbürgermeister Dennoch will ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage
von Leipzig brauchen Sie nicht nach Magdeburg zu nicht schuldig bleiben. Sie erwischen damit nämlich ge-
schauen. Wir kommen beide aus Leipzig und haben dort rade den Falschen. Während meiner Dienstzeit als Ober-
gemeinsam erlebt, wie die Stadtverwaltung – mit Zu- bürgermeister von Leipzig von 1998 bis 2005 hat die
stimmung der Mehrheiten, aber ohne unsere Stimmen Rekommunalisierung der Energieunternehmen stattge-
als PDS – zweimal beschlossen hat, die Stadtwerke teil- funden. Lassen Sie uns über die Frage, unter welchen
zuprivatisieren. Wir haben gesehen, welcher Schaden für Bedingungen die Privatisierung von Anteilen nötig ist,
die Stadt entsteht, wenn man privatisiert. ein anderes Mal diskutieren. Wir müssen nämlich zwi-
(B) schen der Aufgabenverantwortung einerseits und einer (D)
Können Sie mir zustimmen, dass eine Stadt wie Leip- Erledigungs- bzw. Erfüllungsverantwortung anderer-
zig mit einem wahnsinnigen Investitionsstau, was die seits unterscheiden. Das geht bei Ihnen aber munter
Schulen, Kindergärten usw. betrifft, das nicht alleine durcheinander.
stemmen kann? Es liegt eigentlich in der Verantwortung
des Bundes und der Länder, dafür zu sorgen, dass die Wir sehen es so: Die öffentliche Hand wird niemals
Kommunen genug Geld bekommen, dass sie eine or- die Aufgabenverantwortung für die öffentliche Daseins-
dentliche Finanzausstattung haben, um diese Aufgaben, vorsorge aus der Hand geben dürfen. Aber sie darf sich
die jetzt verfassungsmäßig ihre sind, erfüllen zu können. bei der Erfüllung dieser Aufgabe durchaus Privater be-
Ohne eine ordentliche Finanzausstattung ist dies nicht dienen. Wir sind nicht der Auffassung, dass Private, zum
möglich. Beispiel ein kleiner Handwerksbetrieb oder der Zusam-
menschluss von Handwerksbetrieben, zu verteufeln sind.
PPP rechnet sich langfristig weder für Leipzig noch
Auch sie gehören zu unserer Gesellschaft. Im Übrigen
für Magdeburg noch für andere Kommunen. Durch die
arbeiten auch diese Betriebe im Interesse des Gemein-
Gewinngarantien, die ausgesprochen werden, werden
wohls. Aus diesem Grund gehören auch sie zu diesem
die Städte immer weiter finanziell belastet. Ich denke, es
Komplex.
ist uns klar, dass sich Öffentlich-Private Partnerschaften
für die private Seite nur lohnen, wenn sie Gewinne (Beifall bei der SPD)
macht. Warum sollte man den Bürgerinnen und Bürgern
diese Gewinne entziehen? Warum sollte man den Städ- Frau Höll, jetzt dürfen Sie sich setzen; denn ich fahre
ten die Möglichkeit entziehen, diese Gewinne, die man in meiner Rede fort.
nicht maximieren muss, –
Ich würde gern zu der Frage „Wieso fließen die Ge-
winne in die Taschen der Gesellschaften?“ Stellung neh-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men. Ich möchte, auch am Beispiel von Magdeburg, auf
Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Frage. die Vorzüge von PPP zu sprechen kommen und deutlich
machen, dass sich diese Partnerschaften am Ende auch
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): für die Kommunen rechnen.
– im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der Stadt
Was ist der erste Vorteil? Die Kommunen erstellen
einzusetzen statt für private Interessen?
zusammen mit den Privaten das Portfolio für eine zu
(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs leistende Investitionsaufgabe, und zwar in einer Trans-
[SPD]: Welche Frage?) parenz, die beispielhaft ist. Ich kenne kaum Vorhaben
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12853
Wolfgang Tiefensee
(A) der öffentlichen Hand, die derart transparent sind. Der vieles gesagt worden. Mir ist in der Debatte aufgefallen, (C)
erste Vorteil ist also die Transparenz. wie sehr sich auch Parteien, die eigentlich eher zur Mitte
des politischen Spektrums gehören, an der Formulierung
Zweitens. Die Aufgabe wird schneller erledigt als „Privat vor Staat“ abgearbeitet haben. Der Kollege
ohne PPP. Das heißt im Klartext, dass Kinder und Ju- Kahrs von der SPD sagte dazu, das sei eine extreme For-
gendliche – um beim genannten Fall zu bleiben – schnel- mulierung, und die Kollegin Haßelmann hat in ihrer
ler den Nutzen davon haben, dass die Gebäude saniert Rede geäußert, „Privat vor Staat“ sei quasi eine ideologi-
worden sind. sche Aussage.
Drittens. Es kommt zu einer Ersparnis; denken Sie
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
nur an die energetische Sanierung.
DIE GRÜNEN]: So ist es!)
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)
Ich will noch einmal daran erinnern, dass letzten En-
Die öffentlichen Haushalte werden saniert, indem lau- des alle Freiheiten, die unsere Verfassung gewährt, dem
fende Kosten minimiert werden. Schließlich arbeiten die Staat zunächst einmal vorgehen. Natürlich darf jeder
Kommunen mit Partnern zusammen, die die jeweilige Bürger in Deutschland jeden Beruf ergreifen, den er er-
Aufgabe ständig erledigen. Die Gesellschaften, die Part- greifen möchte. Natürlich darf jeder Bürger in Deutsch-
ner der Kommunen sind, sind dafür prädestiniert, wäh- land in jeder Branche als Selbstständiger oder als Unter-
rend insbesondere manch kleine Gemeinde solche Leis- nehmer tun, was er möchte, solange es eine legale
tungen über Jahre hinweg nicht erbracht hat und erst in Tätigkeit ist. Das ist „Privat vor Staat“. Das ist letzten
die Lage versetzt werden muss, dies zu tun. Die Privaten Endes eine der Grundaussagen unseres Grundgesetzes.
können diese Leistungen im Verbund mit der öffentli-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
chen Hand besser erbringen.
der CDU/CSU)
Im Übrigen werden im Rahmen von PPP auch kleine
Es ist völlig klar, dass der Staat aus guten Gründen
Unternehmen angesprochen. Sehen Sie sich das Magde-
Freiheiten einschränken darf, auch die Freiheit zur wirt-
burger Modell an: Es fand eine europaweite Ausschrei-
schaftlichen Betätigung, aber er darf es eben nicht will-
bung statt, in vier Tranchen wurden 20 Schulen saniert,
kürlich tun, sondern er muss es rechtfertigen. Er muss
und das Verfahren war transparent. Durchgesetzt hat sich
dafür zwingende öffentliche Gründe haben.
die SALEG Sachsen-Anhaltinische Landesentwick-
lungsgesellschaft mbH. Die Finanzierung, Frau Höll, Ihre Aussage, „Privat vor Staat“ sei extrem, Herr Kol-
wurde übrigens von einer Bank aus Bremen und – man lege Kahrs, bietet mir eigentlich eher Anlass, Sie zu fra-
höre und staune – der Sparkasse Magdeburg übernom- gen, ob Sie nicht einmal Ihren Standpunkt überprüfen
(B) men, die, wie ich glaube, nicht im Verdacht steht, die sollten; denn das ist etwas, was auf der Grundlage unse- (D)
Rendite in die eigene Tasche zu stecken. Hier ist also ein rer Verfassung so nicht haltbar ist.
äußerst transparentes, sinnvolles Verfahren angewandt
worden. Die Risiken werden von den Privaten getragen Die Grünen müssen sich fragen lassen, ob ihre Aus-
– Geld wird erst dann gezahlt, wenn die Sanierung er- sage, „Privat vor Staat“ sei Ideologie, eigentlich auch
folgt ist –, und den Nutzen der Sanierung haben die Kin- gilt für Themen wie die Vorratsdatenspeicherung oder
der und Jugendlichen. die Meinungsfreiheit im Internet.

Meine Damen und Herren, das ist beste Arbeit. Ich (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
betone aber: An anderer Stelle kann es durchaus sinnvoll NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über was
sein, sich gegen Public-private-Partnerships zu entschei- ganz anderes! Es geht um Daseinsvorsorge! –
den. Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Vermischen Sie Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht die Themen, und schlagen Sie den Kommunen die- NEN]: Wir reden über Kommunen!)
ses sinnvolle Instrument nicht aus der Hand. Es ist gut. Sehen Sie das da auch so, oder gilt da die Regel „Privat
Wir wollen es stärken, wenn es maßvoll und am richti- vor Staat“ nicht ganz genauso? Wer das als Ideologie be-
gen Ort eingesetzt wird. zeichnet, legt letzten Endes eine opportunistische Hal-
Vielen Dank. tung gegenüber Grundrechten an den Tag. Eine Partei,
die diese Auffassung vertritt, ist eigentlich keine Bürger-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der rechtspartei mehr.
FDP)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der Niemand, keine Kommune, kein Land, ist gezwun-
FDP-Fraktion. gen, eine Öffentlich-Private Partnerschaft einzugehen.
Das ist eine freiwillige Entscheidung, die eine Kom-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mune treffen kann. Wo das geschieht, entscheiden die
der CDU/CSU) Verantwortlichen im Stadtrat, im Kreistag, wo auch im-
mer, dass es offenkundig im Sinne der Bürger, im Sinne
Florian Toncar (FDP): der Kommune besser ist, einen privaten Partner herein-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten zuholen, weil es etwa den Bürgern am Ende Vorteile
Damen und Herren! Zum Antrag der Linken ist bereits bringt, weil es vielleicht günstiger ist, es so zu machen,
12854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Florian Toncar
(A) weil vielleicht der Service besser ist oder weil man mit Es ist also beileibe nicht so, dass die öffentliche Auf- (C)
einem Spezialisten zusammenarbeiten möchte, der eine gabenerfüllung immer nur im Interesse des Gemein-
bestimmte Dienstleistung tagtäglich erbringt. Es ge- wohls ist. Zum Teil dient sie schlicht und einfach ande-
schieht übrigens auch in der freien Wirtschaft, dass man ren Interessen, und der Verbraucher und Bürger muss es
sich für bestimmte Aufgaben Spezialisten von außen da- am Ende über Gebühren oder Entgelte bezahlen. Auch
zukauft. Das ist nichts, was es nur beim Staat gibt. Es ist deshalb besteht Skepsis gegenüber öffentlichen Unter-
oft genug sinnvoll, entweder unter Kostengesichtspunk- nehmen, und zwar da, wo sie so eingesetzt oder miss-
ten oder unter Qualitätsgesichtspunkten. braucht werden.

Öffentlich-Private Partnerschaften erlauben den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Kommunen in der Regel eine sichere Kalkulation der Deswegen ist es auch immer besser, egal ob es um
Kosten. Man kann aufgrund der Verträge ein paar Jahre eine öffentliche oder eine private Aufgabenerfüllung
im Voraus sehen, was es kostet, und kann die Haushalte geht – zum Beispiel bei den Busverkehren oder bei der
natürlich besser planen. Letzten Endes kann sich eine Entsorgung –, wenn derjenige, der beispielsweise die
Kommune, wenn sie sich für ein solches Modell ent- Konzession hat, die Abfallentsorgung in einem Gebiet
scheidet, von unternehmerischen Risiken befreien. Sie zu übernehmen, weiß, dass er, wenn er mit den Kosten
trägt dann bestimmte Risiken nicht mehr, etwa bei Per- nicht mehr mithalten kann oder wenn jemand auftaucht,
sonalkosten, Rohstoffkosten, Sachkosten, Baustoffkos- der das besser oder billiger machen kann, den Auftrag
ten, was auch immer, sondern hat einen Vertrag, und be- los ist. Was wäre denn los und welche Gebühren müss-
stimmte unternehmerische Risiken lasten dann am Ende ten die Bürger im Abfallbereich zahlen, wenn ein kom-
auf dem Privaten. munaler Versorger ohne Grenzen und Beschränkungen
auf alle Zeiten das Recht hätte, die Entsorgung zu über-
Es gibt also gute Gründe dafür, sich für solche Mo- nehmen? Der müsste sich nicht mehr darum kümmern,
delle zu entscheiden. Es ist jeder Kommune unbenom- die Gebühren zu senken und die Qualität zu verbessern.
men, das zu tun. Es obliegt sicher nicht dem Deutschen
Bundestag, den Kommunen das zu untersagen oder zu (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Sehr
erschweren. Sie sollen die Möglichkeit und Freiheit ha- gut!)
ben, dieses Instrument zu nutzen. Auch wenn es dafür Gründe gibt und es weiterhin mög-
lich sein wird, dass Kommunen die Entsorgung überneh-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
men – das wird sogar der Regelfall sein –, ist es gut und
der CDU/CSU) im Interesse der Bürger, dass ein kommunaler Betrieb,
Der Antrag der Linken enthält die Aussage – darauf wenn er nicht mehr wettbewerbsfähig ist und den Bür-
(B)
möchte ich eingehen –, dass die öffentliche Aufgaben- gern kein gutes Angebot machen kann, den Druck von (D)
erfüllung dem Gemeinwohl diene und die private Aufga- privater Seite zu spüren bekommt. Das halte ich aus
Sicht der Bürger und Gebührenzahler für richtig.
benerfüllung nicht dem Gemeinwohl diene. Ich glaube,
dass das eine Schwarz-Weiß-Betrachtung ist, dass das (Beifall bei der FDP)
vielleicht auch eine etwas naive Sicht auf staatliche
Strukturen bedeutet. Auch staatliche Strukturen können Natürlich muss man – das ist mein letzter Gedanke
ein gewisses Eigeninteresse entwickeln, das sich vom hierzu – bei all diesen Themen, egal ob man eine Re-
Allgemeinwohl abkapselt. Bei öffentlichen Unterneh- kommunalisierung, eine kommunale Aufgabenerfüllung
men ist es oft genug so, dass die politischen Entschei- oder eine Öffentlich-Private Partnerschaft will, auf die
dungsträger unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel Vertragsgestaltung achten. Selbstverständlich ist es am
bestimmte Strukturveränderungen nicht durchzuführen, Ende eine Frage der Konditionen. Wenn man, wie Sie
Stellenabbau oder anderes nicht zu betreiben. Man lässt offenbar als Regelfall unterstellen, einen Vertrag voraus-
das einfach laufen, weil der politische Druck zu groß ist. setzt, der für einen Investor tatsächlich eine Lizenz zum
Gelddrucken ist, würde ich einer solchen Vereinbarung
Niemand, der in politischer Verantwortung ist, handelt
als Kommunalpolitiker auch nicht zustimmen. Aber es
gern gegen solchen Druck.
liegt in der Verantwortung der kommunalen Mandatsträ-
Öffentliche Unternehmen bergen sicher immer die ger vor Ort, Verträge mit privaten Partnern so abzu-
Gefahr, dass deren Themen und deren wirtschaftliche schließen, dass sie im Interesse der Kommunen liegen
Fragen in Wahlkämpfe, in politische Auseinandersetzun- und Vorteile bringen. Wenn Private mit der Erfüllung
gen gezogen werden. Deswegen sind sie oft langsamer, von Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge betraut
werden sollen, müssen die Verantwortlichen in den
wenn es darum geht, sich an neue Entwicklungen auf
Kommunen die Ausschreibung so gestalten, dass öffent-
dem Markt anzupassen.
lichen Interessen damit gedient ist.
Letzten Endes muss man natürlich auch sehen, dass Insofern glaube ich, dass der Antrag grundsätzlich in
öffentliche Unternehmen zum Teil auch völlig sach- die falsche Richtung geht. Die FDP bekennt sich dazu,
fremd eingesetzt werden; ich glaube, wir alle kennen dass Öffentlich-Private Partnerschaften ein sinnvolles
Beispiele dafür. Da werden Leute in Führungspositio- Instrument sein können und Aufgaben der Daseinsvor-
nen, etwa als Geschäftsführer, untergebracht, nicht auf- sorge nach einer sinnvollen Ausschreibung im fairen
grund ihrer Qualifikation oder Leistung, sondern eher Wettbewerb auch von Privaten erbracht werden können.
aufgrund bestimmter politischer Vorlieben. Das kann
passieren, und dafür gibt es Beispiele. (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12855

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Kommunales Eigen- (C)
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken von der tum ist keine andere Gesellschaft!)
CDU/CSU-Fraktion.
Hier unterscheiden sich unsere Ansichten fundamental
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von dem, was Sie hier fordern. Pauschale Rekommunali-
der FDP) sierungen können nicht im Interesse der Allgemeinheit
sein. Deshalb setzen wir von der Union auf PPP bzw.
Ernst Hinsken (CDU/CSU): ÖPP.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen verstärkt privates Kapital akquirieren. Für
Ich betrachte es nicht als feinen Stil, wenn man als Berli- uns sind neue, innovative, effizienzsteigernde und damit
ner Senator in den Bundestag kommt, als Antragsteller kostensparende Beschaffungsmethoden erforderlich, mit
eine elfminütige Rede hält und dann, nachdem sie wahl- denen die Pflichtaufgaben des Staates finanziert und ab-
kampfbetont herübergebracht wurde, von dannen zieht gewickelt werden können.
und die Kolleginnen und Kollegen, die auch etwas dazu
zu sagen haben, nicht mehr anhört. Schon in der Großen Koalition haben wir die Rah-
menbedingungen hierfür verbessert. Diese Rahmenbe-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dingungen – ich möchte an das anknüpfen, was Herr
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollege Tiefensee soeben gesagt hat – haben sich zwi-
Bitte geben Sie das an Herrn Senator Wolf weiter. schenzeitlich auch in Deutschland bewährt. Von 2002
bis 2010 wurden Investitionen in Höhe von gut 5,9 Mil-
Meine Damen und Herren, ich habe mich mit diesem liarden Euro getätigt: vom Bund über 2 Milliarden Euro,
Antrag intensiv auseinandergesetzt. Ich habe alle von den Ländern 1,5 Milliarden Euro und von den Kom-
35 Fragen gelesen, die Antworten genau studiert und bin munen 2,4 Milliarden Euro.
zu einigen Ergebnissen gekommen, die ich Ihnen heute
nicht vorenthalten möchte. Deshalb sage ich eingangs: Das Potenzial ist immer noch groß. Derzeit befinden
Der Grundsatz, so viel Privat wie irgend möglich, und sich über 100 größere Projekte in der Ausschreibung und
nur so viel Staat, wie unbedingt erforderlich, gilt nicht Vorbereitung. Das ist gut so; denn richtig durchgeführte
nur für die FDP; für diesen Grundsatz steht auch meine PPP- bzw. ÖPP-Projekte führen erstens zur Entlastung
Fraktion. der öffentlichen Haushalte, zweitens zu einer niedrigeren
Staatsquote, drittens zur Verbesserung des Standortes
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutschland, viertens zu Wachstums- und Beschäfti-
der FDP) gungsimpulsen, fünftens zur Mobilisierung von priva-
tem Kapital, sechstens zur Umsetzung von Projekten, die
(B) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken: (D)
ansonsten nicht realisiert werden könnten, und siebtens
Sie haben – das zeigt Ihr Antrag – nichts dazugelernt. Zu
zur Freisetzung weiterer Investitionen. Wir alle, der
viel Staat macht die Wirtschaft kaputt. Dafür gibt es ak-
Staat, die Betriebe und die Bürger, profitieren davon.
tuelle Beispiele. Schauen Sie einmal nach Griechenland:
Das sollte auch heute als Botschaft mit hinausgehen.
Hier arbeitet jeder vierte Erwerbstätige beim Staat. In
der Bundesrepublik Deutschland ist es zurzeit jeder Verehrte Kolleginnen und Kollegen, klar ist aber
Vierzehnte. Dazwischen klafft also eine riesengroße Lü- auch: PPP ist kein Allheilmittel für die Bewältigung der
cke, und da kommen Sie mit Ihrem Antrag und wollen schwierigen Haushaltslage, aber unbestritten ergibt sich
Verstaatlichungsorgien feiern. Meine Damen und Her- ein Effizienzvorteil. Zudem kann der Staat die benötig-
ren, da machen wir nicht mit. ten Güter oder Projekte mit PPP meist schneller, günsti-
ger und in höherer Qualität für den Bürger bereitstellen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)
Das Einsatzspektrum für diese Programme ist breit, zum
Sie gehen von dem Ansatz aus, dass der Unternehmer Beispiel in den Bereichen Infrastruktur, öffentliche Bau-
zu verteufeln ist und dass die Devise „Staat, Staat, Staat; ten, Verkehr, Kultur und Forschung.
es gibt nichts Besseres“ immer in den Vordergrund ge-
Lassen Sie uns alle einmal über den Tellerrand und
stellt werden muss. Wir lassen uns von ganz anderen
die Landesgrenzen hinausschauen und sehen, wie die
Vorstellungen leiten und ziehen vor allen Dingen Konse-
Nachbarländer das machen. PPP hat sich in ganz Europa
quenzen daraus, dass Ihre Vorgänger dies 40 Jahre in der
bewährt, und die Erfahrungen zeigen: Mit diesem Pro-
DDR praktiziert haben und jetzt festgestellt werden
gramm können Infrastrukturprojekte schneller und kos-
muss, wohin der Zug ging, nämlich in den „Bahnhof
tengünstiger realisiert werden. Hier können wir lernen.
Bankrott“. Auch das ist nicht von der Hand zu weisen.
Allein 2010 hatte Public-Private Partnership in Europa
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ein Volumen von 18,3 Milliarden Euro. Deutschland be-
Johannes Kahrs [SPD]: Ist der unterirdisch legt den achten Platz. Hier ist, anders als Sie meinen,
oder oberirdisch?) also noch viel Luft nach oben drin.
Es zeigt sich, dass Ihre Wahlprogramme und Ihr Wir wollen PPP nicht nur auf den Transportbereich,
Wahlprogrammentwurf alle linken Ladenhüter beinhal- die Verkehrsinfrastruktur fokussieren. 2010 haben des-
ten – bis hin zur Überführung von Schlüsselbereichen halb die Investitionen durch PPP in anderen Bereichen
der Wirtschaft in Gemeineigentum und zur Verstaatli- bereits über die Hälfte ausgemacht. Die Erfolge sind
chung auch anderer Bereiche. Wieder kommt zum Aus- enorm und überall zu sehen: Straßen, Brücken, Schulen,
druck: Sie wollen eine andere Gesellschaft. Büros, Krankenhäuser, aber auch sozialer Wohnungs-
12856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Ernst Hinsken
(A) bau, Luftraumüberwachung und sehr vieles mehr. Sie Ich will das unterstreichen: Es ist Ideologie. (C)
alle wurden und werden über dieses Programm abgewi-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
ckelt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Statt wie Sie von der Linken PPP zu verteufeln, ist es
Es ist eine Ideologie, die krachend gescheitert ist. Sie ist
meiner Meinung nach vielmehr erforderlich, dass sämtli-
in diesem Jahr in Baden-Württemberg krachend geschei-
che Rahmenbedingungen für PPP-Programme verbessert
tert, und sie ist insbesondere vor einem Jahr in Nord-
und Hemmnisse abgebaut werden. Wir wollen mehr
rhein-Westfalen krachend gescheitert. „Insbesondere“
Aufgaben durch private Unternehmer erledigen lassen
sage ich deswegen, weil es im Landtagswahlkampf in
und dadurch dringend notwendige Arbeitsplätze schaf-
Nordrhein-Westfalen darum ging, gerade diese Ideologie
fen und zudem die Infrastruktur verbessern.
wieder auszuhebeln. Die Bürger haben ein Mandat dafür
Wir meinen auch – das sollte gerade in dieser Debatte gegeben, das alles zurückzudrehen, was Schwarz-Gelb
zum Ausdruck kommen –: Mittelstand und PPP gehören unter der Ideologie „Privat vor Staat“ in Nordrhein-
zusammen. Der Mittelstand profitiert sehr stark davon. Westfalen angerichtet hat.
Dieses System stärkt die regionale Wirtschaft. Im
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Durchschnitt entfallen 83 Prozent des Auftragswertes
DIE GRÜNEN)
auf mittelständische Unternehmen.
Sie haben nämlich den öffentlichen Unternehmen
Richtig ist, dass unabhängig von einer Beteiligung auf
Fesseln angelegt, die ihnen sozusagen einen Tod auf Ra-
der Nachunternehmerebene mittelständische Unterneh-
ten garantiert hätten. Sie haben ihnen nicht mehr als den
men und Handwerksbetriebe als direkte Partner an
Status quo garantiert. Sie haben ihnen durch die Ände-
solchen Projekten beteiligt werden. Dabei dürfen Öffent-
rung des § 107 der Gemeindeordnung jede Entwick-
lich-Private Partnerschaften bisherige Investitionsvorha-
lungsmöglichkeit genommen.
ben des Staates nicht ersetzen. Ziel muss es deshalb sein,
das Investitionsvolumen insgesamt zu erhöhen und die Das alles haben wir mit der neuen rot-grünen Koali-
Wirtschaft das machen zu lassen, was sie besser kann als tion wieder zurückgedreht, und das ist in Nordrhein-
der Staat. Westfalen sehr begrüßt worden. Die Bürger finden das
übrigens sehr gut, weil sie gerade zu den kommunalen
Die einzelnen Projekte, die von den Vorrednern ge-
Unternehmen großes Vertrauen haben. Befragungen ha-
nannt worden sind, haben das bereits eindrucksvoll zum
ben ergeben, dass über 61 Prozent der Bürger ihnen viel
Ausdruck gebracht. Ihr Antrag kommt aus der alten
mehr trauen als anderen Unternehmen.
Mottenkiste. Ich schätze Sie persönlich, Frau Kollegin
Lötzer; Sie haben anscheinend nicht daran mitgewirkt, Uns geht es nicht darum, für die öffentlichen Unter-
(B) sonst wäre nicht so etwas herausgekommen. (D)
nehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber den privaten zu
Ich meine, Sie liegen damit völlig falsch. Gehen Sie generieren. Das ist nicht der Ansatz. Wir wollen viel-
in sich! Ziehen Sie Konsequenzen! Werfen Sie den An- mehr Wettbewerbsgleichheit. Das ist das Ziel, das wir
erreichen wollen. Wir wollen, dass öffentliche Unterneh-
trag in den Papierkorb und seien Sie bereit, unsere Argu-
mente zu würdigen! Denn sie sind tausendmal besser als men die gleichen Chancen am Markt haben wie private
das, was Sie mit Ihrem Antrag bewirken wollen. Unternehmen.

In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerk- Wer die Faktenlage kennt, weiß, dass sich öffentliche
samkeit. Unternehmen in der Regel sowieso privater Unterneh-
men bedienen, weil sie ihre Aufgaben nicht komplett al-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lein erfüllen können. Sie wissen sicherlich, in welchem
Maße das örtliche Handwerk von den Stadtwerken lebt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Auftragslage dort wäre ganz anders, wenn die Stadt-
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der werke die Entfaltungsmöglichkeiten, die sie heute in
SPD-Fraktion. Nordrhein-Westfalen wieder haben – in anderen Ländern
ist es leider noch nicht so weit –, nicht hätten.
(Beifall bei der SPD)
Insofern ist es eine Ideologie. Ich will es Ihnen an-
hand Ihres Koalitionsvertrages entgegenhalten.
Bernd Scheelen (SPD):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Johannes Kahrs [SPD]: An den werden sie
gen! Es ist faszinierend, wie viel Lärm vier Personen er- ungern erinnert!)
zeugen können: Vielen Dank für den Applaus.
Auch wenn Sie sich nicht immer daran halten, sollte man
(Johannes Kahrs [SPD]: Du hast ihn ja ihn lesen. Darin wird die Ideologie deutlich beschrieben.
verdient!) Zum Thema Verkehr steht im Koalitionsvertrag:
– Das wird sich zeigen. Aufgabe der Privatwirtschaft ist es, Personenver-
kehr, Gütertransport und Logistik zu betreiben.
Der Kollege Toncar hat daran Anstoß genommen,
dass mein Kollege Kahrs das Mantra von Schwarz-Gelb Dann heißt es weiter:
„Privat vor Staat“ als Ideologie bezeichnet hat.
Aufgabe des Staates ist es, eine zukunfts- und leis-
(Johannes Kahrs [SPD]: Was es ja ist!) tungsfähige Infrastruktur zu garantieren …
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12857
Bernd Scheelen
(A) Was heißt das denn übersetzt? Das heißt, der Staat ist der che mit der Kommune das Projekt – darüber werden Ver- (C)
Büttel derjenigen, die Gewinne machen. Der Staat muss träge geschlossen; entscheidend ist die Vertragsgestal-
alles leisten, darf aber selber nicht an Gewinnen beteiligt tung – und betreibt das Projekt so lange, wie es der
werden. Dafür sind die Privaten zuständig. Das ist nicht Lebenszyklus vorsieht. Das ist Teil der Leistung. Der
unsere Ideologie. Unterschied zwischen einer PPP und der klassischen Va-
riante ist die Lebenszyklusbetrachtung. Wenn wir ehrlich
Zum öffentlichen Personennahverkehr schreiben Sie sind, müssen wir zugeben, dass die kommunalen Räte
ganz unverblümt: den Lebenszyklus nicht immer im Blick haben. Bei einer
Dabei werden wir den Vorrang kommerzieller Ver- PPP wird ein Objekt mit allen seinen Kosten bis zum
kehre gewährleisten. Ende nach etwa 25 oder 30 Jahren betrachtet. Diese Kos-
ten werden berechnet. Die Kommune mietet das Objekt
Wer sich mit kommerziellen Verkehren in Städten aus- zu einem festen Satz und hat immer ein funktionierendes
einandersetzt, der weiß, dass – als Folge der Privatisie- Objekt. Nach 25 oder 30 Jahren geht es in ihren Besitz
rung – die betreffenden Unternehmen Dumpinglöhne über. Das ist PPP. Das ist kein Allheilmittel.
zahlen und trotzdem die Fahrpreise steigen. In diese
Richtung wollen wir nicht gehen. Aber das ist die Ideo- Jede Kommune muss für sich entscheiden, ob sie ein
logie, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag ganz unver- Projekt so angehen will und angehen kann. Wir sind je-
blümt niedergeschrieben haben. denfalls nicht bereit, dieses Instrument – es kann sinn-
voll sein, muss es aber nicht – einfach zu beseitigen. Ihr
Ich komme auf den Antrag der Linken zurück. Der Antrag liefe aber darauf hinaus, dieses Instrument abzu-
Grundsatz „Privat vor Staat“ hat allerdings nichts mit schaffen. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die
PPP zu tun. Ich glaube, da haben Sie – darauf haben Kommunen in der Lage sind, selber zu entscheiden, ob
schon einige Redner hingewiesen – einiges durcheinan- PPP für sie ein sinnvolles Modell ist.
dergeworfen. Man sollte vielleicht der Öffentlichkeit er-
klären, was eine Öffentlich-Private Partnerschaft – ÖPP Sie behaupten in Ihrem Antrag, die PPP Deutschland
oder auf Englisch PPP – eigentlich ist. Was kann man AG werde nur vom Bund und von Wirtschaftsunterneh-
sich darunter vorstellen? Die Grundüberlegung ist, dass men betrieben. Das ist nicht richtig. Bund, Länder und
die öffentliche Hand und private Unternehmen auf Au- Kommunen halten einen Anteil von 57 Prozent, während
genhöhe miteinander verhandeln und einen Vertrag für die private Wirtschaft einen Anteil von 43 Prozent hält.
ein Objekt schließen. Der Kollege Tiefensee hat vorhin Das heißt, Kommunen, die wollen, haben die Möglich-
Beispiele aus dem schulischen Bereich genannt. In vie- keit, einzugreifen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel
len Landesteilen der Republik lässt sich nachweisen, gibt es eine Taskforce für PPP. Das Finanzministerium
(B) dass diese Partnerschaften funktionieren. hat ein Beratungsinstitut errichtet, das Kommunen berät, (D)
die dieses Instrument nutzen wollen. Wir halten das für
Wie geht das genau? Viele Kommunen stehen vor den richtigen Weg. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag
dem Problem, dass die Schulen marode sind. Das kennen ab.
Sie alle sicherlich aus Ihren Heimatgemeinden. Wenn je-
mand eine Kommune kennt, in der die Situation besser Vielen Dank.
ist, der sage mir bitte Bescheid. Die rund 75 Schulen in
meiner Heimatgemeinde sind jedenfalls fast alle in ir- (Beifall bei der SPD)
gendeiner Form renovierungsbedürftig. Der Investitions-
bedarf beträgt grob geschätzt 150 Millionen bis 200 Mil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lionen Euro. Wenn eine Kommune nun etwas für
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
Bildung tun und das schulische System verbessern will,
erteile ich nun das Wort dem Kollegen Christian von
dann müsste sie eigentlich das dafür notwendige Geld
Stetten von der CDU/CSU-Fraktion.
auf dem Kapitalmarkt aufnehmen und es sofort investie-
ren. Das könnte sie, wenn sie es denn dürfte. Aber so (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
viel Kapital darf in der Regel keine Kommune aufneh-
men. Da sind Regularien davor, die eine solche Kredit-
aufnahme verhindern. Selbst wenn die Kommune es Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU):
dürfte: Was würde sie dann machen? Sie würde ihre Pla- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
nungs- bzw. Architekturabteilung beauftragen, Pläne zu ren! Der heute von der Linksfraktion eingebrachte An-
erarbeiten. Man darf aber nicht vergessen, dass die meis- trag fordert in seiner Überschrift eine Beschleunigung
ten Kommunen in den letzten 20 bis 30 Jahren diese Ab- der Rekommunalisierung und einen Stopp der Öffent-
teilungen abgebaut haben. Diese müssten also Private lich-Privaten Partnerschaften. Wenn man allerdings den
mit der Planung beauftragen. Wenn die Planungen durch Antrag genau liest, dann wird deutlich, dass das, was Sie
die parlamentarischen Gremien durch sind, würde die heute hier einfordern, im Prinzip ein Generalangriff auf
Kommune private Unternehmen beauftragen, das ent- die kleinen Handwerker, die kleinen Dienstleister und
sprechende Projekt zu realisieren, und zwar mit dem die Kleinstunternehmen in den Städten und Gemeinden
Geld, das sich die Kommune – sofern sie es denn darf – ist.
zuvor geliehen hat. Das ist bisher der klassische Weg.
(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: So ein Unsinn!
Eine PPP funktioniert wie folgt: Ein Privater stellt das Sämtliche Studien belegen, dass kleine Hand-
notwendige Geld zur Verfügung, realisiert nach Abspra- werker dadurch Vorteile haben!)
12858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Christian Freiherr von Stetten


(A) Frau Kollegin, Sie fordern – es wurde bereits erwähnt – das ist eine Renaissance des Sozialismus, und das wollen (C)
unter anderem eine Änderung der Gemeindeordnung da- wir hier im Parlament nicht beschließen.
hin gehend, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen
Betätigung von Kommunen aufgehoben werden soll. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ist doch genau diese Regelung, die die Kleinstunterneh- Ich möchte nun noch ein weiteres Thema aufgreifen,
mer, die Handwerker in unseren Kommunen schützt. da ich glaube, dass das Gegenteil von dem, was Sie hier
(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) beschreiben, der Fall sein wird. Ich bin fest davon über-
zeugt, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einen
Wenn Sie nun das tun, was wir als verantwortliche Poli- weiteren Schritt gehen müssen, nämlich den Schritt in
tiker nicht tun sollten, nämlich den kleinen Handwerkern Richtung Abschaffung der steuerlichen Ungleichbe-
und den kleinen Gewerbetreibenden diesen Schutz neh- handlung von staatlichen Dienstleistungen und den
men, dann nehmen Sie denen auch noch die Arbeit. Das Dienstleistungen, die von privaten Unternehmen er-
sollte nicht im Sinn aller hier im Hause und auch nicht bracht werden. Die Europäische Union ermahnt uns
Ihrer Fraktion sein. Dieser Schutz hat sich bewährt, und schon heute, hier für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit zu
den werden wir auch weiterhin geben. sorgen. Beispielsweise gibt es eine Ungleichbehandlung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Bereich der Umsatzsteuer. Das trifft in dem Bereich
jeden Bürger.
Nun möchte ich einmal die rot-grüne Bundesregie-
rung für einen Gesetzentwurf aus dem Jahr 2005 loben. (Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])
(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist immer gut!) Sie haben – wir befinden uns ja derzeit im Vorwahl-
kampf in Berlin – die Berliner Verhältnisse angespro-
Ihr habt damals – das war einer der letzten Gesetzent- chen. Insofern sollten Sie dies einmal mit den Berliner
würfe, die Rot-Grün im Bundestag verabschiedet hat – Gastronomen und Unternehmern diskutieren. Derzeit
einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Öffentlich- gibt es drei Möglichkeiten, Räume für eine Familienfeier
Privaten Partnerschaften eingebracht. Diesen Gesetzent- anzumieten: Entweder mieten Sie den Raum direkt bei
wurf haben wir von CDU/CSU-Seite wohlwollend be- der Kommune oder bei einem örtlichen Gastronomen
gleitet. Obwohl wir in der Opposition waren, haben wir oder bei einem Unternehmen an, das im Rahmen einer
mitgeholfen, diesen Gesetzentwurf im Bundestag zu ver- Öffentlich-Privaten Partnerschaft das Gebäude betreibt
abschieden. und die Räume vermietet. Wenn Sie einen Raum direkt
(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr habt euch enthal- bei der Kommune steuerfrei für 1 000 Euro anmieten,
ten!) dann haben Sie einen wesentlichen Vorteil gegenüber
(B) demjenigen, der einen gleichwertigen Raum bei einem (D)
– Wir haben uns enthalten – da hast du völlig recht –, örtlichen Gastronomen anmietet; denn bei dem örtlichen
weil es ein Schritt in die richtige Richtung war, aber es Gastronomen fallen neben der Miete in Höhe von
noch weitere Punkte gab, die wir aufnehmen wollten. 1 000 Euro auch noch, wenn man die Personalkosten be-
Wenn sich aber eine Opposition während eines Bundes- rücksichtigt, 19 Prozent Umsatzsteuer, also zusätzlich
tagswahlkampfs dazu durchringt, das Gute in einem Ge- 190 Euro, an. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung, die
setzentwurf positiv zu bewerten, dann ist das sicherlich beseitigt werden muss.
zu begrüßen.
(Zuruf der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])
Dieses Gesetz, das 2005 verabschiedet wurde, wollen
Sie ausweislich Ihres Antrags aus ideologischen Grün- Wir werden Ihren Antrag dazu nutzen, hierüber inten-
den abschaffen. siv in den zuständigen Ausschüssen zu diskutieren.
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Aus praktischen Ich hätte gerne auf die Rede des Senators reagiert und
Gründen!) ihm zwei, drei Ratschläge für Berlin mitgegeben. Leider
Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir hier selbst- hat er das Plenum schon verlassen. Er wird triftige
verständlich nicht mitmachen werden. Gründe dafür haben.
Aus Ihrem Antrag wird deutlich, dass Sie das Unter- Ich darf zum Schluss die Diskussion zusammenfas-
nehmensrecht verändern wollen. Zum Beispiel wollen sen. Ich glaube, es ist deutlich geworden: PPP ist kein
Sie das Aktienrecht dahin gehend ändern, dass in Zu- Allheilmittel. Aber in der Zusammenarbeit zwischen
kunft für die von Kommunen entsandten Aufsichtsräte in Staat und privaten Unternehmen können intelligente,
Aktiengesellschaften und gemeinwirtschaftlichen Unter- kostengünstige und für die Bürger nützliche Projekte
nehmen nicht mehr das gilt, was heute noch Gesetz ist. entstehen. Deswegen werden wir auch in Zukunft an die-
Heute ist im Gesetz geregelt, dass die Aufsichtsräte zum sem Modell festhalten.
Wohl des Unternehmens Entscheidungen treffen sollen,
also auch zum Wohl der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Herzlichen Dank.
ter. Das wollen Sie nun ändern, und zwar so, dass in Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kunft die Aufsichtsräte zuerst dem Gemeinwohl, also
den kommunalen Interessen, verpflichtet sind. Sie haben
die Funktion der Aufsichtsräte überhaupt nicht verstan- Vizepräsidentin Petra Pau:
den. Sie fordern keine Rekommunalisierung, sondern Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12859
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Gero Storjohann (CDU/CSU): (C)
Drucksache 17/5776 an die in der Tagesordnung aufge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP uns in der Dekade der Verkehrssicherheit – das haben die
wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss. Die UN beschlossen –, und die geht von 2010 bis 2020. Wir
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus- als Union empfanden es als sinnvoll, mit einem eigenen
schuss für Wirtschaft und Technologie. Antrag die Verkehrssicherheit auch im Bundestag in den
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Mittelpunkt zu stellen. Ich glaube, feststellen zu können,
Fraktion Die Linke – Federführung beim Ausschuss für dass von allen Themen, die wir bearbeiten, die Überein-
Wirtschaft und Technologie – abstimmen. Wer stimmt stimmung der Verkehrspolitiker im Bereich der Ver-
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage- kehrssicherheit am größten ist. Es ist wichtig, dass diese
gen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag Arbeit in den Vordergrund gestellt wird; denn die Arbeit
ist abgelehnt. ist erfolgreich gewesen.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Vergleicht man das Jahr 2010 mit dem Jahr 2000,
Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung dann stellt man fest, dass allein bei den Verkehrstoten
beim Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für ein Rückgang von über 50 Prozent zu verzeichnen ist, im
diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Verhältnis zum Jahr 1991 betrug der Rückgang 68 Pro-
Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist an- zent. Das wurde in einer Zeit erreicht, in der das Ver-
genommen. kehrsaufkommen immer mehr gestiegen ist und um über
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und b auf: 20 Prozent zugenommen hat. Das macht deutlich, dass
wir bisher eine gute Arbeit vorlegen konnten. Ich erin-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero nere an die Gurtpflicht, an den Einbau von Airbags und
Storjohann, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold
an den Ausbau der Infrastruktur. Das hat enorme Fort-
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
schritte bei der Verkehrssicherheit gebracht, und das hat
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
zu dem Sinken der Zahl der Todesfälle entscheidend bei-
Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weite-
getragen.
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter Was nicht so erfolgreich gewesen ist, ist die Vermei-
verbessern dung von Schwer- und Schwerstverletzten. Der Einbau
von Airbags hat dazu geführt, dass die Unfälle, die es
– Drucksache 17/5530 – weiterhin gab, zwar nicht mehr so oft tödlich ausgegan- (D)
(B)
Überweisungsvorschlag: gen sind, dass aber Schwer- und Schwerstverletzte zu
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
beklagen waren. Deshalb müssen wir die Verkehrs-
Rechtsausschuss sicherheitsarbeit auf einem hohen Niveau weiterführen.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir wollen mit unserem Antrag der Regierung einen Im-
Ausschuss für Gesundheit puls geben, auf dem guten Weg fortzuschreiten. Bei al-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
len Erfolgen unserer Arbeit muss deutlich sein, dass das
nicht nur eine Aufgabe des Parlaments oder der Regie-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kirsten rung ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Lühmann, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, wei- Dadurch, dass wir den Verkehr sicherer machen, wollen
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD wir dafür sorgen, dass Menschenleben nicht gefährdet
Sicher durch den Straßenverkehr – Für eine werden und dass die Menschen unversehrt an ihr Ziel
ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in kommen. Jeder getötete Mensch ist einer zu viel. Des-
Deutschland halb möchten wir die Zahl der Geschädigten so weit wie
möglich senken. Uns ist klar, dass die Zahl nie null sein
– Drucksache 17/5772 – wird, aber die Vision, dieses Ziel anzustreben, muss er-
Überweisungsvorschlag: laubt sein. Das ist international Konsens.
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss Unser Antrag enthält eine Vielzahl von Einzelmaß-
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nahmen, die ihre spezielle Wirkung entfalten. Wir als
Ausschuss für Gesundheit Parlament haben eine gute wissenschaftliche Begleitung.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Regierung hat die Bundesanstalt für Straßenwesen,
Haushaltsausschuss die jeden Vorschlag intensiv darauf prüft, ob er machbar
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ist und in welchem Umfang durch ihn eine Verbesserung
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich herbeigeführt wird. Deshalb dauert es auch eine gewisse
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Zeit, bis ein guter Vorschlag umgesetzt wird. Ich erin-
nere an die Umsetzung des Vorschlags zum Tagfahrlicht.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Es hat eine Dekade gedauert, bis Erfolge zu verzeichnen
Gero Storjohann für die Unionsfraktion.
waren. Aber deshalb geben wir nicht auf. Vielmehr ist es
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für uns Verkehrssicherheitspolitiker ein umso größerer
neten der FDP) Ansporn, andere davon zu überzeugen, weiterzumachen.
12860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Gero Storjohann
(A) Unser besonderes Augenmerk gilt den gefährdeten nen. Auch das ist ein wichtiger Auftrag im Bereich der (C)
Personengruppen im Straßenverkehr: Das sind nach un- Verkehrssicherheit.
serer Auffassung Kinder, Fahranfänger zwischen 18 und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
24 Jahren, die im Straßenverkehr aufgrund mangelnder
Fahrerfahrung ein besonders hohes Risiko eingehen, und Für uns als Union ist der bedarfsgerechte Ausbau des
insbesondere ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fuß- Bundesfernstraßennetzes ein wesentlicher Beitrag dazu,
gänger, Fahrradfahrer und motorisierte Zweiradfahrer. die Verkehrssicherheit zu erhöhen. 2008 und 2009 wur-
Unfallschwerpunkte sind weiterhin der Güterkraftver- den über 232 Kilometer neue Autobahnen fertiggestellt,
kehr und der Verkehr auf den Landstraßen. Hier müssen 171 Kilometer Autobahn wurden sechs- und mehrspurig
jeweils spezifische Maßnahmen ergriffen werden. Insbe- ausgebaut. Wir sind der festen Überzeugung: Breitere,
sondere die Gefährdung von jungen Fahrern hat uns in moderne und gut ausgebaute Straßen erhöhen die Sicher-
letzter Zeit angetrieben, neue Initiativen zu ergreifen. heit der Verkehrsteilnehmer.
Von 2008 auf 2009 ist die Zahl der Verkehrstoten bei Auch bei allen künftigen Baumaßnahmen wollen wir
jungen Fahranfängern um über 10 Prozent gesunken. uns am Leitbild der fehlerverzeihenden und standardi-
Wir sind der Meinung, dass das auf die Einführung des sierten Straße orientieren. Hierzu gehören vor allen Din-
Führerscheins mit 17 und auf die Absenkung der Promil- gen Rüttelstreifen auf den Autobahnen, die dem Sekun-
legrenze auf null bei jungen Fahrern zurückgeführt wer- denschlaf entscheidend entgegenwirken können.
den kann. Die 0,0-Promille-Grenze findet eine hohe Ak- Auch der freiwillige Einbau von technischen Assis-
zeptanz bei den jungen Menschen, die inzwischen durch tenzsystemen – das liegt ja meinem Kollegen Vogel be-
Aufklärungsarbeit selbst dafür sorgen, dass der, der sonders am Herzen – kann eine Lösung sein, um die Ver-
fährt, wirklich null Promille hat. Das ist der erfolgrei- kehrssicherheitsarbeit entscheidend voranzubringen.
chen Arbeit der letzten Bundesregierung zu verdanken.
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
Wir möchten die Fahranfängervorbereitung weiter Sehr richtig! Das ist die Zukunft!)
optimieren. Deshalb enthält unser Antrag unter anderem
einen Prüfauftrag im Hinblick auf eine zusätzliche Be- Diese Systeme werden gerade für den Premiumbereich
gleitphase nach der Fahrschulausbildung und nach der entwickelt und zum Teil auch schon eingebaut und ge-
Fahrprüfung. Ein solches Zweiphasenmodell, das wir testet.
schon länger diskutieren und das häufig an den Kosten (Florian Pronold [SPD]: Das brauchen wir
gescheitert ist, wird in Österreich praktiziert. Es ist sinn- auch im Bundestag, wenn eine langweilige
voll, sich intensiver damit zu beschäftigen. Rede gehalten wird!)
(B) (D)
Große Aufmerksamkeit erfährt auch der Vorschlag, Es bleibt zu hoffen, dass sie später auch im Volumenbe-
den Einsatz sogenannter Alcolocks bei alkoholauffällig reich eine entsprechende Wirkung entfalten. Deshalb bin
gewordenen Verkehrsteilnehmern zu prüfen. Falls einige ich froh, dass wir hier in Deutschland Fahrzeuge herstel-
das noch nicht kennen: Es handelt sich um eine soge- len, die dem Premiumbereich zuzurechnen sind.
nannte Wegfahrsperre. Das Lenkrad wird erst nach Pus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten in ein Alkoholtestgerät entriegelt, natürlich nur dann,
wenn die Person nüchtern ist. In einigen europäischen Zum Schluss möchte ich noch die Forderung aufstel-
Ländern wird dieses System bei alkoholauffälligen Per- len, dass man sich EU-weit auf einheitliche Statistiken
sonen getestet, um ihnen die Chance, weiterhin am Stra- einigt, damit Vergleichbarkeit gegeben ist. Es muss Klar-
ßenverkehr teilzunehmen, zu eröffnen. heit darüber herrschen, wann ein Verkehrsverletzter auch
als solcher in den Statistiken erfasst wird und er nicht als
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sollen sie doch Person gilt, die zwar im Krankenhaus behandelt wird,
Bus fahren!) aber nicht in den entsprechenden Statistiken erfasst wird.
Wir wissen, dass es auch bei diesem Verfahren Manipu- Unser Antrag enthält eine Vielzahl von Maßnahmen.
lationsmöglichkeiten gibt, aber wir wollen es trotzdem Im Ausschuss werden wir sicherlich intensiv auch die
testen. Deshalb haben wir einen ergebnisoffenen Prüf- Vorschläge, die darüber hinaus noch vorgetragen wer-
auftrag aufgenommen. den, beraten und diskutieren. Ich bitte um Überweisung
an den Ausschuss.
Bei den Autobahnen wollen wir durch den weiteren
Ausbau von Lkw-Stellplätzen mehr Sicherheit schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Vizepräsidentin Petra Pau:


Sehr richtig!) Die Kollegin Kirsten Lühmann hat für die SPD-Frak-
Der Bund hat bereits ein gutes Programm auf den Weg tion das Wort.
gebracht. Bis 2012 sollen weitere 5 500 neue Lkw-Park-
plätze gebaut werden; denn die Situation auf den Park- Kirsten Lühmann (SPD):
plätzen an den Autobahnen ist unhaltbar. Es entstehen Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
gefährliche Situationen durch Rückstau. Die Lkw-Fahrer Kolleginnen! Sehr verehrte Herren und Damen! Kennen
sind nämlich gehalten, ihre Ruhezeiten einzuhalten. Sie Sie „Bike Heroes“? Ich meine damit nicht den Rennrad-
sollen deshalb stressfrei ihre Parkplätze ansteuern kön- nachwuchs, den Rudolf Scharping für seinen Bund
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12861
Kirsten Lühmann
(A) Deutscher Radfahrer sucht, sondern ich meine die Zei- der Verkehrssicherheitsarbeit sichern, Fahrerlaubnis auf (C)
chentrickfiguren, mit denen der Auto Club Europa seine Probe, Lenk- und Ruhezeiten sowie Ladungssicherung,
diesjährige Kampagne zum Thema „Kind und Fahrrad“ aber auch die Überwachung und Sanktionierung verstär-
startet. ken.
Bundesweit ist die Zahl der im Verkehr getöteten Kin- Auch dieser Plan hat dazu beigetragen, dass sich die
der im letzten Jahr von 90 auf 104 gestiegen. Jedes Verkehrssicherheit auf bundesdeutschen Straßen in den
zweite dieser Kinder war mit einem Fahrrad unterwegs. letzten zehn Jahren deutlich gesteigert hat. Hier nur eine
Der ACE möchte bei seiner Aktion mit den Kindern zu- Zahl, auf die wir mit Recht stolz sein können: Die Zahl
sammen, also nicht mit erhobenem Zeigefinger, einen der Verkehrsunfalltoten lag im letzten Jahr unter 4 000.
Sichtcheck der Fahrräder der Kinder auf technische Diese Zahl alleine wird Ihnen wenig sagen; ich gebe Ih-
Mängel durchführen. Gleichzeitig wird eine Zählung nen eine Vergleichszahl: In den 70er-Jahren lag diese
stattfinden, wie viele Kinder mit einem Helm und wie Zahl bei über 20 000, obwohl wir nur ein Drittel der
viele ohne Helm Fahrrad fahren. Ich denke, wir alle sind Kraftfahrzeuge von heute auf unseren Straßen hatten.
sehr gespannt auf die Ergebnisse der Studie. Diese Kam-
pagne des ACE wie die anderen Aktionen der Verkehrs- Jetzt, nach zehn Jahren, hat die Bundesregierung be-
schlossen, einen neuen Verkehrssicherheitsplan aufzule-
sicherheitsverbände ADAC, ARCD, DVR oder Ver-
kehrswacht sind wichtig. Sie sind wichtige Teile im gen, und ihn, wie wir von den Verkehrssicherheitsver-
großen Puzzle der Verkehrssicherheit. Dazu gehört, die bänden gehört haben, schon mit diesen abgestimmt. Ich
halte dies für richtig und gut. Nach einer Dekade muss
Grundregeln der StVO, die wir alle einmal lernen muss-
ten, zu verinnerlichen: man sich die Fragen stellen: Was haben wir erreicht?
Was war gut? Aber was ist noch zu tun? Diesem Thema
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert widmet sich der Antrag der SPD, aber auch – Herr
ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Storjohann hat es gesagt – der Antrag der Koalition.
(2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhal- Bleiben wir bei den Verkehrsunfalltoten. Das Dritte
ten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder Europäische Aktionsprogramm für Straßenverkehrssi-
mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, … cherheit hat das Ziel gehabt, von 2001 bis 2010 die Zahl
belästigt wird. der Verkehrstoten europaweit um 50 Prozent zu senken.
Dieses Ziel hat die Bundesrepublik fast erreicht. Mit
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: § 1
dem neuen Leitfaden für die Politik der Verkehrssicher-
StVO: aufmerksam, vorausschauend, rück-
heit, den die Kommission aufgelegt hat, möchte sie diese
sichtsvoll!)
Zahl von 2010 bis 2020 noch einmal um 50 Prozent sen-
(B) Mit den Aktionen der Verkehrssicherheitsverbände ken. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat – Herr (D)
und dem Verweis auf § 1 der StVO könnten wir das Storjohann hat es gesagt – hat sogar eine Vision Zero, in-
Thema Verkehrssicherheit eigentlich ad acta legen. Da- dem er sagt: Unser Ziel müsste sein, die Zahl auf null zu
mit ist alles gesagt. Wir alle wissen aber, dass sich die senken. Ich kenne auch das Zitat unseres Altbundes-
Situation auf bundesdeutschen Straßen in der Realität kanzlers Helmut Schmidt: Wer Visionen hat, möge bitte
anders darstellt. zum Arzt gehen. In diesem Fall hilft aber nur ein ehrgei-
ziges Ziel. Auch wenn wir es nie erreichen, müssen wir
Ich bin heute, wie so oft, mit dem Fahrrad hierherge-
uns zu ihm bekennen. Wir müssen unsere Aktivitäten auf
kommen. Ich habe mich maßlos über einen Lkw geär-
dieses Ziel ausrichten, und es muss uns zur Höchstform
gert, der den Sicherheitsabstand zu uns Fahrradfahren-
antreiben. Auch ich bin wie wohl alle hier der Meinung:
den deutlich unterschritten hat und dadurch eine sehr
Jeder Tote im Straßenverkehr ist ein Toter zu viel.
gefährliche Situation verursacht hat. Ich habe aber auch
gehört, dass sich die Fußgänger über die Fahrradfahren- Genau das ist es, was mit dieser Vision Zero ausge-
den aufgeregt haben, weil diese aus dem obigen Grund drückt werden soll. Minister Ramsauer hat auf einer
auf den Gehweg ausgewichen sind. Veranstaltung des DVR diese Idee ausdrücklich gutge-
heißen und sich mit ihr solidarisch erklärt. In unser Ver-
(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]:
kehrssicherheitsprogramm sollten wir daher zumindest
Auch das stimmt!)
die 50-Prozent-Marke aufnehmen, die uns Europa vorge-
Ich weiß auch, dass ich mich, wenn ich mit dem Auto geben hat.
unterwegs bin, über all die aufrege, die langsamer sind
Aber es geht nicht nur um Tote – auch darauf hat der
als ich, und damit eigentlich auch über mich selber, weil
Kollege Storjohann hingewiesen –, sondern es geht auch
ich irgendwann ja auch wieder als Fußgängerin unter-
um Schwer- und Schwerstverletzte. Zurzeit differenziert
wegs bin. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat 2001 die rot-
unsere Statistik nicht danach. Wenn ich nach einem Un-
grüne Bundesregierung ein Programm für mehr Sicher-
fall 24 Stunden zur Beobachtung im Krankenhaus
heit im Straßenverkehr verabschiedet. Schwerpunkt war
bleibe, zähle ich genauso als Schwerstverletzte wie je-
die Bewusstseinsbildung der Verkehrsteilnehmenden
mand, der lebenslange Folgen aufgrund eines Unfalls er-
und damit dieses Thema Rücksichtnahme.
leiden muss. Wenn wir gezielt Prävention betreiben wol-
Viele dieser Themen kommen uns auch heute, zehn len, müssen wir genaue Zahlen haben. Daher regen wir
Jahre später, sehr bekannt vor: ÖPNV als sicheres Ver- an, eine Kategorie wie „lebensgefährlich verletzt“ einzu-
kehrsmittel stärken, Unfallrisiko für Fahranfangende re- führen, damit wir hier über genaue Zahlen verfügen und
duzieren, Landstraßen sicherer machen, Finanzierung das trennen können.
12862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Kirsten Lühmann
(A) Ich führe noch einige Punkte aus dem SPD-Antrag an. in den ersten zwei Jahren, bis sie diese Erfahrung gesam- (C)
Wir haben uns zum einen dem Aktionsfeld Mensch mit melt haben, eine Höchstgeschwindigkeit auferlegen, die
den Kategorien Kind, Fahranfangende und ältere Men- niedriger als diejenige ist, die erfahrene Autofahrer fah-
schen gewidmet. Hier ist die Aufklärung durch die Ver- ren dürfen. Andere Länder wie Frankreich haben es uns
kehrssicherheitsverbände mit ihren vielen Ehrenamtli- erfolgreich vorgemacht. Ich halte dies für eine auch für
chen von besonderer Bedeutung. Ich denke hier etwa an uns angezeigte Maßnahme.
die Verkehrswacht, die auf Landes-, Kreis- und Orts-
Lassen Sie uns die letzte Zielgruppe anschauen; das
ebene erhebliche Arbeit leistet. Von hier aus danke ich
sind die sogenannten Silver Ager, wie der ADAC sie
all den Menschen, die das tun, noch einmal herzlich für
nennt. Die erste Reihe hier im Haus wird sehen, dass ich
das, was sie in der Vergangenheit geleistet haben.
eigentlich auch schon ein bisschen dazugehöre, wenn
(Beifall im ganzen Hause) auch noch nicht ganz. Diese Silver Ager sind zwar an
der Verursachung von Unfällen unterproportional betei-
– Ich danke Ihnen für Ihren Applaus. Er war sehr wich- ligt, aber wenn sie in einen Unfall verwickelt werden
tig. – Aber genauso wichtig wie dieser Applaus und die und dabei verletzt werden, dann sind diese Verletzungen
Anerkennung ist auch die finanzielle Sicherheit, die wir in der Regel sehr schwer. Dies wird sich in absoluten
diesen Verkehrssicherheitsverbänden geben müssen. Zahlen aufgrund des demografischen Wandels natürlich
Wenn sie weiterhin so erfolgreich, so effektiv und so erhöhen. Das damit verbundene Problem wurde gestern
kostengünstig für unsere Sicherheit sorgen sollen, dann auch bei einer Veranstaltung im BMVBS zu dem Thema
müssen wir ihnen auch mittelfristige Planungssicherheit „Barrierearmes Bauen“ angesprochen: Keine Person
geben. Ich war sehr euphorisch, als Herr Staatssekretär möchte daran erinnert werden, was kommt, wenn sie äl-
Scheuer bei den Haushaltsberatungen angekündigt hat, ter wird. Das heißt, wir treffen keine Vorsorge, und wenn
dass er genau dies tun wolle. Ich bitte Sie dann aber es so weit ist, dann ist es zu spät.
auch, diese Summe zu verstetigen, zumindest auf dem
jetzigen Niveau, und sie auch in die mittelfristige Insbesondere im ländlichen Raum sind die Menschen
Finanzplanung aufzunehmen, damit die Verkehrssicher- auf Kraftfahrzeuge angewiesen. Wir haben viele Orte
heitsverbände entsprechende Sicherheit haben. ohne Bäcker, ohne Fleischer, ohne Supermarkt, ohne
funktionierenden ÖPNV. Oftmals leben die Kinder auch
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – noch an anderen Orten. Wenn die Fahrerlaubnis abgege-
Florian Pronold [SPD]: Kein Klatscher bei der ben werden muss, dann bedeutet dieser Verlust der Mo-
Regierung! Das lässt ja tief blicken!) bilität auch einen erheblichen Verlust an Lebensqualität.
Ich meine, das sind wir dem Ehrenamt schuldig. Als Polizeibeamtin habe ich sehr viele Vorträge dazu
(B) In unserem Antrag gehen wir weiter auf Kinder und gehalten. Heute weiß ich: Ich hätte es auch lassen kön- (D)
auf die Helmpflicht ein. Wir möchten gern, dass unter- nen; denn eine Studie besagt, dass ältere Menschen in
sucht wird, ob es angesichts der Zahlen nicht doch sinn- diesem Fall nicht auf die Polizei hören. Sie hören aber
voll ist, eine Helmpflicht für Kinder auf Fahrrädern ein- auch nicht auf ihre Kinder, was mich nicht verwundert:
zuführen. Als Kinder haben wir nicht auf unsere Eltern gehört. Wa-
rum sollen sie jetzt auf uns hören? Aber ältere Menschen
Wir gehen auf Fahranfangende und auf das Mehrpha- hören in dieser Frage auf Ärzte und Ärztinnen. Diesem
senmodell ein. Der Führerschein mit 17, den wir einge- Thema sollten wir uns widmen; wir sollten die Beratung
führt haben, war gut, aber nicht alle können ihn nutzen. hierzu ausweiten.
Die zwei Jahre Probezeit, die wir eingeführt haben, sind
gut; aber nach der Führerscheinprüfung gibt es auch für Wir können zwar die schönsten Ideen haben, aber
die auffällig gewordenen Fahranfangenden keine neue wenn deren Umsetzung nicht kontrolliert wird, werden
Praxisprüfung. Die Kurse, die sie machen müssen, sind wir nicht weiterkommen. Das heißt, wir müssen uns
in der Regel nur Theoriekurse. auch mit folgender Frage auseinandersetzen: Wie über-
wachen wir die Realisierung unserer schönen Ideen? Ich
Ebenso haben wir die 0,0-Promille-Grenze einge- weiß, das ist Ländersache, die Länder haben die Polizei-
führt. Das war auch sehr gut. Aber, Herr Storjohann, ich hoheit. Aber wir müssen auch darüber reden: Wie viel ist
sage Ihnen deutlich: Allein in Niedersachsen hatten wir uns die Sicherheit der Menschen auf unseren Straßen
im letzten Jahr 3 425 schwere Verkehrsunfälle, die auf- wert? Darüber müssen wir mit den Ländern sprechen.
grund von Alkoholmissbrauch zustande kamen. Das ist
Nicht allein Geld zählt; gefragt sind intelligente Kon-
einfach zu viel.
zepte und die Einbeziehung bürgerschaftlichen Engage-
Zudem ist der Verkehrsunfalltod für junge Menschen ments mit Unterstützung von Bund, Ländern und Kom-
zwischen 18 und 24 Jahren immer noch die Haupttodes- munen. Die Ideen dazu finden sich im SPD-Antrag und
ursache. Das heißt, obwohl wir die Zahlen gesenkt ha- auch im Antrag der Regierungskoalition. Ich bin sicher,
ben, sterben noch immer die meisten Menschen im Alter in den Beratungen werden wir noch viele neue Ideen ha-
zwischen 18 und 24 Jahren an den Folgen eines Ver- ben, damit am Ende der Debatte ein Verkehrssicherheits-
kehrsunfalls. Die Gründe dafür sind neben falschem programm steht, das die Sicherheit aller Verkehrsteilneh-
Überholen hauptsächlich nicht angepasste, zu hohe Ge- mer auf bundesdeutschen Straßen erhöht.
schwindigkeit. Wenn wir diese Zahlen senken wollen,
Herzlichen Dank.
müssen wir auch darüber nachdenken, ob wir jungen
Menschen, die noch nicht so viel Fahrerfahrung haben, (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12863

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir sollten ihren Einsatz bei der Rehabilitation alkohol- (C)
Der Kollege Oliver Luksic hat für die FDP-Fraktion auffällig gewordener Kraftfahrer prüfen. Durch einen
das Wort. freiwilligen Einbau dieser Technik können sie schneller
ihre Fahrerlaubnis zurückbekommen. Damit ermögli-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chen wir ihnen Mobilität und sorgen für die Sicherheit
der anderen Verkehrsteilnehmer. Deshalb fordern wir in
Oliver Luksic (FDP): unserem Antrag, dass das Verkehrsministerium die Mög-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lichkeiten zum Einbau dieses neuen Instruments prüft.
Wenn wir heute über weitere Verbesserungsmöglichkei-
ten bei der Verkehrssicherheit reden, dann gehen wir Auf dem Feld der Infrastruktur gibt es einen besonde-
glücklicherweise von einem relativ hohen Niveau aus. ren Problembereich, der uns seit Jahren große Sorgen
Im Jahr 2010 gab es die niedrigste Anzahl von Verkehrs- macht. Das sind nicht die Autobahnen, wie oft suggeriert
toten seit dem Jahr 1953, als diese Statistik zum ersten wird, sondern die Landstraßen. Dort gibt es überpropor-
Mal erhoben wurde. Das kann man vor allem vor dem tional viele Tote und Verletzte. Wir sollten daher unsere
Hintergrund, dass die Gesamtfahrleistung gestiegen ist, Anstrengungen zur Verbesserung der Infrastruktur insbe-
nicht oft genug betonen. Im Vergleich zum Jahr 1991 sondere auf diesen Bereich konzentrieren. Dazu gehört,
gibt es 68 Prozent weniger Tote, obwohl die Gesamt- dass wir bekannte Unfallschwerpunkte systematisch ent-
fahrleistung in dieser Zeit um 20 Prozent gestiegen ist. schärfen. Mittelfristig sollten wir der Verkehrssicherheit
Hierfür sind natürlich neue Regelungen, aber auch Ver- – das gilt besonders in Bezug auf die Planung von neuen
besserungen an der Fahrzeugtechnik verantwortlich. Strecken bzw. auf die Erneuerung von älteren Strecken –
Dennoch dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht einen größeren Stellenwert einräumen. Wir müssen hier
nachlassen. Auch wenn wir die niedrigste Anzahl von zu einem Leitbild der fehlerverzeihenden und selbster-
Verkehrstoten haben, bedeutet diese Zahl, dass jeden Tag klärenden Straße kommen. Kurzfristig kann dies durch
in Deutschland zehn Menschen ihr Leben im Straßenver- konkrete Projekte wie etwa den Einsatz von Rüttelstrei-
kehr lassen. Das macht deutlich, dass wir unsere An- fen geschehen. In Versuchen wurde nachgewiesen, dass
strengungen auf diesem Gebiet erhöhen müssen. Mit durch sie die Zahl der Unfälle deutlich reduziert werden
dem Antrag der Regierungskoalition wollen wir dazu ei- kann.
nen Beitrag leisten. Entscheidend ist natürlich auch der Faktor Mensch.
Lassen Sie mich am Anfang ganz bewusst den vielen Die besten Regeln nutzen wenig, wenn sie nicht im Be-
ehren- und hauptamtlich tätigen Bürgerinnen und Bür- wusstsein der Menschen verankert sind. Das gilt für alle
gern danken, die etwa bei der Deutschen Verkehrswacht Verkehrsteilnehmer, auch für die Radfahrer. Deswegen
ist es wichtig, dass wir beispielsweise bei der Fahrlehrer-
(B) mithelfen, sich als Schülerlotsen engagieren oder auch (D)
im Unterricht zum Thema Verkehrssicherheit dazu bei- ausbildung ansetzen. Wir müssen uns fragen: Bilden wir
tragen, das Bewusstsein für Probleme im Straßenverkehr die Fahrlehrer gut genug aus? Vermitteln wir neben den
zu schaffen. Das verdient in der Tat unseren Respekt und Inhalten auch die notwendige pädagogische Kompetenz,
auch die Anerkennung aller Fraktionen in diesem Hause. damit die Fahrlehrer auf heterogene Teilnehmergruppen
eingehen können? Haben wir die richtigen Zugangsvor-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie aussetzungen für diesen Beruf? Über diese Fragen soll-
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und ten wir bei den Beratungen im Ausschuss diskutieren.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Gleiche gilt für mögliche Verbesserungen in der
Die christlich-liberale Koalition geht in ihrer Ver- Fahrausbildung. Ich denke, wir sollten hier durchaus
kehrssicherheitsarbeit von einem zentralen Grundgedan- über eine weitere Stufe der Ausbildung nach der Fahr-
ken aus. Wir werden weitere Erfolge nur erzielen, wenn prüfung, wie wir sie aus Österreich kennen, nachdenken.
wir interdisziplinär denken, das heißt, wenn wir die The- Dort helfen Feedbackfahrten nach dem Erwerb des Füh-
menfelder Technik, Infrastruktur und Mensch im Zu- rerscheins, immer wiederkehrende Fahrfehler zu beseiti-
sammenhang betrachten. Lassen Sie mich im Folgenden gen. Ich glaube, es wäre im europäischen Sinne, wenn
einige Punkte herausgreifen. wir beim Austausch von Best-Practice-Modellen die po-
sitiven Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn be-
Zunächst zur Technik. Auf EU-Ebene gibt es hinsicht-
rücksichtigen.
lich der Fahrzeugsicherheit große Fortschritte. Wir disku-
tieren in Europa jetzt über die Harmonisierung von Fahr- Wir müssen auch auf die älteren Teilnehmer im Ver-
zeugprüfungen. Natürlich ist es ein erstrebenswertes Ziel, kehr schauen; das ist aufgrund des demografischen Wan-
in diesem Bereich gemeinsame Standards beispielsweise dels ein immer wichtiger werdendes Thema. Deswegen
in Form von Prüflisten europaweit durchzusetzen. Klar zählt der Grundsatz des lebenslangen Lernens auch im
ist aber auch, dass wir das hohe Niveau, das wir in Bereich der Verkehrssicherheit. Es reicht nicht mehr aus,
Deutschland haben, im Zuge einer Harmonisierung nicht sich nur am Anfang der Fahrerkarriere mit dem Autofah-
absenken dürfen. Eine Harmonisierung sollte nicht zulas- ren auseinanderzusetzen.
ten der Sicherheit gehen. Deswegen sollte sich die Bun-
desregierung in Brüssel für ein hohes Niveau der Fahr- Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
zeugprüfungen einsetzen. SPD-Fraktion sagen. Ich glaube, es gibt hier in der Tat
viele Überschneidungen. Der eine oder andere Punkt ist
Eine spannende technische Möglichkeit bietet der vielleicht aus unserem Antrag übernommen; das finden
Einsatz von Alcolocks, also speziellen Wegfahrsperren. wir aber gut und richtig.
12864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Oliver Luksic
(A) (Florian Pronold [SPD]: Die Unions- und Hordorf stattgefunden hat, bei dem ein Güterzug und ein (C)
FDP-Politiker sind für Copy and Paste be- Personenzug zusammengestoßen sind. Dabei sind zehn
kannt!) Menschen getötet worden; 18 Menschen wurden schwer
verletzt, einige so schwer, dass sie nie mehr ihr gewohn-
– Wir haben unseren Antrag zuerst vorgelegt. – Mit Si-
tes Leben werden führen können. Auf den Straßen
cherheit werden wir, wie Sie eben zu Recht gesagt ha- Deutschlands werden aber jeden Tag mehr als zehn
ben, den einen oder anderen Punkt aus der Debatte im
Menschen getötet und mehr als 200 Menschen schwer
Ausschuss aufnehmen können. Ich finde es gut, dass Sie
verletzt.
den Grundsatz der Subsidiarität hochhalten.
Ich glaube, wir würden bei keiner anderen Verkehrs-
Bei einem Punkt gibt es allerdings Differenzen – das
art akzeptieren, dass jährlich allein in Deutschland Tau-
möchte ich festhalten –: Es ist durchaus kritisch zu hin-
sende Menschen ums Leben kommen oder schwer ver-
terfragen, ob man Tempo 30 innerorts zur Regel machen
letzt werden. Stellen Sie sich vor, jede Woche würden
sollte. Man kann bereits jetzt an Gefahrenschwerpunk-
100 Menschen im Bahnverkehr umkommen oder jeden
ten, zum Beispiel vor Schulen, Tempo 30 festlegen. Das
Monat würde ein vollbesetzter Passagierjet abstürzen.
machen die meisten Kommunen; das ist gut und richtig.
Ich glaube, der Bahn- und Luftverkehr würde aufs
Es geht aber in die falsche Richtung, das Verhältnis von
Höchste infrage gestellt. Nicht so beim Autoverkehr.
Tempo 30 zu Tempo 50 umzukehren, wie es SPD und
Grüne wollen. Wir werden in den nächsten Wochen und Richtig ist, dass es seit vielen Jahren Verbesserungen
Monaten genau hinschauen, was unser ehemaliger Kol- gibt; das ist wirklich sehr gut. Ich glaube aber, es ist auch
lege Hermann in Baden-Württemberg in der Verkehrspo- an der Zeit – und die Zeit ist gut dafür –, eine andere Per-
litik tun wird. Ich glaube, er will Tempolimits und eine spektive auf das Problem einzunehmen. Sicherheitsgurte,
Citymaut einführen sowie die Zahl der Autofahrer hal- Airbags, Ampeln, Schilder, Warnsysteme, Helme – all
bieren. Das geht nach unserer Meinung in die falsche das sind wichtige Maßnahmen; aber mit all diesen Maß-
Richtung, in Richtung Bevormundung. Das ist eine Ver- nahmen werden die Menschen sozusagen an den Auto-
kehrspolitik, die wir nicht mittragen wollen. verkehr angepasst. Ich glaube, das Entscheidende wäre
eigentlich, die Autogefahr zu bannen und in diesem Be-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
reich energisch abzurüsten.
Vieles ist schon erreicht. Wir wollen in unseren An-
Der erste und wichtigste Schritt der Abrüstung ist die
strengungen nicht nachlassen und Mobilität möglich und
Entschleunigung: Die Autos müssen langsamer werden.
sicherer machen. Entscheidend ist: Sicherheit ist nur im
Einklang mit der Freiheit und der Verantwortung des (Oliver Luksic [FDP]: Trabbis für Deutsch-
(B) einzelnen Verkehrsteilnehmers zu erreichen. land!) (D)
Ich darf mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit be- Unfallursache Nummer eins ist überhöhte Geschwindig-
danken. keit.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Florian Pronold [SPD]: Sollen wir die Autos
schieben, oder was?)
Vizepräsidentin Petra Pau: Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass
Die Kollegin Sabine Leidig hat für die Fraktion Die man in Europa bis zu 140 000 Unfälle vermeiden,
Linke das Wort. 20 Milliarden Euro sparen und 6 000 Menschenleben ret-
(Beifall bei der LINKEN) ten könnte, wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit nur
um 3 Kilometer pro Stunde abgesenkt würde.
Sabine Leidig (DIE LINKE): Es ist bekannt, dass das aggressive Fahren dadurch
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! unterstützt wird, dass auf den Autobahnen kein Tempo-
Herr Storjohann, Sie haben recht: Es gibt sicher wenige limit existiert. Die meisten Menschen, die von einem
Bereiche, in denen die Übereinstimmungen quer durch Auto mit 30 Stundenkilometern erfasst werden, überle-
die Fraktionen so groß sind. Trotzdem sind wir mit der ben diesen Unfall. Von den Menschen, die von einem
Situation längst nicht zufrieden. Es gibt auch ein paar Auto, das 50 Stundenkilometer fährt, erfasst werden,
fundamentale Unterschiede in unseren Auffassungen. sterben die meisten. Das ist ein gravierender Unter-
schied, den man nicht wegwischen kann. Spätestens
Deutschland ist nicht nur der größte Waffenexporteur,
wenn es um Leben und Tod geht, muss man Tempolimits
sondern auch einer der weltgrößten Autoexporteure.
durchsetzen.
(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Schön! Gut!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Auch Autos sind lebensbedrohlich. Man muss sich ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mal die Dimension deutlich machen: Täglich fallen
Man kann Aufklärungskampagnen machen und Prüfauf-
3 000 Menschen in der Welt dem Autoverkehr zum Op-
träge erteilen, wie es die SPD vorschlägt. Das ist aber
fer. Das sind so viele, als wenn jeden Tag zehn vollbe-
nicht nötig. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Selbst der
setzte Jumbojets abstürzen würden.
Wissenschaftliche Beirat zur Verbesserung der Straßen-
Vielleicht erinnern Sie sich an die öffentliche Debatte, verkehrssicherheit, den sich der Bundesverkehrsminister
die Ende Januar nach dem schlimmen Zugunglück bei leistet, empfiehlt ganz eindeutig Tempolimits. Das ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12865
Sabine Leidig
(A) eine einfache Maßnahme, die nichts kostet und ausge- Sabine Leidig (DIE LINKE): (C)
sprochen wirksam ist. Wir brauchen maximal 120 Stun- Mein letzter Satz: Die Linke steht für radikale Abrüs-
denkilometer auf den Autobahnen und in den Städten tung, und das gilt auch im Straßenverkehr.
Regeltempo 30.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/
(Beifall bei der LINKEN) CSU: Sind alle Linken so oder nur Sie?)

Die Mehrheit der Bevölkerung sieht längst ein, dass sol- – Alle.
che Geschwindigkeitsbegrenzungen sinnvoll sind und
letztlich allen nützen. Die Straßen werden sicherer, Um- Vizepräsidentin Petra Pau:
welt und Klima werden geschont – das ist ein ganz rele- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
vanter Faktor –, und die Lebensqualität in unseren legin Wagner das Wort.
Wohngebieten wird verbessert.
Damit komme ich zur zweiten Abrüstungslinie, die Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ich wichtig finde. Sie hat übrigens ganz viel mit Freiheit Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen
zu tun. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr sich von der CDU/CSU-Fraktion,
die Herren von der FDP für die Freiheit der Autofahrer (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Frau
einsetzen, dass sie aber überhaupt nicht über die Freiheit Wagner, fragen Sie doch mal, ob Herr Ernst
der Kinder, auf den Straßen spielen zu können, sprechen, seinen Porsche schon verkauft hat!)
(Oliver Luksic [FDP]: Da müssen Sie einmal wir halten eine Reduktion des Verkehrs durchaus für ei-
zuhören! Das haben wir alles gesagt! – Patrick nen Aspekt der Verkehrssicherheit. Was Kollegin Leidig
Döring [FDP]: Wir werden Ihnen unseren angeht: Sie haben mir aus der Seele gesprochen – das
Freiheitsbegriff nicht mehr erklären!) muss ich zugeben –, aber ich habe bisweilen auch an Ih-
ren Porsche fahrenden Kollegen aus Franken denken
auch nicht über die Freiheit der Fahrradfahrer, unbehin- müssen.
dert fahren zu können, oder über die Freiheit der Men-
schen, die Straßen überhaupt zu nutzen. Das finde ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ausgesprochen skurril. bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick
Döring [FDP]: Er fährt damit aber nur 30! –
Ich muss Ihnen einmal eine Geschichte erzählen. In Sabine Leidig [DIE LINKE]: Einer schadet
meinem Wahlkreisbüro im Odenwald erschien neulich nicht!)
(B) eine junge Mutter und erzählte, dass sie ihre beiden (D)
Jungs, die acht und zehn Jahre alt sind, jeden Tag mit Die Bundesregierung muss in diesem Jahr ein neues
dem Auto zwei Kilometer weiter ins nächste Dorf in die Verkehrssicherheitsprogramm aufsetzen. Seit 2004 exis-
Schule bringt. Warum fahren sie nicht mit dem Fahrrad? tiert eine EU-Charta für Verkehrssicherheit. Es ist anzu-
Die Mutter sagt: Weil das zu gefährlich ist, weil es kei- merken – das haben meine Vorredner schon herausgear-
nen Radweg gibt, weil sich die großen Lkws durch die beitet –, dass sich die Verkehrssicherheit positiv
Ortschaft drängen und weil es einfach zu viel Autover- entwickelt hat. Es gibt einen Rückgang bei der Anzahl
kehr gibt. der Verkehrstoten, der Schwerstverletzten und der
Schwerverletzten, während sich die Anzahl der Fahr-
(Patrick Döring [FDP]: Dann muss man sich zeuge, die Fahrleistung und die zurückgelegten Fahrstre-
als Wahlkreisabgeordnete für eine Umge- cken verdreifacht haben. Problematisch ist nach wie vor,
hungsstraße starkmachen!) dass die Unfallstatistik nur den Rückgang der Toten je
100 000 Einwohner ausweist, nicht aber den der Schwer-
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir die Wohn- verletzten. Darüber besteht also noch eine gewisse Un-
orte, die Städte umwelt- und menschenverträglich so klarheit.
umgestalten, dass diejenigen, die nicht motorisiert sind,
Raum bekommen. Sie müssen unter unseren Schutz ge- Auch hat sich zwar die Schwere der Unfälle verrin-
stellt werden. Auch für sie müssen unsere Freiheitsan- gert, die Anzahl der Unfälle insgesamt ist allerdings weit
sprüche gelten. So können wir es schaffen, dass die Vor- weniger zurückgegangen. Verkehrsunfälle sind nach wie
herrschaft der Autos aufgehoben wird und tatsächlich vor die Todesursache Nummer eins bei den Menschen
Räume entstehen, in denen auf der Straße Lebensqualität im Alter zwischen 1 und 45 Jahren.
und Sicherheit herrschen. Die pro Jahr durch Pkw-Unfälle verursachten gesell-
(Beifall bei der LINKEN) schaftlichen Kosten betragen inklusive der Gesund-
heitskosten insgesamt 30 Milliarden Euro. Mit einem
Bruchteil dieser Summe könnten wichtige bauliche Ver-
Vizepräsidentin Petra Pau: änderungen vorgenommen werden, um die Unfallzahlen
Kollegin Leidig, beachten Sie bitte das Signal. Sie ha- zu reduzieren. Aus unserer Sicht fehlt nach wie vor ein
ben Ihre Redezeit schon überschritten. umfassendes Verkehrssicherungskonzept, so etwas wie
ein Masterplan für die Verkehrssicherheit in Deutsch-
(Florian Pronold [SPD]: Das ist wegen des land. Außerdem fehlt es an der Möglichkeit, das Ver-
Tempolimits in der Rede!) kehrssystem so zu gestalten, dass es Fehler verzeiht und
12866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Daniela Wagner
(A) niemand darin zu Tode kommt. Hier ist also noch viel zu Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
tun. Der Kollege Holmeier für die Unionsfraktion ist der
letzte Redner in dieser Debatte.
Ich will die Aufmerksamkeit auf einen Bereich len-
ken, der bisher wenig angesprochen worden ist, nämlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auf unser Verhältnis zur Mobilitätspolitik, insbesondere
zum Mobilitätsträger Auto. Ich glaube, hier haben wir
ein nationales Problem. Nicht einmal die Sozialdemo- Karl Holmeier (CDU/CSU):
kraten sind beispielsweise bereit, Geschwindigkeits- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
begrenzungen in Erwägung zu ziehen, die über die und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Tempo-30-Zonen in bestimmten Stadtquartieren hinaus- 16 Prozent mehr Verkehrstote im ersten Quartal 2011 –
gehen. Wir sind der Meinung, dass Tempolimits auf al- das ist die erschreckende Mitteilung des Statistischen
len Straßen, sowohl bei den innerörtlichen Verkehren als Bundesamtes vom Dienstag dieser Woche. Dieser An-
auch auf Autobahnen und Bundesstraßen, ein hochwirk- stieg im ersten Quartal ist wahrscheinlich witterungsbe-
sames Mittel zur Unfallreduktion und zur Reduktion der dingt; es sind aber dennoch 16 Prozent mehr. Das ist in
Zahl der Verletzten sind. erster Linie für die Angehörigen der Verstorbenen ein
entsetzlicher Verlust. Es ist aber auch für die Politik ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herber Rückschlag. Die Statistik zeigt, dass wir uns beim
und bei der LINKEN) Thema Verkehrssicherheit nicht zurücklehnen und auf
unseren Lorbeeren ausruhen dürfen.
Wir glauben auch, dass „null Promille für alle“ der rich-
tige Weg ist. Außerdem muss viel mehr Öffentlichkeits- Es ist ein beachtlicher Fortschritt, dass die Zahl der
arbeit geleistet werden. Das Phänomen „Mama-Taxi“ ist Verkehrstoten seit der Einführung der amtlichen Statistik
schon angesprochen worden. kontinuierlich zurückgegangen ist; wir haben das schon
öfter gehört. Seit 1991 ist sie um 68 Prozent gesunken;
Kinder werden heutzutage jeden Meter durch die Ge-
sie lag im Jahr 2010 auf dem Tiefststand mit 3 657 Ver-
gend chauffiert. Sie lernen ihre motorisierte Umgebung
kehrstoten. Das zeigt: Die Verkehrssicherheitsarbeit in
als Verkehrsteilnehmer nicht mehr aus eigener Anschau-
Deutschland war und ist erfolgreich. Aber jeder Ver-
ung mit Fahrrad oder zu Fuß kennen, sondern durch die
kehrstote ist ein Verkehrstoter zu viel. Die aktuellen
Perspektive der Windschutzscheibe. Sie sind also, wenn
Zahlen beweisen, wie wichtig es ist, dass wir uns auf
sie sich einmal selbstständig im Straßenverkehr bewegen
politischer Ebene weiterhin intensiv mit dem Thema
müssen, in der Tat hochgefährdet. Das muss dringend
Verkehrssicherheit auseinandersetzen. Unser Antrag ist
geändert werden. Wir wissen natürlich, dass wir den
daher aktueller denn je.
(B) Menschen nichts aufzwingen können. Niemand kann (D)
eine Mutter daran hindern, auf dem Weg zur Arbeit ihr Ich begrüße ausdrücklich, dass sich dies nicht nur im
Kind bei der Kita abzusetzen; das ist ja die Lebenswirk- Koalitionsantrag, sondern auch im Antrag der Opposi-
lichkeit. Gemeinsam mit den Kommunen sollten wir den tion widerspiegelt. Viele der insgesamt 30 Forderungen,
Menschen aber bewusst machen, dass dies für das Ver- die die SPD-Fraktion in ihrem Antrag aufstellt, sind si-
kehrsverhalten ihrer Kinder schlecht ist. cherlich gut gemeint. Häufig fehlt jedoch der Bezug zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Realität. Die aktuelle Unfallstatistik führt uns aber
schmerzlich vor Augen, dass wir die Realität nicht aus
Schlecht sind auch die viel zu breiten Straßen. Stellen dem Blick lassen dürfen. Wir brauchen daher keine über-
Sie sich einmal irgendwo in Deutschland auf eine Auto- ambitionierten Ziele; das hat sich in der Vergangenheit
bahnbrücke, und schauen Sie hinunter. Eine riesig breite, bei anderen Themen immer wieder gezeigt. Ich denke
in der Regel nicht baumbestandene Fahrbahn lädt zum zum Beispiel an die Lissabon-Strategie der Europäi-
Rasen ein. Selbst jemand, der eigentlich auf eine ver- schen Union.
nünftige Geschwindigkeit achtet, ist geneigt, auf solchen
Straßen viel schneller zu fahren, als er es sich zutraut Wir brauchen seriöse Ziele und erfolgversprechende
und als gut für ihn selbst und die Umwelt wäre. Maßnahmen, die die Verkehrssicherheit in der Praxis tat-
sächlich erhöhen. Deshalb haben wir uns das Ziel ge-
Ich erlebe die verkehrspolitischen Diskussionen – und setzt, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Prozent
auch das Thema Verkehrssicherheit gehört zu verkehrs- zu reduzieren.
politischen Diskussionen – immer so, dass die autofah-
rende Bevölkerung es sofort als Zumutung empfindet, (Kirsten Lühmann [SPD]: Aber die EU ver-
wenn man in irgendeiner Weise eine Beschränkung von langt mehr!)
ihr verlangt. Das halte ich für falsch. Ich bin der Mei- Das ist ambitioniert, aber es ist auch realistisch. Nicht
nung, die Beschränkung ist der einzige Weg, damit wir weniger wichtig ist, neben der Zahl der Verkehrstoten
dauerhaft Auto fahren können, und zwar so, dass sich die Zahl der Verletzten und insbesondere die Zahl der
auch noch andere Verkehrsteilnehmer ungefährdet im öf- Schwerstverletzten zu senken. Hierbei müssen wir vor
fentlichen Raum bewegen können. allem auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer achten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Besonderen Schutz genießen die jungen Verkehrsteil-
nehmer, insbesondere unsere Kinder, aber auch Personen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über 75 Jahre, Fußgänger und Radfahrer sowie Fahran-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) fänger.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12867
Karl Holmeier
(A) Mit den im Koalitionsantrag vorgeschlagenen Maß- Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
nahmen können wir das schaffen. Bei vielen Maßnah- Ich schließe die Aussprache.
men sind wir bereits auf einem sehr guten Weg. Ich
denke zum Beispiel an das erfolgreiche Programm „Be- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
gleitetes Fahren ab 17“, das auf unsere Initiative hin nun den Drucksachen 17/5530 und 17/5772 an die in der Ta-
in Dauerrecht übergeführt wurde und nachweislich zu ei- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
ner deutlichen Reduzierung der Verkehrsverstöße bei Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
Fahranfängern beiträgt. sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Um mehr Verkehrssicherheit zu erreichen, brauchen
wir keine unnötigen Beschränkungen der Freiheiten un- Beratung des Antrags der Abgeordneten
serer Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen keine Tem- Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
polimits auf den Autobahnen und auch keine Reduzie- Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
rung der Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften auf SPD
Tempo 30, wie es von der Opposition vorgeschlagen
Korruption im Gesundheitswesen wirksam be-
wird. Die christlich-liberale Koalition setzt stattdessen
kämpfen
auf moderne und intelligente Verkehrssicherheitssys-
teme. Wir begegnen den Herausforderungen der Zukunft – Drucksache 17/3685 –
nicht mit den Antworten von gestern, sondern mit zu- Überweisungsvorschlag:
kunftsweisenden Technologien, und setzen die richtigen Ausschuss für Gesundheit (f)
Schwerpunkte. Rechtsausschuss

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Kirsten Lühmann [SPD]: Sie sollten mal im Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
realen Leben ankommen!) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
sen, dass der Großteil der Verkehrstoten auf Landstraßen Dr. Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
zu beklagen ist und nicht auf Autobahnen. Wir brauchen (Beifall bei der SPD)
daher ausreichende Investitionen in den Straßenbau, um
die Unfallschwerpunkte auf den Bundes- und Staatsstra- Dr. Edgar Franke (SPD):
ßen zu entschärfen. Ortsumgehungen sind hierbei beson-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
ders wichtig.
(B) Antrag, der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, mit (D)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen wirksam
neten der FDP) bekämpfen“ ist nicht nur gut, sondern auch notwendig.
Er ist notwendig, weil der gesetzlichen Krankenver-
Jede Ortsumgehung bringt mehr Sicherheit für die An- sicherung durch Korruption, durch Abrechnungsbetrug
wohner im Ort und für die Verkehrsteilnehmer, und jede und vor allen Dingen durch Falschabrechnungen jedes
Ortsumgehung erhöht die Lebensqualität der Bürgerin- Jahr erhebliche Summen an Versicherungsgeldern verlo-
nen und Bürger in der Ortschaft. Auch der Bau zusätzli- ren gehen. Man kann darüber streiten, ob es 5, 10 oder
cher Parkplätze für Lkw – dies wurde bereits angespro- sogar 20 Milliarden Euro sind, wie Transparency Inter-
chen – ist von besonderer Bedeutung und für die national behauptet. Zumindest handelt es sich um eine
Erhöhung der Verkehrssicherheit wichtig. Das gilt so- riesige Summe; das ist unter Fachleuten unbestritten.
wohl für Autobahnraststätten wie auch für Autohöfe. Diese finanziellen Schäden gehen zulasten der Solidar-
Hier müssen wir in erster Linie ansetzen. Das sind die gemeinschaft, zulasten der Versicherten und vor allen
Herausforderungen, die wir in Zukunft angehen wollen. Dingen zulasten des Staates. In den Gesundheitsfonds
Mit dem Koalitionsantrag leisten wir hierzu einen wich- zahlt der Staat in diesem Jahr bekanntlich 15,3 Milliar-
tigen Beitrag. den Euro ein. Nicht zu vergessen ist, dass dadurch auch
der Wettbewerb der Leistungserbringer beeinträchtigt
Abschließend möchte ich noch den vielen Ehrenamt- wird.
lichen danken, die sich zum Beispiel in der Verkehrs-
wacht mit viel Engagement für die Sicherheit im Stra- Am Dienstag dieser Woche haben Herr Lauterbach,
ßenverkehr einsetzen. Ein weiterer Dank gilt dem Frau Reimann und ich eine Pressekonferenz zum Thema
Bundesverkehrsministerium, das bei der Verbesserung „Korruption im Gesundheitswesen“ veranstaltet. Viele
der Sicherheit im Straßenverkehr hervorragende Arbeit Journalisten haben uns gefragt: Warum ist die Korrup-
leistet. Wenn wir uns auch in Zukunft alle gemeinsam tion gerade im Gesundheitsbereich so massiv? Der
für die Verkehrssicherheit auf deutschen Straßen einset- Grund ist eigentlich ein ganz einfacher: Es liegt an den
zen, bin ich zuversichtlich, dass das Statistische Bundes- Abrechnungsmodalitäten.
amt im nächsten Jahr wieder einen Rückgang der Zahl Wir von der SPD sind für die Beibehaltung des Sach-
der Verkehrstoten verkünden wird. leistungsprinzips. Das hat allerdings zur Folge, dass das
Herzlichen Dank. System ein Stück weit intransparent ist. So rechnen Ver-
tragsärzte in der Regel mit der Kassenärztlichen Bundes-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vereinigung ab, ohne dass der Patient die Abrechnung
12868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. Edgar Franke


(A) sieht. Es ist nur schwer zu kontrollieren, ob Apotheker Pharmavertreter einen Arzt – umgangssprachlich gesagt – (C)
Medikamente beispielsweise aufgrund eines verkauften schmiert, ist im Sinne des Betrugstatbestands oftmals
Luftrezeptes ausgeben. Es ist auch nicht immer zu klä- kein Schaden entstanden; denn der Arzt hat ein ganz gro-
ren, was genau Pharmavertreter in Praxen und Apothe- ßes Auswahlermessen bei den Medikamenten. Da ist
ken treiben. In einem solchen System sind der Anreiz nichts nachzuweisen. Die Krankenkasse muss dann er-
und letztlich auch die Versuchung groß – vielleicht kann statten. Insofern ist vor allen Dingen ein Vertrauensscha-
man auch sagen: die Hemmschwelle ist gering –, mehr den beim Patienten entstanden, der strafrechtlich nicht
abzurechnen. Hinzu kommt: Abrechnungsmissbräuche zu fassen ist. Hier besteht aus unserer Sicht dringend
werden in der Praxis kaum geahndet. Im Strafrecht be- Handlungsbedarf.
steht hier eine Regelungslücke. Deswegen fordern wir
von der SPD: (Beifall bei der SPD)
Fünftens. Wir brauchen Stellen zur Bekämpfung von
Erstens. Nach der jetzigen Rechtslage können nieder-
Fehlverhalten bei den Krankenversicherungen. Sie müs-
gelassene Ärzte im Gegensatz zu angestellten Ärzten
sen als Profitcenter organisiert werden. Es kann nicht
nicht wegen Bestechlichkeit bestraft werden. Wir for-
sein, dass die Krankenkassen, die sich im Bereich der
dern hier eine rechtliche Klarstellung.
Fehlverhaltensbekämpfung engagieren, mit finanziellen
(Beifall bei der SPD) Nachteilen bestraft werden.
Zwar wird der Große Strafsenat des BGH noch in die- Ich komme zum Schluss, auch wenn ich zu diesem
sem Jahr eine Grundsatzentscheidung fällen. Aber wir Thema noch ein paar Minuten reden könnte. Aus unserer
sagen ganz klar: Es kann nicht sein, dass Ärzte be- Sicht ist es wichtig, dass die Effizienz und Wirtschaft-
stimmte Therapien und Medikamente nur deshalb ver- lichkeit im Bereich des Gesundheitswesens gestärkt wer-
ordnen, weil sie dafür Geld oder Sachwerte von der In- den. Das ist auch gerade im Interesse der Ärzte, die ehr-
dustrie bekommen. Das darf nicht sein. lich abrechnen. Das ist die breite Mehrheit. Die Ärzte
sind in ihrem Job in der Regel sehr engagiert. Diejeni-
(Beifall bei der SPD und der LINKEN) gen, die falsch abrechnen, schädigen auch die ehrlich ab-
In einem Fall, den der BGH entscheiden muss, hat ein rechnenden Ärzte. Es gibt ja ein Gesamtbudget. Der
Arzt beispielsweise Reizstromgeräte bekommen. In ei- Arzt, der mehr verschreibt, als er eigentlich dürfte, oder
nem anderen Fall hat ein Pharmaunternehmen einem der falsch verschreibt oder der sich bei der Abrechnung
Arzt eine Barrückvergütung – in der Fachsprache heißt von krimineller Energie leiten lässt, schädigt die ehrli-
sie Kick-back-Zahlung – in Höhe von 800 Euro gewährt, chen Ärzte.
wenn er mit einem bestimmten Medikament pro Quartal
(B) einen Umsatz von mindestens 10 000 Euro macht. Dann (D)
Vizepräsident Eduard Oswald:
spielen ganz andere als medizinische Gründe für die Art Sie hatten angekündigt, zum Schluss zu kommen,
der Verschreibung die maßgebende Rolle, und das darf Herr Kollege.
aus unserer Sicht nicht sein.
Zweitens. Zumindest dann, wenn Krankenhäuser sys- Dr. Edgar Franke (SPD):
tematisch falsch abrechnen, muss dies sanktioniert wer- Ja. – Die notwendigen finanziellen Mittel stehen dann
den. Wenn ein Krankenhaus falsch abrechnet, passiert in nicht zur Verfügung, weil ein „korrupter“ Arzt entspre-
der Praxis bisher nichts; ganz im Gegenteil. Wenn eine chend verschrieben hat.
Krankenkasse eine Abrechnung moniert, die aber richtig
ist, muss die Krankenkasse 300 Euro an das Kranken- In dem Sinne ist unser Antrag nicht nur notwendig,
haus bezahlen. Das ist, glaube ich, in der Sache nicht be- nicht nur sinnvoll, sondern er ist auch in der Sache be-
gründet. gründet.

Drittens. Gegenüber den Bundesländern ist anzuregen Ich danke Ihnen.


– das ist aus unserer Sicht wirklich von Bedeutung –, (Beifall bei der SPD)
dass diese qualifizierte Schwerpunktstaatsanwaltschaf-
ten und Ermittlungsgruppen bei der Kriminalpolizei ein-
Vizepräsident Eduard Oswald:
richten. Das haben einige Bundesländer schon gemacht,
das sollten aber alle machen. Dann wäre zum Beispiel Wir haben zu danken, Kollege Dr. Franke. – Jetzt für
die Rechtsprechung zum Betrugsschaden im Sinne von die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dietrich
§ 263 StGB, die sich auf das Sozialversicherungsrecht Monstadt. Bitte schön, Kollege Monstadt.
bezieht, den Staatsanwälten bekannt. Viele Staatsan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wälte gehen solchen Tatbeständen nämlich nicht nach,
weil sie sich im Sozialversicherungsrecht nicht ausken-
Dietrich Monstadt (CDU/CSU):
nen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Viertens. Aus unserer Sicht ist unabhängig davon, wie gen! Meine Damen und Herren! Die Ausgaben des Ge-
das BGH-Urteil lauten wird, ein sozialversicherungs- sundheitsfonds betrugen im letzten Jahr 170 Milliarden
rechtlicher Straftatbestand neu zu schaffen, der die ge- Euro. Diese riesige Summe weckt bei allen Beteiligten,
setzliche Krankenversicherung und die Patienten effek- die von diesem System profitieren wollen, Begehrlich-
tiv schützt. In den beschriebenen Fällen, in denen ein keiten, sich legal wie auch illegal ein großes – manchmal
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12869
Dietrich Monstadt
(A) ein zu großes – Stück aus dem Gesamtkuchen herauszu- Beispiel Vorteilsannahme, Bestechlichkeit oder Beste- (C)
schneiden. chung begehen können, und zweitens, ob der Vertrags-
arzt Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen im
Alle Beteiligten stehen gegenüber den Mitgliedern Sinne des § 299 StGB ist. Dies könnte bei Annahme von
und Versicherten in der Verantwortung dafür, dass die Zuwendungen den Tatbestand der Bestechlichkeit und
begrenzten Mittel sinnvoll, wirtschaftlich und zweckmä- Bestechung im geschäftlichen Verkehr begründen. Diese
ßig eingesetzt werden. Die gesetzlichen Krankenkassen Fragen sind in der Literatur umstritten. Höchstrichterli-
sind Treuhänder der Beiträge, die ihre Mitglieder einge- che Entscheidungen hierzu sind bisher nicht ergangen.
zahlt haben. Das Urteil des Großen Senats wird die Rechtslage klä-
Es gibt Fehlverhalten. Wer sich etwa als Leistungser- ren, und dies voraussichtlich schneller, als das von der
bringer korrumpieren lässt oder falsch abrechnet, ver- SPD geforderte Gesetzgebungsverfahren dauern würde.
geht sich an der Gemeinschaft der Versicherten und der Wir alle sind gut beraten, die Entscheidungen des Bun-
Versorgung kranker Menschen. Wer als Arzt Geld- oder desgerichtshofs abzuwarten. Wir wollen keine Sonder-
Sachleistungen annimmt, damit er bestimmte Medika- straftatbestände für Ärzte.
mente verordnet, die gegebenenfalls dem Patienten nicht Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundes-
nutzen, sondern ihn nur Risiken und Nebenwirkungen regierung weiter auf, durch entsprechende gesetzliche
aussetzen, wendet sich vom zentralen Prinzip des ärztli- Regelungen sicherzustellen, dass systematische Falsch-
chen Berufes ab, dass nämlich das Wohl des Kranken abrechnungen von Krankenhäusern mit spürbaren Sank-
oberstes Gebot ist. Dennoch gehen wir – ich nehme an, tionen geahndet werden. Wir wissen, dass Falschabrech-
wir alle gemeinsam – davon aus, dass Ehrlichkeit der nungen vorkommen, übrigens sowohl zulasten der
Regelfall ist und Korruption, Abrechnungsbetrug und Krankenkasse als auch zulasten des Krankenhauses. Es
Falschabrechnung die Ausnahme darstellen. Pauschal- gibt keine amtliche Statistik über zu hohe Krankenhaus-
verdächtigungen sind fehl am Platz. abrechnungen. Die aktuellsten Daten legen eine Prüf-
Es ist auch wenig hilfreich, wenn man versucht, ei- quote durch den MDK von etwa 10 bis 12 Prozent auf-
gene fehlgeleitete Politik durch den Versuch zu korrigie- fälliger Krankenhausabrechnungen zugrunde. Davon
ren, drastische Sanktionen zu verhängen, wie wir dies in werden etwas über 40 Prozent als falsch festgestellt. Das
diesem Hohen Haus beim Antrag der SPD im Zusam- sind etwa 4 Prozent aller Krankenhausrechnungen. Inte-
menhang mit der Androhung von Geldbußen von bis zu ressant ist, dass sich die beanstandeten durchschnittlich
10 000 Euro gegen niedergelassene Ärzte bei bevorzug- 40 Prozent auf zwei Drittel der geprüften Krankenhäuser
ter Behandlung von Privatpatienten erlebt haben. verteilen. Damit konzentriert sich das Gros des Fehlver-
haltens auf diese wenigen schwarzen Schafe. Meine Da-
(B) Seit 2004 besteht eine gesetzliche Grundlage zur Be- men und Herren der SPD, ich erkenne in diesem Zusam- (D)
kämpfung von Fehlverhalten. Gesetzliche Krankenkas- menhang an, dass Sie die Sanktionen ausdrücklich auf
sen wie auch der Spitzenverband sind seitdem verpflich- systematische Falschabrechnungen begrenzen wollen,
tet, besondere Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung also auf solche Fälle, die etwa Vorsatz oder ein Mindest-
einzurichten und hierüber zu berichten. Diese Stellen maß an krimineller Energie enthalten.
sind auch zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft in
solchen Fällen verpflichtet, in denen ein Anfangsver- Ein seit längerer Zeit diskutiertes Thema ist, dass ei-
dacht auf strafbare Handlungen hinweist. Im Übrigen nerseits die Krankenkasse dem Krankenhaus eine Auf-
werden wir mit dem Versorgungsgesetz ein ausdrückli- wandspauschale in Höhe von 300 Euro zahlen muss,
ches Verbot der Zuweisung gegen Entgelt einführen. falls die Prüfung einer Krankenhausrechnung nicht zu
einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, anderer-
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag seits fehlt eine korrespondierende Regelung bzw. Sank-
der SPD fordert die Bundesregierung auf, im Strafge- tion im umgekehrten Fall. Im Übrigen ist dies eine Rege-
setzbuch zu regeln, dass Korruptionshandlungen nieder- lung, die von Ihrer Ministerin Ulla Schmidt eingeführt
gelassener Vertragsärzte Straftatbestände darstellen. Die- wurde. Hintergrund dieser Regelung ist, Kassen davon
ser Antrag ist überflüssig. Schon heute ist jede abzuhalten, ihre Zahlungen an Krankenhäuser unberech-
Korruptionshandlung – auch durch Ärzte – strafrechtlich tigt zu verzögern und die Prüfungen zielgenau auf solche
sanktioniert. Mit diesem Antrag ist wohl etwas anderes Abrechnungen zu konzentrieren, die Auffälligkeiten auf-
gemeint. Es soll die aktuelle Praxis des Pharmamarke- weisen. Pflicht des MDK und der Krankenkassen ist es,
tings unter Strafe gestellt bzw. nach Vorstellung der SPD Beitragsmittel gerade zur Prüfung der vorgelegten Rech-
ein Sondertatbestand, insbesondere für Ärzte, geschaffen nungen einzusetzen. Ob hier weitere Sanktionen oder
werden. Aber auch dies ist vor dem Hintergrund der ak- gar Strafen erforderlich sind, muss überlegt werden.
tuellen Rechtslage überflüssig.
Die SPD fordert in dem vorliegenden Antrag weiter
Während wir diese Forderung der SPD diskutieren, die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften
liegen seit drei Wochen im Großen Senat für Strafsachen bzw. Verwaltungseinheiten mit sozialrechtlichem Spe-
des BGH die zentralen Fragen der juristischen Auseinan- zialwissen. Dies soll angesichts fehlender Gesetzge-
dersetzung in diesem Zusammenhang vor: erstens die bungskompetenz durch einen dringenden Appell der
Entscheidung, ob ein niedergelassener Vertragsarzt bei Bundesregierung an die Bundesländer erfolgen. Verehrte
der Behandlung gesetzlich Versicherter als Amtsträger Kolleginnen und Kollegen der SPD, in Ihrer Begrün-
nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe c StGB anzusehen ist, dung weisen Sie auf die „bereits eingerichteten Schwer-
mit der Folge, dass die Beteiligten ein Amtsdelikt, zum punktstaatsanwaltschaften bzw. speziellen Verwaltungs-
12870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dietrich Monstadt
(A) einheiten, z. B. in Bayern, Saarland, Rheinland-Pfalz, EHEC-Keim auf den Grund zu gehen, und allen, die sich (C)
Hessen, Niedersachsen“ hin. Wer führt denn mit Aus- um die daran schwer erkrankten Menschen gekümmert
nahme von Rheinland-Pfalz die von Ihnen erwähnten haben, bedanken.
Bundesländer? Was hindert Sie daran, auch in den von
(Beifall im ganzen Hause)
der SPD geführten Bundesländern Ähnliches von Ihren
dort verantwortlichen Parteifreunden zu fordern? Han- Sie alle, Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Mitarbeite-
deln Sie insoweit! rinnen und Mitarbeiter in den Kliniken, Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler in den entsprechenden Ein-
Neben der Sache liegt im Übrigen der Begründungs-
richtungen, haben eine großartige Leistung vollbracht
ansatz, den zuständigen Staatsanwaltschaften zu unter-
und sich selbstlos für das Gemeinwohl eingesetzt. Ich
stellen, sie würden die ständige Rechtsprechung des
möchte ihnen allen meinen ganz herzlichen Dank dafür
Bundessozialgerichts und des BGH in Strafsachen nicht
aussprechen und allen von dieser Krankheit Betroffenen
kennen.
unsere besten Genesungswünsche schicken.
Weiterhin verlangt die SPD in ihrem Antrag die Ein-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate
führung eines besonderen auf sozialversicherungsrecht-
Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
liche Sachverhalte abzielenden Straftatbestandes. Zur
NEN])
Begründung wird der Fall eines Arztes herangezogen,
der eine OP ausführt, obwohl er dafür nicht ausreichend Wir alle wissen, dass eine solche Selbstlosigkeit ein
qualifiziert ist. Gerade bezogen auf dieses Beispiel halte großer Antrieb für viele Menschen im Gesundheitswe-
ich Sonderstraftatbestände für Ärzte für überflüssig. Das sen ist. Unter Einsatz all ihrer Fähigkeiten und manch-
StGB ist auch in diesen Fällen ausreichend. mal auch über ihre Grenzen hinaus dienen sie den Pa-
Schließlich schlägt die SPD in ihrem Antrag einen tientinnen und Patienten und damit der Gesellschaft.
Weg dafür vor, wie man die von den Krankenkassen ein- (Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/
gerichteten Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten CSU])
von der Verwaltungskostendeckelung freihalten kann.
Ich halte das im Antrag dafür vorgeschlagene „Profit- Korrupte Praktiken sind daher nicht nur eine finan-
center“ schon rein begrifflich für etwas unglücklich. zielle Belastung, wie das der Kollege Monstadt ja schon
Dennoch würde ich mich dem grundsätzlichen Anliegen ausgeführt hat, sondern sie sind auch ein moralischer
nicht verschließen, hier eine sinnvolle Regelung zu fin- Schlag ins Gesicht all jener, die die Interessen der Pa-
den, mit der eine effiziente Bekämpfung von Fehlverhal- tientinnen und Patienten im Gesundheitswesen ganz
ten gefördert wird. nach oben und in den Mittelpunkt ihrer eigenen Arbeit
stellen, und das ist die Mehrheit. (D)
(B) Zusammenfassend kann man festhalten, dass die An-
träge der SPD in dieser Form nicht umsetzbar sind. Sie (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
müssen daher zurückgewiesen werden. neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, solange es eine gesetzliche
Krankenversicherung gibt, werden wir immer wieder Die Antikorruptionsinitiative Transparency Interna-
nach Wegen suchen müssen, Missbrauch vorzubeugen, tional bezeichnet es als Korruption, wenn anvertraute
ihm entgegenzuwirken bzw. ihn aufzuklären und ihn zu Macht zum eigenen Vorteil missbraucht wird. Im Ge-
sanktionieren. Wir wollen gemeinsam Beitragszahler, sundheitswesen haben wir es wirklich manchmal mit ei-
Patienten und Leistungserbringer, die sich im Regelfall ner erstaunlichen Breite von kriminellem oder zumindest
korrekt verhalten, vor dem Fehlverhalten einer Minder- deutlich unethischem Handeln zu tun: Krankenhäuser
heit schützen. Über die besten Wege dahin sind wir im- zahlen für jeden überwiesenen Patienten eine Fangprä-
mer zu einer konstruktiven Diskussion bereit. mie, und Pharma- und Medizintechnikkonzerne vergüten
die Verordnung ihrer Produkte; das haben wir schon ge-
Herzlichen Dank. hört. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vermie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten ihren guten Ruf an die PR-Abteilungen von Konzer-
nen, und Ärztinnen und Ärzte verbünden sich mit
Apothekern und Versicherten, um über fingierte Abrech-
Vizepräsident Eduard Oswald: nungen die Krankenkassen zu betrügen. Zu guter – oder
Vielen Dank, Herr Kollege Monstadt. – Jetzt spricht schlechter – Letzt gründen Unternehmen eigene Patien-
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin tenselbsthilfegruppen und instrumentalisieren die Kran-
Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler. ken für Kampagnen zugunsten ihrer Produkte.
(Beifall bei der LINKEN) Diese Korruption kostet nicht nur das Geld der Versi-
cherten, also unser aller, das dann in der Versorgung der
Kathrin Vogler (DIE LINKE): Patientinnen und Patienten fehlt, nein, solches Fehlver-
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen halten richtet auch erheblichen Schaden im Vertrauens-
und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich möchte verhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientin-
mich als Allererstes – ich denke, ich spreche hier auch in nen und Patienten an. Wenn ein Patient nicht mehr sicher
Ihrem Namen – bei all jenen, die sich in den letzten Ta- sein kann, dass das, was die Frau Doktor empfiehlt,
gen so unermüdlich und engagiert dafür eingesetzt ha- wirklich das beste Mittel oder die qualifizierteste Be-
ben, den gefährlichen Darminfektionen durch den handlung ist, sondern fürchten muss, dass die Empfeh-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12871
Kathrin Vogler
(A) lung durch finanzielle Interessen geleitet ist, dann zerne Parteien sponsern, dass jemand, der über öffentli- (C)
schwindet sein Vertrauen und damit seine Bereitschaft, che Impfkampagnen mitentscheidet, auf den Gehaltslis-
die Therapie durchzuhalten. ten der Pharmaindustrie steht, oder dass Führungskräfte
aus öffentlichen Einrichtungen nahtlos in Wirtschafts-
(Zuruf von der FDP: Die Ärzte haben das unternehmen wechseln können, brauchen wir uns nicht
höchste Ansehen, Frau Vogler!) über unterentwickeltes Unrechtsbewusstsein in der Ärz-
Im Antrag der SPD-Fraktion wird geschätzt, dass die teschaft zu wundern.
Kassen in Deutschland jährlich 5 Milliarden bis 18 Mil- Ich danke Ihnen.
liarden Euro durch Korruption und Betrug verlieren. Das
bedeutet: Bei konsequenter Korruptionsbekämpfung (Beifall bei der LINKEN)
könnte der Kassenbeitrag um bis zu 1,5 Prozentpunkte
sinken. Vizepräsident Eduard Oswald:
In Ihrem Antrag konzentrieren Sie sich dann aber lei- Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler. – Jetzt
der allzu sehr auf die kleinen Fische im Meer der Kor- spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Erwin
ruption. Sie richten Ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Lotter. Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
die Ärztinnen und Ärzte, die Krankenhäuser, die Apo- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
thekerinnen und Apotheker, und da insbesondere auf die der CDU/CSU)
Fälle, die ohnehin schon öffentlich bekannt geworden
sind. Alles zusammengerechnet würden Sie bei diesen Dr. Erwin Lotter (FDP):
Vorgängen vermutlich auf eine Gesamtschadenssumme
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
von maximal 1 Milliarde Euro kommen. Da derzeit deut-
Kollegen! Meine Damen und Herren! Missbrauchsbe-
lich weniger Fälle ermittelt werden, ist es richtig, dass
kämpfung ist zwar in unser aller Interesse, aber Ihr An-
Sie die Zahl der spezialisierten Ermittler erhöhen wol- trag, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
len. strotzt nur so vor Unterstellungen gegenüber einem ge-
Die Ausweitung des Bestechungsparagrafen auf nie- samten Berufsstand. Nicht nur als Parlamentarier, son-
dergelassene Ärztinnen und Ärzte ist meiner Ansicht dern auch als Arzt bin ich geradezu entsetzt über die Art
nach ebenfalls sinnvoll, auch wenn sie nur aktuelle Ent- und Weise, wie hier die gesamte Ärzteschaft unter Gene-
wicklungen in der Rechtsprechung nachvollzieht. Aber ralverdacht gestellt wird.
manchmal ist es auch gut, wenn man nicht alles den Die SPD sieht an allen Ecken und Enden Korruption
Richterinnen und Richtern überlässt. und Missachtung der Patienten, der man nur noch mit
(B) Von den geschätzten 5 Milliarden oder gar dem Holzhammer schärferer Strafgesetze entgegentreten (D)
18 Milliarden Euro sind wir aber auch dann noch weit kann. Das muss vor vier Jahren, als die SPD in der Gro-
entfernt, wenn wir alles umsetzen, was Sie vorschlagen. ßen Koalition regierte, noch ganz anders gewesen sein.
Das heißt, die kleinen Fischen im korrupten Netz krie- Noch im Jahr 2007 hat die ehemalige Gesundheitsminis-
gen wir vielleicht an die Angel, aber die großen Haie terin Ulla Schmidt von der SPD in einem Interview mit
nicht. Solange Sie sich nicht auch die Beziehungen zwi- dem Magazin stern ihre Behauptung wiederholt,
schen der klinischen und akademischen Medizin und der Deutschland habe das beste Gesundheitswesen der Welt.
In nur vier Jahren scheint sich dieses System in einen
Industrie vornehmen, lassen Sie die großen Haie weiter
Korruptionssumpf nach dem Muster maroder Bananen-
im Karpfenteich des Gesundheitswesens wildern.
republiken verwandelt zu haben, und das ausgerechnet
Der kritische Arzt Dieter Lehmkuhl schreibt im aus der Sicht von SPD-Gesundheitspolitikern, die noch
Rundbrief von Transparency International, ein Großteil vor wenigen Jahren Ulla Schmidt und ihrer Lobpreisung
der deutschen Ärzteschaft habe kein kritisches Bewusst- des deutschen Gesundheitswesens zugejubelt haben.
sein über die Beziehungen zur Industrie und mögliche Niedergelassenen Vertragsärzten wird generell die
finanzielle Verflechtungen. Der Umgang mit Interessen- Neigung zum Betrug unterstellt. Krankenhäusern wird
konflikten sei ungetrübt und naiv, urteilt er. Ich habe, bei Falschabrechnungen systematisches Vorgehen unter-
ehrlich gesagt, manchmal den Eindruck, dasselbe könnte stellt. Nicht nur das: Es entsteht der Eindruck, Patienten
man auch über die Politik sagen. kämen in Lebensgefahr, weil zahlreiche Ärzte nicht de-
Naivität und Gewinnstreben werden zum Einfallstor ren Wohl, sondern nur die Höhe von Schmiergeldzahlun-
für die großen Konzerne und ihre Lobbyisten. Hier ste- gen fest im Blick hätten. Dabei unterstellen Sie, der Pa-
hen wir korrupten Netzwerken gegenüber, deren Mit- tient würde wissentlich falsch behandelt werden. Eine
glieder teilweise überhaupt kein Unrechtsbewusstsein Unterstellung der übelsten Sorte! Denn das Gegenteil ist
haben. Deswegen brauchen wir gesetzliche Regelungen der Fall: Der hippokratische Eid verpflichtet Ärztinnen
und entsprechende Kontrollmechanismen. und Ärzte, sich nach bestem Wissen und Gewissen um
das Wohl der Patienten zu kümmern. Dies sind keine
(Beifall bei der LINKEN) hohlen Worte; denn gerade im Bereich der niedergelas-
senen Ärzte neigen viele Mediziner zur Selbstaus-
Mehr Transparenz bedeutet, dass finanzielle Verflech- beutung. Sie arbeiten aufgrund der herrschenden Hono-
tungen und Interessenkonflikte offengelegt werden müs- rardeckelung wochenlang umsonst, verbringen viele
sen. Anfangen sollten wir – damit komme ich zum Stunden in der Praxis oder auf Hausbesuchen.
Schluss – bei uns selbst, im politischen Raum: Solange
wir nicht verhindern, dass private Versicherungskon- (Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])
12872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Dr. Erwin Lotter


(A) – Frau Vogler, Sie selber haben vorhin das Engagement lage ist erst in Kürze durch das Urteil des Großen Senats (C)
der Ärzte dankenswerterweise herausgestellt. In einem des Bundesgerichtshofs zu erwarten.
Korruptionssumpf wäre so etwas schlecht vorstellbar.
Was schließen wir daraus, meine Damen und Herren?
Was treibt eigentlich die Kolleginnen und Kollegen Etwa dass der Gesetzgeber schnell neue Vorschriften
von der SPD dazu, ein solches Bild der Ärzteschaft zu einfügen muss, während die Rechtsprechung noch um
vertreten? die Auslegung der alten ringt? Es ist doch nicht die Auf-
gabe der Legislative, Klarstellungen zur Rechtsausle-
(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist Ihre gung zu verabschieden.
Unterstellung!)
Ebenso ist es unnötig, wie die SPD fordert, einen zu-
Was ist das für ein Verständnis vom Arztberuf? Sicher, sätzlichen Straftatbestand zu schaffen, der die besondere
meine Damen und Herren, in jedem Berufszweig gibt es Stellung der GKV schützt. Was, bitte sehr, soll eigentlich
schwarze Schafe. Kriminelle Handlungen müssen durch eine solche Norm genau geschützt werden? Dieser
unnachsichtig verfolgt und verurteilt werden. Aber Begriff wäre allenfalls eine Generalklausel, die für Rat-
schwarze Schafe gibt es doch in jedem Berufszweig. So- losigkeit und eine Prozesslawine sorgt. Dies werden wir
gar unter Politikern soll es schon schwarze Schafe gege- im Sinne klarer Rechtsverhältnisse nicht mitmachen.
ben haben.
2003 wurden die Krankenkassen und die Körper-
Nun aber zu Ihren Behauptungen und unausgegore- schaften der Ärzte und Zahnärzte dazu verpflichtet, or-
nen Vorschlägen im Einzelnen: Erstens. Die SPD be- ganisatorische Einheiten zur Bekämpfung von Fehlver-
hauptet, durch Fehlverhalten im Gesundheitswesen ent- halten einzurichten. Diese arbeiten seither erfolgreich.
stehe den Krankenkassen in Deutschland ein Schaden in Überdies wurde von den Beteiligten die bundesweite Ar-
Höhe von bis zu 18 Milliarden Euro jährlich. Bei allem beitsgemeinschaft zur Bekämpfung von Fehlverhalten
Respekt vor dem European Healthcare Fraud & Corrup- im Gesundheitswesen eingerichtet, deren Aufgabe es ist,
tion Network, dessen Studie dieser Vermutung zugrunde die gesammelten Daten und Berichte zu standardisieren.
liegt, aber in dieser Quelle wurde Deutschland überhaupt Weiterhin haben wir Ärztekammern, Krankenhausge-
nicht untersucht. Erwähnt werden insgesamt sechs Staa- sellschaften und Clearingstellen auf Länderebene. Diese
ten, zum Beispiel die USA und Neuseeland, aber nicht überprüfen, ob Absprachen und Verträge niedergelasse-
die Bundesrepublik. Die Summe ist also völlig aus der ner Ärzte mit Krankenhäusern unter verschiedenen
Luft gegriffen. rechtlichen Aspekten zulässig sind. Es stehen also schon
Seit 2007 hat der GKV-Spitzenverband eine Stelle zur jetzt genügend handlungsfähige Strukturen zur Verfü-
Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gung, mit denen dem Missbrauch von Finanzmitteln im
(B) aufgebaut. Bislang liegen mehrere Berichte von Kran- Gesundheitswesen wirksam begegnet werden kann. (D)
kenkassen auf Landesebene über Verdachtsfälle vor, die Meine Damen und Herren, wir Liberalen lehnen den
aber bislang nicht zusammengefasst wurden. Laut einem Antrag der SPD in aller Entschiedenheit ab. Wie in vie-
Bericht des Bundesgesundheitsministeriums an den Ge- len anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt er in
sundheitsausschuss, der vorgestern vorgelegt wurde, lau- schöner Eindeutigkeit: Die Sozialdemokraten haben kein
tet der aktuelle Sachstand: Vertrauen in den Einzelnen. Sie misstrauen allen und je-
dem. Die Ärzteschaft bleibt leider ein Feindbild. Ihr Pa-
Eine nachvollziehbare Schätzung der durch Fehl-
tentrezept, meine Damen und Herren von der SPD, ist:
verhalten verursachten jährlichen materiellen Schä-
Kontrolle, Kontrolle und noch mehr Kontrolle, Gesetze
den im Gesundheitswesen ist nicht möglich.
und noch mehr Gesetze. Wohin das gerade im Gesund-
Zurzeit werden Kriterien erstellt, um die Berichte zu heitswesen geführt hat, dürfte allgemein bekannt sein.
standardisieren und vergleichbar zu gestalten. Eine ein- Noch mehr staatliche Bevormundung ist das Letzte, was
heitliche Datenerhebung, die belastbare Zahlen enthält, die Mediziner in Deutschland benötigen.
wird voraussichtlich 2012 vorliegen. Eines ist klar: Bei
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ihren Behauptungen zur Schadenshöhe tappen die So-
zialdemokraten im Dunkeln.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Zweitens. Der Antrag fordert zusätzliche Vorschriften Vielen Dank, Kollege Dr. Erwin Lotter. – Jetzt hat für
im Strafgesetzbuch, insbesondere in Bezug auf § 299 die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
StGB, in dem es um Bestechlichkeit im geschäftlichen Frau Maria Klein-Schmeink das Wort. Bitte schön, Frau
Verkehr geht. In der Tat ist es höchst umstritten, ob Kollegin.
§ 299 StGB auch Ärzte erfasst, die als Vertragsärzte für
die gesetzlichen Krankenkassen tätig werden. Einzelne Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE
Entscheidungen wie die des Oberlandesgerichts Braun- GRÜNEN):
schweig vom Februar 2010 gehen davon aus, dass ein
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
niedergelassener Kassenarzt ein Beauftragter des ge-
nen und Kollegen! Keine Angst, ich lese keine Rede ab –
schäftlichen Betriebs einer Krankenkasse sei. Somit
weil wir das zum einen zu später Stunde nicht nötig ha-
käme er als Täter gemäß dieser Strafvorschrift in Be-
ben und weil das zum anderen in der Sache nicht weiter-
tracht. In der juristischen Literatur wird dies aber teil-
hilft.
weise bestritten. Höchstrichterliche Entscheidungen sind
hierzu bislang nicht ergangen. Eine Klärung der Rechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12873
Maria Anna Klein-Schmeink
(A) Hier geht es weder um einen Generalverdacht gegen heitswesen gestellt. Wir haben in der letzten Legislatur- (C)
die Ärzte noch um die Schaffung eines rechtlichen Son- periode zwei Berichte über die Arbeitsweise dieser 2003
dertatbestands für die Ärzte, sondern es geht, wie es im eingerichteten Stellen entgegengenommen. Wir müssen
Antrag der SPD heißt, um das Thema „Korruption im feststellen: Wir wissen beinahe nichts. Wir tappen im
Gesundheitswesen“. Über dieses Thema sollten wir an Dunkeln, und wir haben nicht dafür gesorgt, dass die
dieser Stelle auch reden, und zwar nicht als Lippenbe- notwendige Transparenz vorhanden ist, um gegen Kor-
kenntnis, mit dem die Entschlossenheit dieses Parlamen- ruption im Gesundheitswesen gezielt anzugehen.
tes, wirksam dagegen vorzugehen, lediglich suggeriert
wird, sondern man muss sich tatsächlich um diese Sache (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Vollkommen
kümmern und schauen, wie man weiterkommt. Es geht richtig!)
nicht nur um eine geschlossene Haltung, sondern auch Wir meinen: Diese Art von bewusstem Nichtwissen dür-
darum, der Korruption im Gesundheitswesen entschlos- fen wir nicht länger hinnehmen.
sen entgegenzutreten. In diesem Bereich gibt es noch et-
liche Mängel zu verzeichnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Ich kann die Antwort auf die Kleine Anfrage vorlesen
– daran sieht man sehr deutlich, worum es geht –:
Diesen Mängeln sollten wir uns tatsächlich widmen.
Da die Unterrichtungspflicht über Aufwandsent-
Hier müssen wir uns natürlich die Frage stellen, ob schädigungen gegenüber der Kassenärztlichen Bun-
der Antrag der SPD wirklich gut ist, wie Herr Dr. Franke desvereinigung und dem GKV-Spitzenverband fest-
für sich in Anspruch genommen hat. In der Tat hat der gelegt ist, liegen der Bundesregierung keine
Antrag zwei Mängel, nämlich zum einen den Mangel, Erkenntnisse über die Höhe von gezahlten Auf-
dass das schon genannte höchstrichterliche Urteil in wandsentschädigungen vor.
Kürze zu erwarten ist. Da wird eine Klarstellung erfol-
gen. Es wird klargestellt, ob man den Korruptionstatbe- Das ist eine klassische Antwort.
stand überhaupt auf niedergelassene Ärzte anwenden
kann. Wenn das so ist – vieles spricht dafür –, dann wird (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
es auch rückwirkend eine andere Rechtslage geben. Dies NEN]: Nichts wissen, nichts hören, nichts
wird viele der hier bereits erwähnten Praktiken infrage tun!)
stellen und zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Wir haben sehr viele Antworten dieser Art in der
Von daher haben wir einen guten Grund, abzuwarten und Kleinen Anfrage erhalten, Antworten, die zeigen, wie (D)
(B)
diesen Antrag in dieser Form nicht zu beschließen. viel Nichtwissen und wie wenig Entschlossenheit wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns im Kampf gegen Korruption und Fehlverhalten der-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) zeit noch leisten. Ich glaube, wir müssen beträchtlich vo-
rankommen, wenn wir sicherstellen wollen, dass das
Der zweite Mangel dieses Antrags ist aus meiner System die richtige Botschaft empfängt: Korruption hat
Sicht ebenfalls gravierend. In diesem Antrag wird nicht im Gesundheitswesen nichts zu suchen. Wir müssen da-
klar zwischen Korruption und Fehlern im System unter- gegen geschlossen und entschlossen angehen, und wir
schieden. Ein Fehler im System meint beispielsweise müssen für die richtigen Instrumente sorgen.
eine fehlerhafte Abrechnung der Krankenhäuser mit den
Krankenkassen. Das ist eine ganz andere Gemengelage, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eine ganz andere Problemlage als die bei einer Korrup- sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE
tion, also bei gezieltem, bewusstem, gewolltem Betrug. LINKE])
Dieser muss nachhaltig eingedämmt werden, um das Das ist etwas, was Sie im Versorgungsgesetz teilweise
richtige Signal in das System zu senden. Es ist ganz in Angriff nehmen; aber das ist nicht alles, was wir tun
wichtig, dass wir hier eine klare Unterscheidung vorneh- müssen. Wir müssen vielmehr für wirklich schlagkräf-
men und nicht das eine mit dem anderen verwechseln tige Instrumente sorgen und dürfen uns nicht hinter un-
und beides in einen Sack stecken. Das an Ihre Adresse. terstellten Zuschreibungen und hinter dem Zuschreiben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Generalverdacht verschanzen.
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Danke schön.
Ich glaube auch, dass wir denjenigen, die eben ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nannt worden sind und die mit großem Engagement im
Bereich der gesundheitlichen Versorgung arbeiten, die
nicht falsch abrechnen und nicht betrügen, keinen Gefal- Vizepräsident Eduard Oswald:
len tun, wenn wir dies vermengen. Vielen Dank, Frau Kollegin Klein-Schmeink. – Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Es gibt weiteren Regelungsbedarf, nämlich Transpa- Stefanie Vogelsang. Bitte schön, Frau Kollegin Stefanie
renz herzustellen. Die Grünen haben in diesem Jahr eine Vogelsang.
Kleine Anfrage zu den Einrichtungen für die Bekämp-
fung der Korruption und des Fehlverhaltens im Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
12874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ (C)
Herr Präsident! Meine sehr geschätzten Kolleginnen DIE GRÜNEN]: Genau!)
und Kollegen! Wir debattieren heute über Korruption Das Einzige, worüber wir uns intensiv Gedanken ma-
und Betrug im Gesundheitswesen. chen müssen, ist der Zustand der Staatsanwaltschaften
Erstens. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Niemand unserer Länder. Ich finde es nicht richtig, dass wir, wenn
von uns will Korruption und Betrug in irgendeiner Weise wir gegen Korruption und Betrug angehen, den Schwer-
Vorschub leisten, niemand will, dass dadurch weitere punkt auf die Krankenkassen legen. In unserem staatli-
Milliardenbeträge im Gesundheitswesen verbrannt wer- chen System, in unserer staatlichen Ordnung haben wir
den. entsprechende Strukturen. Träger dieser Strukturen sind
unsere Staatsanwaltschaften. Wir müssen gemeinsam et-
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ was dafür tun, dass im Hinblick auf die komplizierten
DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie mal was!) Regelwerke in den Staatsanwaltschaften eine bessere
Kompetenz vorhanden ist, dass mehr Menschen mit ju-
Zweitens. Wir sind uns sicher, dass wir bei einem so ristischem Sachverstand auch sozialwirtschaftlichen
wichtigen Grundpfeiler unserer sozialen Ordnung wie Sachverstand haben und die Verflechtungen und Abhän-
dem Gesundheitswesen etwas nicht aufs Spiel setzen gigkeiten in den jeweiligen Bereichen durchleuchten
dürfen: Das ist das Vertrauen der Menschen in die Quali- können. Ich freue mich darüber, dass wir Ihren Antrag
tät der ärztlichen Versorgung und in unser Gesundheits- im Ausschuss debattieren. Wir werden die Entscheidung
system in Gänze. des Bundesgerichtshofs abwarten, bei der es um die Kor-
Wir haben gestern in der Aktuellen Stunde darüber ruption bei ärztlichen Leistungen geht.
debattiert, dass sich einige gesetzliche Krankenkassen Wir hatten uns in der letzten Sitzung des Petitionsaus-
schändlich gegenüber Patientinnen und Patienten verhal- schusses – was dort behandelt wird, ist oft ein Seismo-
ten haben, weil sie Menschen mit einem Rechtsanspruch graf vieler Themen, die wir in der Gesundheitspolitik
zu Bittstellern degradiert haben. Heute wurden wir im diskutieren – mit einer Petition befasst, bei der es um
Tagesspiegel auf die Stimmung vorbereitet, die Sie, Herr Folgendes ging: Es wurde der Verdacht erhoben, dass
Kollege Lauterbach, mit Ihrem Antrag ein weiteres Mal Mediziner in unserem Land von der Pharmaindustrie
gegen das Gesundheitssystem machen. Heute unterhal- Geldzuwendungen für ausgefüllte Formulare bekommen
ten wir uns über den Antrag der SPD über Korruption. – nirgendwo registriert –, und das in unvorstellbaren
Größenordnungen. Es wurde herausgearbeitet und sehr
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann stellt schön dargestellt, welche einzelnen Maßnahmen uns zur
man fest, dass es Ihnen im ersten Teil nicht einen einzi- Verfügung stehen, um dagegen anzugehen.
gen Satz wert ist, darauf hinzuweisen – Kollegin Vogler
(B)
hat das am Anfang ihrer Rede ausgeführt, was ich sehr Bei uns in Deutschland ist es oft so, dass es aufgrund (D)
gut fand –, dass sich ganz viele Menschen uneigennützig viel zu vieler Detailregelungen kaum noch Stellen in den
für andere einsetzen und ihren Job tun. Das Erste, was Ländern gibt, die diese Regelungen kontrollieren kön-
die SPD verbreitet hat, war Generalverdacht: Alle Leh- nen. Sie haben mich deswegen an Ihrer Seite, wenn es
rer sind faul, alle Beamten sind ständig krank, alle Politi- darum geht, die Staatsanwaltschaften in den Ländern zu
ker sind korrupt, alle Ärzte sind nur an ihrem wirtschaft- überprüfen. Aber Sie haben mich nicht an Ihrer Seite,
lichen Erfolg interessiert, und alle Krankenhäuser wenn es darum geht, Ihre Linie weiterzuführen, nämlich
begehen systematisch Abrechnungsbetrug. Das ist die einen Generalverdacht gegen alle im Gesundheitswesen
Haltung, die Sie vertreten. Das wollen Sie den Bürgern Tätigen aufrechtzuerhalten und das Vertrauen der Bevöl-
unserer Republik vermitteln, und zwar nicht erst seitdem kerung zu zerstören. Herr Lauterbach, wie wir alle wis-
dieser Antrag vorliegt, sondern schon seit vielen Jahren. sen auch Sie: Vertrauen zerstört man nicht von heute auf
morgen durch das Umlegen eines Hebels, sondern das
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht man mit vielen kleinen Nadelstichen.
Zum einen tun Sie sich damit selber keinen Gefallen; (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Zusatzbei-
zum anderen erweisen Sie damit unserem Sozialsystem träge beispielsweise!)
einen Bärendienst. Uns allen ist es wichtig, für mehr Diese vielen kleinen Nadelstiche haben Sie von der SPD
Transparenz zu sorgen. Wir haben in unserem kompli- in den letzten Jahren in diesem Bereich gesetzt. Wir sor-
zierten Gesundheitswesen mit irrsinnig hohen Milliar- gen jetzt dafür, dass wir diesen Berufsstand und die dort
denbeträgen zu tun. Rund 250 Milliarden Euro werden arbeitenden Menschen wieder mit dem Image versehen,
im Gesundheitswesen pro Jahr ausgegeben. Natürlich das ihnen zusteht.
gibt es da eine Anfälligkeit für Betrug und Korruption;
das ist keine Frage. Wir haben unzählige Regelwerke ge- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Vertrauens-
schaffen und viele Gesetze verabschiedet. verlust für die FDP!)
Frau Klein-Schmeink, ein wichtiges Gesetz wurde Für Korruption und für Betrug haben wir in unserem
von Ihrer damaligen Gesundheitsministerin Fischer auf Gesundheitswesen keinen Platz. Vielmehr brauchen wir
den Weg gebracht. Sie hat in einer AMG-Novelle – einer Platz für genügend Vertrauen in die Leistungen, die dort
Novelle zum Arzneimittelgesetz – klare Formulierungen erbracht werden.
vorgenommen, damit Ärzte nicht unendlich viele Muster Danke schön.
und sonstige Geschenke bekommen, mit der Folge, dass
niemand weiß, was bezahlt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12875

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: ehrlich gemeinte Auseinandersetzung mit den Detailvor- (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin Vogelsang. – Jetzt spricht schlägen überhaupt nicht vorkam.
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Dann haben Sie nicht
Professor Karl Lauterbach. Bitte schön, Herr Kollege.
zugehört!)
(Beifall bei der SPD)
Um es noch einmal klarzumachen: Wir wollen nicht,
dass Ärzte allgemein unter den Verdacht gestellt werden,
Dr. Karl Lauterbach (SPD): sie seien korrupt. Das unterstellen wir nicht. Das kommt
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und in unserem Antrag auch mit keinem Wort vor.
Herren! Uns ist im Prinzip gerade durch Frau Vogelsang
und Herrn Lotter die Position der schwarz-gelben Regie- (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Lesen Sie
rung dargestellt worden. Es gab dabei keine großen einmal den ersten Satz Ihres Antrages!)
Überraschungen. Es wurde im Prinzip vorgetragen, es Wir wollen nur, dass diejenigen verfolgt werden können,
sei alles in Butter, es bestehe kein Handlungsbedarf, es denen Korruption auch nachgewiesen werden kann –
sei alles wunderbar. mehr nicht.
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Dann haben
Das Ganze ist auch ein riesiges medizinisches Pro-
Sie mir nicht zugehört, Herr Kollege
blem. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden mit einem
Lauterbach! – Volkmar Vogel [Kleinsaara]
Medikament, das Ihnen aus medizinischer Sicht gar
[CDU/CSU]: Guten Morgen!)
nicht nützt, behandelt, und zwar nur deswegen, weil ein
Wir könnten wahrscheinlich noch Jahrzehnte warten, bis Arzt eine Rückzahlung eines pharmazeutischen Unter-
von Ihnen irgendetwas käme. nehmens bekommen hat. Dass so etwas zum Beispiel in
der Onkologie geschehen ist, ist bekannt. Solche Vor-
(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Wenn sich gänge haben in einzelnen Bereichen sogar schon zu Ver-
die Leute danach ausrichten, wie Sie es gestal- urteilungen geführt.
ten, würden sie Deutschland alle verlassen!)
(Dietrich Monstadt [CDU/CSU]: Damit funk-
Auch wenn jetzt wöchentlich über laufende Ermittlun-
tioniert das System! – Stefanie Vogelsang
gen berichtet wird und Grundsatzurteile zum System er-
[CDU/CSU]: Das ist ein Straftatbestand!)
lassen werden, ist ganz klar, dass von Ihnen nie etwas
kommen würde. Stellen Sie sich einmal vor, Sie selbst wären davon be-
troffen. Würden Sie dann auch sagen, man dürfe keinen
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Ich rufe Ihnen den
Generalverdacht erheben? Stellen Sie sich vor, Sie oder
(B) Namen Ulla Schmidt zu! Vielleicht sagt Ihnen (D)
Ihre Kinder wären von so einem Fall betroffen. Das sind
der Name etwas! – Zurufe von der CDU/CSU)
keine belanglosen Dinge, sondern das ist sehr wichtig.
Sie haben es ja selbst auf den Punkt gebracht: Für Sie
handelt es sich hier um einen Bereich, in dem eine Kul- Sie sind in keiner Weise bereit, sich auf die Diskus-
tur des Vertrauens aufgebaut werden muss, und zwar des sion einzulassen.
Vertrauens zu Ihren Kunden. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das ist doch
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Besser als eine Kul- nicht wahr!)
tur des Misstrauens!) Sie hoffen, dass das BGH-Urteil so ausfällt, dass sich die
Wir beobachten im Prinzip bei FDP und Union eine ganz Probleme von allein lösen und dass der Gesetzgeber
klassische Klientelpolitik: Es werden die immer kleiner nicht aktiv werden muss. Möglicherweise wünschen Sie
werdenden Gruppen, die Ihnen im Gesundheitswesen sogar, dass das Urteil so ausgeht, dass es den Forderun-
wichtig sind, geschützt. Uns wird das allgemeine Argu- gen in unserem Antrag nahekommt. Aber Sie, Herr
ment entgegengehalten, wir stellten alles unter einen Ge- Lotter, wollen sich auf keinen Fall in diese Diskussion
neralverdacht. hineinziehen lassen. Es könnte ansonsten ja der Ein-
druck entstehen, die FDP wolle sich mit den Ärzten an-
In Wirklichkeit geht es uns um den Patienten- und legen.
Verbraucherschutz und im Übrigen auch um den Schutz
der ehrlichen Ärzte und Manager im Gesundheitswesen, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die vertei-
also um den Schutz derjenigen, die auf ehrliche Weise digt ihre letzte Wählerbasis! Das ist alles!)
ihre Leistung erbringen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
(Dr. Erwin Lotter [FDP]: Die Patienten brau-
chen Vertrauen zu den Ärzten, Herr Gestatten Sie, Herr Kollege Professor Lauterbach,
Lauterbach!) eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Erwin Lotter?

Um den Schutz derer geht es uns, die mit in Verdacht ge-


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
raten, weil über immer mehr Fälle in den Medien berich-
tet wird. Uns geht es also geradezu um die Vermeidung Sehr gerne, ja.
eines Generalverdachtes, indem wir die rechtlichen
Grundlagen zur Verfolgung solcher Fälle schaffen. Es ist Vizepräsident Eduard Oswald:
ganz interessant, dass von Ihrer Seite eine inhaltliche, Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
12876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Dr. Erwin Lotter (FDP): Vizepräsident Eduard Oswald: (C)


Herr Kollege Lauterbach, Sie haben vorhin davon ge- Vielen Dank, Kollege Professor Karl Lauterbach. –
sprochen, dass Sie keinen Generalverdacht erheben wol- Es gibt in dieser Debatte keinen weiteren Redner, keine
len. Ich möchte Ihnen einmal den ersten Satz Ihres An- weitere Rednerin. Somit schließe ich die Aussprache.
trages zur Kenntnis geben, der da lautet:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Drucksache 17/3685 an die in der Tagesordnung aufge-
Falschabrechnung gehen der gesetzlichen Kranken- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
versicherung jedes Jahr erhebliche Summen an Ver- verstanden? – Das ist der Fall. Somit ist die Überwei-
sichertengeldern verloren. Experten … schätzen … sung so beschlossen.
zwischen 3 und 10 Prozent der Gesundheitsausga- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
ben …
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass man hier durchaus Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer (Alt-
von einem Generalverdacht sprechen kann? ötting), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
(Widerspruch bei der SPD – Harald Weinberg Günther (Plauen), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz,
[DIE LINKE]: Generalverdacht sind 100 Pro- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
zent! Mengenlehre!)
Klima- und Umweltschutz im und durch den
Sport stärken – Für eine verantwortungsvolle
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Sportentwicklung in Deutschland
Nein. – Stellen Sie sich einmal vor, ich mache fol-
gende Aussage: Durch Korruption im Bankenwesen und – Drucksache 17/5779 –
durch Vetternwirtschaft entstehen Milliardenverluste. Überweisungsvorschlag:
Sage ich damit, dass jeder Banker korrupt ist? Würde da- Sportausschuss (f)
Innenausschuss
mit jeder Banker unter Generalverdacht gestellt? Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Schaden ist doch unbestritten. Wäre Ihre Argumentation Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
richtig, würde das bedeuten, dass jede Kritik und jede Verbraucherschutz
Quantifikation eines Schadens automatisch jeden, der im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
entsprechenden Sujet arbeitet, unter Generalverdacht Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
stellt. Diese Behauptung können Sie doch nicht ernsthaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(B) aufrechterhalten. Ausschuss für Tourismus (D)

Ich bleibe dabei: Der Antrag ist gut. Man kann über Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
die Kritik der Grünen sprechen. Es stellt sich nur die diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Frage, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Damit sind alle einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen uns vor; ich brauche sie nicht
Es sei nur darauf hingewiesen: Wenn das BGH-Urteil zu verlesen.1)
so ausfällt, wie Hinweise vermuten lassen, dann wird das
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Korruptionsproblem nicht gelöst sein; denn bis dieses
Drucksache 17/5779 an die in der Tagesordnung aufge-
Urteil in die Rechtspraxis umgesetzt ist, wird eine lange
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Zeit vergehen. Außerdem betrifft es weder Privatärzte
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
noch privat Krankenversicherte. Es wäre lediglich für so beschlossen.
die gesetzlich Versicherten ein Schutz, der sich aber erst
seinen Weg durch die Institutionen bahnen muss. Ein Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 29 auf:
solches Urteil löst weder die Probleme mit den Privat-
ärzten noch die Probleme für die Privatversicherten. Da- Beratung des Antrags der Abgeordneten
her halten wir daran fest, dass es für uns wichtig ist, eine Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-
Lösung für das gesamte System zu finden. Gemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Das war wenigstens eine Substanzkritik. Sie haben NEN
genau wie die Kollegen von der Linkspartei das Anlie- ELENA – Meldepflicht aufheben und Daten
gen anerkannt. Es ist doch jeder mit mir einer Meinung, der Beschäftigten löschen
dass die Art und Weise, wie Schwarz-Gelb dieses für die
Versicherten und die ehrlichen Ärzte gravierende Pro- – Drucksache 17/5527 –
blem abtut, einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Überweisungsvorschlag:
dieser Angelegenheit, unter der viele Ärzte, viele Patien- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
ten und auch viele Versicherte zu leiden haben, nicht an- Innenausschuss (f)
gemessen ist. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1) Anlage 2
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12877
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, richtig!) (C)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Alle sind
damit einverstanden, sodass ich schon dem ersten Red- Doch in der zweiten und dritten Lesung am 30. Septem-
ner das Wort erteilen kann. Es ist für die Fraktion ber 2010 hielten Sie hier exakt die gleichen Reden wie
Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Konstantin ein halbes Jahr zuvor, und Sie lehnten unseren Antrag er-
von Notz. Bitte schön, Kollege Konstantin von Notz. neut ab, obwohl er nur das formulierte, was Sie selbst
zwei Wochen später umsetzten, allerdings ohne gesetzli-
che Grundlage und ohne die Beteiligung des Parlaments.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Das alles ist nicht nur hochnotpeinlich. Ihr Verhalten
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und beim Thema ELENA, liebe Kolleginnen und Kollegen
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am der Koalition, ist rechtsstaatlich fragwürdig und ein Täu-
1. Januar 2010 startete ELENA, eines der größten Da- schungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit,
tensammelprojekte in der Geschichte der Bundesrepu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
blik Deutschland. Unmittelbar nach dem Bundesverfas- und bei der LINKEN)
sungsgerichtsurteil zur Vorratsdatenspeicherung und der
Gewissheit, dass das Verfahren völlig aus dem Ruder ge- denn die Bundesregierung suggeriert, ELENA gestoppt
laufen war, hatten wir die Bundesregierung mit unserem zu haben. In Wahrheit aber werden die Daten von Millio-
ersten hierzu vorgelegten Antrag aufgefordert, ELENA nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiterhin
auszusetzen und die Datenübermittlung zu stoppen. Monat für Monat übermittelt und zentral gespeichert.
Schon damals kam die Kritik an ELENA von allen (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Seiten: Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer, Da- GRÜNEN]: Unglaublich!)
tenschützer und Bürgerrechtsgruppen – niemand war mit
ELENA zufrieden. Die einzigen Befürworterinnen und Die verfassungsrechtlichen Bedenken haben sich so-
Befürworter fanden sich just in diesem Saal während der gar verschärft; denn der eigentlich gesetzlich garantierte
ersten Lesung unseres Antrags. Der Kollege Kai Wegner Auskunftsanspruch der Betroffenen kann durch die Ver-
von der Union erklärte, ELENA sei ein wichtiger Mei- schiebung des ELENA-Starts nicht wie ursprünglich
lenstein zum Abbau bestehender Bürokratie. vorgesehen 2012, sondern nun voraussichtlich erst 2014
erfolgen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen das Recht
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf informationelle Selbstbestimmung.
NEN]: Das glaubt er heute noch!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Das glaubt er heute noch. – Die Kollegin Doris Barnett sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])
(B) von der SPD sagte, ELENA sei auf der Höhe der Zeit (D)
und deshalb ein Vorbild für andere Verfahren. Die Kolle- Wegen Ihrer Handlungsunfähigkeit sind nun auch die
gin Bögel äußerte die Hoffnung – ich zitiere –: Kommunen in der prekären gesetzlichen Pflicht, zum
1. Januar 2012 Technologie und Personal für ELENA zu
Lassen Sie uns ELENA weiter aufhübschen, damit ganz erheblichen Kosten bereitzustellen, und zwar so,
sie zur begehrten Lichtgestalt Helena wird. So kön- als wäre nichts geschehen. Denn: Es ist nichts gesche-
nen alle Beteiligten zum Schluss rufen: Heureka! hen. All Ihren Ankündigungen, im November eine ge-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist nicht setzliche Regelung vorzulegen, folgte rein gar nichts, au-
schlecht!) ßer einem bis heute anhaltenden, überaus peinlichen
Streit über die Zuständigkeit bzw. Nichtzuständigkeit
So waren Ihre Einschätzungen vor einem Jahr. Nicht zwischen dem Wirtschafts- und dem Arbeitsministe-
erst aus heutiger Sicht lagen Sie hiermit alle krass falsch, rium. Dieses ganze Verfahren ist erbärmlich und ein wei-
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, der terer Fleck auf Ihrer wirklich nicht weißen Regierungs-
SPD und der FDP. weste.
Noch vor der Beratung unseres Antrages in den Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schüssen kamen öffentliche Ankündigungen seitens der
FDP, man werde ELENA kippen. Zudem äußerten auch Aus ELENA wird keine schöne Helena mehr.
führende Vertreter der Unionsfraktion, zum Beispiel der ELENA ist eine Untote, ein Datenzombie, für tot erklärt,
geschätzte Kollege Uhl – er ist leider nicht da –, öffent- (Jan Korte [DIE LINKE]: Wie die Regierung!)
lich massive Zweifel an der Verfassungskonformität von
ELENA. aber wegen Handlungsunfähigkeit der schwarz-gelben
Bundesregierung noch immer Grundlage für eine unkon-
(Jan Korte [DIE LINKE]: Und Brüderle!) trollierte Datensammelei ohnegleichen.
– Selbst er. Zu ihm komme ich noch. Machen Sie dem Spuk endlich ein Ende. Wenn man
Doch in den Ausschüssen lehnten Sie unseren Antrag selbst nichts zustande bringt, muss man eben auch ein-
ab, und auch sonst geschah vonseiten der Koalition rein mal einem sinnhaften Oppositionsantrag zustimmen.
gar nichts. Kurz vor der zweiten und dritten Lesung im Ganz herzlichen Dank.
Plenum erklärten Kanzlerin Merkel und der zuständige
Wirtschaftsminister, damals noch Herr Brüderle, öffent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lich, ein Moratorium bei ELENA verhängen zu wollen. und bei der LINKEN)
12878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Kollege Kurth kann dies sicherlich bestätigen; er hat das (C)
Vielen Dank, Kollege Dr. von Notz. – Jetzt für die Verfahren seinerzeit begleitet. Sicherlich gibt es außer-
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. dem veränderte Rahmenbedingungen, neue Positionen
Bitte schön, Kollege Max Straubinger. und neue Sichtweisen, was eine zentrale Speicherung
angeht. Aber ich bin schon verwundert, dass die Grünen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – diesen Punkt heute in den Vordergrund stellen; Herr Kol-
Pascal Kober [FDP]: Straubinger hört man lege von Notz, Sie haben dies vorhin getan.
gern zu!)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Max Straubinger (CDU/CSU): GRÜNEN]: Zu Recht!)
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im Diese Bedenken hatten Sie bei der Gesetzgebung offen-
Kern geht es bei dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sichtlich nicht.
darum, dass Klarheit geschaffen wird, wie mit dem elek-
tronischen Entgeltnachweis weiterhin verfahren wird. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist nicht unser Gesetz!)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!) – Das ist zwar nicht Ihr Gesetz, aber Sie haben sich bei
der Abstimmung darüber zumindest enthalten. Das
Sicherlich ist es wichtig, darüber an dieser Stelle zu heißt, Sie haben dem Gesetz nicht widersprochen. Letzt-
sprechen. Aber es gilt auch, dies gründlich zu tun, Herr endlich haben auch Sie darin eine große Chance gese-
Kollege von Notz. hen. Sie sollten sich heute also nicht so äußern, als hät-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ten Sie schon damals diese Bedenken gehabt.
GRÜNEN]: Ja! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ Es ist wichtig, alle relevanten Fragen eingehend zu er-
DIE GRÜNEN]: Das haben wir getan!) örtern. Die Bundesregierung wird dies natürlich tun. Die
Den Grünen geht es letztendlich nicht um Gründlichkeit, Koalitionsfraktionen werden sie bei dieser Arbeit intensiv
sondern um Schnellschüsse. begleiten. Man muss allerdings – das gehört zu einer Ab-
wägung dazu – die in den Betrieben und in den Verwal-
Entscheidend ist, dass wir die offenen Fragen beant- tungen bereits getätigten Investitionen berücksichtigen.
worten. Die Bundesregierung ist dabei, das Ganze inten- Verschlankungen bei der Datenerhebung haben bereits
siv zu prüfen. Es gibt keine peinliche Uneinigkeit zwi- stattgefunden. Wenn man auf diesem Weg weitergeht,
schen Wirtschaftsministerium und Arbeitsministerium; kann man vielleicht eine bessere Akzeptanz des Verfah-
rens erreichen. Wenn das nicht möglich ist – dieser Punkt
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
(B) wird derzeit geprüft –, sind wir durchaus bereit, Konse- (D)
GRÜNEN]: Wer ist denn zuständig?)
quenzen zu ziehen. Aber am Anfang bedarf es, wie ge-
verantwortlich ist schließlich die Bundesregierung ins- sagt, einer intensiven Prüfung. Diese Prüfung werden wir
gesamt. Mit dieser Angelegenheit sind sehr viele Fragen vornehmen.
verbunden. Dementsprechend ist es richtig, wie die Bun-
In diesem Sinne lehnen wir Ihren Schnellschuss ab.
desregierung handelt: Sie prüft intensiv, um sachge-
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird hier auf alle
rechte Lösungen zu finden. Dies ist den Grünen nicht be-
Fälle nach der Sommerpause Klarheit schaffen. Ich bin
kannt; das ist klar.
überzeugt davon, dass die Bundesregierung bemüht ist,
(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- unserem Ansinnen nachzukommen.
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Unter diesem Gesichtspunkt werte ich Ihren Antrag.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Jan Korte [DIE LINKE]: Beim Wahlrecht, da
sind Sie auch schnell!) Vizepräsident Eduard Oswald:
Zum besseren Verständnis will ich Folgendes sagen: Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. – Jetzt spricht
Auch die Grünen haben im Zuge der Gesetzgebung er- für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
kannt, dass die Einführung eines elektronischen Entgelt- Doris Barnett. Bitte schön, Frau Kollegin Doris Barnett.
nachweises eine große Chance bietet. Eine Entlastung
der Wirtschaft ergibt sich dadurch, dass man viele Be- Doris Barnett (SPD):
scheinigungen nicht mehr in Papierform erstellen muss. Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Damit erreicht man über einen längeren Zeitraum eine Kollegen! Ich weiß nicht, worüber ich mich heute mehr
Entlastung in den Verwaltungen und in den Betrieben. wundern soll: über die Antragsteller, die sich einer ge-
meinsamen Initiative aus rot-grüner Regierungszeit ent-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
ledigen wollen,
GRÜNEN]: So die Theorie!)
(Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört!)
Wie bei jedem großen IT-Projekt – auch bei der Um-
setzung der Hartz-IV-Gesetzgebung, die mit einer ent- oder über die Bundesregierung, die ein innovatives Ver-
sprechenden Datenstruktur verbunden war, konnten wir fahren aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen an die
dies erleben – gibt es bei der Einführung des elektroni- Wand fährt und sich obendrein nicht gesetzestreu ver-
schen Entgeltnachweises Anlaufschwierigkeiten. Der hält.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12879
Doris Barnett
(A) Vor neun Jahren hat Rot-Grün, überzeugt vom Nutzen sondern auch von innen unmöglich: Den Mitarbeitern (C)
der IuK-Technologie auch in der Arbeitswelt, mit dem der Zentralen Speicherstelle ist ein Zugriff nicht mög-
Jobcard-System den Vorläufer von ELENA auf den Weg lich.
gebracht. In einem großen Versuch in NRW haben wir
Was die Datenmengen angeht, darf ich daran erin-
damals das Verfahren getestet, bevor wir die bundes-
nern, dass für die Durchführung des ELENA-Verfahrens
weite Einführung in Angriff genommen haben. In der
die Daten von zwei Jahren benötigt werden. Bei der Be-
Großen Koalition wurde aus dem Jobcard- das ELENA-
rechnung bestimmter Leistungen braucht man eben An-
Verfahren, was an der Sache aber nichts ändert. Ziel war
gaben über diesen Zeitraum.
und ist, Bürokratie abzubauen und Kosten einzusparen,
aber auch den Arbeitnehmern schneller zu ihren Leistun- Um weiteren Vorhaltungen über eine angebliche Da-
gen zu verhelfen. tensammelwut vorzubeugen, sage ich es auch in der heu-
tigen Debatte: Das ELENA-Verfahren umfasst ein inte-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE griertes Löschprogramm, das keinerlei Aktivierung
GRÜNEN]: Funktioniert aber nicht!) durch einen Menschen von außen bedarf. Selbst wenn
Dafür werden Informationen zum Einkommen, die im – wovon der Antragsteller ausgeht – über vier Jahre Da-
Sozialversicherungssystem zu verschiedenen Leistungs- ten gesammelt würden, bevor ein Abruf möglich sein
berechnungen gebraucht werden, an einer zentralen soll, wären die Daten von 2010 und 2011 im Jahr 2014
Stelle sicher gespeichert. Das ist genauso sicher wie bei schon längst gelöscht. Sie haben aber insoweit recht, als
der gesetzlichen Krankenkasse und der Rentenversiche- man sich fragen kann, warum die Daten, die nicht ge-
rung. Der Abruf dieser Daten kann von den jeweiligen braucht werden, weil die Regierung das Verfahren nicht
autorisierten Stellen und nur unter Beteiligung des be- ab 2012 anwenden will, überhaupt gesammelt werden.
troffenen Bürgers mithilfe von zwei voneinander unab- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
hängigen Schlüsseln, den Signaturkarten, erfolgen. Die GRÜNEN]: Allerdings!)
leistungserbringende Stelle hat eine solche Karte, und
die andere Karte hat der betroffene Bürger. Die Signatur- Deshalb muss ich mich jetzt an die Regierung selbst
karte wird von den Behörden nur ganz bestimmten Per- wenden,
sonen mit entsprechenden Zulassungen ausgehändigt. Es (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ist also nicht so, dass diese Karten im Amt herumliegen NEN]: Das kann ja bei einer Oppositionspartei
und jedermann Zugang zu ihnen hat. Anderes zu be- nicht schaden!)
haupten, wäre schlichtweg Unsinn.
die sich offenbar von ELENA lösen will. Etwas anderes
Selbst wenn ein unbefugter Dritter tatsächlich einmal kann es nicht bedeuten, dass der Koalitionsausschuss im
(B) eine solche Signaturkarte bekäme, könnte er keine Daten (D)
Dezember 2010 beschlossen hat, den Zeitpunkt des ver-
abrufen. Er könnte nur dann tatsächlich mit dem Ausle- pflichtenden Datenabrufs vom 1. Januar 2012 auf den
segerät Daten abrufen, wenn er sowohl diese Karte als 1. Januar 2014 zu verschieben. Auch hat er beschlossen,
auch die Karte des Bürgers hätte. ELENA in die Zuständigkeit des Arbeitsministeriums zu
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE überführen, was bei diesem wiederum erhebliche Zwei-
GRÜNEN]: Alles Theorie, Frau Kollegin!) fel an der Rechtmäßigkeit ausgelöst hat. Als Parlamenta-
rierin reibt man sich da schon die Augen; denn bisher
– Lesen Sie doch einmal das Gesetz. – Auch dann kön- war mir nicht bekannt, dass der Koalitionsausschuss Ge-
nen von der abrufenden Stelle, zum Beispiel der Wohn- setze macht.
geldstelle, nur die Daten herausgezogen werden, die für
die Berechnung einer bestimmten Leistung – hier Wohn- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
geld – benötigt werden. Also, wenn Wohngeld beantragt GRÜNEN]: Ja, dann stimmen Sie doch unse-
wird, kann man dort zum Beispiel nichts über eine Ar- rem Antrag zu!)
beitsplatzkündigung erfahren. Eine wirksame Verschiebung des Termins von 2012
Lesen Sie das Gesetz! Ich kann es Ihnen nur noch ein- auf 2014 bedarf doch einer Gesetzesänderung. Ansons-
mal ans Herz legen. Ihre ständig geäußerten Bedenken ten ist das Gesetz ab Januar nächsten Jahres anzuwen-
beruhen erstens nicht auf Fakten, man findet zweitens den; ab dann gilt das ELENA-Verfahren.
dazu keinerlei Anhaltspunkte im Gesetz oder Verfahren, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
und sie diskreditieren drittens den Bundesdatenschutzbe- GRÜNEN]: Aha!)
auftragten, der bei dieser Vorratsdatenspeicherung über
die Nutzung der Instrumente zur Gewährleistung der Da- Unternehmen, Verwaltungen und Bürger können dann
tensicherheit zu wachen hat und der einzige Schlüssel- nur noch mit diesem Verfahren arbeiten. Oder will die
verwalter ist. Regierung wirklich Unternehmen und Verwaltung ver-
pflichten, nach dem 1. Januar 2012 doppelgleisig zu fah-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ren, weitere zwei Jahre die Daten sowohl elektronisch zu
GRÜNEN]: Er sieht das hochkritisch!) übertragen als auch im Bedarfsfalle auf Papier zu erstel-
len? Wie rechtfertigt die Bundesregierung die dadurch
Seit bald 18 Monaten werden die Daten in die Zen-
anfallenden Kosten für die Unternehmen?
trale Speicherstelle übermittelt, dort geprüft, zweifach
verschlüsselt und danach gespeichert. Wie schon früher Selbst wenn die Anwendung des Abrufverfahrens
ausgeführt, ist der Datenzugriff nicht nur von außen, durch Gesetzesänderung wirksam auf 2014 verschoben
12880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Doris Barnett
(A) wird, ist zu fragen, was in der Zwischenzeit passiert. die Daten den autorisierten Behörden und den Bürgern (C)
Wenn die Daten, so wie es die Grünen fordern, gelöscht zum Abruf entsprechender Daten zur Verfügung, wenn
werden, muss doch ab 1. Januar 2012 wieder neu mit der sich die Bundesregierung gesetzestreu verhält.
Sammlung der benötigten Daten für die zwei Jahre ange-
Die Forderungen, die im vorliegenden Antrag enthal-
fangen werden, damit die notwendigen Daten zu Beginn
ten sind, gehen an den Tatsachen vorbei. In dem Antrag
der Anwendung des Abrufverfahrens im Jahr 2014 zur
wird zum Gesetzesbruch aufgefordert. Deshalb lehnen
Verfügung stehen. Also alles noch einmal von vorne? Zu
wir diesen Antrag ab.
welchen Kosten? Wer zahlt? Oder bereitet die Regierung
gar den Tod von ELENA auf Raten vor? So weit sind wir Vielen Dank.
aber noch nicht; noch gilt das Gesetz, das einen Da-
tenabruf ab 1. Januar 2012 vorsieht. Deshalb wäre die (Beifall bei der SPD)
geforderte Löschung der Daten zum jetzigen Zeitpunkt
gesetzeswidrig. Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP hat der Kollege Kober das Wort.
Ich erwarte von uns Abgeordneten, dass wir zu einem
Gesetz stehen, das wir über Jahre hinweg gemeinsam er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
arbeitet und dann beschlossen haben, und nicht versu-
chen, es mit tausenderlei unzutreffenden Bedenken und Pascal Kober (FDP):
Vorurteilen zu verhindern. Nur so können wir Vertrauen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
in unser politisches Handeln gewinnen. Ansonsten ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
liert nicht nur das Gesetz an Akzeptanz, sondern auch Grünen! Geschätzter Kollege Konstantin von Notz, Ihr
wir selbst. heutiger Antrag „ELENA – Meldepflicht aufheben und
(Jan Korte [DIE LINKE]: Selbstkritik ist auch Daten der Beschäftigten löschen“ ist symptomatisch für
gut!) die Art und Weise, wie Sie von Bündnis 90/Die Grünen
Politik machen. Erst stoßen Sie das Kind absichtlich in
Die Bundesregierung hat deshalb im September 2009 den Brunnen oder lassen es zumindest in den Brunnen
zu Recht ein Informationskonzept erstellt, das konkrete fallen,
Handlungsempfehlungen enthielt. Die Bundesregierung
hätte diese Empfehlungen also noch vor der Einführung (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
von ELENA umsetzen und Verständnis bei der Bevölke- dann machen Sie sich aus dem Staub, stellen sich abseits
rung erreichen können. Warum sie das nicht getan hat, und zeigen mit dem Finger auf diejenigen, die versu-
bleibt ihr Geheimnis. chen, das Kind zu retten. Wenn es Ihnen nicht schnell
(B) genug geht, dann empören Sie sich öffentlich. (D)
Der ehemalige Wirtschaftsminister jedenfalls hat
nichts getan, um das ELENA-Verfahren voranzubringen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Er hat die Großunternehmen und sein eigenes Haus nicht der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz
angehalten, ab dem 1. Januar 2010 die Daten zu übermit- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Piltz hat
teln. Ist es nicht so, dass das Bundeswirtschaftsministe- gesagt, dass sie ein Moratorium will!)
rium erst Monate nach dem Start von ELENA angefan-
gen hat, die Daten seiner Mitarbeiter zu übermitteln? Das war auch bei Hartz IV so, Herr von Notz. Das haben
Haben Sie damit nicht ein hervorragendes Negativbei- Sie erfunden, und wir von der christlich-liberalen Koali-
spiel abgegeben? Die Kleinunternehmer und die mittel- tion haben es in einer großen Kraftanstrengung im Sinne
ständischen Betriebe haben sich gesetzestreu verhalten der Betroffenen, im Sinne der Kinder, im Sinne der
und werden jetzt trotzdem um die Früchte ihrer Daten- Schwächsten reformiert und verbessert.
übermittelung gebracht. (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist ja echt ein Witz!
Ein schöner Gag zum Wochenende!)
Ich frage die Bundesregierung, insbesondere den
Bundeswirtschaftsminister, warum sie die beim Bundes- Das ist aktuell bei der Zeitarbeit so, und das ist auch bei
verfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden diesem Antrag so. Sie haben ELENA erfinden lassen
bisher noch nicht einmal erwidert haben. und der Einführung 2002, als Sie in der Bundesregierung
waren, zugestimmt.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist interessant!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Die melden sich nicht. Das muss man sich einmal vor- Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
stellen. Will die Bundesregierung bzw. das Bundeswirt- von Notz?
schaftsministerium den Prozess verlieren, vielleicht so-
gar absichtlich? Ist das ein angemessenes Gebaren eines
Pascal Kober (FDP):
Verfassungsorgans? Und wozu das alles?
Nein, heute nicht.
Mein Fazit lautet: Nach wie vor ist das ELENA-Ver-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
fahren in Kraft und ist Gesetz. Es ist trotz aller Verun-
GRÜNEN]: Herr Kober, Sie wollen doch
glimpfungen ein sicheres Verfahren, das zum Bürokra-
nicht, dass ich die ganze Zeit dazwischenrufe!)
tieabbau beiträgt und für die Anwender eine große
Erleichterung bedeutet. Ab dem 1. Januar 2012 stehen – Also gut.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12881

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt auf die anderen zu zeigen und zu schreien: „Haltet (C)
Bitte. den Dieb“, ist einfach unseriös.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Lernfähigkeit!)
GRÜNEN):
Diese Vorgehensweise ist – das werde ich noch an weite-
Das ist nett. Herzlichen Dank, auch für die Geduld al-
ren Beispielen zeigen – zum Prinzip Ihrer aktuellen Poli-
ler am Freitagnachmittag.
tik geworden. Wir als christlich-liberale Koalition wer-
(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: den das öffentlich benennen und Sie in diesen Punkten
Das ist dem Adel geschuldet!) stellen. – Vielen Dank.
Herr Kollege Kober, ich habe zwei Dinge anzumer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
ken. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Es täte der FDP gut, auch einmal
Erstens. Es überrascht mich, dass Sie jetzt anfangen, lernfähig zu sein!)
die Grünen wegen Hartz IV zu bashen. Das kommt sonst
aus anderen Ecken; aber bitte schön. Jetzt einmal echte Ich habe es bereits gesagt: Sie haben ELENA erfin-
Argumentation: Wie erklären Sie sich Ihre Argumenta- den lassen
tion vor dem Hintergrund, dass sowohl der Kollege (Jan Korte [DIE LINKE]: „Erfinden lassen“!)
Ahrendt als auch die Kollegin Piltz als auch Ihr damali-
ger Wirtschaftsminister Brüderle gesagt haben, dass und der Einführung im Jahr 2002, als Sie in der Bundes-
ELENA gekippt werden muss und wir ein Moratorium regierung waren, zugestimmt. Lieber Konstantin von
brauchen? Das ist schließlich genau das, was wir hier be- Notz, Sie haben übrigens auch gewisse Terrorismusbe-
antragen. kämpfungsgesetze – damals unter Otto Schily – wider-
standslos einfach durchgewinkt.
Zweitens frage ich, wer für das Verfahren im Augen-
blick zuständig ist. Die Ministerin ist ja anwesend. Inso- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
fern wäre es interessant, das von Ihnen zu erfahren, da GRÜNEN]: Eben waren Sie noch bei
Sie momentan ja irgendwie an der Regierung beteiligt Hartz IV! Erzählen Sie mal was zu ELENA!)
sind. Es wird ja immer gesagt, dass so viel geprüft wird. – Herr von Notz, die Rede schreitet fort. – Seit Ihrem
Machen Sie einfach eine schlichte Ansage: Ist das Wirt- Ausscheiden aus der Bundesregierung versuchen Sie,
schaftsministerium oder das Arbeitsministerium zustän- sich als Bürgerrechtspartei zu gerieren. Sie tun so, als sei
dig? Wer prüft denn im Augenblick so intensiv? Ihnen der Datenschutz wichtig. Aktuell kann man auf
(B) (D)
der Homepage der Grünen folgenden Text finden:
Pascal Kober (FDP):
Die Grünen rufen zur Massenbeschwerde gegen
Lieber Kollege von Notz, ich beginne mit der zweiten ELENA auf. Dieser „Elektronische Entgeltnach-
Frage. Ihnen wird nicht entgangen sein, wie hervorra- weis“ ist ein Projekt der schwarz-roten Bundes-
gend und reibungslos diese christlich-liberale Koalition regierung,
zusammenarbeitet.
– Sie verschweigen, dass es eigentlich Ihre Idee war –
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der jetzt von CDU/CSU und FDP freudig umgesetzt
Insofern überlassen Sie es doch uns, die Frage zu klären, wird.
wer welche Zuständigkeit hat.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht wahr, und wenn Sie
GRÜNEN]: Das wird jetzt gerade geprüft?) das noch viermal sagen!)
Darauf kommt es im Übrigen gar nicht an. Entscheidend Liebe Kolleginnen und Kollegen, ELENA ist von Ih-
ist, dass wir eine gute und verantwortungsvolle Politik nen auf den Weg gebracht worden. ELENA ist Ihr Kind
im Sinne der Menschen in diesem Land machen. Seien und Ihr Projekt. Ich weiß, was Sie mir jetzt entgegenhal-
Sie gewiss, auch bei ELENA wird das der Fall sein. ten werden – das machen die Kollegen von den Grünen
aus dem Arbeits- und Sozialausschuss auch immer –:
Nun zu Ihrer ersten Frage. Als FDP-Bundestagsfrak-
Man könne mit der Zeit lernen,
tion haben wir in der Tat eine eigene Position, die wir in
das Gespräch mit den Unionskollegen einbringen wer- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
den. Zu Beginn meiner Rede hatte ich aber darauf ab- GRÜNEN]: So ist es! Nicht alle offensichtlich,
gehoben, dass Sie sich dazu bekennen sollten, dass Sie aber die meisten!)
– zwar nicht persönlich, aber Ihre Fraktion und Ihre Par-
tei – ELENA zunächst erfunden und dann auch einge- man könne aus vergangenen Fehlern lernen. – Richtig,
führt haben. Sie wollten dieses Gesetz bzw. dieses Ver- das ist so. Ich beobachte mit großem Interesse, lieber
fahren. Kollege von Notz, wie sich Ihre Partei in der letzten Zeit
verhält. In NRW sind die Grünen im vergangenen Jahr
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE an die Regierung gekommen. Sie haben sich aber nicht
GRÜNEN]: Wir haben das nicht eingeführt! danach gereckt und gestreckt, das Innen- oder das Justiz-
Das ist falsch!) ministerium zu übernehmen.
12882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

Pascal Kober
(A) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und Nutzen. Auch hier werden wir nachsteuern. Das (C)
GRÜNEN]: Der Kollege schafft es nicht ein- Kosten-Nutzen-Verhältnis muss am Ende stimmen.
mal, das Wort „ELENA“ in den Mund zu neh-
E-Government birgt ohne Frage viele Chancen und
men!)
ein großes Potenzial. Das Ganze muss aber richtig ange-
Auch als Sie in diesem Jahr in Baden-Württemberg an gangen werden. Natürlich kann es sinnvoll sein, die
die Regierung gekommen sind, große Zahl von physischen Bescheinigungen und For-
mularen zu reduzieren. Eine entsprechende Umsetzung
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE muss aber datenschutzrechtlich und verfassungsrechtlich
GRÜNEN]: Grüne braucht es da, da haben Sie einwandfrei sein. Für ELENA werden wir eine solche
völlig recht!) Umsetzung jetzt prüfen und gegebenenfalls nachsteuern.
haben Sie sich in keiner Weise für Bürgerrechte und Da- Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/
tenschutz interessiert. Sie haben auch dort weder das Die Grünen, Sie können versichert sein, dass die christ-
Justizministerium noch das Innenministerium für sich in lich-liberale Koalition eine umfassende und sorgfältige
Anspruch genommen. Das zeigt eindeutig: Bürgerrechte Überprüfung von ELENA vornehmen wird und dass wir
und Datenschutz sind kein Anliegen der grünen Partei. dementsprechend handeln werden; denn Handeln ist das
Kennzeichen unserer Politik.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
Wir von der christlich-liberalen Koalition hingegen, chen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-
lieber Herr von Notz, reden nicht nur über Bürgerrechte, wie bei Abgeordneten der LINKEN – Herbert
sondern wir handeln auch entsprechend. Behrens [DIE LINKE]: Fast 3 Prozent! –
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jan GRÜNEN]: Man muss die Rede immer mit ei-
Korte [DIE LINKE]: Das ist ein echter Gag!) nem guten Gag beenden!)

Erst am Mittwoch dieser Woche hat das Bundeskabinett Vizepräsidentin Petra Pau:
auf Initiative der FDP einen Gesetzentwurf verabschie-
Der Kollege Korte hat für die Fraktion Die Linke das
det, mit dem das Gesetz zur Sperrung von Internetseiten
Wort.
aufgehoben werden soll. Sie wissen, wovon ich rede:
Löschen statt Sperren. Aktuell beraten wir darüber – der (Beifall bei der LINKEN)
Kollege Straubinger hat es vorhin schon ausgeführt –,
(B) wie wir bei ELENA weiter vorgehen wollen. Jan Korte (DIE LINKE): (D)
Im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir uns hierbei Zeit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Denn anders als Sie legen wir Wert darauf, dass unsere Der Redebeitrag der FDP gerade war ja wirklich nicht
Politik nachhaltig ist, Bestand hat und nicht immer wie- schlecht. – Zur Sache: Bundeskanzlerin Angela Merkel
der vom Bundesverfassungsgericht gekippt wird. ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie etwas entschei-
det, und wenn sie etwas entscheidet, dann meistens das
(Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/ Falsche. In diesem Fall hat sie wieder einmal nichts ent-
CSU]) scheiden wollen. Sie hat 2010 Folgendes gesagt: „Ich
unterstütze ausdrücklich, dass ELENA nochmals über-
Deshalb ist hier nicht Eile geboten, sondern Sorgfalt. prüft wird.“ Dann gibt es ein Schreiben vom Staatssekre-
Das ist ein weiteres Kennzeichen unserer christlich-libe- tär aus dem Hause von der Leyen vom Frühjahr 2011
ralen Koalition und ihrer Politik. – das war also vor kurzem –, in dem steht: Derzeit findet
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!) eine Prüfung hinsichtlich des weiteren Vorgehens im
ELENA-Verfahren statt, die noch nicht abgeschlossen
Natürlich haben wir Vorstellungen, wie es mit ist. – Das kommt aus Ihrem Hause. Das ist typisch für
ELENA weitergehen soll. Wir wollen die Erprobungs- diese Regierung. Es wird gelabert und gelabert, aber
phase von ELENA – das ist bereits angesprochen wor- nichts wird vorgelegt. Dasselbe haben wir hier gestern
den – bis 2014 verlängern, wie es der Koalitionsaus- beim Thema Wahlrecht erlebt. So geht es nicht. Der An-
schuss im November letzten Jahres beschlossen hat. trag, der hier heute eingebracht wurde, ist daher sinnvoll.
Die datenschutzrechtlichen Bedenken sind uns ein (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
ernstes Anliegen. Das werden wir noch eingehend prü- DIE GRÜNEN)
fen. Ich halte es für ein gutes und richtiges Signal, dass
der Datenfragebogen überarbeitet wurde. Beispielsweise Im Gegensatz zu Ihnen hat sich die Linksfraktion ent-
sind die Angaben zum Thema Streik aus dem Fragebo- schieden, wie sie ELENA einschätzt: Wir lehnen das
gen herausgenommen worden. Verfahren rundheraus ab
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wie immer!)
Zudem hat sich bislang noch sehr wenig von dem
Einsparpotenzial oder Bürokratieabbau gezeigt, die von und stehen für ein ganz klares Nein zu einer Vorratsda-
ELENA erwartet wurden. Insbesondere kleine und mitt- tenspeicherung von bis zu 40 Millionen sensibler Daten
lere Unternehmen sowie die Kommunen sind noch nicht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das hier ist
ganz zufrieden mit dem Verhältnis von Aufwand, Kosten übrigens noch viel schlimmer als die eigentliche Vorrats-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12883
Jan Korte
(A) datenspeicherung, die vom Bundesverfassungsgericht für Ihre Landeshauptstadt Hannover doch etwas tun. (C)
mit deutlichen Worten kassiert worden ist; denn die Da- Das, was Sie hier machen, ist katastrophal. Auch deswe-
ten sollen zentral gespeichert werden. Allein aus diesen gen muss ELENA abgelehnt werden und könnten Sie
Gründen ist ELENA vehement abzulehnen. dem Antrag zustimmen; das ist doch nicht so schwer.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN)
GRÜNEN])
Zusammenfassend: Das Ganze ist unnötig; das haben
Ich will Ihnen weitere Gründe nennen, aus denen die Erfahrungen empirisch bewiesen. Es ist ein massiver
ELENA abzulehnen ist. Ein Grund ist der Schutz des Anschlag gegen das informationelle Selbstbestimmungs-
einzelnen Arbeitnehmers, der sich in Zeiten der prekären recht. Deswegen brauchen wir hier, wie auch für andere
Beschäftigung, die Sie in diesem Land maßgeblich vo- Großprojekte, ein Moratorium. Gerade in Zeiten prekä-
ranbringen, bekanntermaßen sowieso in einem immen- rer Beschäftigungen sollte man die Arbeitnehmerinnen-
sen Abhängigkeitsverhältnis befindet. Es geht überhaupt und Arbeitnehmerrechte stärken und ausbauen und sie
nicht, dass Sie dann auch noch sensible Daten von ihm nicht beschränken. Dafür steht die Linke. Deswegen
speichern, um ihn möglicherweise kontrollieren zu kön- stimmen wir dem Antrag zu. Trotz Ihrer katastrophalen
nen. Politik wünsche ich ein schönes Wochenende.
ELENA ist im Übrigen nach Auffassung von führen- Danke.
den Experten und Staatsrechtlern grob verfassungswid-
rig. Die Klagen laufen an. Ich kann einfach nicht verste- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
hen, warum man das nicht zur Kenntnis nimmt und sich DIE GRÜNEN)
bei diesem Thema die nächste Klatsche in Karlsruhe ho-
len will. Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
(Zuruf der Abg. Doris Barnett [SPD])
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
– Sie von der SPD schütteln gerade den Kopf. Es ist un- Drucksache 17/5527 an die in der Tagesordnung aufge-
fassbar: Seit Sie in der Opposition sind, sagen Sie, Sie führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
seien die Arbeitnehmerpartei und wollten die Interessen jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
der Arbeitnehmer vertreten. FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit
(Doris Barnett [SPD]: Deswegen wollen wir und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das auch durchführen!) wünscht Federführung beim Innenausschuss.
(B) (D)
Mit Ihrem Larifari-Kurs machen Sie das Gegenteil. Die Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Position der Sozialdemokraten in diesem Punkt hat Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also die Federführung
nichts mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Ar- beim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
beitnehmern zu tun. Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Der nächste Aspekt, den ich ansprechen will, wurde Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
auch schon erwähnt. Die FDP, die große wirtschaftslibe- SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-
rale Partei, sollte sich einmal anhören, was die kleinen nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
und mittelständischen Unternehmen und die Unterneh-
merverbände zu ELENA sagen. Sie wissen überhaupt Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
nicht, wie sie das finanzieren sollen. Für einen großen Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federfüh-
Konzern mit den entsprechenden Abteilungen und IT- rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstim-
Systemen ist das kein Problem. Für die kleinen Unter- men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
nehmen, für die Sie sich angeblich starkmachen, ist das Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über-
der blanke Horror. Dasselbe gilt übrigens für die Kom- weisungsvorschlag ist angenommen.
munen. Sie sollten sich einmal anhören, was die kommu- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
nalen Spitzenverbände sagen. ordnung.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
GRÜNEN]: Die FDP kann überhaupt nicht zu-
destages auf Mittwoch, den 8. Juni 2011, 13 Uhr, ein.
hören!)
Die Sitzung ist geschlossen.
Kollege Döring, Sie sind doch auch Kommunalpolitiker,
Sie müssen das doch zur Kenntnis nehmen. Sie müssen (Schluss: 15.20 Uhr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12885

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beckmeyer, Uwe SPD 27.05.2011 Dr. Linnemann, Carsten CDU/CSU 27.05.2011


Behrens, Herbert DIE LINKE 27.05.2011 Lips, Patricia CDU/CSU 27.05.2011
Bleser, Peter CDU/CSU 27.05.2011 von der Marwitz, Hans- CDU/CSU 27.05.2011
Georg
Dr. Bunge, Martina DIE LINKE. 27.05.2011
Mattfeldt, Andreas CDU/CSU 27.05.2011
Connemann, Gitta CDU/CSU 27.05.2011
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 27.05.2011
Dr. Danckert, Peter SPD 27.05.2011
Meßmer, Ullrich SPD 27.05.2011
Duin, Garrelt SPD 27.05.2011
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 27.05.2011
Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ 27.05.2011 DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN
Dr. Neumann (Lausitz), FDP 27.05.2011
Evers-Meyer, Karin SPD 27.05.2011 Martin
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 27.05.2011 Nietan, Dietmar SPD 27.05.2011
Land), Axel E.
Nink, Manfred SPD 27.05.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 27.05.2011
Ortel, Holger SPD 27.05.2011
(B) Gerdes, Michael SPD 27.05.2011 (D)
Dr. Scheuer, Andreas CDU/CSU 27.05.2011
Götz, Peter CDU/CSU 27.05.2011
Schirmbeck, Georg CDU/CSU 27.05.2011
Granold, Ute CDU/CSU 27.05.2011
Schlecht, Michael DIE LINKE 27.05.2011
Gutting, Olav CDU/CSU 27.05.2011
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 27.05.2011*
Hardt, Jürgen CDU/CSU 27.05.2011*
Dr. Schröder CSU/CSU 27.05.2011
Dr. Hendricks, Barbara SPD 27.05.2011 (Wiesbaden) Kristina
Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 27.05.2011 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 27.05.2011
DIE GRÜNEN
Staffeldt, Torsten FDP 27.05.2011
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 27.05.2011
DIE GRÜNEN Dr. Steinmeier, Frank- SPD 27.05.2011
Walter
Dr. Hoyer, Werner FDP 27.05.2011
Süßmair, Alexander DIE LINKE 27.05.2011
Jung (Konstanz), Andreas CDU/CSU 27.05.2011
Tempel, Frank DIE LINKE 27.05.2011
Koch, Harald DIE LINKE 27.05.2011
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27.05.2011
Kopp, Gudrun FDP 27.05.2011
Werner, Katrin DIE LINKE 27.05.2011
Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 27.05.2011*
Karl A. Wieczorek-Zeul, SPD 27.05.2011
Heidemarie
Leutheusser-Schnarren- FDP 27.05.2011
berger, Sabine Zypries, Brigitte SPD 27.05.2011
Liebich, Stefan DIE LINKE 27.05.2011
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Liebing, Ingbert CDU/CSU 27.05.2011 sammlung der NATO
12886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Anlage 2 „Sport und Immissionen“ herausgestellt werden. Die (C)


Sportförderung der Bundesregierung wie auch die von
Zu Protokoll gegebene Reden uns im Antrag genannten Punkte lassen sich auf diese
zur Beratung des Antrags: Klima- und Umwelt- vier Felder beziehen, sie gehen aber auch darüber hi-
schutz im und durch den Sport stärken – Für naus.
eine verantwortungsvolle Sportentwicklung in Die etwa 91 000 Sportvereine mit circa 27,5 Millio-
Deutschland (Tagesordnungspunkt 26) nen Mitgliedern bieten eine breite Kommunikations- und
Multiplikationsplattform, um Sport im Einklang mit der
Klaus Riegert (CDU/CSU): Der Klima- und Um- Natur und in Verbindung zu einem aktiven Umwelt- und
weltschutz ist weltweit eine der bedeutendsten Heraus- Klimaschutz zu erleben. So soll beispielsweise die Um-
forderungen unserer Zeit. Manch einer mag sich bei dem weltbildung und Umweltkommunikation bei Kindern
Thema wundern und fragen, was denn der Sport mit dem und Jugendlichen weiter verstärkt werden, um das Ver-
Umwelt- und Klimaschutz zu tun habe – allenfalls stelle ständnis der Vereinbarkeit von Sport und Natur zu för-
die Umwelt den nötigen Raum für Sport und Bewegung dern. Auch ist die Unterstützung des bürgerschaftlichen
dar. Doch bei näherer Betrachtung ist der Sport national Engagements im Sport, unter anderem mit Blick auf
wie auch international schon seit vielen Jahren ein wich- ökologische Aspekte und Tätigkeitsbereiche, in diesem
tiger Partner beim Umwelt- und Klimaschutz. Zusammenhang eine große Chance. Der Antrag der Ko-
alitionsfraktionen beinhaltet weiterhin eine stärkere Sen-
Der Sport ist Selbstzweck, aber er steht allen voran im sibilisierung beim Thema „Mobilität“, um die Vorzüge
Dienste der Menschheit, so hat es der IOC-Präsident von klimafreundlichen Verkehrsmitteln sowie Möglich-
Jacques Rogge erst kürzlich in einer Formel trefflich zu- keiten der Kompensation von CO2-Emissionen hervor-
sammengefasst. Das heißt für eine mittlerweile globale zuheben.
Sportcommunity, die natürliche Lebensgrundlage zu be-
wahren und die Umwelt zu schützen. Dabei ist der Sport Nach dem durch das Bundesumweltministerium er-
als Verursacher von Umweltbelastungen selbst gefragt, folgreich geförderten Projekt „Klimaschutz im Sport“
was dieser nach innen gerichtet verbessern kann. Aber heißt es, das Engagement des Sports im Bereich des Er-
auch nach außen stellt sich die Frage, wie die Popularität halts der biologischen Vielfalt weiter zu bestärken. Das
des Sports für die Nachhaltigkeit und für den Klima- und ausgerufene „Internationale Jahr der Wälder“ kann im
Umweltschutz genutzt werden kann. In diesem Sinne Sinne des Erhalts der Biodiversität, des Bodenschutzes
werden schon seit langem zahlreiche Anstrengungen sowie des Erhalts einer gesunden Waldstruktur in direk-
durch die Bundesregierung in Kooperation mit den ter Verbindung zum naturfreundlichen Sport aufgegrif-
fen werden. Die Kompetenz des organisierten Sports (D)
(B) Sportverbänden, den Vereinen und den Sporttreibenden
unternommen – diese Anstrengungen heißt es weiter zu sollte bei der „Waldstrategie 2020“ eingebracht werden,
unterstützen und voranzubringen. um fachspezifische Kenntnisse im Breiten- und Freizeit-
sport und im Tourismus zu nutzen. Angesichts diverser
Wer einen Blick in den 12. Sportbericht der Bundes- nationaler und internationaler Sportveranstaltungen und
regierung wirft, wird erkennen, dass der Umwelt- und deren touristischer Vermarktung soll ein Preis ausgelobt
Klimaschutz schon lange ein wichtiger Bestandteil der werden, der besonders gute Beispiele für die Verbindung
christlich-liberalen Sportpolitik ist. Die Umwelt ist für von umweltfreundlichen Sportangeboten mit dem Tou-
den Sport nicht Ressource, sondern vor allem Partner. rismus würdigt.
Diese Aussage versteht der Deutsche Olympische Sport-
bund, DOSB, schon seit langem als Arbeitsauftrag. Auch die klima- und umweltfreundliche Weiterent-
Demnach folgt dem Denken und Reden vor allem auch wicklung von Sportstätten spielt in unserem Antrag eine
ein aktives Handeln! Bei der Vielzahl der verschiedenen zentrale Rolle: Der Sanierungsbedarf bei Sportstätten in
Initiativen des DOSB und seiner Mitgliederorganisatio- Deutschland wird zurzeit auf circa 42 Milliarden Euro
nen zum Klima- und Umweltschutz fällt es schwer, sich geschätzt. Trotz des Konjunkturpaketes II lassen sich
bei der Aufzählung auf einige Beispiele zu begrenzen. vielerorts ein zu hoher Energie- und Ressourcenver-
Auch ist man selbst als Sportpolitiker erstaunt, in wie brauch bei den Sportstätten feststellen, sei es beispiels-
vielen Bereichen die Bürgerinnen und Bürger sich ernst- weise durch veraltete Heizungsanlagen oder eine
haft und intensiv mit dem Thema beschäftigen: Die Bei- schlechte Dämmung. Daher ist aus unserer Sicht die För-
spiele reichen über Arbeitsmaterialien zum „Klima- derung von Beratungsangeboten für Sportvereine zu
schutz im Sport“, über den Sport-Audit im Luftsport, Bau, Erhalt und Sanierung von Sportanlagen unerläss-
über Umweltschutzprojekte beim Wassersport, einem lich. Im Mittelpunkt dieser Angebote stehen Beratungen
Klima-Check beim Bayrischen Landessportbund, Nach- bezüglich der Umweltsituation von Sportanlagen – zum
haltigkeitskonzepte beim Turner-Bund, bis hin zur För- Beispiel bezogen auf den Anlagenbedarf oder die Natur-
derung der Solarenergie beim DLRG. verträglichkeit –, aber auch Beratungen bezüglich Öko-
Checks sowie sportartspezifischer Handlungsempfeh-
Ich möchte die vier Grundlinien des Klima- und Um- lungen. Bei der Förderung von Sportanlagen durch den
weltschutzes im Sport kurz erwähnen, an denen sich der Bund sollen die Faktoren des Umwelt- und Klimaschut-
DOSB orientiert. Dabei können die Kategorien „Sport in zes entsprechend neuer Standards weiter berücksichtigt
Natur und Landschaft“, „Klima- und Umweltfreundliche werden, um damit zu einem nachhaltigen Sportstätten-
Weiterentwicklung von Sportstätten“, „umweltfreundli- bau in Deutschland beizutragen. Auch soll der Dialog
che Gestaltung von Großsportveranstaltungen“ sowie zwischen der Bundesregierung, den Bundesländern, den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12887

(A) Bundessportfachverbänden, den Verbänden der Eigentü- Selbst der bisherige sportpolitische Sprecher von (C)
mer und Nutzer wie auch den beteiligten Sport- und Um- Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Hermann, hat die Be-
weltorganisationen weiter konstruktiv fortgeführt wer- werbung München 2018 als ein „durch und durch ökolo-
den, um unter anderem Konzepte zum Abbau des gisches Projekt“ gelobt – wohingegen sich die Grünen
Sanierungsstaus bei Sportanlagen insgesamt zu entwi- per Parteitagsbeschluss zu später Abendstunde und ohne
ckeln. große Diskussion oder Anhörung von Sachverständigen
gegen die Bewerbung ausgesprochen haben. Das zeigt
Die Umwelt macht an keinen Landesgrenzen halt, wie die Widersprüchlichkeit der Grünen. Die Pro-Argumente
auch der Sport als gesellschaftliche Bewegung diese für die Bewerbung will man bei den Grünen augen-
längst überwunden hat. Bei internationalen Großsport- scheinlich auch aus den eigenen Reihen nicht hören, we-
veranstaltungen wird indes umso deutlicher, dass etwaige der von den elf Grünen des Münchener Stadtrates noch
Umweltbelastungen und Schäden durch das Sporttreiben vom eigenen sportpolitischen Sprecher oder „Fußball-
dem Verursacherprinzip nach einbezogen werden müs- Claudia“ Roth.
sen. Internationale Sportbegegnungen sind demnach aus
umwelt- und sportpolitischer Sicht Herausforderung wie Mit der Ablehnung der Bewerbung Münchens um
gleichzeitig auch eine enorme Chance, um auf die ge- „Grüne Spiele“ scheitert die Sportpolitik von Bündnis 90/
meinsame Verantwortung beim Umwelt- und Klima- Die Grünen an der eigenen Agenda. Anstatt eines eige-
schutz hinzuweisen. Dass wir in Deutschland im Sport nen Antrages zum Thema Umwelt- und Klimaschutz
diese Herausforderung annehmen und als Chance be- und konstruktiven Argumenten konstatiert man Protest
greifen, zeigt sich aktuell besonders gut bei der FIFA und Ablehnung. Winfried Hermann merkte in einem In-
Frauen-WM 2011 im eigenen Land. Das Umweltkonzept terview abschließend an, dass „der halbe bayrische Lan-
„Green Goal“ der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat ei- desverband der Grünen selbst Ski auf den ökologisch so
nen enormen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz in unmöglichen Pisten fährt.“ Es ist mehr als traurig, wenn
der Vergangenheit geleistet. Dieses bewährte Konzept die Grünen erschreckend undifferenziert ein solch öko-
wird bei der diesjährigen FIFA Frauen-WM ebenso eine logisch wegweisendes Projekt wie die Bewerbung Mün-
große Rolle spielen, um unter anderem CO2-Emissionen chen 2018 versuchen national wie international zu be-
zu vermeiden oder zu kompensieren. Im Rahmen einer schädigen.
solchen Großsportveranstaltung kann im eigenen Land
wie auch weit über die Landesgrenzen hinaus für eine Lassen Sie mich zuletzt kurz auf das Thema Sport
stärkere Akzeptanz und Sensibilisierung der Bevölke- und Immissionen eingehen. Beim Sport entstehen natur-
rung für den Umwelt- und Klimaschutz eingetreten bzw. gemäß Geräusche bis hin zu Lärm. Hierbei kommt es
geworben werden. sich nicht selten zu einem klassischen Interessenskon-
(B) flikt zwischen den Sportreibenden und Anwohnern. (D)
Auch die Bewerbung München 2018 mit dem Ziel der Grundsätzlich sind beide Interessenslagen anzuerkennen
Austragung der Olympischen und Paralympischen Win- und zu respektieren. Die Sportanlagenlärmschutzverord-
terspiele 2018 verdeutlicht eindrucksvoll, wie eine inter- nung hat nach dem Inkrafttreten 1991 zu einem ange-
nationale Großsportveranstaltung umweltverträglich und messenen Interessenausgleich und zu einer langen Phase
nachhaltig durchgeführt werden kann. Das 186-seitige der Beruhigung dieses Themas geführt. Die Fraktion Die
Umwelt- und Nachhaltigkeitskonzept der Bewerbung Linke konnte mit ihrem Antrag zuletzt im Sportaus-
München 2018 wurde bereits international gelobt und als schuss ihre Forderungen nicht überzeugend begründen.
wegweisend bezeichnet. Bei einem Zuschlag der Olym- Zudem liegt die Zuständigkeit hinsichtlich der Verord-
pischen und Paralympischen Winterspiele stehen für nungen bei den Bundesländern. Eine informelle Um-
18 Umweltleitprojekte sage und schreibe mehr als frage der Länder und zuständigen Landesbehörden hat
100 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bewerbung gezeigt, dass kein Bedarf zur Änderung der Sportanla-
München 2018 zeigt, dass sozial, ökologisch und ökono- genlärmschutzverordnung gesehen wird. Bestehende
misch nachhaltige Winterspiele möglich sind. Mit Inno- Regelungen werden sogar bezüglich der Vollzugspraxis
vationen wie dem Olympischen Dorf als Plus-Energie- des Bundes-Immissionsschutzgesetzes gelobt.
Dorf und neuer Umwelttechnik können bei Olympischen
Spielen neue Standards gesetzt werden. Mit den größten- Erst gestern wurde der Kinderlärm durch unseren Be-
teils bereits bestehenden Sportanlagen und damit mini- schluss unter einen besonderen Schutz gestellt. Eine um-
mal notwendigen Eingriffen in die Natur könnte ein grü- fassende Privilegierung verschiedener Akteure und Inte-
nes Erbe für die Region und für Deutschland geschaffen ressengruppen bringt uns ordnungspolitisch am Ende
werden. Zudem können durch Investitionen in Gold nicht weiter. Dennoch ist ein differenzierter Blick auf die
Standard für Klimaschutzprojekte auf allen fünf Konti- Problematik unverzichtbar: Unklar ist beispielsweise die
nenten circa 284 000 Tonnen CO2 eingespart werden. Beurteilung von sogenannten freien Jugendeinrichtun-
Dies ist jene Menge CO2, die durch den Luft- bzw. Rei- gen wie Bolzplätzen, Skate-und Basketballanlagen hin-
severkehr zu den Winterspielen unvermeidlich entstehen sichtlich des Lärms. Die Koalition wird dafür sorgen, bei
und so ausgeglichen werden könnten. Grundsätzlich sol- der Bundes-Immissionsschutzverordnung Bolzplätze in
len bei künftigen Bewerbungen um Sportgroßveran- die Privilegierung mit aufzunehmen. Mein Appell geht
staltungen in Deutschland Konzepte zum Schutz der na- an die Umsetzung der Landesverordnungen: Bei der
türlichen Lebensgrundlagen, des Klimas sowie für eine Ausweisung von Wohngebieten und Nutzungsplänen
nachhaltige Sport- und Regionalentwicklung unterstützt müssen künftig die Vereinbarkeit verschiedener Interes-
werden. senslagen stärker beachtet werden.
12888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Der Sport kann zusammen mit der Politik einen be- bildung – etwa in der Schule – gibt es bereits in ver- (C)
deutenden und vor allem nicht zu unterschätzenden Bei- schiedener Form. Doch wir müssen diese ausbauen,
trag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten. Lassen Sie sodass auch Erwachsene und somit unsere Gesellschaft
uns den Sport im Alltag wie zu Großsportereignissen als Ganzes Umwelt und Sport in einem Miteinander, als
und vor allem die Bürgerinnen und Bürger in den Verei- etwas Selbstverständliches erkennen.
nen weiterhin in ihrem Engagement für den Umwelt-
und Klimaschutz bestärken. Lassen Sie uns die Bereiche Ich bin dabei der festen Überzeugung, dass das Wer-
Sport und Umweltschutz nicht als Widersprüche oder ben für unsere Natur durch den Sport mit einem Werben
Gegensätze begreifen, sondern lassen Sie uns zusammen für den Sport verbunden werden muss, um erfolgreich zu
nach der Vereinbarkeit, der gegenseitigen Förderung und sein. Der Wunsch nach Bewegung in einem Teil der Ge-
innovativen Lösungsansätzen fragen. Eine dem Grund- sellschaft ist offensichtlich. Hier in Berlin wird mir das
satz der Wahrung der Schöpfung folgende christlich- immer sehr deutlich. Durch die Vielzahl von Marathon-
liberale Sportpolitik unterstützt den organisierten Sport läufen bleibt es mir präsent. Und das Verlangen nach Er-
auch künftig kraftvoll bei den gemeinsamen Herausfor- holung und Natur – auf der anderen Seite – ist unbestrit-
derungen, um den Klima- und Umweltschutz im und ten. Beim jüngsten Besuch der ITB, Internationale
durch den Sport weiter zu fördern. Tourismus-Börse, konnte man ein Wachstum der Zahl
der Anbieter von Naturtourismus im Bereich des Städte-
tourismus erkennen. Und an diese Suche nach Bewe-
Dieter Stier (CDU/CSU): „Im Namen aller Organi- gung der Bürgerinnen und Bürger und diese Sehnsucht
satoren und Beteiligten verspreche ich, dass wir an den nach Wald und Grün müssen wir andocken – mit Ange-
Olympischen Spielen teilnehmen und dabei unsere Um- boten, die sie in die Natur bringen – und – das ist das
welt schonen, die gültigen Regeln der Natur respektieren Entscheidende – die dies umweltverträglich gestalten.
und befolgen und uns dabei einem Sport der Nachhaltig- Weshalb also nicht durch gezielte Bürgerinformationen
keit und Umweltverträglichkeit und möglichst hoher auf die Vielfalt der sportlichen Aktivitäten in ihrer Nähe
CO2-Neutralität verpflichten, im wahren Geist der Sport- hinweisen, ihnen zeigen, welche Möglichkeiten für
lichkeit, für die Bewahrung unserer Umwelt und Schöp- sportliche Betätigung ihre Umgebung bietet und wie dies
fung und für die Zukunft nachfolgender Generationen.“ umweltverträglich erfolgen kann?
Nach erfolgreicher Bewerbung für die Olympischen Daher lassen Sie uns eine Kampagne mit auf den Weg
Winterspiele könnten wir uns in Anlehnung an den ak- bringen, in der wir nicht nur die Kinder in der Schule in-
tuellen Schwur der Kampfrichter mit diesem „Ökologi- formieren, sondern alle Bürger in ihrem jeweiligen Kiez
schen Olympischen Eid“ 2018 der Welt präsentieren. über ihren nahen Park, den Stadtwald oder die nahen
Die aktuelle deutsche München-Bewerbung ist beispiel- Sportplätze und über die individuellen Sportmöglichkei- (D)
(B)
haft in ihrer umweltverträglichen und ressourcenscho- ten dort aufklären.
nenden Konzeption. Das betrifft beispielsweise das
Sportflächenmanagement. Für 77 Prozent des Flächen- Eine andere Form der Aufklärung und Information
bedarfs greift man auf bereits existierende Sportareale müssen wir den Vereinen und Organisatoren von Sport-
zurück. 22 Prozent der skisportlich genutzten Flächen veranstaltungen offerieren. Diejenigen, die Sport für
werden dafür nur vorübergehend erbaut, sodass im Sinne andere organisieren, müssen wir als wichtige Multiplika-
einer umfassenden Umweltverträglichkeit der Flächen- toren für unser Anliegen eines „sportlichen Umwelt-
entzug gering ist. Allein die Fläche eines Fußballfeldes schutzes“ begeistern und unterstützen. Daher gilt ihnen
muss für die Durchführung der Olympischen und Para- unsere Aufmerksamkeit, als eine der ersten.
lympischen Winterspiele in München neu erschlossen Aber vergessen wir nicht diejenigen, die Infrastruktur
werden – ein Novum in dieser Qualität und Quantität. bereithalten: Betreiber, Sportvereine und Eigentümer
Ich wünsche mir, dass die Winterspiele aktive Vorbild- von Sportstätten. Dieser Gruppe müssen wir zum einen
wirkung für nationale große und kleine Sportveranstal- Handreichungen geben, die sie auf umweltfördernde
tungen haben werden. Programme hinweisen.
Denn auch die Bauplanung für das Olympische Dorf Entscheidend ist aber zum anderen, dass wir ihnen
und alle Fragen der Verkehrserschließung und Mobilität wirtschaftliche Anreize schaffen, ihren Sportstätten bau-
verfolgen das Ziel der Umweltverträglichkeit, um unse- liche Veränderungen zukommen zu lassen, die aktiv der
ren Lebens- und Sportraum „Natur“ aktiv zu bewahren. Umweltverträglichkeit dienen. Und zur Aufklärung ge-
Für das Anliegen des Umwelt- und Naturschutzes müs- hört ein Miteinander innerhalb der Bundes- und der Lan-
sen wir daher den Sport als umfassenden Partner weiter- desregierungen und der Verwaltungen Deutschlands.
entwickeln und den Sport als Medium für einen um- Um ein intelligentes Sanierungskonzept der deutschen
fassenden Umweltschutz begreifen und nutzen. Der Sportanlagen zu bekommen, müssen Sportverbände und
vorliegende Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP eben auch Vertreter der Belange des Natur-, Umwelt-
greift dabei dieses „rationale Interesse an einer nachhal- und Tierschutzes mit den Ebenen der Verwaltung früh-
tigen Nutzung und Nutzbarkeit des Raumes für das zeitig zusammenwirken.
Sporttreiben“ auf. Es gibt dafür verschiedene Ansätze,
die wir konsequent verfolgen müssen, wenn wir uns die- In diesem Antrag wird zum einen deutlich, wie kom-
sem wichtigen Thema aufrichtig und gewissenhaft plex der Umweltschutz ist. Zum anderen wird aber auch
verschreiben. Dazu gehört vor allem der Bereich der Bil- deutlich, dass dem Sport eine umfassende gesellschaftli-
dung und Kommunikation. Eine frühkindliche Umwelt- che Bedeutung zukommt. Wir müssen den Bürgerinnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12889

(A) und Bürgern auch ein Gebiet für Sport zugänglich ma- nie. Was läge also näher, als Sport und Nachhaltigkeit (C)
chen können, das eine gewisse Nähe zu ihrem Quartier politisch miteinander zu verbinden?
aufweist. Das bedarf auch eines gezielten Flächenma-
Dazu haben Sie nun einen Antrag vorgelegt, sehr ge-
nagements, das sich konkret auf sportliche Naherholung
ehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktio-
einstellt.
nen. In diesem Antrag stellen Sie eine ganze Reihe von
Auch im Jahr 2011 wird täglich eine Fläche von um- Forderungen auf, die durchaus lobenswert scheinen. Wir
gerechnet 200 Fußballfeldern versiegelt. Das entspricht als sozialdemokratische Fraktion begrüßen es ausdrück-
nicht dem Umweltschutz und muss im Rahmen der lich, dass auch Ihre Fraktionen mittlerweile bei der Er-
Nachhaltigkeit mit bedacht werden. Gerade auch im kenntnis angekommen sind, dass Klima- und Umwelt-
Hinblick auf die Endlichkeit des Hauptproduktionsmit- schutz auch in Verbindung mit anderen Politikfeldern
tels „Boden“ für die Landwirtschaft und auch im Hin- nicht im Abseits stehen muss. In Ihrem Antrag holen Sie
blick auf die gerade geführte Energiediskussion müssen zunächst einmal Anlauf.
wir davon wegkommen, immer mehr Fläche zu versie- Sie fordern die Unterstützung laufender Programme
geln. Dieser Antrag kann daher nur eine Ergänzung sein zur Umweltbildung für Kinder und Jugendliche, Pro-
für einen umfassenden Umweltschutz. Durch den Sport gramme zur Förderung und Beratung von Sportvereinen
werden wir einen weiteren wichtigen Beitrag leisten. zur nachhaltigen Sportstättensanierung und viele mehr.
Unsere Aufgabe ist es dabei auch, die Weichen für ein Grundsätzlich kann man dagegen eigentlich nichts sa-
reibungsloses Miteinander von Umwelt und Sport und gen. Ich wundere mich aber dennoch über das ein oder
von Sport und Gesellschaft zu ermöglichen: Bedenken andere. Ich wundere mich etwa darüber, dass Sie im Be-
wir also auch unsere bestehenden Standards und über- reich der Förderung von Sportstätten und deren Sanie-
prüfen wir deren Zweckmäßigkeit. Ich greife dafür zum rung großzügig Programme fordern, die dann von den
Beispiel die 18. Bundes-Immissionsschutzverordnung, Kommunen, den Ländern und den Landessportbünden
BImSchV, auf. umgesetzt werden müssen. Leider verschweigt der An-
trag, wie diese dafür bezahlen sollen. Beim Weitsprung
Wir müssen uns entscheiden was wir wollen; denn wären Sie damit schon übergetreten.
sportlich Aktive sind selten lautlos. Vielleicht wenn man
sie im Fitnesscenter trifft, hinter schalldichten Fenster- Ich wundere mich auch darüber, dass Ihre beiden
scheiben, auf energieverbrauchenden Geräten, inmitten Fraktionen scheinbar so wasserscheu sind, dass Ihr An-
einer Natur-Doku auf einem der Plasmafernseher zwi- trag die vielen Wassersportarten an und unter der Ober-
schen den einzelnen Sportgeräten. Aber wenn man Natur fläche komplett ignoriert. Im Wasser, in den Meeren,
nicht nur virtuell erleben möchte, kann man Lärm nicht Flüssen und Seen, zeigen sich die Folgen des Klimawan-
(B) immer vermeiden. Wir wollen Natur- und Sportverbun- dels zum Teil deutlich früher als an Land. Daher ist es (D)
dene. Dann lassen Sie uns auch die Immissionsricht- bedauerlich, dass Ihr Antrag bestehende Programme, mit
werte von Sportanlagen überdenken. Dazu will ich gern denen Wassersportverbände seit langem ihre Mitglieder
den Vergleich zum sogenannten Kinderlärm suchen und einbinden, um Veränderungen an den Biotopen, in denen
zum Abschluss einmal in Anlehnung an das Oberverwal- sie ihren Sport ausüben, zu dokumentieren, ignoriert.
tungsgericht Münster einen Ausblick für den Sport wa- Es ist aber nicht nur die Tiefe, die Sie in Ihrem Antrag
gen: „… Lärm, der von sportlich Aktiven ausgeht, ist scheuen. Sie übersehen auch die Alpen – was man erst
grundsätzlich allen Menschen zumutbar. Wer Sportlärm einmal schaffen muss. Vor 20 Jahren haben sich die
als lästig empfindet, hat selbst eine falsche Einstellung Staaten des Alpenbogens in der Alpenkonvention mit
zu Sport.“ Wie Sie wissen, haben wir in dieser Sitzungs- dem Ziel zusammengeschlossen, den Alpenraum zu er-
woche bereits das Bundes-Immissionsschutzgesetz in halten. Es gibt Zusatzprotokolle, die sich mit verschiede-
Bezug auf Kinderlärm entrümpelt, auch in Richtung nen Aspekten dieses Vorhabens befassen, etwa mit Ver-
Sportanlagen sollten wir diesen Gedanken aufgreifen. Es kehr, Tourismus und Naturschutz. Die Bundesrepublik
geht um einen gesunden Interessenausgleich. Und um hat diese Protokolle ratifiziert; sie bilden eine grenzüber-
nichts anderes ist dieser Antrag bemüht: um einen Inte- schreitende Grundlage für nachhaltige Sportpolitik im
ressenausgleich zwischen Natur und Sport, zwischen und am Berg. Folgen des Klimawandels, etwa auftau-
Umwelt und Gesellschaft. Daher bitte ich um Ihre unge- ende Permafrostböden, schmelzende Gletscher und re-
teilte Zustimmung. gelmäßige Unwetter, schaden der sportlichen Nutzung
des Alpenraumes und führen zu Symptombehandlungen
Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): Sportlich ist
wie der Verbreitung von Schneemaschinen, durch die die
Ursachen der Veränderungen jedoch nur kaschiert wer-
das Jahr 2011 vollgepackt mit Ereignissen, Veranstaltun-
den.
gen und Entscheidungen. Wir hatten vor einigen Wochen
die Turn-Europameisterschaft in Berlin, wir zählen die Die extremen Lebensräume, die Ozeane und Gipfel
Tage bis zum Beginn der Endrunde der Fußball-WM der sind es, die als erstes den Klimawandel spürten. Sie sind
Frauen in unserem Land, und wir warten mit Spannung es, die wirtschaftlich oft am stärksten von sportlicher
auf die Entscheidung über die Olympischen und Para- Nutzung abhängen. Sie sollten daher auch in einer nach-
lympischen Winterspiele 2018, für deren Austragung haltigen Sportpolitik gebührende Erwähnung finden.
sich die Städte München und Garmisch-Partenkirchen Eine Erwähnung der Konvention in Ihrem Antrag, die
bewerben. Gleichzeitig sind die Themen Umweltschutz Forderung, sie als völkerrechtliche Grundlage zu stär-
und Nachhaltigkeit in der Öffentlichkeit so präsent wie ken, die Aufforderung an die Bundesregierung, hinsicht-
12890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) lich der Ratifizierung der relevanten Zusatzprotokolle Sie haben in Ihrem Antrag unter Punkt eins auch das (C)
auf die Schweiz einzuwirken, wäre daher wünschens- Thema „Lärm und Sportanlagen“ angesprochen sowie
wert gewesen. die Unklarheiten in der Beurteilung von „sog. freien Ju-
gendeinrichtungen wie Bolzplätzen, Skate- und Basket-
Ich wundere mich bei Ihrem Antrag auch ein wenig ballanlagen hinsichtlich des Lärms, der im Rahmen der
darüber, dass Sie konsequent im Windschatten bleiben sportlichen Betätigung von Jugendlichen ab 14 Jahren
und Ihr Antrag sich darauf beschränkt, Vorschläge zu ausgeht“. Gestern haben wir über einen Gesetzentwurf
sammeln, die an anderer Stelle erarbeitet wurden. der Bundesregierung zur Privilegierung von Kinderlärm
Gleichzeitig lässt Ihr Antrag aber Hinweise auf Institu- im Plenum diskutiert. In der zweiten Lesung hat die
tionen vermissen, die sich nachhaltig und intensiv mit SPD-Bundestagsfraktion einen Änderungsantrag einge-
der Problematik auseinandersetzen. So erwähnen Sie bracht, der genau dieses Ziel verfolgt, nämlich die Privi-
noch nicht einmal die Arbeit des Kuratoriums Sport & legierung von Lärm auf Spielstätten für Jugendliche bis
Natur, das Sportvereine und -verbände mit über 3 Millio- zum 18. Lebensjahr. Diesen Änderungsantrag haben Sie
nen Mitgliedern vertritt und – der Name sagt es bereits – abgelehnt. Für mich stellt sich insofern die Frage nach
sich dezidiert mit den Problemen auseinandersetzt, die der inneren Logik und Nachvollziehbarkeit Ihrer parla-
Sie in Ihrem Antrag angehen wollen. Ich wundere mich mentarischen Initiativen. In Ihrem Antrag haben Sie die
darüber, dass Sie sich der gesellschaftlichen und wirt- Bundesregierung aufgefordert, einen Preis für besonders
schaftlichen Bedeutung des Sports bewusst sind, aber gute Beispiele auszuloben, die umweltfreundliche Sport-
beispielsweise nicht auf die Idee kommen, eine Forde- anlagen mit dem Tourismus verbinden. An dieser Stelle
rung hinzuzufügen, bei künftigen Gesetzesänderungen hätte es sich angeboten, einen Sportbereich zu erwähnen,
auch die betroffenen Bundesverbände des Sports zu kon- der auf der einen Seite Tausenden Bürgerinnen und Bür-
sultieren. An dieser Stelle sind Sie mit Ihrem Antrag gern Spaß und Erholung in der Freizeit bietet und zu-
dann wiederum zu kurz gesprungen. Ich wundere mich gleich in weiten Bereichen dem Ansatz gerecht wird,
auch sehr darüber, dass Sie dem Deutschen Bundestag klima- und umweltverträglich zu sein. Ich meine hier
einen Antrag vorlegen, in dem einer nachhaltigen Sport- den Wassersport, bei dem in über 5 000 Mitgliedsverei-
politik explizit ein „christlich-liberaler“ Stempel aufge- nen über 800 000 Mitglieder organisiert sind, von denen
drückt werden soll. Der Klimawandel hat seinen Ur- viele ehrenamtliche Arbeit leisten. In den unterschiedli-
chen Sparten des Wassersports in Deutschland gibt es
sprung in menschlichem Handeln, unabhängig von
hohe Erwartungen an die Politik, die Rahmenbedingun-
Parteizugehörigkeit, und die Folgen des Klimawandels
gen für den Wassersport und Wassertourismus in
werden parteiübergreifend von uns und den folgenden
Deutschland zu verbessern.
Generationen getragen werden. Außerdem benötigt man
(B) kein Parteibuch irgendeiner Couleur, um sich an Sport Die Bundesregierung steht in der Pflicht und Verant- (D)
zu erfreuen. Schutz von Klima und Umwelt ist, sei es im wortung, zwei Anträge zum Wassertourismus aus der
Sport oder in anderen Lebensbereichen, zu bedeutend, letzten Legislaturperiode, für die sich die SPD-Bundes-
um ihn zum Spielball einer Partie parteipolitischen Ping- tagsfraktion besonders eingesetzt hatte, abzuarbeiten.
Pongs zu machen. Hier muss die Bundesregierung nunmehr Kreativität ent-
wickeln, um dem Auftrag des Bundestages gerecht zu
Wenn es Ihnen also ernst ist mit den Anliegen, die Sie werden und die berechtigten Erwartungen der Wasser-
beschreiben, wenn Sie wirklich etwas bewegen wollen, sportler zu erfüllen. Aus dem Kreis der Wassersportver-
wenn Sie etwas verändern wollen, dann sprechen Sie mit bände nenne ich die Bereiche des Kanutourismus und
uns. Beziehen Sie die Oppositionsfraktionen ein. Ihr An- des Kanusports, die beide in herausgehobener Weise
trag enthält viel Richtiges und Wichtiges, aber er hat klima- und umweltfreundlich betrieben werden.
auch seine Schwächen. Wir bieten Ihnen an, gemeinsam Deutschland hat ein rund 10 000 Kilometer langes zu-
an einer nachhaltigen Sportpolitik zu arbeiten, die sich sammenhängendes Wasserwegenetz, ergänzt durch zahl-
keine parteipolitischen Leibchen überzieht, sondern sich reiche Seen. In diesen Wassergebieten betreiben über
der bestehenden Probleme annimmt. Gerne können wir 6 Millionen Bürgerinnen und Bürger Wassersport. Die in
dafür den heute hier vorgelegten Antrag als Startpunkt den Wassersportverbänden organisierten Ehrenamtler
verwenden. Ein altes Sprichwort sagt schließlich, dass und hauptberuflich Tätigen, aber auch die kleine Unter-
man auch auf einem hinkenden Pferd formidabel reiten nehmen in diesem Bereich schauen mit großer Sorge auf
kann. Andernfalls wird es wohl dabei bleiben: viel An- die Pläne der Bundesregierung in Verbindung mit der
lauf genommen, leider übergetreten und dann noch zu Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Beide
kurz gesprungen. Reformentwürfe enthalten Kategorisierungen für die
Binnenwasserstraßen, die bei den Wassersportverbänden
auf Unverständnis stoßen, auch bei den gewerblichen
Hans-Joachim Hacker (SPD): Die Koalitionsfrak- Binnenschiffern und den kleinen Unternehmen, die
tionen haben einen Antrag vorgelegt, der die Integration Boote und Kanus vermieten.
der wichtigen Politikfelder Klima- und Umweltschutz
sowie Sport enthält. Als Ziel wird eine verantwortungs- Für die SPD-Bundestagsfraktion sage ich: Auch wir
volle Sportentwicklung in Deutschland beschrieben. Ich kritisieren Ihre Reformpläne, auch wenn von den Koali-
gehe davon aus, dass Sie damit den Sport in seiner gan- tionsfraktionen zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen
zen Breite meinen und hierbei auch die vielen Tausende – man schaue sich diese bunte Koalition an – nun die
Ehrenamtler in Ihre Überlegungen einbeziehen. Abkoppelung der Kategorisierung der Binnenwasser-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12891

(A) straßen von der WSV-Reform im Haushaltsausschuss in darf aber nicht zu einer grenzenlosen Ausnutzung unse- (C)
dieser Woche beschlossen wurde. Ich fordere die Koali- rer Natur führen.
tionsfraktionen auf: Bleiben Sie bei der Verfolgung Ihres
Wir müssen begreifen, dass es sich beim Verhältnis
Antrags nicht bei Lippenbekenntnissen!
von Natur zu Mensch und umgekehrt um eine symbioti-
Denken Sie daran, welche Leistungen der organisierte sche Verbindung handelt. Es ist also wichtig, dass wir
Wassersport wie auch die Sport- und Freizeitschifffahrt die Natur nicht nur als Ressource benutzen, sondern uns
in der Vergangenheit erbracht haben. Sie müssen klare auch ihrem Schutz vor Ausbeutung und Verschmutzung
Antworten geben, was bei der WSV-Reform unter „Was- widmen. So begründet sich ein umweltbewusster Sport
sertourismusnetz“ konkret zu verstehen ist. Welche Per- in dem rationalen Interesse an einer nachhaltigen Nut-
spektiven erhalten oder eröffnen Sie für den Wassertou- zung und Nutzbarkeit des Raumes für das Sporttreiben.
rismus und den Wassersport? Und wie sichern Sie, dass Es gilt also, steigende Ansprüche, eine nachhaltige Leis-
die von gemeinnützigen Wassersportvereinen in den zu- tungsfähigkeit und gesellschaftliches Wohlergehen mit-
rückliegenden Jahrzehnten geschaffenen mitglieder- einander zu vereinbaren. In diesem Sinne werden schon
finanzierten Sportanlagen und die mit öffentlichen Mit- seit langem zahlreiche Anstrengungen durch die Bun-
teln, insbesondere im Zuge des Aufbaus Ost, wieder desregierung in Kooperation mit den Sportverbänden,
geöffneten, ausgebauten und modernisierten Infrastruk- den Vereinen und den Sporttreibenden unternommen,
tureinrichtungen erhalten bleiben? Darauf müssen Sie die wir weiter unterstützen und intensivieren müssen.
– damit meine ich die Bundesregierung und die Koali- So halten wir es für unerlässlich, dass die Umweltbil-
tionsfraktionen – Antworten geben, und zwar recht bald. dung und Umweltkommunikation bei Kindern und Ju-
Die vielen Wassersportlerinnen und Wassersportler, die gendlichen, aber auch bei Erwachsenen in den Fokus un-
Wassertouristen und kleinen Unternehmen in diesem Be- serer Bemühungen rücken. Zum Sport gehört manchmal
reich haben ein Recht darauf. leider auch Lärm. Man hört ja hier und da von Spannun-
gen, die es manchmal zwischen jugendlichen Fußballbe-
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Der vorliegende geisterten und etwas älteren Anwohnern in der näheren
Antrag beschäftigt sich mit der Frage, wie Umwelt- und Umgebung von Bolzplätzen gibt. In Kenntnis solcher
Klimaschutz durch den Sport gestärkt und gefördert wer- Differenzen fordern wir in unserem Antrag, dass bei der
den können. Lassen Sie mich diesbezüglich auf einige Lärmbeurteilung von sogenannten freien Jugendeinrich-
Dinge eingehen, die mir besonders wichtig erscheinen. tungen Rechtssicherheit zu schaffen ist, etwa durch die
Aufnahme von neuen, nicht zu engen Immissionsricht-
Ich denke wir kennen folgenden Tagesablauf alle: werten und Öffnungszeiten in die Sportanlagenlärm-
Man steht morgens auf, bringt die Kinder zur Schule, be- schutzverordnung. Dabei ist aus unserer Sicht allerdings
(B) gibt sich dann voller Arbeitseifer ins Büro, und nach ei- (D)
wichtig, die staatliche Kontrolle der Spielgewohnheiten
nem langen Tag fallen noch all die kleinen Alltagstätig- unserer Kinder nicht zu scharf zu gestalten. Klartext:
keiten an, die der heimische Haushalt bereithält. Da Auch wenn es in puncto Lärm auf gegenseitige Rück-
bleibt wenig Zeit zur Entspannung. Es verwundert daher sichtnahme ankommt, kann es nicht sein, dass wir Fuß-
nicht, dass der moderne Mensch sich nur sehr selten in ball spielende Jungen und Mädchen per Gesetz um Punkt
der freien Natur aufhält. Umso wichtiger ist es aus mei- 18 Uhr zurück an ihre heimischen Spielkonsolen schi-
ner Sicht, dass wir als Politiker uns dafür einsetzen, dass cken. Erst recht nicht, wenn wir uns im selben Augen-
den Menschen in unserer schnelllebigen Welt, die so voll blick um den grassierenden Bewegungsmangel dieser
von den verschiedensten Anforderungen ist, die Natur Generation sorgen. Hier ist Augenmaß gefragt!
als Erholungsraum für Sport und Freizeit erhalten bleibt.
Dass ein dementsprechendes Interesse vorhanden ist, Ich will an dieser Stelle auch einmal sagen, dass man
zeigt uns beispielsweise die seit Jahren boomende Lauf- nicht alles rechtlich regeln muss, was man theoretisch
bewegung mit einer Vielzahl an Veranstaltungen, wie rechtlich regeln könnte. Ich möchte jeden Menschen in
Marathon- und Crossläufen; beispielhaft genannt seien Deutschland dazu auffordern, nicht immer gleich einen
hier der Rennsteiglauf und natürlich der Berlin-Mara- Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, sondern im Wege der
thon. Auch die wachsende Begeisterung für den Rad- Kommunikation zu einem Interessenausgleich zu kom-
sport beweist, dass Sport im Freien für viele Menschen men, ohne dass Gerichte entscheiden müssen.
heute zu einem erfüllten Leben gehört. So verzeichnete Ein weiteres Anliegen ist uns das bürgerschaftliche
der Velothon, der vergangenes Wochenende in Berlin Engagement im Sport. All denen, die sich ehrenamtlich
stattfand, eine Teilnehmerzahl von 13 000 Radsportbe- im Sport als Trainer, Jugendbetreuer oder Ähnliches en-
geisterten. Mit dem „Peakbreak“ (Österreichs erstes gagieren, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Wir müs-
Etappenradrennen für jedermann) gibt es mittlerweile sen uns überlegen, wie wir solchen Einsatz noch mehr
auch für Hobbyradler die Möglichkeit, an einem Radren- fördern können, gerade auch im Hinblick auf ökologi-
nen über mehrere Etappen durch die Alpen teilzuneh- sche Aspekte.
men. Bei der diesjährigen Ausgabe des Rennens wird
über sieben Etappen eine Distanz von über 1 000 Kilo- Noch ein paar Anmerkungen zu Sportgroßveranstal-
metern unter Überwindung von 18 000 Höhenmetern zu tungen. Wir sind uns, glaube ich, alle bewusst, dass eine
bestreiten sein. Man sieht also, dass das Bedürfnis der Sportgroßveranstaltung wie die Olympischen Spiele zu
Menschen nach sportlichen Herausforderungen auch sei- Belastungen für die Umwelt führt. Daher fordern wir in
tens der Wirtschaft aufgegriffen wird, indem immer diesem Antrag ja auch, dass bei der Bewerbung und
mehr solcher Veranstaltungen organisiert werden. Das Austragung solcher Veranstaltungen Fragen der Umwelt
12892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) und einer nachhaltigen Regionalentwicklung Rechnung Drittens. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesre- (C)
getragen wird. Natürlich können selbst dann Verände- gierung umfasst zeitlich und quantitativ definierte und
rungen einer Region nicht auszuschließen sein. Aber wir zum Teil sehr anspruchsvolle Ziele. Zum Beispiel die
müssen uns bewusst machen, dass es mit einer Haltung, Flächenneuversiegelung von nicht mehr als 30 Hektar
wie sie die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/ pro Tag, das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber durch fehlende
Die Grünen an den Tag legen, sehr ruhig in Deutschland konkrete Maßnahmen derzeit überhaupt nicht zu errei-
zuginge. Denn die Konsequenz aus einem unbedingten chen. Hinzu kommt, dass bei sinkenden Bevölkerungs-
und absoluten Schutz der Umwelt und damit dem Vor- zahlen der Wert im Grunde nach unten korrigiert werden
rang der Interessen der Wälder vor denen der Menschen müsste!
wäre doch, dass sportliche Großveranstaltungen gar
nicht mehr stattfinden! Kein Olympia, kein Sommermär- Sie sehen, die Latte der Anforderungen wird immer
chen, keine Leichtathletik-WM und kein DFB-Pokal in so hoch gelegt, dass man bzw. die Bundesregierung be-
Berlin, zu dem erst am Wochenende so viele Schalker quem darunter durchlaufen kann.
und Duisburger Fans friedlich und mit Bus und Bahn an- Der Antrag zum Klima- und Umweltschutz im Sport
reisten, um gemeinsam ein Fußballfest zu feiern. zeigt eine Reihe von Themen auf, die durchaus in die
Deutschland wäre nicht nur ein ruhiges, nein, auch ein richtige Richtung gehen. Es sind aber nur Absichtsbe-
sehr trauriges Land. Das würde auch das Ende jeden ge- kundungen, konkrete Maßnahmen fehlen.
sellschaftlichen Miteinanders bedeuten.
Ich möchte auf drei Anstriche Ihres Antrages einge-
Wichtig ist, und deshalb haben wir es in diesen Antrag hen:
auch aufgenommen, dass der Dialog zwischen der Bun-
desregierung, den Bundesländern, den Bundessportfach- Sie möchten Rechtssicherheit bei der Lärmbeurteilung
verbänden, den Verbänden der Eigentümer und Nutzer von sogenannten freien Jugendeinrichtungen wie Bolz-
wie auch den beteiligten Sport- und Umweltorganisatio- plätzen, Basketballanlagen oder Skateanlagen schaffen.
nen konstruktiv weitergeführt wird, um unter anderem Die Linke hatte diesbezüglich einen Antrag eingebracht,
Konzepte zum Abbau des Sanierungsstaus bei Sportanla- den Sie alle hier im Haus abgelehnt haben. Derzeit – ich
gen zu entwickeln. Dieser Punkt ist existenziell, denn wiederhole mein Beispiel aus dem Sportausschuss – sind
wenn wir nicht wollen, dass unsere Kinder nur in Ein- Frösche bei der Ausübung ihres Lärms mehr geschützt als
kaufszentren und Innenstädten herumlungern und vor die Kinder und Jugendlichen auf den Sportanlagen in
lauter Langeweile zu Drogen greifen oder sich ins Koma Wohnanlagen. Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil
trinken, dann müssen wir ihnen auch Alternativen bieten! festgestellt, dass zwar massive Störungen der Nachtruhe
Deshalb ist es wichtig, gemeinsam mit den Vereinen die durch Froschlärm gelegentlich für den Nachbarn nicht
(B) Sportstättensanierung weiter voranzutreiben. zumutbar seien, aber alle Frösche nach § 44 Bundesnatur- (D)
schutzgesetz geschützt sind. Weder dürfen sie entfernt
Wer also für ein sportliches Deutschland ist, wer noch Teiche zugeschüttet oder Froschlaich entnommen
Freude am Sport leben will, der stimmt unserem Antrag werden.
zu.
Im federführenden Umweltausschuss herrschte die
Meinung, dass man Kindern in ihrem Lautverhalten
Katrin Kunert (DIE LINKE): In Sachen Klima- und beim Sport nicht beeinflussen könne, wogegen Jugendli-
Umweltschutz sieht sich die Bundesregierung gegenüber che und Erwachsene auf ihre „Lärmemissionen“ achten
anderen Staaten gern in der Vorreiterrolle und ist mutig könnten. Mit dieser Begründung haben Sie unseren An-
beim Äußern von ambitionierten Zielen. Problematisch trag abgelehnt. Insofern wollen Sie nur ein bisschen
wird es hingegen, wenn die geäußerten Selbstverpflich- Rechtssicherheit bei der Lärmbeurteilung.
tungen nicht zielstrebig umgesetzt werden.
Zweites Beispiel: die Waldstrategie. Hier wollen Sie
Nun muss die christlich-liberale Sportpolitik ein- den Sport in die Waldstrategie 2020 einbinden. Ich frage:
schreiten und legt mit einem entsprechenden Antrag eine in welche Strategie? Es wurde zwar angekündigt, Ende
Messlatte auf. Die Koalition nimmt Anlauf, aber wagt Januar 2011 die Waldstrategie vorzustellen. Bisher gibt
den Absprung nicht. Ich will das an drei Beispielen deut- es zwei Entwürfe dazu, aus dem Jahr 2010 und 2011.
lich machen:
Drittes Beispiel: die Sportstätten in Deutschland. Im
Erstens. Das 30-Prozent-Ziel bei der Reduktion von letzten Anstrich Ihres Antrages wollen Sie „den Dialog
Treibhausgasen bis 2020 zu erreichen, wäre für Deutsch- zwischen der Bundesregierung, den Bundesländern, den
land ein Leichtes. Schon im Jahr 2009 lagen die Emis- Bundessportfachverbänden … um unter anderem Kon-
sionen 29 Prozent niedriger als 1990. Zudem sind die zepte zum Abbau des Sanierungsstaus bei Sportanlagen
Klimaschutzziele nicht gesetzlich geregelt, was keinerlei zu entwickeln.“ Es gab über Jahre in Deutschland den
Sanktionen bei Missachtung zur Folge hat. Die Bundes- „Goldenen Plan“, nach 1990 den „Goldenen Plan Ost“,
regierung kann also ihre Ziele in alle Richtungen anpas- beide haben bis vor wenigen Jahren erhebliche Unter-
sen, ohne das Parlament zu beteiligen. stützung bei der Sanierung von Sportstätten geleistet.
Der Grund für die Einführung dieser Pläne lag im im-
Zweitens. Die Meeres- und die Waldpolitik der Bun- mens hohen Sanierungsbedarf. Im Jahr 2010 haben Sie
desregierung sind hauptsächlich an wirtschaftlichen In- mit großer Mehrheit hier im Haus diesen Plan ersatzlos
teressen ausgerichtet und weniger am Naturschutz. gestrichen, auch wenn Staatssekretär Bergner immer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011 12893

(A) gern sagt, er sei ausgelaufen. Ich sage: Er wurde beer- Bundesregierung bei der Umsetzung der Forderungen (C)
digt! Ihres Antrags zu unterstützen. Es müssen allerdings kon-
krete Mittel dafür bereitgestellt werden, anstatt nur da-
Es gibt derzeit einen Sanierungsstau von circa 42 Mil- rüber zu reden.
liarden Euro bundesweit. Ein Großteil der Sportanlagen
wurde in den 70er-Jahren gebaut und entspricht heute Der Antrag vertritt außerdem die Auffassung, dass die
kaum mehr den Anforderungen in Sachen Barrierefrei- Bundesregierung und die Sportverbände durch Leitpro-
heit, Sicherheit und energetische Standards. Hauptpro- jekte schon jetzt in vielen Bereichen ihrer Verantwortung
blem bei der Sanierung der Sportstätten ist die desolate gerecht würden. Ein paar begrüßenswerte Leitprojekte
Finanzausstattung der Kommunen. Deshalb kritisiere ich sind aus grüner Sicht jedoch noch nicht genug. Von
an Ihrem Antrag, dass die Kommunen auch nicht als „Verantwortung gerecht werden“ kann erst dann die
„Dialogpartner“ genannt werden. Die Kommunen leis- Rede sein, wenn verbindliche Standards auf allen Ebe-
ten den Löwenanteil an der Unterhaltung von Sportanla- nen zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Davon
gen. Insofern brauchen wir zur Beseitigung des Sanie- sind wir noch weit entfernt. Wir dürfen uns nicht bloß
rungsstaus nicht wirklich ein Konzept, sondern vielmehr für Nachhaltigkeitskonzepte einsetzen, wie es Ihr Antrag
eine wirksame finanzielle Unterstützung für die Kom- fordert, sondern wir müssen sie für alle Sportgroßveran-
munen und sonstigen Träger von Sportanlagen! Auch staltungen verbindlich machen und könnten uns damit
hier lehnen Sie seit Jahren unseren Vorschlag für einen noch deutlicher, auch international, an die Spitze der Be-
gesamtdeutschen „Goldenen Plan“ mit einem Volumen wegung stellen.
von 50 Millionen Euro pro anno ab! Und nach all dem
von mir Gesagten: Würden Sie Ihren Antrag als wir- Umweltschutz ist kein Selbstläufer. Sie loben zu
kungsvoll und zielführend bezeichnen? Recht die Nachhaltigkeitskonzepte der Fußballweltmeis-
terschaft der Frauen und der Olympiabewerbung 2018.
Doch wer hat viele Jahre lang für diese Nachhaltigkeits-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE konzepte gekämpft? Wer sorgt durch mühevolle Detail-
GRÜNEN): Zunächst einmal möchte ich meine große arbeit dafür, dass Vereinbarungen nicht nur Lippenbe-
Freude darüber ausdrücken, dass die Regierungskoali- kenntnisse bleiben? Es sind besorgte Bürgerinnen und
tion sich eines Themas annimmt, das bei uns Grünen seit Bürger, die sich nicht ausreichend einbezogen fühlen. Es
langem eine wichtige Rolle spielt: die Funktion des sind die Naturschutzverbände und es sind grüne Politike-
Sports für einen positiven Umgang mit Natur. Weder der rinnen und Politiker von der Kommunal- bis zur Bundes-
Individual- noch der organisierte Sport sind jedoch per ebene. Das Umwelt- und Nachhaltigkeitskonzept der
se Umweltschützer. Naturräume sind durch den Sport Olympiabewerbung München 2018 kann im Falle des
(B) ebenso starken Belastungen ausgesetzt. Es ist also gut, Zuschlags dazu dienen, die negativen Auswirkungen auf (D)
seitens des Gesetzgebers eine systematische Verknüp- die Umwelt so gering wie möglich zu halten.
fung von Umwelt- und Klimaschutz mit dem Sport ein-
zufordern. Nun gilt es, zu schauen, mit welchen Mitteln Angesichts der Vorbehalte gegenüber der Bewerbung
Sie dies versuchen und wie Sie die Akteure für eine ak- in Teilen der Bevölkerung vor Ort und innerhalb der Par-
tive Mitarbeit gewinnen wollen. tei Bündnis 90/Die Grünen halte ich es jedoch für eine
bodenlose Übertreibung, dass dieses Konzept laut Ihrem
Richtig ist: Die Natur ist einerseits ein wichtiger Antrag „Sport im Einklang mit der Natur“ ermöglichen
Raum für den Sport. Andererseits ist sie vielfältigen ne- soll. Wie nachhaltig das Konzept, das derzeit vorliegt,
gativen Auswirkungen durch den Sport ausgesetzt. Rich- tatsächlich ist, ließe sich jedoch erst nach Abschluss der
tig ist weiterhin – in Ihrem Antrag explizit genannt –, Olympischen Spiele beurteilen. Der Umweltschutz hat
dass Umweltbelastungen und Schäden durch Sportakti- sich durch das kontinuierliche Engagement besorgter
vitäten nach dem Verursacherprinzip getragen werden Bürgerinnen und Bürger etabliert. Es waren Menschen,
müssen und nicht auf Dritte abgewälzt werden dürfen. die nicht lockergelassen haben. Solange die Kritik der
Negative externe Effekte gibt es nicht nur beim Sport- Gegnerinnen und Gegner im Raum steht, dürfen wir da-
treiben; aber eben auch hier müssen sie mit in die Ge- her auch bei der Olympiabewerbung 2018 nicht denken,
samtkalkulation einfließen. Wir Grünen teilen und be- unsere Hausaufgaben seien gemacht.
grüßen diese Einschätzung der Koalition. Wir haben dies
seit Jahren gefordert. In Ihrem Antrag loben Sie das Kapitel „Sport und
Umwelt“ im 12. Sportbericht der Bundesregierung. Ihrer
Internalisierung dieser Kosten bedeutet allerdings Meinung nach dokumentiere dieses Kapitel anschaulich
auch an vielen Stellen Erhöhung der Kosten für die Be- die eben erwähnte These, dass der organisierte Sport be-
teiligten. Davon ist in Ihrem Antrag nichts zu lesen. Da- reits in „vielen Bereichen seiner Verantwortung gerecht“
mit ist er vielmehr ein „Wohlfühlantrag“ und keine ehr- werde. In einem 130-seitigen Bericht sind das allerdings
liche Analyse der notwendigen Schritte. Was bedeutet es nur etwas mehr als zwei Seiten, und zwar im vorletzten
denn konkret, Schäden durch den Sport bei uns oder in der sechs Teile des Berichts. Das Thema Umwelt ist ein
anderen Regionen der Welt zu verringern, auszugleichen klassisches Querschnittsthema und muss sich damit
und die Kosten dafür zu tragen? Wir brauchen mehr Um- durch alle Bereiche ziehen. Mein Vorschlag wäre, wenn
weltbildung für Kinder und Jugendliche, mehr Be- ich Ihrem Antrag Glauben schenken darf, dass ein Kapi-
ratungsangebote für die Sportvereine sowie umfang- tel „Sport und Umwelt“ auch ganz zentral im ersten Teil
reichere Forschungsprojekte am Bundesinstitut für vorkommt. Der heißt nämlich: „Allgemeine Rahmenbe-
Sportwissenschaft. Wir sind gerne bereit, Sie und die dingungen der Sportpolitik“.
12894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. Mai 2011

(A) Anlage 3 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (C)


Drucksache 17/5434 Nr. A.6
Amtliche Mitteilungen Ratsdokument 7017/11
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Verbraucherschutz
nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 17/5434 Nr. A.9
EP P7_TA-PROV(2011)0076
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik Drucksache 17/1492 Nr. A.29
für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2009 (Rüs- Ratsdokument 7370/10
tungsexportbericht 2009) Drucksache 17/3608 Nr. A.33
Ratsdokument 13767/10
– Drucksachen 17/4200, 17/4588 Nr. 1.1 – Drucksache 17/5123 Nr. A.18
Ratsdokument 6571/11
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Technikfolgenabschätzung
Verkehrsinvestitionsbericht 2010 Drucksache 17/3955 Nr. A.18
– Drucksachen 17/4980, 17/5269 Nr. 1 – Ratsdokument 14035/10
Drucksache 17/5123 Nr. A.21
Ratsdokument 6525/11
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 17/5123 Nr. A.22
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Ratsdokument 6528/11
Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei-
ner Beratung abgesehen hat.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/5123 Nr. A.23
Drucksache 17/5123 Nr. A.3 EuB-EP 2136
Ratsdokument 6163/11 Drucksache 17/5302 Nr. A.11
Drucksache 17/5434 Nr. A.1 Ratsdokument 6957/11
(B) EP P7_TA-PROV(2011)0095 Drucksache 17/5302 Nr. A.12 (D)
Drucksache 17/5434 Nr. A.3 Ratsdokument 6960/11
Ratsdokument 7569/11 Drucksache 17/5434 Nr. A.17
Drucksache 17/5434 Nr. A.4 EP P7_TA-PROV(2011)0082
Ratsdokument 7592/11
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Innenausschuss Union
Drucksache 17/4116 Nr. A.4 Drucksache 17/3791 Nr. A.20
Ratsdokument 15614/10 Ratsdokument 14679/10
Drucksache 17/4927 Nr. A.10 Drucksache 17/4338 Nr. A.24
Ratsdokument 6007/11 Ratsdokument 16336/10
Drucksache 17/5302 Nr. A.8
Ratsdokument 7044/11
Ausschuss für Kultur und Medien
Drucksache 17/4598 Nr. A.24
Haushaltsausschuss Ratsdokument 18211/10
Drucksache 17/5447 Nr. A.1 Drucksache 17/4768 Nr. A.16
EuB-BReg 157/2011 Ratsdokument 5160/11
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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