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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
108. Sitzung
Inhalt:
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ der Fraktion der FDP: Umfassende Da-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12334 B tenbasis für Nutzungsmöglichkeiten des
Untergrunds schaffen
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12335 C (Drucksache 17/3056) . . . . . . . . . . . . . . . 12354 A
Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12336 C Katherina Reiche, Parl. Staatssekretärin
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . . 12337 C BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12354 B
Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 12338 D Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12355 C
Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12339 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) 12357 A
Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12340 C Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12358 A
Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12359 A
Tagesordnungspunkt 7: Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12359 A
Große Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf, Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 12359 C
Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordne- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
ter und der Fraktion der SPD: Engagement- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12360 B
politik im Dialog mit der Bürgergesell-
schaft Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12361 C
(Drucksachen 17/3712, 17/5135) . . . . . . . . . . 12341 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 12362 C
Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12341 D Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12343 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12362 D
Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12345 C Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12363 D
Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12346 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 12364 B
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 12364 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12347 D
Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12349 B Tagesordnungspunkt 9:
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12350 C Antrag der Abgeordneten Raju Sharma, Jan
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 12351 D Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE: Grund-
Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12352 D rechte der Beschäftigten von Kirchen und
kirchlichen Einrichtungen stärken
(Drucksache 17/5523) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12365 C
Tagesordnungspunkt 6:
Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12365 D
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 12367 A
zes zur Demonstration und Anwendung Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12368 B
von Technologien zur Abscheidung,
zum Transport und zur dauerhaften Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 12368 D
Speicherung von Kohlendioxid Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12370 C
(Drucksache 17/5750) . . . . . . . . . . . . . . . . 12353 D
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12371 C
Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert,
Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordne- Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12372 B
ten und der Fraktion DIE LINKE einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Verbot der Speicherung von Kohlendi- Tagesordnungspunkt 8:
oxid in den Untergrund des Hoheitsge- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
bietes der Bundesrepublik Deutschland schusses für Bildung, Forschung und Tech-
(CO2-Speicher-Verbotsgesetz – CSpVG) nikfolgenabschätzung
(Drucksache 17/5232) . . . . . . . . . . . . . . . . 12354 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten
c) Antrag der Abgeordneten Jens Koeppen, Dr. Stefan Kaufmann, Dr. Heinz
Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Riesenhuber, Albert Rupprecht (Weiden),
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion
CSU sowie der Abgeordneten Horst der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva
Gestaltung der zukünftigen europäi- Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll,
schen Forschungsförderung der EU Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter
(2014–2020) und der Fraktion DIE LINKE: EU-
Klimaschutzziel erhöhen
– zu dem Antrag der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, (Drucksachen 17/3998, 17/4016, 17/4529,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- 17/5402) 12384 C
neter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Krista Sager, Sylvia c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer Ab- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-
DIE GRÜNEN: Stärkung des Europäi- geordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel
schen Forschungsraums – Die Vorberei- Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-
tung für das 8. Forschungsrahmenpro- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
gramm in die richtigen Bahnen lenken GRÜNEN: Europäisches Klimaschutz-
ziel für 2020 anheben
– zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 17/2485, 17/4069) . . . . . . . 12384 D
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12384 D
Fraktion DIE LINKE: Europäische For- Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 12386 B
schungsförderung in den Dienst der so-
zialen und ökologischen Erneuerung Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 12387 C
stellen Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386, DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12388 C
17/5802) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12373 C Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12389 C
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12373 C
Tagesordnungspunkt 10:
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12374 D
Unterrichtung durch den Parlamentarischen
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . 12376 C Beirat für nachhaltige Entwicklung: Europäi-
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12377 C sche Nachhaltigkeitsstrategie
(Drucksache 17/5295) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12390 C
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12378 D Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 12390 D
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12380 A Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 12391 D
Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12381 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12393 B
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . 12382 B Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12394 B
Tagesordnungspunkt 11: Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 12395 A
a) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe,
Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Tagesordnungspunkt 13:
Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Nach Cancún – Europäische Union Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra
muss ihr Klimaschutzziel anheben Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordne-
(Drucksache 17/5231) . . . . . . . . . . . . . . . . 12384 B ter und der Fraktion der SPD: Neuen „Krip-
pengipfel“ einberufen – Ausbau der früh-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des kindlichen Bildung und Betreuung
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und voranbringen
Reaktorsicherheit (Drucksache 17/5518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12396 A
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12396 A
Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit
zu einem globalen Klimaschutzab- Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 12397 D
kommen Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12399 C
– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner (BÜNDNIS 90/
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Thilo DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12400 C
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12401 C
NEN: Internationaler Klimaschutz Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12401 D
vor Cancún – Mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten zum Ziel Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12402 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 V
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12408 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 12409 C 2009/43/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Verein-
fachung der Bedingungen für die innerge-
Tagesordnungspunkt 15: meinschaftliche Verbringung von Verteidi-
gungsgütern
Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksachen 17/5262, 17/5794) . . . . . . . . . . 12416 C
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12416 D
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 12417 D
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Anti-D-Hilfegesetzes Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12418 D
(Drucksache 17/5521) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12411 A
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 12419 C
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 12411 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/
Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 12412 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12420 A
Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 12434 D
Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abge- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12435 D
wie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP: Situation Tagesordnungspunkt 22:
der Sinti und Roma in Europa verbessern
(Drucksache 17/5767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12421 C Antrag der Abgeordneten Katrin Werner,
Annette Groth, Jan van Aken, weiterer Abge-
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12421 D ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Vom
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . 12422 D Anspruch zur Wirklichkeit: Menschen-
rechte in Deutschland schützen, respektie-
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12423 D ren und gewährleisten
(Drucksache 17/5390) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12436 D
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12424 C
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12437 A
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12425 B Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 12437 A
Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12438 D
Tagesordnungspunkt 20: Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 12439 A
Antrag der Abgeordneten Roland Claus, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12440 A
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Staatsminister für Ostdeutschland
bestellen Tagesordnungspunkt 23:
(Drucksache 17/5522) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12426 B
Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . . 12426 C Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12427 C
GRÜNEN: Einsatz von Nanosilber in ver-
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . 12428 A brauchernahen Produkten zum Schutz von
Mensch und Umwelt stoppen
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12429 B (Drucksache 17/3689) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12441 B
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 12441 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12430 A
Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 12442 A
Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . 12443 A
Tagesordnungspunkt 21:
Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12444 C
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 12445 C
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12446 B
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen
präzisieren und die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung reformieren Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12447 C
(Drucksache 17/5056) . . . . . . . . . . . . . . . . 12430 C
b) Antrag der Abgeordneten Herbert
Anlage 1
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland
Claus, weiterer Abgeordneter und der Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12449 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 VII
Anlage 3 Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Veronika Bellmann (CDU/CSU) zur Abstim-
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des
mung über den Entschließungsantrag zu der
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes (Tages-
vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portu-
ordnungspunkt 12)
gals (Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . 12452 A
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12456 D
Anlage 4
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Alexander Funk, Dr. Peter Gauweiler, Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Manfred Kolbe, Klaus-Peter Willsch und Antrags: Neuen „Krippengipfel“ einberufen –
Christian Hirte (alle CDU/CSU) zur Abstim- Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreu-
mung über den Entschließungsantrag zu der ung voranbringen (Tagesordnungspunkt 13)
vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag Portu-
gals (Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . 12453 B Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12458 A
Anlage 5 Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Frank Schäffler, Jens Ackermann und Dr. h. c. Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Jürgen Koppelin (alle FDP) zur Abstimmung Anti-D-Hilfegesetzes (Tagesordnungspunkt 15)
über den Entschließungsantrag zu der verein- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 12458 D
barten Debatte zum Hilfsantrag Portugals
(Zusatztagesordnungspunkt 1) . . . . . . . . . . . . 12454 A
Anlage 11
Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Rehabilitierung und Entschädi-
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der gung der nach 1945 in Deutschland wegen
Unterrichtung: Europäische Nachhaltigkeits- homosexueller Handlungen Verurteilten (Ta-
strategie (Tagesordnungspunkt 10) gesordnungspunkt 17)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 12454 C Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12459 C
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12460 A
Anlage 7 Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12460 C
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 12461 D
– Antrag: Nach Cancún – Europäische Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Union muss ihr Klimaschutzziel anheben DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12462 B
– Beschlussempfehlung und Bericht:
– Antrag: Vor Cancún – Mit Glaubwür- Anlage 12
digkeit zu einem globalen Klima-
schutzabkommen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
(A) (C)
Redetext
108. Sitzung
Oliver Luksic
(A) Irland vergleichbar; denn Portugal hat ein funktionieren- Jetzt kommt es darauf an, dass sich auch die Opposi- (C)
des Staatswesen und eine industrielle Basis, auf der man tionsparteien in Portugal an das halten, was angekündigt
aufbauen kann. Es kommt jetzt darauf an, die Wettbe- wurde. Sie haben dem in einem Brief zugestimmt. Das
werbsfähigkeit zu steigern. Deshalb liegt der Schwer- ist wichtig und notwendig.
punkt in dem Anpassungsprogramm auch auf den Struk-
turreformen. Die Bedingungen des Hilfspakets und die Die EU ist handlungsfähig. Geeignete Instrumente für
europäische Kontrolle machen dies möglich. den Umgang mit Schuldenstaaten wurden gefunden. Es
muss aber klar sein: Euro-Rettungsschirm und ESM
Das Hilfspaket ist kein Selbstzweck, sondern Hilfe können nur Notfallmaßnahmen sein. Jetzt ist es umso
zur Selbsthilfe. Die drei Kernelemente sind: Haushalts- wichtiger, die Weichen für die Zukunft zu stellen, damit
konsolidierung, eine Strategie für den Finanzsektor mit es keine Dauerhilfen gibt. Deswegen brauchen wir in
Bankenreform und Rekapitalisierung sowie – das ist das Europa eine Stabilitätskultur und eine marktwirtschaftli-
Wichtigste – tief eingreifende und sofort einsetzende che Entwicklung der Euro-Länder. Vor allem müssen
Strukturreformen im Arbeitsmarkt, im Justizsystem, bei Verstöße wirksam sanktioniert werden. Deshalb ist es
der Infrastruktur und auch im Dienstleistungsbereich. umso wichtiger, dass wir bei den Verhandlungen in
Brüssel, die jetzt anstehen, gerade beim Economic-
Die Auflagen der internationalen Gemeinschaft sind Governance-Paket dafür sorgen, dass wir die Ursachen
streng. Portugal verpflichtet sich, bis 2013 Einsparungen neuer Krisen bekämpfen und nicht nur an den Sympto-
in Höhe von 10 Prozent des BIP durchzuführen. Bis men herumdoktern. Darum muss der Stabilitäts- und
2013 soll das Maastricht-Kriterium wieder eingehalten Wachstumspakt so geschärft werden, dass die Mitglied-
werden. Das wird durch die regelmäßige neutrale Über- staaten ihre Haushalte in Ordnung bringen. Bei Verstö-
prüfung durch IWF, EZB und Kommission vor der Aus- ßen müssen früher Sanktionen verhängt werden. Sie
zahlung weiterer Tranchen garantiert. Ich glaube, in der müssen automatisch erfolgen, damit sie auch endlich
deutschen Öffentlichkeit gibt es zu wenig Verständnis einmal angewendet werden. Das ist nämlich das Pro-
dafür, was das wirklich heißt. Politisch heißt das für Por- blem, das wir in Europa haben.
tugal die Aufgabe eines großen Teils politischer Souve-
ränität. Es sind große und schmerzhafte Einschnitte, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zugemutet werden. Das Programm der neuen Regierung der CDU/CSU)
– wir werden jetzt Wahlen in Portugal haben – wird zu Zu einer wirksamen Konsolidierung gehören auch die
einem großen Teil durch die Bedingungen des Hilfspa- Aufnahme von Schuldenbremsen in das nationale Recht
kets schon vor dem Koalitionsvertrag festgeschrieben. der Mitgliedstaaten, die Integration des Euro-Plus-Pakts
Für uns muss aber klar sein: Nur wenn diese Reformen in die Rechtstexte, ein europäischer Rahmen für die
(B) wirklich umgesetzt werden, wenn die Versprechungen in (D)
Finanzinstitute, die keine Grenzen kennen, eine straffere
Portugal eingelöst werden, kann und darf auch gezahlt Bankenregulierung, Regeln für staatliche Insolvenz und
werden. vor allem – das wird der Hauptknackpunkt der Verhand-
lungen in Brüssel sein – die private Gläubigerbeteiligung
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
im ESM. Sowohl im Hinblick auf den ESM als auch auf
der CDU/CSU)
mögliche weitere Hilfen für Griechenland ist es wichtig,
Das Programm der Regierung ist ambitioniert. Im öf- dies in Brüssel zu verankern. Wir wissen, wie schwierig
fentlichen Dienst in Portugal werden die Löhne einge- das ist, weil sowohl die EZB als auch die Mehrzahl der
froren. Die Renten werden gekürzt, die Bezugsdauer des Mitgliedstaaten der Europäischen Union hier große Be-
Arbeitslosengeldes wird gesenkt, das Überstundengeld denken haben. Insofern ist es ein umso größerer Erfolg
wird gedeckelt. der Bundesregierung, dass sie durchgesetzt hat, dass es
mit dem ESM im Rahmen der CACs eine Beteiligung
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das gefällt privater Gläubiger geben wird. Das ist ein Erfolg dieser
Ihnen?) Bundesregierung.
Die Zahl der Rathäuser und Gemeindeverwaltungen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wird verringert. Privatisierungen im Energiebereich, bei der CDU/CSU)
der Post und der Telekommunikation stehen an. Liebe
Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Parlamentsbetei-
Kollegen der Linkspartei, es werden auch Steuern er-
ligung. Diese muss gestärkt werden. Das hat sich auch
höht, um die finanzielle Basis zu stärken. Auch wird der
im Falle Portugals gezeigt. Die FDP-Bundestagsfraktion
Finanzsektor reguliert. Deswegen noch einmal, was das
ist der Meinung, dass wir das Parlament durchaus noch
Rettungsnetz angeht: Die Portugiesen haben es selbst in
proaktiver informieren können.
der Hand, ob das Netz hält oder nicht. Jedenfalls sind die
Leistungen, die sich Portugal vornimmt, sehr ambitio- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
niert und ehrgeizig. Davor sollten auch wir im Deut- Sagen Sie das mal Ihrer Regierung!)
schen Bundestag, glaube ich, hohen Respekt haben.
Es wird, auch im Hinblick auf den zukünftigen ESM, be-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sonders wichtig sein, dass es für die Auslösung von
der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Hilfszusagen und Änderungen der Instrumente oder der
DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal dem Ausleihkapazität einen Parlamentsvorbehalt gibt. Ohne
Schäffler!) diesen würde es, wie ich glaube, schwierig sein, einem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12295
Oliver Luksic
(A) ESM zuzustimmen. Ich bin der festen Überzeugung, Diese privaten Banken geben einem Staat gerne Kredite, (C)
dass die Parlamentsbeteiligung die Regierung nicht und zwar deshalb, weil der Staat ein sicherer Gläubiger
schwächt. Im Gegenteil: Sie stärkt die Regierung bei ist, der immer artig die Zinsen zahlt. Dies führt dazu,
Verhandlungen auf europäischer Ebene in Brüssel. Dies dass Staaten immer mehr Kredite aufnehmen. Dadurch
liegt nicht nur im Interesse des Parlaments, sondern auch steigt nicht nur die Belastung hinsichtlich der Raten,
im Interesse der Bundesregierung. sondern auch die Belastung hinsichtlich der Zinsen. Von
Problemstaaten – diese drei Länder sind solche – verlan-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
gen die Banken dann immer höhere Zinssätze, sodass es
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten irgendwann unbezahlbar wird. Dadurch werden alle
der CDU/CSU) Haushalte belastet. Nun stellt sich die Frage: Was kann
man dagegen tun? Ein Mittel wäre, Steuergerechtigkeit
Präsident Dr. Norbert Lammert: herzustellen. Aber dieser Vorschlag wird niemals ge-
macht, auch nicht in Bezug auf ein anderes Land. Die
Der Kollege Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner
für die Fraktion Die Linke. Renten sollen gekürzt werden. Aber Steuergerechtigkeit
herzustellen, das wird niemals verlangt. Das ist aber eine
(Beifall bei der LINKEN) der wichtigsten Voraussetzungen.
(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Die Steu-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, ern werden in Portugal doch gerade erhöht!)
dass wir heute eigentlich eine Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin zur Situation sowohl in Griechenland Apropos FDP: Alle neoliberalen Parteien im Bundes-
als auch in Portugal hätten verlangen können und müs- tag machen immer wieder das Gegenteil. Sie sagen, die
sen. Steuern müssten gesenkt werden.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael (Oliver Luksic [FDP]: In Portugal werden sie
Meister [CDU/CSU]: Warum sprechen Sie aber gerade erhöht!)
denn im Konjunktiv?)
FDP und Union haben die Vermögensteuer abgeschafft.
Frau Bundeskanzlerin, auch wenn Sie sich freiwillig in SPD und Grüne haben den Spitzensteuersatz der Ein-
die letzte Reihe der FDP-Fraktion setzen, ändert dies kommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt.
nichts daran, dass Sie für das, was dort geschehen ist,
hier rechenschaftspflichtig sind. (Otto Fricke [FDP]: Wer steht denn gut da?
(B) Wir oder die?) (D)
Der Weg, den man mit Blick auf Griechenland gegan-
gen ist, ist gescheitert. Dort findet nicht nur ein in jeder Es passiert, wie gesagt, immer das Gegenteil. Irgend-
Hinsicht nachvollziehbarer Generalstreik statt. Viel- wann steht man vor einem Problem, Herr Steinmeier:
mehr sind dort alle Methoden gescheitert, so wie wir es vor dem Problem, dass man soziale Leistungen plötzlich
übrigens von vornherein vorausgesagt haben. Jetzt wen- nicht mehr bezahlen kann. Dann muss man entweder den
den Sie dieselben Methoden bei Portugal an. Das kann Weg des Sozialabbaus gehen, wie Sie es mit der
nicht gutgehen. Agenda 2010 getan haben, oder man muss sich höher
verschulden.
(Beifall bei der LINKEN)
(Otto Fricke [FDP]: Nein! Wir haben die Steu-
Herr Bundesfinanzminister, am Freitag nahmen Sie an ern gesenkt, und uns geht es gut! Die haben sie
einem Treffen teil. Ein bisschen haben Sie davon erzählt; erhöht, und denen geht es schlecht!)
aber es war ja in gewisser Weise ein Geheimtreffen. Ich
finde, das Parlament hat einen Anspruch darauf, zu er- In der Regel passiert übrigens beides zeitgleich: Man
fahren, was die Finanzminister der Euro-Zone dort ver- verschuldet sich höher und baut Sozialleistungen ab.
einbart haben. Dieser Weg ist aber falsch; denn wenn die Schulden
wachsen, steigen die Zinslasten weiter. Das heißt, man
Was Griechenland betrifft, haben Sie gesagt, man
ist in einem Teufelskreis. Wenn man Sozialabbau be-
müsse strikte und harte Sparauflagen erteilen, dieser
treibt, dann sinken die Steuereinnahmen. Das heißt, auch
Weg werde aus der Krise hinausführen. Er hat aber noch
das ist keine Lösung, sondern bewirkt nur eine Verschär-
tiefer in die Krise hineingeführt. Wann ziehen Sie daraus
fung des Problems.
Schlussfolgerungen?
(Beifall bei der LINKEN) Zurück zu Griechenland, Irland und Portugal. Die pri-
vaten Ratingagenturen haben das Recht, Staaten einzu-
Ich möchte, dass unserer Bevölkerung eine Frage be- schätzen, und zwar gerade dann, wenn die Finanzmärkte
antwortet wird: Sind Länder wie Griechenland, Irland entfesselt sind. Wenn die privaten Ratingagenturen mit-
und Portugal in einer Krise, weil die Leute dort faul und teilen, dass diese drei Staaten nichts taugen, dann hat das
raffgierig sind – so lautet eine immer wieder anklin- zur Folge, dass die Zinslasten noch größer werden. Da-
gende rassistische Antwort –, oder hat das, wie wir mei- mit wären sie zahlungsunfähig, und es bleibt ihnen kein
nen, ganz andere Ursachen? Darüber muss aufgeklärt anderer Weg, als sich an die Europäische Union und den
werden. Jeder Staat steht privaten Banken gegenüber. Internationalen Währungsfonds zu wenden.
12296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(Beifall bei der LINKEN) An Griechenland gingen 110 Milliarden Euro. Die
Frage ist: Wie viel soll nun hinzukommen? Dies wurde
Jetzt stellt sich die Frage, wie man dieses Problem lö- vom Bundesfinanzminister nicht beantwortet. An Irland
sen könnte. Es ist ganz einfach: nur durch das schwedi- gingen 85 Milliarden Euro, und an Portugal sollen
sche Modell. Dann muss man dazu bereit sein, dass alle 78 Milliarden Euro gehen. Aber Portugal ist nicht Irland.
großen Privatbanken, ob in Griechenland, Portugal oder Dort hatten wir keine Immobilienblase. Die Staatsver-
Deutschland, durch die jeweiligen Staaten übernommen schuldung ist viel geringer. Was sind eigentlich die Pro-
werden. Damit werden die Schulden, Zinslasten etc. re- bleme dort? Eine gigantisch hohe Verschuldung, und
guliert. zwar sowohl des Staates als auch der privaten Haushalte!
Lassen Sie mich Ihnen zu den privaten Haushalten in
(Johannes Kahrs [SPD]: Das gab es in der
Portugal eine Zahl nennen. Wenn man sämtliche Ein-
DDR schon!)
kommen eines ganzen Jahres in Portugal addiert – Ren-
– Ich weiß, dass die SPD konservativ ist. Als Konserva- ten, Sozialleistungen, kleine Einkünfte, hohe Einkünfte –
tive können Sie meinetwegen später alles wieder repri- und dieser Summe die Verschuldung der privaten Haus-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12297
Dr. Gregor Gysi
(A) halte gegenüberstellt, dann kommt man zu dem Ergeb- Renten, die Sozialleistungen und die Löhne gekürzt ha- (C)
nis, dass die Verschuldung im Vergleich zum gesamten ben.
Jahreseinkommen der portugiesischen Bevölkerung bei
130 Prozent liegt. Wer ist daran schuld? Der deregulierte Präsident Dr. Norbert Lammert:
private internationale Finanzmarkt! Dagegen machen Herr Kollege Gysi, ich ahne, dass Ihnen noch vieles
Sie gar nichts. Das ist das Problem. Dadurch wachsen zu diesem Thema einfällt. Aber die Redezeit gibt das
ständig die Zinslasten. nicht mehr her.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Portugal hat Auslandsschulden in Höhe von Ich verstehe das, Herr Präsident. Aber ich muss Ihnen
220 Milliarden Euro, gegenüber Deutschland 33 Milliar- ehrlich sagen: Es sind noch so viele wichtige Dinge, die
den Euro. Wir haben also ein Eigeninteresse, Portugal zu ich Ihnen zu sagen habe.
helfen. Wir müssen doch nicht immer so tun, als ob das
Ganze altruistisch wäre. Gerade Deutschland ist eben- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
falls auf die Hilfe angewiesen. Es gibt aber eine weitere
Ursache. Sie besteht in den harten und unsozialen Spar- Präsident Dr. Norbert Lammert:
auflagen. Schauen wir uns einmal an, was Sie bisher in Sie könnten mir das jetzt vertrauensvoll übergeben.
der EU – jetzt kommt noch einiges hinzu – gemacht ha- Dann gebe ich Ihnen eine Zusage.
ben: Kürzung des Arbeitslosengeldes in Portugal um
20 Prozent, Verkürzung der Bezugszeiten des Arbeitslo- (Heiterkeit)
sengeldes von 36 auf 18 Monate, Gehaltskürzungen im
öffentlichen Dienst um 5 Prozent, Anhebung der Mehr- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
wertsteuer auf 25 Prozent, Kürzung der Pensionen. Der Es ist bedauerlich, dass Sie das nicht mehr erfahren
in Portugal gesetzlich geregelte Mindestlohn in Höhe werden.
von 475 Euro pro Monat darf in den nächsten Jahren
nicht mehr erhöht werden. Das alles haben Sie festge- Zum Schluss sage ich nur: Wir müssen vier Schritte
legt. gehen. Wir müssen die Wirtschaft Portugals durch einen
Marshallplan stärken und brauchen dort keine Sozialkür-
(Otto Fricke [FDP]: Wer war das denn?) zungen und Privatisierungen. Irland, Griechenland und
Portugal brauchen geringere Zinsen. Das sind kurzfris-
– Natürlich hat das die EU festgelegt. Das alles sind die tige Dinge. Langfristig brauchen wir ein schwedisches
Auflagen der EU. Modell und endlich die Regulierung der Finanzmärkte
(B) (Otto Fricke [FDP]: Aber nicht wir!) durch Verbot von Hedgefonds, Leerverkäufen und die (D)
Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Deutschland
– Die Bundesregierung war aber führend daran beteiligt. muss seine einseitige Orientierung am Export aufgeben.
Wenn Sie das nicht mitbekommen haben, tut es mir leid. Es braucht höhere Löhne, höhere Renten, höhere Sozial-
leistungen, eine höhere Kaufkraft und endlich eine Stär-
Das Problem ist, dass dieser Teufelskreis gar nicht kung der Binnenwirtschaft und nicht eine einseitige
funktionieren kann. Wenn Sie dafür sorgen, dass der por- Orientierung am Export.
tugiesische Staat immer geringere Steuereinnahmen hat:
Wie soll er denn dann aus der Krise herauskommen? Ich Danke.
sage es noch einmal: Es hat in Griechenland nicht funk- (Beifall bei der LINKEN)
tioniert, und es kann auch in Portugal nicht funktionie-
ren. Nun muss Portugal öffentliches Eigentum im Wert
von 5,3 Milliarden Euro verkaufen. Verkehrsprojekte Präsident Dr. Norbert Lammert:
und andere Investitionen müssen gestrichen werden. Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir müssen aber auch die Handelsungleichgewichte
in der Europäischen Union und vor allen Dingen in der Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Euro-Zone berücksichtigen. Deutschland hat im März Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-
einen neuen Rekord in seiner Geschichte aufgestellt. deskanzlerin, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie:
98,3 Milliarden Euro war der Wert dessen, was wir ex-
portiert haben. Ein neuer Rekord! 60 Prozent der Ex- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Dass Sie jetzt
porte gingen in die Europäische Union. sprechen!)
(Jörg van Essen [FDP]: Wir haben schon eine Sie müssen mit unserer Unterstützung rechnen.
gute Bundesregierung!) Gestern im Haushaltsausschuss wollten sich Ihre Ab-
– Aber diese Plusseite Deutschlands ist gleichzeitig die geordneten anfangs einer Formulierung verweigern,
Negativseite anderer Staaten, auch Portugals. nämlich dass wir das Einvernehmen erteilen, dass Portu-
gal an dieser Stelle geholfen wird.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
(Otto Fricke [FDP]: Das stimmt doch gar
Ihre einseitige Orientierung am Export wird zu einem nicht! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wären
immer größeren Problem. Wodurch ist Ihnen denn dieser Sie dabei gewesen, wüssten Sie es besser! So
Rekord gelungen? Er ist Ihnen gelungen, weil Sie die ein Unfug!)
12298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Jürgen Trittin
(A) Was sind das in Ihren Reihen für Zustände, dass Dinge, nicht aus der Krise holen kann. Man muss sparen, aber (C)
die Ihr eigener Bundesfinanzminister ausgehandelt hat, man muss auch investieren; man muss Haushalte sanie-
nicht mehr das Einvernehmen der Fraktion finden! ren, und man muss die Wettbewerbsfähigkeit stärken,
wenn man aus dieser Krise in Europa rauskommen will.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Heute Morgen lese ich, dass sich 19 Abgeordnete aus
Ihren Reihen gegen den Europäischen Stabilisierungs- Das ist das, wozu ich von Ihnen, Frau Bundeskanzle-
mechanismus stellen wollen. Ich kann nur unterstrei- rin, eine Botschaft völlig vermisse. Sie bewegen sich
chen, Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie das hier im Bun- nach wie vor in der Logik des Strafens, des Zwingens
destag durchbekommen wollen, dann ist es an der Zeit, und der Austerität. Aber es wird kein Gedanke darauf
dass Sie sich endlich so verhalten wie die österreichische verschwendet, in welcher Weise auch und gerade diese
Regierung auch und diesem Haus den Vertragsentwurf Länder realwirtschaftlich wieder auf einen Kurs ge-
vorlegen. Das ist das Mindeste, was man hier an Respekt bracht werden können, mit dem ihre Krise tatsächlich
vor dem Grundgesetz erwarten kann. überwunden wird und sie nicht kaputtgespart werden.
Sie haben in meinen Augen kein Konzept für die Über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN windung der Krise.
und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Das hat
nichts mit Portugal zu tun!) Ich will da gar nicht die Anträge aus der FDP zitieren.
Mich würde schon mal interessieren, Herr Bundesaußen-
Es ist richtig, Portugal zu helfen. Wir halten das für minister, was Sie als jemand, der von Berufs wegen Eu-
notwendig und für ein Gebot der Solidarität in Europa. ropa verpflichtet ist, in dieser Debatte eigentlich sagen
Wenn man das nicht täte, wäre das schlecht für Portugal, würden: Stehen Sie dazu, dass wir zur Sicherung Euro-
aber auch schlecht für uns. Würden wir den Liquiditäts- pas einen gemeinsamen Rettungsschirm brauchen?
vorteil, den wir und die anderen Zahlenden in diesem
EFSF haben, nicht an Portugal weitergeben (Oliver Luksic [FDP]: Hat er doch zugestan-
den! Haben wir sogar beschlossen!)
(Otto Fricke [FDP]: Was?)
Stehen Sie als Außenminister zu der Idee eines gemein-
– ja, wir führen einen Transfer von Liquidität durch; das samen Europas, oder wollen Sie weiterhin die Schäfflers
ist der Mechanismus, Herr Kollege –, dann würde sich und anderen Neoliberalen in Ihrem Laden gegen Europa
Portugal Mitte Juni in einer Größenordnung von mindes- mobilisieren lassen? Ich vermisse, dass Sie gelegentlich
tens 10 Prozent auf den internationalen Kreditmärkten doch mal zu solch einem Thema außenpolitisch etwas
(B) refinanzieren müssen. Wenn wir all das Richtige, was sagen. (D)
hier über die Schwierigkeiten und die Härten des portu-
giesischen Anpassungsprozesses gesagt worden ist, ernst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nehmen, dann kann ich nur sagen: Das ist hart, aber im sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vergleich dazu, dass sie sich sonst mit 10 Prozent refi- Aber es gibt dabei ja ein weiteres Problem. Sie haben
nanzieren müssten, ist das eine vergleichsweise leichte mit Ihrer Haltung die Krise nicht verkürzt, sondern ver-
Übung. Die Sozialkürzungen, die bevorstehen würden, längert und verschärft.
wenn wir Portugal nicht helfen würden, die möchte ich
mir nicht ausmalen, und da möchte ich auch nicht auf (Zuruf der Bundeskanzlerin Angela Merkel)
der Ecke der Linken sitzen, die heute sagt, diese Hilfe – Nein, das haben Sie nicht. – Die Bundeskanzlerin
solle nicht gewährt werden. meint, sie hätte sie ausgelöst. Also, davor muss ich sie in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz nehmen. Das haben Sie nicht.
und bei der SPD) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)
Portugal ist nicht Irland, und Portugal ist auch nicht Aber haben wir nicht dazu beigetragen, dass der Weg aus
Griechenland. In allen drei Fällen gibt es unterschied- dieser Krise länger ist, als es notwendig gewesen wäre?
liche Gründe für die krisenhafte Entwicklung und auch Haben Sie nicht mit dem Beharren auf bestimmte Zins-
die Zerrüttung der Staatsfinanzen, die daraus resultiert. sätze im Solidaritätspakt die Schwierigkeiten dieser
Staaten mit vergrößert?
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen, das Reform-
programm in Portugal ist ein anderes als das in Irland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben es mit einer Finanzierung zu einem Drittel
über Einnahmen, auch Steuererhöhungen, zu tun. Es Ich will diese Fragen in aller Ernsthaftigkeit stellen. Wir
werden ermäßigte Körperschaftsteuersätze gemindert, stehen heute vor der Situation, dass Ihnen international
und es gibt eine Einschränkung von Steuervergünstigun- niemand mehr abnimmt, dass es am Ende des Tages
gen. ohne eine Umschuldung Griechenlands gehen wird. Die
meisten Experten sind auch der Auffassung, dass wahr-
Ich glaube immer noch, dass man darüber streiten scheinlich auch in Irland kein Weg daran vorbeiführt.
kann, ob das sozial ausgewogen und ökonomisch ver-
(Otto Fricke [FDP]: Und Sie?)
nünftig ist. Aber dieses Programm geht wenigstens einen
Schritt in die Richtung, dass man ein Stück daraus ge- Wir diskutieren heute schon – auch das leugnen Sie na-
lernt hat, dass man nur mit Sparen und Austerität Länder türlich – ein neues Paket auch für Griechenland. Das ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12299
Jürgen Trittin
(A) wahrscheinlich unausweichlich. Aber, Frau Merkel, senverlängernd, in dieser Weise zu versuchen, an der (C)
wenn das unausweichlich ist: Warum haben Sie nicht Hilfe zu verdienen. Deswegen müssen Sie dafür sorgen,
den Mut, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Das ist dass die Zinssätze an dieser Stelle gesenkt werden. Wir
so, wir müssen dieses Paket und dieses Problem gemein- dürfen nicht mehr verlangen, als selbst der IWF verlangt.
sam bewältigen“?
Vielen Dank.
Was machen Sie stattdessen? Sie wiederholen den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fehler, den Sie schon Irland gegenüber gemacht haben. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wäre es nicht klüger gewesen, bei Irland mit der glei-
chen Härte darauf zu dringen, dass Irland seine lächerli-
chen Körperschaftsteuersätze anhebt, wie Sie darauf ge- Präsident Dr. Norbert Lammert:
drängt haben, dass Irland 5,8 Prozent Zinsen auf die Norbert Barthle ist der nächste Redner für die CDU/
europäischen Kredite bezahlt? Das war die falsche Prio- CSU-Fraktion.
ritätensetzung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der FDP)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Norbert Barthle (CDU/CSU):
das hat die Krise in Irland ökonomisch verlängert, und es Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
führt uns in die Nähe der Umschuldung. Das ist das Pro- ren! Lieber Herr Kollege Trittin, ich will zunächst ein-
blem. Nun wollen Sie den gleichen Fehler im Falle Por- mal feststellen: Wären Sie im Haushaltsausschuss dabei
tugals fortsetzen. gewesen, hätten Sie zur Kenntnis nehmen dürfen, dass
Damit wir uns da nicht missverstehen: Auch ich wir der Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister das
glaube, dass es einen bestimmten Aufschlag auf die refi- Einholen des Einverständnisses sogar vollumfänglich at-
nanzierten Kosten geben muss. Der Zinsvorteil kann testiert haben;
nicht vollständig weitergegeben werden, weil wir in ein (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Risiko gehen, ein Risiko, das dieses Haus und dieser Ja, aber nach langem Zögern! Machen Sie es
Bundeshaushalt im gegebenen Falle mitzutragen haben. nicht schlimmer!)
Aber Sie müssen mir doch mal erklären, warum wir,
wenn wir das Geld für den Fonds für 2,7 Prozent auf das ist schriftlich festgehalten und nachzulesen. Dies ist
dem Kreditmarkt aufnehmen, es an Portugal für deshalb vollumfänglich geschehen, weil der Bundes-
6 Prozent weitergeben wollen, während selbst der Inter- finanzminister schon am Montagabend die Obleute in-
(B) nationale Währungsfonds nur 3,2 Prozent oder 4,2 Pro- formiert hat. Das hätte er nicht tun müssen; das hat er (D)
zent verlangt. Wollen wir Portugal helfen, Frau Bundes- freiwillig getan. Ihre Kollegin Hinz war ebenfalls dabei.
kanzlerin, oder wollen wir an der Hilfe verdienen? (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wollen wir Portugal abzocken? Das sind doch die Fra- Ich habe den Bundesfinanzminister gelobt,
gen, die sich an dieser Stelle stellen. aber Sie nicht!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Bundesregierung hat an dieser Stelle alles Notwen-
sowie bei Abgeordneten der SPD) dige getan.
Ich glaube, wir sind in Europa in einer sehr ernsten Si- Auch an die Opposition gerichtet sage ich: Ich finde,
tuation. Wir erleben dieser Tage, wie eine kleine, frem- es ist schon kleinkariert, wenn die einzige Kritik, die Sie
denfeindliche Partei in Dänemark die gesamten europäi- zu äußern haben, sich daran festmacht, dass es in den
schen Bürgerinnen und Bürger als Geisel nimmt und Reihen der Koalition einige Andersdenkende gibt. Ich
gegen das Grundrecht auf Freizügigkeit versucht, in Eu- bin überzeugt: Diese Personen gibt es auch bei Ihnen.
ropa wieder Grenzkontrollen durchzusetzen. Wir sind in Allerdings interessiert das in der Öffentlichkeit momen-
einer Situation, in der der Zusammenhalt Europas in ei- tan niemanden. Wenn das alles ist, was Sie an Kritik zu
ner Weise herausgefordert wird, die wir alle als Europäer äußern haben, dann sind wir ganz gut aufgestellt.
schon lange nicht mehr für möglich gehalten haben.
Eines muss man eingestehen: Wir diskutieren nicht
Wie agiert man in einer solchen Krise? In einer sol- zum ersten Mal über eine Hilfe für ein Euro-Land, das in
chen Situation sind doch europäische Überzeugung und Schwierigkeiten geraten ist. Griechenland war der An-
Standfestigkeit das Richtige und nicht das Wegducken fang; ein Sonderfall bis heute. Ich beteilige mich nicht
vor solchen Mechanismen. an den Spekulationen um Griechenland; da bin ich ganz
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Bundesfinanzminister. Wir sollten in aller Ruhe ab-
sowie bei Abgeordneten der SPD) warten, was die Prüfungen durch den IWF, durch die
EZB und die EU-Kommission im Juni ergeben. Danach
Nicht das Bedienen des Stammtisches, sondern das Be- sollten wir über weitere Schritte nachdenken, und wir
kenntnis zu einem gemeinsamen Europa mit seinen sollten nicht vorher schon den Teufel an die Wand ma-
Grundfreiheiten, das ist die Herausforderung. len.
Dazu gehört auch konsistentes, glaubwürdiges Han- Wir haben im Dezember vergangenen Jahres Irland
deln. Deswegen ist es richtig, Portugal zu helfen. Aber unter strengen Auflagen unter den Rettungsschirm ge-
es ist schädlich, ökonomisch kurzsichtig, falsch und kri- holt. Heute klopft Portugal an. Es ist das zweite Euro-
12300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Norbert Barthle
(A) Land, das – nicht zuletzt zur Reorganisation der Banken- Dritte Frage: Gibt es denn keine Alternativen zu im- (C)
landschaft und zwecks Wiederherstellung seiner Liqui- mer neuen Hilfen? Diese Frage wird von den Bürgern
dität – unter den Rettungsschirm schlüpfen möchte. Wir immer wieder gestellt.
sind aufgefordert, an dieser Stelle wirksam zu helfen.
Wir kennen die Verfahren. Wir müssen das Rad nicht Selbstverständlich gibt es auch andere Wege, über die
neu erfinden. Das hilft uns weiter, soll aber nicht den man nachdenken kann. Wir sind nicht so vermessen, zu
Eindruck erwecken, als ob es Routine wäre. Ganz im glauben, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Gegenteil: Es gibt ernstzunehmende Fragen, die die Es gibt immer wieder ernstzunehmende Experten, die
Menschen in diesem Zusammenhang an uns stellen, und uns zuhauf gute Ratschläge dafür geben, was man
wir greifen diese Fragen auf: Wie soll es weitergehen? grundlegend anders machen könnte. Eines muss man an
Wann zieht ihr die Reißleine? Gibt es keine Alternati- dieser Stelle aber festhalten: Die sind nicht in der Verant-
ven? Wie schützt ihr die Steuerzahler? Lassen Sie mich wortung. Die Verantwortung für das, was wir machen,
versuchen, einige dieser Fragen zu beantworten. müssen wir übernehmen. Wir müssen uns deshalb sehr
genau überlegen, was wir machen. Das tun wir; denn die
Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal ist der Euro-Rettung ist kein Spielplatz, auf dem es um theoreti-
Euro-Rettungsschirm ein vorübergehender Mechanis- sche Alternativen geht.
mus. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Zeit, die
wir jetzt haben, nutzen, um einen dauerhaften Mechanis- Ich kenne niemanden, der über Alternativen redet und
mus im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanis- mir präzise voraussagen kann, was am Ende dabei he-
mus, ESM, zu verankern. Für uns ist es dabei wichtig, rauskommt. Das ist das Entscheidende; denn wenn beim
dass im ESM alle Entscheidungen einstimmig erfolgen, Euro etwas schiefläuft, dann hat dies verheerende Fol-
dass also niemals gegen unsere Interessen entschieden gen – nicht nur für Deutschland, sondern auch für
werden kann. Für uns ist es weiterhin wichtig, dass alle Europa und, wenn man so will, für die ganze Welt. Dass
Hilfen konditioniert erfolgen, sprich: mit Gegenleistun- das so ist, kann man daran ablesen, dass der IWF, eine
gen, entsprechenden Reformen verbunden sind. Außer- wirklich internationale Organisation, die EZB und die
dem ist für uns ganz wichtig, dass die Gläubigerhaftung EU-Kommission der 27 Mitgliedsländer und nicht nur
in diesem Regelmechanismus verankert wird und dass der 17 Länder, die den Euro haben, an der jeweiligen
damit risikobehaftete Spekulationen nicht zulasten der Rettung beteiligt sind, egal, welcher Rettungsmechanis-
Bürger, sprich: der Steuerzahler, stattfinden können. mus greift. Alle beteiligen sich an diesen Rettungsmaß-
nahmen. Allein schon dadurch zeigt sich die Bedeutung.
Zweite Frage: Wann zieht ihr die Reißleine? Auch da-
rauf gibt es eine Antwort. Wenn Euro-Staaten Hilfen be- Ich kann deshalb nur davor warnen, über das Szenario
(B) antragen, dann gibt es eine ganze Latte von Prüfungen nachzudenken, ein Mitgliedsland aus dem Euro-Raum (D)
und Vereinbarungen, insbesondere zu den damit verbun- oder aus der Währung herauszudrängen. Selbst für Län-
denen Auflagen. Wenn diese Regularien den Überprü- der, die keine gemeinsame Währung haben, ist ein
fungen standhalten, ist Hilfe berechtigt. Staatsbankrott ein Desaster. Noch schlimmer wäre es,
Wir schenken aber niemandem etwas. Die Wahrneh- wenn dies in einem gemeinsamen Währungsraum ge-
mung der deutschen Öffentlichkeit ist an dieser Stelle schehen würde. Die Folgen wären wirklich unbeschreib-
diametral entgegengesetzt zu der Wahrnehmung in den lich.
betroffenen Ländern. Jetzt komme ich zur letzten Frage: Wie schützt ihr uns
(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) Steuerzahler? Gerade mit dem, was wir tun, zielen wir
darauf ab, die Steuerzahler zu schützen; denn wir geben
Gerade durch die Demonstrationen in Griechenland wird Garantien und keine Haushaltsmittel. Wir geben Sicher-
dies jetzt wieder augenfällig gezeigt. heiten für Kredite, deren Rückzahlung wir erwarten. Wir
Die Euro-Rettung ist deshalb auch im ureigenen deut- wollen keine Transferunion. Wir wollen keinen europa-
schen Interesse zu betrachten. Wer, wenn nicht wir, pro- weiten Länderfinanzausgleich. Wir wollen eine starke
fitiert denn vom Euro? Ich will nur ganz kurz beispiel- Europäische Union mit einer stabilen Währung. Wir
haft benennen: Die Stabilität unserer Währung muss wollen eine europäische Solidarität.
gesichert werden und ist gesichert. Die Transaktionskos- Solidarität setzt Stabilität voraus. Deshalb tun wir al-
ten fallen weg. Allein das macht für die Betroffenen eine les, damit auch Portugal durch die entsprechenden Auf-
Entlastung von 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr aus. lagen zur Stabilität zurückkehrt, und durch Stabilität
Wir haben keine Wechselkursschwankungen. Das gibt wird dann wieder Solidarität erzeugt.
Sicherheit. Wir haben eine hohe Preistransparenz in ganz
Europa. Jeder weiß, was ein Glas Bier in Paris, in Ma- Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir kontrollieren
drid, in Mailand, in Berlin und sonst wo kostet. alles, was wir machen, von Anfang an. Wir kontrollieren
(Otto Fricke [FDP]: Es schmeckt nicht überall dies durch die vierteljährlichen Quartalsberichte auch
gleich! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wo während des Verlaufs. Wir kontrollieren an dieser Stelle
es gutes bayerisches Bier gibt!) nicht nur unsere eigene Regierung, sondern wir schauen
auch aufmerksam, was in den betroffenen europäischen
Durch den gemeinsamen Heimatmarkt – so nenne ich Ländern geschieht. Damit können wir immer gesichert
ihn einmal – gibt es sehr viele individuelle Vorteile, die sagen, ob jetzt ein weiterer Schritt erfolgen kann oder
ich jetzt gar nicht im Einzelnen erläutern will. auch nicht. Dies prüfen wir regelmäßig.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12301
Norbert Barthle
(A) In diesem Sinne werben wir um das Vertrauen für un- Montag im Ecofin eine Lösung zu präsentieren. Der (C)
seren Weg. Wir sind davon überzeugt: Der Weg, den wir Bundestag ist der Ort, an dem so etwas diskutiert werden
einschlagen, ist der richtige. muss.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN)
Herr Kollege.
In der Frage der Krisenprävention geht es darum, wie
Norbert Barthle (CDU/CSU): wir die Stabilität der Euro-Zone hinbekommen. Es geht
Herzlichen Dank. doch gar nicht um die Stabilität des Euro. Zu Beginn ha-
ben Sie ja immer gesagt, es gehe um den Euro. Der Euro
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) steigt und fällt. Das hat relativ wenig damit zu tun.
(Beifall bei der SPD) (Otto Fricke [FDP]: Welche? Nennen Sie
einmal welche!)
Sie informieren häppchenweise. Sie sind Getriebene
der Märkte. Sie sind Getriebene Ihrer eigenen Skepsis in Diese Schritte sind: Erstens. Die einseitigen Sparpakete
der Koalition. Es ist ja so, dass Sie in Bezug auf die Zu- und Austeritätsmaßnahmen, die hier gemacht wurden,
stimmung zu den Maßnahmen für die Stabilisierung des führen nicht zu stärkerem Wirtschaftswachstum. Es ist
Zusammenhalts Europas in Ihrer Koalition heftigen Wi- richtig, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Aber es ist
derstand haben. falsch, auf Investitionen zu verzichten. Das wäre auch
eine Aufgabe der Europäischen Union.
(Otto Fricke [FDP]: Ihr macht also mit?)
Schließlich sind es Ihre Mitglieder, die gegen die ver- (Beifall bei der SPD)
schiedenen Maßnahmen vor dem Verfassungsgericht Zweitens. Eine Möglichkeit, den europäischen Mar-
klagen, und nicht etwa die Opposition. shallplan für die Peripheriestaaten Südosteuropas zu
Das, was Sie hier tun, ist durch Verheimlichen, Trick- finanzieren, wäre die Einführung einer Finanztrans-
sen und Leugnen gekennzeichnet. Das gilt ganz klar aktionsteuer. Ich komme darauf noch zurück.
auch bei dem Punkt Griechenland. Finanzminister (Oliver Luksic [FDP]: Warum haben Sie das
Wolfgang Schäuble hat heute kurz ausgeführt, es gebe denn nicht gemacht? Sie waren doch an der
darüber Diskussionen. Darüber gibt es keine Diskussio- Regierung!)
nen, sondern es ist klipp und klar: Griechenland wird mit
den bisher zugesagten 110 Milliarden Euro nicht aus- Drittens: Gläubigerbeteiligung. Was erleben wir mo-
kommen. Vorgesehen war, dass Griechenland sich im mentan? Sie können derzeit kurzläufige Anleihen Grie-
Jahr 2012 zum Teil wieder selbstständig am Kapital- chenlands kaufen und erzielen bei sechsmonatiger Lauf-
markt refinanziert. Schon jetzt steht fest, dass das nicht zeit eine Rendite, die zwischen 10 und 13 Prozent pro
gelingen wird. Deswegen wäre es notwendig gewesen, Jahr liegt – und das nahezu gefahrlos, weil Sie zugesagt
heute an dieser Stelle im Deutschen Bundestag darüber haben, dass es bis 2013 keinerlei Einschnitte oder Gläu-
Klarheit zu schaffen, anstatt Geheimtreffen in Luxemburg bigerbeteiligung gibt. Das heißt, das Kasino ist zurück.
zu veranstalten und diese zu leugnen, um dann am Die deutschen und europäischen Steuerzahler finanzie-
12302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Otto Fricke
(A) – da braucht man nicht zu lachen –, und zwar Herrn Staatsanleihen auf der anderen Seite anbelangt. Er hat (C)
Sarrazin von den Grünen. Arbeiten Sie gemeinsam mit sich für Euro-Bonds ausgesprochen. Wir sind ausdrück-
der Koalition daran – das ist eine Einladung –, dass wir lich dagegen. Die Frage, wie sich die Bundesrepublik
beim ESM eine gute Parlamentsbeteiligung erreichen. Deutschland refinanziert, ist eine ganz andere Frage als
Ich persönlich kann an dieser Stelle nur sagen: Die bis- die, wie sich die anderen Institutionen refinanzieren.
herigen Verfahren beim EFSF reichen nicht aus. Hier
muss mehr Transparenz, mehr Klarheit geschaffen wer- Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass EZB,
den. Aber ich will ausdrücklich für dieses Parlament sa- IWF und Kommission mit den Portugiesen ein sehr ehr-
gen: Wir können uns in Zukunft nicht mehr dahinter ver- geiziges Programm ausgearbeitet haben, das die Grund-
stecken, dass die Dinge auf der Regierungsebene lage der Hilfsmaßnahmen bilden wird. Wir werden na-
entschieden werden. Wir müssen auch auf der Parla- türlich daran beteiligt sein, entsprechend unserem Anteil
mentsebene regelmäßig und klar sagen, wann und wa- an der EFSF in Höhe von 27 Prozent. Wir begrüßen ganz
rum wir unseren europäischen Freunden helfen. ausdrücklich, dass hier ein gemeinsames, ein sehr strin-
gentes Programm mit dem Ziel vorgelegt worden ist, den
Herzlichen Dank. portugiesischen Haushalt zu konsolidieren, aber auch die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Portugals zu erhöhen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedan-
NEN]: Das hat mich nicht überzeugt!) ken einbringen. Ich könnte mir schon vorstellen – das ist
eine Aufgabe nicht nur der Euro-Zone, sondern der Eu-
Präsident Dr. Norbert Lammert: ropäischen Union insgesamt –, dass überprüft wird, ob
Ich erteile das Wort dem Kollegen Bartholomäus die in Rede stehenden Länder, die der Hilfe bedürfen,
Kalb für die CDU/CSU-Fraktion. mit den zur Verfügung stehenden EU-Mitteln aus den
verschiedenen Programmen umfangreichere Maßnah-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men ergreifen könnten, um ihre wirtschaftliche Leis-
tungsfähigkeit stärker zu verbessern, als das bisher der
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Fall war. Ein effizienterer Mitteleinsatz wäre hier sicher-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lich angesagt.
Herren! Wenn wir den Maßnahmen zur Euro-Stabilisie- (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)
rung zustimmen, dann machen wir das mit Sicherheit
nicht leichtfertig. Der Abstimmung gehen sehr intensive Vorhin ist von Kollegen darauf hingewiesen worden,
Beratungen voraus. Jeder Einzelne trifft eine Güterabwä- wie bedeutsam die Stabilität des Euro für uns und die ge-
(B) gung. Wir haben eine Verantwortung, und dieser muss samte Euro-Zone im Hinblick auf unsere Marktsituation, (D)
sich jeder Einzelne stellen. Das gestehe ich jeder Kolle- unsere Wettbewerbssituation und unsere Exportsituation
gin und jedem Kollegen in diesem Hause zu. Trotzdem ist. Ein Kollege hat schon gesagt: Wir Deutschen hatten
haben wir, wie bereits von den meisten Vorrednern ge- in den letzten Jahren Exporte in Höhe von 800 bis
sagt, die wichtige Verpflichtung, für die Stabilität des 900 Milliarden Euro zu verzeichnen; davon gingen rund
Euros und damit für den gemeinsamen Euro-Raum und zwei Drittel in den Bereich der Europäischen Union, da-
das gemeinsame Europa einzustehen. von wiederum der überwiegende Anteil in den Bereich
der Euro-Zone. Man kann sich also leicht ausmalen, was
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Stabilität des Euro für uns bedeutet. Deswegen sind
Wir haben gestern im Haushaltsausschuss sehr lange diese Maßnahmen auch im deutschen Interesse.
und sehr intensiv beraten. Herr Kollege Schneider, da- Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus Zeit-
rum kann ich Ihre Vorwürfe gegenüber dem Finanz- gründen kann ich auf viele andere Punkte, die angespro-
minister überhaupt nicht teilen; ich muss sie zurückwei- chen werden müssten, nicht mehr eingehen. Wir sind
sen. Sie haben den Begriff „verheimlichen“ gebraucht insgesamt für den Euro verantwortlich; es müssen nicht
und gesagt, er hätte uns etwas verheimlicht. Der Bundes- nur die Länder handeln, die jetzt der Hilfe bedürfen. Wir
finanzminister Dr. Schäuble hat sich gestern im Haus- haben gerade ein nationales Programm grundgesetzlich
haltsausschuss nicht nur um das gesetzlich vorgesehene verankert – und auf europäischer Ebene vereinbart –, das
Einvernehmen bemüht, sondern in sehr umfassender und der Konsolidierung der Haushalte dient. Die Bundesre-
erstaunlich offener Art und Weise über alle Zusammen- publik Deutschland hat derzeit eine Verschuldung von
hänge informiert und alle Fragen beantwortet, die man 83 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
normalerweise draußen auf der Straße nicht beantworten
kann. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminis-
ter, an dieser Stelle ganz herzlich danken. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
Ich möchte auf das zurückkommen, was Herr Insofern müssen auch wir einen gewaltigen Beitrag
Steinmeier gesagt hat. Ich meine, hier ist in unzulässiger leisten, damit wir auf den zulässigen Wert von
Vereinfachung einiges durcheinandergebracht worden, 60 Prozent zurückkommen. Als größte Wirtschaftsna-
was die Refinanzierungsbedingungen beim EFSM und tion in der Euro-Zone ist es nicht unbedeutend, wie wir
bei der EFSF auf der einen Seite und die Bedeutung von uns verhalten und was wir hier tun.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12305
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Stehen wir für ein Europa, in dem alle erkennen, dass
wir eine gemeinsame Pflicht zur nachhaltigen Stabilität
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): der Währung haben? Oder heißt „Bekenntnis zu Europa“
All diese Maßnahmen sind koordiniert vorzunehmen. Laisser-faire? Heißt es: „Wir sagen Ja, und dann darf je-
Hätte man die Regeln des Maastricht-Vertrags, die Theo der tun, was er will, aber alle müssen die Folgen unver-
Waigel erarbeitet hat, durchgehend eingehalten und die antwortlichen Handelns gemeinsam tragen“? Wir stehen
Kriterien streng beachtet, dann hätten wir heute manches für ein prinzipiengeleitetes Europa. Wir ringen darum,
Problem nicht zu bewältigen. dass die Prinzipien auch in schweren Zeiten eingehalten
werden. Denn wir benötigen sie für den dauerhaften Er-
Herzlichen Dank.
halt unserer Wertegemeinschaft.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich will darauf hinweisen, dass in der Regierungszeit
Michael Meister ist der nächste Redner für die CDU/ des Bundeskanzlers Gerhard Schröder – damals hat der
CSU-Fraktion. heutige Fraktionsvorsitzende der SPD Mitverantwortung
getragen – an zwei Stellen wesentliche Voraussetzungen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dafür geschaffen wurden, dass wir nun in einer schwieri-
gen Lage sind.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU): (Joachim Poß [SPD]: Quatsch!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Ein-
druck am Ende dieser Debatte ist, dass sie zwar sehr Erstens. Die Aufnahme Griechenlands wurde geneh-
kontrovers war, es in diesem Haus aber gleichzeitig eine migt, ohne dass die Voraussetzungen erfüllt waren.
breite Zustimmung dafür gibt, die notwendige Hilfe für (Manfred Zöllmer [SPD]: Sie waren doch auch
Portugal unter den genannten Kriterien und Konditionen dafür!)
zu gewähren und vonseiten des Bundestages ein klares
Signal zu geben, dass wir dies für richtig halten. Das ist Da wurden Prinzipien verletzt. Das ist das Problem, über
ein bemerkenswertes Signal. Wir machen von unserem das wir reden: Halten wir Prinzipien ein, oder verletzen
Recht, als Parlament Stellung zu nehmen, heute Ge- wir Prinzipien?
brauch. Ich will sagen: Wir tun das in verantwortlicher
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) Weise. Deshalb sollte auch niemand Furcht haben, wenn (D)
wir dieses Parlamentsrecht bezogen auf den ESM einfor- Zweitens. Wir als Deutsche haben im Rahmen der
dern. Wir zeigen heute, dass wir mit diesem Instrument Debatte über den Maastricht-Vertrag nicht, wie wir es
verantwortlich umgehen. jetzt tun, darum gerungen, ihn zu stärken, um künftige
(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Krisen zu vermeiden.
Dass sich der Deutsche Bundestag in solche Debatten (Joachim Poß [SPD]: Waren Sie denn damals
einschaltet, ist ein Beitrag zur Stärkung des Euro und dagegen?)
nicht eine Infragestellung der Stabilität unserer Wäh- Es ist nur ein Beitrag dazu geleistet worden, die Voraus-
rung. setzungen aufzuweichen und uns damit ein Stück weit in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Krise hineinzuführen. Deshalb sage ich: Wir brau-
chen Prinzipien und müssen auch in schwierigen Zeiten
Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir den ESM schaf- um diese Prinzipien ringen.
fen, im Falle der Aktivierung des ESM eine Beteiligung
des Deutschen Bundestages ausdrücklich vorsehen. Au- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ßerdem sollten wir für den Fall einer Veränderung der Es wird immer wieder die Führungsrolle Deutsch-
Instrumente des ESM einen Gesetzesvorbehalt schaffen. lands eingefordert. Ich verstehe unter dem Begriff Füh-
Das ist mein Verständnis davon, wie der Deutsche Bun- rungsrolle nicht – das möchte ich ausdrücklich sagen –,
destag mit diesen Dingen umgehen sollte. dass man schaut, wohin alle laufen, und dann versucht,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schneller zu laufen als alle anderen. Ich verstehe unter
dem Begriff Führungsrolle, dass man nachdenkt, in wel-
Heute Morgen ist von verschiedenen Kollegen ein che Richtung man zu laufen hat. Man muss außerdem
klares Bekenntnis zu Europa eingefordert worden. Ich versuchen, in der Diskussion die richtige Richtung vor-
glaube, niemand braucht die Unionsfraktion dazu aufzu- zugeben. An der Stelle möchte ich dem Bundesfinanz-
fordern. Ja, wir sind für Europa. Die Frage ist aber doch minister Wolfgang Schäuble und unserer Bundeskanzle-
nicht, ob wir für Europa sind. Die Frage ist vielmehr, für rin ein ausdrückliches Lob aussprechen. Denn nicht
welches Europa wir stehen. Herr Steinmeier, stehen wir jeder führt die Diskussion über die richtige Richtung und
für ein Europa, das Prinzipien hat, in dem jeder seine steht dazu, wenn andere etwas leichtfertig damit umge-
Verantwortung an seinem Platz wahrnimmt und wo jeder hen. Deshalb möchte ich beide sowie die gesamte Regie-
für das haftet, was er tut, und Eigenverantwortung über- rung bestärken, darum zu ringen, dass wir in die richtige
nimmt? Richtung gehen und nicht nur schnell laufen. Das sollte
12306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Lassen Sie mich in den wenigen Minuten Redezeit, Präsident Dr. Norbert Lammert:
die ich noch habe, auf ein anderes Thema eingehen, das Lieber Herr Stübgen!
heute schon mehrfach angesprochen worden ist. Zurzeit
befinden wir uns in den Verhandlungen zur Einrichtung
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus. Darüber Michael Stübgen (CDU/CSU):
wird in der Bundesregierung, in der Europäischen Kom- Ich bin gleich fertig. – Wir sollten den ESM anders
mission und in vielen Ausschüssen unseres Hauses de- als den EFSF und den Griechenland-Fonds mit einer
battiert. Unser Ziel ist es, einen dauerhaften Mechanis- großen Mehrheit im Bundestag beschließen. Dazu haben
mus zu schaffen. Bei diesem dauerhaften Mechanismus wir jetzt die Chance, und diese sollten wir nutzen. Las-
wollen wir aber Fehler, die wir bei den bisherigen Me- sen Sie uns dafür arbeiten, dass wir das Gesetzeswerk
chanismen erkannt haben, ausschließen. Deshalb unter- am Ende dieses Jahres mit großer Mehrheit beschließen
stützt die CDU/CSU-Fraktion ganz nachhaltig das Ziel können!
der Bundesregierung und insbesondere von Bundes-
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
minister Schäuble, dass dieser Mechanismus im Fall des
Verlustes der Schuldentragfähigkeit, das heißt der dro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
henden Insolvenz, zwingend die Gläubigerbeteiligung
vorsieht. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich schließe die Aussprache.
(B)
Es ist bedauerlich, dass wir mit dieser Forderung in fast Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent- (D)
allen anderen Euro-Ländern auf extremen Widerstand schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
stoßen. Diese Auseinandersetzung müssen wir aber füh- FDP auf der Drucksache 17/5797. Hierzu liegen mir
ren und gewinnen; denn sonst wird das kein nachhaltiger neun persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die
und tragfähiger Konsolidierungsmechanismus werden. wir dem Protokoll beifügen1).
In einem Punkt besteht im Moment noch eine Diffe- Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
renz zwischen der Auffassung der Bundesregierung und stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ent-
zumindest den Europapolitikern im Bundestag; auch schließungsantrag mehrheitlich angenommen.
darauf will ich kurz eingehen. Es geht um die grundsätz- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da haben
liche Frage der Konstruktion des ESM und seiner Zu- einige dagegengestimmt von der CDU! – Ge-
ordnung. Die Bundesregierung hat uns in mehreren genruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]:
Schriftsätzen mitgeteilt, dass sie davon ausgeht, dass der Bleib ganz ruhig! – Norbert Barthle [CDU/
Europäische Stabilisierungsmechanismus eine interna- CSU]: Parlamentarische Grundrechte! Ich weiß
tionale Finanzorganisation wie IWF, Weltbank etc. sein gar nicht, was es da zu sagen gibt!)
soll. Ich glaube, es gibt einige gute Gründe für diese
Auffassung. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass – Das ergibt sich ja auch aus den angekündigten Erklä-
diese Auffassung schlussendlich nicht tragfähig sein rungen zur Abstimmung, die dem Protokoll beigefügt
wird. Dazu noch einige kurze Sätze. werden, wie von mir vor der Abstimmung mitgeteilt. An
der mehrheitlichen Zustimmung wird von niemandem
Der Europäische Stabilisierungsmechanismus wird ernsthaft Zweifel angemeldet. Dann halten wir auch das
eine europäische Angelegenheit sein. Er wird eine Insti- noch einmal so fest.
tution nach dem europäischen Komplementärrecht sein.
Das sieht man erstens daran, dass wir für die Einrichtung Nun stimmen wir über den Entschließungsantrag der
den europäischen Vertrag ändern müssen. Das wäre Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5798
nicht nötig, wenn das eine unabhängige Institution wer- ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
den würde. Zweitens werden die Europäische Kommis- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dieser Entschlie-
sion und die EZB eine ganz herausgehobene Funktion ßungsantrag ist genauso unzweifelhaft mit Mehrheit ab-
hinsichtlich der Arbeit des ESM bekommen. Das Euro- gelehnt.
päische Parlament erhält Informationsrechte hinsichtlich
der Arbeit des ESM. Der Europäische Gerichtshof wird 1) Anlagen 3 bis 5
12308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(B) (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D)
NEN]: Genau! Deshalb brauchen wir ja auch Aha! Da haben wir den eigentlichen Grund,
neue Konzepte, Herr Fuchs! – Ingrid Nestle warum Sie so argumentieren! Jetzt kommt
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie endlich alles ans Licht!)
unserem Antrag zu! Dann ändert sich das! – Ich wünsche mir von Ihnen konkrete Vorschläge. Ich
Zuruf von der SPD: Wer regiert denn?) wünsche mir von Ihnen, dass Sie Ihre eigenen Leute vor
Es wird höchste Zeit, dass wir alle nach Lösungen su- Ort bremsen und dafür sorgen, dass sie konstruktiv mit-
chen. Am Anfang dieses Prozesses kann gerne eine Bür- machen. Es bringt nichts, in Berlin dafür zu sein und vor
gerbeteiligung stattfinden. Aber danach muss es schnell Ort dagegen.
gehen. Dann darf nicht mehr jeder sagen: „Jetzt klage (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ich noch gegen dieses und jenes.“ Sie haben die eigentlichen Probleme gar nicht
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erkannt, Herr Fuchs!)
Sie zwingen die Leute doch dazu!) Dabei können Sie mithelfen. Dabei sind Sie alle gefor-
Außerdem werden wir darüber zu diskutieren haben, dert. Wenn Sie das nicht tun, helfen Sie nicht mit, den
wie wir im Rahmen des Netzausbaus dafür sorgen kön- Energiewandel so schnell wie möglich zu gestalten.
nen, dass die Erdverkabelung vernünftig durchgeführt Dazu fordere ich Sie auf.
wird. Mit dem Thema Erdverkabelung muss man sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
beschäftigen. Es handelt sich dabei nämlich um eine völ-
lig neue Technologie, die noch nicht erprobt ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wir haben die EnLAG-Novelle verabschiedet, in der Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der
steht, dass diese Anlagen jetzt erprobt werden sollen. Bis SPD-Fraktion.
heute ist noch keine einzige in Betrieb. Hinzu kommt,
dass sie technisch hochkomplex sind. Die Kabel müssen (Beifall bei der SPD)
gut 1,50 Meter tief im Boden verlegt werden, und zwar
in Betonrohren. Das bedeutet zum Beispiel, dass man in Rolf Hempelmann (SPD):
der freien Flur Brücken bauen muss, damit dort auch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
schwere Landmaschinen fahren können. Entlang der Ka- Liebe Kollegen! Herr Fuchs, Ihre Kollegen aus der
belschächte muss eine Revisionsstraße verlaufen. Bei Unionsfraktion haben in den letzten Tagen immer wieder
den Menschen wird es keine besonders große Freude gesagt, sie hätten eine Menge gelernt. Wenn man Ihre
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12311
Rolf Hempelmann
(A) Rede eben verfolgt hat, dann weiß man nicht, ob man Deutschland so erfolgen, dass es mit dem europäischen (C)
das auf die gesamte Fraktion beziehen darf. Stromhandel vereinbar ist. Gleichzeitig brauchen wir auf
der lokalen Ebene, also dezentral, Investitionen insbe-
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Reden Sie
sondere in die Verteilnetze, die es ermöglichen, dass ge-
über Rot-Weiss Essen! Davon haben Sie mehr
rade Photovoltaik, aber auch erneuerbare Energien allge-
Ahnung!)
mein in das System integriert werden. Wir stehen vor
Jedenfalls wünsche ich mir, dass Sie bei dem, was Sie quantitativen, aber vor allen Dingen auch vor qualitati-
in den nächsten Wochen und Monaten im Bereich der ven Herausforderungen. Ich darf an dieser Stelle das
Energiepolitik tun, tatsächlich auf Konsens setzen und Stichwort „intelligente Netze“ erwähnen.
Brücken bauen, statt wieder Gräben zu ziehen, wie Sie
es in dieser Rede getan haben. Gerade vor diesem Hintergrund ist es jetzt besonders
wichtig, über Verfahren zu sprechen, die anders als in der
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vergangenheit tatsächlich zu Beschleunigungen führen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn es ist richtig, was Herr Fuchs gesagt hat: Es ist er-
nüchternd, in welchem Umfang etwa die dena-I-Projekte
Wir haben bis zur Sommerpause einiges vor. Wir re-
bisher realisiert worden sind, nämlich nur zu 10 Prozent.
den heute über den Netzausbau. Der Netzausbau ist aber
Aus der dena-Netzstudie II wird deutlich – egal wie man
nur in einem Gesamtkonzept zu verstehen, das bis zur
sie interpretiert und ob man eher vom oberen oder vom
Sommerpause vorliegen muss. Ich will etwas dazu sa-
unteren Rand der Ausbaunotwendigkeiten ausgeht –,
gen, was auf der Tagesordnung steht. Nachdem die
dass wir vor weiteren Herausforderungen stehen.
Kommissionen ihre Berichte vorgelegt haben und das
Kabinett im Juni entschieden hat, soll bis Anfang Juli im Es ist richtig, bei der Akzeptanz der Bevölkerung – das
Bundestag und anschließend im Bundesrat Folgendes ist der entscheidende Punkt – anzusetzen; dazu ist gerade
beschlossen werden: Novellen des Atomgesetzes, Ener- schon einiges gesagt worden. Um die Akzeptanz der Be-
giewirtschaftsgesetzes und Netzausbaugesetzes, das völkerung geht es übrigens nicht nur im Energiebereich
Bauplanungsgesetz sowie Anpassungen im Gesetz zum und insbesondere beim Netzausbau, sondern auch bei
Energie- und Klimafonds, in den EEG-Eckpunkten, den anderen Infrastrukturprojekten. Deswegen sage ich ge-
Eckpunkten zur Energieeinsparverordnung und im rade in Richtung der Regierungskoalition: Das, was Sie
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz. bei CCS gemacht haben, konnten Sie sich bei diesem
Ich glaube, es wird deutlich, dass wir dabei vor einer Thema vielleicht leisten. Sie werden sich das Gleiche
sehr großen Aufgabe stehen und dass vieles dafür ge- aber beim Netzausbau und bei den Gesetzen, die ich
sprochen hätte, die Zeit zu nutzen und diese Themen von vorhin aufgeführt habe, nicht leisten können. Sie kön-
(B) Anfang an im Bundestag und in geeigneten Gremien, nen nicht jeder Schwierigkeit, jedem Mangel an Akzep- (D)
zum Beispiel in einem Sonderausschuss, vorzubereiten. tanz – auch in Ihren eigenen Reihen auf Landesebene –
ausweichen, indem Sie Opt-out-Regelungen schaffen,
(Beifall bei der SPD) die es den Ländern erlauben, nicht mitzumachen.
Das Thema Netze ist in der Tat – das ist schon in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Rede von Frau Nestle angeklungen – ein Kernpunkt im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gesamtkonzept. Es ist sozusagen das Nadelöhr: Wenn
wir bei dem Thema nicht vorankommen, dann wird es Das wird nicht gehen, wenn wir tatsächlich einen Ener-
bei allen anderen schwierig, insbesondere bei der Inte- giekonsens erzielen und die Energiewende in diesem
gration und beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Land schaffen wollen. Legen Sie also Gesetzentwürfe
Energien, aber auch bei allen Veränderungen im sonsti- vor, die mit den Ländern so abgestimmt sind, dass wir
gen Kraftwerkspark. zumindest auf der politischen Ebene einen Konsens er-
reichen können!
Deswegen ist es selbstverständlich unsere gemeinsame
Verantwortung, alles zu tun, um zu den notwendigen Die Reaktionen der Länder auf die von Ihnen vorge-
Netzinvestitionen zu kommen. Diese brauchen wir bei- legten Eckpunkte eines Netzausbaugesetzes stimmen
spielsweise zur Anbindung der Offshorewindenergie und bisher nicht sehr optimistisch. Ich gebe Ihnen in der in-
zum Ausgleich der Volatilitäten von erneuerbaren Ener- haltlichen Grundausrichtung nicht unrecht. Ja, wir brau-
gien, insbesondere von Windkraft und Photovoltaik. Wir chen eine Art Bundesnetzplan. Ja, wir brauchen auch
brauchen dazu auch Leitungen, die zum Teil außerhalb eine engere Verzahnung von Bundes- und Länderebene.
unserer Landesgrenzen sind, beispielsweise Interkonnek- Aber es macht keinen Sinn, mit dem Kopf durch die
toren nach Skandinavien, um die dortigen Speicherkapa- Wand zu rennen und den Ländern aufzuoktroyieren, dass
zitäten zu nutzen. Das ist übrigens im beiderseitigen Inte- das gesamte Verfahren inklusive des Planfeststellungs-
resse. Denn es führt auch gleichzeitig zu einer besseren verfahrens auf der Bundesebene durchzuführen ist. Das
Nutzung der Wasserkraft für die Stromerzeugung in Nor- kann man empfehlen, wenn man Berater der Bundesre-
wegen. Dahinter stehen also durchaus belastbare Ge- gierung ist. Aber die Politik muss wissen, dass es eine
schäftsmodelle. geteilte Verantwortung in diesem Land gibt. Das können
wir nicht einfach wegwischen.
Wir stehen vor einer besonderen Herausforderung,
weil wir gleichzeitig in großen Zusammenhängen den- Es geht eher darum, intelligente Lösungen zu finden,
ken müssen, was Europa angeht. Es geht darum, das wie wir zu Beschleunigungen kommen, etwa durch die
Netz in Europa insgesamt auszubauen. Das muss in Zusammenlegung von Verfahren, durch eine zeitlich pa-
12312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Rolf Hempelmann
(A) rallele Abwicklung von Verfahren und durch Vermei- offiziell als Drucksache in die Debatte eingebracht ha- (C)
dung von Doppelprüfungen. Hier erwarten wir von Ih- ben. Wir sagen nicht: „Vogel friss oder stirb!“, sondern
nen konkrete Vorschläge. Beteiligungsrechte, egal ob das ist ein Angebot. Schauen Sie es sich bitte an! Wir
von den Menschen vor Ort oder von den Bundesländern, sind auch überhaupt nicht böse, wenn Sie daraus ab-
dürfen dabei jedenfalls nicht in Mitleidenschaft gezogen schreiben. Ich verspreche Ihnen: Wir werden Sie nicht
werden. wegen Diebstahl geistigen Eigentums verklagen, es gibt
nicht die nächste Plagiatsaffäre. Im Gegenteil: Wir wür-
Der Netzausbau ist nur ein Teil des Energiekonsenses, den Sie dafür loben; denn das wäre ein wichtiger Schritt
den wir in diesem Land benötigen. Es gibt viele andere in Richtung eines breiten Energiekonsenses.
Fragen, die wir in den nächsten Wochen zu beantworten
haben. Wenn Sie einen parteiübergreifenden Konsens Vielen Dank.
wollen, dann müssen Sie sich bewegen. Dann müssen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie bis zur Sommerpause Vorschläge zu allen zentralen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
energiepolitischen Themen vorlegen. Sie müssen mit
uns vorher reden, um auszuloten, wie sich beide Seiten
bewegen müssen, damit es am Ende ein parteiübergrei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
fendes Konzept gibt. Das hätte einen Wert an sich, weil Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDP-
die Investitionszyklen im Energiesektor sehr lang sind Fraktion.
und weil die gesamte Branche – sie ist sehr vielfältig; es
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
geht nicht allein um die großen Energiekonzerne, son-
der CDU/CSU)
dern vor allen Dingen auch um die vielen Stadtwerke
und die neuen Akteure auf dem Markt – verlässliche und
langfristig geltende Rahmenbedingungen braucht. Klaus Breil (FDP):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Ich wünsche mir, dass wir eine Einigung erreichen, gen! Der bedingungslose Kampf gegen die Kernkraft –
der alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zustim- das ist die grüne Stoßrichtung dieses Antrags, sonst
men können. Nur dann sind wir sicher, dass wir in der nichts. Ein geordneter Übergang in das Zeitalter der er-
nächsten Legislaturperiode nicht wieder von vorne an- neuerbaren Energien wird dabei zur Nebensache, er ist
fangen müssen. Noch wichtiger: Nur dann sind die Ak- lästiges Beiwerk.
teure in der Energiewirtschaft und der energieverbrau-
chenden Wirtschaft sicher, dass das, was wir heute Die Bemerkung in Ihrem Antrag, dass die Bundesre-
beschließen, auch morgen und übermorgen gilt. Wir gierung seit Jahren nur Marionette der Stromkonzerne
brauchen also belastbare Vorschläge, etwa beim Ausbau sei, kann ich nur auf die grün-rote Regierung Fischer/
(B)
der erneuerbaren Energien und bei der Systemintegra- Schröder beziehen, sonst wäre Ihre Behauptung einzig (D)
tion der erneuerbaren Energien. Möglicherweise werden und allein eine Beleidigung und zugleich ein geistiger
sich Rot und Grün auf der einen Seite sowie Schwarz Tiefflug.
und Gelb auf der anderen Seite relativ schnell einigen. (Beifall bei der FDP)
Aber wir brauchen einen breiteren Konsens.
Denken Sie bitte daran, dass Sie damit auch Tausende
Wir brauchen auch eine Abstimmung in der Frage: von Mitarbeitern der Energieunternehmen verunglimp-
Wie gehen wir in der Übergangsphase, bis wir fen. Vorbildlich ist da der einmütige Appell der Ethik-
100 Prozent erneuerbare Energien erreicht haben, mit kommission unter Klaus Töpfer, derartige Verunglimp-
dem konventionellen Kraftwerkspark um? Ich glaube, fungen zu unterlassen.
dazu ist ein besonderer Dialog zwischen Rot und Grün
gefragt. Sie werden sich innerhalb der Koalition viel- (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)
leicht leichter tun. Aber am Ende müssen wir eine Lö-
Zur Sache: Die Folge des von den Grünen vorgeschla-
sung finden, in der wir uns alle wiederfinden können.
genen Atomausstiegs wäre ein Wegfall der Kernkraft-
Auch da gilt – Sie haben beispielsweise die Unterstüt-
werke bis zum Jahr 2017. Diese müssten wir zunächst
zung des Wirtschaftsministeriums und des Umweltmi-
weitestgehend durch fossile Kapazitäten und Stromim-
nisteriums –: Sie sind gefordert, im Vorfeld belastbare
porte ersetzen. Gleichzeitig müssten wir wegen fehlender
Vorschläge zu machen, nachdem Sie hoffentlich auch
Netze hohe Windstromüberschüsse ins Ausland exportie-
zeitnah den Dialog mit uns begonnen haben.
ren. So weit meine Bemerkung zum unreflektierten Anti-
Dies sind nur zwei Beispiele, bei denen wir eine Ver- kernkraftdenken.
ständigung brauchen. Man könnte noch weitere anfüh-
Das ist nun wirklich kein vernünftiger Weg zu den er-
ren. Dazu gehört beispielsweise die Frage: Wie halten
neuerbaren Energien. Vernünftig ist die sinnvolle Be-
wir es mit der Industrie in diesem Land? Ich höre aus al-
schleunigung des Netzausbaus, so wie es bereits in unse-
len Fraktionen das Bekenntnis: Wir wollen Industrie-
rem Energiekonzept steht und wie es in den Vorhaben
standort bleiben! – Dann müssen wir aber auch das Not-
der Regierung umgesetzt wird.
wendige dafür tun, damit wir es tatsächlich bleiben
können. (Beifall bei der FDP)
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben zu diesen Das Lesen Ihres Antrags weckt in mir vor allem einen
Themen Vorschläge gemacht. Wir haben ein Energiepro- Gedanken: Glauben Sie wirklich, was Sie da so schrei-
gramm vorgelegt, das wir in der letzten Sitzungswoche ben? Oder dient das gebetsmühlenhafte Wiederholen fal-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12313
Klaus Breil
(A) scher Behauptungen lediglich der Mobilisierung einiger Zwei der vier Energiekonzerne haben ihre Netze be- (C)
Ihrer Aktivisten und Sympathisanten? reits verkauft. Diese Netze werden von den neuen Eigen-
tümern eigenständig und unabhängig betrieben. Ich
(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: meine TenneT und 50 Hertz.
Welche Behauptungen sind falsch?)
Die Amprion GmbH als Tochtergesellschaft der RWE
Sie wiegeln die Bevölkerung auf. Die Bürger sollen sich AG ist gemäß den Anforderungen des Energiewirt-
gegen große Unternehmen auflehnen. Alles Große ist in schaftsgesetzes rechtlich eigenständig und befindet sich
Ihren Augen von vornherein böse, der Dämon. Dieses übrigens gerade im Verkaufsprozess. EnBW ist überwie-
grundsätzliche Misstrauen gegen jede Wirtschaftlichkeit gend in staatlichem Besitz und hat seit ein paar Wochen
und Skaleneffekte ist es auch, was mich grundsätzlich an ein Mitglied Ihrer Grünen im Aufsichtsrat. Zudem will
Ihrer Politik stört. der jetzt neue Umweltminister in Baden-Württemberg ja
(Beifall bei der FDP) ohnehin das EnBW-Netz verkaufen, um seine alternati-
ven Umstiegsfantasien bezahlen zu können.
Es riecht schon nach bewusster Agitation, wenn Sie die
Netzbetreiber in aller Öffentlichkeit ständig mit Atom- Auch die weiteren Punkte sind altbacken und fade.
konzernen gleichstellen. Sie wissen selbst: Das stimmt Die zentralen Ideen Ihres Antrags können Sie alle im
nicht. Sie propagieren bewusst etwas Falsches. Energiekonzept der Bundesregierung, in der Novelle
zum Energiewirtschaftsgesetz
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Herr Kollege Breil, darf ich Sie kurz unterbrechen? – Machen Sie nur weiter so! Dann geht es für
Frau Kollegin Nestle würde Ihnen gern eine Zwischen- Sie nicht mehr hoch!)
frage stellen. oder in den Vorschlägen des Bundeswirtschaftsministers
zu einem Netzausbaubeschleunigungsgesetz finden. Ich
Klaus Breil (FDP): meine damit den Bundesfachplan für Hochspannungs-
Ja, bitte. netze, den Ruf nach Vereinfachung der Verfahren, die
Trennung von Netz und Erzeugung und die Forderung
nach Smart Grids. In diesem Sinne begrüße ich sogar
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihre Forderungen, übrigens ganz im Gegenteil zu den
Bitte schön, Frau Nestle. Sozialdemokraten, Ihren Wunschpartnern. Der ehema-
lige Staatssekretär im BMU und jetzige Wirtschafts-
Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): minister von Thüringen, Matthias Machnig, hat am
(B) (D)
Danke schön. – Weil Sie mir jetzt zweimal vorgewor- vergangenen Dienstag beispielsweise eine Bundesfach-
fen haben, bewusst falsche Tatsachen darzustellen, planung abgelehnt.
möchte ich Sie einfach nur fragen: Was ist Ihrer Mei- (Zuruf von der FDP: Aha!)
nung nach in unserem Antrag an falschen Tatsachen wie-
dergegeben? Doch werden wir konkret: Ich fordere Sie vor diesem
Hohen Hause auf, die Notwendigkeit des Netzausbaus,
wie in Ihrem Antrag auch beschrieben, in Ihre grüne Ba-
Klaus Breil (FDP): sis hineinzutragen. Überzeugen Sie die Leute vor Ort!
Frau Kollegin, das habe ich Ihnen ja gesagt, und das Ich bin wirklich gespannt, wie Ihnen dies gelingen wird.
werde ich Ihnen im weiteren Verlauf noch sagen.
Allerdings sind wir uns in manchen Punkten auch
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einig: Auch wir wollen eine frühzeitige und intensive
Ganz konkret, eins, zwei, drei! – Weiterer Zu- Bürgerbeteiligung und eine hohe und frühzeitige Verfah-
ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sagen renstransparenz. Wir wollen die heute üblichen Doppel-
Sie es mal! Was ist falsch? – Zuruf von der prüfungen durch Bürgerbeteiligung zu denselben Sach-
SPD: Nur Mut!) punkten in der Raumordnung und in der Planfeststellung
vermeiden. Allerdings sind die staatliche Kontrolle der
– Ich kann die Rede ja noch einmal von vorn beginnen.
Netzbetreiber und deren Gängelung zu Investitionen,
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wie Sie das fordern, absolut überflüssig.
Sie haben kein Argument! Das ist sehr interes- Das kann ich Ihnen durch folgende Zahlen belegen.
sant! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE Die beiden schon jetzt unabhängigen Übertragungsnetz-
GRÜNEN: Bitte unterlassen Sie doch solche betreiber sind im vergangenen Jahr Investitionsver-
Äußerungen!) pflichtungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro ein-
gegangen: TenneT mit 2,5 Milliarden Euro, 50 Hertz mit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 1,6 Milliarden Euro. Sie planen bis 2020 eine Verdoppe-
Herr Kollege Breil, Sie haben das Wort. lung dieser Anstrengungen: TenneT 6 Milliarden Euro
und 50 Hertz 3,3 Milliarden Euro.
Klaus Breil (FDP): Dort, wo Sie die Netzbetreiber nicht auf den geballten
Sie wissen es selbst: Es stimmt nicht. Sie propagieren Widerstand von professionell organisierten Gegnern sto-
nämlich bewusst Falsches. ßen lassen – ich meine hier nicht die berechtigten Inte-
12314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Klaus Breil
(A) ressen der anwohnenden Bürger –, geht es mit dem beruht, machen deutlich, dass wir noch einmal ansetzen (C)
Netzausbau auch voran. müssen und dass die entsprechenden Projekte überprüft
werden müssen. Das ist einer der Gründe, warum der Wi-
Kommen wir nun zu einem Schlagwort Ihres Antrags,
derstand gegen die Ausbauprojekte gerade bei 380-kV-
den Sanktionen. Die derzeitige Sachlage ist bekannt: Hat
Trassen in den Regionen so stark ist. Die Leute haben
ein Netzbetreiber schuldhaft nicht investiert und Leitun-
nämlich längst gemerkt: Diese Leitungen sind nicht nö-
gen nicht ausgebaut, dann wird der Bau dieser Leitung
tig, um Erneuerbare ans Netz zu bringen; man plant mit
ausgeschrieben. Infolgedessen bekommt derjenige mit
fehlerhaften und alten Zahlen.
dem besten Angebot den Zuschlag für die jeweilige
Trasse. Die schon bestehende Regelung ist also folge- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dirk
richtig und vernünftig. Becker [SPD] und Ingrid Nestle [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Ihre Forderungen bezüglich der Nutzung vorhandener
Infrastrukturen sind ebenso altbekannt. Die Bahntrassen Es ist vollkommen klar, dass es unter diesen Voraus-
sind zum Beispiel nicht breit genug für 380-kV-Leitun- setzungen einer Änderung des EnLAG, des Energielei-
gen. Deren 40-Meter-Schneisen reichen für den Bau tungsausbaugesetzes, bedarf. Unser erster Schritt ist,
nicht aus. Für die neuen Leitungen bräuchte man min- weiterzukommen auf dem Weg hin zu 100 Prozent er-
destens rund 60 Meter; auch die Masten müssten deut- neuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass sinnlos
lich erhöht werden. Geld zum Fenster hinausgeworfen wird. Die aufgrund
der dena-Studie geplanten Ausbauprojekte müssen auf
Beides hätte zur Folge, dass die Netzbetreiber – nach
Eis gelegt werden.
geltendem Recht – neue Verfahren anstrengen müssten,
und das nicht ganz zu Unrecht. Schauen Sie beim Bahn- (Beifall bei der LINKEN)
fahren doch mal aus dem Fenster: Sie sehen Häuser, Sie
sehen Fabriken, Sie sehen Gärten; die stehen einem Aus- Erst wenn wir einen Zielplan haben, der klarstellt,
bau oft im Wege. welche Netze bei einer dezentralen Erzeugung erneuer-
barer Energien notwendig sind, können wir an konkrete
Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie uns Ausbauprojekte herangehen. Denken wir nur an den im-
zur Beschleunigung des Netzausbaus vorlegen, zeigt mensen Zuwachs bei Solarstrom. Er macht inzwischen
einzig und allein Ihr eigenes Dilemma. Es ist das Di- im Mittel 2 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus,
lemma zwischen Ihren frommen Wünschen in Berlin tagsüber deutlich mehr, und zwar genau dann, wenn auf-
und der selbst heraufbeschworenen Realität vor Ort. Es grund der Spitzenlast besonders viel Strom gebraucht
sind die Geister, die Sie riefen und die Sie nicht mehr wird. Das gilt an sonnenreichen Tagen noch viel mehr.
loswerden. Das führt zum Beispiel dazu, dass der Energiebedarf in
(B) (D)
weiten Bereichen Sachsen-Anhalts voll durch Erneuer-
Herzlichen Dank.
bare gedeckt werden kann. Der dezentrale Ausbau der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Anlagen für erneuerbare Energien macht es also nötig,
der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ dass die Verteilnetze fitgemacht werden, damit die de-
DIE GRÜNEN]: Schön abgelesen! – Weiterer zentralen Anlagen auch wirklich an das Netz ange-
Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: schlossen werden können.
Schön aufgeschrieben!)
Es ist klar: Eon, RWE und Vattenfall sind an den
Nord-Süd-Trassen interessiert, weil sie wollen, dass ihre
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kohlekraftwerke und ihre Atomkraftwerke im Norden
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner am Netz bleiben. Sie wollen, dass ihr Strom weiterhin in
von der Fraktion Die Linke. die südlichen Bundesländer verkauft wird. Stattdessen
(Beifall bei der LINKEN) sollten sie unterstützen, dass der überfällige Ausbau er-
neuerbarer Energien, zum Beispiel aus Windanlagen,
stattfindet.
Dorothee Menzner (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Das Interesse der Konzerne, die fossile Energie erzeu-
Kollegen! 2004 wurde in Zusammenarbeit mit unter an- gen, ist, die zentralen, monopolhaften Strukturen zu er-
derem drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschland halten, und dafür brauchen sie diese Trassen. Wenn wir
eine Studie angefertigt. In dieser Studie wurde vorausge- den Anteil der fossilen Energie zurückfahren wollen,
sagt, dass im Jahr 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Off- dann brauchen wir die Erneuerbaren. Die Menschen
shoreenergie, also auf See erzeugte Windenergie, und wollen die Energiewende, und sie merken, dass das, was
24,4 Gigawatt Onshoreenergie, also an Land erzeugte hier vielerorts geplant ist, nicht dazu passt, sondern wei-
Windenergie, produziert würden. Jetzt haben wir 2011, ter die großen Konzerne fördert.
und wir haben nur 0,2 statt 5,4 Gigawatt Offshoreener- Eine Energiewende muss – das sagt die Linke ganz
gie, dafür aber 27 statt 24 Gigawatt Onshoreenergie. deutlich – eine soziale Energiewende sein.
Durch die bis heute bundesweit installierte Photovol-
(Beifall bei der LINKEN)
taik ist die für 2020 erstellte Prognose der Deutschen
Energie-Agentur, dena, längst übertroffen worden. Die Das heißt auch, die Macht der Konzerne zu brechen und
in dieser Studie vorgenommenen groben Fehleinschät- in Zukunft auf die kleinen und mittleren Energieanbieter
zungen, auf denen die Netzausbauplanung bis heute zu setzen. Es geht dabei gerade um die kommunale
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12315
Dorothee Menzner
(A) Ebene, also um die Stadtwerke, und um demokratische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
Kontrolle. Energetische Großprojekte wie Offshorewind- neten der FDP – Dr. Michael Fuchs [CDU/
parks müssen auch von Stadtwerken – ich denke dabei CSU]: Sag es ihnen!)
an Genossenschaften – realisierbar sein. Unter anderem
deshalb schlagen wir vor, das Ende der 80er-Jahre ge-
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
schleifte Genossenschaftsgesetz zu reformieren und für
die beschriebenen Aufgaben fitzumachen. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich freue mich – das meine ich jetzt nicht bösartig –,
(Beifall bei der LINKEN) dass die Grünen mit ihrem Antrag in der Realität ange-
kommen sind.
In ihrem Antrag gestehen die Grünen der öffentlichen
Hand gerade einmal eine Rolle als Kapitalgeber zu. Das (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Oh!)
genügt aus unserer Sicht nicht. Das schafft weder Trans-
parenz noch Mitbestimmung. Die Ideen der Grünen grei- Bisher wurde der notwendige Netzausbau in dem fragli-
fen zu kurz. Die öffentliche Hand muss durch eigene chen Umfang von Ihnen nämlich immer bestritten, und
kommunale und staatliche Unternehmen selber Eigentü- es wurde gesagt: Man muss das nur anders, dezentraler
mer der Stromnetze werden, und zwar sowohl der Ver- organisieren, dann brauchen wir diesen Netzausbau
teilnetze als auch der Übertragungsnetze. nicht. Daneben wurden Verschwörungstheorien bemüht
– Ansätze dafür finden sich noch in Ihrem Antrag –,
(Beifall bei der LINKEN) nach dem Motto „Von den Netzbetreibern wird der not-
wendige Netzausbau hintertrieben“ oder „Atomstrom
Nur so schaffen wir es, eine wirklich demokratische
verstopft die Netze“ und anderes mehr.
Kontrolle über die Netzinfrastruktur, die ein Teil der Da-
seinsvorsorge ist, zu erlangen und Investitionen da zu tä- Das Geschäftsmodell des Netzbetriebes – das gilt ins-
tigen, wo sie wirklich nötig sind. besondere für die Übertragungsnetze – hat sich im Übri-
Wenn wir von Netzumbau sprechen, dann meinen wir gen mit der Mitwirkung Ihrer verehrten Vorgängerin,
nicht nur die rein technische Seite. Wir sprechen dann Frau Nestle, geändert. Seit wir 2005 das Energiewirt-
auch über das Grundverständnis der Energienetze als schaftsgesetz geändert haben, gibt es den diskriminie-
Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. So müssen wir sie rungsfreien Netzzugang. Das heißt, jeder kann die
verstehen, und so müssen wir es angehen. Stromautobahnen und das Verteilnetz nutzen, wenn er
Strom transportieren will und muss.
Der Netzumbau muss ein Rahmenprogramm für eine
beschleunigte Rekommunalisierung beinhalten. Die (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(B) Bundesregierung hat in ihrem im Moment auf Eis lie- Da fragen Sie mal die Konkurrenten! Die se- (D)
genden Energiekonzept des vergangenen Jahres beim hen das anders!)
Punkt Netzausbau selbst betont, dass Hürden bei den Die Herausforderungen in Bezug auf das Netz verän-
Absprachen mit den Netzbetreibern zu erwarten sind. dern sich aber. Bisher ist das Netz einseitig, also mehr
Ich frage Sie deshalb, warum Sie diese Infrastruktur, die- oder weniger – so sage ich es einmal – als Einbahn-
sen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, überhaupt der straße, ausgerichtet. Das führt beispielsweise dazu, dass
Willkür und den Eigeninteressen des Marktes und der es die – in Anführungszeichen – dünnsten Netze in den
Privatwirtschaft überlassen, die damit Geld verdienen Windbereichen an den Küsten in Norddeutschland gibt.
und natürlich eine Rendite erwirtschaften wollen und Zukünftig brauchen wir aufgrund einer dezentralen,
nicht sinnvoll im Interesse des Gemeinwohls agieren. fluktuierenden Stromerzeugung natürlich eher andere
Als Eon 2008 sein Übertragungsnetz verkaufen Netze, sowohl im Bereich der Verteilnetze als auch der
musste, weil die europäische Kartellbehörde die Preis- Übertragungsnetze. Wenn wir es nicht schaffen, dieses
treiberei und den Marktmissbrauch nicht mehr toleriert Problem zu lösen, dann wirkt all das, was wir im Ener-
hat, hätte der Bund das Netz übernehmen müssen. Genau giebereich unternehmen, nicht. Ich glaube, darüber müs-
das tat die Große Koalition nicht. Hätte sie es seinerzeit sen wir uns hier gemeinsam klar werden.
getan, wäre sie dort aktiv geworden, dann hätten wir
Die Netzbetreiber – ich spreche jetzt einmal insbeson-
manche Probleme und Hindernisse, die uns in den dere über die Betreiber von Übertragungsnetzen – haben
nächsten Wochen und Monaten beschäftigen werden,
gar nichts mehr mit denen zu tun, die Strom erzeugen.
jetzt nicht.
TenneT und 50 Hertz gehören heute internationalen In-
(Beifall bei der LINKEN) vestoren und haben nichts mit der Stromerzeugung zu
tun. Die Netzbetreiber haben schon heute ein originäres
Ich bitte Sie, das zu überdenken und umzusteuern. Interesse daran, das Netz stabil zu halten, es zu betreiben
und möglichst viel Strom durch ihre Netze zu leiten, wo-
Ich danke.
mit sie natürlich Netznutzungsentgelte, Trassenentgelte,
(Beifall bei der LINKEN) erzielen. Insofern hilft es uns nichts, wenn man hier
Situationen beschreibt, die vielleicht vor zehn Jahren
aktuell waren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
von der CDU/CSU-Fraktion. RWE hat immer noch sein Netz!)
12316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dirk Becker
(A) und 70er-Jahren betrug rund das Dreifache von dem, metern 3 Kilometer freiwillig unterirdisch. Sie sagen, sie (C)
worüber wir jetzt reden. Das haben wir übrigens pro- werden das hinbekommen.
blemlos weggesteckt. Der Netzausbau war nötig, um
zum einen den Ausbau fossiler Kraftwerke und zum an- Natürlich gibt es hier und da Probleme, aber an die-
deren den Ausbau der Kernenergie zu ermöglichen. Das sem Beispiel sieht man, dass es geht. Von daher ist die
ist ein Fakt. Aussage, dass mindestens 3 500 oder 4 400 Kilometer
Übertragungsnetze gebraucht werden, falsch. Wichtig
Dass Investitionen in die Erneuerung der Stromleitun- ist, dass wir mit den Leuten sprechen.
gen ohnehin erforderlich sind, ist kein Geheimnis; das
wissen wir. Das Problem ist nur, dass wir jetzt über einen Eines, was auch in der Diskussion anklang, ebenfalls
Leitungsausbau von 3 500 Kilometer sprechen und dies in der Rede von Herrn Fuchs, möchte ich noch aufgrei-
automatisch mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien fen. Es hieß, wir werden nur dann frühzeitig aus der
verknüpfen. Das ist falsch. Wir hätten ohnehin enorme Kernenergie aussteigen können, wenn wir bis dahin
Investitionen in die Leitungen zu tätigen gehabt. Von da- massiv Leitungen ausgebaut haben und wenn wir paral-
her ist es wichtig, einmal im Detail zu schauen, worüber lel dazu dafür sorgen, dass die Offshorewindparks
wir hier eigentlich reden. schneller als geplant ans Netz gehen. Beides ist falsch.
Herr Fuchs sprach eben von 4 400 Kilometern; es (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wird also immer mehr. Genau!)
(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie müssen Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen: Durch die
mal Studien lesen! Das wäre doch ganz sim- Abschaltung der acht AKW haben wir rund 8 800 MW
pel! Lesen bildet! – Gegenruf der Abg. Bärbel vom Netz genommen. Bis zum Ende des nächsten Jahres
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden allein 10 600 MW an neuen Kapazitäten hinzu-
sollten Sie vielleicht auch mal tun!) gebaut, und zwar zum Großteil durch fossile Kraftwerke,
– Ja, ich lese die Studien. Aber wenn man eine Studie zi- die ohnehin in der Planung sind. Das heißt, den Verlust
tiert, sollte man das auch vollständig tun, Herr Fuchs. dieser 8 800 MW haben wir mehr als wettgemacht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Netto!)
Sie zitieren sie so, dass es in Ihre Konzeption passt. Sie – Herr Fuchs, das sind Zahlen vom BDEW. Ich kann sie
versuchen mit dem Argument, wir kämen mit dem Netz- Ihnen schriftlich geben.
ausbau nicht hin, die Laufzeitverlängerung zu billigen.
(B) Das ist der falsche Weg. In der dena-Studie steht: (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das sind (D)
1 700 bis 3 500 Kilometer. Das muss man deutlich sa- aber Nettozahlen!)
gen.
Wir werden in diesem Jahrzehnt allein in Österreich und
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Schweiz Zubauten von Pumpspeicherkraftwerken
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit einer Leistung von 5 500 MW erleben; in Deutsch-
land ist der Zubau von Kraftwerken mit einer Leistung
Außerdem verfügt der – schon nicht mehr oder gerade von 1 700 MW geplant. Hinzu kommen massive Zubau-
noch amtierende – Wirtschaftsminister in seinem Haus ten im Bereich der Erneuerbaren.
über ganz andere Studien. Laut einer Studie von Consen-
tec und R2B erfordert selbst ein Anteil von 50 Prozent Ich will eines deutlich machen: Warum ist es eigent-
an erneuerbaren Energien im Jahr 2020 über dena I hi- lich falsch, jetzt massiv Geld in die schnellstmögliche
naus noch 250 Kilometer Höchstspannung. Das ist eine Anbindung der Offshorewindparks zu pumpen? Wir
Studie aus dem BMWi. Deshalb muss man sich die Zah- brauchen Offshorewindparks – ich bin dafür –; das ist
len in den verschiedenen Studien genau anschauen. unbestritten. Aber in diesem Moment ist die schnellst-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mögliche Anbindung nicht erforderlich, um die Atom-
Ja!) kraftwerke abzuschalten. Es gibt eine aktuelle Studie des
Bundesverbandes WindEnergie. Demzufolge würde
Was brauchen wir wirklich? Das kann man am besten man, wenn man 2 Prozent der Landesflächen für On-
herausfinden, wenn man mit den Betreibern der Übertra- shorewindparks zur Verfügung stellen würde, folgende
gungsnetze spricht. Ich will nur von einem berichten, Größenordnungen erreichen: In NRW, wo das aktuell
von Amprion. Ich hoffe, ich darf das tun; aber es ist kein Thema in der neuen Koalition ist, könnte so eine Leis-
Geheimnis. Amprion hat schon frühzeitig, basierend auf tung von bis zu 20 000 MW erreicht werden, in Baden-
dem, was an Investitionen ohnehin erforderlich ist und Württemberg eine Leistung von bis zu 23 000 MW – ich
was aufgrund des rot-grünen Ausstiegsbeschlusses ab- bin mir sicher, dass wir so weit kommen –, in Bayern,
sehbar war, bis 2020 Investitionen in die Netze in Höhe Herr Nüßlein, von bis zu 41 000 MW. Da muss man
von 3 Milliarden Euro vorgesehen. Sie bauen 800 Kilo- schon die Frage stellen: Warum nutzen wir jetzt nicht die
meter ihrer Höchstspannungsnetze aus, 97 Prozent Möglichkeiten, wesentlich mehr Onshoreanlagen anzu-
davon auf vorhandenen Trassen – ohne Akzeptanzpro- schließen? Das wäre kurzfristig realisierbar und deutlich
bleme –, 2 Prozent parallel zu bestehenden Trassen und kostengünstiger, als jetzt massiv im Offshorebereich zu
nur 1 Prozent neu. Um von sich aus Konflikten aus dem investieren. Meine Damen und Herren, Sie müssen es
Weg zu gehen, bauen sie von den insgesamt 5 Kilo- vor Ort nur zulassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12319
Dirk Becker
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben das Angebot an die Opposition gemacht, zu (C)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der einem gemeinsamen Entwurf zu kommen. Wir werden
LINKEN) es annehmen, aber nur dann, wenn dieser Umstieg quali-
tativ gesichert wird und es nicht bei einigen vorgescho-
Wir müssen eines beachten – der Bundesumwelt- benen Argumenten bleibt, von denen Sie leider auch
minister ist nicht mehr da –: Wir dürfen den Zubau im heute wieder viel zu viele vorgetragen haben.
Onshorebereich im Rahmen der EEG-Novelle nicht
klammheimlich unattraktiv machen, indem wir die wirt- Vielen Dank.
schaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtern. Wir
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
müssen im EEG nichts Zusätzliches für den Onshore-
DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Die
bereich regeln; wir müssen es nur so lassen, wie es ist.
Rede hätten Sie aber zu Protokoll geben kön-
Das wird aber nicht getan. Damit gefährden wir den
nen!)
Ausbau im Onshorebereich massiv.
Ich will Ihnen zwei Beispiele für Veränderungen im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Rahmen der EEG-Novelle nennen: Zum einen wird die Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer von der
Degression gemäß dem Erfahrungsbericht und der Vor- FDP-Fraktion.
schläge auf 2 Prozent angehoben. Der Systemdienstleis-
tungsbonus soll gestrichen und das Repowering auf nur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
noch vier Jahre begrenzt werden. Das ist faktisch eine
Kürzung der Vergütung um 1,5 Cent pro Kilowattstunde. Horst Meierhofer (FDP):
Das kann die Branche nicht verkraften, weil es keine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kostensenkungspotenziale in diesem Umfang gibt. Uns allen ist klar, dass der Netzausbau eines der zentra-
len Themen ist. Frau Nestle, Sie sind der Meinung dass
Wenn Sie einen Konsens mit uns finden wollen, dann
wir den Ausbau der Netztrassen nur dann hinbekämen,
müssen Sie gewisse Grundforderungen der Opposition
wenn wir gleichzeitig einen beschleunigten Ausbau der
erfüllen: Man muss die Bedingungen dafür erhalten,
erneuerbaren Energien durchführen und uns dann auch
dass sich die erneuerbaren Energien positiv entwickeln.
noch darauf begrenzen würden, nur die Netztrassen zu
Das heißt mit Blick auf die Entwicklung im Onshore-
bauen, die für die erneuerbaren Energien gebraucht wer-
bereich: Finger weg! Lassen Sie im Onshorebereich alles
den. Das reicht wahrscheinlich nicht. Ich glaube, es ge-
so, wie es im Gesetz geregelt ist. Dann werden wir es
hört beides dazu. Wenn man den beschleunigten Aus-
schaffen, den Ausbau der erneuerbaren Energien ohne
stieg aus der Kernkraft will, dann muss man akzeptieren,
große Investitionen im Offshorebereich, die, würden sie
(B) verfrüht getätigt, zu großen Preissteigerungen führen dass eben nicht nur ein Netzausbau im Bereich der er- (D)
neuerbaren Energien notwendig ist, sondern beispiels-
würden, massiv voranzubringen. Das hilft auch den
weise auch zusätzliche Gaskraftwerke benötigt werden.
Menschen in Bayern; denn es ist besser, wenn die Wert-
schöpfung vor Ort geschieht, wenn die Gemeinden über (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Gewerbesteuer davon profitieren, anstatt anschlie- Nein! Der Atomausstieg hat damit nichts zu
ßend über die Umlage das Fünffache zu zahlen, damit tun!)
wir jetzt massiv und schnell Offshoreanlagen ans Netz
bringen. Es stellt sich dann die Frage, wie Sie den Bereich der
fossilen Energien unterstützen wollen. Wie wollen Sie es
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schaffen, auf Akzeptanz für Energien zu stoßen, die als
LINKEN) zusätzliche Brücke nötig sind? Wir brauchen sie auf je-
den Fall. Der Netzausbau für erneuerbare Energien allein
Ich will auf einen letzten Punkt eingehen. Wir reden
reicht nicht aus.
immer nur über die Höchstspannungsleitungen. Ja, das
ist wichtig; wir müssen den Stromtransport von Nord Sie haben gesagt, wir sollten finanzielle Gestaltungs-
nach Süd sicherstellen. Ich will das gar nicht kleinreden. spielräume ermöglichen. Im Klartext heißt das: Es soll
Die Frage, was wir mit den Verteilnetzen machen, wird mehr Geld ausgegeben werden. Man kann natürlich nett
aber mindestens genauso bedeutend sein. Wir müssen formulieren, dass man Gestaltungsspielräume erhöhen
die Verteilnetze zu solchen Netzen umbauen, die auch will. Man kann aber auch sagen: Es wird teurer. Das ist
Strom aufnehmen, also zu Einspeisenetzen. Hier gibt es eine Sache, die man den Leuten auch sagen muss. Aus
gute Ansätze. Wenn wir es schaffen, die Potenziale im meiner Sicht muss man die Leute fragen, was sie bereit
Süden Deutschlands bei der Windkraft zu nutzen, sind, zu bezahlen, und wofür sie bereit sind, es zu bezah-
kommt es zu zusätzlichen Herausforderungen im Zu- len. Die Planungssicherheit muss gesteigert werden. Die
sammenhang mit den bisherigen Verteilnetzen. Es gibt Steigerung der Planungssicherheit kann bedeuten, dass
gute Ansätze, dafür zu sorgen, dass Investitionen, die die Mitspracherechte der Bevölkerung zu Beginn des
vor Ort erforderlich sind, mit Partnern aus dem Bereich Verfahrens gestärkt werden, später jedoch nicht mehr be-
der erneuerbaren Energien und dem Mittelstand stehen, etwa wenn es dann zu Widersprüchen kommt,
schnellstmöglich getätigt werden. Das ist deutlich güns- weil persönliche Interessen dem großen Ganzen entge-
tiger als das, was wir im Bereich der Höchstspannungs- genstehen. Den Leuten muss dann gesagt werden: Jetzt
leitungen tätigen müssten, hilft uns aber kurzfristig, den sind wir uns einig, wir können das Fass nicht zum hun-
Umstieg schneller hinzubekommen. Es gibt hier viele dertsten Mal aufmachen. Hier müssen Sie uns genauso
Möglichkeiten. helfen, wie wir Ihnen in anderen Bereichen versuchen,
12320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Horst Meierhofer
(A) zu helfen. Wir müssen eine gemeinsame politische Hal- Herr Brüderle und Herr Röttgen als Wirtschafts- bzw. (C)
tung hinbekommen, und zwar eventuell auch gegen Ein- Umweltminister haben Anfang April mit dem Sechs-
zelinteressen. punkteplan schon ein sehr gutes Papier vorgelegt. Viele
der darin enthaltenen Punkte sollten Sie eigentlich unter-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stützen. Es hat mir ein bisschen Ihre Begeisterung da-
der CDU/CSU) rüber gefehlt, dass für Beteiligungsmöglichkeiten, für
Es ist nicht möglich, dass dies zur Zufriedenheit aller Planungsbeschleunigung und für Mediationsverfahren
gelingt. Ihr Ansatz ist, dass alles im Einklang mit den für die Menschen gesorgt wird.
Leuten vor Ort geschehen muss. Der Meinung bin ich (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau!)
auch. Ich denke, dass der Bund allein nicht zu viel ent-
scheiden kann, sondern dass die Länder das selbst ma- Das ist eine echte Leistung.
chen müssen. Ich halte nichts davon, wenn sich ein Bun- Sie müssen einmal mit den Netzbetreibern reden.
desland wie Baden-Württemberg am Schluss darüber Man könnte natürlich sagen: Das sind alles böse Atom-
beschweren kann, dass der Bund irgendetwas gemacht lobbyisten. Man könnte aber auch sagen, dass es viel-
hat, das ihm nicht gefällt. Die Länder müssen selbst be- leicht vernünftig wäre, in einen Dialog mit den Netzbe-
weisen, dass sie einen möglichst effizienten Netzausbau treibern einzutreten. Man könnte sie dazu bewegen, den
hinbekommen. Die Verantwortung würde dann bei je- Vorgang zu beschleunigen. Denn sie haben das Gefühl,
dem einzelnen Bundesland liegen, unabhängig von der dass hier viel passiert. Sie sind in einer positiven Grund-
jeweiligen Zusammensetzung der Regierung. stimmung und sagen: Jetzt ist nach vielen Jahren, in de-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen leider nicht so viel passiert ist, endlich einmal ein
der CDU/CSU) bisschen Dynamik in diesem Bereich entstanden. Ich
meine daher, dass Sie uns unterstützen könnten. Sie soll-
Wir müssen es so hinbekommen, dass wir uns nicht ten nicht immer nur klagen, wie schlimm es vorher war.
um jedes einzelne Dorf kümmern müssen. Die Landesre- Auch durch Ihre Reihen sollte ein Ruck gehen. Vonsei-
gierungen, die Bundesregierung und der Bundestag müs- ten des Wirtschaftsministeriums wird, was NABEG und
sen den Mut haben, zu sagen: Wir verstehen, dass es andere Fragen angeht, viel getan. Das verdient Respekt,
euch lieber wäre, wenn wir eine Umgehung von zehn gerade auch den der Opposition.
Kilometern für euch einrichten würden. Wenn aber jedes (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Dorf in Deutschland eine Umgehung von zehn Kilome- der CDU/CSU)
tern fordert, dann wird es extrem teuer. Diese vielen klei-
nen Einzelmaßnahmen würden am Schluss dazu führen, Auf dem Bundesparteitag der FDP in Rostock wird
(B) dass es nicht mehr finanzierbar ist. Dies der Bevölke- auch ein Leitantrag zum Thema Energie diskutiert. Na- (D)
rung klarzumachen, erfordert vermutlich eine gewisse türlich wird ein großer Bereich davon die Netze betref-
Härte. Dazu brauchen wir auch Ihre Unterstützung. fen. Der von mir angesprochene Punkt, den Netzausbau
nicht extrem beschleunigt voranzubringen, sondern da-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten neben auch den Einsatz von Stromspeichern attraktiver
der CDU/CSU) zu machen, kommt darin auch vor. Daher werden wir
Ihr Antrag ist in Ordnung. Was mich allerdings ge- uns für die Schaffung von Anreizen für marktgerechtes
wundert hat, ist, dass Sie sich nur auf den Bereich des Verhalten der EEG-Anlagenbetreiber einsetzen. Herr
Netzausbaus konzentriert haben. Sie haben unerwähnt Becker, die Frage wird lauten, wie sich die Opposition
gelassen, ob es neben dem Netzausbau noch auf andere verhalten wird, wenn man versucht, über das EEG dahin
Dinge ankommt. Herr Pfeiffer hat kurz angesprochen, gehend zu fördern. Es gibt Überlegungen hinsichtlich
dass wir den Netzausbau an der einen oder anderen zusätzlicher Anreizprogramme zur Schaffung von Spei-
Stelle vielleicht gar nicht in diesem Umfang brauchen. cherkapazitäten. Es gibt verschiedene Vorschläge von-
Denn wir haben eventuell die Möglichkeit, erneuerbare seiten der Industrie. Ich glaube, das wird der Bereich
Energien zu speichern, den Eigenverbrauch zu erhöhen sein, in dem etwas zu machen ist. Wir dürfen uns nicht
und gar nicht so viele fluktuierende Energien in Netze nur auf die Netze und deren Ausbau konzentrieren, son-
einspeisen zu müssen. Auch das muss ein Ziel sein. Wir dern müssen über den Tellerrand hinausblicken.
dürfen nicht immer nur daran denken, möglichst viele Gleichzeitig werden die Netze auf alle Fälle ausge-
Netze auszubauen. Wir müssen auch daran denken, mo- baut werden. Für die Bevölkerung werden sich Nachteile
derne Technologien so einzusetzen, dass die Netze zu ergeben. Das wird zu Widerstand in der Bevölkerung
bestimmten Zeiten vielleicht gar nicht mehr verstopft führen. Für diesen Bereich hat Herr Trittin bereits Ihre
werden. Darüber machen wir uns im Moment Gedanken. Unterstützung zugesagt. Aber auch für den Bereich
Wir möchten Anreize dafür schaffen, nicht mehr so viel Pumpspeicherkraftwerke werden wir sicherlich mehr
in die Netze zu pumpen. Nicht nur die Erzeugung, son- Unterstützung von Ihrer Seite benötigen. Wir werden
dern auch der Verbrauch sollte dezentral vor Ort stattfin- auch in anderen Bereichen überlegen müssen, ob es
den. Auf diese Weise muss nicht alles quer durch die Re- nicht sinnvoller wäre, dort zusätzliche Netze zu bauen,
publik geschickt werden. auch wenn man sich dadurch Probleme mit dem Natur-
schutz einhandelt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Rolf Hempelmann Die dezentrale Erzeugung allein wird nicht ausrei-
[SPD]) chen. Wir werden die Offshoreversorgung brauchen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12321
Horst Meierhofer
(A) Auch dort wird es Probleme mit dem Naturschutz ge- schen Aktionismus an die Zukunft mit erneuerbaren (C)
ben, denn es werden riesige Leitungen gebaut. Ich bin Energien anzupassen.
gespannt, ob es uns gelingt, vielleicht beim Thema Me-
thanisierung endlich den Konsens hinzubekommen, den Nachdenken spart Kosten. Dafür ein Beispiel: Gas-
Sie eingefordert haben. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen kraftwerke werden zumindest für die nächsten Jahr-
– vielleicht können Sie später darauf eingehen, Frau zehnte benötigt. Die neue Erdgastrasse durch die Ostsee
Höhn –, dass vonseiten des Wirtschaftsministeriums, des erreicht beim ehemaligen AKW Nord in Greifswald die
Umweltministeriums und von der Koalition schon sehr Bundesrepublik und führt weiter nach Süden. Jetzt wer-
viele Vorleistungen erbracht wurden. Ich hoffe, dass wir den in Greifswald neue Gaskraftwerke gebaut, die die
einen konstruktiven Dialog führen werden. vorhandenen Stromtrassen nutzen. Für die geplanten
Windparks in der Ostsee sind dann zusätzliche Strom-
Herzlichen Dank. trassen im Gespräch. Würde man aber die Gaskraft-
werke im Süden bauen, wo es den Strombedarf gibt,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten könnte man die Windparks an die vorhandenen Leitun-
der CDU/CSU) gen anschließen und den Leitungsneubau einsparen.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LIN-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
KEN: Sehr gute Idee!)
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der
Fraktion Die Linke. Ein anderes Beispiel: In meiner Heimat Thüringen
halten der Netzbetreiber 50 Hertz und die Landesregie-
(Beifall bei der LINKEN) rung stur am Bau einer 380-kV-Leitung über den Thürin-
ger Wald fest. Diese Entscheidungen wurden gegen den
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Willen der Bevölkerung und mit mangelhafter Transpa-
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen renz getroffen. Der Bedarf wurde nicht nachgewiesen.
und Kollegen! Ohne den maximalen Ausbau der Strom- Dagegen wehren sich Bürgerinitiativen. Obwohl die Ini-
netze ist die Umstellung der Stromerzeugung auf erneu- tiativen durch ein Gutachten belegen konnten, dass die
erbare Energien nicht machbar. So tönt es aus fast allen Optimierung bestehender Stromleitungen ausreichen
politischen Lagern. Sie behaupten: Wer gegen eine und nur 25 Prozent der Kosten eines Neubaus ausma-
Stromleitung ist, verhindert den Umstieg auf erneuerbare chen würde, werden diese Tatsachen von Ihnen ignoriert.
Energien und den Ausstieg aus der Atomkraft. – Ist das Diesen überflüssigen Netzausbau lehnt die Linke strikt
so? Wer profitiert eigentlich vom Netzausbau, und wer ab. Darum unterstützen wir die Bürgerinitiativen.
bezahlt diesen? (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
Am Bau neuer Stromleitungen verdienen Planungs- Die Netzoptimierung darf nicht zu einer Profitquelle
büros und Baufirmen. Die Netzbetreiber erhalten für ihr werden. Firmen und Bürgerinnen und Bürger sind keine
eingesetztes Kapital eine garantierte Verzinsung von Melkkühe der Konzerne. Deshalb müssen die Strom-
9 Prozent. Das bedeutet: Wenn man mehr Kapital ein- netze Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und der
setzt und das Netz größer ist, dann gibt es mehr Zinsen. Gesellschaft gehören. Die Linke sagt: Hochspannungs-
Wo erhält man sonst noch 9 Prozent Zinsen ohne Ri- netze sind zu verstaatlichen, und Verteilungsnetze sind
siko? zu kommunalisieren.
Auch die Betreiber neu zu bauender Kraftwerke pro- (Beifall bei der LINKEN)
fitieren. Sie bauen das Kraftwerk am Ort mit den nied-
rigsten Stromherstellungskosten. Entstehende Mehrkos- Stromerzeuger müssen an den Kosten des Stromnetzes
ten durch den Neubau von Stromtrassen und die Kosten beteiligt werden. Damit entsteht ein Anreiz zu dezentra-
von Leitungsverlusten interessieren sie nicht. Diese Kos- ler Stromerzeugung.
ten gehören zum Netzbetrieb. Bezahlen müssen den (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wie war
Netzbetrieb und den Netzausbau Firmen, Handwerker das in der DDR?)
und Familien, also der ganz normale Stromkunde.
Stromerzeugung vor Ort spart Stromleitungen, schafft
(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) Arbeitsplätze und schwächt die Dominanz der Konzerne
Ein gigantischer Netzausbau belastet Firmen, mindert Eon, RWE, EnBW und Vattenfall.
die Kaufkraft und kostet damit Arbeitsplätze. Deshalb Die Bürgerinnen und Bürger müssen bei den Planun-
fordert die Linke, dass der Ausbau der Stromnetze effi- gen von Stromleitungen von Anfang an einbezogen wer-
zient erfolgt und nicht der Profiterzielung, sondern nur den und mitreden können, wenn diese durch ihre Region
der Deckung des notwendigen Bedarfs dient. verlaufen. Die Bundesnetzagentur muss im Energiebe-
(Beifall bei der LINKEN) reich für die Planung und den Bau der Hochspannungs-
netze zuständig sein. Die Kontrolle der Energiewirt-
Der reine Bau von Stromtrassen dauert etwa ein Jahr. schaft hat durch eine staatliche Behörde und durch
Laut Professor Hohmeyer, Mitglied im Sachverständi- unabhängige Beiräte zu erfolgen. Der Netzausbau ist ein
genrat der Bundesregierung für Umweltfragen, ist der Teil der Umgestaltung der Energiewirtschaft. Auch in
Atomausstieg ohne zusätzliche Stromleitungen möglich. anderen Bereichen wie Wind-, Solar- und Bioenergie
Das heißt, wir haben die Zeit, das Stromnetz ohne hekti- drohen im Speicherbereich Profitmaximierungen zulas-
12322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ralph Lenkert
(A) ten der Verbraucher. Deshalb fordert die Linke eine Sie sind gegen das Biomasse-Dampf-Heizkraftwerk in (C)
staatliche Strompreisaufsicht. Kehl. Diese Liste könnte man unendlich fortführen. Sie
waren in den letzten Jahren immer nur dagegen.
(Beifall bei der LINKEN – Thomas Bareiß
[CDU/CSU]: Oje! DDR lässt grüßen!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich kenne nur Christdemokraten, die
Damit verhindern wir, dass die Profite der Strombranche erneuerbare Energien verhindern!)
und die Strompreise explodieren, und wir erhalten die
Akzeptanz für Strom aus erneuerbaren Energien. Ohne Jetzt kommt die große Chance. Jetzt werden wir Sie
gesellschaftliche Regulierung und gesellschaftliches Ei- bei den Themen stellen. Jetzt haben wir die Chance, ge-
gentum geht es bei der Stromversorgung nicht. Das meinsam den Einstieg in eine stärkere Nutzung der er-
meint die Linke. neuerbaren Energien in den nächsten Jahren zu gestalten.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Pfeiffer (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[CDU/CSU]: Armes Deutschland!) Alte Platte! Sie mit Ihrer Energiewende, die
hin- und hergeht! Toll!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir werden Sie beim Wort nehmen, liebe Frau Höhn.
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der Die Herausforderungen sind immens. Wir wollen in den
CDU/CSU-Fraktion. nächsten Jahren circa 25 Prozent unserer Stromerzeu-
gung, des Stroms aus Kernenergie, 50 Prozent der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) grundlastfähigen Stromerzeugung Stück für Stück nicht
nur durch fossile, sondern vor allem durch erneuerbare
Energien ersetzen. Wir wollen, dass bis 2020 35 Prozent
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
unseres Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wird.
Herren! Auch in dieser Debatte hat das Wort „Konsens“
eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Ich möchte (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
vorweg ganz deutlich sagen, dass ich der Überzeugung NEN]: Das ist doch keine Beschleunigung!
bin, dass wir in der ganzen energiepolitischen Debatte Das haben wir längst festgelegt!)
bisher noch keinen Konsens hatten. Es gab zwar im Das ist eine enorme Herausforderung, die Sie damals, als
Jahr 2000 einen Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün oder
Ihre Fraktion in der Regierungsverantwortung war, Herr
Grün-Rot, wie man das auch immer nennen mag, aber es Fell, nicht so definiert haben. Sie haben die Ziele damals
gab keinen Konsens darüber, in was wir einsteigen wol- wesentlich niedriger gesetzt als wir heute.
(B) len. Sie waren zwar gegen die Kernenergie, aber Sie wa- (D)
ren auch Um diesen Umstieg hinzubekommen, brauchen wir
vieles. Wir brauchen sowohl Offshore- als auch On-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: shoreanlagen. Wir brauchen Speicher, und wir brauchen
Für die Erneuerbaren!) Netze. Wir brauchen Biomasse. Wir brauchen Flächen,
gegen all die anderen Dinge, die wir dringend brauchen, die für die Energiewirtschaft zur Verfügung gestellt wer-
um den Umstieg überhaupt hinzubekommen. den. Wir brauchen die Kleinen, und wir brauchen die
Großen. Wir brauchen die kommunalen und die großen
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Energieversorger. Wir brauchen alles, um diesen Um-
So kommen wir nicht zum Konsens!) stieg hinzubekommen. Dazu müssen wir jetzt Vor-
schläge und Konzepte vorlegen.
Das ist doch das Problem, mit dem wir zu tun hatten.
Deshalb habe ich mir den Antrag, den die Grünen
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heute vorgestellt haben, genau durchgelesen. Liebe Frau
NEN]: Am Ende haben Sie noch das EEG er- Nestle, Sie haben den Antrag vorgestellt. Ich muss schon
funden! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist, mit Verlaub,
GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Hören Sie doch eine dünne Suppe.
einmal mit dem Quatsch auf!)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
– Natürlich stimmt das. Sie waren gegen das größte Spei- Ach Gott! Was ist denn Ihre Suppe?)
chermedium, das wir in Deutschland haben, gegen das
Schluchsee-Projekt im Schwarzwald. Sie waren gegen so Das bin ich von Ihnen normalerweise nicht gewohnt. Ich
gut wie alle Hochspannungsleitungen. Bei Demonstratio- möchte ein paar Punkte herausnehmen: Die Antragsbe-
nen in ganz Deutschland haben Sie an vorderster Front gründung ist fachlich falsch. Sie schreiben beispiels-
mitgemacht. Sie sind gegen die Kohlekraftwerksprojekte, weise, dass wir das Problem haben, dass die den Atom-
obwohl wir diese Kraftwerke brauchen, um den Umstieg konzernen nahestehenden Netzbetreiber den Ausbau der
richtig hinzubekommen und eine effiziente Energiever- erneuerbaren Energien behindern. Weder ist es so, dass
sorgung sicherzustellen. die Netzbetreiber den Atomkonzernen nahestehen – seit
2005 sind die gar nicht mehr zusammen; das haben Sie
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: übrigens mit beschlossen –, noch können die Atomkon-
Herr Bareiß, kommen Sie mal wieder auf den zerne ihren Strom bevorzugt einspeisen und die Produ-
Boden! Sie sind doch sonst so vernünftig!) zenten von Strom aus erneuerbaren Energien dadurch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12323
Thomas Bareiß
(A) behindern. Sie können gar nicht behindert werden. Im gung und Nutzung etwa 40 Kilometer. In den nächsten (C)
Gegenteil: Sie müssen, wenn es möglich ist, bevorzugt Jahren wird diese Distanz auf im Schnitt 300 Kilometer
aufgenommen werden. Sie schreiben weiter, Erdkabel aufwachsen. Dazu brauchen wir – das wurde schon an-
könnten „problemlos und schnell gebaut werden – zu ge- gesprochen – 2 000, 3 000, 4 000, vielleicht auch nur
ringen oder ohne Mehrkosten“. 1 500 Kilometer neue Leitungen. Wir brauchen diese
Leitungen, egal wie. Wenn wir weiterhin mit einer Ge-
(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schwindigkeit von 20 Kilometern pro Jahr – so war es in
NEN]: 110 kV!) den letzten fünf Jahren – vorangehen, werden wir auch
Auch das ist vollkommen falsch, Frau Nestle; das wissen in 30 Jahren nicht die Leitungen haben, die wir brau-
auch Sie. Wir kommen mit den Erdverkabelungsprojek- chen. Selbst 1 500 Kilometer Leitungen – diese Zahl ha-
ten, die im EnLAG vorgesehen sind, nicht voran. Selbst ben Sie genannt – werden wir so nicht erreichen. Des-
ein Erdkabel im 110-kV-Bereich kostet das Vier-, Sechs- halb müssen wir beim Ausbau der Leitungen wesentlich
oder Achtfache eines ganz normalen oberirdischen Ka- schneller werden.
bels.
Wir brauchen aber nicht nur die Ertüchtigung des be-
(Rolf Hempelmann [SPD]: Nein! Das stimmt stehenden Netzes, sondern auch Stromautobahnen, die
nicht! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Norden nach Süden, von Punkt zu Punkt, beispiels-
NEN: Nein!) weise über HGÜ, den Strom transportieren. Wenn wir
den Strom – das wird sowohl den Offshore- als auch den
– Natürlich stimmt das. Onshorewind betreffen –, nur im Norden einspeisen,
Ein weiterer Punkt – das hat mich noch mehr über- werden wir netztechnisch im Norden ein großes Problem
rascht – ist, dass Sie immer noch im Bremserhäuschen bekommen; dies betrifft auch unsere Nachbarländer. Wir
sitzen, in Ihrer Ideologie verhaftet sind müssen den Strom, der im Norden erzeugt wird – dort
gibt es wesentlich bessere Bedingungen zur Stromerzeu-
(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD]) gung durch Wind –, direkt in den Süden schieben. Des-
und sagen: Die Menschen wenden sich zu Recht „gegen halb brauchen wir Stromautobahnen über längere Dis-
Stromtrassen, die das Landschaftsbild zerschneiden und tanzen, über 300, 400 Kilometer. Auch das wird ein
umweltschädlichen Atom- und Kohlestrom transportie- wichtiges Projekt werden. Nicht nur eine Stromautobahn
ren“. Wenn Sie immer noch dieser alten Denke folgen wird dazu notwendig sein, sondern sicherlich vier oder
und sagen, dass Sie gegen die Stromtrassen sind, solange fünf. In diesem Bereich gibt es schon Projekte, deren
sie Atom- und Kohlestrom transportieren, dann kommen Planungs- und Realisierungszeit aber bis zu 10, 15 Jahre
wir vor Ort keinen Schritt weiter. beträgt.
(B) (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Neben den großen Netzen brauchen wir auch kleine
Netze, die Verteilnetze. Auch da stehen wir vor enormen
Sie müssen herunter von diesem Ross; denn das wird so Herausforderungen. Die Kommunen sagen: In den
nicht funktionieren. Sie halten sich ein Hintertürchen of- nächsten 10 bis 15 Jahren brauchen wir 25 Milliarden
fen, indem Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass es falsch Euro, um das Verteilnetz zu ertüchtigen, vor allen Din-
ist, den endgültigen Atomausstieg vom Ausbau der gen aufgrund der enormen neuen Kapazitäten im Be-
Netze abhängig zu machen. Das heißt: Ausstieg ja, aber reich der Photovoltaik. Das muss ebenfalls realisiert
Einstieg nein. Sie sind also immer noch dort, wo Sie vor werden. Dazu sage ich ernüchtert und mit dem An-
zehn Jahren waren. spruch, dass die Kommunen hier stärker investieren
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- müssen: Wenn eine Kommune mit einer Einwohnerzahl
NEN) von 50 000 ein eigenes Netz hat, dann müsste sie im
Schnitt in den nächsten 15 Jahren 15 Millionen Euro in
Das ist genau der falsche Ansatz. ihr Verteilnetz investieren. Das ist eine ganz grobe Rech-
nung. Ich gestehe zu, dass sie sicherlich zu einfach ist,
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
aber dadurch können die Größen dargestellt werden.
NEN]: Das ist ja nicht auszuhalten!)
Eine Kommune mit 50 000 Einwohnern müsste 15 Mil-
Jetzt diskutieren wir über den Einstieg. Ein Thema lionen Euro allein in ihr Stromnetz investieren, wobei
– das haben meine Vorredner entsprechend dargelegt – der Bürger vor Ort dadurch keine Verbesserung bemer-
ist der Flaschenhals für die verstärkte Nutzung der Er- ken würde. Das ist eine enorme finanzielle Herausforde-
neuerbaren: Nur wenn wir die Netze ausbauen, werden rung. Dazu muss man zum Beispiel noch Themen wie
wir die Erneuerbaren voranbringen können. Darauf müs- die Smart Grids betrachten.
sen wir unser Hauptaugenmerk legen. Die Erneuerbaren
sind leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Zeit Ich komme zum nächsten Punkt. In Bezug auf das
können wir nicht überbrücken, da wir keine entsprechen- Netz ist – auch das wurde schon angesprochen – das
den Speicherformen zur Verfügung haben; daran müssen Thema Europa wichtig. Wir müssen schon sehen, dass
wir sowohl im chemischen als auch im physischen Be- wir bei diesem schnellen Atomausstieg – auch das sage
reich arbeiten. Das tun wir, aber da müssen wir noch ich in aller Deutlichkeit – mit Blick auf Europa ein Stück
mehr tun als heute; das wollen wir auch. weit egoistisch vorgehen. Wir als Deutschland mitten in
Europa müssen uns darauf verlassen können, dass die
Wir müssen vor allen Dingen die örtliche Distanz anderen Länder um uns herum auch mitziehen. Wenn
überbrücken. Bisher beträgt die Distanz zwischen Erzeu- wir nicht genügend Strom aus Sonne und Wind bekom-
12324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Thomas Bareiß
(A) men, sollten wir uns darauf verlassen können, dass uns fand. Herr Pfeiffer, ich fand, dass es bei Ihnen interes- (C)
die Franzosen, die Tschechen und die Polen Strom lie- sante Ansätze gab. Auch bei Herrn Meierhofer fand ich
fern. In Zeiten, in denen wir zu viel Strom aus Wind und interessante Ansätze, bei Herrn Fuchs und Herrn Breil
Sonne haben, sollten wir hoffen können, dass die Öster- war es die alte Soße. Wenn wir hier sachlich diskutieren
reicher, die Schweizer und vielleicht auch irgendwann wollen, müssen wir endlich mit zwei Legenden aufhö-
einmal die Skandinavier unseren Strom abnehmen und ren.
speichern. Wie gesagt, das kann nur dann funktionieren,
Die erste Legende – sie wurde auch eben wieder von
wenn alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen dazu
Herrn Fuchs und Herrn Breil gebracht – lautet: Schuld
ein europäisches Netz, das diesen Herausforderungen
an dem ganzen Problem des fehlenden Netzausbaus sind
entsprechend gerecht wird.
die Bürgerinitiativen und die Grünen. – Damit lenken
All diese Themen müssen immer unter dem Gesichts- Sie von den eigenen Problemen ab und zeigen, was die
punkt gesehen werden, dass wir auch in Zukunft eine si- Fehler angeht, mit dem schwarzen Finger auf die ande-
chere, saubere, klimafreundliche und vor allen Dingen ren.
bezahlbare Energieversorgung haben müssen, und zwar
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht nur für die Industrie bzw. die Wirtschaft, über die
und bei der SPD)
wir sehr viel sprechen, sondern auch für den ganz nor-
malen kleinen Mann, der diese ganze Veranstaltung auch Dazu sagen wir: Die Fakten sprechen eine andere Spra-
bezahlen muss. In diesem Sinne haben wir vor, große che.
Projekte durchzuführen, und wir kämpfen da gemein-
sam. Beim Netzausbau gibt es nach Angaben der Bundes-
netzagentur 24 vordringliche Trassenprojekte. Nach der
Herzlichen Dank. neuesten Liste verzögern sich neun davon. Drei von die-
sen neun Projekten verzögern sich wegen Bürgerprotes-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten. Wenn Sie die Verzögerungen aufheben wollen, müs-
sen Sie außer auf die Bürgerproteste auch auf die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: anderen Gründe für die Verzögerung schauen. Das ist
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom der Weg.
Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehen Sie sich einmal an, was zum Beispiel der Sach-
Herr Bareiß, wenn man Ihre Rede eben gehört hat, hat verständigenrat sagt: Nicht allein Bürgerproteste, son-
(B) (D)
man den Eindruck, dass Sie den Gong noch nicht gehört dern noch zwei weitere Gründe führen dazu, dass die
haben: Sie sind nicht diejenigen, die den gesellschaftli- Netze nicht ausgebaut werden. Der erste Grund sind
chen Konsens hergestellt haben. – Wir haben hier vor wirtschaftliche Hemmnisse für Investitionen. Das sehen
zehn Jahren einen gesellschaftlichen Konsens zur Ener- wir auch. Auch darüber müssen wir nachdenken und es
giepolitik aufgestellt, und Sie haben ihn ohne Not im ändern.
letzten Herbst gebrochen. Das ist die Situation.
Der zweite Grund – Herr Pfeiffer, noch am 4. Mai gab
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es von den Grünen eine Veranstaltung mit den Stadtwer-
und bei der SPD) ken bzw. mit den Betreibern von Windkraftanlagen – ist,
dass es bei den Netzbetreibern, die gleichzeitig auch
Heute diskutieren wir darüber, diese Energiewende, Stromkonzerne sind, noch immer Widerstände gibt.
die wir vor zehn Jahren eingeführt haben – und zwar raus Diese sind noch nicht vollständig ausgeräumt. Auch
aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien –,
hieran müssen wir arbeiten; denn die Netzbetreiber wol-
jetzt fortzusetzen. Das ist der Weg dieser Energiewende. len natürlich ihre Konkurrenten nicht ans Netz lassen.
Das bedeutet in der Tat auch Ausbau und Modernisierung Sie haben indirekt eine Menge Eingriffsmöglichkeiten.
der Stromnetze. Das bedeutet neue Stromleitungen sowie
bessere und intelligentere Netze. Dazu sagen wir: Wir Der dritte Punkt ist die fehlende Akzeptanz. Es ist
Grüne wollen diesen notwendigen Ausbau der Netze. eine gemeinsame Aufgabe, diese Akzeptanz herzustel-
len. Dazu wollen auch wir Grüne beitragen. Dazu sind
Jetzt ist die Frage, wie. Dazu sagen wir: Man kann
wir bereit. Wir sagen: Die Planung muss transparent
und muss diesen Ausbau bei Wahrung der Rechte der
sein. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger ernst neh-
Bürgerinnen und Bürger – und nicht bei Beschneidung
men, und wir müssen sie frühzeitig einbinden.
der Rechte – erreichen. Wenn Sie die Rechte beschnei-
den, treiben Sie die Bürger in die Klage. Dann wird das Das sind drei ganz wichtige Punkte, die man beachten
Verfahren verlängert, statt verkürzt. Deshalb sagen wir: muss, wenn man die Netze schneller ausbauen möchte.
Das muss mit den Bürgern und nicht gegen sie gesche-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die zweite Legende, mit der Sie aufhören müssen, ist
sowie bei Abgeordneten der SPD)
die Argumentation, der Netzausbau sei die Vorausset-
Ich komme zum nächsten Punkt. Wir haben ganz un- zung für den Atomausstieg. Das ist eindeutig falsch.
terschiedliche Reden gehört, die ich auch interessant Herr Fuchs und Herr Breil haben vorhin wieder so argu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12325
Bärbel Höhn
(A) mentiert. Der Grund dafür ist entweder Unkenntnis oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
der Wunsch, den Atomausstieg auszubremsen. Das und bei der SPD)
scheint Ihr Motiv zu sein.
Selbst die dena – wenn man die dena-Netzstudie liest, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dann weiß man: wo „dena“ draufsteht, sind Eon und Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
RWE drin – jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
(Lachen bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
hat in ihren Studien die glasklare Aussage getroffen,
dass der Netzausbau nichts mit den Laufzeiten der Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Atomkraftwerke zu tun hat. Als Sie im letzten Jahr, als Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten
es um die Laufzeitverlängerung ging, bei der dena nach- Jahr war es das Wort „alternativlos“, das unsere Debat-
gefragt haben, ob auch ein geringerer Ausbau der Netze ten bestimmt hat.
möglich ist, antwortete Ihnen die dena eindeutig Nein.
Im Zehnpunkteprogramm von Angela Merkel, das Sie (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
im Herbst letzten Jahres vorgelegt haben, waren vier NEN]: Nein! Nur die Ihrer Regierung! –
Punkte enthalten, die den Netzausbau betreffen. Sie ver- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
längern die Laufzeiten, müssen sich aber um die Netze Ihre Debatten, nicht unsere!)
kümmern. Die Argumentation, dass man den Netzaus- In diesem Jahr scheint es das Wort „Akzeptanz“ zu sein.
bau braucht, um aus der Atomkraft aussteigen zu Wir diskutieren, wenn es um das Thema Kernenergie
können, ist also eindeutig falsch. Sie sollten diese Argu- geht, aus guten Gründen über Akzeptanz. Wir diskutie-
mente nicht ständig wiederholen; denn dadurch verunsi- ren am heutigen Tage auch über Akzeptanz, wenn es um
chern Sie die Bevölkerung. andere Themen geht: um CCS, um Standorte von Wind-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kraftanlagen, um Pumpspeicher und um Netze. Am
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Schluss werden wir irgendetwas akzeptieren müssen.
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] – Man muss in aller Klarheit sagen: Es kann doch nicht
Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genauso ist sein, dass wir so tun, als könne man in diesem Land ge-
das aber auch keine Voraussetzung, um in die gen alles sein.
Erneuerbaren einzusteigen!) Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, dass Sie
Es ist unverfroren, wenn die CSU genau diese Argu- mit Legenden aufhören wollen.
(B) mente wiederholt. Sie sagen: Wir wollen erst einmal (D)
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
überprüfen, ob der Netzausbau wirklich funktioniert. Nein! Sie sollen mit Legenden aufhören!)
Dann werden wir überprüfen, ob wir die Laufzeiten der
Atomkraftwerke verlängern. – Ich muss Ihnen sagen: Ich bitte Sie, bei dieser Gelegenheit nicht gleich neue
Das ist unverfroren und ein starkes Stück. Denken Sie Legenden zu bilden. Sie haben nämlich gerade so getan,
nur an die Ereignisse in Fukushima. Dort kämpft man als sei die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraft-
noch heute gegen die furchtbaren Folgen des GAU an. werke, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, darauf
Hier in Deutschland tagt derzeit eine Ethikkommission, ausgerichtet gewesen, die Kernenergie ad ultimum, also
und die Kanzlerin diskutiert mit der Opposition über den ewig, zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr allerdings et-
Atomausstieg. Vor diesem Hintergrund will uns die CSU was anderes beschlossen. Wir haben die Energiewende
weismachen, wir brauchten eine Revisionsklausel. Mit fortgeschrieben und sie an die Realität angepasst. Wir
Ihrer Argumentation nach dem Motto „Wir steigen erst haben gesagt: Wir wollen den Ausstieg aus der Kern-
einmal aus der Atomkraft aus; dann überprüfen wir al- energie – ganz klar –, aber für den Umstieg auf erneuer-
les“ schaffen Sie in der Bevölkerung keine Akzeptanz. bare Energien brauchen wir Zeit und Geld.
Dabei werden wir nicht mitmachen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aha! Und die Realität ist heute, ein halbes Jahr
sowie bei Abgeordneten der SPD) später, eine andere?)
Ich komme zum Schluss. Wir sagen: Lassen Sie die Jetzt sind wir in einer anderen, schwierigeren Situa-
Tricksereien. Lassen Sie uns sachlich diskutieren. tion. Denn egal, wie man das Ganze sieht: Wir werden
„Sachlich“ heißt, gemeinsam die Weichen zu stellen: für jetzt Zeit und Geld brauchen, und zwar nicht für den
die Fortsetzung der Energiewende, für einen schnellen Ausstieg,
Atomausstieg und für eine Modernisierung der Netze. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die Ideen sind vorhanden. Lassen Sie uns gemeinsam Das haben Sie aber letztes Jahr immer noch
vorgehen, statt Legenden über die Argumente der ande- gedacht!)
ren zu spinnen. Das ist nicht die Politik, die Sie machen
sollten. Vielmehr geht es darum, eine Lösung der Ener- sondern für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Die
giefrage zu finden, statt sich gegenseitig ideologisch an- Kernenergie wird uns diese Zeit nicht mehr verschaffen,
zumachen. Wir sollten eine sachliche Diskussion führen. und sie wird auch weder über den Fonds noch über die
Brennelementesteuer das benötigte Geld einbringen. In-
Danke. sofern sind wir in einer schwierigen Situation. Deshalb
12326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Vielen Dank, Herr Präsident. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vor-
schlag der Europäischen Kommission vom
(Beifall – Abg. Rainer Brüderle [FDP] überreicht 14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Ra-
dem Bundesminister Daniel Bahr einen Blumen- tes zur Festlegung eines Standpunkts der Union
strauß – Abgeordnete aller Fraktionen beglück- im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehema-
wünschen die Bundesminister Dr. Philipp Rösler lige jugoslawische Republik Mazedonien im
und Daniel Bahr) Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen
jugoslawischen Republik Mazedonien im Rah-
Präsident Dr. Norbert Lammert: men von Artikel 4 und 5 der Verordnung (EG)
Da ich die Glückwünsche nicht nur persönlich, son- Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den
dern im Namen des ganzen Hauses übermittelt habe, ist Arbeiten der Agentur der Europäischen Union
es nicht zwingend erforderlich, dass nun jedes Mitglied für Grundrechte und die entsprechenden Mo-
dieses Hauses jeweils noch einmal einzeln seine Glück- dalitäten einschließlich Bestimmungen über
wünsche überbringt. die Mitwirkung an den von der Agentur einge-
leiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Personal
NEN]: Wo die FDP einmal etwas zu gratulie-
ren hat! Vor dem Wochenende!) – Drucksache 17/5710 –
Überweisungsvorschlag:
Ich rege deshalb an, dass nach Aufruf des nächsten Ta- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
gesordnungspunktes der neue Minister am Rande oder Auswärtiger Ausschuss
12328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Andreas G. Lämmel
(A) Mit diesem Gesetzentwurf sollen zwei Richtlinien der Angesichts der Zahlen muss man ganz einfach dem (C)
Europäischen Union umgesetzt werden, nämlich die Än- Argument widersprechen, es sei in den letzten Jahren
derungsrichtlinie „Bessere Regulierung“ und die Ände- nichts passiert.
rungsrichtlinie „Rechte der Bürger“. Der deutsche Ge-
setzgeber ist also jetzt beauftragt, diese Regelungen in (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das Gegenteil
nationales Recht umzusetzen. ist der Fall!)
Das stimmt einfach nicht. Deutschland ist aus dem Mit-
Dieser Gesetzentwurf enthält im Prinzip zwei große telfeld gekommen. Es war ja auch Ausgangspunkt der
Teile. Der erste Teil befasst sich hauptsächlich mit den
Breitbandstrategie, dass wir festgestellt haben: Wir sind
Regulierungsgrundsätzen und den Rahmenbedingungen nur im Mittelfeld; wir wollen an die Spitze. – Wenn man
für den Wettbewerb. Der zweite Teil beschäftigt sich im sich die Zahlen anschaut, kann man konstatieren: Im
Wesentlichen mit der Verbesserung der Verbraucher-
Jahr 2010 sind fast 98,5 Prozent der deutschen Haushalte
rechte. mit einer Bandbreite von mindestens 1 Megabit an das
Bei den Regulierungsgrundsätzen geht es im Groben Breitbandnetz angeschlossen. Wir sind uns heute einig:
um Anreize und um bessere Bedingungen für einen flä- Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es muss
chendeckenden Breitbandausbau. Herr Staatssekretär hat noch mehr werden.
darauf hingewiesen, auch Herr Dörmann hat von der Aufgeschlüsselt sehen die Zahlen so aus: 93,3 Prozent
Notwendigkeit und der Wichtigkeit gesprochen, mit dem der Haushalte verfügen über Anschlüsse mit mehr als
flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland 2 Megabit pro Sekunde; 81,6 Prozent der Haushalte ste-
schnell voranzukommen. hen schon 6 Megabit pro Sekunde zur Verfügung;
67,6 Prozent 16 Megabit pro Sekunde, und 35,6 Prozent
Bei dem Teil zum Verbraucherschutz ist das wesent-
der Haushalte in Deutschland stehen Bandbreiten von
liche Ziel, dass der Verbraucher sich in dem immer spe-
über 50 Megabit pro Sekunde zur Verfügung. Das ist erst
zielleren Markt der Telekommunikationstechniken zu-
einmal eine riesige Leistung. Das muss man sagen; denn
rechtfinden kann und dass er vor diversen Modellen des
dahinter steckt ja auch noch ein enormes Investitionsvo-
Abzockens von Kunden geschützt wird. In diesem Zu-
lumen. Dass seit 2006 pro Jahr ungefähr 6,5 Milliarden
sammenhang erinnere ich an die kostenlosen Warte-
Euro jährlich in die entsprechende Infrastruktur inves-
schleifen, die wir in diesem Hause – es gab ja einen An-
tiert wurden, ungefähr die Hälfte von der Telekom, die
trag der SPD-Fraktion –
andere Hälfte von den privaten Wettbewerbern, halte ich
(Caren Lay [DIE LINKE]: Und der Linken!) schon für eine sehr große Leistung. Das ist letztendlich
auch der Grund dafür, dass wir in diesem Bereich mitt-
(B) schon einmal diskutiert haben, an den Wechsel von ei- lerweile zur europäischen Spitzengruppe gehören. (D)
nem Anbieter zu einem anderen Anbieter innerhalb eines
Tages, an die Preistransparenz bei Call-by-Call-Tarifen Meine Damen und Herren, es ist klar, dass jeder, der
und wesentliche Punkte mehr. Hier geht es also darum, noch keinen Anschluss an das Breitbandnetz hat, sagt:
die Verbraucherrechte zu schützen und in diesem Markt Eure Zahlen nützen mir gar nichts. Selbst wenn ihr
die Transparenz zu erhöhen. 99,5 Prozent erreicht habt, ich selber aber nicht ange-
schlossen bin, ist das Ziel noch nicht erreicht. – Genau
Lassen Sie mich aber noch einmal zum Breitbandaus- darum geht es ja: Wir brauchen eine hundertprozentige
bau kommen; denn das ist wirklich der wesentliche Teil. Abdeckung.
Wir erhoffen uns, dass der Breitbandausbau in Deutsch- Nun geht es um das Thema: Wie kann man das errei-
land mit diesem Gesetz eine noch höhere Beschleuni- chen? Sollte man das, wie Herr Dörmann vorschlug, über
gung erhält, um damit auf größere Geschwindigkeiten zu die Verpflichtung zur Universaldienstleistung erreichen?
kommen. Ich bin der Meinung, wir können das im freien Wettbe-
Schauen wir es uns doch einmal an. Die Breitband- werb erreichen, indem wir alle zur Verfügung stehenden
strategie wurde in der Großen Koalition entworfen. Das Technologien einsetzen. Aus meiner Sicht gibt es nicht
ist natürlich nicht bloß die Idee eines SPD-Ministers ge- gute und schlechte Technologien – darüber wird ja immer
wesen, wie Sie es dargestellt haben, Herr Dörmann. heftig diskutiert –, sondern Funk-, Satelliten- und Glasfa-
Vielmehr hat die Bundeskanzlerin die Breitbandstrategie sertechnik bieten ebenso wie alte Kupferleitungen im
der Öffentlichkeit vorgestellt. Prinzip die Möglichkeit, einen Breitbandanschluss herzu-
stellen. Insofern muss man jetzt darüber reden: Wie errei-
(Martin Dörmann [SPD]: Aber die Idee kam chen wir eine hundertprozentige Abdeckung? Diese Auf-
von uns!) gabe ist, wie ich glaube, politisch zu lösen. Hierzu gibt es
verschiedene Modelle.
– Wenn man in einer Koalition ist, muss man schon sa-
gen: Es war die Koalition, die die Breitbandstrategie ent- Ich finde nicht, dass man einen Breitbandgipfel mit
worfen hat. den Kommunen durchführen muss. Die Instrumente, die
seitens der Bundesregierung schon eingeführt wurden,
Das sind natürlich ehrgeizige Ziele gewesen, gar wie zum Beispiel die Erstellung eines Breitbandatlas,
keine Frage. Wenn man sich keine ehrgeizigen Ziele reichen nämlich völlig aus. Anhand des Breitbandatlas
setzt, muss man sich nicht wundern, wenn man nicht vo- ist sehr genau nachweisbar, wo welche Anschlüsse vor-
rankommt. handen sind. Vor allen Dingen kann man auch feststel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12333
Andreas G. Lämmel
(A) len, welche Fortschritte in Deutschland erzielt werden. Denn die Telekommunikationsbranche gehört zu denje- (C)
Das ist ja eigentlich auch das Wichtige, dass wir den nigen Branchen, bei denen bei den Verbraucherzentralen
Bürgern unseres Landes deutlich machen: Die Entwick- der größte Beratungsbedarf besteht. Beliebteste Opfer
lung schreitet unablässig fort. von unseriösen Geschäftspraktiken sind Jugendliche und
ältere Menschen.
(Martin Dörmann [SPD]: Aber das sind leider
keine realen Zahlen!) Vor diesem Hintergrund war der Gesetzentwurf der
Bundesregierung längst überfällig. Ich habe nur erhebli-
Nun müssen allerdings – auf diesen einen Punkt che Zweifel daran, dass der Gesetzentwurf, wie er jetzt
möchte ich noch zu sprechen kommen – die Firmen zum vorliegt, die Probleme lösen wird. Aus unserer Sicht ent-
Beispiel beim Ausbau von LTE, also dem schnellen mo- hält dieser Gesetzentwurf noch viel zu viele Lücken und
bilen Internet, erst einmal liefern. Das heißt, die Deut- Schlupflöcher. Ein Beispiel dafür sind die Warteschlei-
sche Telekom, Vodafone und andere müssen jetzt bewei- fen. Wir als Linke fordern, dass Warteschleifen und Stö-
sen, dass diese Technik in der Lage ist, das zu leisten, rungshotlines komplett kostenfrei zu stellen sind, ganz
was wir uns vorstellen. Wenn sie das leistet – davon bin egal, wo oder von wo ich anrufe.
ich überzeugt –, dann ist diese Funktechnologie wirklich
ein guter Weg, um eine flächendeckende Versorgung mit (Beifall bei der LINKEN)
dem mobilen Internet relativ schnell zu erreichen.
Zugleich müssen die Warteschleifen zeitlich begrenzt
Meine Damen und Herren, unsere Fraktion ist der werden; denn wer will schon Ewigkeiten mit Dudel-
Auffassung, Wettbewerb ist der beste Garant dafür, dass musik am Telefon verbringen? Hier bietet der Gesetzent-
wir vorankommen. Wettbewerb ist auch der Garant da- wurf leider noch keine zeitliche Obergrenze.
für, dass die Preise für die Verbraucher günstig sind. Mit
Nach wie vor werden Verbraucherinnen und Verbrau-
unserem Gesetz werden wir die Rechte der Verbraucher
cher mit überhöhten Handyrechnungen abgezockt. Wir
und ebenso den Wettbewerb beim Ausbau von Breit-
als Linke fordern hier klare Preisobergrenzen und Preis-
band-Internetanschlüssen stärken.
informationen; denn das, was bisher für das Festnetz gilt,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- soll aus unserer Sicht jetzt auch für Handys eingeführt
neten der FDP) werden. Doch was macht die Bundesregierung? Sie
macht das glatte Gegenteil: Die wenigen Vorgaben, die
Herr Dörmann, die Fachpolitiker der Koalition und es bisher gab, werden gestrichen, und stattdessen soll das
der Opposition sind ja nicht wirklich weit auseinander. Problem auf dem Verordnungswege gelöst werden.
Deshalb denke ich, dass es zu einem guten Gesetz-
gebungsverfahren kommt. Letztendlich wird es eine (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Preisober-
(B) Neufassung des Telekommunikationsgesetzes geben, die grenzen?) (D)
Deutschland einen wirklichen Fortschritt bringt und da-
Ein anderes Beispiel ist der bessere Schutz vor Kos-
für sorgt, dass wir in den nächsten Jahren Spitzenreiter
tenfallen im Internet. Wer kennt es nicht, dass die Ein-
auch in diesem Bereich in Europa werden.
käufe im Internet intransparent sind? Wir finden, es
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. muss klar erkennbar sein, was ein Kauf im Internet kos-
tet. Deswegen erneuern wir unsere Forderung nach Ein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- führung eines Internetbuttons.
neten der FDP)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Erik
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schweickert [FDP]: Das gehört aber nicht ins
TKG, das gehört ins UWG!)
Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Linke. Schließlich fordern wir als Linke eine wirksame Auf-
sicht für den Telekommunikationsmarkt. Herr Lämmel,
(Beifall bei der LINKEN) dieser Punkt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass der
Wettbewerb nicht alle Probleme löst. Es gibt immer wie-
Caren Lay (DIE LINKE): der Beispiele für Geschäftsmodelle, auch von Telekom-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und munikationsunternehmen, die komplett auf unseriösen
Herren! Fast die Hälfte aller Verbraucherinnen und Ver- Geschäftspraktiken beruhen. Hier sollte die Bundesnetz-
braucher klagt über Probleme im Bereich Telefon und agentur aus unserer Sicht deutlich präventiver tätig sein
Internet. Die finanziellen Einbußen der Verbraucherin- können.
nen und Verbraucher, zum Beispiel durch unerbetene
Anrufe, überhöhte Handyrechnungen und teure Warte- (Beifall bei der LINKEN)
schleifen, sind enorm. Ich frage Sie: Wer von Ihnen hat Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
unerbetene Telefonanrufe oder überhöhte Handyrech- der Datenschutz. Der Datendiebstahl beim Elektronik-
nungen noch nicht erlebt? konzern Sony hat uns erneut vor Augen geführt, dass
Deswegen fordern wir als Linke schon lange: Abzo- persönliche Daten unzureichend geschützt sind und dass
cke und Datenklau auf dem Telekommunikationsmarkt sensible Kundendaten nach wie vor viel zu leicht in un-
müssen endlich ein Ende haben. befugte Hände geraten. Der Gipfel war: Wer sich bei
Sony telefonisch über den Verbleib seiner Daten infor-
(Beifall bei der LINKEN) mieren wollte, dem wurde eine kostenpflichtige Hotline
12334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Caren Lay
(A) angeboten. Das ist wirklich der Gipfel der Unverschämt- mit mehreren Tausend Einwohnern und von Stadtgebie- (C)
heit. ten – unzureichend ans Internet angeschlossen. Das be-
deutet in der Konsequenz, dass sich die Bürgerinnen und
(Beifall bei der LINKEN) Bürger insgesamt nicht ausreichend informieren können
Auch bei einem anderen Punkt bleibt der Gesetzent- und manche Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufga-
wurf der Bundesregierung leider unzureichend: Es gibt ben im Vergleich zu denen aus anderen Ortsteilen, die ei-
nach wie vor die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. nen Internetanschluss haben, nicht vernünftig erledigen
Das ist aus unserer Sicht völlig unverhältnismäßig, und können. Wir sehen, dass es für Unternehmen und Selbst-
auch eine Regelung zur Netzneutralität sucht man in die- ständige, für Architekten und Steuerberater, Nachteile ge-
sem Gesetzentwurf vergeblich. ben kann und damit die Abwanderung aus ländlichen Ge-
bieten und der demografische Wandel dort verstärkt
Meine Damen und Herren, was uns die Koalition hier werden. Es kann nicht sein, dass die Abwanderung aus
vorgelegt hat, entspricht verbraucherpolitischen Anfor- ländlichen Gebieten durch fehlende Anschlüsse forciert
derungen nicht. Wieder einmal ist die Koalition zu sehr wird.
vor den Interessen der Wirtschaftslobby eingeknickt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich lache mich sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/
tot!) CSU])
Was wir brauchen, sind konsequente Maßnahmen; Wir haben einmal über eine Vorlage diskutiert, nach
denn das Ergebnis der digitalen Welt dürfen weder der der Ende 2010 ein Etappenziel bei der Versorgung mit
gläserne Mensch noch geschröpfte Kundinnen und Kun- Breitbandanschlüssen erreicht werden soll. Sie haben
den sein. Die Linke hat zu beiden Themen Anträge vor- dieses Ziel nicht erreicht. Jetzt heißt es: Bis 2015, spätes-
gelegt, und wir empfehlen den Vertreterinnen und Ver- tens bis 2018, sollen alle Haushalte mit Anschlüssen mit
tretern der Koalition, hier noch einmal nachzulesen und einer Bandbreite von mindestens 50 Megabit pro Se-
diesen Gesetzentwurf im Verfahren noch weiter zu ver- kunde versorgt sein. Wir wissen nicht, wie das erreicht
bessern. werden soll und woher die Gelder dafür kommen sollen.
Vielen Dank. Es wäre interessant, wenn wir das demnächst erfahren
würden.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Vorschlag der Union, die Verpflichtung eines
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Universaldienstes mit einer Bandbreite von 16 Megabit
pro Sekunde ins Gesetz zu schreiben, ist aus unserer
Das Wort hat nun Christine Scheel für die Fraktion
(B) Sicht sowohl juristisch als auch wirtschaftspolitisch (D)
Bündnis 90/Die Grünen.
mehr als fragwürdig. Die Kosten der Umsetzung dieses
Vorschlags müssten nach geltendem EU-Recht von der
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): öffentlichen Hand getragen werden. Wie will die Regie-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rung die Mittel in Höhe von 40 Milliarden Euro, die ge-
Bundesregierung setzt mit dieser Vorlage die Vorgaben mäß Ihrer Vorlage entstehen würden – das ist Ihre Vor-
europäischer Richtlinien zur Telekommunikation um. Das stellung –, aufbringen? Sie haben die Chance vertan, den
ist aus unserer Sicht erst einmal begrüßenswert und drin- Ausbau mit den Erlösen aus der Versteigerung der Funk-
gend notwendig, weil wir bessere Rahmenbedingungen frequenzen im letzten Jahr schneller zu finanzieren. Das
brauchen, um mehr Wettbewerb zu erreichen, und den Geld ist irgendwo im Haushalt verschwunden, so wie
Verbraucherschutz stärken müssen. Leider haben Sie aber manches bei Ihnen verschwindet.
nur die Mindestanforderungen aus Brüssel umgesetzt. Wir
sehen beim Verbraucherschutz, beim Datenschutz, beim (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
strikten Ausschluss anlassloser Vorratsdatenspeicherung, der FDP)
beim nachhaltigen und seriösen Breitbandausbau und bei Jedenfalls hat man das Geld nicht so verwendet, wie es
der gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität Verbesse- hätte sein sollen.
rungsbedarf.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir finden auch: Die Politik sollte nicht darum feil-
Zum Breitband. Die Novellierung hat das Ziel, die schen, wer den Menschen in den ländlichen Gebieten
rechtlichen Rahmenbedingungen für einen wettbewerbs- mehr Bandbreite verspricht. Vielmehr geht es darum,
konformen Breitbandausbau und Investitionen in Netze sinnvolle Lösungen zu suchen. Dabei geht es auch um
der nächsten Generationen zu verbessern. Es ist eine der die Technik, die vor Ort eingeführt werden soll.
größten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, die
digitale Kluft zu überwinden. Es sind leider immer noch Anstatt die Wirtschaft mit irgendwelchen Schnell-
zu viele Regionen vom Internet abgekoppelt. In Mecklen- schüssen zu verunsichern, sollten Sie die offenen Fragen
burg-Vorpommern und Thüringen sind nur 93 Prozent der beantworten. Die grüne Fraktion hat ein Gutachten in
Haushalte mit Breitband versorgt. Selbst in einem Land Auftrag gegeben, in dem geprüft werden soll, ob und un-
wie Bayern, das sich als Hochtechnologieland präsen- ter welchen Bedingungen ein Universaldienst finanziell
tiert, sind noch immer rund 130 Gemeinden – ich rede und rechtlich möglich ist und welche Kosten überhaupt
nicht von Aussiedlerhöfen, sondern auch von Gemeinden entstehen würden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12335
Christine Scheel
(A) (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Dafür brau- Ein Gedanke noch zu den Änderungen für die Radio- (C)
chen wir doch kein neues Gutachten!) und Fernsehübertragung. Es geht nicht an, dass durch ei-
nen möglichen Frequenzwiderruf zusätzliche Kosten für
Wir haben also jetzt die Hausaufgaben gemacht, die wir die Radiosender entstehen. So wie das TKG im Moment
eigentlich von Ihnen erwartet hätten. ausgestaltet ist, entsteht bei einem Widerruf der UKW-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zuteilungen allein beim Bayerischen Rundfunk ein Kos-
tenrisiko von 8 Millionen Euro; bei den privaten Radio-
Sie setzen nicht die notwendigen Akzente beim Breit- sendern sind es 10 Millionen Euro. Diese Summen ge-
bandausbau. Der Bundesrat hat in seiner aktuellen hen dann für Investitionen in das Programm verloren.
Stellungnahme Zweifel daran erhoben, ob die gesetzten Deswegen möchte ich Sie bitten, an dieser Stelle eine
Ziele allein über Vorschriften erreicht werden können. Korrektur anzustreben, damit wir auch im Sinne der Ra-
Wir verstehen nicht, warum die Bundesregierung die diosender eine bessere Lösung bekommen.
meisten Änderungsvorschläge des Bundesrats bislang
abgelehnt hat. Aber es kann sein, dass sich das im Ver- Danke schön.
lauf der Diskussion noch verändert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein weiteres wichtiges Thema wurde von der Kolle-
gin vorhin angesprochen: kostenlose Warteschleifen. Es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ist schön, dass es bald endlich kostenlose Warteschleifen Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSU-
gibt. Wir fordern das übrigens schon seit Jahren. Die Fraktion.
Kollegin Nicole Maisch ist schon seit Jahren hinterher,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dass man in diesem Bereich weiterkommt. „Keine Leis-
tung – keine Kosten“ heißt hier die Devise. Aber warum
brauchen wir eine Übergangsfrist von zwölf Monaten? Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Das ist technisch überhaupt nicht notwendig. Es ärgert Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
die Leute ohne Ende, dass Sie das Ganze weitere zwölf einmal zur Linken und zu Ihnen, Frau Lay: Die Linke
Monate nach hinten schieben wollen. war schon immer ein Spezialist für das Thema Telekom-
munikation. Sie war allerdings zu DDR-Zeiten mehr für
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Zwei Stufen!) die Überwachung von Telefonen zuständig.
Kommen wir zu den verpflichtenden Preisansagen bei (Caren Lay [DIE LINKE]: Sie sind so origi-
Call-by-Call-Anrufen. Bei Call-by-Call-Anrufen haben nell! Das ist ein ganz wahnsinnig intelligentes
sprunghafte Preiserhöhungen in der Vergangenheit zu er- Argument, das Sie da vorbringen!)
(B) heblichen finanziellen Schäden geführt. Es gibt Aussa- (D)
gen, dass es innerhalb eines Telefonats Preissteigerun- Jetzt stellen Sie sich hier als diejenigen dar, die die Vor-
gen von bis zu 1 000 Prozent gegeben hat. Es ist eine ratsdatenspeicherung bekämpfen wollen.
Unverschämtheit, dass in den letzten Jahren diesbezüg- (Caren Lay [DIE LINKE]: Mein Gott! Fällt
lich nichts passiert ist. Wir wissen schließlich, dass Rot- Ihnen denn sonst nichts ein?)
Grün im Jahre 2005 die Preisansagepflicht beschlossen
hatte, dann aber an der CDU/CSU und der FDP im Bun- Das machen Sie zudem noch an falscher Stelle; denn das
desrat gescheitert ist. Nun wollen Sie die Unternehmen gehört hier gar nicht hinein. Das ist verwunderlich. Ob
per Rechtsverordnung zur Preisansage verpflichten. Das das intelligent ist, ist eine andere Frage. Man muss Sie
reicht uns nicht. Wir wollen, dass die Pflicht zur Preis- immer wieder darauf hinweisen, wo Sie herkommen.
angabe in das TKG aufgenommen wird. Dann wäre es (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr gut!
klar und sauber geregelt. Aber wo wir herkommen, da können wir mal
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gucken!)
Wir wollen auch, dass der Datenschutz ernster ge- Ich glaube, das ist ganz wichtig. Denn die Neigung be-
nommen wird. Der Schutz unserer Privatsphäre in der steht, dies im Laufe der Zeit zu vergessen.
Zukunft ist ein ganz wesentlicher Punkt. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich komme
aus Hagen!)
Wir wollen ferner, dass die Netzneutralität, die für die
bisher praktizierte grundsätzliche gleichberechtigte Wenn Sie mich jetzt weiter provozieren,
Übertragung aller Daten im Internet steht, ernsthaft ge-
lebt wird. Jedoch planen große Telekommunikations- (Johanna Voß [DIE LINKE]: Wer provoziert
unternehmen, bestimmte Dienste gegen Aufpreis – zum hier wen?)
Beispiel Fernsehen via Internet – zu beschleunigen. Das sage ich Ihnen auch noch, dass es in der DDR für zehn
bedeutet in der Konsequenz, dass die Offenheit des In- Haushalte nur einen Telefonanschluss gegeben hat. Das
ternets als Grundlage von demokratischen Prozessen auf ist sozialistische Telekommunikationspolitik. In dieses
dem Spiel stehen kann. Das muss man in den Fokus neh- Stadium wollen wir sicherlich nicht wieder zurückfallen.
men; darauf muss man aufpassen. Das heißt: Auch die
Netzneutralität muss als Regulierungsziel in diese No- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
velle aufgenommen werden. der FDP – Caren Lay [DIE LINKE], an die
CDU/CSU gewandt: Mein Gott! Was haben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie für einen Redner hingeschickt!)
12336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ich sage ganz klar: Wenn jemand eine bessere Idee (Beifall bei der SPD)
hat, wie man mit diesem Marktversagen umgehen und
die Sache regeln kann, dann sind wir dem aufgeschlos- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
sen. Aber ich höre seit Jahren nur, was in diesem Land Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
alles nicht geht. Das zeichnet auch andere Debatten aus. Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Novellie-
(B) Dazu sage ich ganz offensiv, dass ich auch vom Bundes- rung des Telekommunikationsgesetzes will die Bundes- (D)
wirtschaftsministerium eine bessere Beschreibung des- regierung eine ganze Reihe längst überfälliger Verbesse-
sen erwarte, was wir tun wollen. Wenn es ein klares rungen im Verbraucherrecht angehen. Endlich wird sie
Marktversagen gibt, dann können wir nicht sagen: Der aktiv; allerdings sehen wir noch einen erheblichen Ver-
Liberalismus steht über allem. besserungsbedarf. Nach einer Umfrage der Verbraucher-
Wenn wir andere Instrumente in den Blick nehmen, zentrale steht knapp der Hälfte der Bürgerinnen und Bür-
bitte ich darum, die Bedenken nicht überhandnehmen zu ger nach Vertragsabschluss mit einem Internetanbieter
lassen. Wir haben gesagt, dass wir Synergien heben wol- nicht die Internetgeschwindigkeit zur Verfügung, die
len, damit das Ganze billiger wird. Wir wollen einen ge- vorher zugesagt wurde. Die tatsächlich gelieferte Leis-
setzlich geregelten Zugriff auf die Infrastruktur Dritter; tung liegt meist deutlich unter der in der Werbung ver-
beispielsweise wollen wir den Zugriff auf die Infrastruk- sprochenen Geschwindigkeit. Ist das eine bewusste
tur der Energieversorger sicherstellen, aber auch auf die Fehlinformation? Der Verbraucher braucht Preiswahr-
Infrastruktur des Bundes. Lieber Andi Scheuer, es kann heit und Preisklarheit.
doch nicht sein, dass mir ein Beamter aus dem Bundes-
verkehrsministerium schreibt, da gebe es wesentliche Umso verwunderlicher ist es deshalb, dass Sie die
Sicherheitsbedenken oder was auch immer. Wenn man Anbieter laut dem vorliegenden Gesetzentwurf nur ver-
dafür kein Instrument findet, sondern nur die Bedenken pflichten wollen, den Verbraucher über eine bestimmte
vor sich her trägt, dann sind diese Ansätze letztendlich Mindestleistung zu informieren. Wie sehr diese Mindest-
nicht ausreichend und dann bin auch ich an dem Punkt, leistung von der beworbenen Leistung tatsächlich abwei-
an dem ich frage: Was dann? An diesem Punkt des The- chen darf, soll der Anbieter allerdings selbst entscheiden
mas Breitband müssen wir nacharbeiten. können. Ich finde, das ist nicht ausreichend. Das machen
die Internetanbieter im Übrigen zum Teil sowieso schon.
LTE ist ein respektabler Ansatz, weist in die richtige Die angegebenen Mindestgeschwindigkeiten liegen
Richtung, wird unser Problem auf bestimmte Zeit sicher dann in der Regel bei 40 bis 50 Prozent der beworbenen
lösen, wird uns auch ein wenig Luft verschaffen; aber Internetgeschwindigkeit. – Herr Nüßlein, Ihre Aussagen
ich bin nicht schlüssig, ob das für alle gelten wird. Am zum Universaldienst wundern mich, wenn ich sie mit
Ende werden ein paar übrig bleiben, die auch durch LTE dem vergleiche, was vorher Herr Lämmel gesagt hat.
im Wettbewerb nicht problemlos angeschlossen werden Sind Sie sich in Ihrer eigenen Partei jetzt einig, oder dis-
können. Am Ende wird man sehen müssen, ob sich diese kutieren Sie noch über die Strategie?
Funktechnologie wirklich so weiterentwickelt, dass die
Bandbreiten mitwachsen. Unser Problem wird doch (Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Das ist ein
nicht dadurch gelöst, dass man sagt – ich nehme die temporärer Prozess!)
12338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Rita Schwarzelühr-Sutter
(A) Wir begrüßen die im Gesetzentwurf vorgesehenen eine Übergangszeit von sechs Monaten vor und hält dies (C)
Regelungen zum Anbieterwechsel. Natürlich darf eine für ausreichend.
Dienstleistung nur für einen Tag unterbrochen werden,
Wenn die Bundesregierung sich schon daranmacht,
und in einer Informationsgesellschaft sollte ein Internet-
mit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes
anschluss nicht länger als einen Tag unterbrochen wer-
den Verbraucherinnen und Verbrauchern endlich mehr
den. Allerdings muss man sich die Frage stellen, wie
Rechte zuzugestehen, dann sollte sie ihre Regelungen
eine solche Umstellung innerhalb eines Tages sicherge-
auch konsequent zu Ende entwickeln und nicht auf hal-
stellt werden soll. Denn effektive Sanktionsmechanis-
ber Strecke stehen bleiben.
men für den Fall, dass ein Telekommunikationsanbieter
sich bei der Umstellung des Anschlusses mehr als einen
Tag Zeit lässt, sieht Ihr Gesetzentwurf überhaupt nicht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
vor. Es bedarf sicherlich keiner hellseherischen Fähig- Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
keiten, um jetzt schon sagen zu können, dass ein Verbot
ohne effektive Sanktionen ein zahnloser Tiger bleiben Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
wird. Ich komme sofort zum Ende. – Ein Anliegen ist mir
auch, eine Verbesserung im Telekommunikationsgesetz
(Beifall bei der SPD) im Sinne der Notfallpatienten mittels einer genauen Or-
Herr Brüderle hat vollmundig erklärt, dass Probleme tung durch Rettungsdienste zu erreichen.
beim Anbieterwechsel nun der Vergangenheit angehö- Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie in unseren Antrag.
ren. Durch das, was Sie in dem Gesetzentwurf vorsehen, Dann sehen Sie, was bei Ihnen noch fehlt. Das wäre für
werden die Probleme beim Anbieterwechsel aber sicher- die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich ein
lich nicht gelöst. echter Gewinn.
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Wieso?) Herzlichen Dank.
Es ist naiv, auf die freiwillige Einhaltung der Regeln (Beifall bei der SPD)
durch die Unternehmen zu setzen. Wir brauchen einen
Schadensersatzanspruch des Verbrauchers gegenüber Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dem Anbieter. Das muss dann auch im Gesetz stehen. Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-
tion.
Im Übrigen sollte die Kündigung eines Vertrages un-
bedingt in Schriftform erfolgen müssen; denn nur so (Beifall bei der FDP)
(B) kann Missbrauch durch die Diensteanbieter effektiv ver- (D)
hindert werden. Zu einer ungewollten Auflösung eines Dr. Erik Schweickert (FDP):
Internetvertrages kommt es dann zum Beispiel nicht. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht vielleicht et-
Ebenso reicht es nicht aus, bei einem Umzug den Ver- was unter, aber heute legen wir als christlich-liberale
brauchern ein Sonderkündigungsrecht für den Vertrag Koalition einen Meilenstein für den Verbraucherschutz
nur dann zuzugestehen, wenn die vertraglich zugesi- vor;
cherte Internetgeschwindigkeit am neuen Wohnort nicht
angeboten werden kann. Bei einem Umzug sollte es un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
serer Meinung nach ein generelles Sonderkündigungs- denn dieses Telekommunikationsgesetz wird endlich
recht für die Verbraucher geben. Viele ältere Menschen Abzocke beenden, Bürokratie abbauen und viele Vor-
lösen zum Beispiel ihre Wohnung auf und ziehen in eine gänge für die Verbraucher vereinfachen. Es reicht nicht,
Pflegeeinrichtung. Warum sollen sie drei Monate lang wenn man sich hier hinstellt und sagt, was man alles
für einen Vertrag zahlen, obwohl sie keine Leistung er- gerne hätte. Ich erinnere daran: Telefonische Warte-
halten? schleifen gibt es nicht erst, seit wir an der Regierung
(Beifall bei der SPD) sind. Die gibt es schon länger.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist das
NEN]: Ja eben! Sie haben es ja abgelehnt in
Thema Telefonwarteschleife sicherlich eines der wich-
den letzten Jahren!)
tigsten, die durch den Gesetzentwurf geregelt werden
sollen. Es ist gut, dass die Warteschleifen bei 0180- und Wer zwölf Jahre in diesem Bereich nichts getan hat,
0900-Servicenummern für den Verbraucher künftig kos- kann sich jetzt nicht hier hinstellen und sagen, dass alles
tenfrei sein sollen oder nur ein Festpreis pro Anruf fällig zu langsam geht.
sein soll. Nach unserer Meinung müssten auch Störungs-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
meldungen oder Anrufe in Gewährleistungsfällen
Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
grundsätzlich kostenfrei sein. Ich denke nur an die Vul-
NEN]: 2005 haben Sie es abgelehnt! Das
kanaschewolke. Was war das für ein Chaos; die Service-
könnten wir schon längst haben!)
nummern waren ständig besetzt. Nicht nachvollziehbar
ist allerdings, warum bei diesem für die Verbraucherin- Wir lassen hier wichtige Verbesserungen wahr wer-
nen und Verbraucher so wichtigen Punkt eine so lange den. Ein Anbieterwechsel muss jetzt innerhalb eines Ta-
Übergangszeit gelten soll. Selbst der Bundesrat schlägt ges möglich sein. Das heißt, das Problem der wochen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12339
Dr. Erik Schweickert
(A) lang toten Telefonleitungen, das viele Verbraucher, aber aufreibend. Man könnte das vielleicht gerade noch so (C)
auch Unternehmen hatten, wird der Vergangenheit ange- akzeptieren, wenn es sich zeitlich im Rahmen halten
hören. Viele haben einen Wechsel gescheut. Sie haben würde. Es ist aber oftmals ein teurer Warteakt, weil sich
gesagt: Das ist schwierig, nachher stehe ich ohne Tele- Kostenfallen dahinter verbergen. Manchmal ist die War-
fon da. – Wenn ein solches Wechselhindernis besteht, teschleife deutlich teurer als die Serviceleistung, die man
dann wird nicht gewechselt. Deswegen sagen wir: Hier in Anspruch genommen hat. Es ist egal, ob es sich um
muss es eine Sanktionsmöglichkeit geben. Die ist jetzt Telefonanbieter, Kabelanbieter, Pay-TV oder Sonstiges
vorhanden; denn wenn es mit dem Anbieterwechsel handelt: Wir haben gesagt, dass sich Leistung lohnen
nicht klappt, gibt es die Möglichkeit, wieder auf das zu- muss. Eine Warteschleife, wenn ich irgendwo anklopfe,
rückzugehen, was man hatte. Das ist eine klare Verbesse- ist keine Leistung. Deswegen schieben wir dem Ge-
rung für die Verbraucherinnen und Verbraucher. schäftsmodell Warteschleife einen Riegel vor und brin-
gen als christlich-liberale Koalition damit den Verbrau-
Wir beschleunigen auch die Chancen, dass überhaupt cherschutz voran.
gewechselt wird. Denn wenn wir die Telekommunika-
tionsunternehmen dazu verpflichten, Varianten in einem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Tarif anzubieten, der maximal zwölf Monate gilt, kann Frau Kollegin Lay, Sie glauben gar nicht, wie viele
schneller gewechselt werden, und die ellenlangen Klebe- Leute mir die Tür eingerannt haben, als wir, die FDP, an-
verträge gehören endlich der Vergangenheit an. gekündigt haben, den kostenpflichtigen Warteschleifen
Wenn wir schon bei den Wechselhürden sind: Wenn den Kampf anzusagen. Wir waren diejenigen, die nicht
man viele Bekannte hat, wird die Rufnummer heute oft- festschreiben wollten, welche Technologie umgesetzt
mals nicht gewechselt, weil man Angst hat, dass man werden muss. Wir sind standhaft geblieben. Wir stehen
Hunderten von Leuten die neue Handynummer geben auf der Seite der Verbraucher und fordern: Diese Abzo-
muss. Dabei handelt es sich um eine sogenannte nicht cke muss ein Ende haben. Wie die Unternehmen das
ökonomische Wechselhürde. Das wird im TKG ebenfalls technisch umsetzen – ob durch Offlinebilling oder On-
geändert. Jetzt kann man auch während der Vertragszeit linebilling –, bleibt ihnen überlassen. Das wird der Wett-
seine Handynummer portieren bzw. mitnehmen. Man bewerb entscheiden. Aber ganz klar ist: Wir als christ-
muss zwar weiterhin zahlen, bis der Vertrag endet; denn lich-liberale Koalition gehen bei diesem Thema voran.
man ist ja ein Geschäft eingegangen. Aber dass man die Das Thema Internetabzocke, das Sie angesprochen
Nummer mitnehmen kann, ist eine große Verbesserung haben, ist nicht im Rahmen des TKG zu regeln – das
für die Verbraucherinnen und Verbraucher. wissen Sie genau –, sondern im Rahmen des Fernabsatz-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gesetzes.
(B) (Caren Lay [DIE LINKE]: Dann ändern Sie (D)
Wenn Sie heute umziehen, haben Sie erstmals ein
Sonderkündigungsrecht, wenn die vereinbarte Leistung das! – Martin Dörmann [SPD]: Sie haben doch
am neuen Wohnort nicht angeboten wird. Ich frage mich: ein Artikelgesetz vorgelegt!)
Wer hat denn damals die Gesetze gemacht, als es dieses Dort müssen wir dieses Problem behandeln. Auch da-
Sonderkündigungsrecht nicht gab? Daran sehen Sie, dass rüber werden wir diskutieren. Heute geht es allerdings
es schon einen Unterschied macht, ob hier in Deutschland um das TKG.
eine christlich-liberale Koalition regiert oder nicht.
(Martin Dörmann [SPD]: Das ist ein Artikel-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gesetz!)
Wir helfen nicht nur beim Umzug und beim Kampf Man sollte dann über ein Thema sprechen, wenn es auf
gegen die Abzocke, sondern wir schaffen auch Transpa- der Tagesordnung steht.
renz bei den Abrechnungen. Wenn Leistungen Dritter
über die Telefonrechnung abgerechnet wurden, wusste Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Uns geht es nicht darum, irgendwelche Überwachungs-
man oftmals nicht, wofür man die 2 oder 3 Euro bezah-
len musste, die in der Rechnung enthalten waren. Ab so- behörden zu schaffen, die Preise festsetzen und Zeiten
fort ist für den Verbraucher klar erkennbar, wer hinter regulieren – Stichwort: Kommunikationskombinat –,
sondern wir wollen Verbraucherschutz durch Wettbe-
dieser Leistung steckt. Das heißt, man kann überprüfen,
ob die Leistung überhaupt in Anspruch genommen wor- werb. Dazu leistet dieses Gesetz einen Beitrag.
den ist, und kann im Reklamationsfall viel schneller (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
agieren.
Ich komme zur Transparenz. Frau Kollegin Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Schwarzelühr-Sutter, ich meine, dass die Informations- Das Wort hat nun Johanna Voß für die Fraktion Die
pflicht Transparenz schafft. Wir schreiben jetzt fest, dass Linke.
genau angegeben werden muss, welche DSL-Geschwin- (Beifall bei der LINKEN)
digkeiten verfügbar sind. Von daher ist das schon eine
deutliche Verbesserung im Vergleich zum jetzigen Stand.
Johanna Voß (DIE LINKE):
Ich komme zu dem in meinen Augen wichtigsten Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauer! Sehr
reich, den kostenfreien Warteschleifen bei Servicehot- geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke fordert
lines. Jeder von Ihnen kennt es: Das ist nicht nur nerven- schon lange Breitband für alle. Daher begrüßen wir die
12340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Johanna Voß
(A) Ziele der TKG-Novelle: erstens die Gewährleistung ei- ner definierten Mindestqualität und zu erschwinglichen (C)
ner flächendeckenden gleichartigen Grundversorgung Preisen anzubieten. Damit würde verhindert werden,
mit Telekommunikationsdiensten und zweitens die Be- dass sich Unternehmen nur die Rosinen herauspicken
schleunigung des Ausbaus von Hochleistungsnetzen. und die dünn besiedelten Gebiete unversorgt lassen. Da-
Leider hapert es an der Umsetzung vonseiten der Bun- mit würde ein nachhaltiger Weg eingeschlagen werden;
desregierung. denn ein Universaldienst kann dem Stand der Technik
immer wieder angepasst werden. Die Chance, den Breit-
Aufgrund ihrer Marktgläubigkeit ist die Bundesregie- bandausbau verpflichtend in die Novelle zum Telekom-
rung – Sie, Herr Lämmel, haben das bestätigt – bereits munikationsgesetz aufzunehmen, wurde bisher nicht ge-
am ersten Ziel gescheitert. Die Unternehmen konzentrie- nutzt.
ren sich auf den profitablen Breitbandnetzausbau in den
Ballungsgebieten. Sie stürzen sich auf den gewinnträch- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
tigen Mobilfunk. Wo es sich nicht lohnt, muss dann die koalition, folgen Sie Ihrer Kollegin Ilse Aigner! Setzen
öffentliche Hand für die Investitionen aufkommen. Sie sich im Rahmen dieser Novelle für den Breitband-
universaldienst ein!
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Das ist doch Un-
sinn!) Danke schön.
Die Unternehmen müssen viel stärker in die Pflicht ge- (Beifall bei der LINKEN)
nommen werden. Das Marktversagen dauert hier schon
viel zu lange. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der LINKEN) Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das
Die Frage gleichwertiger Lebensbedingungen überall Wort.
in Deutschland hängt ganz entscheidend davon ab, dass
es überall einen gleichwertigen Zugang zum Internet (Beifall bei der CDU/CSU)
gibt. Wenn das nicht gewährleistet ist, kann dies die Ab-
wanderung von jungen Menschen zur Folge haben. Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Heutzutage kann man sich ohne das Internet nicht mehr Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
bewerben. Das sieht auch Frau Merkel so. Doch Millio- und Kollegen! Lassen Sie mich am Ende der Debatte
nen Menschen warten seit Jahren auf zuverlässiges, drei Feststellungen treffen. Erstens ist festzustellen, dass
schnelles Internet. Gleichwertige Lebensbedingungen die Breitbandstrategie der Bundesregierung, mit der wir
werden ohne ausreichende Pflichtvorgaben nicht ge- im europäischen Vergleich ganz oben stehen, richtig und
(B) schaffen. Die digitale Spaltung wird so nicht aufgeho- erfolgreich war. Zweitens besteht aber in der Breitband- (D)
ben. Das muss sich ändern. versorgung eine digitale Kluft insbesondere zwischen
Die Bundesregierung darf in Bezug auf die Schlie- Städten und ländlichen Räumen. Diese Diskrepanz müs-
ßung dieser weißen Flecken nicht allein auf die mobilen sen wir in den Mittelpunkt des Handelns stellen. Es sind
Breitbandversorger hoffen. Mobiles Breitbandinternet im Übrigen nicht nur ländliche Räume, sondern zum Teil
wird immer schlechter sein, als es Festnetzverbindungen auch städtische Randlagen betroffen. Das müssen wir
sind. Außerdem beinhalten die Ausbauverpflichtungen jetzt in den Blick nehmen. Drittens ist festzustellen, dass
nur eine 90-prozentige vorrangige Deckung der unver- die vorliegende umfangreiche TKG-Novelle an die am-
sorgten Gebiete. Das sind nun einmal 10 Prozent zu we- bitionierten Ziele der Breitbandstrategie anknüpft und
nig. Wir brauchen 100 Prozent. wesentliche Verbesserungen im Verbraucherschutz und
bei den Regelungen und Instrumenten einer klugen und
(Beifall bei der LINKEN) investitionsfreundlichen Regulierung mit sich bringt.
Doch selbst das Ende der weißen Flecken reicht nicht Die bisherigen sogenannten weißen Flecken und auch
aus. Mittelfristig brauchen wir flächendeckend Glasfa- alle Regionen, die derzeit nur über Internetanschlüsse
sernetze. – In Lüchow-Dannenberg liegen die Kabel in mit einer Geschwindigkeit im einstelligen MB-Bereich
den Verteilstellen in den Straßen. Sie sind aber noch verfügen, müssen wir schnellstmöglich in den Blick
nicht bis zu den Häusern verlegt worden; denn hierfür nehmen, um hochleistungsfähige Breitbandanschlüsse
fehlt den Kommunen das Geld. – Nur dann gibt es aus- zu schaffen.
reichende Kapazitäten für neue, datenintensive Anwen-
dungen. Bisher haben in Deutschland nur 1,7 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Haushalte Glasfaserzugang. Um nur ein Beispiel zu Zum Stellenwert der Breitbandinfrastruktur für Bür-
nennen: In Litauen – da werden Sie staunen – sind es ger und Wirtschaft ist bereits viel Richtiges gesagt wor-
50 Prozent der Haushalte. Daran wird deutlich: Es ist den. Es ist auch richtig, was Frau Scheel gesagt hat,
eine Frage des politischen Willens. nämlich dass im ländlichen Bereich mit Problemen ge-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Na ja! Litauen kämpft wird, die ihre Ursache insbesondere in der demo-
ist aber auch ein bisschen kleiner!) grafischen Entwicklung haben und die nicht durch die
digitale Kluft verschärft werden dürfen. Zum Teil wird
Wir brauchen endlich den Breitbanduniversaldienst. von kleineren Gemeinden ein Aufwand in einer Größen-
Damit wären die Internetanbieter verpflichtet, allen Bür- ordnung betrieben – die Zahlen belaufen sich teilweise
gerinnen und Bürgern einen Breitbandanschluss mit ei- auf fünf- oder sechsstellige Summen –, der manchen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12341
Bernhard Kaster
(A) größeren Städten im Verhältnis gesehen nicht möglich Informationen über Art, Lage und Verfügbarkeit von In- (C)
wäre. Von den Kommunen wird viel geleistet, und es frastruktureinrichtungen einzufordern, und – das ist
wird auch in Zukunft noch viel passieren müssen. Hier schon angesprochen worden – die ausdrückliche Einbe-
müssen wir aber entsprechend anknüpfen. Deswegen ziehung bereits vorhandener Infrastruktur auf anderen
werden wir gerade diese Thematik in den Mittelpunkt Ebenen wie Leitungen und Masten. Das wird demnächst
stellen. ermöglicht werden.
Der Weg zur Erschließung des ländlichen Raumes Es ist gesagt worden, diese Vorlage sei sehr umfang-
muss ein Mix aus allen verfügbaren Technologien sein. reich. Mit Anlagen und Stellungnahmen sind es 238 Sei-
Die LTE-Technik ist bereits angesprochen worden. Der- ten. Es ist natürlich eine sehr technisch geprägte Vorlage
zeit muss beim Ausbau der LTE-Technik ein Abstand in einer sehr technischen Sprache. Ich finde es aber
von 30 Kilometern zu unseren Nachbarländern gewahrt schön, dass man sich auch der Sprache gewidmet hat,
werden. Ich rege an, zu prüfen, ob das auf europäischer dass man beispielsweise Veränderungen bei den Begriff-
Ebene behoben werden kann. Dabei geht es um techni- lichkeiten vornimmt. Allein im neuen § 3 des TKG sind
sche, vielleicht aber auch um rechtliche Fragen. Es sind 35 Begriffe aufgeführt, die definiert werden. Man führt
große Bereiche betroffen, die bisher nicht teilhaben kön- das Wort „Sprachkommunikation“ ein. Bislang war von
nen. Echtzeitkommunikation die Rede. Auch im Kleinen sind
also Verbesserungen erzielt worden.
Ich betone nochmals: Wie kein anderes Land in Eu-
ropa konnten wir in den vergangenen Jahren die Breit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
banddichte und -qualität signifikant steigern. Wie sich
der Telekommunikationsmarkt in Deutschland entwi- Wir sprechen also von Sprachkommunikation und nicht
ckelt, hängt wesentlich von einer umsichtigen und klu- mehr von Echtzeitkommunikation.
gen staatlichen Regulierung ab. Die Bundesnetzagentur Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die christlich-li-
hat in den vergangenen Jahren sehr gute Arbeit geleistet. berale Koalition weiß um den Stellenwert der Telekom-
Sie ist auch im internationalen Vergleich ein vorbildli- munikation im 21. Jahrhundert für die Bürgerinnen und
cher Regulierer. Bürger und für unsere mittelständisch geprägte Wirt-
(Beifall bei der CDU/CSU) schaft. Die neue TKG-Novelle wird ein wesentlicher
Baustein dafür sein, dass Deutschland auf dem Gebiet
Ich will den Mitarbeitern ausdrücklich Dank sagen. In der Telekommunikation bei Innovation und Investitio-
der Bundesnetzagentur wird gute Arbeit geleistet. nen, aber auch bei Wettbewerb und Verbraucherschutz
Wir müssen uns die Frage stellen, welche Rolle die weiterhin ganz oben steht.
(B) Regulierung in der sozialen Marktwirtschaft einnimmt. Vielen Dank. (D)
Für die Union und die christlich-liberale Koalition steht
hierbei ein Leitsatz ganz oben: Umsichtige Regulierung (Beifall bei der CDU/CSU)
muss den Marktteilnehmern so viel Freiheit lassen wie
möglich und so viel Grenzen setzen wie nötig. Das muss Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der Leitsatz für Regulierung sein. Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
Wir brauchen eine moderne und kluge Regulierungspoli- wurfs auf Drucksache 17/5707 an die in der Tagesord-
tik in der sozialen Marktwirtschaft. Regulierungspolitik nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
sollte Ausdruck zeitgemäßer Gestaltung sozialer Markt- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
wirtschaft sein. Regulieren statt Strangulieren, das muss nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
die Botschaft sein.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Was bedeutet das konkret? Es bedeutet die Anwen-
dung wettbewerbs- und investitionsfreundlicher Regu- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
lierungsgrundsätze und eine Ausgestaltung des Verbrau- Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
cherschutzes auf der Höhe der Zeit. Das heißt, die Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürger auch vor Fehlentwicklungen, die schon benannt Engagementpolitik im Dialog mit der Bürger-
worden sind, vor Abzocke und Betrug zu schützen, gesellschaft
Wettbewerb am Markt und technische Innovationen und
technischen Fortschritt zu fördern. – Drucksachen 17/3712, 17/5135 –
Genau bei diesen Punkten setzt die Gesetzesnovelle Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
an. Eine ganze Vielfalt neuer Regelungen hat das Ziel, Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
durch Wettbewerb, Innovation, Investitionen und Inves- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
titionssicherheit den Ausbau hoch leistungsfähiger Netze
Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen
zu fördern. Hierzu gehören insbesondere ein langfristi-
Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
ges Regulierungskonzept – das bringt Investitionssicher-
heit –, die Berücksichtigung von Kooperationen und an-
deren Risikobeteiligungsmodellen bei Regulierungsent- Markus Grübel (CDU/CSU):
scheidungen, das Recht der Bundesnetzagentur, exakte Hat nicht zuerst der Antragsteller das Wort?
12342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Verbesserung der Rahmenbedingungen, Ausbau der (C)
Nein. Es ist sozusagen die zweite Lesung. Es ist eine Anerkennungskultur: Es laufen schon die Vorbereitun-
Debatte über die Antworten. Eine Debatte über die Fra- gen zur Vergabe des deutschen Engagementpreises am
gen hat es schon gegeben. 3. Dezember 2011 durch Bundesministerin Kristina
Schröder, in diesem Jahr auch mit der Sonderkategorie
Markus Grübel (CDU/CSU):
„Engagement von Älteren“. Wir denken an den fünften
Altenbericht „Potenziale des Alters“ und an den sechsten
Dann soll es so sein. – Sehr geehrter Herr Präsident! Altenbericht „Altersbilder“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie sehen, die Ziele werden mit Maßnahmen und Tä-
Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehren-
tigkeiten unterfüttert, und es tut sich etwas. Die Strategie
amt dir geben! Willst du nicht zu früh ins Grab,
ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesell-
lehne jedes Amt gleich ab!
schaft. Sie ist ein Beitrag zur Stärkung des Miteinanders
Dieses Zitat wird in der Regel Wilhelm Busch, manch- und zur Förderung des Zusammenhalts unserer Gesell-
mal aber auch Ringelnatz zugeschrieben. Der wahre Au- schaft.
tor ist wahrscheinlich unbekannt. Aber ich habe schon oft
erlebt, dass Politikerkollegen dieses Zitat bei Grußworten Die nationale Engagementstrategie zeigt zwei wich-
und Vereinsjubiläen gebraucht haben. Diese Aussage tige und positive Entwicklungen auf. Zum einen: Es en-
stimmt für Deutschland eben nicht. gagieren sich immer mehr Menschen, 23 Millionen über
16 Jahre alte Menschen in Deutschland. Das ist gut ein
23 Millionen Menschen engagieren sich in Deutsch- Drittel. Und ein weiteres Drittel ist bereit, sich zu enga-
land ehrenamtlich und sehen darin eine sinnvolle Betäti- gieren. Aus dem Freiwilligensurvey wissen wir: Es gibt
gung. Sie wollen sich ehrenamtlich, bürgerschaftlich en- eine Verschiebung, mehr Engagement im Bereich der
gagieren. Wir schaffen dafür gute und sinnvolle Älteren, ein etwas reduziertes Engagement im Bereich
Rahmenbedingungen. Die Menschen, die sich engagie- der Jüngeren. Da spiegelt sich zum einen die demografi-
ren, sind glücklicher und zufriedener als die, die sich sche Entwicklung wider, zum anderen aber auch das et-
nicht engagieren. Das wissen wir aus der Engagement- was kleinere Zeitbudget der Jüngeren. Denken wir nur
forschung, insbesondere aus den Freiwilligensurveys. an G 8 oder an die gestrafften Studien- und Ausbildungs-
Daher müsste es eigentlich heißen: Willst du froh und gänge.
glücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben!
Es bleibt festzuhalten: Die nationale Engagementstra-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tegie ist kein abgeschlossener Prozess. Da wurde am
der FDP) 6. Oktober letzten Jahres nicht einfach etwas vom Bun-
(B) deskabinett beschlossen und dann zur Verehrung freige- (D)
Für den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements
geben, sondern das ist ein Prozess, der stattfindet, eine
sei gesagt: Der Bund kann und soll nicht alles regeln.
Strategie, die lebt. Deshalb wird auch im Jahr 2011 wie-
Wir wollen das bürgerschaftliche Engagement nicht ver-
der ein nationales Forum für Engagement und Partizipa-
staatlichen. Das bürgerschaftliche Engagement findet
tion einberufen, das die Umsetzung der Strategie beglei-
vor allem auf kommunaler Ebene statt. Darum sind auch
ten soll. Wir werden auch weiterhin prüfen, inwieweit
die Kommunen und die Länder hier stark gefordert.
Themen, die in der Engagementstrategie bisher noch
Ein Teil der Fragen betrifft die sogenannte nationale nicht berücksichtigt werden konnten, im Zuge der Um-
Engagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisher setzung der Engagementstrategie aufgerufen werden
in Deutschland nicht. Es ist gut und richtig, dass die können.
Bundesregierung die nationale Engagementstrategie er-
arbeitet hat. Sie enthält Prinzipien und Ziele. Grundsätze Ich möchte jetzt noch auf einen anderen großen Punkt
werden formuliert und konkrete Maßnahmen aufgeführt. in der Großen Anfrage eingehen, nämlich auf die Frei-
Die Strategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte: Integra- willigendienste, insbesondere den Ausbau der Jugend-
tion, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografi- freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst.
scher Wandel und internationale Zusammenarbeit. Diese Noch nie gab es in Deutschland so viel Geld für Freiwil-
fünf Punkte bilden die großen Herausforderungen der ligendienste. 350 Millionen Euro haben wir bereitge-
nächsten Jahre. Ich glaube, wir haben diese fünf Schwer- stellt. Wir vom Bund haben früher mit 72 Euro pro Mo-
punkte richtig gewählt. Die Ziele sind Koordinierung al- nat die Jugendfreiwilligendienste gefördert. Das war das
ler Ressorts in der Engagementpolitik, ein Miteinander Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische
der Bundesministerien, kein Nebeneinander oder sogar Jahr und ein bisschen mehr. Künftig werden wir das FSJ
– das gab es noch nie – ein Gegeneinander. Der neue mit 200 Euro im Monat fördern. Zusätzlich wird es
Ressortkreis „Engagementpolitik“ hat am 1. April das 50 Euro im Monat für junge Menschen mit besonderem
erste Mal getagt. Betreuungsbedarf geben. Durch das Kopplungsmodell
erreichen wir, dass sich beide, die Jugendfreiwilligen-
Neue Kooperationen zur Engagementförderung, ins- dienste und der Bundesfreiwilligendienst, gut entwi-
besondere mit der Wirtschaft und den Stiftungen: Das ckeln können. 350 Millionen Euro vom Bund – es gab
Bundesfamilienministerium hat mit dem Bundesverband noch nie so viel –, 12 Millionen Euro von den Ländern
deutscher Stiftungen eine Steuerungsgruppe für die en- – das meiste aus Baden-Württemberg und Bayern –, und
gagementfördernden Stiftungen bei der Körber-Stiftung 8 Millionen Euro kommen noch aus dem Europäischen
ins Leben gerufen. Sozialfonds dazu.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12343
Markus Grübel
(A) Es gibt noch eine gute Nachricht zum Bundesfreiwil- willigendienst.de können Sie alle Informationen und al- (C)
ligendienst. Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bun- les, was es zu diesem neuen Dienst gibt, abfragen.
desfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigung
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
führen soll. Wir waren uns alle darüber einig, dass wir
Klaus Riegert [CDU/CSU]: Super Werbe-
die Gesetzeslage noch dahin gehend ändern wollen. Die
block!)
Kindergeldfrage wird möglichst zeitnah in einem Steuer-
gesetz, in dem man es vielleicht nicht vermutet, nämlich Ich kann mir nur wünschen, dass sich viele ein Jahr ihres
wahrscheinlich im Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungs- Lebens Zeit nehmen, um mal etwas anderes zu tun – für
gesetz, geregelt werden. Das ist ein Gesetz, in dem man andere, aber auch für sich selber. Solch ein Freiwilligen-
eher keine Regelung zu den Jugendfreiwilligendiensten dienst erfüllt und bereichert das Leben.
vermutet.
Sie sehen, die Engagementpolitik ist in der christlich-
Kollege Koch, wir haben gewettet. Ich würde schon liberalen Koalition gut aufgehoben und hat bei unserer
einmal den Wein kaufen, den Sie verlieren werden. Bundesregierung einen sehr hohen Stellenwert.
(Beifall bei der CDU/CSU) Herzlichen Dank.
Wir werden hier die Kindergeldregelung einbringen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wir schließen damit eine weitere Lücke: Bei den inter- der FDP)
nationalen Jugendfreiwilligendiensten haben wir zum
Kindergeld auch eine Regelungslücke, die so nicht zu er- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
klären war und zu vielen Problemen im Einzelfall ge- Das Wort hat nun Ute Kumpf für die Fraktion der
führt hat. Auch diese Lücke wollen wir jetzt schließen. SPD.
Ich bin mir sicher, das bekommen wir hin, und glaube,
(Beifall bei der SPD)
damit haben sich alle Vorwürfe und Kritikpunkte der
Opposition erledigt.
Ute Kumpf (SPD):
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
DIE GRÜNEN – Ute Kumpf [SPD]: So ein- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kol-
fach geht es nicht!) lege Grübel, Sie können sich vorstellen, dass uns der
Bundesfreiwilligendienst als der Schlüssel für alle Pro-
– Nein? Euch fällt immer wieder etwas Neues ein. Das
blemlösungen nicht genügt. Wir haben die Debatte zu
ist klar.
dem Thema bürgerschaftliches Engagement und auch
(B) (D)
Ich bin auch zuversichtlich, dass wir die offenen zur Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engage-
Plätze besetzen können: 35 000 Plätze für Jugendfreiwil- ments hier in diesem Haus auch schon mal umfassender
ligendienste, 35 000 Plätze für den Bundesfreiwilligen- und breiter geführt. Alle, die hier im Haus sind – so
dienst. Das wird sicher nicht gleich zum 1. Juli gelingen. denke ich –, wissen, dass unsere Demokratie durch das
Auch in der Vergangenheit fingen die Jugendlichen ihren Engagement der Bürgerinnen und Bürger lebendig ist
Jugendfreiwilligendienst meist nicht zum 1. Juli an, son- und bleibt. Ich glaube, dass wir alle eine starke und le-
dern erst zum 1. September. Sie machen vorher erst noch bendige Bürgergesellschaft wollen und dass wir wollen,
etwas Urlaub, und dann geht es los. Das ist heute schon dass Menschen ihre Freiheit nutzen, sich zu organisie-
so, und das wird auch beim Bundesfreiwilligendienst so ren, ihre Meinung zu äußern, sich auch für andere einzu-
sein. bringen, sich in Initiativen und Verbänden für das Ge-
meinwohl starkzumachen. Darum werden wir von
Wir haben gute Erfahrungen mit der freiwilligen Ver- anderen Ländern auch beneidet.
längerung des Zivildienstes gemacht. Rund 30 000 junge
Männer haben ihren Zivildienst freiwillig verlängert. Sie erleben ja gerade in anderen Ländern, dass sich
Das hat sehr gut eingeschlagen. Diese Möglichkeit zur viele an diesem Interesse an Demokratie orientieren,
freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes hatten Sie sich dafür starkmachen. Ich nenne nur das Stichwort
als Opposition ja kritisiert, aber wir hatten hier auch in Nordafrika. Aber so weit will ich gar nicht gehen.
der Koalition gewissen Überzeugungs- und Erklärungs- Wir wissen auch, dass bürgerschaftliches Engagement
bedarf. Aber das Ergebnis war sehr gut. 14 000 von die- und die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für-
sen jungen Männern sind über den 1. Juli hinaus im einander für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen,
Dienst und werden dann von freiwillig länger Zivildienst den der Staat alleine gar nicht leisten kann.
Leistenden zu Bundesfreiwilligendienstleistenden.
Und das, was wir hier im Saal auch immer gesagt ha-
Am Montag startet die Werbekampagne des Bundes ben, auch in den Ausschussdebatten und in der Arbeit in
hier in Berlin unter dem Motto „Zeit, das Richtige zu der Enquete-Kommission, ist, dass die lebendige Bür-
tun – Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden“. Es gergesellschaft staatliches Handeln kontrollieren, korri-
gibt Anzeigen, Plakate, ein Bus der Linie 100, der auch gieren, anspornen und ergänzen soll, aber dass bürger-
hier am Haus vorbeifährt, wird beklebt, vielfältige Infor- schaftliches Engagement staatliches Handeln nicht
mationen und Werbungen werden gestartet. Allen jungen ersetzen kann. Aus Untersuchungen weiß man ganz klar,
Menschen, auch denen hier im Haus, rufe ich zu: Infor- dort, wo der Sozialstaat seinen Pflichten nachkommt,
mieren Sie sich! Auf der Homepage www.bundesfrei- kann sich erst eine vitale Bürgergesellschaft entwickeln.
12344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ute Kumpf
(A) Wenn er das nicht tut, dann bleibt diese Bürgergesell- wenn Sie bürgerschaftliches Engagement fördern wol- (C)
schaft auf der Strecke. len, nicht. Sie beantworten auch nicht die Frage, wie es
mit der Infrastruktur, mit Gesetzesvorhaben, wie dem
Deswegen brauchen wir hier Demokraten. Eine De- Zuwendungsrecht, sein soll. Man erfährt nicht, wie es
mokratie braucht Demokraten, die sich auf gelernte und mit dem Freiwilligendienst, dem Freiwilligendienst-Sta-
eben auch gelebte demokratische Tugenden stützen. tusgesetz und der Entbürokratisierung weitergehen soll.
Deswegen heißt bürgerschaftliches Engagement mehr Alle diese Fragen werden nicht beantwortet. Ich denke,
als Bundesfreiwilligendienst. Bürgerschaftliches Enga- das ist misslich und – ich sage es einmal sehr zurückhal-
gement bedeutet Selbsthilfegruppen und politische Parti- tend formuliert – ärgert die Menschen.
zipation, das klassische Ehrenamt genauso wie das Stif-
ten und Spenden von Geld, aber natürlich auch die Die Initiative für das Nationale Forum für Engage-
Freiwilligendienste. ment und Partizipation wurde noch in der Großen Koali-
tion auf den Weg gebracht. Es wurde zugesichert, dass
Die Zahlen wurden ja schon genannt: 23 Millionen alles im Dialog erarbeitet wird, dass die Vorschläge in
Menschen engagieren sich in über 550 000 Vereinen, es entsprechende Gesetzesvorhaben einfließen; aber Sie ha-
gibt 17 000 Stiftungen – deren Zahl wächst –, es gibt Ge- ben dies schlichtweg negiert. Sie haben all die Vor-
nossenschaften, Netzwerke, Wohlfahrtsverbände, Sport- schläge, die mit viel Zeitaufwand, Energie und Fleiß zu-
und Kulturvereine, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen sammengetragen wurden, links liegen gelassen. Damit
und viele andere Bereiche, die durch dieses ehrenamtli- wird eine dialogorientierte Politik, die gemeinsam mit
che Engagement reich gemacht werden. der Bürgergesellschaft betrieben wird, ad absurdum ge-
Wir waren uns auch einig seit der Arbeit der Enquete- führt.
Kommission, dass dieses Engagement der Bürgerinnen Was Sie bei der nationalen Engagementstrategie au-
und Bürger Anerkennung verdient, Wertschätzung, und ßerdem außen vor lassen, ist die Beantwortung der
dass die Politik die Förderung und die Ermöglichung des Frage, woher das Geld kommen soll. Auf der einen Seite
bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe ver- wird propagiert, dass Netzwerke und die entsprechende
stehen muss. Infrastruktur wichtig sind. Aber heimlich werden die
Wir alle wissen – das bekommen auch Sie in Ihren Netzwerke ausgetrocknet. Das BBE soll weniger Geld
Wahlkreisen zu hören –, dass bürgerschaftliches Engage- erhalten. Projekte, die zu Zeiten von Rot-Grün auf den
ment nicht verzweckt werden darf. Es darf auch nicht als Weg gebracht worden sind, sollen gekappt werden. Der
Ausfallbürge missbraucht werden, wenn Ebbe in der Freiwilligendienst aller Generationen, bei dem viele Er-
Staatskasse ist. fahrungen gesammelt worden sind, soll durch den Bun-
desfreiwilligendienst ersetzt werden. Es bleiben Projekt-
(B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D)
ruinen. Viel Geld ist verschleudert worden. Daher sind
der LINKEN) auch die Leute vor Ort nicht mehr bereit, sich in anderen
Diensten zu engagieren. Aus der Bürgergesellschaft hieß
Darüber hinaus ist bürgerschaftliches Engagement nicht
es: Was wir jetzt erleben, ist eine gewisse Sprunghaftig-
zum Nulltarif zu haben. Es geht nicht darum, dass die
keit. Ein Projekt jagt das nächste, immer in der Erwar-
Leute Geld haben wollen, sondern darum, dass es ge-
tung von guten Effekten. Das alles ist nicht auf Dauer
setzliche wie auch politische Rahmenbedingungen für
angelegt. – Deswegen schwindet die Motivation, sich
bürgerschaftliches Engagement gibt. Die politischen
weiter zu engagieren.
Rahmenbedingungen müssen im Dialog mit der Bürger-
gesellschaft ausgehandelt werden. Kein Konzept gibt es auch bezüglich der Koordinie-
rung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, was die
Diese Grundsätze, lieber Kollege Grübel – ich bitte
Engagementstrategie angeht. Der Gesprächskreis am
um Aufmerksamkeit; der Kollege Riegert war damals
1. April, auf den Sie hingewiesen haben, genügt uns
Mitglied der Enquete-Kommission „Zur Zukunft des
nicht. Wir wollen an dieser Stelle mehr: Wir wollen ver-
bürgerschaftlichen Engagements“ –, haben wir uns in
bindliche Rahmenbedingungen. Es gibt auch keine Aus-
dieser Enquete-Kommission mühevoll erarbeitet. Herr
kunft über das Zuwendungsrecht, obwohl das schon
Riegert, wie ich sehe, haben Sie das entsprechende Pa-
lange gefordert wird. Fehlanzeige auch bezüglich einer
pier vor sich liegen – wunderbar. Wir haben sehr viele
nationalen Engagementstrategie.
Aufträge noch nicht abgearbeitet. Wir alle haben uns ge-
schworen, uns diese Aufträge hier noch zur Brust zu Es gibt keine vernünftige Konzeption, wie wir damit
nehmen. Den Konsens, den wir durch die Enquete-Kom- umgehen, dass unsere Gesellschaft älter, bunter und da-
mission, durch die Arbeit seit 2002 im Unterausschuss mit auch reicher wird. Die Älteren wollen mitreden, mit-
„Bürgerschaftliches Engagement“ und durch viele Ge- gestalten, mitentscheiden, vielleicht mitprotestieren. Sie
setze, die seit 2002 auf den Weg gebracht worden sind, wollen nicht auf den Bundesfreiwilligendienst vertröstet
erzielt haben, setzt die Bundesregierung mit ihrer natio- werden; vielmehr wollen sie rechtliche Rahmenbedin-
nalen Engagementstrategie aufs Spiel. gungen für ihre Teilhabe in der Gesellschaft, vor allem
für ihre politische Teilhabe.
Sie haben einen schönen neuen Ordner. In diesem
Ordner gibt es einen schönen neuen Titel: Engagement- Demokratie ist kein Schaukelstuhl, wie der Kollege
strategie. Inhaltlich verbunden ist damit nichts. Es gibt Müntefering festgestellt hat. Er hat gesagt: Es geht nicht
Listen, es gibt Projekte; aber Sie beantworten unsere nur darum, Altersbilder zu ändern, sondern auch darum,
Frage danach, welches Leitbild Sie vor Augen haben, den Älteren in der Gesellschaft gleichberechtigt einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12345
Ute Kumpf
(A) Platz einzuräumen. Das Gleiche gilt für die Migranten: leiterpauschale. Wir alle kennen das Problem und warten (C)
15,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben auf die Antwort der Bundesregierung – auch im Rahmen
einen Migrationshintergrund. 23 Prozent von ihnen der nationalen Engagementstrategie – auf die Frage, wie
engagieren sich bislang. Da liegt noch viel Potenzial sie diesen Missbrauch mit entsprechenden gesetzlichen
brach, das wir erschließen müssen. Es fehlen aber Anga- Maßnahmen unterbinden wird. Das bürgerschaftliche
ben dafür, wie dieses Potenzial erschlossen werden Engagement wird dadurch nämlich diskreditiert, und es
kann. Um sich bürgerschaftlich engagieren zu können, wird nicht dafür geworben, dass sich mehr Menschen für
muss man auch Bürgerrechte haben und braucht man die Gesellschaft einbringen, wenn sie ausgenutzt werden
entsprechende gesetzliche Grundlagen, sei es das Wahl- und wenn auf diese Weise eine sozialversicherungs-
recht auf Kommunalebene oder die doppelte Staatsbür- pflichtige Beschäftigung umgangen wird.
gerschaft. Auch hier: Fehlanzeige!
Vielen Dank.
Ganz zum Schluss möchte ich noch zwei wichtige
(Beifall bei der SPD)
Punkte anführen.
Uns alle muss sehr nachdenklich machen, dass die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bertelsmann-Stiftung in der letzten Woche einen Bericht Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die Fraktion
über das Engagement von jungen Erwachsenen im Alter der FDP.
von 14 bis 25 Jahren vorgelegt hat, wonach dieses Enga-
gement von ehemals 51 auf 31 Prozent dramatisch zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rückgegangen ist, was dem Leistungsdruck in der Schule
und der Einführung des achtjährigen Gymnasiums ge- Heinz Golombeck (FDP):
schuldet ist. Damit wird Engagement behindert. Genau Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-
das Gleiche gilt für die Verschulung des Studiums, ginnen und Kollegen! Das bürgerschaftliche Engage-
wodurch keiner mehr in der Lage ist, sich neben dem ment gewinnt gravierend an Bedeutung. Das liegt auch
Studium in der Hochschule zu engagieren. Zu dieser an tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen wie
Entwicklung sagen Sie in der nationalen Engagement- dem demografischen Wandel, der höheren Lebenserwar-
strategie nichts. tung und der Integration von Migrantinnen und Migran-
ten. Durch das freiwillige Engagement jedes Einzelnen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wird daher ein immer wichtigerer Beitrag zum Zusam-
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. menhalt unserer Gesellschaft geleistet.
Der nationalen Engagementstrategie widmet sich die
(B) Ute Kumpf (SPD): christlich-liberale Koalition mit einer ressortübergreifen- (D)
Ja, ich weiß; ich darf noch etwas reden. Ich habe den den Aufmerksamkeit. Wir sind dabei, die großen Ziele
Kollegen Sönke Rix gebeten, dass ich noch einen weite- dieser Strategie umzusetzen, weiterzuentwickeln und
ren Punkt ansprechend darf, wenn ich mit der Zeit nicht auszubauen.
ganz auskomme. Eines der großen Ziele ist eine bessere Abstimmung
zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Durch die Entwicklung neuer Gesetzesvorhaben haben
Nein. wir es geschafft, die Gestaltungsmöglichkeiten auf kom-
munaler Ebene zu verbessern.
Ute Kumpf (SPD): Dabei denke ich zum Beispiel an den Gesetzentwurf
Das geht zu seinen Lasten; das haben wir schon ganz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, wodurch der
kollegial vereinbart. Erwerb des sogenannten Feuerwehrführerscheins er-
leichtert werden soll. In Zukunft wird es den freiwilligen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Feuerwehren und den Rettungsdiensten ermöglicht, ihre
Gut, das geht zu seinen Lasten. Nachwuchskräfte auf Einsatzfahrzeugen bis 7,5 Tonnen
selbst auszubilden und zu prüfen. Wir sichern damit ihre
Ute Kumpf (SPD): Einsatzfähigkeit; denn mit dem EU-Führerschein der
Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, näm- Klasse B dürfen nur Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen gefahren
lich den Missbrauch des Ehrenamtes. werden. Mit diesem Gesetzentwurf der christlich-libera-
len Regierung stärken wir das ehrenamtliche Engage-
(Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Die zusätzli- ment der vielen jungen Menschen, die bei der Feuerwehr
che Zeit ist schon herum! – Klaus Riegert und bei den Katastrophen- und Hilfsdiensten unsere Ge-
[CDU/CSU]: Drei Minuten sind schon vor- sellschaft mit ihrem freiwilligen Einsatz unterstützen.
bei!)
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus
– Nein, nein; ich bin gleich fertig. – Wir selbst haben uns Riegert [CDU/CSU])
im Unterausschuss ausgiebig damit beschäftigt.
Durch den Abbau von Barrieren und die Schaffung
Es gibt die Tendenz, dass für Tätigkeitsfelder in be- von Freiräumen auf kommunaler Ebene steigern wir die
stimmten sozialen Bereichen Stellen ausgeschrieben Möglichkeit des Einzelnen, einen Beitrag zum bürger-
werden, nämlich 400-Euro-Jobs zuzüglich der Übungs- schaftlichen Engagement zu leisten. Im Hinblick auf den
12346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Heinz Golombeck
(A) eingangs erwähnten demografischen Wandel und die al- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
ternde Gesellschaft stehen wir vor neuen generations- Das Wort hat nun Harald Koch für die Fraktion Die
übergreifenden Herausforderungen. Linke.
Unser Ziel ist es, das aktive Altern und die Würde (Beifall bei der LINKEN)
dieser Menschen zu berücksichtigen. Mit dem Pro-
gramm der Bundesregierung „Alter neu denken – Alters- Harald Koch (DIE LINKE):
bilder“ stößt die Bundesregierung eine breite Debatte zu Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
den Altersbildern in unserer Gesellschaft an. Langfristig gen! Werte Gäste! Wie der Präsident vorhin richtiger-
sollen dadurch Kompetenzen und Stärken älterer Men- weise festgestellt hat, befassen wir uns heute nicht mit
schen in den Vordergrund gerückt werden und Rahmen- der Anfrage, sondern mit den Antworten der Bundes-
bedingungen für ein lebenszugewandtes Altern geschaf- regierung auf die darin gestellten Fragen. Die Anfrage
fen werden. selbst hat von der Fragenseite her das Spektrum der
Mit bestehenden Infrastruktureinrichtungen wie Se- Engagementpolitik weiträumig abgedeckt. Liest man
niorenbüros insbesondere im ländlichen Raum ermögli- sich dagegen die Antworten der Bundesregierung auf die
chen wir den vielen älteren Menschen, die sich engagie- 70 Fragen durch, stellt man fest, dass teilweise sehr aus-
ren möchten, ihre Kompetenzen einzubringen. Räume zu führliche, mit Beispielen unterfütterte Antworten gege-
schaffen, in denen sich Alt und Jung gemeinsam bürger- ben werden. Man stellt aber zugleich kopfschüttelnd
schaftlich engagieren, ist ein ganz wichtiger Baustein fest, dass fast alles sehr oberflächlich und letztendlich
zur Sicherung von Teilhabe, von Zugehörigkeit und von unkonkret bleibt.
Integration. Ich muss schon sagen: Einen nachhaltigen Plan, eine
Neben der Integration von Menschen mit Behinde- konsistente Strategie zur Stärkung und Förderung des
rungen zielt die nationale Engagementstrategie auf einen bürgerschaftlichen Engagements haben Sie offensicht-
erhöhten Handlungsbedarf bei der Integration von Mi- lich nicht.
grantinnen und Migranten. 18,4 Prozent der Bevölke- (Ute Kumpf [SPD]: Genau!)
rung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.
Um eine gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderinnen Sie verfahren nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr
und Zuwanderer zu ermöglichen und ein soziales Zu- weiterwissen, wird uns schon ein Freiwilligendienst ret-
sammenleben zwischen ihnen und Einheimischen zu ten. – Ein gutes Beispiel dafür ist die Antwort auf
stärken, fördert die Bundesregierung mit dem bundes- Frage 30. Es geht um die Chancen der Teilhabe von Ge-
weiten Integrationsprogramm verschiedene Projekte zur ringverdienenden und von Menschen mit einfachen Bil-
(B) sozialen und gesellschaftlichen Eingliederung. dungsabschlüssen am Engagement. Sie verweisen in Ih- (D)
rer Antwort herrlich unkonkret „auf die allgemeinen
Aus Sicht der FDP müssen die Betroffenen jedoch Maßnahmen der Regierungspolitik“ sowie auf verschie-
auch selbst bereit sein, sich den Herausforderungen der dene Freiwilligendienste.
Integration zu stellen,
Bürgerschaftliches Engagement ist mehr als Freiwilli-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gendienst. Befreien Sie sich endlich von dieser einseiti-
und diese aktiv zu unterstützen; denn Selbsthilfe als eine gen Blickverengung.
der bedeutendsten Engagementformen schafft Hilfe für (Beifall bei der LINKEN – Florian Bernschneider
sich selbst und andere. [FDP]: Das tut doch keiner!)
Unser Ziel ist es, das bürgerschaftliche Engagement Sie wollen Geringverdienende ja gar nicht aus ihrer pre-
stärker öffentlich anzuerkennen; denn Anerkennung ist kären Situation herausbringen.
ein ganz besonders wichtiger Ansatz in der Engagement-
politik und stärkt zudem die Integration. 2010 wurde von Die Linke fordert hingegen die Einführung eines flä-
der Bundesregierung erstmals eine Integrationsmedaille chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns,
für Personen mit Migrationshintergrund verliehen, die (Florian Bernschneider [FDP]: Tataa, tataa,
einen vorbildhaften Beitrag für ein gutes Miteinander tataa!)
geleistet haben.
der in der laufenden Wahlperiode auf 10 Euro pro
Mit einer nachhaltigen Engagementpolitik schaffen
Stunde erhöht wird und Jahr für Jahr in dem Maße
wir es, Brücken zu bauen – Brücken zwischen den Gene-
wächst, wie die Lebenshaltungskosten steigen.
rationen und Kulturen, in der Integrationsarbeit und
europaweit. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Ich habe mich
schon gefragt, wann das kommt! – Manfred
Mich freut es besonders, dass das Jahr 2011 zum
Grund [CDU/CSU]: 20, 30, 50 Euro!)
Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit erklärt
wurde. Wir wollen dieses Jahr 2011 nutzen, um die Rah- – Ich hoffe, man hört Ihre Zwischenrufe.
menbedingungen für das ehrenamtliche Engagement
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Man liest Ihren
weiter auszubauen und neue Ideen zu schaffen.
Blödsinn!)
Vielen Dank.
Damit verbunden wollen wir eine deutliche Anhe-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bung des Eckregelsatzes für Hartz-IV-Beziehende auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12347
Harald Koch
(A) 500 Euro sowie des Kinderregelsatzes. Mittelfristig Der Linken ist insgesamt wichtig, dass bürgerschaftli- (C)
brauchen wir eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie ches Engagement nicht reguläre Arbeits- und Ausbil-
Mindestsicherung. dungsplätze verdrängt und dass es nicht Bund, Länder
und Kommunen Stück für Stück von der Erfüllung ge-
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund sellschaftlicher Aufgaben befreit. Um aber Aufgaben der
[CDU/CSU]: Sozialismus für alle!) öffentlichen Daseinsvorsorge erfüllen zu können, müs-
Was die sogenannten bildungsfernen Schichten – ein sen Länder und Kommunen dazu auch finanziell in die
schrecklicher Begriff für mich – anbelangt, treten wir für Lage versetzt werden. Die Linke hat diesbezüglich zahl-
eine gebührenfreie und gute Bildung für alle Kinder und reiche Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Bei-
Jugendlichen ein, unabhängig vom Geldbeutel und vom spielsweise fordern wir, dass die Gewerbesteuer zur
Bildungsstand der Eltern. Dies fängt an mit gebühren- Gemeindewirtschaftsteuer unter Einbeziehung aller un-
freier, ganztägiger und hochwertiger Kinderbetreuung. ternehmerisch Tätigen weiterentwickelt und eine Vermö-
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, auf gensteuer als Millionärsteuer eingeführt wird.
diese Weise könnten Sie tatsächlich schon frühzeitig die Aber nicht nur die Rahmenbedingungen des bürger-
aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit schaftlichen Engagements auch außerhalb der Freiwilli-
das bürgerschaftliche Engagement stärken. Fangen Sie gendienste müssen gestärkt werden, sondern ebenso das
endlich damit an! Denn Ehrenamt darf keine Frage des Wechselspiel des Engagements mit Familie und Beruf.
Geldbeutels, der Ausbildung oder der Herkunft sein. Hier steht die Bundesregierung völlig blank da. Gesetzli-
In der Antwort auf Frage 55 schreiben Sie, dass sich che Initiativen zur Vereinbarkeit von regelmäßigem
Erwerbslose seltener bürgerschaftlich engagieren. Laut Engagement mit Familie, Schule, Ausbildung und Beruf
Freiwilligensurvey 2004 sind 27 Prozent aller Erwerbs- sowie Maßnahmen für eine engagementfreundliche Zeit-
losen engagiert. Ich finde, das ist schon eine beachtliche politik, zum Beispiel bezogen auf die Arbeitszeiten,
Quote. Aber ist Ihnen das Engagement dieser Menschen plant die Bundesregierung nicht, wie die Antwort auf
überhaupt willkommen? Ich glaube nicht, wenn man be- Frage 16 zeigt. Das ist ein Armutszeugnis.
denkt, dass künftig – das sollte man sich einmal auf der (Beifall bei der LINKEN)
Zunge zergehen lassen – Ehrenamtsentschädigungen wie
Erwerbseinkommen behandelt und somit auf die monat- Sie betonen immer voller Freude, dass Engagement-
liche Regelleistung angerechnet werden sollen. bereitschaft und Kompetenzbewusstsein der Bürgerin-
nen und Bürger gewachsen sind. Dann verkünden Sie
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui! – Klaus das doch nicht nur scheinheilig, sondern tragen dem
Riegert [CDU/CSU]: Das ist doch von uns gar auch politisch Rechnung, indem Sie eine politische Kul-
(B) nicht gemeint! Das stimmt einfach so nicht!) tur der Beteiligung fördern! Denn die Menschen wollen (D)
sich nicht nur im Kleinen engagieren, sondern ebenfalls
Indem Sie möglichst viele Menschen in die Freiwilli-
in der großen Politik und in ihrem Lebensumfeld mitbe-
gendienste drücken wollen, verlieren Sie zudem aus den
stimmen. Und sie sind auch fähig dazu. Führen Sie end-
Augen, dass sich viele zum Beispiel in Erwerbslosenini-
lich Volksentscheide auf Bundesebene ein!
tiativen engagieren. Sie müssen daher die Rahmenbedin-
gungen für bürgerschaftliches Engagement auch außer- Danke schön.
halb der Freiwilligendienste stärken.
(Beifall bei der LINKEN)
Hier war schon oft von Anerkennung die Rede. Die
Anerkennungskultur muss unter anderem durch regel- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
mäßige Berichterstattung in allen Medien, insbesondere Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sowie Bündnis 90/Die Grünen.
durch stärkere Nutzung des Internets für Information
und aktive Beteiligung gestärkt werden.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Florian Bernschneider [FDP]: Sie wollen dem Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Staatssekretär
öffentlichen Rundfunk vorschreiben, was er zu Kues! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
senden hat! Unglaublich!) „bürgerschaftliches Engagement“ ist natürlich viel um-
fassender, Herr Koch; es lässt sich nicht auf die Funktion
Bürgerschaftliches Engagement muss als wichtige
als Ausfallbürge für staatliche soziale Verantwortung re-
Qualifikation gerade bei Einstellungen im öffentlichen
duzieren.
Sektor berücksichtigt werden. Flächendeckende Kompe-
tenznachweise sind deshalb nötig. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hat er doch
gerade gesagt!)
Das Antrags- und Abrechnungsverfahren für öffentli-
che Zuwendungen muss einfacher, verständlicher sowie Sehr viele Menschen engagieren sich – das sage ich als
transparenter sein. Weiterbildung von Engagierten hat eine, die aufgrund einer solchen Tätigkeit überhaupt erst
als Bildungsurlaub zu zählen. Und es müssen kostenfreie zu einer Partei gekommen ist – deshalb bürgerschaftlich,
Qualifikations- und Fortbildungskurse angeboten wer- weil sie, ob allein oder gemeinsam mit anderen, irgend-
den. Ein weiteres Stichwort möchte ich noch nennen, etwas in ihrem Lebensumfeld verbessern oder verändern
nämlich Versicherungsschutz während der Ausübung wollen. Sie wollen möglicherweise nichts direkt mit eta-
des Ehrenamts. blierten Strukturen zu tun haben. Es gibt sogar viele Ini-
12348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Britta Haßelmann
(A) tiativen, die bewusst auf Staatsgeld verzichten, weil sie der Sie noch die Ministerin erklären; die Ministerin kann (C)
nicht staatsnah sein wollen, weil sie kreativ, lebendig auf diesem Feld ohnehin nur sehr wenig erklären.
und engagiert in ihrem persönlichen Lebensumfeld wir-
ken wollen. Deshalb ist es viel zu kurz gegriffen, wenn (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das war jetzt
Sie in dem bestehenden Diskurs sagen, dass alles ganz aber unterste Schublade!)
furchtbar sei, weil der Staat sich aus der sozialen Verant- – Nein, das ist so, Frau Fischbach. Ich begleite das
wortung zurückziehe. Thema seit fünf Jahren, und ich sage Ihnen: Die jetzige
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ministerin entwickelt bei diesem Thema keine Leiden-
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- schaft, und das ist auch der Grund, weshalb wir so wenig
geordneten der SPD) darüber reden.
Sie haben dabei die vielen Menschen nicht im Blick, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sich engagieren wollen, die etwas unternehmen wollen, und bei der SPD)
unabhängig davon, ob es dafür eine Schublade oder ei- Ein weiteres Thema: der Bundesfreiwilligendienst.
nen Kasten gibt. Diese Menschen mit in den Blick zu Der Bundesfreiwilligendienst muss jetzt für die Behaup-
nehmen, ist aber ganz wichtig, wenn man über bürger- tung herhalten, dass etwas ganz Besonderes passiert.
schaftliches Engagement in der Breite spricht. Herr Grübel, es gibt aber ganz viele Baustellen, an denen
Natürlich ist die Sorge nicht ganz unbegründet, dass, Sie nichts geregelt haben: Wir haben verschiedene Frei-
wenn der Staat sich in sozialen Kernfragen aus der Ver- willigendienste, die alle unterschiedlich wirken. Wir ha-
antwortung zieht, bürgerschaftliches Engagement als Er- ben immer noch kein Freiwilligenstatusgesetz; es ist
satz für staatliche Leistung herhalten muss. Aber das ist auch unklar, wann es kommen soll.
nur ein Teil des Diskurses. Den anderen Teil blenden Sie Wir haben keine Anschlussregelung – ich finde es
aus. Das reduziert die Debatte so weit, dass sie der Sache wirklich nicht in Ordnung, dass Sie in der Öffentlichkeit
und dem Engagement der vielen Menschen nicht gerecht immer wieder das Gegenteil vermitteln – für das Bun-
wird. desprogramm „Freiwilligendienste aller Generationen“.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir bemühen uns seit Jahren um dieses Programm, und
bei der CDU/CSU und der FDP) zwar parteiübergreifend. Die fehlende Anschlussrege-
lung muss man kritisch ansprechen. Wir hatten da nie ei-
Ein zweiter Punkt. Ich finde, dass die Debatte über nen Dissens. Wir haben immer gesagt: Das ist ein inte-
das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ – auch ressantes Angebot, weil es einen anderen Blick auf das
wenn Sie, Herr Grübel, sich bemüht haben, deutlich zu Thema der älter werdenden Gesellschaft eröffnet, weil es
(B) machen, dass die Regierung hier wirklich etwas vorhat – dem Wunsch Älterer gerecht wird, sich einzubringen, (D)
vonseiten der jetzigen Bundesregierung unglaublich lei- weil es eine Antwort auf die Frage des Miteinanders der
denschaftslos begleitet wird, insbesondere vonseiten der Generationen bietet. Jetzt sagen Sie ein bisschen ver-
Ministerin und ihres Ministeriums. schwiemelt: Wir haben ja demnächst den Bundesfreiwil-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) ligendienst, der für alle Generationen offen ist. – Das ist
aber etwas ganz anderes und deckt sich überhaupt nicht
Wo sind denn die flammenden Plädoyers für bürger- mit dem Programm „Freiwilligendienste aller Generatio-
schaftliches Engagement? Wo ist die Leidenschaft in Be- nen“, das sehr gut nachgefragt wird und viel Zuspruch
zug darauf, gemeinsam mit den Ländern, Städten und hat; das sagt nur kein Mensch.
Gemeinden darüber zu diskutieren, wie wir in dieser
Frage weiter vorankommen? Wo ist der aktuelle Bezug? Wir haben keine Anschlussregelung für die Freiwilli-
Wir haben doch genügend Gelegenheiten – massive Zu- gendienste aller Generationen. Herr Kues, wo bleibt
stimmung zu und Beteiligung an Volksentscheiden, an denn die Anschlussregelung? Soll das alles jetzt wirklich
Volksabstimmungen, die Vorgänge um Stuttgart 21, die durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden? Das
Auswahl von Begriffen wie „Wutbürger“ –, darüber zu wäre etwas substanziell völlig anderes: Beim Bundes-
diskutieren, was in dieser Gesellschaft eigentlich los ist. freiwilligendienst könnten sich ältere Menschen am
Warum wenden sich Menschen von der etablierten Poli- Ende ihres Berufslebens nicht einfach vier oder fünf
tik ab? Warum fordern sie andere Formen der Einmi- Stunden in der Woche engagieren; wir reden hier von ei-
schung ein? Wir haben wirklich viele aktuelle Anlässe, nem Dienst. Der große Unterschied liegt darin – das wis-
um vertieft darüber zu diskutieren. sen Sie –, dass man sich beim Bundesfreiwilligendienst
zu mindestens 20 Stunden Engagement, wenn nicht so-
(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ gar noch mehr, verpflichten muss. Das ist doch etwas
DIE GRÜNEN]) ganz anderes; das geht an den Bedürfnissen vieler älterer
Was ist Ihre Antwort darauf? Die nationale Engage- Menschen, die sich engagieren wollen, völlig vorbei.
mentstrategie! Sie haben sieben Punkte auf wie vielen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Seiten auch immer aufgeschrieben, die eigentlich nichts und bei der SPD – Florian Bernschneider
Neues beinhalten, sondern seit Jahren, ob von der Gro- [FDP]: Es gibt doch andere Varianten!)
ßen Koalition oder in anderen Konstellationen, in ir-
gendeiner Art und Weise durchgeführt wurden oder wer- Dies besagt auch der Freiwilligensurvey. Es gibt viele äl-
den und weitergeführt werden. Was ist das Besondere an tere Menschen, die sich engagieren wollen, aber nicht
dieser nationalen Engagementstrategie? Das können we- sozusagen in einem Halbtagsjob oder mit 25 Wochen-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12349
Britta Haßelmann
(A) stunden und mehr, sondern für vier oder fünf Stunden in dann komme ich zu dem Schluss: Wir sollten nicht im- (C)
der Woche. mer nur meckern, sondern auch einmal sagen, dass da
gute Arbeit geleistet wird.
Ich konnte in der kurzen Zeit nur zwei Beispiele nen-
nen. Sie machen aber deutlich: Sie produzieren hier zwar (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
viele Hochglanzbroschüren und viele warme Worte nach neten der FDP)
außen, aber bewegen bei diesem Thema im Moment sehr
wenig Substanzielles und diskutieren darüber auch sehr Die einen vermissen die Strategie und die anderen die
wenig. Wir führen nicht zusammen und fragen nicht, Leidenschaft. Sie wissen, dass unser früherer Stuttgarter
was in den einzelnen Ressorts gemacht wird. Welche tol- Oberbürgermeister Rommel einmal gesagt hat: Demo-
len Ideen oder Projekte zum bürgerschaftlichen Engage- kratie ist nicht da, um Begeisterung zu organisieren. –
ment werden denn im Außenministerium, im Gesund- Ich glaube, dass das Ministerium das weite Feld in den
heitsministerium oder im Innenministerium verfolgt? Blick nimmt. Man hat gemerkt, dass wir sehr stark ins
Das Familienministerium könnte sich doch einmal da- Klein-Klein gekommen sind.
rum kümmern. Sie sind erst jetzt, im April, auf die Idee Es handelt sich um ein Konsensthema, Frau Kumpf,
gekommen, eine Arbeitsgruppe dazu einzurichten, um das sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen
zusammenzuführen, was in den unterschiedlichen Fel- eignet. 1995 haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-
dern passiert. Ich glaube, damit werden wir dem aktuel- tion eine Arbeitsgruppe eingerichtet und über 60 Orga-
len gesellschaftlichen Bedürfnis der Menschen, sich nisationen und Verbände angehört. Dann haben wir eine
einzubringen, sich zu engagieren und fördernde, unter- Große Anfrage an unsere eigene Regierung gerichtet,
stützende Strukturen zu nutzen, nicht gerecht. gegen Widerstände aus der Regierung; denn man hat es
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht so gern, wenn die eigene Regierungskoalition eine
SES 90/DIE GRÜNEN) Große Anfrage einbringt. Am 5. Dezember 1997 führten
wir das erste Mal nach dem Krieg eine Debatte über bür-
gerschaftliches Engagement und Ehrenamt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Daraus ist eine Enquete-Kommission erwachsen. Ich
habe mir die Unterlagen noch einmal herausgesucht. Es
lohnt sich, sie zu lesen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deshalb muss man Sie an dieser Stelle kritisieren und (Ute Kumpf [SPD]: Ich kenne das!)
Sie ermuntern, aktiver zu werden und sich nicht nur auf
Der Bericht ist ein dicker Wälzer, der schöne Sondervo-
die Schulter zu klopfen.
(B) ten enthält, von denen man das eine oder andere durch- (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus zitieren kann, beispielsweise zur direkten Demokra-
und bei der SPD) tie. Er enthält eine wunderbare Passage:
Die direktdemokratischen Elemente haben in den
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kommunen mit zu einer „neuen Gewaltenteilung“
Das Wort hat nun Klaus Riegert für die CDU/CSU- beigetragen und sie haben damit dem Partizipa-
Fraktion. tionsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger Rech-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nung getragen.
(Zuruf des Abg. Harald Koch [DIE LINKE])
Klaus Riegert (CDU/CSU): – Auf kommunaler Ebene. – Jetzt raten Sie mal, welcher
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde Sachverständige ein Sondervotum abgegeben hat! Das
es schön, dass sich die SPD der Fleißaufgabe gestellt hat, war Ihr Sachverständiger, nämlich Professor Dr. Roland
sich 70 Fragen zum bürgerschaftlichen Engagement aus- Roth. Er hat in einem Sondervotum ausführt:
zudenken.
Diese Einschätzung überzeichnet die Möglichkei-
(Ute Kumpf [SPD]: Wir haben sie erarbeitet!) ten von Referenda in der politischen Kultur der
Ich finde aber auch, dass wir die Ministerien dafür loben Bundesrepublik Deutschland.
sollten, dass sie mit dem gleichen Engagement auf fast Ihr eigener Sachverständiger hat so Stellung bezogen.
50 Seiten Antworten gegeben haben.
(Ute Kumpf [SPD]: Stimmt doch! Sie kennen
(Caren Marks [SPD]: Hinter den Fragen steckt doch die Quoren und die Hürden!)
was! Die Antworten füllen nur Papier!)
Dann haben wir richtigerweise einen Unterausschuss
Ich richte mich damit an die Zuschauerränge, denn hier gegründet.
wurde versucht, den Eindruck zu vermitteln, die Ant-
worten seien dürftig. Das sind fast 50 Seiten Antworten Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Oppo-
auf 70 Fragen aus vielen Bereichen. Ich denke, damit ha- sition und uns. Sie fordern auf der einen Seite immer:
ben sich die Ministerien Anerkennung verdient. Gesetze, Gesetze, Gesetze. Wann bringt ihr dieses Ge-
setz oder jene Verordnung?
Wenn ich daran denke, wie das Bundesverkehrsminis-
terium für den Feuerwehrführerschein gekämpft hat, (Ute Kumpf [SPD]: Nein!)
12350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Klaus Riegert
(A) Auf der anderen Seite beklagen Sie Bürokratie. So funk- Zweitens. Neue Kooperationen. Zu nennen ist die Zu- (C)
tioniert das natürlich nicht. sammenarbeit – Markus Grübler hat es angeführt – mit
dem Bundesverband Deutscher Stiftungen und mit Un-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ternehmen. In diesem Bereich sind Förderprogramme
der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Wir brauchen
geplant, etwa zum sozialen Unternehmertum, und Wir-
doch Gesetze, um Bürokratie abzubauen! Das
kungsmessungen.
wissen Sie doch auch, Kollege Riegert!)
Drittens. Dialogforen. Im nationalen Forum, das seit
Wir sind für einen freiheitlichen Ansatz und die Über-
dem 1. März der Deutsche Verein betreibt, gibt es zwei
nahme von Verantwortung. Wir sind gemeinsam der
Foren zu Engagement und Integration. Im Herbst wird es
Meinung, dass wir eine Anerkennungskultur entwickeln
müssen. Der Bürger muss in der Tat im Mittelpunkt ste- drei Foren zu Engagement und Bildung geben. Ziel ist
hen. es, die Rahmenbedingungen zu verbessern.
(Caren Marks [SPD]: Ja!) Viertens. Anerkennungskultur. Zu nennen ist die Ver-
gabe des Deutschen Engagementpreises. Ich glaube, die
Aber neben den Rahmenbedingungen auf Bundes- 23 Millionen Engagierten in Deutschland haben es ver-
ebene sind auch wichtig die Länder und Kommunen, dient, dass wir ihnen unter dem Motto „für mich. für uns.
Verbände, Vereine und Stiftungen, die Arbeitswelt, der für alle“, das wir gemeinsam mit der Sparkasse und den
Bereich „Erziehung und Bildung“ und die Medien. Des- kommunalen Spitzenverbänden tragen, unseren Dank
halb glaube ich, dass wir den Kreis der Adressaten viel und unsere Anerkennung zeigen, aber auch unsere wei-
weiter fassen müssen, statt immer nur zu rufen: Was tere Unterstützung zusagen.
macht das Ministerium? Wo bleibt die Leidenschaft der
Ministerin? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Mechthild Rawert [SPD]: Aber die Frage ist
doch spannend!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Sönke Rix für die SPD-Fraktion.
Schauen Sie sich die aktuellen Programme und Initia-
tiven an! Es gibt den Bundesfreiwilligendienst, die „Ak- (Beifall bei der SPD)
tion zusammen wachsen“, FSJ, FÖJ, „weltwärts“, die
Civil Academy; übrigens vom BBE gemeinsam mit der Sönke Rix (SPD):
BP AG initiiert. Sie haben den Vorwurf in den Raum ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stellt, man wolle die Netzwerke abwürgen. setzen uns heute aufgrund der Antworten auf die An-
(Ute Kumpf [SPD]: Das tun Sie doch! Die frage der SPD-Fraktion zur Engagementstrategie zu ei-
(B) Mittel werden doch gekürzt! Das wissen Sie ner, wie ich finde, durchaus guten Zeit mit dem Thema (D)
doch, Herr Riegert!) „bürgerschaftliches Engagement“ auseinander. Das ge-
schieht nicht irgendwie am Rande, am Donnerstagabend
Ich kann Ihnen Ihr eigenes Votum vorlesen. Sie haben zum Beispiel, oder zu irgendeiner anderen Zeit, sondern
selber beschlossen: jetzt am Donnerstagnachmittag, vielleicht mit ein wenig
Die Selbstorganisation der Bürgergesellschaft trägt mehr Öffentlichkeit. Das ist schon wieder ein Fortschritt,
dem Bedürfnis nach einer nationalen Interessen- den wir gemeinsam erzielt haben.
vertretung bürgerschaftlichen Engagements ebenso Was bedeutet eine solche Engagementstrategie? Ei-
Rechnung wie dem Anliegen einer Vernetzung der gentlich soll das eine Politik aus einem Guss sein. Für uns
Sektoren. Sie kann nicht vom Staat initiiert werden, Sozialdemokraten ist der Bereich des bürgerschaftlichen
sondern muss sich aus bestehenden Strukturen der
Engagements ein eigenständiges Politikfeld. Wir brau-
Bürgergesellschaft heraus bilden und sich selbst
chen dazu ein abgestimmtes Konzept. Das scheint es in
ihre Form geben.
der derzeitigen Strategie nicht zu geben. Die 50 Seiten
Das kann doch nicht heißen, dass wir als Bund acht umfassenden Antworten – um da ein wenig von dem Lob
Jahre lang diese Veranstaltung finanzieren und 240 Mit- zurückzunehmen – sind Bestandteil dessen, was in der
glieder – beispielsweise die Deutsche Bank – keine Engagementstrategie schon aufgeführt worden ist. Damit
Drittmittel einbringen, um das Vorhaben entsprechend sind nicht automatisch die guten Fragen beantwortet, die
zu unterstützen. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, wir gestellt haben.
dass das BBE Drittmittel einwirbt und auch selbst für
Mittel sorgt. Die Strategie, die vonseiten der Bundesregierung vor-
gelegt wurde, ist nur eine Zusammenstellung von bereits
Weil sie nicht hängen geblieben sind, darf ich Ihnen laufenden Projekten und Initiativen. Das wiederum ist
die vier strategischen Ziele der nationalen Engagement- nicht wirklich Politik aus einem Guss.
strategie noch einmal kurz nahebringen.
(Beifall bei der SPD)
Erstens. Der Ressortkreis. Frau Haßelmann, in den
sieben Jahren, in denen Sie mitregiert haben, gab es kei- Was bedeutet eine Engagementstrategie noch? Es
nen Koordinationskreis. Jetzt sitzt man in den Ministe- wäre gut, wenn es hier zu besonderen Initiativen kom-
rien zum Thema Engagementpolitik zusammen und hat men würde, um im Bereich des bürgerschaftlichen Enga-
zum ersten Mal konkrete Themen vereinbart. Man wird gements fortschrittlich zu sein. Wo aber sind diese Initia-
auch die Arbeit in der Bund-Länder-Gruppe intensivie- tiven? Neben dem Sammeln der weiteren Projekte fehlt
ren. es an Initiative; es fehlt eine Neuerung im Bereich des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12351
Sönke Rix
(A) bürgerschaftlichen Engagements. Zu Zeiten der Großen und keine Anschlusslösung. Ihre Antwort lautet: Wir ha- (C)
Koalition hat Peer Steinbrück als Finanzminister immer- ben ja den Bundesfreiwilligendienst. – Dazu kann ich nur
hin die „Hilfen für Helfer“ auf den Weg gebracht. Wir sagen: Das ist viel zu kurz gesprungen.
waren in dem Bereich innovativ und haben gesagt: Die
Ehrenamtler, die dort aktiv sind, wollen wir mit unseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Möglichkeiten und auch mit Gesetzen – Gesetze bedeu- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch
ten nämlich nicht immer gleich automatisch neue Büro- [DIE LINKE])
kratie, Sie weisen darauf hin, was die Mehrgenerationenhäu-
(Caren Marks [SPD]: Verlässlichkeit!) ser jetzt alles leisten sollen. Sie sollen quasi die Freiwil-
ligenagenturen ersetzen, die Freiwilligendienste aller
sondern können durchaus auch eine Entlastung sein, lie- Generationen beherbergen usw. Die Frage, wie es mit
ber Herr Riegert – unterstützen. den Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll, haben
(Beifall bei der SPD) Sie aber noch nicht beantwortet.
Wir waren initiativ. Wo aber sind die Erneuerungen (Florian Bernschneider [FDP]: Das stimmt
und Initiativen der schwarz-gelben Bundesregierung? doch nicht!)
Fehlanzeige an dieser Stelle! Sie sagen – das ist schon Wir können aber nicht mit unfertigen Konzepten andere
mehrfach erwähnt worden –: Der große Wurf zum bür- unfertige Konzepte ergänzen.
gerschaftlichen Engagement ist der Bundesfreiwilligen-
dienst. Da gerade das Thema „direkte Demokratie“ ange-
sprochen worden ist und von abweichenden Voten im
(Florian Bernschneider [FDP]: Das ist doch
Zusammenhang mit dem Kommissionsbericht die Rede
auch was!)
war, sage ich: Natürlich ist es fortschrittlich, wie die
Zitat aus mehreren Reden: Das ist unsere Leistung; das Kommunen mit der Bürgerbeteiligung umgehen. Aber
ist das Größte, was in den vergangenen Jahren auf dem es gibt dabei auch Schwierigkeiten. Es ist sehr schwer,
Gebiet der Engagementpolitik erreicht worden ist. Mehrheiten zu organisieren. Im Raum stand nicht die
Aussage, dass das schlecht ist, sondern im Raum stand
Ich will Ihnen die Widersprüche dazu aufzählen. Sie die Forderung nach einer Ausweitung auf die Bundes-
waren es, Herr Grübel, der eben gesagt hat, bürger- ebene. Wir sind für die Bundesebene zuständig. Hierzu
schaftliches Engagement dürfe nicht verstaatlicht wer- ist von schwarz-gelber Seite aber leider nichts zu hören.
den.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)
(B) Koch [DIE LINKE]) (D)
Sie haben, ebenso wie Herr Riegert, deutlich gemacht:
Wir wollen keine Verstaatlichung des bürgerschaftlichen In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stärken Sie die
Engagements. Infrastruktur für das bürgerschaftliche Engagement!
Lassen Sie da nicht nach! Denn die Kosten, die durch ei-
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!) nen Wegfall des bürgerschaftlichen Engagements entste-
Wieso aber dann ein staatlich organisierter Freiwilligen- hen würden, würden den Bundeshaushalt an anderer
dienst, zentral organisiert vom Bundesamt für Zivil- Stelle deutlich stärker belasten.
dienst oder demnächst Bundesamt für zivile Fragen oder Herzlichen Dank.
wie auch immer Sie es nennen wollen? Das ist keine Er-
neuerung und auch nicht wirklich eine Entstaatlichung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
von bürgerschaftlichem Engagement. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Koch
[DIE LINKE])
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
Abg. Harald Koch [DIE LINKE]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Florian Bernschneider für die FDP-
Sie haben eine große Chance vertan. Der Wegfall des Fraktion.
Zivildienstes und die Neuorganisation der Dienste boten
die Chance, einen Teil des Dienstes in anderer Form wei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
terzuführen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass der CDU/CSU)
FSJ und FÖJ weiter ausgebaut worden wären. Sie hätten
aber auch eine Antwort auf die Frage geben müssen, wie Florian Bernschneider (FDP):
man bürgerschaftliches Engagement in struktureller Hin- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
sicht besser unterstützen kann. Sie hingegen stellen die ren! Natürlich sind die Freiwilligendienste eine Form
Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements bei je- bürgerschaftlichen Engagements. Deswegen spricht gar
der Haushaltsberatung erneut infrage. Dabei geht es nicht nichts dagegen, auch an dieser Stelle über die Freiwilli-
nur um das Bundesnetzwerk, sondern auch um die Frei- gendienste zu reden. Ich glaube, es spricht auch nichts
willigenagentur, die Mehrgenerationenhäuser und die dagegen, das bisher Erreichte herauszustellen:
Freiwilligendienste aller Generationen, die schon ange-
sprochen worden sind. Immer sagen Sie: Schluss mit die- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
sen Projekten! Sie finden keine Anschlussfinanzierung CDU/CSU)
12352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Florian Bernschneider
(A) Mit dem Freiwilligendienstkonzept der Koalition erhal- gesichts des demografischen Wandels eine wichtige Bot- (C)
ten so viele Menschen wie nie zuvor die Gelegenheit, schaft.
noch in diesem Jahr einen Freiwilligendienst anzutreten.
Deswegen sage ich Ihnen, bei aller Anerkennung der so- Natürlich sind die Freiwilligendienste aller Genera-
zialdemokratischen Erfolge für die Freiwilligendienste, tionen unheimlich wichtig, um zu lernen, wie es funktio-
ganz selbstbewusst: Selbst wenn das Freiwilligendienst- niert. Sie waren in der Vergangenheit erfolgreich. Daher
konzept das Einzige wäre, was die Koalition geschafft wäre es fahrlässig, wenn wir die Erfahrungen aus den
hätte, wäre das in anderthalb Jahren mehr als das, was Freiwilligendiensten aller Generationen jetzt nicht nut-
die SPD in elf Jahren Regierungsbeteiligung in diesem zen. Es wäre aber auch fahrlässig – es wird ja immer
Bereich erreicht hat. wieder von Verstetigung geredet –, die Chance zu ver-
passen, die Freiwilligendienste aller Generationen, auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wenn sie nur ein Modellprojekt sind, jetzt im Bundes-
freiwilligendienst aufgehen zu lassen.
Sie können sich darauf verlassen. Wir werden es nicht
dabei belassen. Sie sprechen zu Recht einige Fragen an, Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt eingehen;
um die wir uns bei den Freiwilligendiensten noch küm- dieser betrifft die jungen Menschen. Auch Sie hinterfra-
mern müssen. Manchmal frage ich mich aber auch, wa- gen den Zusammenhang zwischen verkürzten Lernzeiten
rum Sie sich diese Fragen nicht gestellt haben, als Sie in und der Möglichkeit von bürgerschaftlichem Engage-
Regierungsverantwortung standen. ment. Natürlich bleibt einiges zu tun, um zu gewährleis-
Sie fordern zum Beispiel immer wieder vehement, ten, dass die Jugendlichen auch bei verkürzten Abitur-
dass ein Freiwilligendienststatusgesetz vorgelegt wird. zeiten die Gelegenheit haben, sich weiterhin sozial,
Gestatten Sie mir aber diese Kritik: Wenn Sie sich auf bürgerschaftlich zu engagieren. Ich sage aber auch, dass
der einen Seite damit rühmen, das FSJ Sport, das FSJ hier der falsche Ort ist, um zum Beispiel über die Ent-
Kultur sowie die Dienste „weltwärts“ und „kulturweit“ rümpelung von Lehrplänen zu sprechen.
eingeführt zu haben, können Sie auf der anderen Seite Wir können hier aber sehr wohl darüber reden – das
nicht uns die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass zeigt die gestrige Sitzung des Familienausschusses –,
Sie es dabei versäumt haben, für einheitliche Rahmenbe- wie wir Schule und bürgerschaftliches Engagement noch
dingungen zu sorgen. näher zusammenführen können. Die Kriegsgräberfür-
Wir nehmen diese Herausforderung an. Wir arbeiten sorge hat uns gestern aufgezeigt, dass 25 000 junge
an einem Freiwilligendienststatusgesetz. Viel wichtiger Menschen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engage-
ist aus meiner Sicht aber, dass wir bei allen bisherigen ments für die Kriegsgräberfürsorge tätig sind. Das funk-
Schritten den Wunsch nach einheitlichen Rahmenbedin- tioniert aber auch nur, weil es einen engen Kontakt zwi-
(B)
gungen beachtet haben. Mit dem gleichen Taschengeld, schen der Kultusministerkonferenz und den Schulen gibt. (D)
den gleichen pädagogischen Rahmenbedingungen und Das ist ein Bereich, in dem wir als Engagementpolitiker
der gleichen Anzahl an Urlaubstagen im FSJ, im FÖJ auf Bundesebene noch einiges tun können. Packen wir
und im Bundesfreiwilligendienst haben wir einen Teil es an!
dazu beigetragen, dass die Rahmenbedingungen gleich Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
sind. Mit 200 Euro Förderung im FSJ und im FÖJ haben
wir nicht nur die Förderung heraufgesetzt, sondern erst- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mals auch eine gleiche Förderung bei FSJ und FÖJ ein-
geführt. Der Kollege Grübel hat die Angleichung beim Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kindergeld angesprochen. Das kann man uns also nicht Das Wort hat nun Norbert Geis für die CDU/CSU-
vorwerfen. Fraktion.
Trotzdem vergessen wir die Vielfalt nicht. Sie führen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
in Ihrer Großen Anfrage aus, dass es darum geht, zu- neten der FDP)
künftig mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu
bürgerschaftlichem Engagement zu bewegen. Sie sagen
auch, dass sich mehr Menschen aus einem sozial be- Norbert Geis (CDU/CSU):
nachteiligten Umfeld bürgerschaftlich engagieren sollen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die durchaus gelungene Große Anfrage der SPD
Genau das tun wir ja: zum einen mit zusätzlich und die sehr gute Antwort der Bundesregierung haben es
50 Euro für sozial Benachteiligte, für diejenigen, die ei- eigentlich nicht verdient, dass wir hier ständig versu-
nen besonderen pädagogischen Förderbedarf haben, und chen, aufeinander einzuschlagen.
zum anderen durch die Schaffung des neuen Einsatzbe-
reichs Integration im Bundesfreiwilligendienst. (Ute Kumpf [SPD]: Machen wir nicht! Wir
diskutieren! – Sönke Rix [SPD]: Wir diskutie-
Die Freiwilligendienste stehen auch vor der Heraus- ren nur!)
forderung des demografischen Wandels; mein Kollege
Golombeck hat es schon angesprochen. Unsere Gesell- Vielleicht kann man über dieses Thema, bei dem Kon-
schaft wird älter, wobei die Älteren aber immer fitter sens besteht, einmal in aller Ruhe einen Gedankenaus-
bleiben. Deswegen ist es richtig, dass wir Personen, die tausch durchführen, statt jede Gelegenheit nutzen zu
älter als 27 sind, die Gelegenheit geben, sich im Bundes- wollen, um der Regierung völlig unhaltbare Vorwürfe zu
freiwilligendienst zu engagieren. Ich glaube, das ist an- machen. Das ist diesem Thema unangemessen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12353
Norbert Geis
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir brauchen die Bürgergesellschaft – ich greife nur (C)
neten der FDP) einen Aspekt heraus – insbesondere im Hinblick auf die
Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und
Sie haben in Ihrer Großen Anfrage eine Definition Mitbürger. Wenn wir unsere Kultur für die nächsten Ge-
von Bürgergesellschaft gegeben, die ich voll und ganz nerationen bewahren wollen, brauchen wir die Integra-
unterschreibe. Die Bürgergesellschaft setzt sich aus vie- tion. Sie alle wissen, dass Integration nicht Assimilation
len Initiativen – aus Bürgerinitiativen, aus Spontaninitia- bedeutet. Integration heißt also nicht, dass unsere auslän-
tiven, aus Nachbarschaftshilfe – zusammen. Wir haben dischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre eigene Her-
von dem Beispiel Kriegsgräberfürsorge gehört. Wir ha- kunft aufgeben sollen. Sie sollen auch ihre eigene Ge-
ben bereits von den Initiativen, die von der Feuerwehr schichte und Kultur nicht vergessen. Integration heißt,
und dem THW gestartet werden, gehört. Es ist wichtig, dass die verschiedenen Gruppierungen in einer Gesell-
dass wir eine Bürgergesellschaft haben, in der viele schaft miteinander leben können. In einer solchen Ge-
Menschen bereit sind, selbstlos einen Dienst für die Ge- sellschaft muss Respekt und Achtung vor der Meinung
meinschaft zu erbringen. Das haben wir in Deutschland, und der Auffassung des anderen herrschen. Das gehört
und darüber dürfen wir uns freuen. zur Grundeigenschaft der Bürgerinnen und Bürger in ei-
ner freien Gesellschaft. Genauso muss sich die Bürger-
Die Bürgergesellschaft, liebe Frau Haßelmann, ist
gesellschaft entwickeln.
nicht eine Institution, in die der Staat allzu sehr eingrei-
fen sollte. Ich glaube auch nicht, dass das Ihre Meinung Wir können es uns nicht leisten, uns abzuschotten.
ist, Man muss auf die Menschen ausländischer Herkunft zu-
gehen. Gerade das wird von den Freiwilligendiensten
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und in den Vereinen geleistet. Denken wir einmal an den
NEN]: Das Gegenteil!) Sportverein: Wenn sich dort Kinder ausländischer Her-
aber in Ihrer Rede wurde der Anschein erweckt, als wür- kunft engagieren und einen Dienst leisten, dann werden
den Sie so denken. Die Bürgergesellschaft bewegt sich sie viel schneller ein Teil der Gesellschaft. Bürgergesell-
vielmehr in einem freien Raum neben dem Staat, neben schaft heißt Teilhabe. Teilhabe geht aber nicht ohne En-
der Wirtschaft und neben der Privatsphäre der Familie. gagement. Engagement und Teilhabe sind die zwei Sei-
Dort handelt und agiert die Bürgergesellschaft. Ohne die ten derselben Medaille.
Bürgergesellschaft wäre der Staat gar nicht in der Lage, Es kommt darauf an – das wurde vorhin schon gesagt –,
alle seine Aufgaben zu erfüllen. Denken wir nur an den dass auch die Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländi-
privaten Bereich, an den Pflegedienst und daran, welche scher Herkunft bereit sind, sich zu engagieren. Dies ge-
Nachbarschaftshilfe gerade bei pflegebedürftigen Nach- schieht aber nicht; das ist Tatsache. Nur etwa 23 Prozent (D)
(B) barn geleistet wird. Das ist Bürgergesellschaft, und diese
der Menschen mit Migrationshintergrund, die bei uns le-
haben wir in Deutschland; das darf man einmal ganz of- ben, engagieren sich in der Bürgergesellschaft. Das ist
fen sagen. zu wenig. Auch der Rest muss sich engagieren. Nur so
kann ein vernünftiges Miteinander entstehen. Das ist die
Ich möchte noch etwas dazu bemerken. Es gibt den
große Aufgabe, die die Bürgergesellschaft zu leisten hat.
berühmten Satz von Böckenförde: Der Staat kann nur
Das ist – neben vielen anderen Aufgaben auch – die
existieren, wenn Voraussetzungen da sind, die er aber
große Aufgabe Integration.
selbst nicht garantieren kann. – Diese Voraussetzungen
wachsen in der Bürgergesellschaft durch den Austausch Sie haben das Thema Integration in Ihrer Großen An-
der Menschen miteinander. Hier werden Wertvorstellun- frage in einer hervorragenden Weise angesprochen. Auch
gen und Verhaltensmuster entwickelt, nach denen die in der Antwort der Bundesregierung ist es zu finden. Ich
Bürger leben und die der Staat braucht, damit er über- sehe die Integration als eine ganz wichtige Aufgabe an.
haupt regieren kann. Ohne die Entwicklung von Verhal- Wenn sie uns nicht gelingt – die Frau Bundeskanzlerin
tensweisen wäre der Staat hilflos, er wäre ohnmächtig. sagt, es sei die Schlüsselaufgabe für unsere Gesellschaft –
Diese Entwicklung haben wir in der Bundesrepublik und wenn wir die Menschen, die bei uns leben, nicht
Deutschland; auch das dürfen wir klar und entschieden zum vernünftigen Miteinander bewegen können, dann
sagen. Eine Eigenschaft der Bürgergesellschaft besteht werden wir, die Deutschen, eines Tages Fremdlinge in
darin, dass sie von Wertvorstellungen geprägt ist, die unserem eigenen Land sein. Wir müssen versuchen, dies
sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Es geht zu vermeiden und die Bürgergesellschaft zu stärken.
also um die eigene Kultur. Es geht darum, dass wir in der
Bürgergesellschaft unsere eigene Kultur fortentwickeln. Ich bedanke mich.
Das geschieht auch im Austausch mit denen, die zu uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gekommen sind, und zwar durch Auseinandersetzung.
Die Geschichte jedes Volkes ist geprägt vom Ringen um
die eigene Kultur. Es geht nicht ohne Auseinanderset- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zungen. Dies kann aber nicht vom Staat geleistet wer- Damit schließe ich die Aussprache.
den. Es kann auch nicht von der Bürokratie kontrolliert Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
werden. Es muss vielmehr in einem freien Raum gesche-
hen, und zwar im freien Raum der Bürgergesellschaft. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Wir müssen versuchen, diesen freien Raum zu bewah- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demon-
ren. stration und Anwendung von Technologien
12354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dirk Becker
(A) gleich am Anfang, dass es sich erst einmal nur um De- (Beifall bei der SPD) (C)
monstrationsprojekte handeln soll. Das gesamte Gesetz
ist aber so angelegt, dass klar zu erkennen ist, dass Sie Was werden die Länder jetzt machen? Das ist ansatz-
hier schon Regelungen treffen, die über Demonstrations- weise schon zu erkennen. Die Länder müssen jetzt eine
projekte hinausgehen. Ich sage Ihnen ganz klar: Dafür Regelung schaffen. Die entsprechenden Entscheidungen
werden Sie die Zustimmung der SPD-Bundestagsfrak- werden je nach wahltaktischen und anderen Überlegun-
tion nicht erhalten. gen unterschiedlich ausfallen. Entscheidend ist aber die
Frage, nach welchen rechtlichen Kriterien entschieden
(Beifall bei der SPD) werden soll. Die Landesregierungen müssen nach einer
Güterabwägung individuell entscheiden. Wir wissen,
Ich will noch ein paar grundsätzliche Punkte anspre-
wie das im Endeffekt ausgeht. Über jeden Antrag und je-
chen, über die wir schon zur Zeit der Großen Koalition
diskutiert haben. Schon damals gab es unterschiedliche des Verfahren wird gerichtlich entschieden werden.
Auffassungen über die zu schaffenden Rahmenbedin- Kritik kommt aber nicht nur aus den Reihen der Op-
gungen und Grundlagen. Es müssen höchstmögliche An- position, sondern auch aus Bundesländern, die von Mi-
forderungen an Sicherheits- und Umweltstandards nisterpräsidenten der Union regiert werden. Daher sage
gestellt werden. Wir wollen Transparenz und Bürgerbe- ich ganz klar: An dieser Stelle müssen Sie jetzt hier in
teiligung in den anstehenden Verfahren ebenso wie klare Berlin Farbe bekennen. Wenn Sie CCS wollen, dann
haftungsrechtliche Regelungen und klare Regelungen müssen Sie der Speicherung nach bestimmten Kriterien
bezüglich der Nachsorgebeträge. Vorrang einräumen. Wenn Sie CCS nicht wollen, dann
Ich könnte jetzt viele Punkte nennen, möchte aber nur könnten Sie Projekten im Bereich der erneuerbaren
zwei herausgreifen. Wir teilen die Bedenken einiger Energien, zum Beispiel der Geothermie, Vorrang einräu-
Bundesländer – insbesondere des Landes Brandenburg –, men. Sie müssen auf jeden Fall klar sagen, welche Pro-
die der Meinung sind, dass die vorgesehenen Haftungs- jekte Vorrang haben, damit die Länder wissen, wie sie in
regelungen und Versorgungsregelungen nicht ausrei- Zukunft mit möglichen Speicherstätten vor Ort umgehen
chen, dass das alles zu unkonkret ist und dass man vieles sollen. Aber in seiner jetzigen Fassung können wir dem
in rechtlicher Hinsicht offenlässt. Nach unserer Auffas- Gesetzentwurf nicht zustimmen.
sung ist die vorgesehene Sicherheitsleistung in Höhe von
3 Prozent deutlich zu gering. Sie sehen die Möglichkeit Ich will noch eine andere Sache ansprechen, die – wie
vor, nach 30 Jahren die Verantwortung des Betreibers für ich glaube – immer wieder benutzt wird, um die Diskus-
die Speicherstätten auf das Land zu übertragen. Diese sion in Deutschland in eine ganz bestimmte Richtung zu
Zeitspanne ist deutlich zu kurz bemessen. Hier muss es lenken. Mittlerweile sagen selbst Energiekonzerne, CCS
(B) eine andere Regelung geben. für energetische Prozesse werde es in Deutschland wahr- (D)
scheinlich nicht geben. Nach meiner ganz persönlichen
(Beifall bei der SPD) Einschätzung werden wir sie auch nicht brauchen, weil
die fossilen Kraftwerke im Rahmen unserer energiepoli-
Der Hauptkritikpunkt betrifft allerdings eine Rege- tischen Strategie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts vom
lung, die in dieser Form neu ist. Das ist die sogenannte Netz genommen sein werden. Einige sagen, möglicher-
Länderklausel. Das hört sich zunächst nach einem Mei-
weise kann Biomethan noch eine Rolle spielen; aber das
lenstein des Föderalismus an. Die Länder dürfen nach
muss man sehen.
gewissen Abwägungen alleine entscheiden, ob sie CCS-
Speicher auf ihrer Landesfläche zulassen oder nicht. Für Entscheidend aber ist die Frage, was in den Ländern
mich ist das kein Akt besonderer Föderalismusfreund- passiert – Sie haben vorhin einige genannt: Indien und
lichkeit. Vielmehr dokumentieren Sie im Endeffekt hier China –, die zurzeit in hoher Zahl zusätzliche Kohle-
Ihre eigene Handlungsunfähigkeit in Berlin. Sie sind kraftwerke bauen. Wir wissen alle, dass sie beim Klima-
nicht in der Lage, eine klare Regelung herbeizuführen. schutz enorme Probleme haben werden. Muss man daher
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht auch Möglichkeiten schaffen, dass sie in die Lage
DIE GRÜNEN) versetzt werden, CCS einzusetzen? Ich bin insofern bei
Ihnen, als ich der Meinung bin: Wir müssen da helfen,
Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Auf der ei- damit die Energieversorgung in diesen Staaten CO2-är-
nen Seite haben potenzielle Investoren keinerlei verläss- mer wird. Das heißt für mich aber, dass wir nicht nur
liche Planungsgrundlagen. Auf der anderen Seite schie- Technologien erforschen müssen, die vielleicht in
ben Sie den Ländern quasi den Schwarzen Peter zu. Frau 15 Jahren einsetzbar sind, um dann Fehler beispiels-
Reiche, der Bund findet CCS wichtig und gut, traut sich weise beim Bau von Kohlekraftwerken sozusagen wie-
aber nicht, die rechtlichen Grundlagen für entsprechende der einzufangen, sondern dass wir jetzt Technologien
Speicher zu schaffen. Das sollen die Länder entscheiden. liefern müssen, die schon heute CO2-frei sind. Auf die-
Sie dürfen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, sem Gebiet haben wir schon enorme Erfolge. Das sollte
zum Beispiel unter touristischen, abwägen. Ich erwarte doch die Strategie unserer Energieaußenpolitik sein.
aber, dass eine Bundesregierung, die CCS für geeignet
hält und für die diese Technologie ein wichtiger Be-
standteil der Klimaschutzstrategie ist, sagt, wo gespei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
chert werden soll. Schieben Sie diese Entscheidung nicht Herr Börnsen hat das Bedürfnis, Ihnen eine Zwi-
auf die Bundesländer ab! schenfrage zu stellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12357
(A) Dirk Becker (SPD): Was Sigmar Gabriel angeht: Herr Börnsen, Sie sind ja (C)
Ja, bitte. auch schon ein alter Hase, wenn ich das einmal so sagen
darf. Sie wissen, wie das in der Großen Koalition gelau-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fen ist. Es gab die Vereinbarung, gemeinsam ein CCS-
Bitte schön. Gesetz zu verabschieden. Dieses Vorhaben entstand
nicht im luftleeren Raum; ich habe eben auch schon die
europäischen Vorgaben angesprochen. Dann gab es Ver-
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): handlungen zwischen der Union und der Bundestags-
Herr Kollege, Ihre Ausführungen verunsichern mich fraktion der SPD. Ich nenne Ihnen nur einige Punkte, die
ein wenig. wir jetzt wiederfinden. Das ist zum Beispiel die Frage
der Haftungsbeschränkung oder die Frage, nach wie vie-
Dirk Becker (SPD): len Jahren die Verantwortung übergeben werden kann.
Das tut mir leid.
Wir haben damals auch im Interesse der öffentlichen
Haushalte versucht, die Situation zu verbessern und die
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Verpflichtungen der Speicherbetreiber heraufzusetzen.
Das können Sie nachher abstellen.
Das alles hat Ihre Fraktion verhindert. Es ist ja nicht so,
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir – wie auch dass sich damals Sigmar Gabriel hier hingestellt und ge-
im Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – die Wie- sagt hat: Ich bin Umweltminister und mache das so, wie
derverwendung von CO2 verfolgen sollten. Der dama- ich es mir vorstelle. – Hätte er all das machen können,
lige Umweltminister Sigmar Gabriel hat sich vor zwei was er gewollt hätte, hätten wir in den vier Jahren der
Jahren an dieser Stelle mit Vehemenz für CCS einge- Großen Koalition noch mehr erreicht. Sie haben an vie-
setzt. len Stellen gebremst.
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der entscheidende Punkt ist aber – auch das gehört
Ministerpräsident Carstensen aber nicht!) zur Ehrlichkeit dazu –: Herr Kauder und Herr Großmann
Ich frage mich, wie es bei Ihnen zu dieser Richtungsän- haben ein halbes Jahr vor der Wahl gesagt: Die Pläne
derung kommt, zumal die Bundesregierung nicht mehr zum Thema CCS lassen wir jetzt ganz fallen. – Denn
eine Gesamtlösung favorisiert, sondern nur noch ein De- Herr Großmann hatte damals die Vorstellung, dass eine
monstrationsprojekt realisieren will, damit wir unter den mögliche neue Koalition nicht nur ein Gesetz für die
Gesichtspunkten der Gefahrenproblematik und der Wirt- Laufzeitverlängerung, sondern auch ein Gesetz für CCS
(B) schaftlichkeit eine Lösung finden können. Wie kommt es verabschiedet, welche seinen Vorstellungen entsprechen. (D)
also, dass Sie jetzt drei Schritte zurückgehen und gar Das war damals so. – So viel zur Erläuterung dessen,
nicht mehr für CCS eintreten? was in der Großen Koalition abgelaufen ist.
Da meine Kollegin von den Grünen mich gerade da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
ran erinnert hat, dass sich hierzu der Ministerpräsident
von Schleswig-Holstein derart geäußert hat, das sei mit Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle
ihm nicht zu machen, muss ich bemerken: Es war der da- abschließend ganz klar: Ich will nicht, dass man nun aus
malige Umweltminister, der gesagt hat: Gut, dann ste- der zu befürchtenden Sorge einiger Menschen in diesem
cken wir diesen Entwurf wieder in die Kiste und machen Land, was die Verpressung von CO2 angeht, die man ja
etwas Neues; dann müssen aber auch die Länder Vor- sachlich diskutieren kann und diskutieren muss, das
schläge machen. Thema CCS komplett diskreditiert. Aber es gibt gewisse
Die Länder haben Vorschläge gemacht. Sie haben Rahmensetzungen – ich habe einige für die SPD-Frak-
querbeet, A- wie B-Länder, gesagt: Wir möchten gern tion genannt –, die für uns ganz entscheidend sind, um
beteiligt werden, weil das ein Bürgerrecht ist. – Jetzt ha- dann einem solchen Gesetzentwurf auch zustimmen zu
ben wir diese Beteiligung. Stimmen Sie mit mir darin können.
überein?
Zum Thema Länderklausel – Entschuldigung, ich
habe das eben nicht beantwortet; ich wollte der Frage
Dirk Becker (SPD): nicht aus dem Weg gehen –: Ja, wir sind für die Beteili-
Das war jetzt eine Reihe von Fragen. Ich möchte mit gung der Länder, ja, wir sind dafür, dass man die Länder
der ersten Frage anfangen. anhört, ja, wir sind dafür, dass man auch die Meinung
Ich möchte klarstellen, dass ich nicht gesagt habe, ich der Länder einfließen lässt. Wir sind aber auch dafür,
sei gegen CCS. Ich habe deutlich gemacht, dass ich bei dass man dann ein Bundesgesetz schafft, das der Ab-
industriellen Prozessen sehr wohl eine große Notwen- sichtserklärung der Bundesregierung entspricht, indem
digkeit für den Einsatz sehe, dass ich aber die Erforder- man sagt: Wir wollen CCS, und es wird nach den von
lichkeit für den energetischen Bereich anzweifle. Trotz- uns festgelegten Kriterien umgesetzt. – Jetzt wird es in
dem müssen wir alles tun, um die Technologie zu die Beliebigkeit der Länder gestellt, die je nach Wahl-
erforschen – mit einem Schwerpunkt auf Wiederverwer- termin und parteitaktischen Dingen sagen: „Jetzt wollen
tung und nicht auf Verpressung. Das noch einmal zur wir es mal gerade nicht“, und nach der Wahl wollen sie
Klarstellung meiner Position. es wieder. So kann es nicht funktionieren.
12358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Dirk Becker
(A) Ich bitte Sie einfach, gerade auch bei diesem Punkt Entweder nimmt man das 95-Prozent-Ziel nicht ernst, (C)
nachzusteuern und Ihrer Verantwortung als Bundesregie- entweder will man die CO2-Abscheidung nicht, oder
rung nachzukommen. man nimmt billigend in Kauf, dass sich diese Industrien
irgendwann aus Deutschland verabschieden. Das kann
Vielen Dank.
man ja wollen; aber wer glaubt, die Aluminiumindustrie
(Beifall bei der SPD) verabschiedet sich und die Automobilindustrie bleibt
hier, der hat die Produktionszusammenhänge in diesen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Industrien nicht verstanden. Wenn wir die energieinten-
siven Unternehmen aus dem Land jagen, dann werden
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
wir auch andere wichtige Industrien verlieren.
Michael Kauch (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Thema CCS, CO2-Abscheidung und -einlagerung, ist ein Das hat mit CCS gar nichts zu tun, Herr
Thema, bei dem ich mir immer wieder die Frage stelle: Kauch!)
Wie machen wir eigentlich Politik? Da sieht man die
Notwendigkeit, dass wir ein Gesetz bekommen, zum ei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nen, weil die Europäische Union eine Richtlinie geschaf- Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage des
fen hat, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Kollegen Becker zulassen?
CO2-Abscheidung und -einlagerung auf ihrem Territo-
rium zu ermöglichen.
Michael Kauch (FDP):
(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Stimmt Nein, vielen Dank.
doch gar nicht!)
Zum anderen besteht die objektive Notwendigkeit, diese Meine Damen und Herren, CO2-Abscheidung und -Ein-
Technologie zumindest zu erproben, um zu schauen, ob lagerung in die Erde ist in erster Linie nichts, was zum
wir sie in unserem Land einführen können. Thema Kohleverstromung gehört, auch wenn es oft an-
ders dargestellt wird. Das Ganze ist eine Frage der Si-
Wir wissen auch, dass es Widerstände gibt, insbeson- cherung unserer industriellen Kerne mit Blick auf die
dere in den betroffenen Regionen. Heraus kommen dann Mitte unseres Jahrhunderts. Deswegen müssen wir diese
diese üblichen Politikerreden: „Ja, wir sind für CCS, Technologien entwickeln und erproben, und es darf nicht
aber vielleicht doch nicht ganz so“, und man steht vor so weit kommen, dass wir sie irgendwann aus dem Aus-
(B) der Frage: Wie komme ich aus dieser Nummer wieder land werden importieren müssen. Noch sind wir führend (D)
heraus? bei diesen Technologien, und wir sollten diesen Vor-
sprung nicht verspielen.
Meine Damen und Herren, wir als Abgeordnete haben
die Verpflichtung, Dinge, die wir für richtig halten, auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
als richtig zu bezeichnen. Wenn sich Herr Becker hier der CDU/CSU)
hinstellt und sagt: „Bis 2020 brauchen wir die CO2-Ab-
scheidung nicht für unsere Klimaschutzstrategie, weil Ich sage im Hinblick auf die Bundesregierung ganz
das alles bis 2020 noch gar nicht im Einsatz ist“, dann kritisch: Es gibt noch keine einheitliche Haltung in den
sage ich: Das, Herr Becker, hat auch niemand behauptet. Koalitionsfraktionen zu der sogenannten Länderklausel.
Aber die Klimaschutzstrategie in Deutschland sieht eine Die Frontlinien verlaufen nicht so sehr zwischen Par-
CO2-Einsparung von 80 bis 95 Prozent bis 2050 vor. teien, sondern zwischen Regionen. Ich muss sagen: Ich
halte es für äußerst kritisch, dass sich Bundesländer
(Dirk Becker [SPD]: D’accord!) komplett aus ihrer bundespolitischen Solidarität verab-
Das bedeutet, eine Einsparung von 95 Prozent nicht nur schieden können. Wenn wir die Logik der Länderklausel
bei den energiebedingten Emissionen, sondern auch bei auf andere Themen übertragen, dann stellen wir fest,
den industriellen dass sich Länder demnächst auch aus dem Ausbau von
Stromnetzen, aus der nuklearen Endlagerung
(Dirk Becker [SPD]: Das habe ich doch ge-
sagt!) (Marco Bülow [SPD]: Das machen sie doch
schon! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]:
und in den Sektoren wie Verkehr und Landwirtschaft. Bayern macht es!)
Wer glaubt, 95 Prozent wären einzusparen, ohne dass
auch bei den industriellen Emissionen angesetzt wird, und Ähnlichem verabschieden können. Es gibt nun ein-
die zum Teil prozessbedingt sind – das heißt, Sie können mal bundespolitische Aufgaben, die nur in bestimmten
Aluminium nicht ohne diese Emissionen produzieren –, Regionen gelöst werden können. So wie diese Länder in
und sich dann hier hinstellt und sagt: „Wir brauchen das einigen Fragen zu Recht die Solidarität des Bundes ein-
nicht für eine Klimaschutzstrategie“, der hat die Heraus- fordern, so erwarte ich auch, dass sie die Verpflichtung
forderungen für 2050 nicht verstanden. zur Solidarität mit der Bundespolitik ernst nehmen,
wenn sie selbst gefordert sind.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk
Becker [SPD]: Ich habe das ausdrücklich ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sagt!) der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12359
Eva Bulling-Schröter
(A) Macht CCS wenigstens Sinn, weil die Großkraft- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
werke länger Grundlaststrom liefern können? Das ist ge- der FDP)
nauso Unfug; denn die schwankende Einspeisung von
Sie sollten wenigstens in dieser Debatte ehrlich zuge-
erneuerbaren Energien muss in ein flexibles System von
Erzeugung, Verbrauch und Speicherung eingebettet sein. ben, dass auch Sie da einen riesigen internen Konflikt
2030 wird sicher noch Platz für schnelle Gaskraftwerke haben und Diskussionen führen. Anderenfalls ist das,
was Sie hier machen, Populismus und nicht mehr.
sein – heute Vormittag wurde darüber diskutiert –, nicht
aber für eine Armada von trägen Kohlekraftwerken mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
angeschlossenem Chemiewerk zur CO2-Reinigung. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Herr Kauch, Sie haben sich eben ein bisschen ober-
Bliebe noch die Mär von CCS als Hilfsbringer für lehrerhaft hier hingestellt und angekündigt,
kaum vermeidbare Prozessemissionen in der Industrie, (Otto Fricke [FDP]: Was machen Sie jetzt
etwa für Stahlwerke oder Zementfabriken. Das ist ja das gerade?)
Totschlagargument gegen grundsätzliche CCS-Kritiker,
ähnlich wie das absurde Technologieversprechen der Sie würden jetzt prozessbedingte Emissionen erklären
Biomasse-CCS, mit dem irgendwann Treibhausgase aus und sagen, wie das alles zu laufen habe. Dann führten
der Atmosphäre gemolken werden sollen, um sie unter Sie als Beispiel die Aluminiumindustrie an. Es mag sein,
der Erde verschwinden zu lassen. dass ich mich täusche; aber ich habe noch nie davon ge-
hört, dass in der Aluminiumindustrie prozessbedingte
Ich darf dazu anmerken, dass die Industrie selbst gar CO2-Emissionen entstehen. Das ist bei der Stahlindustrie
nicht an CCS allein für Stahl und Kalk glaubt, und zwar und der Zementindustrie der Fall. Wenn Sie sich schon
nicht nur wegen der horrenden Kosten, sondern auch hier hinstellen, dann erklären Sie das bitte auch richtig.
deshalb, weil es ohne die Infrastruktur für Kohle-CCS
auch kein Industrie-CCS geben wird. Allein wegen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prozessemissionen wird niemand ein eigenes Pipeline- sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])
und Speichersystem aufbauen, und Biomasse ist dem Von Frau Reiche habe ich eben fast die gleiche Rede
Wesen nach dezentral zu ernten. Wer hier CCS einsetzen gehört wie vor zwei Jahren:
möchte, der erzeugt entweder gigantische Verkehrs-
ströme oder Monokulturen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das war eine gute Rede!)
Was bleibt also von CCS? Die anvisierten geologi-
schen Formationen könnten rechnerisch im besten Fall Weltweit setze man auf CCS-Technologie; das alles
(B) die Emissionen einer halben Kraftwerksgeneration auf- finde weltweit statt. Schauen Sie doch einmal genau hin: (D)
nehmen. Danach ist sowieso Schluss. Dafür hinterlassen In Europa wird im Moment kein einziges CCS-Projekt
wir unseren Enkeln ein neues Endlagerproblem für Tau- durchgeführt. Wir haben eine Richtlinie, die 27 Staaten
sende Generationen. Das Ganze rechnet sich nicht, und vorschreibt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
energiewirtschaftlich behindert es die Energiewende. Realität ist aber, dass erst eine Handvoll von Staaten
diese Richtlinie umgesetzt hat und viele mittlerweile
Warum also wollen Sie CCS? Allein um die Laune auch erklären, dass das für sie kein Thema ist. Keine
weniger Konzerne zu bedienen, mit Subventionen noch Spur mehr von der Euphorie, die wir da vor zwei Jahren
ein paar Jahrzehnte länger Kohle verstromen zu können? hatten!
Ich frage Sie: Reicht dies als Begründung aus?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der LINKEN) sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das einstige Musterland Norwegen, das bei CCS
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für weltweit Vorreiter sein wollte und auch einige Versuche
Bündnis 90/Die Grünen. unternommen hat, hat alle Projekte eingestellt – erst vor
kurzem in Mongstad, weil man dort Probleme mit dem
Stoff hatte, der das CO2 aus dem Rauchgas abscheidet,
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weil er hochgiftig ist.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Bulling-Schröter, Sie haben gerade ei- All das sollte dazu führen, dass wir das Thema CCS
nige durchaus berechtigte und richtige Kritikpunkte in sehr viel realistischer und sehr viel nüchterner betrach-
Bezug auf CCS aufgezählt ten, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
und legen hier einen Gesetzentwurf vor, der CCS kom-
plett ausschließen soll. Reist man aber durch das Land Es ist kein Wunder, dass die Euphorie vorbei ist; denn
Brandenburg, stellt man fest, dass CCS dort ein konkre- CCS löst keine Probleme, sondern verlagert die Pro-
tes Thema ist. An der dortigen Landesregierung ist Ihre bleme nur an eine andere Stelle. CCS ist eine End-of-
Partei beteiligt. Man trifft auf einen Wirtschaftsminister, Pipe-Technologie und wird – auch das ist eben schon an-
den ich als den größten CCS-Befürworter in Deutsch- geklungen – erst in 10 bis 15 Jahren zur Verfügung ste-
land wahrnehme. hen, wenn überhaupt. Man kann Zweifel daran haben, ob
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12361
Oliver Krischer
(A) es überhaupt dazu kommen wird. Aber falls diese Tech- Führen Sie ihn einem sinnvollen Zweck zu, nämlich dem (C)
nologie zur Verfügung stehen wird, dann wird das erst in Papierrecycling! Das hat dieser Gesetzentwurf verdient.
10 bis 15 Jahren der Fall sein. Das Ganze wird ein Drit- Gehen Sie zurück auf Los! Machen Sie, wenn überhaupt,
tel mehr Kohle verbrauchen und damit unwirtschaftlich ein reines CCS-Forschungsgesetz! Stecken Sie die vie-
sein. len 100 Millionen Euro, die wir von der EU für dieses
Thema bekommen, in die erneuerbaren Energien!
Das heißt, die Erneuerbaren sind zu diesem Zeitpunkt
die wesentlich bessere Klimaschutzalternative. CCS in
der Energiewirtschaft hat deutschlandweit und europa- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
weit überhaupt keine Perspektive. Herr Kollege.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sowie der Abg. Dirk Becker [SPD] und Stecken Sie das Geld, wenn Sie bei prozessbedingten
Wolfgang Nešković [DIE LINKE]) Emissionen sparen wollen, in die Forschungsförderung
Sie können den Menschen in Brandenburg doch über- von neuen Verfahren und neuen Materialien! Damit
haupt nicht erklären, dass man auf der einen Seite ein könnten Sie helfen, CO2-Emissionen in diesem Bereich
Riesenloch gräbt, um Kohle abzubauen, und dafür Land- zu vermeiden. Das wäre der richtige Weg. Damit käme
schaften zerstört und Menschen umgesiedelt werden man auch bei diesem Thema voran.
müssen, während auf der anderen Seite 30 Kilometer Ich danke Ihnen.
weiter CO2 in die Erde gepresst wird, womit man den
Menschen dort ebenfalls Probleme macht und Sorgen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bereitet. So etwas ist nicht zukunftsfähig. Das ist einfach sowie des Abg. Dirk Becker [SPD])
keine nachhaltige Politik.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/
sowie des Abg. Wolfgang Nešković [DIE CSU-Fraktion.
LINKE])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Es ist nicht so, dass bei diesem Thema der Widerstand neten der FDP)
hauptsächlich aus den Umweltverbänden, von den Grü-
nen usw. käme. Wenn ich mir die Stellungnahmen aus
Jens Koeppen (CDU/CSU):
Schleswig-Holstein, aus Niedersachsen und aus Meck-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(B) lenburg-Vorpommern anschaue, stelle ich fest, dass auch Kaum ein anderes Thema wird mit so viel Ambivalenz (D)
Christdemokraten und Freidemokraten das Ganze kri-
diskutiert wie CCS, quer durch alle Fraktionen und alle
tisch sehen und Widerstand leisten. Das ist auch der
Parteien, zum Beispiel auch in meinem Bundesland
Grund dafür, dass Sie, nachdem die Große Koalition vor
Brandenburg, aber auch in den Naturschutzverbänden,
zwei Jahren einen ersten Anlauf unternommen hat und
bei den NGOs, bei der Exekutive, in den Ministerien,
nachdem die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regie-
und vor allen Dingen auch in der Gesellschaft.
rungserklärung nach der Wahl gesagt hat, sie werde noch
vor Weihnachten 2009 einen CCS-Gesetzentwurf vorle- Deswegen möchte ich versuchen, in dieser Debatte
gen, erst zwei Jahre später damit kommen. Sie haben in- einfach einmal die Kausalität aufzuzeigen und das
tern Konflikte, die Sie letztendlich nicht gelöst bekom- Ganze anhand von drei Fragen zu hinterfragen, nämlich,
men. warum wir überhaupt ein CCS-Gesetz machen, was CCS
überhaupt ist und, schließlich, für wen wir CCS machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich werde versuchen, so unaufgeregt, so ideologiefrei
sowie des Abg. Dirk Becker [SPD]) und so ergebnisoffen wie nur möglich vorzugehen. Auf
Dann haben Sie, um Akzeptanz für Ihren Gesetzent- der einen Seite sagen die Gegner, es handle sich um eine
wurf zu gewinnen, eine Länderklausel erfunden, die es Horrortechnik und eine Risikotechnologie, ohne über-
den Ländern ermöglichen soll, komplett aus dem Thema haupt sicher zu wissen, ob es so ist, weil CCS ja noch
CCS auszusteigen. Der Kollege Becker hat es eben gar nicht erprobt ist. Auf der anderen Seite sagen die Be-
schon gesagt: Wenn wir das zum Regelfall bei Gesetzen fürworter, es handle sich um die Wunderwaffe gegen den
machen, dann gute Nacht! Hier sehe ich große Schwie- Klimawandel und CCS werde letztendlich ein Export-
rigkeiten. Das Interessante ist aber, dass man diese Län- schlager.
derklausel auch so interpretieren kann, dass das Ganze Nun zur ersten Frage, warum CCS. Ich glaube, es gibt
gar nicht funktioniert, dass die Länder das gar nicht leis- einen Konsens in diesem Hause, dass es einen Klima-
ten werden und es Ihnen nur darum geht, den Schein zu wandel gibt; jedenfalls sagt das ein erheblicher Teil der
wahren, indem Sie Schleswig-Holstein und Niedersach- Wissenschaft. Gestern hatten wir Professor Schellnhuber
sen überzeugen, dabei mitzumachen, und so die Mehr- im Umweltausschuss. Er hat das wieder mit Vehemenz
heit im Bundesrat sichern. vorgetragen. Der IPCC, der Weltklimarat, sagt, dass wir
Ich würde Ihnen empfehlen: Tun Sie mit diesem Ge- die Emissionen des Klimakillers und Treibhausgases
setzentwurf das einzig Richtige: CO2 begrenzen müssen, um das Ziel, die Erde um nicht
mehr als 2 Grad zu erwärmen, zu erreichen. Durch CCS
(Zuruf von der LINKEN: Ab in die Tonne!) können bis 2050, Herr Kollege Becker, 15 bis 20 Prozent
12362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Jens Koeppen
(A) der CO2-Emissionen eingespart werden. Diese Zahl Ich komme zu meinem Fazit. Sicherheit steht an ers- (C)
wurde gestern auch genannt. Wenn wir gemeinsam den ter Stelle. Aber wie sicher die Technologie ist, können
Klimawandel bekämpfen und dieses 2-Grad-Ziel errei- wir nur bei einer Demonstration feststellen. Es gibt eine
chen wollen, dann dürfen wir nicht nur den Mund Testanlage in Ketzin. Dort kann man schon bei einer
spitzen, sondern dann müssen wir auch pfeifen, dann kleinen Menge sehen, dass die Speicherung sicher ist.
können wir nicht nur planen, sondern müssen auch an-
fangen, zu bauen. Wenn wir bauen wollen, brauchen wir Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
aber ein entsprechendes Werkzeug. Herr Kollege, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen
Dieses Werkzeug – damit komme ich zu der Frage, gerne eine Zwischenfrage stellen.
was CCS ist – ist relativ neu; es liegt noch eingepackt in
der Werkzeugkiste. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir es Jens Koeppen (CDU/CSU):
herausnehmen und ausprobieren sollen oder ob wir es Gerne.
unangetastet lassen. Die Frage, ob wir Chancen oder nur
Risiken sehen, ist deshalb eine ganz bedeutende. Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
möchte zitieren, was der WWF dazu sagt. Warum? Zum Würden Sie gleich danach auch noch eine Zwischen-
einen ist in der Kürze der Zeit das, was ich nun als Zitat frage der Kollegin Behm zulassen? Dann haben Sie die
bringe, anders nicht besser zu sagen. Zum anderen han- Möglichkeit, beide zusammen zu beantworten.
delt es sich beim WWF um einen neutralen Betrachter
der Situation, der wohl kaum im Verdacht steht, einem
Jens Koeppen (CDU/CSU):
Industriekonzern oder einem Energieversorger auf den
Leim zu gehen. Wörtlich sagt ein Vertreter von WWF- Selbstverständlich.
Deutschland:
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
„Es bringt nichts, die Technik ungeprüft zu verteu- Danke schön. – Sie haben über den Erhalt von Ar-
feln und damit leichtfertig eine Chance im Klima- beitsplätzen gesprochen. Ich habe in meiner Rede ge-
schutz zu verspielen“, sagt: Wenn wir CCS anwenden, dann können durch die
Weiter oben steht: Abscheidung CO2-Emissionen einer halben Generation
von Kohlekraftwerken gebunkert werden; danach sind
CCS könne als Übergangstechnik eine wichtige die Speicher voll. Das wissen wir. Wenn Sie aber Indus-
Rolle im Rahmen einer ambitionierten Klima- trie-CO2 abscheiden wollen, dann dürfen Sie kein
schutz-Strategie spielen. Der WWF sieht vor allem Kohle-CO2 abscheiden, weil Sie Gesteinsformationen
in den schnell wachsenden Schwellenländern wie für das Industrie-CO2 brauchen.
(B) (D)
China Einsatzgebiete für die Technik.
Im Zusammenhang mit den Arbeitsplätzen habe ich
Außerdem heißt es: CCS ist gesagt, dass die Industrie das nicht bezahlen wird, weil
zwar kein Patentrezept im Kampf gegen den Klima- es sehr teuer ist. Sie haben zu den Kosten bisher nichts
wandel; an der weiteren Erforschung der umstritte- gesagt.
nen Technologie führe aber kein Weg vorbei.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das finde ich auch. Wir sollten nicht ohne Not auf
Frau Behm, bitte.
diese Technologie verzichten. Ich bin immer dafür, die
Chancen zu sehen. Deswegen halte ich es auch für sinn-
voll, diese Technologie auszuprobieren, zunächst im Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rahmen der Demonstration in Brandenburg. Wenn ich meine Frage direkt stellen darf, ist das wun-
derbar. – Sie haben gerade gesagt, Kollege Koeppen,
Damit bin ich beim dritten Punkt: Für wen machen dass man davon ausgehen kann, dass die CO2-Abschei-
wir diese Technologie? Natürlich beschäftigen wir uns dung in der Versuchsanlage in Ketzin sicher abgelagert
mit ihr, um dem Klimawandel entgegenzutreten. Auf der wird. Ist Ihnen bekannt, dass die Versuchsanlage Ketzin
anderen Seite machen wir diese Technologie – auch das früher ein Erdgasspeicher war und dass an dieser Stelle
sage ich klipp und klar – für unseren Industrie- und ein Dorf mit Namen „Knoblauch“ stand, das aufgegeben
Hochtechnologiestandort Deutschland, mit allem, was werden musste, als sich in den Kellern der Wohnhäuser
dazugehört; auch die Arbeitsplätze in Deutschland spie- plötzlich Gas feststellen ließ? So viel zum Thema Si-
len dabei eine Rolle. Ich möchte nicht, dass durch cherheit. Ist Ihnen das bekannt, und woraus resultiert
Carbon Leakage die gesamte Industrie abwandert, nicht Ihre Aussage, dass die Lagerung in Ketzin sicher ist? Sie
nur aus Deutschland, sondern letztendlich auch aus wissen so gut wie ich, dass in der Versuchsanlage bisher
Europa. reines CO2 eingelagert wurde und erst seit der vergange-
Für den Weg zu den erneuerbaren Energien haben wir nen Woche CO2 aus der Kohleverbrennungsabschei-
ein Energiepaket geschnürt, dessen Umsetzung jetzt dung, das ja verunreinigt ist, eingelagert wird. Wie kom-
noch beschleunigt wird. Wir sind uns einig, dass wir das men Sie also zu Ihrer Aussage?
wollen. Dabei haben wir ein Zieldreieck festgelegt: Ver-
sorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klima- Jens Koeppen (CDU/CSU):
schutz. Um alle drei Ziele zu erreichen, brauchen wir Erst einmal zu der Frage von Frau Bulling-Schröter.
– das ist meine Meinung – diese Technologie. Für mich ist CO2 letztendlich ein Rohstoff. Deswegen ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12363
Jens Koeppen
(A) CCS, die Abscheidung und die Einlagerung bzw. Spei- Erstens. CCS muss sicher sein; das muss nachgewie- (C)
cherung, für mich eine vorübergehende Technologie, die sen sein. Deswegen gibt es die entsprechende Demon-
trotzdem erprobt werden muss. stration.
Früher oder später werden wir natürlich auch auf Zweitens. Wir brauchen Transparenz; wir brauchen
Kohlekraftwerke verzichten – früher oder später. Wir ha- die Akzeptanz und die Beteiligung der Bürger vor Ort,
ben eine begrenzte Speicherkapazität; das ist wahr. Wir aber auch der Länder. Die Bürger müssen nicht nur mit
werden das Klima nicht in Deutschland, schon gar nicht Informationen bedacht werden, sondern auch mit einer
in Brandenburg retten. Aber wir können die Technologie Wertschöpfungsabgabe – wie auch immer sie gestaltet
sehr gerne in Deutschland, in Brandenburg demonstrie- wird –, die ausgeschüttet wird, wenn es Beeinträchtigun-
ren, sie erforschen und zeigen, dass sie zum einen sicher gen gibt. Die Länderklausel – die Frau Staatssekretärin
ist und zum anderen die gewünschten Effekte hat. hat es bereits gesagt – ist eine Handreichung an die Bun-
desländer: Sie können sagen, wie sie mit der Speiche-
Ich erinnere einfach nur an den Transrapid: Wir woll- rung umgehen. Ich halte das für ein legitimes Mittel.
ten den Transrapid mit Riesengewinnen als tollen Ex-
portschlager nach Asien verkaufen; aber dann haben wir Der letzte Punkt. Wir müssen die Nutzung von CCS
selbst – nicht wir alle, sondern eher die linke Seite des evaluieren und auswerten. Letztendlich müssen wir mit
Hauses – den Transrapid als eine Risikotechnologie ver- Daten und Fakten demonstrieren, dass die Spekulatio-
teufelt. nen, Horrorszenarien, Vermutungen und Ahnungen durch
Wissen ersetzt werden.
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist Geschichtsklitte-
rung! Nicht einmal die Industrie war für Ihr Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung zu diesem
Produkt!) Gesetzentwurf.
Danke.
Warum sollte denn der Chinese oder der Inder sagen:
„Jawohl, wir wollen den Transrapid“ – oder auch CCS –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wenn nicht einmal wir selbst in der Lage sind, den
Transrapid auf einer 70 Kilometer langen Strecke vom Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Münchener Flughafen bis in die Innenstadt zu erproben?
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil für die
So ist das auch bei CCS.
FDP-Fraktion.
Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass Ihre Argu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mente nicht stimmen. Es geht nicht darum, das gesamte der CDU/CSU)
(B) CO2 hier in Deutschland zu speichern, sondern nur einen (D)
Teil. Jetzt geht es erst einmal um die Speicherung von
8 Millionen Tonnen CO2 im Rahmen einer Exploration, Klaus Breil (FDP):
um zu erkennen, ob es funktioniert oder nicht. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Die Unverträglichkeit mit der Gesundheit, die
Damit komme ich zur zweiten Frage. Wenn mir die Angst um Leib und Leben und – mehr noch – den Ver-
Wissenschaftler in Ketzin sagen, dass sie davon ausge- lust von Raum und Zeit: All dies verbanden die Men-
hen, dass die Einlagerung dieser Mengen – sie berech- schen mit der Einführung der Dampflok in Deutschland.
nen das für mehrere Größen – nach ihren Erkenntnissen Ich meine die Eröffnung der Strecke Nürnberg–Fürth im
sicher ist – – Jahr 1835. Der Mensch könne eine derartige Geschwin-
digkeit gar nicht aushalten, so die allgemeine Meinung.
(Heiterkeit des Abg. Josef Philip Winkler Die tatsächlichen Folgen der Einführung des Eisenbahn-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) verkehrs waren ein Aufblühen der wirtschaftlichen Leis-
– Sie können gern lachen. Wenn Sie den Wissenschaft- tungsfähigkeit und ein gewaltiger Ausbau der Infrastruk-
lern in Bezug auf die Aussagen zum Klimawandel ver- tur.
trauen, dann können Sie auch den Wissenschaftlern ver- Die Dampflok ist weg, die Bedenken sind geblieben.
trauen, die sagen: Nach unseren Jahren der Erprobung Um den Ausstoß von Kohlendioxid durch Kraftwerke in
gehen wir davon aus, dass es sicher ist. Da wurden ver- die Atmosphäre zu senken, soll nun in Deutschland die
schiedene Drücke ausprobiert, da wurde gespeichert und unterirdische Verbringung von CO2 zunächst einmal ge-
eingelagert, da wurde beobachtet, wohin sich das CO2 testet werden – nicht mehr und nicht weniger. Denn
ausbreitet usw. Natürlich wurde – genau wie beim Kli- diese Methode, CCS, muss ihre wirklichen Potenziale
mawandel – über Computersimulationen berechnet, wie für Industrie und Stromerzeugung erst noch zeigen.
sich das verhält. Da sind Geologen usw. am Werk. Es tut
mir leid: Ich vertraue dann schon den Aussagen dieser (Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/
Wissenschaftler, die sagen: Sie können nach den Jahren CSU])
der Erprobung davon ausgehen – das wurde berechnet –, Besonders die Sicherheit der Speicher ist nachzuwei-
dass ein entsprechendes Großprojekt sicher ist. – Das ist sen. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Zu-
meine Antwort darauf. verlässigkeit der Technik auch in Demonstrationsvorha-
(Beifall bei der CDU/CSU) ben erprobt werden kann. Am Computer geht das nicht.
Ohne Probe gibt es keinen Nachweis. Nur im prakti-
Ich komme zu meinem Fazit zurück: schen Verfahren können die offenen Fragen zu Umwelt-
12364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Klaus Breil
(A) risiken, Speicherpotenzialen und Kosten realistisch be- (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sehr gut! – (C)
antwortet werden. Hierauf wird die Bundesanstalt für Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Geowissenschaften und Rohstoffe mit ihrer weltweit an- NEN]: Die Position als solche ist vernünftig!)
erkannten Professionalität stets ein waches Auge haben.
Das ist Doppelzüngigkeit, die man den Linken an dieser
Eine weitere Frage ist die nach dem Rohstoff CO2. Das
Stelle vorhalten muss. Denn das tun Sie hier im Plenum
jetzt so verteufelte Klimagas Kohlendioxid könnte in ab-
gerne; aber draußen vor Ort, wo Braunkohle abgebaut
sehbarer Zukunft als wichtiger Rohstoff lediglich auf ge-
wird, positionieren sich die Linken und ihre Gewerk-
wisse Zeit eingelagert werden, quasi als Zwischenspei-
schaftsfreunde ganz gern gegenteilig. Es wäre schon
cher.
sinnvoll, wenn Sie, um die Öffentlichkeit nicht zu täu-
Jedenfalls sollten wir positiver an die Sache herange- schen, eine Klärung herbeiführen könnten und uns mit-
hen. Doch auch hier werden, wie damals in Nürnberg, teilten, was Sie eigentlich wollen. Sind Sie dafür oder
Besorgnisse und Befürchtungen in der Bevölkerung sind Sie dagegen? Das ist die spannende Frage.
wach. Das ist teilweise verständlich. Aus diesem Grund
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
wird CCS nicht etwa flächenhaft eingeführt, sondern es
der FDP)
wird lediglich die rechtliche Grundlage für die Erkun-
dung, die Errichtung und den Betrieb von Demonstra- Frau Bulling-Schröter, Sie haben in diesem Zusam-
tionsvorhaben geschaffen. menhang auch einen Vergleich zwischen der CO2-Endla-
gerung und der Endlagerung von Kernbrennstoffen ge-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der zogen. Das zeigt, dass es Ihnen darum geht, eine Verun-
CDU/CSU) sicherungsstrategie aufzubauen, die letztendlich zu ei-
Langfristig wollen wir den Ausstoß von Treibhausga- nem CCS-Verbot führen soll, das Sie in Ihrem Gesetz-
sen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, das CO2 also quasi entwurf grundsätzlich vorschlagen.
abschaffen. Dabei dürfen wir allerdings nicht diejenigen (Cajus Caesar [CDU/CSU]: Die Linke verun-
Industriezweige übersehen, die aus rein technischen sichert halt gern! – Eva Bulling-Schröter [DIE
Gründen nicht in der Lage sind, ihren CO2-Ausstoß noch LINKE]: Frau Präsidentin, darf ich eine Frage
weiter zu verringern. Es sind dies vor allem diejenigen stellen?)
Unternehmen, die am Anfang der Wertschöpfungskette
in Deutschland stehen. Würden wir dieser wirtschaftli-
chen Basis unseres Landes die Perspektive nehmen, wä- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
ren diese Firmen mit ihren Arbeitsplätzen in Deutsch- Möchten Sie die Frage von Frau Bulling-Schröter zu-
land nicht mehr zu halten. lassen?
(B) (D)
(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
CSU]) Selbstverständlich.
Das gilt dann auch für die Nachfolgenden in der indus-
triellen Wertschöpfungskette. Das will niemand. Also Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
müssen wir schon allein dafür Optionen eröffnen. Bitte schön.
Für den Vollzug und die Durchführung des Gesetzes (Cajus Caesar [CDU/CSU]: So viel Redezeit!)
werden die Länder zuständig sein. Gleichwohl sollten
gerade diejenigen Bundesländer, die im Länderfinanz- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
ausgleich von der Wirtschaftskraft der anderen – und so- Apropos Verunsicherung: Der Petitionsausschuss be-
mit auch von deren CO2-Emissionen – besonders profi- fasst sich momentan mit 80 000 Petitionen zum Thema
tieren, über ihren eigenen Schatten springen. CCS bzw. dem Verbot von CCS.
Vielen Dank. (Jens Koeppen [CDU/CSU]: 50 Prozent!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Glauben Sie, dass nur wir die Menschen verunsichern?
Oder glauben Sie, dass Menschen auch eigenständig
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: denken können?
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Ich gehe davon aus, dass Menschen eigenständig den-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ken, absolut.
Raju Sharma
(A) Ja, wir wissen um das in der DDR begangene Unrecht an die Kirche, sondern gegen die Bundesrepublik (C)
Gläubigen. Aber auch: Ja, wir stellen uns unserer Verant- Deutschland geurteilt!)
wortung. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst,
– Ja, aber die katholische Kirche hat gekündigt. Insofern
und wir kennen die Geschichte.
stimmt das schon.
(Beifall bei der LINKEN – Jens Koeppen
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
[CDU/CSU]: Das wüsste ich!)
GRÜNEN]: Ich sage das nur!)
– Herr Kollege, ein Wort dazu: Ich sagte gerade, dass wir
uns unserer Verantwortung stellen, anders als so manche – Das ist auch gut. Ich glaube sowieso, dass wir bei den
Grünen mit unserem Antrag offene Türen einrennen
Blockflöten und Schalmeien aus Ihren Reihen.
müssten. Die Erzdiözese Köln hat kürzlich einem Reli-
(Beifall bei der LINKEN – Jens Koeppen gionslehrer und renommierten Theologen die Lehrbe-
[CDU/CSU]: Das wüsste ich!) fugnis mit der Begründung entzogen, dass er schwul ist.
Das kommt faktisch einem Berufsverbot aufgrund der
Wir stellen uns mit unserem Antrag nicht gegen die
sexuellen Orientierung gleich. Volker Beck, ein Kollege
Kirchen und erst recht nicht gegen die Gläubigen. Wir
aus Ihren Reihen, hat diesen Vorgang als hanebüchen be-
stellen uns mit unserem Antrag an die Seite von
schrieben.
1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
bei den Kirchen und den kirchlichen Einrichtungen. Ihre (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Rechte wollen wir schützen. Wir wollen, dass ihnen und Da hat er recht!)
ihrer Arbeit die nötige Achtung entgegengebracht wird.
Damit hat er völlig recht. Deshalb fordere ich Sie auf:
(Beifall bei der LINKEN) Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Ich bin der festen Überzeugung, dass unser Antrag für (Beifall bei der LINKEN – Josef Philip
alle Fraktionen dieses Hauses zustimmungsfähig ist. Ich Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
will das kurz belegen: Die FDP versteht sich als Partei steht heute nicht zur Debatte! Es ist die erste
der freien Marktwirtschaft und des Wettbewerbs. Lesung!)
(Pascal Kober [FDP]: Und der Religions- Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die
freiheit!) SPD versteht sich als Partei, die sich insbesondere für
Wir leisten uns aber ein Sonderarbeitsrecht, das es den die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Kirchen ermöglicht, ihren Beschäftigten bis zu 30 Pro- starkmacht. Hier aber haben wir ein Sonderarbeitsrecht.
zent niedrigere Löhne zu zahlen, als sie auf dem Markt Wir haben ein Arbeitsrecht zweiter Klasse für 1,3 Mil-
(B)
üblich sind. lionen Beschäftigte in Kirchen und kirchlichen Einrich- (D)
tungen. Das wollen wir nicht, und das könnt auch ihr
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das nicht wollen. Deswegen: Stimmt unserem Antrag zu.
stimmt überhaupt nicht!)
(Beifall bei der LINKEN)
Nun mögen Sie mit Lohndumping im Prinzip kein Pro-
blem haben. Unser Antrag ist weder weltfremd noch blauäugig. Es
ist ein Unterschied, ob jemand als Pfarrer in der Kirche
(Otto Fricke [FDP]: Das ist ein Irrtum!) beschäftigt ist oder als Putzfrau.
Hier aber haben wir eine Bevorzugung der Kirchen ge- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
genüber anderen privaten Dienstleistern, die sich auf Nein!)
demselben Markt tummeln. Wenn Sie fairen Wettbewerb
haben wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu. Jemand, der in seiner Predigt am Sonntag den Gläubigen
den Kopf wäscht, hat eine andere Verantwortung als die-
(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: jenigen, die am Montag den Kirchenboden schrubben.
Darum geht es Ihnen! Es geht Ihnen um die Aber ihre Rechte und ihre Interessen haben wir vor al-
Volkssolidarität! Es geht Ihnen gar nicht um lem im Blick. Sie wollen wir schützen, und wir wollen,
die Kirchen!) dass ihnen und ihrer Leistung gebührender Respekt ent-
Die Union stellt sich als Partei dar, die sich insbeson- gegengebracht wird, und zwar nicht erst im Himmel-
dere dem Schutz der Familien verschrieben hat. Der reich, sondern schon auf Erden.
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kürz- Vielen Dank.
lich die Kündigung eines Chorleiters für unrechtmäßig
erklärt, weil die Kündigung durch die katholische Kirche (Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling
ein Verstoß gegen das Recht auf persönliche Lebensge- [CDU/CSU]: In der Kirche wird kein Kopf ge-
staltung darstellte und das Recht auf Schutz der Familie waschen, Herr Kollege! In der Kirche wird ge-
verletzt wurde, weil der Familie der nötige Schutz ver- betet!)
weigert wurde. Folgen Sie dem Gericht: Stimmen Sie
unserem Antrag zu. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
stimmt nicht! Der Gerichtshof hat nicht gegen neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12367
(A) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): deutet die eigenständige Regelung der Angelegenheiten (C)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- der Kirchen praktisch?
gen! Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben
Erstens. Die Kirchen regeln die Vergütung ihrer Mit-
eine sehr kluge Entscheidung getroffen; denn sie haben
arbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Gremium, das
die mühsam ausgehandelten Kirchenartikel der Weima-
paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw.,
rer Reichsverfassung einfach in Art. 140 des Grundge-
um es in der Sprache der Kirchen zu sagen, von Dienst-
setzes übernommen. Für das kirchliche Arbeitsrecht gilt
nehmern und Dienstgebern besetzt ist, in dem keiner die
die maßgebliche Garantie des Art. 137 Abs. 3 der Wei-
andere Seite überstimmen kann. Alle kirchlichen Ein-
marer Reichsverfassung, in dem steht:
richtungen sind an diese Tarifregelungen, die gemein-
Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet sam gefunden worden sind, gebunden. Diese von den
ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der paritätisch besetzten Kommissionen festgelegten Tarif-
Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie ver- gehälter sind übrigens in der Regel höher als die Gehäl-
leiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder ter, die bei anderen nichtkirchlichen Wohlfahrtsorganisa-
der bürgerlichen Gemeinde. tionen oder im privatgewerblichen Bereich gezahlt
werden.
Diese klare Unterscheidung, was die Kirche selbststän-
dig regeln kann und was Sache des Staates ist, ist übri- (Beifall des Abg. Karl Schiewerling [CDU/
gens eine der großen Errungenschaften der Neuzeit, an CSU] – Beate Müller-Gemmeke [BÜND-
der wir festhalten wollen. Aus dem Antrag der Linken NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war in der Ver-
kann man nur eines entnehmen, nämlich dass sie es so gangenheit so! Das ist nicht mehr so!)
wie in der alten DDR halten will, wo der Staat definiert
hat, was Kirche ist, und nicht die Kirche. Dagegen weh- – Doch, es ist nach wie vor so. Es gibt keinen Fall, in
ren wir uns entschieden. dem schlechter bezahlt wird als nach von Gewerkschaf-
ten ausgehandelten Tarifverträgen. Das zeigt übrigens,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass die Mitarbeitervertreter der Kirche sehr erfolgreich
neten der FDP – Beate Müller-Gemmeke Löhne aushandeln.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein
bisschen zu einfach!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Da, glaube ich, irren Sie!)
Die Unterscheidung zwischen einem Pfarrer und an-
deren Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, die Sie Zweitens. Die Mitbestimmung der kirchlichen Mit-
eben vorgenommen haben, können Sie nicht machen. arbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgt über gewählte Mit-
arbeitervertretungen. Das ist sozusagen die Bezeichnung
(B) Das muss die Kirche definieren. Kirche ist von ihrem (D)
Auftrag her nicht nur Seelsorge und Verkündigung, son- für kirchliche Betriebsräte. Während im Geltungsbereich
dern genauso und wesentlich auch tätige Nächstenliebe, des staatlichen Betriebsverfassungsgesetzes gerade ein-
also Caritas und Diakonie. Ohne Caritas und Diakonie mal 30 Prozent aller Betriebe einen Betriebsrat haben,
gibt es keine Kirche. Wenn also die Kirchen ihre Angele- haben im Bereich von Kirche, Caritas und Diakonie
genheiten und ihr Arbeitsrecht verfassungsgemäß selbst- 65 Prozent aller Betriebe Mitarbeitervertretungen. Bei
ständig regeln können, dann gilt das selbstverständlich Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten sind sogar in
auch für die karitativen und diakonischen Einrichtungen 85 Prozent der Betriebe Mitarbeitervertretungen vorhan-
und Dienste. den. Im Gegensatz zur Behauptung der Linken gibt es
also nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung. Die
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Gewerkschaften in Deutschland würden Jubelchöre ohne
GRÜNEN]: Darüber kann man aber auch dis- Unterlass anstimmen, wenn wir in der freien Wirtschaft
kutieren!) eine Betriebsratsquote von 65 bzw. 85 Prozent hätten,
wie es sie bei der Kirche gibt. Dazu kommt, dass diese
Ich finde, wir können in Deutschland froh sein, dass
Mitarbeitervertretungen Dachorganisationen auf Diöze-
Caritas und Diakonie mit einer Vielzahl von Kranken-
san-, Landes- und Bundesebene mit aus Kirchenmitteln
häusern, Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Kin-
bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bilden kön-
dertagesstätten, Schuldnerberatungs- und Suchtbera-
nen, um auch auf übergeordneter Ebene ihre Interessen
tungsstellen sowie vielen weiteren Diensten zur sozialen
zu vertreten.
Infrastruktur in unserem Land beitragen und konkret die
Not vieler Menschen lindern helfen. Ich bin froh, dass es Nun ist im Antrag der Linken sowie in einer früheren
die Kircheneinrichtungen in unserem Land gibt, und ich Anfrage des Bündnisses 90/Die Grünen problematisiert
will, dass sie auch in Zukunft bestehen bleiben. worden, dass es einzelne kirchliche und karitative Ein-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richtungen bzw. Teile von diesen gebe, die sich ausglie-
neten der FDP – Halina Wawzyniak [DIE dern, um die Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts
LINKE]: Das wollen wir auch!) und des kirchlichen Vergütungssystems zu umgehen. Ei-
nes muss klar sein: Wer Rosinen pickt und nicht das
Übrigens, die konkrete Hilfe für Menschen in Not und ganze Recht anwendet, der kann irgendwie auch nicht
Armut, mit Behinderung und Krankheit ist meines Er- zum Bereich des Kirchendienstes gehören. Für den gilt
achtens das glaubwürdigste Zeichen für die Ernsthaftig- dann das staatliche Arbeitsrecht und das Betriebsverfas-
keit des Doppelgebots, der Gottes- und Nächstenliebe, sungsgesetz. Das gilt selbstverständlich auch für das
dem Christinnen und Christen verpflichtet sind. Was be- Streikrecht und die Organisation der Beschäftigten in
12368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
In diesem Bereich muss Klarheit herrschen. Deswe- Es gibt offenkundig Probleme mit dem Antrag bei der
gen begrüße ich sehr, dass die deutschen Bischöfe vorha- Linken selbst.
ben, in der Grundordnung des Kirchendienstes für eine (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Jeder ver-
Klarstellung zu sorgen. Zum Kirchendienst gehört nur, steht den Antrag! – Josef Philip Winkler
wer das Tarifsystem und das gesamte kirchliche Arbeits- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon hat
recht anerkennt. Wer sich aus Teilen davonschleichen Herr Sharma uns aber nichts erzählt! – Paul
will, ist eben nicht mehr dabei und fällt unter die staatli- Lehrieder [CDU/CSU]: Bei den Linken gibt es
chen Regelungen. Vor diesem Hintergrund stellt man immer wieder Erstaunliches!)
fest, dass der Antrag der Linken in die vollkommen fal-
sche Richtung geht. Deswegen sagen wir Ja zu kirchli- Bevor Sie die übrigen Fraktionen auffordern, dem An-
chem Selbstbestimmungsrecht. Dazu müssen sich aber trag zuzustimmen, sollten Sie erst einmal dafür sorgen,
auch alle an die vereinbarten Regelungen halten. dass die eigenen Reihen in Ordnung gebracht werden.
Ottmar Schreiner
(A) Alle Einrichtungen, die im Pflegebereich oder in ande- liebe bei den eigenen Beschäftigten. Man kann sie nicht (C)
ren Bereichen der sozialen Dienstleistungen tätig sind, über Lohndumping und anderes in die Ecke drücken.
beklagen, dass der Druck der Kostenträger immer uner-
Frau Präsidentin, ich habe Ihre Hinweise bemerkt und
träglicher wird. Dass sich das auch in der Lohngestal-
komme zum letzten Satz.
tung niederschlägt, ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Es
ist aber kein Spezifikum der kirchlichen Einrichtungen.
Dass die kirchlichen Einrichtungen gegebenenfalls da- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
runter zu leiden haben, steht außer Frage. Das geht aber schon über die Nächstenliebe hinaus.
Ich stelle die Behauptung streitig, dass vonseiten
Ottmar Schreiner (SPD):
kirchlicher Einrichtungen – wie Sie sagen, von Caritas
und Diakonischem Werk generell – systemisch Lohn- Der beste Beitrag der Kirchen wäre, wenn sie ihrer-
dumping betrieben wird, um Wettbewerbsvorteile zu er- seits vorhandene Missstände möglichst rasch abschaff-
reichen. Das muss geklärt werden. Die Aussagen stehen ten. Das wäre der beste Beitrag dazu, dass das bewährte
sich außerordentlich kontrovers gegenüber. Wenn dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch in Zukunft
so wäre, wäre das auf Dauer nicht hinnehmbar. vom Grundsatz her in Deutschland nicht infrage gestellt
wird. Wir haben genügend Konflikte. Mehr brauchen
Das zweite Beispiel, das Sie in Ihrem Antrag nennen, wir wirklich nicht.
leuchtet mir ein. Sie beschreiben den Zusammenschluss Schönen Dank, Frau Präsidentin.
von kirchlichen Einrichtungen zu Interessenverbänden
wie dem VdDD, dem Verband diakonischer Dienstgeber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in Deutschland. Der Verband diakonischer Dienstgeber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– bei den Kirchen heißt es Dienstgeber statt Arbeitgeber –
sei Mitglied in der BDA, der Bundesvereinigung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Deutschen Arbeitgeberverbände, geworden und dort so- Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.
gar im Vorstand vertreten. Das ist einem kirchlichen Ver-
band völlig unbenommen. Aber wenn das so ist, dann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
müssen die Gewerkschaften dieselben Rechte im kollek-
tiven Arbeitsrecht haben, wie es andernorts der Fall ist. Pascal Kober (FDP):
Man kann nicht von einem Dritten Weg reden, wenn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
man auf der einen Seite Mitglied in der Bundesvereini- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, in
gung der deutschen Arbeitgeberverbände ist und damit der Tat ist die FDP die Partei, die sich der sozialen
(B) alle Möglichkeiten der organisierten Arbeitgeberseite Marktwirtschaft und auch dem Wettbewerb verschrieben (D)
ausnutzt, aber auf der anderen Seite sagt, die Arbeitneh- hat und die sich verantwortlich fühlt, Religionsfreiheit
mer müssten sehen, wie sie mit den angebotenen Rege- nicht nur in der Bundesrepublik zu erhalten, sondern
lungen zurechtkommen. Das geht nicht. Das wäre ein auch weltweit dafür einzutreten.
nicht zu ertragender Widerspruch und müsste in der Das Thema, über das wir heute sprechen, ist im Kern
Konsequenz geändert werden. eine Frage der Religionsfreiheit. Das lassen Sie in Ihrem
Antrag außer Acht, aber – darauf hat der Kollege
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Schreiner glücklicherweise schon hingewiesen – Ihr
GRÜNEN]: Das ist richtig!) Kollege aus dem thüringischen Landtag, der dortige
Ich komme zum Schluss. Wir wollen unsererseits die Fraktionsvorsitzende, hat das sehr wohl verstanden. Er
Vorgänge sorgfältig prüfen. Es sind fast 2 Millionen kritisiert den Antrag, den Sie als Bundestagsfraktion der
Menschen betroffen. Mit insgesamt 1,7 Millionen Be- Linken eingebracht haben, mit den Worten – ich zitiere
schäftigten sind die Kirchen der größte Arbeitgeber in Bodo Ramelow –:
Deutschland. Der Tendenzschutz ist ein Gut, das die Linke bei
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Parteien und Gewerkschaften respektiert.
GRÜNEN]: Genau!) Das müsse auch bei den Kirchen gelten.
Es geht also nicht um irgendein Thema, sondern um ei- Es geht also bei den Kirchen um ein besonderes Ar-
nen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmerschaft und ihre beitsverhältnis, das eben nicht vom Kapital auf der einen
Arbeits- und Lohnbedingungen. Wir wollen und werden Seite und Arbeit auf der anderen Seite und von der Frage
das Gespräch darüber suchen. der Gewinnmaximierung bestimmt ist. Bei den Kirchen
geht es vielmehr um den kirchlichen Auftrag, nämlich
Die Kirchen wären gut beraten, wenn sie auch in ihrer die Verkündigung des Wortes Gottes in Wort und Tat.
Funktion als Arbeitgeber Vorbild wären. Wie sie das tun, ist Auftrag und Verantwortung der Kir-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen selbst. Das können und wollen wir nach dem im
DIE GRÜNEN) Grundgesetz verankerten Grundsatz der Religionsfrei-
heit den Kirchen nicht vorschreiben, auch nicht den
Es geht auch um die Glaubwürdigkeit dessen, was der kirchlichen Arbeitgebern. Sie haben als Beispiel ge-
Kollege Weiß eben Caritas genannt hat, nämlich tätige nannt, dass der Verkündigungsauftrag für einen Pfarrer
Nächstenliebe. In dem Fall beginnt die tätige Nächsten- etwas anderes bedeutet als für eine Reinigungskraft, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12371
Pascal Kober
(A) die Kirche säubert. Das mag Ihnen plausibel erscheinen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Die Grundsätze unserer Verfassung, die die Religions- NEN):
freiheit festschreiben, geben den Kirchen aber das Recht, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
dies selbst zu definieren. Wir respektieren das und wol- Kollegen! Meine Fraktion hat sich im Rahmen einer
len den Kirchen in diesen Fragen nicht hineinreden. Kleinen Anfrage mit dem sogenannten Dritten Weg der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kirchen auseinandergesetzt. Es wurde bereits gesagt,
dass die Antwort der Bundesregierung recht dürftig ist.
Die Kirchen verfahren – das ist von Kolleginnen und Für uns scheint aber erkennbar zu sein, dass die Bundes-
Kollegen schon beschrieben worden – nach dem System regierung bis zum heutigen Tag nichts für veränderungs-
des sogenannten Dritten Weges. Es handelt sich um eine bedürftig und kritikwürdig hält. Diese Ansicht teilt
besondere Sozialpartnerschaft. Warum sollte es im Übri- meine Fraktion explizit nicht.
gen nicht etwas Besonderes in unserer Gesellschaft ge-
ben? Auch hier ist es möglich, Vergleiche zu ziehen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
voneinander zu lernen. Sozialpartnerschaft bedeutet zu- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
nächst eine paritätisch besetzte arbeitsrechtliche Kom- Wir befinden uns im Dialog sowohl mit der Arbeitge-
mission, die eine Verständigung erzielt. Die verbleiben- berseite als auch mit der Arbeitnehmerseite, auch mit
den Sachkonflikte werden durch eine neutrale und den Gewerkschaften, die versuchen, auf dem Klageweg
verbindliche Schlichtung geklärt. Das System des Drit- Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch-
ten Weges ist sowohl durch das Bundesverfassungsge- zusetzen und auszubauen. Es geht uns aber nicht darum,
richt als auch durch das Bundesarbeitsgericht anerkannt mit dem Finger auf die Kirche zu zeigen und ihre Tätig-
worden. Durch die Gestaltung des Schlichtungsverfah- keit im sozialen Bereich schlechtzureden. Diese Arbeit
rens ist zudem ausgeschlossen, dass sich eine einzelne sollte vielmehr gewürdigt werden. Die Vielzahl der
Partei mit ihren Vorstellungen durchsetzen kann. Es ist kirchlichen Einrichtungen, die in allen Bereichen des so-
empirisch belegbar, dass die Schlichtungsverfahren re- zialen Lebens unserer Gesellschaft tätig sind, sollten un-
gelmäßig die Interessen beider Seiten angemessen be- sere Unterstützung finden. Ihnen allen gebührt unser
rücksichtigen. Die Regelung des Dritten Weges stellt si- Dank für das, was sie tun.
cher, dass die Interessen der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gewahrt werden, aber auch auf Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kampfmittel verzichtet werden kann. Auch das wird und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne-
durch den Dritten Weg sichtbar. Es würde nicht dem ten der SPD)
Selbstverständnis der Kirchen entsprechen, auf Mittel
(B) des Arbeitskampfes wie beispielsweise den Ausschluss Dass in der Sozialbranche die Ökonomisierung um (D)
von Mitarbeitern zurückzugreifen. sich gegriffen hat, ist auch nicht ein spezielles Problem,
das nur die Kirchen betrifft. Das ist nicht nur dort, son-
Der Antrag der Linken im Bundestag stellt in seinem dern in allen sozialen Einrichtungen so. Deshalb sollte
Grundtenor die Religionsfreiheit sowie die Trennung man nicht einfach mit dem Zeigefinger in Richtung Kir-
von Staat und Kirche in der Bundesrepublik infrage. chen argumentieren. Der Kostendruck ist nun einmal so,
Dies lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion entschie- wie er ist. Er ist aber keine Folge des kirchlichen Selbst-
den ab. Wir treten für diese Unterscheidung, aber auch bestimmungsrechts, sondern die Konsequenz aus der
für die Selbstständigkeit beider Institutionen ein. Nach Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen in der Gesell-
dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist es Angele- schaft insgesamt. Vor diesem Hintergrund wie die Linke
genheit der Kirche, zu klären, welche Berufsbilder es in zu argumentieren, ist ein wirklich „unterkomplexer An-
ihr gibt und wie die jeweiligen Berufsbilder an der Erfül- satz“. Man kann nicht einfach das kirchliche Selbstbe-
lung des Verkündigungsauftrags mitwirken. Die Kirchen stimmungsrecht abschaffen, nur weil es Probleme gibt.
haben auch die Verantwortung, darüber zu entscheiden, Mit dieser Generalisierung verfolgen Sie einen falschen
ob die Zugehörigkeit zur Kirche Voraussetzung für die Ansatz, den wir nicht mittragen werden.
Einstellung ist, genauso wie Sie es zur Voraussetzung
machen können, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der Linkspartei beispielsweise nicht zugleich Mitglieder sowie bei Abgeordneten der SPD)
der FDP sind. Ich erinnere daran, dass Sie etwas für sich
selber in Anspruch nehmen, das Sie den Kirchen verwei- Sie haben in Ihrem Antrag auch nicht ein einziges
gern wollen. Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten konse- Mal – und das wohl aus gutem Grund – Bezug darauf
quent und aufrichtig Ihre Positionen vertreten. genommen, wie das Ganze in die Verfassung der Bun-
desrepublik Deutschland hineingekommen ist. Sie sa-
Wir werden Ihren Antrag ablehnen. gen, es sei eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, dass
die Kirchen ihre Tätigkeit im erzieherischen und sozia-
Vielen Dank. len Bereich theologisch herleiteten. So haben Sie es in
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihrem Antrag zumindest suggeriert. Dazu sage ich: Das
haben Sie nicht zu beurteilen. Wenn die Kirchen das
theologisch herleiten, dann leiten die Kirchen das theo-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: logisch her, und das hat der Staat zu akzeptieren. Da
Der Kollege Josef Winkler hat das Wort für kann sich die Linksfraktion hier im Bundestag ruhig auf
Bündnis 90/Die Grünen. den Kopf stellen. Die Linksfraktionen in den Bundeslän-
12372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europäische Forschungsförderung in den
Dienst der sozialen und ökologischen Er-
Gleichzeitig – das möchte ich auch deutlich unterstrei- neuerung stellen
chen – ist dieses verfassungsrechtlich gebotene Entge-
– Drucksachen 17/5492, 17/5449, 17/5386,
genkommen auch eine Verpflichtung für die Kirchen,
17/5802 –
entsprechend als Vorbild zu handeln. Überall dort, wo
das nicht der Fall ist, muss sich die Kirche selber fragen, Berichterstattung:
ob sie dieses Arbeitsrecht dann in Anspruch nehmen Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
kann. René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Ich sage für die Christlich-Soziale und die Christlich-
Dr. Petra Sitte
Demokratische Union: Wir wollen ein ausgewogenes
Krista Sager
christliches, kirchliches Arbeitsrecht auch in einer profa-
neren Zukunft. Ich sage allen ein herzliches „Vergelts Es ist vorgesehen, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
Gott!“, die in kirchlichen Einrichtungen ihren Dienst debattieren. – Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen
tun. Wir stehen weiter zu ihnen. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Herzlichen Dank. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun-
desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rachel.
Ottmar Schreiner [SPD]: Wir sind hier nicht
im Festzelt!)
Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun-
desministerin für Bildung und Forschung:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Ich schließe die Aussprache. Kollegen! Die Europäische Union ist ein großer Frie-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dens- und Freiheitsraum. Europa ist ein großer Binnen-
(B) Drucksache 17/5523 an die Ausschüsse vorgeschlagen, markt für Waren und Dienstleistungen. Europa ist der (D)
die Sie in der Tagesordnung finden. Die Federführung uns verbindende Kulturraum, der die Vergangenheit und
soll beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen. Sind die Zukunft prägen wird. Europa muss aber auch ein
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Raum für Forschung und Innovation sein. Deshalb hat
Überweisung so beschlossen. die Bundesregierung sehr frühzeitig damit begonnen,
sich an der Diskussion über die Fortentwicklung des
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf: 8. Forschungsrahmenprogramms mit eigenen program-
matischen Vorstellungen zu beteiligen.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Mit ihrem Grünbuch hat die Europäische Kommission
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu Beginn dieses Jahres die Debatte darüber angestoßen,
wie Forschung und Innovation in einem gemeinsamen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Stefan strategischen Rahmen zu einem stärker wissensbasierten
Kaufmann, Dr. Heinz Riesenhuber, Albert und nachhaltigen Wachstum beitragen können. Die Bun-
Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter desregierung befürwortet diesen integrativen Ansatz, den
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- wir auch in der Hightech-Strategie der Bundesregierung
geordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), vertreten, und setzt auf einheitliche Fördermodalitäten.
Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weite- Sie will, dass wir keine starren, sondern flexible Regelun-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen bekommen, um neue Chancen und Herausforderun-
Gestaltung der zukünftigen europäischen gen in einem kontinuierlichen Prozess aufgreifen zu kön-
Forschungsförderung der EU (2014-2020) nen.
– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Ich freue mich, dass sich die im Bundestag vertrete-
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter nen Fraktionen über die herausragende Bedeutung von
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- Forschung und Entwicklung einig sind. Ich sehe viele
tion SPD sowie der Abgeordneten Krista Sager, Parallelen in den Anträgen der Fraktionen, zum Beispiel
Sylvia Kotting-Uhl, Birgitt Bender, weiterer in der Fokussierung auf die großen gesellschaftlichen
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Herausforderungen, in dem klaren Bekenntnis zum Vor-
DIE GRÜNEN rang der Verbundforschung als dem Kernstück der euro-
päischen Forschungsförderung sowie in der Forderung
Stärkung des Europäischen Forschungs- nach einer deutlichen Vereinfachung der Förderverfah-
raums – Die Vorbereitung für das 8. For- ren. Gerade in dieser Vereinfachung entscheidet sich die
12374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
René Röspel
(A) Ich will Ihnen sagen, warum diese Abkehr einen rich- Vizepräsident Eduard Oswald: (C)
tig großen Fehler darstellt. Ich will zwei Beispiele nen- Wir danken Ihnen, Herr Kollege. – Als Nächster
nen. spricht für die FDP-Fraktion unser Kollege Professor
Dr. Martin Neumann. Bitte schön, Kollege Neumann,
Erstes Beispiel. Wenn Sie Exzellenz als wichtiges Sie haben das Wort.
Kriterium sehen, aber Marktrelevanz berücksichtigen,
dann setzen Sie das Ziel, dass das Forschungsrahmen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
programm einen Beitrag zur, wie Sie sagen, wirtschaftli-
chen Wettbewerbsfähigkeit leisten soll. Wir allerdings Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):
sehen – so habe ich die Leitlinien der Bundesregierung Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
und auch die Europäische Kommission und das Parla- Kollegen! Die zentrale Frage, die sich hier im Saal stellt,
ment verstanden – das Forschungsrahmenprogramm als ist die Frage nach den Merkmalen des weiteren Ausbaus
einen Beitrag, die großen Herausforderungen unserer des Europäischen Forschungsraums. Wenn man sich die
Gesellschaft zu bewältigen: Klima, Energie, Umwelt- Anträge anschaut – wir haben ja gestern im Ausschuss
schutz, Gesundheit, demografische Veränderung und Al- sehr ausführlich darüber gesprochen –, dann stellt man
ter. Es ist also die Frage zu stellen, was wir tun und wie fest, dass wir in der Tat recht dicht beieinanderliegen,
wir forschen müssen, damit Menschen gesünder leben einmal abgesehen vom Antrag der Linken. Dazu gibt es
und damit sie im Alter länger fit bleiben. tatsächlich deutliche Differenzen.
Ich will an dieser Stelle einen ganz wichtigen Punkt
Das alles kann dazu führen, dass dabei marktrelevante
hervorheben: Wir haben ein unterschiedliches Verständ-
Produkte herauskommen. Aber das ist nicht das Kernziel.
nis von der Zielstellung. Wir wollen mit unserem Antrag
Das kann nach unserer Auffassung auch dazu führen, dass
nicht erreichen, dass es ein europäisches Forschungssys-
Sozial- und Geisteswissenschaften stärker berücksichtigt tem gibt, sondern wir wollen einen gemeinsamen Euro-
werden und nicht nur technologische Forschung betrie- päischen Forschungsraum definieren. Das ist ein ganz
ben wird. Sie erreichen also das Ziel, das wir verfolgen, gravierender Unterschied. Worin besteht der Unter-
nämlich die großen Herausforderungen in den Bereichen schied? Wir wollen, dass die Mitgliedstaaten, also auch
Gesundheit und Umwelt anzunehmen, überhaupt nicht, wir und damit unser Forschungsstandort Deutschland,
wenn Sie Marktrelevanz als zusätzliches Kriterium ein- selbst für die Leistungsfähigkeit der nationalen For-
führen. schungssysteme Verantwortung übernehmen. Das heißt,
wir wollen primär in den nationalen Forschungssystemen
Zweites Beispiel. Wenn, wie Sie schreiben, vor jeder die Schwerpunktsetzung, die Gestaltung der Forschungs-
(B) Förderung eines Forschungsprojektes die Marktrelevanz infrastruktur, die Förderung von wissenschaftlichem (D)
geprüft werden muss, bedeutet das den Tod von Grund- Nachwuchs und – das ist ganz wichtig und wird auch im-
lagenforschung. mer wieder angesprochen – die Partizipation von Frauen
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem in der Wissenschaft vornehmen. Das Forschungsrahmen-
programm der EU ist also als gemeinsame Initiative ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dacht, unter dessen Dach die Koordinierung und Verzah-
Bei Grundlagenforschung kann Marktrelevanz nämlich nung der jeweiligen nationalen Forschungsstandorte und
nicht nachgewiesen werden. Auch bei Forschung im Ge- -strukturen stattfindet.
sundheitsbereich, bei der es ja darum geht, die Situation Ein weiterer Punkt ist ganz deutlich hervorzuheben:
von Menschen zu verbessern, weiß man nicht, ob am Bei den Veranstaltungen in Brüssel, die wir gemeinsam
Ende ein marktrelevantes Produkt herauskommt. Ich besucht haben, haben wir festgestellt, dass die Vereinfa-
finde – das war vielleicht der Grund, warum der Rede- chung ein ganz wichtiges Kriterium ist. Viele Partner,
beitrag der Bundesregierung gleich am Anfang kam –, die sich an diesen Programmen beteiligen wollen, stöh-
dass Sie vom Exzellenzprinzip tatsächlich in einer fal- nen nämlich immer wieder darüber, dass alles sehr
schen Weise Abschied nehmen. Das bedauern wir sehr. schwierig ist. Wenn man schon weiß, dass das For-
schungsrahmenprogramm sehr schwierig ausgestaltet
Einen weiteren Differenzpunkt möchte ich noch ab- ist, dann darf man die Programme nicht noch weiter
schließend nennen – meine Redezeit läuft ab –: Wir glau- überladen. Das genau tun Sie aber, wenn Sie fordern,
ben, dass die geforderte Energiewende es nötig macht, dass weitere Dinge aufgenommen werden, zum Beispiel
auf europäischer Ebene über Veränderungen bei der For- das Kriterium der Forschungsstrukturförderung für ex-
schungsförderung im Energiebereich nachzudenken, und zellenzschwache Regionen bei der Vergabe von Förder-
zwar hin zu mehr Klimaforschung und zur Erforschung mitteln. Wir wollen nicht – das will ich hervorheben,
von erneuerbaren Energien und von Energieeffizienz. Da- weil es für uns wichtig ist –, dass die Kohäsionspolitik
mit können wir die großen Herausforderungen, vor denen entscheidend bei der Vergabe von Fördermitteln sein
sich Europa und Deutschland gestellt sehen, auch besser soll.
angehen.
Wir haben gestern im Ausschuss sehr ausführlich da-
Vielen Dank. rüber gesprochen, dass für die Kohäsionspolitik in Eu-
ropa eine Vielzahl von Instrumenten und Fördermitteln
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem vorgesehen ist, die dann natürlich auch von den jeweili-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen Ländern für die Förderung der Forschungsinfra-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12377
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
(A) struktur verwendet werden können. Ich möchte deshalb haben. Dabei sind das Exzellenzkriterium und die (C)
nochmals ganz deutlich auf den Kohäsionsfonds hinwei- Marktrelevanz entscheidend und zentral, und nur unter
sen, der ausreichend Mittel bereithält, um exzellenz- Berücksichtigung dieser Kriterien hätte möglicherweise
schwache nationale Forschungssysteme besser aufzu- ein konsensfähiger Antrag entstehen können.
stellen und leistungsfähiger zu machen. Dieser Punkt ist
Wir haben einen konsistenten Antrag vorgelegt und
für uns sehr wichtig, und ihn möchten wir an dieser
die Gründe genannt, warum wir Ihre Anträge ablehnen
Stelle sehr deutlich hervorheben. Nur so ist es nach un-
werden. Wenn Ihnen an einem politischen Signal in
serer Auffassung möglich, dass der Europäische For-
Richtung Europa gelegen ist, wie Sie es im Ausschuss
schungsrat auch in Zukunft Erfolge und hervorragende
geäußert haben, lade ich Sie sehr herzlich ein, sich unse-
Leistungen erzielt. rem Antrag anzuschließen.
In der gestrigen Ausschusssitzung ist von Ihnen, Frau
(René Röspel [SPD]: Umgekehrt wäre es auch
Sager, und gerade auch von Herrn Röspel das Kriterium
möglich!)
der Marktrelevanz als Widerspruch dargestellt worden.
Wir finden, dass sich dieses Kriterium in den Zusam- Ich bedanke mich.
menhang der Verbundforschung einfügt und dass es kein
Widerspruch ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wollen, dass in der Forschung – das muss man an dieser
Stelle noch einmal deutlich sagen; Staatssekretär Rachel Vizepräsident Eduard Oswald:
hat es ebenfalls hervorgehoben – ausschließlich das Ex- Vielen Dank, Herr Kollege Professor Neumann. –
zellenzkriterium gilt, während bei der Entwicklung die Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Marktrelevanz neben der Exzellenz berücksichtigt wer- Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Sitte.
den muss. Das Kriterium der Marktrelevanz steht also
aus unserer Sicht in keinem Widerspruch zu den anderen (Beifall bei der LINKEN)
Kriterien, sondern trägt vor dem Hintergrund der Europa-
2020-Strategie zu der Schaffung der internationalen Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Wettbewerbsfähigkeit mittels wirtschaftlicher Innova- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann,
tion bei. glaube ich, mit meinem Beitrag sehr gut an die Rede von
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herrn Röspel anschließen. Die Diskussionen um das
8. Forschungsrahmenprogramm fallen immerhin in eine
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak- Zeit, da sich existenzielle Fragen der Zukunft in einer
tion, Sie meinen, wir müssten auch im Forschungsrah- völlig neuen Schärfe stellen. Ob Finanzkrise, Klimawan-
(B) menprogramm berücksichtigen, wie man schwächere del oder Fukushima – Störfälle und Krisen schrecken die (D)
Partner einbeziehen kann. Das war, glaube ich, der Kern Menschen in der gesamten Welt auf. Es hat sich in dieser
Ihrer Ausführungen. In dem bilateralen Twinning-Pro- Situation gezeigt, dass weder Politik noch Wissenschaft
gramm werden Fördermittel an exzellenzstarke Partner zuverlässige Voraussagen und Handlungsoptionen zur
vergeben, die dann innerhalb des Programms schwä- Beherrschung solch komplexer Systeme für Szenarien
chere Partner und Regionen mitnehmen, sodass die des Zusammenbruchs bieten konnten. Tausende Opfer
schwächeren Partner durch die Kooperation wachsen heute und in der Zukunft sowie unabsehbare Folgen und
können. Vielleicht ist das Twinning-Programm somit Kosten für die menschliche Gemeinschaft erfordern von
auch die Antwort auf Ihre Frage, wie man die struktur- uns einen anderen Umgang mit entgrenzten Risiken. Es
schwachen Regionen besser fördern und sie möglicher- kann hier also niemand mehr so tun, als hätten Wissen-
weise in die Entwicklung mit einbeziehen kann. schafts- und Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund die-
Der Gedanke der Kooperation und Partnerschaft ser Ereignisse kein massives Legitimationsproblem. Viel
steckt nicht nur – das ist ein ganz wichtiger Punkt – in zu groß ist der Vertrauensverlust.
dem bilateralen Twinning-Programm. Ich möchte hier Wissenschaft und Wirtschaft müssen Fragen einer zu-
einen weiteren Schwerpunkt nennen, der diesen Gedan- tiefst verunsicherten und kritischen Öffentlichkeit in ei-
ken beinhaltet, nämlich die Verbundforschung, die ins- ner ganz neuen Dimension und Konsequenz beantwor-
besondere die Zusammenarbeit von Hochschulen, For- ten. Vor diesem Hintergrund muss der bisherige Fort-
schungseinrichtungen und der Wirtschaft, vor allem mit schrittskonsens neu diskutiert werden.
den kleinen und mittleren Unternehmen, anstrebt.
(Beifall bei der LINKEN)
Genau diese Kooperationen sind nach meiner persön-
lichen Überzeugung Innovationstreiber für den europäi- Risikoforscher sprechen von einer weltweiten Gemein-
schen Markt. Deshalb benötigen diese Projekte unsere samkeit der Gefahr. Als Fazit formulieren sie die politi-
politische Rückendeckung. sche Vision: Kooperiere oder scheitere! Das deckt sich
zu 100 Prozent mit den Positionen der Linken. Im Um-
Zu Beginn ist hier die Frage gestellt worden, warum kehrschluss heißt doch Ihre Position zur Marktrelevanz
wir keinen gemeinsamen Antrag gestellt haben. Ich habe der Forschung nichts anderes als: Konkurriere und schei-
gerade auf die wesentlichen Unterschiede hingewiesen. tere! Unser Antrag trägt deshalb die Überschrift „Euro-
Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass es nicht päische Forschungsförderung in den Dienst der sozialen
sein kann, dass wir unserer Bundesregierung für diese und ökologischen Erneuerung stellen“.
Diskussion in Europa einen Minimalkonsens an die
Hand geben. Vielmehr wollen wir einen starken Antrag (Beifall bei der LINKEN)
12378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Vizepräsident Eduard Oswald: Zweitens muss die Exzellenz – das wurde mehrmals (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin Krista Sager. – Jetzt für angesprochen – das wichtigste Kriterium bei der Ver-
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Stefan gabe von Fördermitteln sein. Kohäsionsziele dürfen bei
Kaufmann. der Forschungs- und Innovationsförderung keine Rolle
spielen. Bei der Forschung kann es nur um einen Wett-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bewerb zwischen Spitzenleistungen und Spitzenfor-
schung gehen. Forschungsmittel nach Regionen zu
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): verteilen oder eine Nivellierung in Europa bei der For-
schung anzustreben, kann und darf nicht unser Ziel sein.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Aufbau von Exzellenz in strukturschwachen Regio-
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden An- nen sollte einzig aus Mitteln der Kohäsionspolitik, das
trag der Koalitionsfraktionen präsentieren wir der EU- heißt über die Strukturfonds, finanziert werden.
Kommission die Vorstellungen des Bundestages zur
Ausgestaltung der künftigen EU-Forschungsförderung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diese Stellungnahme erfolgt ganz bewusst – das muss
man auch einmal sagen – im Rahmen des nächste Woche Die EU-Finanzmittel im Bereich der Kohäsionspoli-
zu Ende gehenden Konsultationsprozesses. In den An- tik sind mehr als sechsmal so hoch wie jene für die For-
trag sind im Übrigen zentrale Forderungen der deutschen schungsförderung. Diese Strukturfondsmittel müssen
Forschungsorganisationen eingeflossen. Dies bestätigt derzeit zu mindestens 10 Prozent für Forschung ausge-
auch das am 16. April vorgelegte Papier der Allianz der geben werden. Dementsprechend stehen ganz erhebliche
Wissenschaftsorganisationen, der ich an dieser Stelle Summen für strukturschwache Mitgliedstaaten bereit,
ausdrücklich für ihre konstruktive Unterstützung bei die- um eine exzellente Forschungsinfrastruktur aufzubauen.
sem Prozess danken möchte. Ein ganz erfolgreiches Beispiel ist das ELI-Projekt, Ex-
treme Light Infrastructure. Das ist ein Laser-Infrastruk-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tur-Projekt, das sich momentan in Tschechien, Ungarn
und Rumänien im Aufbau befindet. Ein vierter Standort
Der Schwerpunkt des Nachfolgeprogramms zum wird gesucht. Hier wird eine gigantische Investition von
7. FRP wird weiterhin deutlich auf der Forschung liegen. mehr als 700 Millionen Euro aus den Strukturfonds
Doch begrüßen wir den im Grünbuch dargestellten koor- finanziert. Das ist ein hervorragendes Beispiel, wie
dinierten Ansatz der Kommission von Forschung und durch Kohäsionsmittel Spitzenforschung in den neuen
Innovation. Das ist ein neuer Ansatz; denn damit kann Mitgliedstaaten geschaffen werden kann. Die besten
die gesamte Wertschöpfungskette von der Grundlagen- Wissenschaftler dieser Disziplin werden dorthin folgen
forschung bis zur Markteinführung aus einem Programm und weitere exzellente Forschungsbereiche aufbauen. (D)
(B)
gefördert werden. Es werden deutliche Synergieeffekte Das ist der Weg, den Staatssekretär Rachel hier beschrie-
erreicht. Dies dient letztlich der Stärkung der europäi- ben hat: mithilfe der Strukturfonds Brücken für die
schen Wettbewerbsfähigkeit. Dort, Herr Kollege Röspel, neuen oder für strukturschwache Mitgliedstaaten bauen.
spielt dann auch das Kriterium Marktrelevanz eine Nur dann können wir den europäischen Forschungsraum
Rolle. Das ist also kein Widerspruch. insgesamt stärken.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Was das Ganze mit Marktradikalität zu tun hat, Frau Dem gleichen Ziel dient das von uns vorgeschlagene
Kollegin Sitte, vermag ich nicht zu erkennen. Twinning-Programm. Hier können echte Win-win-Situa-
tionen geschaffen werden, die ganz Europa stärken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Drittens treten wir – das ist bereits deutlich gewor-
Ziel muss es sein, das künftige Rahmenprogramm so den – für eine deutliche Erhöhung des Etats des Europäi-
auszugestalten, dass Europa seine Spitzenstellung im schen Forschungsrates ein. „Deutlich“ heißt – ich will
Bereich Forschung und Innovation beibehält und aus- das einmal benennen – mindestens Verdoppelung, besser
baut. Das ist kein Selbstläufer. Darin liegt die große He- eine Verdreifachung der Mittel.
rausforderung für die EU in den beginnenden Etatbera-
tungen. (René Röspel [SPD]: Oha!)
Wichtigste Forderung in unserer Stellungnahme ist Der Europäische Forschungsrat wurde der Deutschen
daher der Ruf nach einer deutlichen Erhöhung der Mittel Forschungsgemeinschaft nachempfunden und ist in we-
für die zukünftige Forschungsförderung. Ohne eine nigen Jahren zu einer europäischen Forschungsmarke
deutliche Mittelerhöhung sind die ambitionierten Ziele geworden.
der Strategie „Europa 2020“ nicht zu erreichen. Folglich Viertens setzen wir uns für die Fortführung der Verbund-
hat der Industrieausschuss des Europaparlaments bereits forschung auf hohem Niveau ein. Die Verbundforschung
einstimmig eine knappe Verdoppelung der Mittel des muss auch zukünftig Kernstück der Forschungsförderung
7. FRP auf zukünftig 100 Milliarden Euro gefordert. sein. Auch hier muss die Exzellenz ausschlaggebend
Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Finanzierung sein. Die Marktrelevanz soll zukünftig aber gerade bei
der Großprojekte ITER und Galileo im Forschungsrah- der Verbundforschung stärker berücksichtigt werden.
menprogramm verbleibt und nicht über einen eigenen
Haushaltstitel erfolgen wird. (René Röspel [SPD]: Was denn jetzt?)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12381
Dr. Stefan Kaufmann
(A) Weitere wichtige Forderungen in unserem Antrag Ansätze zur Zukunft der europäischen Forschungsförde- (C)
sind die finanzielle Aufstockung der Marie-Curie-Maß- rung verfolgen. Wir alle sind uns darin einig, dass der
nahmen, die Vereinfachung der Antragsverfahren, kla- Stellenwert von Forschung und Entwicklung stetig
rere Strukturen bei den Instrumenten und eine bessere wächst, und wir alle gehen davon aus, dass wirtschaftli-
Vernetzung der Maßnahmen der EU einerseits und der ches Wachstum, sichere Arbeitsplätze und nachhaltiger
Mitgliedstaaten andererseits. Bei der Vereinfachung der Wohlstand vor allem von wachsendem Wissen und Inno-
Antragsverfahren ist die Kommission bereits vorausge- vationen abhängen.
gangen. Sie hat im Januar Sofortmaßnahmen eingeleitet,
Europa soll ein Forschungsraum sein, in dem intelli-
die unseres Erachtens allerdings nicht ausreichen, um
gente Lösungen für soziale und technische Probleme ge-
vor allem kleinen und mittleren Unternehmen die Bean-
funden werden, ein Forschungsraum, in dem Wissen-
tragung von Fördermitteln schmackhaft zu machen. Die
schaftler mobil und unter besten Bedingungen arbeiten,
Antragsbearbeitungszeiten müssen deutlich verkürzt
ein Forschungsraum, in dem sich auch kleine und mitt-
werden. Als hervorragendes Beispiel dient das KMU-
lere Unternehmen in Forschungsprojekte einbringen
Programm „Eurostars“.
können.
Was wollen die Oppositionsfraktionen? Der Antrag
(Beifall bei der SPD)
der Linken weist deutliche Unterschiede zu unserem auf.
Sie wollen in der Tat – das haben Sie hier nicht bestritten – Deshalb brauchen wir gut durchdachte Förderstrukturen.
das Exzellenzkriterium aufweichen. Sie wollen die Mit- Das gilt national, aber auch innerhalb der Europäischen
tel aus dem Forschungsrahmenprogramm nach Kohä- Union. „Gut durchdacht“ heißt einerseits, Schwerpunkte
sionsgesichtspunkten verteilen. Damit würden Sie den zu setzen. Wir meinen damit die Suche nach Antworten
allermeisten deutschen Forschungseinrichtungen einen auf die großen Fragen unserer Zeit. Wie wir heute schon
Bärendienst erweisen. Wir müssen die Diskussion über hörten, sind das zum Beispiel die Energiewende, der Kli-
die Forschungsinfrastrukturen in den neuen und in den mawandel und vor allen Dingen die vielschichtigen
strukturschwachen Mitgliedstaaten führen, aber nicht in sozialen Herausforderungen. Das heißt, europäische For-
vorauseilendem Gehorsam und nicht zulasten der Spit- schungsförderung darf nicht nur auf technische Neue-
zenforschung in Ostdeutschland. rungen, mehr Patente oder größeren Absatz von High-
techprodukten abzielen, sondern wir brauchen auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erkenntnisse im sozialwissenschaftlichen Bereich.
Mit einiger Freude habe ich den Antrag von Rot-Grün (Beifall bei der SPD)
zur Kenntnis genommen; auch das darf ich sagen, Frau
Kollegin Sager und Herr Kollege Röspel. In der Tat Auf der anderen Seite müssen sich die steigende Be-
(B) stimmen unsere Forderungen weitgehend überein. Ihr deutung von Forschung und Entwicklung sowie die an- (D)
Vorschlag, strukturschwache Mitgliedstaaten durch den dauernden Rufe nach mehr Innovationen auch in der
Ausbau von Wissenschaftlerstipendien besser zu beteili- Finanzplanung der EU widerspiegeln. Schaut man sich
gen, ist zwar gut, jedoch aus unserer Sicht nicht nachhal- die finanzielle Ausstattung der Forschungsrahmenpro-
tig genug. In der Summe werten wir Ihren Antrag als gramme der EU an, fällt zunächst auf, dass in den
wichtiges Zeichen der Geschlossenheit in der Sache. vergangenen Jahren durchaus immer mehr Geld bereit-
gestellt worden ist. Das Volumen des 7. Forschungsrah-
Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem Antrag und menprogramms ist im Vergleich zu seinem Vorgänger-
den darin enthaltenen umfassenden und konkreten Vor- programm verdreifacht worden. Das ist auf den ersten
schlägen zur künftigen Ausgestaltung der Forschungs- Blick beachtlich; aber in der Relation zu den Agraraus-
und Innovationsförderung in Europa einen konstruktiven gaben der EU entspricht das Finanzvolumen für Wissen,
Beitrag zum Konsultationsprozess leisten. Lassen Sie Forschung und Innovation keinesfalls unseren Vorstel-
uns ein starkes Signal des Deutschen Bundestages nach lungen.
Brüssel senden. Ich lade Sie herzlich ein, zuzustimmen.
(Beifall bei der SPD)
Herzlichen Dank.
Wir fordern in unserem Antrag eine größere finanzielle
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gewichtung des Forschungsbereichs. Hier stimmen wir
mit den Koalitionsfraktionen überein.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen
Sie haben rechtzeitig aufgehört; sonst wäre das starke entstehen aber nicht allein durch Investitionen in For-
Signal des Präsidenten gekommen. Vielen Dank, Kol- schungseinrichtungen oder Großprojekte. Innovationen
lege Dr. Kaufmann. – Jetzt für die Fraktion der Sozialde- setzen auch eine gute allgemeine sowie berufliche Bil-
mokraten unser Kollege Michael Gerdes. Bitte schön, dung, lebenslanges Lernen, soziale Kompetenzen und
Kollege Michael Gerdes. umfassende Infrastrukturen voraus. In dieser Hinsicht
(Beifall bei der SPD) gibt es noch erhebliche Unterschiede zwischen den ein-
zelnen Mitgliedstaaten der EU.
Michael Gerdes (SPD): Die europäische Forschungspolitik steht vor der gro-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gest- ßen Herausforderung, innovationsstarke und innova-
rige Ausschusssitzung und die heutige Debatte zeigen, tionsschwache Mitgliedstaaten zu koordinieren. Auf-
dass die hier vertretenen Fraktionen durchaus ähnliche grund der unterschiedlichen Ausprägung der Bildungs-
12382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Michael Gerdes
(A) und Forschungslandschaft macht es durchaus Sinn, For- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C)
schungspolitik und Strukturpolitik miteinander zu ver- René Röspel [SPD]: Oder umgekehrt!)
knüpfen. Exzellenz- und Spitzenforschung sind dringend
notwendig; dazu nimmt der Antrag von Rot-Grün aus- Freunde, wenn ich hier versuche, die Differenzen zu be-
drücklich Stellung. Andererseits müssen aber auch struk- greifen, dann wird es für mich intellektuell schwierig. Es
turschwache Regionen die Chance haben, gute Ideen ist eine Stärke unserer Forschungspolitik, dass wir sie
hervorzubringen und davon zu profitieren. Herr Staats- – auch über wechselnde Regierungen hinweg – dank der
sekretär Rachel, wir haben keine Angst. Exzellente For- Übereinstimmung in den wichtigen Fragen gemeinsam
schung und Kohäsion müssen sich aus meiner Sicht vorangebracht haben.
nicht ausschließen. Eine Forschungspolitik, die sich Jetzt gibt es zusätzlich zu unserer nationalen For-
allerdings ausschließlich auf Spitzenforschung und Ex- schungspolitik die europäische Forschungspolitik. Die
zellenz konzentriert, würde das Wohlstandsgefälle inner- Ausgaben der europäischen Forschungspolitik bei uns
halb der EU sicherlich verschlimmern. Das ist ange- betragen etwa 2,5 Prozent der gesamten Forschungsmit-
sichts der bestehenden Unterschiede zwischen West- und tel in Deutschland pro Jahr. Das heißt, dass man die Mit-
Osteuropa politisch nicht wünschenswert. tel gezielt dort einsetzen muss, wo sie einen strategi-
Das Ziel der europäischen Forschungsförderung muss schen Zuwachs bewirken, wo sie etwas bewirken, das
heißen: Exzellenz auf der Grundlage von grenzüber- man national nicht erreichen kann. Manche der Forde-
schreitender Vernetzung und Interaktion. Die Stärke der rungen, die vorgebracht wurden, sind richtig, aber nicht
Forschungspolitik in der EU ist die Verbundforschung. unbedingt europäisch. Ich finde die Stärke der Geistes-
Diese muss in jedem Fall erhalten bleiben. wissenschaften, Orientierungswissen zu vermitteln und
nicht nur allgemein zu spekulieren, großartig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihr Beitrag kann gut sein, wenn es gelingt. Ob das in
einem europäischen Netzwerk besser aufgehoben ist als
Es geht um die Vermehrung von Wissen durch Koopera- im nationalen Netzwerk, bleibt abzuwarten. Wir alle
tion, es geht um das gegenseitige Lernen und um die Ar- aber wissen: Es gibt auch bei europäischen Programmen
beit an gemeinsamen Herausforderungen. geistes- und sozialwissenschaftliche Begleitforschung.
Herzlichen Dank. (René Röspel [SPD]: Wir wissen es nicht, kön-
nen es aber auch nicht ausschließen!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Wenn wir die Projekte anschauen, über die wir reden,
(B) GRÜNEN) dann sieht man, dass sie alle einen faszinierenden Mehr- (D)
wert haben. Sie haben das Ziel, eine europäische Wis-
sensgesellschaft zu schaffen. Sie sollen mit einer starken
Vizepräsident Eduard Oswald:
Wissenschaft neue Produkte, neue Problemlösungen,
Wir haben zu danken. – Als Nächster spricht für die neue Dienstleistungen für die Märkte und damit neue
Fraktion CDU/CSU unser Kollege Professor Dr. Heinz Arbeitsplätze in einer offenen und wettbewerbsstarken
Riesenhuber. Bitte schön, Herr Kollege. Welt dauerhaft sichern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Verbundforschung ist gepriesen worden. Wir ha-
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
ben eine sehr reife und komplexe Forschungspolitik in
Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Deutschland. Über die Jahrzehnte haben viele in glanz-
Damen! Liebe Kollegen! Über Europa kann man sich oft voller Weise dazu beigetragen. Was in der Verbundfor-
ärgern. Wir haben den Tag mit einer Debatte über die schung an Modellen bei uns erarbeitet wurde, ist heute
Probleme des Euro, über die Probleme Portugals und auch Teil der europäischen Programme. Das gilt zum
Griechenlands begonnen. Jetzt reden wir über etwas, das Beispiel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
für Europa eine glanzvolle gemeinsame Vision darstellt. zwischen Firmen, zwischen Wissenschaft und Unterneh-
Ich finde es beglückend, dass es hier ein so hohes Maß men, wie wir sie in den 80er-Jahren im Rahmen von
an Übereinstimmung im Bundestag gibt. EU REKA entwickelt haben. Die Verbundforschung ist
(René Röspel [SPD]: Das beglückt auch heute das Kernelement des 7. Forschungsrahmenpro-
mich!) gramms der EU.
Lieber Herr Röspel, wenn die Differenzen nicht groß Zu Recht ist auch auf die Kohäsionsmittel hingewie-
sind, hätte es eigentlich möglich sein sollen, einen ge- sen worden. Es sind nicht nur Mittel für Arme. Es gibt
meinsamen Antrag einzubringen. auch hier in Deutschland starke Bundesländer. Nord-
rhein-Westfalen hat seine Innovationswettbewerbe 2007
(René Röspel [SPD]: Völlig einverstanden! – bis 2013 mit weit über 600 Millionen Euro aus den Ko-
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE häsionsmitteln ausgerichtet. Freunde, nutzt das! Das
GRÜNEN]: Ach!) Geld ist da. Man muss es nur holen. Das ist eine Frage
der überlegenen wissenschaftlichen Intelligenz.
Es ist, wenn die Differenzen so gering sind, auch mög-
lich, dass Sie unserem Antrag zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12383
Dr. Heinz Riesenhuber
(A) Ich spreche nicht über den Nachwuchs. Europa kann des gehört nämlich zusammen. Hier spielt man ein ge- (C)
einen Beitrag dazu leisten, mehr Frauen in den wissen- meinsames Spiel.
schaftlichen Beruf und die jungen Leute in die MINT-
Fächer zu kriegen. Das ist eine der Aufgaben, die Europa Vizepräsident Eduard Oswald:
mit dem Marie-Curie-Programm angeht. Das ist aber Wir könnten Ihnen ewig zuhören.
auch eine Aufgabe nationaler Natur. Die kleineren und
mittleren Unternehmen müssen stärker in die europäi- (Zurufe von der CDU/CSU: Wir auch! –
sche Verbundforschung einbezogen werden. Wenn die Oh ja!)
Bearbeitungszeit von Förderanträgen, wie der Bundesrat
bemängelt, im Schnitt wirklich 400 Tage beträgt, dann Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
muss ich sagen: Da kann kein Unternehmen überleben. Dann tun Sie es.
Der, der damit zu arbeiten versucht, macht sich zu einem
Staatsunternehmen. Der kann alles andere auf dem (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und
Markt vergessen. Das heißt also: Hier müssen bessere
Strukturen hineingebracht werden, zum Beispiel durch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
die zweistufige Antragsstellung. Diese Strukturen müs-
sen handhabbar sein und in kurzen Zeiten zu Entschei- Vizepräsident Eduard Oswald:
dungen führen. Man muss der Erste am Markt sein. Man Das war mein erster Versuch, Kollege Riesenhuber.
darf nicht der Letzte sein, nur weil man auf den Bearbei-
ter gewartet hat. Dies ist ein wesentlicher Punkt. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
Hochverehrter Herr Präsident, –
Ich möchte noch weitere Aspekte nennen: Der ERP/
EIF-Dachfonds zur Förderung von Wagniskapitalinves-
titionen in deutsche Technologieunternehmen wurde Vizepräsident Eduard Oswald:
2004 mit 500 Millionen Euro aufgelegt und im Jahre Allein für diese Anrede gibt es ein bisschen Redezeit
2010 um weitere 500 Millionen Euro aufgestockt. Die obendrauf. Ich bitte Sie trotzdem, zu Ihrem Schlusssatz
Hälfte des Kapitals kommt vom European Investment zu kommen.
Fund, EIF. Wir unterstützen die Vernetzung der europäi-
schen Strukturen, damit wir eine starke Infrastruktur be- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
kommen. Ich möchte auch die Beratungsprogramme, die – ich weiß die Mahnung zu würdigen.
europäischen Netzwerke, das Enterprise Europe Net- (Vereinzelt Heiterkeit)
work und die Zusammenfassung der Beratungen zu
(B) möglichen Förderungsmöglichkeiten – nicht nur im Hin- Ich habe immerhin die Einleitung meiner Rede unterge- (D)
blick auf Programme, sondern auch im Hinblick auf bracht.
mögliche Partnerschaften – nennen. Ich darf zum Schluss betonen: Ich stimme denjenigen
All das ist eine komplexe Welt vielfältiger Möglich- zu, die darauf hinweisen, dass wir für eine Erhöhung der
keiten. Frau Sager, ich zähle auch ITER dazu; denn die Forschungsetats kämpfen müssen. Auf europäischer
Forschung ist nicht für heute, Forschung ist etwas für Ebene wollten wir bis 2010 bei den Forschungsausgaben
morgen. Wenn wir in den 80er-Jahren nicht mit Begeis- einen Anteil von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
terung die Windenergie vorangebracht hätten, könnten erreichen.
Sie heute Ihre Mühlen hier nicht bauen. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]:
Richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Derzeit liegen wir bei einem Anteil von 2 Prozent.
Das ist die Wahrheit. So werden wir heute am ITER ar-
beiten, damit in 30 Jahren glückliche Menschen sagen: (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]:
Frau Sager hat uns mit Leidenschaft unterstützt. Deshalb Richtig!)
kriegen wir Strom aus Kernfusion in einer Weise, die In Deutschland betragen die Forschungsausgaben inzwi-
umweltfreundlich und risikoarm ist. Daher werden wir schen 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenn in
Frau Sager ein bronzenes Denkmal auf den Marktplatz Europa durchschnittlich 3 Prozent erreicht werden sol-
stellen. len, dann muss Deutschland auf einen Anteil von
4 Prozent hinarbeiten. Nicht alle Länder werden sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gleich entwickeln können. Wir werden kämpfen müssen,
um dieses Ziel zu erreichen.
Hier entsteht große Vielfalt. Das gilt auch für Europas
Aktivitäten im Weltraum. Zum Beispiel wirkt man an Wenn wir es geschafft haben, dann haben wir aller-
der Strukturierung im Rahmen von Galileo mit. Ich dings alles: die Konzepte, die Strukturen, die nationalen
würde mich freuen, wenn man hernach damit beginnen Programme und den frohgemuten Unternehmungsgeist,
würde, auch die marktgängigen Betriebssysteme mit der insbesondere dem Deutschen Bundestag in glanzvol-
aufzubauen. Dass man sich an dieser Stelle beteiligt, ist ler Weise zu eigen ist. Wenn dieser fröhliche Unterneh-
gut. In der Raumfahrt muss man ein Zusammenspiel mungsgeist in die Wissenschaft, in die Wirtschaft und in
zwischen Europa und der ESA organisieren. Die starken die europäischen Strukturen ausstrahlt, dann werden wir
ESA-Strukturen müssen allerdings erhalten bleiben. Bei- einen Aufbruch erleben, der wichtiger als alle Strukturen
12384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Frank Schwabe
(A) Ich kann Ihnen Folgendes nicht ersparen: Wir werden Deut geringer geworden. Wir müssen beides unter einen (C)
wahrscheinlich von den Umweltpolitikern der Union Hut bekommen. Wir wollen auf der Grundlage eines
gleich wieder ein Plädoyer für das 30-Prozent-Ziel in- breitestmöglichen Konsenses einen schnelleren Verzicht
nerhalb der Europäischen Union hören, mit dem Hin- auf die Kernenergie verwirklichen. Aber gleichzeitig
weis darauf, dass es auch einen entsprechenden Be- dürfen wir keinen Deut bei den Klimazielen nachlassen.
schluss in ihren Reihen gibt; das ist löblich. Es gibt auch Wir müssen beim Klimaschutz weiter vorankommen.
ein großes Einvernehmen unter den Umweltpolitikern Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.
auf internationaler Ebene. Aber am Ende handelt es sich
um ein Muster ohne Wert, weil jetzt die Entscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
in der Europäischen Union anstehen. Jetzt entscheiden Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
das Europaparlament, die Kommission und der Europäi- NEN]: Werden Sie konkret!)
sche Rat. Genau jetzt ist die letzte Möglichkeit, ein kla- Wir wissen, dass die Herausforderung noch größer ist.
res Ziel vorzugeben. Aber diese Möglichkeit verpassen Bei der Erarbeitung eines Energiekonzepts, an der viele
Sie. beteiligt sind – die Fraktionen, die Regierung sowie die
Es gibt eine schöne Broschüre des Climate Action Ethikkommission unter Leitung von Herrn Professor
Network Europe, in der man alle Argumente nachlesen Töpfer und Herrn Professor Kleiner, über das viele ge-
kann. Dort lässt sich folgendes Zitat finden: sellschaftliche Debatten geführt werden –, geht es nicht
nur um ökologische, sondern auch um wirtschaftliche
Wir glauben, dass eine Erhöhung des Reduktions- Notwendigkeiten und soziale Belange. Das alles muss in
ziels auf 30 % für Europa der richtige Schritt ist. Es einem Konzept so zusammengefasst werden, dass wir
ist eine Politik zur Sicherung von Arbeitsplätzen am Ende die Überzeugung haben: Das ist ein gutes Mo-
und Wachstum, für Energiesicherheit und zur Ab- dell für Deutschland und gibt nicht nur in Deutschland,
wendung von Klimarisiken. Und vor allem ist es sondern auch in der Europäischen Union und auf inter-
eine Politik für Europas Zukunft. nationaler Ebene Impulse.
Dieses Zitat stammt vom Juli 2010, unterschrieben von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dr. Norbert Röttgen, dem deutschen Umweltminister. neten der FDP)
Umgesetzt ist leider nichts.
Wahr ist – der Kollege Schwabe hat es angesprochen –,
Ich appelliere an Sie, den Umweltminister nicht im dass wir Umweltpolitiker in der Union es für richtig hal-
Regen stehen zu lassen und endlich das Signal aus ten und wollen, dass die Europäische Union das nach-
Deutschland an die Europäische Union zu setzen: Wir vollzieht, was wir in Deutschland bereits beschlossen
sind für 30 Prozent. haben. Wir wollen in unserer Klimaschutzpolitik näm- (D)
(B)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich nicht darauf warten, was andere machen. Wir kön-
DIE GRÜNEN) nen nicht einfach sagen, wir würden ja Dinge umsetzen,
aber nur, wenn erst einmal andere vorangehen, sondern
Präsident Dr. Norbert Lammert: wir haben gesagt: Wir wollen unbedingt, egal was die
Das Wort hat der Kollege Andreas Jung für die CDU/ anderen machen, bis zum Jahr 2020 unsere Treibhaus-
CSU-Fraktion. gase um 40 Prozent reduzieren. Das ist der Beschluss der
Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dieser Punkt hat
auch die Unterstützung des gesamten Hauses.
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Die Konsequenz daraus, wenn wir das für uns für
ist die erste Debatte über Klimaschutz, die wir hier im richtig halten, ist, dass wir das dann auch in der Europäi-
Bundestag nach der Katastrophe von Fukushima führen. schen Union umsetzen wollen. Deshalb teilen wir die
Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg darüber Forderung, dass die Europäische Union ebenfalls unbe-
einig, dass man nach dieser Katastrophe in Japan nicht dingt ihr Ziel, gegenüber dem Jahr 1995 bis zum
einfach weitermachen kann, dass es kein Weiter-so ge- Jahr 2020 auf minus 30 Prozent zu kommen, festschrei-
ben kann, sondern dass es eine Neubewertung und teil- ben sollte.
weise eine Neupositionierung geben muss. Das ist das
Wahr ist, hierüber gibt es innerhalb der Koalitionspar-
eine.
teien und der Regierung eine Diskussion, so wie es sie in
Das andere ist: Beim Klimaschutz darf es kein Zu- ganz Europa gibt. Es haben sich bisher nur wenige Staa-
rückweichen geben. Klimaschutz muss die Priorität be- ten bereit erklärt, diesen Schritt zu gehen. Deshalb ist
halten, die die Bundesregierung, egal welche Fraktionen noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Diese Überzeu-
sie getragen haben, ihm immer beigemessen hat. Falsch gungsarbeit leisten wir in unseren Fraktionen, diese
wäre die Botschaft: Das wichtigste Ziel ist jetzt, so Überzeugungsarbeitet leistet Norbert Röttgen in der Re-
schnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen, gierung. Wir tun alles andere, als ihn im Regen stehen zu
und das Erreichen anderer Ziele wie der Klimaschutz- lassen. Wir unterstützen ihn auf diesem Weg. Norbert
ziele können wir hintanstellen; das hat nicht mehr die Röttgen wirbt gemeinsam mit den Umweltministern von
gleiche Priorität. – Das wäre grundfalsch. Nur weil uns Frankreich und Großbritannien für genau diesen Schritt.
die Katastrophe von Japan die Risiken der Kernenergie Wir wollen, dass er dabei Erfolg hat. Frank Schwabe hat
noch deutlicher vor Augen geführt hat, sind die Heraus- gesagt, er sei einer, der die Dinge nur ankündige, aber
forderungen und die Probleme des Klimaschutzes keinen nicht umsetzen könne. Aber die letzten Wochen zeigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12387
Andreas Jung (Konstanz)
(A) doch, dass es gerade aus Sicht der Umweltpolitik jetzt Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): (C)
möglich ist, Forderungen, die man schon länger erhoben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
hat, auch umzusetzen. Noch steht bei der Koalition nicht fest, wann wirklich
aus der Atomkraft ausgestiegen werden soll. Fest steht
(Ulrich Kelber [SPD]: Nachdem man im Oktober allerdings bereits, dass der Braunkohle ein neuer Früh-
das Gegenteil abgefeiert hat! 28. Oktober!) ling beschert werden soll, sollten die AKWs früher vom
Netz gehen. So jedenfalls könnte man das jüngste Ener-
Das werden wir beim Energiekonzept in den nächsten giepapier der CDU verstehen.
Wochen sehen. Davon sind wir überzeugt, und die Wei-
chen dafür sind gestellt. Ich bin guten Mutes, dass das Und ich frage mich: Braucht man für den Übergang
auch bei der Weichenstellung in Europa gelingt. tatsächlich mehr Braunkohleverstromung, und wie steht
es dann um die Klimaschutzziele? Wir, die Linke, mei-
Eines will ich aber schon zurückweisen. Mein Ein- nen, Deutschland kann sein Klimaschutzziel von 40 Pro-
druck ist nicht, dass es andere Regionen in der Welt gibt, zent Reduzierung bis zum Jahr 2020 trotzdem erreichen,
die uns bei den Anstrengungen für den Klimaschutz auch ohne Kernenergie und ohne zusätzliche Braun-
überholen, sondern mein Eindruck ist, dass unser Impuls kohle.
gebraucht wird, um andere mitzuziehen und anderen zu
zeigen: Wir gehen voran, und deshalb müsst auch ihr in (Beifall bei der LINKEN)
China, ihr in den USA und ihr in anderen Industriestaa- Das ist zunächst möglich, weil Deutschland seine Ex-
ten und in anderen Schwellenländern diesen Weg mit portüberschüsse im Strombereich zurückfahren kann,
uns gehen. Ich glaube, darum wird es in den nächsten seine Anlagen stilllegen kann. Außerdem wirkt hier der
Wochen gehen. Emissionshandel wunderbar regulierend. Der feste De-
ckel, die gesetzte Emissionsobergrenze, wird über teu-
Darum wird es auch auf dem Weg gehen, den wir jetzt rere Zertifikate zum einen dafür sorgen, dass die fossilen
nach Durban einschlagen. Wir reden auf der Grundlage Kraftwerke stärker auf Gas als auf die emissionsstärkste
der heute vorliegenden Anträge auch noch einmal über Energieform Kohle setzen müssen, zum anderen wird
die Frage: Was war das Ergebnis von Durban, und was die emissionshandelspflichtige Industrie mehr zu schul-
sind die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind? Wir tern haben. Dessen ungeachtet muss Deutschland end-
wissen, da haben wir bisher allenfalls die halbe Strecke lich mehr im Verkehrssektor tun. Beispielsweise muss
des Weges zurückgelegt. Cancún ist nicht zum Fiasko, der Zuwachs an Schwerlastverkehr gebremst werden.
nicht zur Niederlage, nicht zum Scherbenhaufen gewor-
den. Es ist aber gerade nur dieser Prozess gerettet wor- (Beifall bei der LINKEN)
(B) den. Diesen müssen wir jetzt zum Abschluss bringen. Es Nicht zuletzt geht es darum, einen Durchbruch in dem (D)
gibt viele Staaten, die noch nicht so weit sind, die diese Sektor der energetischen Gebäudesanierung zu schaffen.
Dinge nicht so konsequent angehen, wie wir das tun. Klar ist, dass es hier erheblich mehr Geld aus öffentli-
chen Kassen geben muss, als bislang vorgesehen. Sonst
Deshalb bleibt es das Ziel der Bundesregierung, mit stehen wir vor einer Mietenexplosion.
Unterstützung der Koalitionsfraktionen ein internationa-
les Abkommen hinzubekommen. Deshalb sind wir auch Der preiswerteste und umweltfreundlichste Strom ist
bereit, mit anderen Staaten ambitioniert voranzugehen, natürlich der, der nicht verbraucht wird. Darum muss
sind bereit, bei einzelnen Themen zusammenzuarbeiten, endlich ein Top-Runner-Programm zum Durchbruch
zum Beispiel beim Emissionshandel. Vor wenigen Wo- kommen, das dynamische Energieeffizienzstandards mit
chen ist es uns gelungen, hier wichtige Weichen zu stel- absoluten Verbrauchsobergrenzen für elektrische Geräte
len, indem wir die 100-prozentige Auktionierung durch- setzt.
gesetzt und damit den Druck auf die Kohlekraft (Beifall bei der LINKEN)
erheblich verstärkt haben, auch indem wir den Flugver-
kehr einbeziehen. Also noch mal: Top-Runner-Programm!
Wir meinen, von alledem muss das Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Einkommen
sollten beim Kauf stromsparender Geräte finanzielle Un-
internationalen Partner ausgehen: Wir wollen ein Ergeb-
terstützung erhalten. Wir halten das sozial und ökolo-
nis, wir wollen die Herausforderung Klimaschutz ge-
gisch für absolut sinnvoll.
meinsam angehen. Erfolg können wir nur international
und gemeinsam haben, und dafür arbeiten wir. (Beifall bei der LINKEN)
Herzlichen Dank. Natürlich wird die Energiewende auch sonst Geld kos-
ten. Machen wir uns nichts vor! Dann muss man natür-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich fragen: Wer bezahlt? Das interessiert ja die Bürge-
rinnen und Bürger.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Linke meint, den größten Brocken müssen die
Frau Kollegin Bulling-Schröter ist nun die nächste Energiekonzerne schultern; denn sie haben ja in den ver-
Rednerin für die Fraktion Die Linke. gangenen Jahren exorbitante Gewinne eingefahren, zig
Milliarden allein aus den Preiseffekten des Emissions-
(Beifall bei der LINKEN) handels, zudem aus ihrer Oligopolstellung.
12388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Eva Bulling-Schröter
(A) Wie kommt es sonst, dass die Stromrechnung für ei- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Ott für (C)
nen Durchschnittshaushalt zwischen 2000 und 2009 um die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
324 Euro jährlich stieg, dabei aber nur 40 Prozent dieser
Steigerung mit Umlagen für Erneuerbare, Kraft-Wärme- Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kopplung und Steuern erklärlich sind? Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) ren! Seit Anfang der Legislaturperiode, also seit mittler-
weile eineinhalb Jahren, fordert die gesamte Opposition
Offensichtlich resultieren 60 Prozent aus Monopolprofi-
im Bundestag, dass die EU ihr Klimaziel auf 30 Prozent
ten der marktbeherrschenden großen Vier. Das kann man
anhebt und dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.
beweisen, auch wenn Sie hier motzen. Solche leistungs-
los erzielten Extragewinne müssen beschnitten und kas- Diese Forderung ergibt sich aus drei sehr einfachen Er-
siert werden. wägungen:
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund Erstens. Soll die globale Erwärmung unterhalb von
[CDU/CSU]: Ja, kassiert, genau!) 2 Grad bleiben, dann müssen die Industriestaaten ihre
CO2-Emissionen massiv senken. Wenn wir länger war-
– Für den Staatshaushalt kassiert werden, klar. ten, dann wird es nicht nur teurer – es könnte völlig un-
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie im Sozia- möglich werden.
lismus!) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So ist
Dies kann beispielsweise durch eine deutliche Erhöhung es!)
der Brennelementesteuer geschehen. Damit könnten un-
Die Katastrophe eines kippenden Klimasystems muss
ter anderem Sozialtarife für einkommensschwache
Haushalte finanziert werden. unter allen Umständen verhindert werden.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Da bleibt noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
was übrig! Da könnte man sich noch was ein- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
fallen lassen!) LINKEN)
Wir fordern zudem die unverzügliche Wiedereinführung Zweitens. Ein globales Klimaabkommen wird auch
der Börsenaufsicht – das können Sie sofort unterstützen – dieses Jahr in Durban nicht abgeschlossen werden. Die
für den Spothandel im deutschen bzw. europäischen Glaubwürdigkeit der Industrieländer ist in den Ländern
Strommarkt und ein gesetzliches Verbot des Insiderhan- des Südens massiv erschüttert und sogar verloren gegan-
dels an Strombörsen. – Da müssten Sie von der CDU/ gen. Neues Vertrauen gewinnt die EU nur dadurch, dass
(B) CSU jetzt klatschen. sie als Vorreiterin vorangeht und deutlich macht, dass (D)
ein nachhaltiger Umbau der Wirtschaft möglich ist.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Warum eigent-
lich?) Drittens. Der Pfad zur solaren Wirtschaft macht näm-
Auch die angekündigte Markttransparenzstelle muss lich nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch
endlich ihre Arbeit aufnehmen. Sinn.
Unter dem Strich haben wir also genug finanzielle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reserven und regulatorische Handhabe, zusätzliche sowie bei Abgeordneten der SPD)
Emissionen und steigende Preise zu verhindern. Darum Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die ein-
lassen sich auch Atomausstieg und Klimaschutzziele ge- drucksvoll die wirtschaftlichen Vorteile eines höheren
meinsam bewältigen.
Reduktionsziels darlegen. Die jüngste Studie des Pots-
(Beifall bei der LINKEN) dam-Instituts für Klimafolgenforschung zusammen mit
der Universität Oxford zeigt: Bei einem Minderungsziel
Zum Schluss: Denken Sie daran, was der chinesische
Botschafter kürzlich zu Herrn Professor Schellnhuber von 30 Prozent würden die Investitionen in Europa von
vom WBGU sagte: Wenn es ein Land in der Welt gibt, das 18 auf bis zu 22 Prozent des Bruttosozialprodukts stei-
aus Atomkraft und Kohle zugleich aussteigen kann, ohne gen. Dadurch würden bis zu 6 Millionen neue Jobs ent-
an Wohlstand zu verlieren, dann ist das Deutschland. stehen. Das Bruttoinlandsprodukt würde sich um bis zu
620 Milliarden Euro erhöhen. Wer solche ökonomischen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Chancen leichtfertig vergibt, der soll fortan bei allen
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – wirtschaftlichen Diskussionen schweigen.
Ulrich Kelber [SPD]: Und Luxemburg! –
Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann schnell (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
weg aus Deutschland! Das geht schief, die sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Veranstaltung!) KEN)
Ich bin der festen Überzeugung, dass es Europas
Präsident Dr. Norbert Lammert: Pflicht und Chance ist, eine zweite industrielle Revolu-
Der Kollege Michael Kauch gibt seine Rede zu Proto- tion auf den Weg zu bringen. Diese neue, solare Revolu-
koll1). tion kann von Europa ausgehen, wenn wir es richtig ma-
chen, und dann zusammen mit den Menschen in Asien,
1) Anlage 7 Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent weiter-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12389
Dr. Hermann Ott
(A) entwickelt werden. Das Ganze kann sogar mit unseren (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Für die (C)
Freunden in den USA geschehen, wie ich hinzufügen Grünen!)
möchte. Ich bin als Klimapolitiker Berufsoptimist.
Herzlichen Dank.
Das kommende solare Zeitalter gibt uns die Chance, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eine Welt zu schaffen, die in hohem Maße menschenge- sowie bei Abgeordneten der SPD)
recht ist: weil sie dezentral organisiert werden kann, weil
sie nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Natur be-
ruht und weil einige der Hauptgründe für kriegerische Präsident Dr. Norbert Lammert:
Konflikte wegfallen. Denn Frieden auf der Welt ist nach Josef Göppel ist der letzte Redner zu diesem Tages-
unserer festen Überzeugung nur dann möglich, wenn ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
auch Frieden mit der Natur gemacht wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regie- Josef Göppel (CDU/CSU):
rungskoalition, eine solche Welt kommt nicht von allein. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Sie muss erarbeitet und erkämpft werden. Dazu gehören reden zum wiederholten Male über die Anhebung des
neben der Vision auch Mut und Durchhaltevermögen. europäischen Klimaschutzzieles. Der Deutsche Bundes-
tag hat sich über alle Fraktionen hinweg darauf verstän-
Der nach Fukushima von Bundeskanzlerin Merkel digt, dass Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2020
betriebene Atomausstieg reduziert bei einem entspre- um 40 Prozent reduziert. Ich sage ganz klar, Herr Kol-
chenden Ausbau der Erneuerbaren als Nebeneffekt auto- lege Ott: Ich erwarte als Abgeordneter der Koalition,
matisch den CO2-Ausstoß. Eine Stromversorgung aus dass sich alle Mitglieder der Bundesregierung dem Vor-
50 Prozent Erneuerbaren bis 2020 ist keine Utopie, son- stoß des Bundesumweltministers anschließen und jetzt
dern nach Ansicht von Fachleuten gut machbar, ebenso im Europäischen Rat für die Anhebung des europäischen
wie 100 Prozent Vollversorgung durch Erneuerbare bis Ziels eintreten.
zum Jahre 2030.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Warum bekommt der Bundesumweltminister dann SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
nicht die Unterstützung seiner eigenen Fraktion? Muss DIE GRÜNEN – Eva Bulling-Schröter [DIE
ich noch einmal daran erinnern? Ein von den Opposi- LINKE]: Die eigenen Leute klatschen nicht!)
tionsfraktionen im Umweltausschuss eingebrachter An-
(B) trag für ein 30-Prozent-Ziel der EU wurde von der Ko- Da wir bereits im Jahr 2011 eine Senkung um 17,3 Pro- (D)
alitionsmehrheit abgelehnt. zent erreicht haben, sind 20 Prozent bis zum Jahr 2020
nämlich kein glaubwürdiges Ziel mehr. Genau dieses
(René Röspel [SPD]: Hört! Hört!) Problem kennen ja alle, die an Klimaschutzverhandlun-
gen teilnehmen. Wenn sich die Europäische Union nicht
Herr Göppel, Kollege Jung, hier sitzen diejenigen, die bewegt, dann scheitert Durban. Das ist absehbar.
sich für einen solchen Antrag einsetzen; das ist völlig
klar. Aber in der Energiedebatte heute Morgen saßen (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
hier Fuchs, Pfeiffer und andere. Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
(Ulrich Kelber [SPD]: Man muss die Teufel
auch mal aufzählen!) Deshalb können wir in Bezug auf den Temperaturanstieg
auch nicht beim 2-Grad-Ziel bleiben. Das genau ist der
Das, was ich beschreibe, ist der Konflikt, den Sie inner- Punkt, um den es geht.
halb Ihrer eigenen Fraktion lösen müssen. Wo liegen aber die Hinderungsgründe? Natürlich ist
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist doch die Angst vorhanden, dass Europa mit einem höheren
kein Konflikt in den Personen, sondern in der Klimaschutzanspruch wirtschaftlichen Schaden nehmen
Sache!) würde.
Das Wirtschaftsministerium hat bei der Prognos AG
Unterstützen Sie Ihren Umweltminister! Haben Sie doch
und der GWS eine Studie in Auftrag gegeben – wie im-
keine Angst vor Ihrer eigenen Courage! Unterstützen Sie
mer für teures Geld. Sie haben festgestellt, dass die An-
das, was die Menschen in diesem Lande wollen, nämlich
hebung des Klimaschutzzieles auf 30 Prozent zu viele
eine saubere Energieversorgung und mehr Klimaschutz!
Nachteile für die europäische Wirtschaft mit sich brin-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen würde. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass es
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- schon in allen Ländern Steuererleichterungen für die
KEN) energieintensive Industrie gibt. Es wurde auch nicht be-
rücksichtigt, dass wir eine preisdämpfende Wirkung zu
Mit einer Lobbypolitik für die alten, fossilen Struktu- verzeichnen haben, wenn weniger Primärenergie aus
ren wird in Zukunft kein Staat mehr zu machen sein, und Drittländern eingekauft werden muss, und es wurde
– lassen Sie mich das anfügen – es werden auch keine nicht berücksichtigt, dass durch Klimaschutzinvestitio-
Wahlen mehr zu gewinnen sein. nen auch neues Wachstum generiert wird.
12390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Josef Göppel
(A) Deswegen ist die entscheidende Frage: Wie schätzen punkt 11 c geht es um die Beschlussempfehlung des Aus- (C)
wir das ein? Bringt eine Vorreiterrolle Nachteile, isoliert schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sie uns, oder bringt sie uns Vorteile? Die bisherigen wirt- zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
schaftlichen Erfahrungen unseres Landes auch auf dem dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
Sektor der erneuerbaren Energien sind doch eindeutig: ben“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
Mit einem energischen Vorangehen isolieren sich fehlung auf der Drucksache 17/4069, den Antrag der
Deutschland und Europa nicht, sondern setzen sich inter- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2485
national an die Spitze. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Auch
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 10:
Genau diese Spitzenposition wird unserem Land Vorteile Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
verschaffen. tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Mir hat gerade einer aus meiner Fraktion ins Ohr ge- Europäische Nachhaltigkeitsstrategie
flüstert: Wir wollen bezahlbare Strompreise. Der Mann
– Drucksache 17/5295 –
hat recht. Ich will auch bezahlbare Strompreise. Wir
werden aber sehen, dass in Zukunft nur noch saubere Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Stromquellen bezahlbar sein werden, weil die Folgekos- Innenausschuss
ten des Nichtstuns sehr viel höher als die Investitionen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
sind, die wir jetzt für den Klimaschutz brauchen. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
(Beifall im ganzen Hause) Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Technikfolgenabschätzung
der Drucksache 17/5231 an die in der Tagesordnung auf- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Ausschuss für Tourismus
einverstanden? – Das ist beruhigend. Dann ist die Über- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(B) weisung so beschlossen. Haushaltsausschuss (D)
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 b. Hier Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 17/5402. (Unruhe)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner – Das ist doch kein Grund, zu randalieren. Wenn diejeni-
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der gen, die an diesem Punkt nicht mehr teilnehmen wollen,
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3998 mit dem Titel unauffällig den Saal verlassen, finden diejenigen, die
„Vor Cancún – Mit Glaubwürdigkeit zu einem globalen dazu jetzt das Wort erhalten, umso ungeteiltere Auf-
Klimaschutzabkommen“. Wer stimmt für diese Be- merksamkeit. Darf ich vorher feststellen, dass es Einver-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- nehmen dazu gibt, dass die Aussprache eine halbe
hält sich? – Das Erste war die Mehrheit. Die Beschluss- Stunde dauern soll? – Das ist offenkundig der Fall. Dann
empfehlung ist angenommen. verfahren wir so.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Kollegen Tankred Schipanski für die CDU/CSU-Frak-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache tion das Wort.
17/4016 mit dem Titel „Internationaler Klimaschutz vor (Beifall bei der CDU/CSU)
Cancún – Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum
Ziel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
Tankred Schipanski (CDU/CSU):
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Mehrheiten
sind nicht unterschiedlich. Auch diese Beschlussempfeh- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lung ist mehrheitlich angenommen. Nach intensiven Beratungen in den letzten Monaten wer-
fen wir heute einen Blick über unsere nationale Nachhal-
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- tigkeitsstrategie hinaus auf die europäische Perspektive
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des nachhaltiger Entwicklung. Ich freue mich sehr, dass es
Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4529 gelungen ist, die Unterrichtung im fraktionsübergreifen-
mit dem Titel „EU-Klimaschutzziel erhöhen“. Wer den Konsens ohne Sondervoten einzelner Fraktionen im
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Beirat zu verabschieden. Dies unterstreicht noch einmal
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- den Ansatz, nachhaltige Entwicklung legislaturperioden-
lung ist ebenfalls angenommen. Bei dem Tagesordnungs- übergreifend und jenseits politischer Auseinandersetzun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12391
Tankred Schipanski
(A) gen zu begleiten. Allen, die hieran mitgewirkt haben, Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie enthält neben zahl- (C)
danke ich im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion reichen wichtigen und sinnvollen Indikatoren aber auch
sehr herzlich. einige, bei denen durchaus kritisch hinterfragt werden
sollte, ob diese Indikatoren uns wirklich weiterbringen.
Alois Glück, der ehemalige bayerische Landtagsprä- Hierzu gehört der Indikator „gute Staatsführung“. Si-
sident und Vordenker zum Thema Nachhaltigkeit, be- cherlich ist eine gute Staatsführung mit Blick auf eine
zeichnete das Prinzip der Nachhaltigkeit als den zentra-
nachhaltige Entwicklung wichtig. Allerdings ist die Be-
len Kompass, wenn wir einen guten Weg in die Zukunft wertungsgrundlage des Indikators bemerkenswert: Eine
gestalten wollen. Vertrauenserklärung gegenüber dem EU-Parlament von
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird dabei von zwei Di- mehr als der Hälfte der EU-Bürger als positiven Befund
rektiven bestimmt, nämlich dem Längerfristigen und zu werten, ist vor dem Hintergrund, dass die Wahlbetei-
dem Ganzheitlichen. Diese beiden Parameter haben wir ligung zum Europaparlament beständig abnimmt, sehr
bei den Beratungen zur EU-Nachhaltigkeitsstrategie er- gewagt. Auch die Quote von 98,5 Prozent als Zielvor-
leben können. Wir haben herausgearbeitet, dass die EU- gabe für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch
Nachhaltigkeitsstrategie mehr und längerfristiger ist als die nationalen Regierungen sagt kaum etwas über die
die Strategie „Europa 2020“. Und wir haben gespürt, wie gute Staatsführung der EU aus, müsste doch diese Quote
ganzheitlich die Fragestellungen sind. Von daher ist es bei 100 Prozent liegen.
lobenswert, dass wir anhand von zehn Themenfeldern Letztlich sind die vorhandenen Indikatoren eher frag-
sowie Indikatoren strukturiert gearbeitet haben, um un- würdig, sodass der Parlamentarische Beirat zu Recht
seren Kolleginnen und Kollegen im Parlament einen empfiehlt, dieses Themenfeld aus dem Bereich der Indi-
Überblick über diese breite Materie zu geben. katoren zu streichen und als ein weiteres Thema von be-
Von daher können wir heute gar nicht auf alle Berei- sonderer Bedeutung ohne Indikatorenmessungen in den
che eingehen, sondern ich darf mich auf einige wesentli- allgemeinen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie zu verla-
che Aspekte konzentrieren. Bei der Bewertung der euro- gern.
päischen Nachhaltigkeitsstrategie ergibt sich insgesamt Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
ein sehr gemischtes Bild. In einigen Bereichen liegt die Nachhaltigkeit muss Leitprinzip der europäischen Poli-
EU weit vorne, in vielen Bereichen sind allerdings noch tik sein sowie umfassend und konsequent Berücksichti-
erhebliche Anstrengungen notwendig. Eine wichtige Er- gung finden. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Zu-
kenntnis bei der Betrachtung der einzelnen Indikatoren kunftsstrategie: Wenn Nachhaltigkeit als politische,
ist, dass einige Länder Vorreiter sind und andere um ein gesellschaftliche und ökonomische Querschnittsaufgabe
Vielfaches dahinter zurückliegen. begriffen wird, kann sie zum Innovationsmotor werden.
(B)
Dies zeigt, dass Nachhaltigkeit und Leitlinien nach- Technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher (D)
haltiger Entwicklung noch nicht überall in der EU als Fortschritt muss sich an diesem Prinzip messen lassen.
wichtiges Zukunftsinstrument in die Politik integriert Wichtig ist dabei, dass die Leitlinien nachhaltiger Ent-
sind. Hier ist aus unserer Sicht die EU gefordert, in allen wicklung auf der europäischen Ebene nicht zugunsten
Mitgliedstaaten für eine entsprechende Ausrichtung na- kurzfristiger Zielvorgaben verdrängt werden.
tionaler Strategien zu werben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Dabei kämpft die europäische Nachhaltigkeitsstrate- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gie im Gegensatz zu unserer nationalen mit einem gra-
vierenden Geburtsfehler: Die zur Begleitung der Strate-
gie erforderlichen Indikatoren sind nicht politisch Präsident Dr. Norbert Lammert:
konsentiert, sondern von Eurostat entwickelt und ohne Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering
politische Beratung eingeführt worden. Entsprechend für die SPD-Fraktion.
niedrig ist ihre Relevanz. (Beifall bei der SPD)
Aus unserer Sicht ist es zwingend erforderlich, dass
sich die EU bei der Weiterentwicklung der europäischen Franz Müntefering (SPD):
Nachhaltigkeitsstrategie auch die Zeit nimmt, die Indi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
katoren politisch zu diskutieren. Nur so kann es gelin- wurde schon gesagt: Europa hat den Fortschrittsbericht
gen, die Verzahnung der europäischen Nachhaltigkeits- zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt.
strategie und der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien zu Wir haben als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige
verbessern. Bei unserer gemeinsamen Befassung mit der Entwicklung das Thema aufgenommen und einen Be-
europäischen Nachhaltigkeitsstrategie haben wir auch richt an den Bundestag gegeben. Die Drucksache liegt
feststellen können, wie gut der Parlamentarische Beirat vor. Heute findet eine kurze Debatte statt.
für nachhaltige Entwicklung im deutschen Parlament
Wir haben Fragen gestellt, weil wir wissen wollten,
verankert ist.
wie denn die Entwicklung in Europa ist, wie synchron
Mit klaren Aufgaben und Kompetenzen treiben wir sie in den Mitgliedsländern läuft bzw. in welchem Maße
unsere nationale Nachhaltigkeitsstrategie voran. Solch sie nicht übereinstimmt. Die erste Frage, die wir gestellt
klare Kontrollmechanismen bezüglich der Umsetzung haben, ging an die Bundesregierung. Wir haben gefragt,
der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie fehlen in der wie sie denn die Indikatoren, die Europa benutzt, sieht.
EU. Wir haben festgestellt – das war ziemlich ernüchternd –,
12392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Franz Müntefering
(A) dass die Indikatoren, mit denen Europa den Fortschritt Schule – eine der größten Herausforderungen, vor denen (C)
misst, nicht von den Mitgliedstaaten anerkannt worden Europa steht. Das muss auch in Europa auf die Tages-
sind. Die Mitgliedstaaten sind zwar beteiligt worden, ordnung gesetzt werden.
aber im Endergebnis ist es so, dass die Mitgliedstaaten
und Europa den Fortschritt mit unterschiedlichen Maß- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
einheiten messen. Das ist nicht gut. Deshalb muss man der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
versuchen, dies zu synchronisieren. Das ist notwendig, GRÜNEN)
damit man weiß, worüber man redet, wenn man über Wenn wir die junge Generation ernst nehmen wollen,
Nachhaltigkeit und Fortschritt miteinander spricht. muss dieses Thema neben allen anderen wichtigen The-
(Beifall bei der SPD) men, die wir in Europa zu besprechen haben, auf die Ta-
gesordnung; denn die Wirkungen sind noch in 20 oder
Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass wir uns auch 30 Jahren in aller Massivität zu spüren.
über die Inhalte austauschen und das, was wir erkennen
Es ist festgestellt worden, dass in Deutschland, aber
können, ansprechen, soweit das in so kurzer Zeit hier
auch in anderen Ländern die Frauen in der Entlohnung
möglich ist. Ich nenne ein paar Stichworte.
deutlich schlechter gestellt sind als die Männer. Das ist
Stichwort „natürliche Ressourcen“. Es ist klar gewor- oft genug konstatiert worden und muss nun endlich be-
den, dass es in Europa immer weniger Wälder und im- hoben werden, sowohl in Deutschland als auch an-
mer weniger Grün gibt, Wasser im vergleichbaren Um- derswo.
fang wie in den Jahren zuvor genutzt wird. Wenn man
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
das zu der schlichten Wahrheit in Relation setzt, dass die
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bevölkerungszahl in Deutschland von jetzt 81 Millionen
auf 68 Millionen bis zum Zeitraum 2050/2060 sinken Stichwort „Demografie“. Die Altersarmut ist in den
wird, stellt sich die Frage, wie wir unsere Landschaft be- letzten sieben Jahren in Europa gewachsen. Wir haben
planen und welche Konsequenzen sich aus solchen Zah- eine lange Phase in Europa gehabt, wo die ältere Genera-
len für die Zukunft des Landes ergeben. Eines müssen tion relativ besser dastand als die jüngere. In den letzten
wir jedenfalls lernen. Bei den meisten von uns in sieben Jahren hat sich dieser Trend verändert. Wenn man
Deutschland ist im Kopf, dass der Mangel an Wasser sich nun klarmacht, dass in Deutschland, aber auch in
und Grün hauptsächlich andere Kontinente betrifft. Aber Europa insgesamt die Lebenserwartung steigt, dass die
auch Europa ist davon in hohem Maße und in immer Zahl der Älteren zunimmt, und wenn man davon aus-
stärkerem Maße betroffen. Es ist wichtig, dass wir dieses geht, dass sie weniger verfügbar haben, stellt man fest,
Problem nicht unterschätzen. dass es hier um eine Frage nicht nur sozialer Dimension, (D)
(B)
sondern auch ökonomischer Dimension geht. Die Bin-
(Beifall bei der SPD)
nenkaufkraft und die Leistungsfähigkeit werden an die-
Stichwort „öffentliche Gesundheit“. Ich spreche das ser Stelle abnehmen. Das ist nicht nur ein Minus an
Thema an, weil es in Europa durchgängig so ist, dass Lebensqualität, sondern, was die volkswirtschaftliche
arm zu sein, also wenig Geld zu haben, immer mit einer Dynamik angeht, auch eine große Gefahr, die wir sehen
unterdurchschnittlichen Versorgung im Gesundheitsbe- müssen.
reich verbunden ist. Das ist ein deutsches Problem und Was die Beschäftigung und die Arbeitsplätze im Be-
auf jeden Fall in Europa ein weitverbreitetes Problem reich der 55- bis 64-Jährigen angeht, ist Europa ein
und deshalb etwas, was wir im Blick haben müssen und Stück vorangekommen; die Beschäftigung liegt bei etwa
was in die europäischen Kategorien stärker einbezogen 50 Prozent. Wir sind in Deutschland bei etwa 60 Pro-
werden muss. zent. 1998 waren wir bei etwa 36 Prozent. Das ist eine
Stichwort „soziale Sicherheit und Einbeziehung in gute Entwicklung; aber trotzdem bleibt es nötig und
unsere Gesellschaft“. Die Trennung zwischen Arm und dringend erforderlich, in ganz Europa auch den Älteren
Reich wird größer, die Schere geht weiter auseinander. eine Chance zu geben, am Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Wir glauben, dass die Instrumente, die Europa nutzt, um (Beifall bei der SPD)
das zu messen, nicht besonders aufschlussreich sind.
Man nimmt die reichsten 20 Prozent und die ärmsten Ich nenne drei Punkte, die uns in dem, was Europa
20 Prozent, aber die Extreme sind dann nicht wirklich zu uns geliefert hat, fehlen. Es gibt erstens keine qualifi-
erkennen. Jedenfalls ist das eine Entwicklung, die in Eu- zierte Auseinandersetzung mit den Finanzen, weder mit
ropa durchgängig zu beobachten ist. den öffentlichen Finanzen, mit den Haushalten, noch mit
der privaten Finanzindustrie. Das ist hochärgerlich.
10 Prozent der jungen Leute in Europa kommen ohne Denn Nachhaltigkeitspolitik kann sich nicht darauf redu-
Abschluss aus der Schule. Wir sind in Deutschland et- zieren lassen, zu versuchen, die verschüttete Milch auf-
was besser geworden: Anfang dieses Jahrhunderts waren zunehmen, sondern wir müssen auch als Politik auf die
es pro Jahr 89 000, inzwischen sind es 58 000. Aber be- öffentlichen Finanzen und die private Finanzindustrie
ruhigen kann uns das nicht. Das sind in zehn Jahren un- Einfluss haben. Sonst kann man nachhaltige Politik in
gefähr 600 000 junge Leute, die ohne Schulabschluss in Europa nicht organisieren. Auch das ist eine Konse-
Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geschoben wer- quenz aus dem, was wir da lesen.
den. Deshalb ist dieses Thema – 10 Prozent der jungen
Leute in Europa kommen ohne Abschluss aus der (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12393
Franz Müntefering
(A) In dem gesamten Bericht fehlt zweitens die Integra- Verantwortlich wäre gewesen, die gravierende Steuer- (C)
tion, die Inklusion, ein Thema, das wir dringend aufneh- hinterziehung in Griechenland – nach Schätzungen geht
men müssen in Europa, in Bezug auf Zuwanderung, auf es hier um 30 Milliarden Euro pro Jahr – zu bekämpfen.
Einwanderung, aber auch auf Binnenwanderung in Eu- Diese einseitige, nicht nachhaltige Politik verurteilt die
ropa. Was findet da eigentlich statt? Was bedeutet das? Linke. Jetzt, ein Jahr nach dem Ausbruch der griechi-
Wer soziale Stabilität haben will, muss sich auch um die- schen Finanzkrise, plant der griechische Finanzminister,
ses Thema kümmern. mit 3 000 zusätzlichen Beamten die Steuerhinterziehung
zu bekämpfen und so die Staatseinnahmen zu erhöhen.
Drittens steht in dem Bericht nichts zur Demokratie. Das ist der Anfang einer nachhaltigen Finanzpolitik.
Ich finde, das ist eine Schwäche, die wir uns nicht leisten
können. Europa hat viele Probleme. Wir haben auch das (Beifall bei der LINKEN)
Problem, dass wir immer wieder neu aufpassen müssen,
dass die Demokratie auch stimmt, dass die Menschen- In der Bundesrepublik werden jedes Jahr weit über
rechte eingehalten werden, dass die Medienöffentlich- 50 Milliarden Euro Steuern hinterzogen. Jeder zusätzli-
keit garantiert ist, und zwar in ganz Europa; ich will gar che Steuerprüfer holt davon etwa 1 Million Euro in die
keine Adressen nennen. Staatskasse zurück. Deshalb fordert die Linke mehr
Steuerprüfer.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist etwas, über das wir miteinander sprechen müs-
sen. Wir müssen aufpassen, dass die Demokratie nicht Das wäre für den Bundeshaushalt nachhaltig und ein
partiell nur noch formal vorhanden ist und von der Sub- Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Jeder Lohnsteuerzahler
stanz her den Anforderungen nicht genügt wird. wird überprüft, aber Betriebsinhaber und Millionäre ha-
ben wegen fehlenden Personals in den Finanzämtern
Nun haben wir unseren Bericht gegeben. Der Bundes- gute Chancen, bei Schummeleien nicht erwischt zu wer-
tag und die Bundesregierung lesen das hoffentlich, spre- den.
chen darüber und erkennen, dass etwas getan werden
muss. Durch Reden allein passiert nichts; wir haben oft (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: So ein
genug darüber geredet. Deshalb die Aufforderung des Schwachsinn sondergleichen! Noch nie eine
Parlamentarischen Beirats: Lasst uns die Dinge mitei- Firma von innen gesehen und dann so einen
nander anpacken und Europa organisieren und voran- Scheiß erzählen!)
bringen, nicht nur bei den großen Themen, die uns jeden Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch nicht nachhal-
Tag berühren, sondern auch da, wo es konkret um die tig.
einzelnen Menschen und deren Lebensqualität geht.
(B) Bei Empfängern von ALG II, beim Kindergeld, beim (D)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. BAföG und beim Wohngeld wird gnadenlos überwacht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der kleinste Fehler eines Leistungsempfängers führt
der CDU/CSU) zum Verlust von Leistungen und beim Bezug von
ALG II zu erbarmungslosen Sanktionen. Wer Steuern in
Millionenhöhe hinterzogen hat, geht bei rechtzeitiger
Präsident Dr. Norbert Lammert: Selbstanzeige straffrei aus.
Die Rede des Kollegen Johannes Vogel für die FDP-
Fraktion wird zu Protokoll genommen.1) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Quatsch!
Stimmt doch gar nicht! Es gibt keine Straffrei-
Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die heit mehr!)
Fraktion Die Linke.
Da sagt die Linke: So nicht!
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Auch in anderen Bereichen wird bei der Nachhaltig-
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen keit geschludert. Zum Schutz des Klimas legte die EU
und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Des- neue Grenzwerte für das Treibhauspotenzial von Kälte-
halb hat auch die EU eine Nachhaltigkeitsstrategie. Lei- mitteln in Klimaanlagen von Pkw fest. Dabei wurde aber
der scheint sie aber eher nur auf dem Papier zu stehen, nicht nur die Begrenzung des internen Energiever-
als dass sie eine Handlungsgrundlage ist. Das hat auch brauchs der Klimaanlagen vergessen; auch der Gesund-
der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung heitsschutz kam unter die Räder. Zum Schutz des Klimas
des Bundestages festgestellt. wurde für neue Pkw-Typen ein Verbot des Einsatzes des
bisherigen Klimakillers R 134 a erlassen. Die EU hoffte
Alles andere als nachhaltig war der Druck der EU auf auf den Einsatz von CO2, doch die Autoindustrie setzte,
Griechenland, für den Euro-Rettungsschirm Löhne, Ge- um Entwicklungskosten zu sparen, auf R 1234 yf statt
hälter und Investitionen zu kürzen. Wie von der Linken CO2. Im Falle einer undichten Klimaanlage oder eines
vorausgesagt, brach daraufhin die Wirtschaftsleistung Feuers nach einem Unfall entsteht daraus aber Fluss-
ein. Das war unverantwortlich. säure, welche die Lungen von Insassen, Helfern und Un-
(Beifall bei der LINKEN) beteiligten verätzen kann. Das ist ein Skandal.
Die Linke forderte sofort ein Verbot des Einsatzes ge-
1) Anlage 6 sundheitsgefährdender Kühlmittel in Pkw. Aber statt mit
12394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Ralph Lenkert
(A) uns gemeinsam einen Weg zu finden, wie dieses Ge- Eurobarometer glaubten Ende 2010 nicht einmal die (C)
sundheitsrisiko verhindert werden kann, schmetterten Hälfte der EU-Bürger, dass die Krise überwunden sei. In
Sie von der Regierungskoalition unsere Initiative ab. Im Deutschland waren es sogar etwas mehr als die Hälfte.
September sollen die ersten Pkw mit dem Kühlmittel Diese Skepsis ist nicht verwunderlich, wenn man sich
R 1234 yf im Handel sein. Das kann doch nicht ihr Ernst den Bericht des europäischen Statistikamtes zur Euro-
sein. päischen Nachhaltigkeitsstrategie anschaut.
(Beifall bei der LINKEN) Die Tagung des Beirats, die Ende März in Brüssel zu-
sammen mit den Kollegen aus der EU stattgefunden hat,
Wir fordern Sie auf, eine Entscheidung zu treffen, die zeigte auch, dass dort bislang insgesamt nur ein geringes
dazu führt, dass kein einziger Mensch verletzt werden Interesse am Thema Nachhaltigkeit vorhanden ist. Ein
kann. nachhaltiger Staatshaushalt ist schließlich kein Thema,
Jetzt komme ich zur Nachhaltigkeitsprüfung zurück. mit dem man Stimmen gewinnen kann; im Gegenteil:
Hätte es in diesem Fall eine Nachhaltigkeitsprüfung ge- Sparprogramme werden in Europa sogar bestreikt. Bei
geben, wäre der Skandal nicht passiert. Hätten wir mehr der Nachhaltigkeit geht es aber um weit mehr. Es geht
Finanzbeamte und Steuerprüfer, zum Beispiel 500 in um die Zukunftsfähigkeit jedes einzelnen Staates und
Nordrhein-Westfalen, könnten wir die Finanzen der von Europa als Ganzes,
Bundesrepublik nachhaltig verbessern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir, Die Linke, unterstützen die Arbeit des Parlamen- sowie bei Abgeordneten der SPD)
tarischen Beirats für Nachhaltigkeit, weil über die Nach- und zwar nicht nur im Bereich Finanzen, sondern auch
haltigkeitsprüfung Fehler erkannt werden können. Wir in den Bereichen Ökologie und sozialer Zusammenhalt.
haben nur eine Welt und ein Leben, und deshalb müssen
wir sorgsam damit umgehen. Das ist der Kern von Nach- Lassen Sie mich das am Beispiel Verkehr darstellen.
haltigkeit. 2008 hatte der Verkehr mit knapp einem Drittel den
(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund größten Anteil am Endenergieverbrauch in Europa. Hier
[CDU/CSU]: Das war nix!) steckt also ein riesiges Potenzial für Energieeinsparung.
Das ist aber auch eine enorme Herausforderung. Das
Güterverkehrsvolumen stieg seit 2000 um ein Viertel an.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Laut Prognosen wird es noch weiter steigen. Wie kom-
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die men wir aus dieser Falle heraus? Das Zauberwort für
Kollegin Frau Dr. Wilms das Wort. nachhaltigen Verkehr heißt: Kostenwahrheit. Jedes Ver-
kehrsmittel muss für sämtliche Umweltbeeinträchtigun-
(B) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen aufkommen. Nur dann haben auch umweltfreund- (D)
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! liche Verkehrsmittel eine reelle Chance.
Meine Damen und Herren! Nach dem kurzen Ausflug in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Autoklimaanlagenwelt möchte ich auf das zurück-
kommen, was wir im Parlamentarischen Beirat für nach- All diese Herausforderungen haben eines gemeinsam:
haltige Entwicklung machen. Wir brauchen einen Systemwechsel, einen neuen Denk-
ansatz. Derzeit wird überwiegend der Produktionsfaktor
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeit besteuert, der Produktionsfaktor Boden bzw. Na-
und bei der CDU/CSU)
tur dagegen kaum. Scheinbar waren Ressourcen immer
Nach knapp vier Monaten steht wieder eine Unter- in unendlicher Menge vorhanden. Diese Annahme ist
richtung durch den Parlamentarischen Beirat für nach- falsch. Unsere Erde ist nicht reproduzierbar, bislang je-
haltige Entwicklung auf der Tagesordnung dieses Hohen denfalls. Lassen wir unseren Nachkommen auch noch
Hauses. Vielleicht fragen Sie sich, warum wir nicht mehr etwas davon übrig.
Papiere auf den Tisch legen. Das kann ich Ihnen gerne
erklären, gerade auch den Zuschauerinnen und Zuschau- Die Nachhaltigkeitsziele in Europa müssen Priorität
ern auf der Tribüne: Es dauert mehrere Monate, bis wir erhalten und über allen anderen bereichsübergreifenden
im Beirat ein Papier zustande bringen; denn wir arbeiten Zielen stehen, auch über der Wachstumsstrategie Europa
anders als in den Ausschüssen, nämlich interfraktionell. 2020. Vor allen Dingen muss sich Europa endlich die
Für das, was wir hier auf den Tisch legen, wollen wir die Mühe machen, diese Ziele politisch zu debattieren und
Zustimmung aller fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses festzulegen und das Ganze nicht nur über das Statistik-
erreichen. Deshalb handelt es sich um eine ganz beson- amt abwickeln zu lassen.
dere Debatte. Wir einigen uns auf einen gemeinsamen Herzlichen Dank.
Nenner, den wir im Hause über lange Zeit beibehalten
können, hinter dem wir alle stehen können – und dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
heute zu einem Papier quer durch alle Themenfelder, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nämlich zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Das der SPD)
ist unsere Arbeitsweise im Parlamentarischen Beirat.
Europakritiker und Europaskeptiker haben in den ver- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gangenen zwei bis drei Jahren nicht wenige Argumente Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich
an die Hand bekommen. Finanzmarktkrisen und Ret- dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion
tungsschirme bestätigen Skeptiker und Kritiker. Laut das Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12395
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich fange an beim Parlament. Wir sind nicht in der Si- (C)
tuation, dass wir dem Europäischen Parlament Rat-
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): schläge für seine interne Organisation zu geben haben.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Wir wollen aber Überzeugungsarbeit leisten und mit Eu-
sprechen heute über die Nachhaltigkeitsstrategie der Eu- ropaparlamentariern – wir haben vor kurzem das Ge-
ropäischen Union. Natürlich geht es dabei um Instru- spräch gesucht – darüber debattieren, ob sie nicht das-
mente, um Verfahren und um Managementregeln. selbe machen wollen wie wir im Bundestag. Wir halten
es für einen Fortschritt, dass wir einen Beirat haben, der
Ich finde es wichtig, noch einmal in den Mittelpunkt sich fächerübergreifend mit Nachhaltigkeit befasst und
zu stellen, warum wir über diese Verfahrenswege disku- quasi eine Wachhundfunktion übernimmt, der in allen
tieren und worum es in der Sache geht. In der Sache geht Fachbereichen und bei allen Materien sagt: Hier muss
es darum, dass wir in der gesamten Europäischen Union Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, hier läuft etwas
den Gedanken der Nachhaltigkeit voranbringen wollen. schief, und hier müssen wir etwas ändern. – So etwas
Wir wollen dahin kommen, sagen zu können: Wir leben gibt es im Europäischen Parlament bislang noch nicht.
in der Europäischen Union nicht auf Kosten der Zukunft. Wir würden gerne einen Impuls an die Europaparlamen-
In den Bereichen Wirtschaft und Soziales, Finanzen und tarier geben, dass sie diesen bei uns erfolgreichen Weg
Umwelt leben wir nicht auf Kosten von morgen, sondern ebenfalls gehen.
berücksichtigen die Belange künftiger Generationen.
Ich nenne ein Beispiel, warum dieser Weg erfolgreich
Das durchzusetzen, erfordert wiederum die Diskus- ist. Es geht auf eine Initiative des Parlamentarischen
sion über Instrumente und Verfahren. Deshalb haben wir Beirats für nachhaltige Entwicklung zurück, dass das
uns als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Ent- Bundeskanzleramt – auf immer wiederkehrendes steti-
wicklung des Deutschen Bundestages mit diesen Fragen ges Drängen – ein eigenes Referat für Nachhaltigkeit
im Hinblick auf Europa befasst. Wir machen uns stark eingerichtet hat. Fragen aus diesem Bereich unterliegen
dafür, dass es eine Europäische Nachhaltigkeitsstrategie damit dort einer prominenten Behandlung und erlangen
gibt, die ambitioniert ist, die überzeugend ist, die in die eine große Bedeutung. So etwas gibt es in der Kommis-
Mitgliedstaaten ausstrahlt und dort Wirkung entfaltet. sion der Europäischen Union bislang noch nicht. Wir
Das ist das Ziel. Wir stellen fest, dass auf dem Weg zu meinen, an dieser Stelle sollte ein Impuls gegeben wer-
diesem Ziel noch erhebliche Hürden zu überwinden den. Hier sollte es eine Weiterentwicklung geben, damit
sind. Ich will drei Punkte kritisch herausgreifen. der Gedanke der Nachhaltigkeit innerhalb der Kommis-
sion gestärkt wird.
Erstens. Die Indikatoren der Europäischen Nachhal-
tigkeitsstrategie sind nicht politisch diskutiert und entwi- (Beifall der Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]
(B) ckelt worden. Sie wurden quasi von Eurostat ohne de- und Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE (D)
mokratische Rückkoppelung vorgegeben. Das ist schon GRÜNEN])
ein Geburtsfehler, weil demokratische Legitimation die
Voraussetzung für Akzeptanz ist. So werden diese Indi- Dasselbe gilt für die Ebene des Rates. Wir sind der
katoren die Strahlkraft, die wir uns von ihnen erhoffen, Meinung, dass im Rat eine Arbeitsgruppe „Nachhaltige
gerade nicht entwickeln können. Ich glaube, das ist ein Entwicklung“ eingerichtet werden sollte, und zwar aus
Punkt, der sich ändern muss denselben Gründen, die für Parlament und Kommission
gelten. Wir brauchen all dies, um die formalen Voraus-
(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- setzungen dafür zu schaffen, dass die Nachhaltigkeit in-
NEN]: Dringend!) haltlich einen höheren Stellenwert in der Europäischen
Union bekommt. Wenn das alles gelingt, haben wir, so
und bei dem die Europäische Union eine Weiterentwick-
glaube ich, auf europäischer Ebene eine überzeugende
lung betreiben sollte.
Strategie, die mit den Nationalstaaten abgestimmt ist.
Zweitens. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie Dann können die Indikatoren und Regeln von den Natio-
ist eine Ergänzung der Lissabon-Strategie. Es mag Sinn nalstaaten ergänzt und übernommen werden. Dann ge-
machen, Synergien zu suchen, wo sie möglich sind. Das lingt es uns in der Europäischen Union insgesamt, eine
entspricht aber nicht der Bedeutung der Nachhaltigkeit, nachhaltige Politik vernünftig umzusetzen.
wie wir sie sehen. Wir glauben, dass Nachhaltigkeit der
Wie man an den Beispielen sieht, haben wir noch ein
Überbau ist – sie muss über allem stehen –, dass andere
gutes Stück Arbeit vor uns. Wir nehmen die Herausfor-
Strategien sich hier einfügen müssen und aus diesem Ge-
derung an. Die Vorlage zeigt, dass wir im Parlamentari-
danken der Nachhaltigkeit heraus zu entwickeln sind. Es
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung fraktionsüber-
darf gerade nicht umgekehrt sein: Nachhaltigkeit als Ab-
greifend daran arbeiten.
leger von anderen Strategien. Auch das muss sich än-
dern. Die Nachhaltigkeit muss in der EU durch diese for- Herzlichen Dank.
male Frage stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Beifall bei der CDU/CSU) bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Drittens. Letztlich ist es eine Frage der institutionel-
len Behandlung der Nachhaltigkeit. Wir glauben, dass NEN])
die Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene im Parla-
ment, in der Kommission und im Rat auch durch ihre Präsident Dr. Norbert Lammert:
formale Behandlung gestärkt werden sollte. Ich schließe die Aussprache.
12396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Diese Koalition hat zwei Ressorts zum Schwerpunkt ih- Es stellt sich die Frage: Was tut die Bundesregierung
rer Arbeit gemacht – das gilt auch für die finanzielle noch? Zum Ausbau, also zur Quantitätssicherung,
Ausgestaltung –: Familie und Bildung. Das beweist kommt in den nächsten Jahren die Qualitätssicherung,
deutlich, wo unsere Schwerpunkte liegen. die ebenfalls von großer Bedeutung ist, hinzu. Ich erin-
nere daran, dass wir im Jahre 2008 das Aktionspro-
Richtig ist – darüber muss man nicht streiten –, dass gramm „Kindertagespflege“ gemeinsam mit den Län-
insbesondere die Flächenländer aufgefordert sind, beim dern auf den Weg gebracht haben. Zwischen 2006 und
Ausbau noch zuzulegen. Wir von der Koalition haben 2009 stieg der Anteil der Tagespflegepersonen mit ent-
Ende des vergangenen Jahres in unserem Antrag deut- sprechender Qualifikation von 8 auf rund 22 Prozent.
lich gemacht, dass hier noch Luft nach oben ist. Zeitgleich hat sich der Anteil der Menschen, die ohne
Qualifizierung in der Tagespflege arbeiten, auf rund
Insgesamt kann man sagen, dass es seit Inkrafttreten
14 Prozent halbiert. Das ist das Verdienst dieses Pro-
des Kinderförderungsgesetzes im Dezember 2008 unter
gramms.
der Großen Koalition mittlerweile rund 130 000 zusätz-
liche Angebote in der Kindertagesbetreuung gibt, davon Außerdem gibt es die „Offensive Frühe Chancen“.
102 000 Angebote in Einrichtungen und 28 000 in der Falls Sie es noch nie gemacht haben, rate ich Ihnen: Be-
Tagespflege. Vor dem KiFöG wurde jedes siebte Kind suchen Sie einmal Kitas in Ihrem Wahlkreis!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12399
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) (Beifall bei der CDU/CSU – Diana Golze Ich glaube, die Bundesregierung hat den richtigen Weg (C)
[DIE LINKE]: Dazu sage ich gleich auch noch eingeschlagen. Dabei werden wir sie auch weiterhin un-
etwas! – Caren Marks [SPD]: Ich habe das Ge- terstützen.
fühl, dass Sie gar nicht wissen, worüber Sie da
Herzlichen Dank.
reden!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
400 Millionen Euro werden für die Sprachförderung in Caren Marks [SPD]: Diese Rede war ein Be-
Kitas ausgegeben. Es stehen also jeweils 25 000 Euro weis für Ihre Parallelwelt!)
für eine zusätzliche Halbtagsstelle zur Verfügung.
Darüber hinaus gibt es das Programm „Mehr Männer Vizepräsident Eduard Oswald:
in die Kitas“. Erst vor wenigen Wochen haben wir da- Kollege Weinberg, vielen herzlichen Dank. – Als
rüber diskutiert, dass wir gerade Jungen fördern müssen, Nächste spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
weil sie im Hinblick auf die Bildungsentwicklung hinter gin Frau Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.
den Mädchen zurückliegen, bei der Lesekompetenz zum (Beifall bei der LINKEN)
Beispiel etwa ein Jahr. Sie haben damals argumentiert,
dass wir jetzt die Männer und nicht mehr die Frauen för-
Diana Golze (DIE LINKE):
dern würden, was – Verzeihung – völliger Unsinn ist. Je-
der, der sich fachlich auskennt und die entsprechenden Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolle-
Entwicklungen bewerten kann, wird Ihnen bestätigen: ginnen und Kollegen! Es ist richtig: Seit einigen Jahren
Wir brauchen mehr Männer in Kitas und Grundschulen. ist die frühkindliche Bildung endlich ein zentrales
Thema auf der politischen Agenda. Ziel ist es, einen
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!) Rechtsanspruch auf einen Kitabetreuungsplatz für jedes
Kind ab dem ersten Lebensjahr zu schaffen. Die Opposi-
Die Bundesregierung hat dieses Programm, das ein Vo- tion ist sich darin einig, dass bislang viel zu wenig getan
lumen von 13 Millionen Euro hat, auf den Weg gebracht. wurde, um dieses Ziel zu erreichen. Inzwischen helfen
Auch das war sicherlich richtig und wichtig. auch die Lobreden von Herrn Weinberg und der Fami-
lienministerin nicht mehr, um über den traurigen Fakt
(Beifall bei der CDU/CSU) hinwegzutäuschen, dass das Erreichen dieses erklärten
Ziels zu scheitern droht. Seit Jahren weisen Fachver-
Die Koalition hat bereits im Dezember letzten Jahres
bände, Wissenschaftler und Gewerkschaften darauf hin,
erste Maßnahmen eingeleitet. Hätten Sie unseren dama- dass dieses Scheitern quasi von vornherein angelegt war,
ligen Antrag gelesen, wüssten Sie, wohin wir wollen. weil man ganz bestimmte grundlegende Fragen nicht be- (D)
(B) Wir wollen insbesondere eine Qualitätssteigerung erzie-
achtet, sondern konsequent ausgeblendet hat.
len. Das Ziel, das wir uns für das Jahr 2013 gesetzt ha-
ben, verfolgen wir nach wie vor. In den nächsten Jahren Nehmen wir zum Beispiel die Frage nach dem tat-
kommt es darauf an, die Qualität in diesem Bereich zu sächlichen Bedarf. Das haben Sie eben kritisiert, Herr
steigern. Das heißt, Gewinnung von männlichen Erzie- Weinberg. Das Deutsche Jugendinstitut hat bereits im
hern – das habe ich schon angesprochen –, freiwillige Jahr 2007 darauf hingewiesen, dass der tatsächliche Be-
Zertifizierung von Kitas unter wissenschaftlicher Beglei- darf an Krippenplätzen wahrscheinlich höher ist als von
tung, weitere Qualifizierung, Verbesserung der Aus- und der damaligen schwarz-roten Bundesregierung ange-
Fortbildung. Ich denke beispielsweise an das WiFF; in nommen. Jüngere Daten bestätigen dies. Laut einer
diesem Rahmen findet unter anderem die Weiterbildung Forsa-Umfrage wünschen sich inzwischen zwei Drittel
pädagogischer Kräfte statt. Es gibt weitere Programme, der Eltern eine frühzeitige Betreuung für ihren Nach-
die die Bundesregierung ebenfalls finanziert, um eine wuchs. Demzufolge werden laut Deutschem Städtetag
Qualifizierung durchzuführen. Bei allem Respekt: Dass nicht nur 750 000, sondern 1,3 Millionen Kitaplätze be-
Sie sich hier hinstellen und all das ignorieren, mag Ihrer nötigt. Gibt es darauf eine Reaktion der Bundesregie-
Oppositionsrolle geschuldet sein. Das hat aber nichts mit rung? Nein, Fehlanzeige.
objektiver Wahrnehmung zu tun. Ein wenig Respekt vor Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sich
den Maßnahmen, die diese Bundesregierung ergriffen endlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an
hat, sollten Sie schon haben. der Finanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligen
muss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Caren Marks [SPD]: Aha! Alle Experten irren (Beifall bei der LINKEN)
sich also, nur Sie haben recht!)
Er darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht
Ihr Antrag, in dem Sie fordern, einen Krippengipfel allein lassen. Dies gilt sowohl für die zahlenmäßige Auf-
einzuberufen, ist relativ begrenzt und überschaubar. Das stockung der Betreuungsplätze als auch für die Qualifi-
ist einfach zu wenig. Wir werden die Entwicklungen zierung und Bezahlung des zukünftigen Personals.
weiterhin beobachten; das gilt auch im Hinblick auf den (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Ausbau. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Caren Marks [SPD]: Genau! Mit dem Fern- Doch was bisher als Antwort von der Bundesregie-
glas!) rung kam, war zum einen Zahlenschummelei – das ma-
12400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Diana Golze
(A) chen Sie ja immer gerne – und zum anderen die Wieder- Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
holung der fast unverschämten Forderung, die Länder Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
sollten sich endlich ein bisschen mehr Mühe geben und Kollegen! Die Debatte bis zu diesem Zeitpunkt hat
die Portemonnaies aufmachen; dann werde das alles schon völlig klargemacht, dass wir weiterhin vor sehr
schon klappen. Sie übernehmen keine langfristig ange- großen Herausforderungen stehen, was den Kitaausbau
legte Verantwortung, um das offenkundige Problem end- angeht. In rund zwei Jahren soll der Rechtsanspruch in
lich zu überwinden. Kraft treten. Das steht so im Gesetz, und daran darf auf
keinen Fall gerüttelt werden. Ich glaube, darin sind wir
Die Umsetzung des Rechtsanspruchs wird mantraar- uns auch einig. Aber trotzdem müssen wir es immer wie-
tig herbeigeredet, aber in der Praxis geschieht nichts. der betonen, weil der Rechtsanspruch zurzeit von der ei-
Das zeigen auch die „Projektchen“, die Herr Weinberg nen oder anderen Seite durchaus infrage gestellt wird.
eben angesprochen hat, wie das Projekt „Offensive
Frühe Chancen“. 400 Millionen Euro zusätzlich für Wenn wir allein davon ausgehen, was die Bundesre-
Sprachförderung: Das klingt erst einmal gut. Ich habe gierung an Schätzungen vorgelegt hat und worauf auch
mir das aber in der Praxis konkret angeschaut. Ich habe ihre Finanzierungsvereinbarungen basieren – es wird
Kitas besucht und gesehen, was wirklich vor Ort an- von einem Betreuungsbedarf von 35 Prozent der unter
kommt. Das ist nicht einmal ein Tropfen, sondern nur Dreijährigen ausgegangen –, dann müssen wir in diesen
ein Tröpfchen auf den heißen Stein. Von dem Geld kön- knapp zwei Jahren rund 280 000 zusätzliche Kitaplätze
nen höchstens Halbtagsstellen geschaffen werden. Das schaffen. Die Ministerin selbst hat im vergangenen
heißt, die Kommunen müssen schon jetzt massiv drauf- Herbst gesagt: Der Ausbau der Kinderbetreuung muss
legen, wenn sie das Programm in Anspruch nehmen und weiter an Dynamik gewinnen. – Leider können wir diese
qualitativ hochwertige Arbeit leisten wollen. Im Rahmen Dynamik in den letzten Wochen und Monaten nicht in
einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 bis 25 Stunden dem Maße feststellen, wie es notwendig wäre.
sollen die Beschäftigten individuelle Sprachförderung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
durchführen, dokumentieren, Elternarbeit leisten, sich
vernetzen und weiterbilden. Können Sie mir einmal er- Wenn wir die Sache realistisch angehen – das sollte
klären, wie sie das mit 25 Stunden bewerkstelligen und man tun – und den Bedarf genauso realistisch einschät-
wie sie von dieser Arbeit leben sollen? Darauf bekommt zen wie das DJI – die Zahlen sind schon genannt
man von der Bundesregierung keine Antwort. Sie müs- worden –, dann ist es völlig offenkundig, dass wir mit ei-
sen sich darüber bewusst sein: Wenn Sie so etwas ma- ner Betreuungsquote von 35 Prozent vorne und hinten
chen, dann muss es so angelegt sein, dass es mehr bringt nicht zurechtkommen werden. Tatsächlich müssen wir
als eine schöne Pressekonferenz. von durchschnittlich 39 Prozent ausgehen. Das ent-
(B) spricht rund 360 000 zusätzlichen Plätzen, die wir in den (D)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- verbleibenden zwei Jahren noch schaffen müssten. Da
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE klafft eine riesige Finanzierungslücke. Vor allem die
GRÜNEN) Kommunen werden einfach im Regen stehen gelassen.
Zurück zum Antrag. Auch wir sehen die Notwendig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
keit, alle Beteiligten erneut an einen Tisch zu holen. Ein sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
neuer Krippengipfel wird aber nur dann Erfolg haben, KEN)
wenn von vornherein klar und deutlich herausgestellt
wird: Der Bund kann und darf sich nicht länger aus sei- Die Grünen haben schon im letzten Jahr einen ent-
ner Verantwortung stehlen. Er muss seinen finanziellen sprechenden Antrag gestellt und die Bundesregierung
Anteil am Ausbau der Kindertagesbetreuung ausweiten aufgefordert, endlich eine solide Bedarfserhebung vor-
und am realen Bedarf ausrichten. Die Qualität der Be- zunehmen und auf der Grundlage einer solchen Erhe-
treuung und Bildung muss eine viel größere Rolle spie- bung eine vernünftige Finanzierungsvereinbarung vor-
len. Eine realistische und aktualisierte Bedarfsanalyse ist zulegen. Für eine solche Finanzierungsvereinbarung
eine notwendige Voraussetzung dafür. Ich frage mich, muss man tatsächlich alle wieder an einen Tisch holen:
warum Sie diese nicht endlich erfüllen. Bund, Länder und Kommunen. Wir haben das in unse-
rem damaligen Antrag zwar nicht Krippengipfel wie die
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. SPD genannt. Aber unser Anliegen war das gleiche. Un-
(Beifall bei der LINKEN – Caren Marks ser Antrag ist im Dezember abgelehnt worden. Wertvolle
[SPD]: Das fragen wir uns alle!) Zeit ist vertan worden, die wir hätten gut nutzen können,
um endlich vernünftig zu planen.
Vizepräsident Eduard Oswald: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Jetzt käme für Beim Kitaausbau haben sich nur wenige mit Ruhm
die Fraktion der FDP Frau Kollegin Miriam Gruß. Sie bekleckert. Die Bundesregierung betreibt immer weiter
hat ihre Rede zu Protokoll gegeben,1) sodass unsere Kol- eine Vogel-Strauß-Politik, steckt den Kopf in den Sand.
legin Katja Dörner die nächste Rednerin für die Fraktion Sie geht weiter von einem Bedarf von 35 Prozent aus,
Bündnis 90/Die Grünen ist. Bitte schön, Frau Kollegin, obwohl bekannt ist, dass das nicht realistisch ist. Wenn
Sie haben das Wort. mehr Plätze benötigt werden, haben die Betroffenen
eben Pech. Es gibt kein zusätzliches Geld. Das darf auf
1) Anlage 9 keinen Fall so weitergehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12401
Katja Dörner
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bitte schön, Herr Kollege Norbert Geis. (C)
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär: Was
macht ihr jetzt in NRW?) (Beifall bei der CDU/CSU)
– Ich komme zu NRW, Herr Kues. Das ist ein wunderba- Norbert Geis (CDU/CSU):
res Stichwort. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Die Ministerin hat zu dem Anteil, den die Länder Herren! Ich habe mich noch nicht entschieden, weil ich
durch die Umverteilung der Umsatzsteuerpunkte erhal- von dieser Einladung erst jetzt Kenntnis bekommen
ten, gesagt: Das ist eine Blackbox. – Die schwarz-gelbe habe. Ich muss erst in meinem Terminkalender nach-
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat, bevor sie schauen.
zum Glück abgewählt wurde, 70 Millionen Euro, die sie Ich möchte eines sagen: Hier wird wirklich schwarz-
durch die Umsatzsteuerpunkteverteilung erhalten hat weiß gemalt. Das kann man so nicht stehen lassen. Sie
und die für die Finanzierung des Kitapersonals gedacht wissen doch genauso gut wie ich und wie wir alle, dass
waren, einfach im Landeshaushalt versickern lassen; das der Bund bis zum Jahr 2013 4 Milliarden Euro für den
Geld ist weg. Es wurde den Kitas und den Kommunen Ausbau und Neubau der Kindertagesstätten bereitstellt
entzogen. Das hat Schwarz-Gelb zu verantworten, und und dass die Länder verpflichtet sind, gleichermaßen
das hat Rot-Grün zum Glück beendet. 4 Milliarden Euro bereitzustellen. Auch die Kommunen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind nach diesem Gesetz verpflichtet, 4 Milliarden Euro
und bei der SPD) zur Verfügung zu stellen. Das sind insgesamt
12 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund kann man
Aber andere Länder verfahren weiter so. Das muss ein doch nicht behaupten, dass sich der Bund, der in Vorlage
Ende haben. getreten ist, da zurückgehalten hätte.
Man muss aber auch die Kommunen daran erinnern, (Markus Grübel [CDU/CSU]: So ist es!)
dass seit 1992 im KJHG verankert ist, dass Kitaplätze
nach Bedarf geschaffen werden sollen. Das hat man aber Der Bund hat sehr wohl seine Aufgabe gesehen, obwohl
nicht gemacht. Auch die Kommunen hatten offensicht- das eigentlich Aufgabe der Länder und der Kommunen
lich in den letzten 20 Jahren zum Teil andere Prioritäten, ist.
als in den Kitaausbau zu investieren. (Beifall bei der CDU/CSU)
Natürlich müssen wir auch über Qualität sprechen.
Der Bund ist aber bereit, daran mitzuwirken, weil er die
Dieses Thema ist schon mehrfach angesprochen worden.
Notwendigkeit und die Bedeutung sieht.
(B) Wir wollen unbedingt die Fachkraft-Kind-Relation ver- (D)
bessern. Wir wollen mehr Sprachförderung und wollen Man darf auch nicht vergessen, dass der Bund eben-
mehr Kindern mit Behinderung – Inklusion ist ein gro- falls bereit ist, sich an den Folgekosten zu beteiligen. Er
ßes Thema – die Möglichkeit geben, Regeleinrichtungen tut dies immerhin mit 770 Millionen Euro pro Jahr. Auch
zu besuchen. Das alles müssen die Kitas leisten. Mit den das darf nicht übersehen werden. Sich hier hinzustellen
derzeitigen Regelungen insbesondere auf Bundesebene und zu sagen, der Bund habe eine Vogel-Strauß-Politik
werden wir nicht klarkommen. gemacht, ist wirklich völlig verkehrt. Das kann man so
nicht stehen lassen. Auch Sie wissen, dass das falsch ist.
Wir Grüne veranstalten am Samstag in einer Woche
Solche Dinge darf man nicht einfach behaupten. Immer-
einen eigenen Kitagipfel, auf dem wir nicht nur den qua-
hin ist das hier ein Forum – auch wenn nur wenige Men-
litativen Ausbau, sondern auch den quantitativen Aus-
schen anwesend sind –, auf das von draußen genau ge-
bau in umfassender Weise besprechen werden. Wir ha-
schaut und über das dann berichtet wird. Man sollte
ben gelernt: Auf diese Bundesregierung kann man nicht
schon bei der Wahrheit bleiben.
bauen. Man darf nicht darauf warten, dass sie etwas tut.
Deshalb machen wir es selber. Sie alle sind herzlich ein-
geladen. Ich hoffe sehr, dass wir zu besseren Regelungen Vizepräsident Eduard Oswald:
für die Kitas kommen und es tatsächlich schaffen, den Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage
quantitativen Ausbau bis 2013 hinzubekommen, aber unserer Kollegin Caren Marks?
auch deutlich mehr für die Qualität zu tun. Das sind wir
den Eltern und insbesondere den Kindern schuldig. Norbert Geis (CDU/CSU):
Vielen Dank. Bitte.
Caren Marks
(A) Sie waren während der Großen Koalition leider noch Norbert Geis (CDU/CSU): (C)
nicht in unserem Ausschuss, deshalb möchte ich Ihnen Ja.
mitteilen: Insbesondere den Einstieg in die Finanzierung
der Betriebskosten hat die SPD nach hartem Ringen mit Vizepräsident Eduard Oswald:
der CDU/CSU, dem damaligen Koalitionspartner,
Bitte schön, Herr Kollege.
durchgesetzt. Es ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt,
sich darauf einfach nur auszuruhen.
Stefan Schwartze (SPD):
Meine Frage an Sie ist: Wäre es angesichts der Tatsa- Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Geis, Sie spra-
che – das haben auch andere Kollegen vorhin nach mei- chen gerade das Land Nordrhein-Westfalen an. Ich kann
ner Rede noch einmal betont; es gibt auch entsprechende bestätigen, mit dem U-3-Ausbau hängt man da wirklich
Zahlen vom DJI und einigen anderen Expertinnen und weit zurück. Ist Ihnen aber bekannt, dass die alte
Experten –, dass der damals angenommene notwendige schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen
Ausbau der Betreuung auf 35 Prozent längst nicht mehr bis 2013 nur ganze 30 Millionen Euro für den U-3-Aus-
ausreicht, sondern dass der Bedarf schon weitaus höher bau eingeplant hatte und dass deshalb Rot-Grün die Fi-
ist, nicht angebracht, dass der Bund noch etwas oben nanzierung komplett umstellen musste, damit der U-3-
draufsattelt, wie es auch die Länder und Kommunen ma- Ausbau vor Ort überhaupt stattfinden kann?
chen müssten, um den Rechtsanspruch überhaupt umset-
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Unter Rot-Grün
zen zu können? Ich verweise in diesem Zusammenhang
hatten wir gar keine Krippenplätze! Gucken
darauf, dass sich die Kosten für die Länder und Kommu-
Sie sich die Zahlen an!)
nen insgesamt sehr viel stärker nach oben entwickelt ha-
ben, als mit den verabredeten 4 Milliarden Euro abzude- Der Bund gibt für Nordrhein-Westfalen 480 Millionen
cken ist. Euro aus. Das Land hatte bis 2013 30 Millionen Euro
eingeplant. Wie bewerten Sie das?
Norbert Geis (CDU/CSU):
Norbert Geis (CDU/CSU):
4 Milliarden Euro sind ja nicht wenig, das ist schon
ein beachtlicher Betrag. Wenn man überlegt, dass auch Der Bund ist in Vorleistung getreten, und das Land
die Länder 4 Milliarden Euro drauflegen müssen und konnte sich zurückhalten. Aber jetzt, da der Bund seine
4 Milliarden Euro von den Kommunen kommen, dann Vorleistung bis zum Jahr 2013 erbringt, müssen die Län-
meine ich, dass mit 12 Milliarden Euro insgesamt eine der dann auch anfangen, ihre Leistung zu erbringen.
Summe erreicht ist, um Investitionen in den Ausbau und Deswegen kann man der alten Regierung in Nordrhein-
(B)
Neubau von Kindertagesstätten zu tätigen, die zunächst Westfalen den Vorwurf so vielleicht nicht machen. Sie (D)
hatte ja den Vorteil, dass der Bund bereits Bereitschaft
einmal ausreichen müssten. Man muss die Entwicklung
erklärt hatte, Leistungen zu erbringen.
abwarten.
(Caren Marks [SPD]: Das ist auch eine Reali-
Ich glaube, Sie gehen auch von einer falschen An- tät!)
nahme aus. Es ist nicht so, dass die Eltern ihre Kinder im
Alter von einem bis drei Jahren gleich in die Kita schicken Sie hat sich natürlich auf der Leistung des Bundes ausge-
wollen. Viele Eltern wollen das nämlich nicht. Sie bedau- ruht. Das gilt aber auch für andere Länder. Aber jetzt ist
ern in Ihrem Antrag, dass die Betreuung in der Bundesre- es an der Zeit, dass die Länder antreten und ihre Leis-
publik Deutschland nur zu 23 Prozent gewährleistet sei. tung erbringen, die der Bund längst erbracht hat.
Sie erwecken den Eindruck, als sei die Betreuung, die (Caren Marks [SPD]: Da lacht sogar der
durch die Eltern erfolgt, keine Betreuung. Auch Tages- Staatssekretär!)
mütter betreuen. Meine sehr verehrte Frau Kollegin, all
dies sollten Sie bedenken. Das ist das, was Sie dabei mit bedenken sollten. – Danke
schön.
Ihre Frage war, ob wir mit einer Quote von 35 Prozent
zurechtkommen werden. Ich antworte Ihnen darauf: Meine sehr verehrten Damen und Herren, es besteht
Warten wir doch erst einmal ab. Tätigen wir erst einmal bei uns allen überhaupt kein Zweifel daran, dass die
die Investitionen. Auch die Länder und Kommunen soll- frühkindliche Erziehung ein ganz bedeutender Faktor ist.
ten erst einmal ihren Pflichten nachkommen und inves- Klugheit und Dummheit sind den Menschen nicht in die
tieren. Der Bund ist in Vorleistung getreten. Die Länder Wiege gelegt. Sarrazin mag ja in vielem recht haben,
und Kommunen müssen nachziehen. Das gilt insbeson- aber er hat nicht darin recht, dass die Intelligenz den
dere für das Land Nordrhein-Westfalen. Dort ist nämlich Menschen angeboren ist. Wichtig und richtig ist, dass
fast nichts geschehen. die Menschen unterschiedliche Begabungen haben und
dass diese Begabungen geweckt werden müssen. Des-
(Beifall bei der CDU/CSU) halb brauchen wir auch – das ist richtig – die frühkindli-
che Erziehung, und deswegen haben die Koalitionsfrak-
tionen längst vor Ihnen den Antrag eingebracht, dass die
Vizepräsident Eduard Oswald: Bundesregierung darauf bedacht sein muss, die Bin-
Herr Kollege Geis, lassen Sie eine weitere Zwischen- dungs- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder im Alter
frage, nämlich des Kollegen Schwartze, zu? von einem Jahr bis drei Jahren voranzubringen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12403
Norbert Geis
(A) Es wurde angeregt, ein Strategiepaket zur frühkindli- dass dort eine große Leistung erbracht wird. Deswegen (C)
chen Bildung zu schnüren, an dem sich sowohl der Bund müssen wir beides würdigen, Kita und Elternhaus, und
als auch die Kommunen und die Länder beteiligen. wir müssen beides auch fördern.
(Caren Marks [SPD]: Dann müssen wir es ja (Zuruf der Abg. Caren Marks [SPD])
nur noch machen!)
Das tun wir vielleicht noch ein bisschen zu wenig. Wir
Das ist von uns bereits angeregt worden. Der Antrag ist sollten auch die Eltern fördern, die daheim bleiben und
längst verabschiedet worden, bevor Sie überhaupt daran daheim ihre Kinder erziehen; denn diese Erziehungsleis-
gedacht haben, Ihren Antrag einzureichen. Auch das darf tung ist nicht geringer als die in der Kita.
man mal in Ruhe sagen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
Wir sollten den Eltern die Wahlmöglichkeit lassen.
uns also alle einig, dass es richtig ist, die frühkindliche
Wir sollten den Eltern sagen dürfen: Ihr könnt wählen,
Bildung voranzutreiben, aber wir sind uns in dem Weg
ob euer Kind in die Kita geht oder ob ihr es daheim er-
dahin nicht einig. Das wird in der heutigen Diskussion
zieht. Ich betone: Diese Wahlmöglichkeit müssen wir
wieder klar und deutlich. Wir, die Koalitionsfraktionen,
den Eltern lassen. Das Erziehungsrecht der Eltern ist ein
setzen nämlich auch auf die Erziehungsleistung der El-
Menschenrecht; das dürfen wir nicht übersehen.
tern, nicht nur auf die der Kita.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Trotzdem wollen wir die Kita nicht hintanstellen. Aber
Caren Marks [SPD]: Das sagen Sie mal den
wenn Sie sagen – dazu habe ich vorhin schon was gesagt –, Müttern und Vätern, die auf einen Platz war-
dass nur 23 Prozent der Kinder in Deutschland betreut
ten!)
würden,
(Caren Marks [SPD]: Ja!) Vizepräsident Eduard Oswald:
dann sage ich: Nein, in Deutschland werden viel mehr Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Sie waren der
Kinder betreut, nämlich auch durch Tagesmütter und letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
insbesondere durch die Eltern. Das müssen wir realisti- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
scherweise sehen. Drucksache 17/5518 an die in der Tagesordnung aufge-
(Zuruf von der LINKEN) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dem widerspricht
niemand. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
(B) Wir müssen ein Weiteres beachten. Wir müssen se- (D)
hen, dass die Eltern oft viel besser in der Lage sind, die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Kinder zu betreuen und sie zu erziehen, weil sie viel nä- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
her an den Kindern sind, was auch eine hochqualifizierte CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
Erzieherin nicht leisten kann, wozu sie außerstande ist. setzes zur Änderung des Arbeitnehmerüber-
Die frühkindliche Erziehung ist nämlich zunächst ein- lassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbe-
mal eine Frage der subtilen Beobachtung, damit das ein- kämpfungsgesetzes
zelne Kind dann rechtzeitig den richtigen Schritt in seiner – Drucksache 17/5761 –
Entwicklung machen kann. Diese subtile Beobachtung Überweisungsvorschlag:
wird am ehesten von der Mutter und dem Vater geleistet. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Das ist etwas, meine sehr verehrten Damen und Herren Innenausschuss
von der SPD, von der Linken und von den Grünen, was Rechtsausschuss
Sie völlig übersehen. Wir sind für die Kita insbesondere Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
dort, wo die Erziehungsleistung nicht vom Elternhaus er- Haushaltsausschuss
bracht wird. Wir sind insbesondere für die Kita für Kinder
mit Migrationshintergrund, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Zuruf von der LINKEN: Aha!) keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
weil wir wissen, dass die Kinder in ihren Elternhäusern, Als erste Rednerin spricht für die Fraktion der CDU/
mit ihren Eltern nicht deutsch reden. Es ist sehr wichtig, CSU unsere Kollegin Gitta Connemann. Bitte schön,
dass die Kinder schon im frühesten Alter lernen, sich auf Frau Kollegin Connemann.
Deutsch zu verständigen, weil sie sonst mit den anderen,
denen eine andere Erziehung zuteilwird, nicht mithalten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
können. der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Wir erkennen also, wir sind auf der richtigen Spur, wenn Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die ei-
wir sagen: Die Kita ist wichtig. Auf der anderen Seite ist nen erkennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem
aber auch die Förderung der Eltern bei ihrer eigenen Er- Getue.“ An diese Feststellung eines Georg-Büchner-
ziehungsleistung wichtig. Wir dürfen nicht übersehen, Preisträgers habe ich im Vorfeld dieser Debatte gedacht,
12404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Gitta Connemann
(A) als ich den einen oder anderen Beitrag zu dem vorliegen- beitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei Drittel der (C)
den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Presse Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vor-
las. Taten haben wir als christlich-liberale Koalition her nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Be-
vollbracht, und zwar vor zwei Monaten, im März, als wir rufsabschluss. Als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeit-
die Voraussetzung für eine Lohnuntergrenze in der Zeit- nehmer sind sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
arbeit geschaffen haben. Sobald die Tarifpartner einen Sie haben volle Arbeitnehmerrechte: beispielsweise
Antrag stellen, wird die Bundesregierung eine Lohnun- Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,
tergrenze festlegen. Damit haben Zeitarbeitnehmerinnen während des Urlaubs und an Feiertagen, Mutterschutz
und Zeitarbeitnehmer dank unseres Gesetzes endlich ei- und auch Elternzeit.
nen gesetzlichen Anspruch darauf, dass der tarifliche
Auf der anderen Seite wird durch die Zeitarbeit die
Mindestlohn nicht unterschritten wird. Dies gilt übrigens
Flexibilität der Unternehmen erhöht. Sie ermöglicht Be-
für verleihfreie Zeiten wie für Verleihzeiten, für inländi-
weglichkeit bei Auftragsspitzen oder besonderen Projek-
sche wie für ausländische Betriebe. Damit haben wir uns
ten – es sei denn, man ist verantwortlich für Madsack.
für die Herausforderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Diese Flexibilität wollen wir erhalten, aber wir wollen
seit dem 1. Mai ebenso wie für das Problem billiger
auch die Fairness in der Zeitarbeit sichern. Das haben
Konkurrenz aus dem Ausland gewappnet.
wir unter Beweis gestellt, indem wir den Schritt gegan-
(Beifall bei der CDU/CSU) gen sind, die Möglichkeit einer Lohnuntergrenze einzu-
führen, und dies gesetzlich verankert haben.
Das beste Gesetz bedarf allerdings der Kontrolle; das
wissen wir. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt einen Wir müssen aber noch weiter gehen, sofern es zu ei-
Gesetzentwurf vorgelegt. Der Zoll erhält damit auch für nem Missbrauch des Instruments kommen sollte. Ein
den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung erweiterte solcher zeichnet sich gegebenenfalls infolge eines Ur-
Prüfungs-, Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der teils des Bundesarbeitsgerichts ab.
Bußgeldrahmen wird erhöht werden, und die Befugnisse
Sie wissen, dass wir in der christlich-liberalen Koali-
der Zollbehörden einerseits und der Bundesagentur für
tion und in der Großen Koalition inzwischen in insge-
Arbeit andererseits werden sehr sorgfältig abgegrenzt.
samt neun Branchen allgemein verbindliche Branchen-
Darauf wird der Kollege Lehrieder noch eingehen.
mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen eingeführt haben.
an ihrem Getue.“ Die Opposition – die SPD vorneweg – (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Hört! Hört!
hat im Vorfeld der Einbringung dieses Gesetzentwurfs 3,9 Millionen Arbeitnehmer!)
einmal mehr eine Generaldebatte um die Zeitarbeit ange-
(B) stoßen. Ihr Abscheu und Ihre Empörung ist aber offen- Bislang galten diese Mindestlöhne für alle Mitarbeiter, (D)
sichtlich nur Getue, meine Damen und Herren von der die in der jeweiligen Branche tätig waren, zum Beispiel
SPD. Vor einigen Tagen haben sämtliche Mitglieder des auch für Zeitarbeitnehmer. Wenn also ein Zeitarbeitneh-
Ausschusses für Arbeit und Soziales einen offenen Brief mer im Gebäudereinigerhandwerk eingesetzt wird, er-
erhalten. Absender dieses Briefes, Frau Kollegin Hiller- hält er den Mindestlohn für Gebäudereiniger – egal wo
Ohm, war der Konzernbetriebsrat der Mediengruppe er tätig wird. Das ist ein gutes Prinzip.
Madsack. Dieser Betriebsrat beklagt, dass die Madsack-
Gruppe immer mehr Zeitarbeitnehmer beschäftige, von (Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!)
den Redaktionen bis zur Zustellung – nicht nur in Spit- Diesen Grundsatz hat das Bundesarbeitsgericht jetzt
zenzeiten, sondern dauerhaft, ohne Chance auf Über- allerdings infrage gestellt.
nahme, mit negativen Folgen für die Stammbelegschaft.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Wie schade!)
Ich habe mich natürlich informiert, wer hinter Mad-
sack steht; das sollten wir tun. Auf wen bin ich gesto- Danach sollen Zeitarbeitnehmer nur noch dann den Bran-
ßen? Auf die DDVG, Ihr Medienimperium, meine Da- chenmindestlohn erhalten, wenn der Entleihbetrieb in den
men und Herren von der SPD. Geltungsbereich der Branche fällt. Leider wird diese Lü-
cke, die sich aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts er-
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schau an! – La- gibt, genutzt. Es gibt inzwischen neue Geschäftsmodelle
chen bei Abgeordneten der SPD) mit nur einem Ziel: Mindestlohnhopping. Gebäudereini-
gungsunternehmen firmieren jetzt beispielsweise als
– Da brauchen Sie nicht zu lachen. Das ist Ihr Unterneh-
Zeitarbeitsunternehmen. Das ist aber Scheinzeitarbeit
men. – Sie halten den größten Anteil an Madsack, und
statt Zeitarbeit. Das Instrument wird also missbraucht.
damit haben Sie erheblichen Einfluss auf die Geschäfts-
politik. Meine Damen und Herren von der SPD, ohne Sie Deswegen schließen wir uns als Union der Forderung
passiert bei Madsack nichts. Deswegen empfehle ich Ih- des Unternehmerverbands Deutsches Handwerk und
nen dringend: Reden Sie nicht, sondern handeln Sie. auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, die vorge-
schlagen haben, eine Änderung in § 8 Abs. 3 Arbeitneh-
(Beifall bei der CDU/CSU)
mer-Entsendegesetz vorzunehmen.
„Die einen erkennt man an ihren Taten, die anderen (Beifall bei der CDU/CSU)
an ihrem Getue.“ Wir diskreditieren die Zeitarbeit nicht;
denn wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeit- Dort soll künftig geregelt werden, dass für die Entloh-
arbeit kann für Geringqualifizierte ein Weg aus der Ar- nung durch den Verleiher allein entscheidend sein soll,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12405
Gitta Connemann
(A) welche konkrete Tätigkeit der Leiharbeitnehmer ausübt. – ich zitiere –: „Neu haben wir jetzt eingeführt einen (C)
Wir unterstützen dieses Anliegen; denn wir wollen Miss- Mindestlohn in der Zeitarbeit. Denn das ist auch eine
brauch verhindern. Das ist unser Petitum. Wir werden Branche, wo ich mir Sorgen gemacht habe, und deshalb
auch weiterhin versuchen, den Zeitarbeitnehmern selbst war es so wichtig, jetzt auch zum 1. Mai den Mindest-
ein Stück mehr wörtlicher Gerechtigkeit zukommen zu lohn in der Zeitarbeit einzuführen, damit wir keine Dum-
lassen. pinglöhne haben, die über das Ausland hier nach
Deutschland importiert werden.“
Im Gesetz wird zurzeit nach wie vor der diskriminie-
rende Begriff „Leiharbeit“ verwendet. Diese Begrifflich- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Recht hat sie!)
keit ist bereits rechtlich nicht haltbar; denn bei der Leihe
handelt es sich um die unentgeltliche Überlassung von Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau
Sachen. Hier geht es nicht um Sachen, sondern um Men- Connemann, das sind tolle Worte. Wenn man der Minis-
schen, Menschen, die hart arbeiten und denen wir Ge- terin Glauben schenkt, muss man annehmen, dass es be-
rechtigkeit zukommen lassen wollen. Deshalb werden reits seit dem 1. Mai einen Mindestlohn gibt. Den haben
wir insoweit gegebenenfalls einen Änderungsantrag vor- wir aber noch nicht. Deshalb ist die Äußerung der Minis-
legen. terin im Morgenmagazin eine glatte Fehlinformation.
Frau Ministerin – oh, sie ist ja gar nicht da bei so einer
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. wichtigen Debatte –, ich frage Sie: Wo bleibt der ver-
(Beifall bei der CDU/CSU) sprochene Mindestlohn? Wir brauchen endlich eine Ab-
sicherung für die rund 800 000 Beschäftigten in der
Leiharbeit. Wir wollen Taten sehen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Gitta Connemann. – Jetzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/
Kollegin Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau CSU]: Genau! Madsack!)
Kollegin Hiller-Ohm.
Nun haben wir zwar noch immer keinen allgemein-
(Beifall bei der SPD) verbindlichen Mindestlohn in der Leiharbeit, aber im-
merhin bringen wir das notwendige Gesetz zu dessen
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Kontrolle heute schon mal auf den Weg. Mit dem Ge-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist er- setzentwurf wird die Vereinbarung in der Protokollerklä-
freulich, dass die Bundesregierung heute einen Gesetz- rung des Vermittlungsausschusses zu den Regelsätzen
entwurf zur Kontrolle eines Mindestlohnes in der Leih- weitgehend umgesetzt. Die Kontroll-, Melde- und Sank-
(B) arbeit vorgelegt hat. tionsbestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegeset- (D)
zes sollen in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz über-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bis jetzt ist es tragen werden. Die Zuständigkeiten der einzelnen
richtig!) Behörden wie Zoll, Bundesagentur für Arbeit, Renten-
Notwendig wäre allerdings erst einmal, dass es über- versicherung und Finanzämter werden klarer geregelt
haupt einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, dessen Ein- und besser miteinander vernetzt. Das begrüßen wir.
haltung dann auch kontrolliert werden kann. Leider ist Seit dem 1. Mai dieses Jahres können auch Leiharbei-
dies noch immer nicht der Fall. ter aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten in Deutsch-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Seit einer Woche land ohne Arbeitserlaubnis arbeiten. Dafür sieht der Ge-
haben wir den, Frau Kollegin!) setzentwurf die Einführung eines Meldesystems vor.
Inländische Unternehmen müssen der Zollverwaltung
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat künftig anzeigen, wenn sie Leiharbeiter aus dem euro-
bis heute noch keine entsprechende Rechtsverordnung päischen Ausland beschäftigen. Auch das ist ein notwen-
vorgelegt. Das ist mehr als ärgerlich; denn die gesetzli- diger Schritt. Auch sollen Sanktionen bei Verstößen ge-
chen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Leihar- regelt und an das Entsendegesetz angepasst werden.
beit sind bereits geschaffen. Im Vermittlungsausschuss
zur Reform der Regelsätze haben wir den Weg hierfür Ob der Bußgeldrahmen von bis zu 500 000 Euro bei
gegen den massiven Widerstand der Regierungsfraktio- den schwarzen Schafen in der Leiharbeitsbranche die ab-
nen CDU/CSU und FDP frei gemacht. Nun müssen sich schreckende Wirkung haben wird, die wir uns wün-
die Tarifparteien einigen, und hier hakt es zurzeit. Es schen, wird die Erfahrung zeigen. Ganz wichtig ist je-
wäre fatal, wenn der Mindestlohn in der Leiharbeits- doch, dass die Kontrolle vernünftig funktioniert und es
branche jetzt noch an der Arbeitgeberseite scheitern hier nicht zu Reibungsverlusten, Drehtüreffekten und
würde. Schlupflöchern kommt. Hier müssen wir ganz genau
aufpassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Leider habe ich von Appellen der zuständigen Ar- Natürlich müssen auch die Rechte und Informations-
beitsministerin zu einer raschen Einigung der Tarifpar- möglichkeiten der Leiharbeitnehmer verbessert werden.
teien in den Medien bisher nichts vernehmen können. Sie müssen über ihre Rechte in ihrem Einsatzbetrieb bei
Ganz im Gegenteil, noch am 18. April verkündete uns in Deutschland genau Bescheid wissen. Wir hätten
Ministerin von der Leyen stolz im ZDF-Morgenmagazin uns deshalb eine Beratungsstelle für Arbeitnehmer aus
12406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Gabriele Hiller-Ohm
(A) dem europäischen Ausland gewünscht. Eine solche Be- Schlimm, dass Schwarz-Gelb an dieser wichtigen Stelle (C)
ratungsstelle ist im Gesetzentwurf jedoch nicht vorgese- Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
hen. nehmer verhindert hat.
Problematisch finden wir auch, dass von einem Un- (Beifall bei der SPD)
terschreiten der Lohnuntergrenze betroffene Arbeitneh-
Es ist unwürdig, dass Leiharbeiter im selben Betrieb
mer ihren Lohn individuell gerichtlich geltend machen
für die gleiche Tätigkeit schlechter bezahlt werden als
müssen. Unternehmen, die den Mindestlohn nicht zahlen
ihre festangestellten Kollegen. Es darf keine Arbeitneh-
und vom Zoll erwischt werden, müssen zukünftig mit
mer erster und zweiter Klasse geben,
Sanktionen rechnen. Das ist gut. Diese Regelung verhilft
den Arbeitnehmern jedoch nicht zum Ausgleich ihres (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
entgangenen Lohns. Sie müssten ihren Arbeitgeber ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
klagen. Welches Gericht jeweils zuständig ist und wie
und das, Frau Connemann, gilt für alle Arbeitnehmer,
die Vollstreckung im Ausland geregelt sein soll, lässt der
egal in welchem Betrieb sie angestellt sind, ob bei der
Gesetzentwurf ebenfalls offen.
Kirche – darüber haben wir vorhin diskutiert – oder
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Bei der SPD!)
Des Weiteren fehlt eine Regelung für Leiharbeitneh-
in einem Betrieb,
mer, die in Tätigkeiten beschäftigt werden, für die Min-
destlöhne vereinbart wurden, deren Betrieb allerdings (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Der SPD!)
nicht der Mindestlohnbranche angehört.
an dem die SPD beteiligt ist.
Ich nenne ein Beispiel: Ein Krankenhaus, das früher
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gitta
festangestellte Maler und Lackierer beschäftigte, vergibt
Connemann [CDU/CSU]: Madsack!)
diese Arbeit jetzt an ein Leiharbeitsunternehmen. Der
Arbeitnehmer hat nun keinen Anspruch auf den Min- – Sie haben Madsack angesprochen. Die SPD hält daran
destlohn für das Maler- und Lackiererhandwerk. Dieser eine Beteiligung von 20 Prozent. Die Zuhörerinnen und
liegt zurzeit für ungelernte Arbeitnehmer bei 9,50 Euro Zuhörer werden sich selber ein Urteil über Ihre Angriffe
und für Gesellen bei 11,50 Euro, also weit über dem an- hier bilden.
gekündigten Mindestlohn für die Leiharbeitsbranche.
(Beifall bei der SPD)
Ich befürchte, dass dies zu einer Ausweitung der Bedauerlich ist auch, dass sich Arbeitsministerin von
Leiharbeit, zu Wettbewerbsverzerrungen und einer der Leyen weder im Kabinett noch in ihrer Fraktion in
(B) Schwächung der Handwerksbetriebe in Deutschland dieser so wichtigen Frage durchsetzen konnte. Sie stellte (D)
führen wird. am 24. März 2011 im Plenum ganz richtig fest – ich zi-
(Beifall bei der SPD) tiere –:
Leider sagt der Gesetzentwurf auch nichts zur Durch- Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für die
setzung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Ar- gleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaft
beit“. Das Schlupfloch für Verleihfirmen, niedrigere ungleich bezahlt werden.
Löhne an ihre Leiharbeiter zu zahlen, als sie die Stamm- Frau Ministerin, auch wenn Sie dieser Debatte heute
belegschaften erhalten, ist weiterhin offen. Das bedauern nicht beiwohnen: Ändern Sie diesen unwürdigen Zu-
wir sehr. stand. Wir sind hier an Ihrer Seite.
Im Vermittlungsausschuss hat sich die schwarz-gelbe Danke schön.
Seite so uneinheitlich gezeigt, dass keine Lösung verein-
bart werden konnte. Noch nicht einmal nach vier Mona- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ten sollten Leiharbeiter so wie die Stammbelegschaft be- der LINKEN)
zahlt werden,
(Zuruf der Abg. Gitta Connemann [CDU/ Vizepräsident Eduard Oswald:
CSU]) Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. –
Als nächste Rednerin würde auf meiner Liste Frau Kol-
weil sich Schwarz und Gelb untereinander zerstritten legin Gabriele Molitor für die Fraktion der FDP stehen.
hatten. Neun Monate war das Angebot, mit dem sich Sie hat aber ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
CDU und CSU von der FDP am Nasenring durch die
politische Arena haben führen lassen. Ich darf allerdings die Anwesenheit unserer neuen
Parlamentarischen Staatssekretärin, Kollegin Ulrike
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Flach, auf der Regierungsbank zum Anlass nehmen, ihr
Den wenigsten Menschen, die in der Leiharbeit tätig herzlich zu gratulieren. Sie sitzt ja jetzt zum ersten Mal
sind, hätte diese Regelung geholfen. Kaum ein Leihar- auf dieser Bank. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kolle-
beiter bleibt länger als maximal drei oder vier Monate im gin!
gleichen Entleihbetrieb. (Beifall)
(Zuruf von der SPD: Neun Monate! Unglaub-
lich!) 1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12407
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Nächste Rednerin auf meiner Liste zu diesem Tages- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Furcht- (C)
ordnungspunkt ist Frau Kollegin Jutta Krellmann für die bar!)
Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jutta
somit gilt für diese Beschäftigten nicht mehr die unterste
Krellmann.
Tarifentlohnung des öffentlichen Dienstes. Damit wer-
(Beifall bei der LINKEN) den sie praktisch um 1 Euro pro Stunde beschissen.
Wenn Ihre Empörung im Fall Schlecker nicht nur leeres
Jutta Krellmann (DIE LINKE):
Geschwätz war, dann müssten Sie bei der Anweisung
aus Ihrem Ministerium knallrot anlaufen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im mana-
ger magazin vom 26. April dieses Jahres stand: „Eine (Maria Michalk [CDU/CSU]: Die weiß nicht,
Branche rettet ihr Geschäftsmodell.“ Gemeint ist damit wovon sie redet!)
der Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser garantiert der
Frau von der Leyen, ich fordere Sie – auch in Abwe-
Branche satte Gewinne und lässt den Leiharbeitsbe-
senheit, übermittelt durch Herrn Brauksiepe – auf, die
schäftigten auch weiterhin nur Krümel übrig. Fakt ist:
Leiharbeit in der Bürgerarbeit sofort zu stoppen.
Erstens. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist durch Ihr
(Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk
Gesetz vom Tisch. Leiharbeit bleibt Lohndumping ohne [CDU/CSU]: Nein! Genau das nicht! Sie wis-
Wenn und Aber.
sen nicht, wovon Sie reden!)
Zweitens. Die eh schon niedrigen Löhne in der Leih- Hätten Sie auf uns gehört, wäre Lohndumping in der
arbeit bleiben, wie sie sind. Wir reden von 7,79 Euro im Leiharbeit längst Geschichte. Mit unserem Gesetzent-
Westen und 6,89 Euro im Osten. wurf wäre Leiharbeit wieder für die Abdeckung von
Drittens. Der miese Mindestlohn in der Leiharbeit si- Auftragsspitzen da. Frankreich macht uns das praktisch
chert den Leiharbeitsfirmen auch nach der Arbeitneh- vor: Leiharbeiter bekommen den gleichen Lohn wie
merfreizügigkeit fette Gewinne. Im Klartext heißt das: Stammbeschäftigte plus 10 Prozent Flexibilitätsprämie,
Ein polnischer Leiharbeitnehmer wird ebenso schlecht und das funktioniert, auch in zehn weiteren europäischen
bezahlt wie sein deutscher Kollege. Ländern.
Jutta Krellmann
(A) für gleiche Arbeit ist ein Grundprinzip. Dazu stehe ich, tür des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes die Leihar- (C)
und dafür trete ich ein. beit zu nutzen. Die entsprechenden Arbeitnehmer erhal-
ten nun den Mindestlohn in der Leiharbeit. Dieser
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Dann kämpfen Mindestlohn beträgt genau 1 Euro pro Stunde weniger
Sie erst mal in Ihren Reihen!) als der Lohn, den die Menschen heute erhalten. Das
Das gilt insbesondere für Leiharbeitnehmer, und zwar an empfinde ich als eine Sauerei gegenüber den Betroffe-
jedem Arbeitsplatz und in jedem Land. Insofern gilt das nen.
für Deutschland und für andere Länder. Ich wäre Ihnen (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Jetzt ist aber
sehr dankbar, wenn Sie mir den Artikel zur Verfügung gut!)
stellen würden, damit ich da nachhaken und erfahren
kann, was da passiert ist. Das sind Langzeiterwerbslose, die ein Recht darauf ha-
ben, für ihre Arbeit wenigstens einen Lohn entsprechend
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der untersten Entgeltgruppe des Tarifvertrages des öf-
neten der SPD – Gitta Connemann [CDU/ fentlichen Dienstes zu erhalten, nicht nur den Mindest-
CSU]: Gerne!) lohn in der Leiharbeit.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Wir, die Linke, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
werden gemeinsam mit den Gewerkschaften und den neten der SPD)
Betroffenen beim Thema „Gleiches Geld für gleiche Ar-
beit“ keine Ruhe geben und versuchen, das durchzuset- Wir reden hier nicht über Leiharbeit. Sie lassen das zu,
zen. obwohl das keine Leiharbeit ist.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Schauen Sie
Vizepräsident Eduard Oswald: sich die Praxisbeispiele an!)
Sie haben noch eine Chance, eine Frage zuzulassen.
Vizepräsident Eduard Oswald:
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Jetzt, Frau Kollegin, bitte den Schlusssatz, den Sie an-
Das mache ich wieder sehr gerne. gekündigt hatten.
Paul Lehrieder
(A) für immerhin 77 Millionen Europäer, auch für Deutsche, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
gilt. neten der FDP)
Die Angst vor einer gewaltigen Einwanderungswelle So konnte der konjunkturelle Aufschwung schneller in
und vor massivem Lohndumping war groß. Die Statisti- Beschäftigungsverhältnisse umgesetzt werden. Eine Stu-
ken und Hochrechnungen belegen allerdings, dass diese die des Instituts der deutschen Wirtschaft, die erst am ver-
Angst unbegründet war. Lohndumping verhindern wir gangenen Dienstag veröffentlicht wurde, kam zu dem Er-
erfolgreich durch die Einführung eines branchenspezifi- gebnis, dass Zeitarbeitnehmer jeden siebten Euro des
schen Mindestlohnes und eines wirkungsvollen Kon- Aufschwungs erwirtschaftet haben. Zeitarbeitnehmer tru-
troll- und Sanktionsmechanismus durch den heute vor- gen damit 15 Prozent des deutschen Wirtschaftswachs-
liegenden Gesetzentwurf. tums im Jahr 2010.
Den neuen Regelungen in der Leiharbeit ist es auch (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
zu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit als GRÜNEN]: Da hätte ich gerne einen Beweis
große Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fach- dafür!)
kräftemangel, als Maßnahme gegen die Azubilücke und
als willkommenes Arbeitskräftepotenzial für etwa Angesichts eines Zeitarbeitnehmeranteils von knapp über
1 Million offene Stellen, die wir derzeit in Deutschland 2 Prozent zeigt diese Berechnung die wesentlich höhere
haben. volkswirtschaftliche Bedeutung der knapp 900 000 Zeit-
arbeitnehmer bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise.
Die Zeitarbeit ist ein auf dem Arbeitsmarkt bewährtes
Instrument. Sie darf nicht als Mittel zur Absenkung von (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Arbeitslöhnen und zur Verschlechterung von Arbeitsbe- GRÜNEN]: Es hätten aber auch reguläre Ar-
dingungen genutzt werden. Insoweit besteht in diesem beitsverhältnisse sein können!)
Hohen Hause Konsens. Dies wird gesetzlich gewährleis- Aber, meine Damen und Herren, was helfen faire
tet, dies muss aber auch kontrolliert und, falls nötig, Lohnuntergrenzen, wenn sie nicht eingehalten werden?
sanktioniert werden. Was helfen sie, wenn Menschen schwarzarbeiten? Ver-
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE trauen allein reicht hier sicherlich nicht aus. Wir brau-
GRÜNEN]: Ja!) chen effektive Kontroll- und Sanktionsinstrumente. Der
Gesetzentwurf verspricht eine effiziente und wirkungs-
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben natürlich recht: volle Kontrolle darüber, dass Arbeitgeberpflichten ein-
Wenn sich der Branchentarifvertrag nicht auch auf die gehalten werden. Diese wichtige Aufgabe soll von den
Behörden der Zollverwaltung übernommen werden.
(B) Leiharbeit erstreckt, dann müssen wir überlegen – wie die (D)
Kollegin Connemann völlig zu Recht in ihrer Eingangs-
rede ausgeführt hat –, ob der § 8 Abs. 3 Arbeitnehmer- Das Gesetz setzt zudem die Protokollerklärung zum
Entsendegesetz eine entsprechende Änderung erfahren Beschluss des Vermittlungsausschusses über das Gesetz
muss und ob wir das, was die Gerichte zwischenzeitlich zur Ermittlung von Regelbedarfen nach dem II. und XII.
anders bewerten, anpassen müssen. Darüber werden wir Sozialgesetzbuch um. Konkret werden die Befugnisse
uns austauschen müssen. Im Übrigen ist dies heute die der Zollverwaltung im Bereich der Prüfung, Verfolgung
erste Lesung. Wir werden jetzt in den Fachausschüssen und Ahndung in den nachfolgend genannten Punkten er-
darüber beraten und diesen Gesetzentwurf im Detail dis- weitert und von denen der Bundesagentur für Arbeit als
kutieren. Erlaubnisbehörde abgegrenzt.
Natürlich wäre es sehr wünschenswert, einen Arbeits- Arbeitgebern werden besondere Mitwirkungspflichten
markt zu haben, auf dem es ausschließlich feste und un- auferlegt. So soll bei verdachtsunabhängigen Kontrollen
befristete Anstellungsverhältnisse gibt. Da wir uns aber die Einhaltung einer festgelegten Lohnuntergrenze über-
nicht in einem isolierten Vakuum befinden, sondern auf prüft werden können. Darüber hinaus werden weitere Ar-
einem Arbeitsmarkt, auf dem global vernetzte Unterneh- beitgeberpflichten festgesetzt. Bestimmte Dokumente,
men agieren, müssen wir jede Chance ergreifen, die wie beispielsweise Lohnunterlagen und Arbeitszeitauf-
Menschen Arbeit bietet – nicht nur den Hochqualifizier- zeichnungen, müssen erstellt und aufbewahrt werden.
ten, sondern allen Menschen. Außerdem besteht die Pflicht eines ausländischen Verlei-
hers zur Meldung von nach Deutschland entsandten Ar-
Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitar- beitnehmern.
beitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbil-
dung. Zeitarbeit zu haben ist besser als gar keine Arbeit. Meine Damen und Herren, wir werden weitere Punkte
im Laufe des Verfahrens diskutieren müssen. – Ich sehe,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur der Präsident macht sich dezent hinter mir bemerkbar.
wenn es gute Arbeit ist, Herr Kollege, sonst Bevor er mir das Mikrofon ausschaltet, wünsche ich Ih-
nicht!) nen noch einen schönen Abend und bedanke mich für
die konstruktiven Beiträge. Frau Kollegin Hiller-Ohm,
Die Zeitarbeit ist eine realistische Chance, die zu einer ich glaube, dass wir dieses Gesetz vielleicht sogar ge-
festen Beschäftigung führen kann. Die Flexibilität der meinsam auf den Weg bringen können. Ich bitte um Ihre
Zeitarbeit machte es möglich, in den letzten Krisenjah- Zustimmung zu unserem guten Gesetzentwurf.
ren auch Geringqualifizierten und Arbeitslosen eine
Chance auf Beschäftigung zu bieten. Danke schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12411
Paul Lehrieder
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wie sicher viele von Ihnen erhalte auch ich immer (C)
Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das liegt an Ih- noch und immer wieder Schreiben von Betroffenen, die
nen!) um ihre Rente kämpfen. Die Betroffenen haben die ver-
seuchte Anti-D-Immunprophylaxe erhalten und klagen
Vizepräsident Eduard Oswald: nun über verschiedene gesundheitliche Beschwerden.
Die Versorgungsämter meinen aber, es sei nicht ausrei-
Vielen Dank, Herr Kollege. – Noch ist der Abend chend belegt, dass die Anti-D-Prophylaxe der Grund für
nicht zu Ende. Wir haben noch eine Reihe von Tagesord- diese Beschwerden ist. Ich finde, es ist zutiefst unwür-
nungspunkten, und ich lade alle herzlich ein, auch noch dig, dass jemand, der einen solchen Schaden sogar nach-
dazubleiben. gewiesen hat, jetzt beweisen muss, dass die Folgeerkran-
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- kung durch eben diese Anti-D-Immunprophylaxe ent-
wurfs auf Drucksache 17/5761 an die in der Tagesord- standen ist.
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere (Beifall bei der LINKEN)
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen. Sie alle wissen, dass es fast unmöglich ist, zu bewei-
sen, dass ein bestimmtes Symptom auf eine bestimmte
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ursache zurückzuführen ist. Deshalb behilft man sich
Erste Beratung des von den Abgeordneten mit Wahrscheinlichkeiten. Und dann kommt es zu der
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Situation, dass bei einem Versorgungsamt die Wahr-
Senger-Schäfer, weiteren Abgeordneten und der scheinlichkeit ausreicht und ein anderes meint, dass die
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- Wahrscheinlichkeit nicht ausreicht. Die Betroffenen füh-
nes Gesetzes zur Änderung des Anti-D-Hilfe- len sich zu Recht willkürlich behandelt.
gesetzes Ja, wir Politikerinnen und Politiker haben uns bereits
– Drucksache 17/5521 – ausführlich damit befasst. Nachdem die zuständigen Be-
richterstatter aller Fraktionen des Ausschusses für Ge-
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
sundheit jahrelang viele Male mit Betroffenen und mit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vertretern des Bundesministeriums für Gesundheit zu-
sammengesessen haben, habe ich als damalige Aus-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die schussvorsitzende 2008 einen Brief an die damalige
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Ministerin gesandt. Leider haben sich die Fraktionen
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nicht auf eine Meinung verständigen können, aber
(B)
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin steht Grundtenor war, dass das BMG für eine einheitliche An- (D)
auf meiner Liste Frau Kollegin Dr. Martina Bunge für wendung dieses Gesetzes Sorge tragen soll.
die Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Nichts ist bislang geschehen. Daher sind wir in der Pra-
xis von einer einheitlichen Handhabung weit entfernt.
Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Die Linke hat sich jetzt entschlossen, einen Gesetz-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! entwurf vorzulegen, weil im aktuellen Grundlagenpapier
Die Linke legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der der Bundesregierung zu den Patientenrechten zu lesen
endlich ein schon lange hin- und hergewälztes Problem ist:
für eine begrenzte Zahl betroffener Frauen im Osten lö-
sen soll. Im Falle eines groben Behandlungsfehlers, der ge-
nerell geeignet ist, den Schaden herbeizuführen,
Zwischen August 1978 und März 1979 wurden in der wird vermutet, dass der Fehler für den Eintritt des
DDR Frauen mit Hepatitis-C-Virus verseuchtem Anti-D- Schadens ursächlich war. Das heißt, dass der Be-
Immunglobulin behandelt. Bei Rhesusfaktor-Unverträg- handelnde den Gegenbeweis antreten muss, dass
lichkeit sollte damit verhindert werden, dass spätere ein Fehler den Schaden nicht verursacht hat.
Kinder mit Schädigungen geboren werden. Allerdings
erlitten dadurch fast 3 000 Personen eine chronische He- Im Antrag der SPD zu Patientenrechten steht übrigens
patitis-C-Virus-Infektion, die diverse Folgeerkrankun- das Gleiche. Nichts anderes formuliert die Linke in dem
gen mit sich bringt. Hier lag ganz offensichtlich ein gro- heute vorliegenden Gesetzentwurf. Diese Frauen sollen
ber Fehler der damals Verantwortlichen vor. entschädigt werden, ohne dass sie den Beweis erbringen
müssen.
Gut war, dass am 1. Januar 2000 das Anti-D-Hilfege-
setz in Kraft trat. Darüber sollten die Betroffenen neben (Beifall bei der LINKEN)
Leistungen der Heil- und Krankenbehandlung ab einem Die Linke will ein würdiges Verfahren, das den durch
bestimmten Ausmaß der Schädigung finanzielle Hilfen die Anti-D-Immunprophylaxe Geschädigten endlich zu
als Einmalzahlung und als Rente bekommen. Leider ihrem Recht verhilft. Geben Sie sich einen Ruck und set-
zeigte sich, dass die Bewilligungspraxis von Land zu zen Sie hier ein Zeichen.
Land, von Versorgungsamt zu Versorgungsamt sehr un-
terschiedlich war und ist. (Beifall bei der LINKEN)
12412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Vizepräsident Eduard Oswald: übernommen worden. Die Betroffenen waren weitere (C)
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – Jetzt für die zehn Jahre – da haben Sie recht, Frau Bunge – von Ent-
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Karin schädigungsleistungen ausgeschlossen. Um diese huma-
Maag. Bitte schön, Frau Kollegin Maag. nitäre und soziale Lage der infizierten Frauen zu verbes-
sern, hat der Bundestag im Jahre 2000 nach vielen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die für die
Ausführung immer noch zuständig sind, ein eigenes Ge-
Karin Maag (CDU/CSU): setz, das sogenannte Anti-D-Hilfegesetz, beschlossen.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein eigenständiges Gesetz; parallel gibt es andere,
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Vorfälle, die zu zum Beispiel das HIV-Hilfegesetz.
dem Anti-D-Hilfegesetz geführt haben, nun schon ein Die Rentenleistungen sind heute nach dem Grad der
paar Jahre zurückliegen, 1978 und 1979, will ich versu- Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelt. Sie reichen
chen, sie zusammenzufassen, um uns gemeinsam auf von Beträgen von 272 bis 1 088 Euro monatlich. Diese
den neuesten Stand zu bringen. Es geht um Frauen, die Rentenleistungen werden jetzt, so wie die normale
zwischen August 1978 und März 1979 in der ehemaligen Rente, zum 1. Juli 2011 dynamisiert. Über die Einmal-
DDR zur Immunprophylaxe geimpft wurden. Die Imp- zahlung haben wir schon gesprochen. Die Zahlungen
fung war bei bestimmten Gesundheitsrisiken nach der werden durch Heil- und Krankenbehandlungsansprüche
Schwangerschaft vorgesehen und diente dazu, bei Rhe- in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungs-
susfaktor-Unverträglichkeiten nach Geburten Schäden gesetzes ergänzt. Jetzt kann man sagen: Gott sei Dank
bei den folgenden Kindern zu verhindern. hat sich die medikamentöse Therapie der chronischen
Innerhalb dieses halben Jahres wurden 6 773 Frauen Hepatitis C stetig verbessert. Die Heilungschancen sind
mit diesen Anti-D-Immunglobulinen behandelt. Weil die erheblich gestiegen. Sie liegen jetzt bei 50 bis 75 Pro-
Impfchargen im damaligen Bezirksinstitut für Blut- zent.
spende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft ver- Ich möchte noch auf eines hinweisen, das mir im Zu-
seucht worden waren, wurden rund 4 600 Personen – das sammenhang mit Ihrem Vorschlag wichtig ist. Das Anti-
ist der Stand von heute –, also die behandelten Frauen, D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Branden-
ihre Kinder und etliche weitere Kontaktpersonen aus burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An-
dem familiären Bereich, kontaminiert. Derzeit, Stand halt und Thüringen als Auftragsverwaltung ausgeführt.
vom 31. Dezember letzten Jahres, sind 2 615 Personen An den Kosten haben sich auch die übrigen Bundeslän-
als Schadensfälle nach dem Anti-D-Hilfegesetz aner- der in Deutschland nach einem bestimmten Kosten-
kannt. schlüssel beteiligt. Jetzt komme ich zu dem, was Sie be-
(B) (D)
Ich glaube, es steht uns gut an, wenn wir sagen, dass anstandet haben. Das Bundesgesundheitsministerium
diesen Opfern auch heute noch unser Bedauern und un- lädt die Akteure regelmäßig ein und stellt über diese re-
ser Mitgefühl gehören, und dies umso mehr, als sie na- gelmäßigen Kontrollen die einheitliche Durchführung si-
türlich auch heute noch, Frau Bunge, regelmäßig zu Un- cher. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dort
tersuchungen müssen und damit weiterhin schwer am Anfang – das hat auch der Bundesrechnungshof auf-
belastet sind. gegriffen – einiges schieflief.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Auch des- Frau Bunge, Sie wollen jetzt mithilfe einer Änderung
halb sollte man ihnen nicht so viele Sorgen des Anti-D-Hilfegesetzes die Beweislast umkehren. Ich
machen!) halte das für rechtlich falsch und für politisch unklug
und schwierig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das
– Ich komme noch dazu, Frau Bunge. Machen Sie sich so sehe: Das Anti-D-Hilfegesetz wurde vor elf Jahren
keine Gedanken. – Ich möchte darauf hinweisen, dass hier im Bundestag einvernehmlich verabschiedet. Alle
wir nicht vergessen sollten, dass diese Frauen zweimal Fraktionen, auch die PDS, waren sich damals einig, dass
geschädigt wurden: zum einen durch die kriminellen es sich – so hat es damals Frau Nickels formuliert – um
Machenschaften im Institut in Halle – Arzt und Apothe- eine ausgewogene Balance eines sehr komplexen Sys-
ker wurden strafrechtlich verurteilt; aber das hilft den tems von Hilfen und Finanzierung handelt.
Betroffenen wenig –, zum anderen natürlich auch durch
die frühere Einordnung in der DDR lediglich als Impf- Dieser mühsam hergestellte Kompromiss zwischen
schaden. allen Beteiligten – also zwischen Bund, Ländern sowie
weiteren Akteuren; ich habe die Beratungssituation be-
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!) reits genannt – mit diesem guten Ergebnis wäre erneut
Zu DDR-Zeiten durfte es keinen Arzneimittelskandal ins Wanken geraten – das ist wiederum ein Zitat von
geben, also hat man die Frauen wie bei Impfschäden ent- Frau Nickels –, wenn nur ein Element aus diesem Be-
schädigt und ihnen damit den Anspruch auf eine höhere reich herausgebrochen wäre. Das haben sogar Sie bzw.
Rente, eben nicht nur nach Versorgungsgesichtspunkten, die PDS damals eingesehen. Frau Bunge, an solche Ver-
ebenso versagt wie ein Schmerzensgeld. einbarungen muss man sich dann aber auch halten.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Vor zehn
Jahren konnte man die Umsetzung nicht er-
Mit dieser Einordnung als Impfschaden ist der Vor- kennen! Die sehen wir jetzt! Nach zehn Jah-
gang über den Einigungsvertrag in unser Rechtssystem ren!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12413
Karin Maag
(A) – Lassen Sie mich fortfahren. rechtegesetz. Meines Wissens sind wir in diesem Fall (C)
nicht Rechtsnachfolger und somit auch nicht der Behan-
Wir haben das Anti-D-Hilfegesetz auch evaluiert. In delnde, den Sie gerade zitiert haben, geworden.
unseren Besprechungen haben wir auf eine einheitliche
Rechtsanwendung hingewirkt. Meine Fraktion, Frau Umgekehrt, Frau Bunge – auch dies will ich Ihnen
Bunge, hat bereits 2004 die Frage nach der Rechtsquali- nicht ersparen –, empfinde ich es als für die Betroffenen
tät dieser Entschädigungszahlungen gestellt. Die dama- sehr belastend, wenn Sie immer wieder Erwartungen
lige Bundesregierung hat ausdrücklich klargestellt, dass und Hoffnungen wecken, die Sie nicht erfüllen können.
es sich bei den Regelungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
um einen Bestandteil des sozialen Entschädigungsrechts,
der FDP)
sondern um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.
Noch einmal: 2 615 im Raum stehende Schadensfälle
Ich will hier jetzt eigentlich nicht Ihre sehr schlanke sind anerkannt; das sind rund zwei Drittel. Unzumutbar
Begründung aufwerten. Ich will aber trotzdem erläutern, ist das also sicherlich nicht. Ich will nicht verhehlen,
warum ich Ihre Forderung für wichtig halte. Wäre dies dass es in Einzelfällen Probleme gegeben hat. Es geht
ein Bestandteil des Entschädigungsrechts, könnte man aber um Einzelfallgerechtigkeit. Dafür sind die Gerichte
unter bestimmten Bedingungen eine Beweiserleichte- zuständig. Einzelne Gerichte, die sich mit solchen Fällen
rung im Hinblick auf den Ursachenzusammenhang zu- befasst haben, haben sich wegen der AHP übrigens an
lassen. Wir kennen so etwas aus dem Infektionsschutz- das Bundesarbeitsministerium gewandt, um dort mög-
gesetz. Diese Rechtslage entspricht auch der Rechtslage licherweise Änderungen herbeizuführen. Ich halte dies
in anderen Bereichen des Entschädigungsrechts. für einen relativ gut gangbaren Weg.
Jetzt kommt die Begründung, warum es nicht geht: Frau Bunge – ich spreche jetzt Sie persönlich an, weil
Ausschließlich zugunsten der Opfer, um höhere Renten Sie zu den Initiatoren dieses Gesetzentwurfes gehören –,
zu ermöglichen und um überhaupt Einmalzahlungen ge- mir wäre es lieb, wenn Sie in den östlichen Bundeslän-
währen zu können, ist man damals den Weg über die dern keine unerfüllbaren Hoffnungen wecken würden.
Schadenersatzleistungen gegangen. Nach allgemeinen Helfen Sie den Menschen vor Ort! Wir haben eine gute
zivilrechtlichen Grundsätzen – die können wir hier nicht Regelung. Belassen Sie es dabei, und versuchen Sie, im
durch ein Gesetz im Einzelfall außer Kraft setzen – trägt Einzelfall konstruktiv mitzuwirken!
der Anspruchsteller im Bereich des Schadenersatzes die
Beweislast für alle anspruchsbegründenden Vorausset- Danke schön.
zungen. Damit verbietet sich die Beweislastumkehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schlicht aus Rechtsgründen. Ich gehe einmal davon aus,
(B) dass Sie sich an die einmal vereinbarte Rechtswahl auch (D)
halten wollen. Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Maag. – Jetzt
Sie haben in mehreren Anfragen das Thema der Dar- spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kol-
legungs- und Beweislast aufgebracht – im Einzelfall lege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege
durchaus zu Recht. Die jeweilige Bundesregierung hat Lemme.
Ihnen aber auch gut begründet geantwortet, dass und wa-
rum eine Rechtsänderung nicht in Betracht kommt. (Beifall bei der SPD)
Auch der Petitionsausschuss hat im Hinblick auf eine
Sammelpetition betroffener Frauen nicht anders ent- Steffen-Claudio Lemme (SPD):
schieden. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Frau Flach, erst einmal sage ich Ihnen im Namen
Ich will jetzt nicht „nur“ erklären, warum Ihr Gesetz-
meiner Fraktion herzlichen Glückwunsch zu Ihrem
entwurf nicht gut ist. Ich habe durchaus schon von den
neuen Amt als Staatssekretärin.
betroffenen Frauen im Osten gehört, auch wenn ich aus
dem Westen komme. Auch mir ist diese Problematik be- Der Deutsche Bundestag berät nicht zum ersten Mal
kannt. Ich will konstruktiv auf Folgendes hinweisen: Der diese Problematik und diesen Tatbestand, der in der Ge-
Rechtsanwalt des Deutschen Vereins HCV-Geschädig- samtschau letztlich nur betroffen machen kann. Ich muss
ter verfolgt nämlich eine andere Zielrichtung. Er küm- sagen: Mich hat er betroffen gemacht. Es war immer
mert sich um die Verbesserung der Gestaltung der mein Verständnis von Politik und Parlamentarismus,
Nr. 26.10 AHP. Das sind die Anhaltspunkte für die soge- dass wir uns vor allem der Menschen annehmen müssen,
nannte Gutachtertätigkeit und deren Nachfolgeregelung. denen Unrecht widerfährt, so wie im hier vorliegenden
Das erscheint mir der konstruktivere und vernünftigere Fall der Infektion von rund 3 000 jungen Müttern mit
Ansatz. Das sage ich Ihnen jetzt privat und persönlich. Hepatitis C in den Jahren 1978 bis 1979 in der DDR.
Für mich gilt: Im Ergebnis können wir mit der Rege- Diese Mütter erhielten nach der Geburt ihres ersten
lung, die im Jahre 2000 getroffen wurde, zufrieden sein. Kindes eine damals vorgeschriebene Anti-D-Immunpro-
Es ist gelungen, eine deutlich bessere Entschädigung als phylaxe, bei der mehrere klar identifizierte Chargen mit
damals zu DDR-Zeiten üblich zu erreichen. Handlungs- dem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Meine persönli-
bedarf mit der Zielrichtung der Beweislastumkehr, wie che Bestürzung rührt daher, dass die Infektion nicht etwa
von Ihnen gefordert, sehe ich deshalb nicht. Ich sehe das durch einen mangelnden Grad wissenschaftlicher Kon-
im Übrigen auch nicht im Hinblick auf das Patienten- trollierbarkeit der Präparate verursacht wurde, sondern
12414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Steffen-Claudio Lemme
(A) dass die Verabreichung mit dem Wissen um die Folgen und Hürden sind nicht im Sinne der Betroffenen und ent- (C)
einer Hepatitis-C-Infektion und damit vorsätzlich ge- sprechen nicht dem Anliegen des Gesetzes.
schehen ist.
Mehrfach hat der Betroffenenverband, der Deutsche
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich habe lange Verein HCV-Geschädigter, auf Probleme hingewiesen.
in der DDR gelebt. Umso schockierender ist es für mich, Insbesondere ist die Uneinheitlichkeit der Anwendung
mit den Dimensionen dort erlittenen Unrechts konfron- des Anti-D-Hilfegesetzes und die damit verbundene un-
tiert zu werden. Hepatitis-C-Viren verursachen eine terschiedliche Anerkennungspraxis durch die Versor-
Form der Leberentzündung, die im schlimmsten Fall ei- gungsämter in den Ländern kritisiert worden.
nen chronischen Verlauf bis hin zum Tode durch Leber- Im Entschließungsantrag zu diesem Sachgegenstand
versagen nehmen kann. Eine wirksame Therapie zur in der 16. Legislaturperiode haben wir in der Großen
Überwindung der Krankheit steht bis heute nicht zur Koalition nochmals unterstrichen, dass für die einheitli-
Verfügung. che Anwendung des Gesetzes Sorge zu tragen ist, was
Für die Betroffenen bedeutet dies schlicht, die Krank- ich für meine Fraktion an dieser Stelle nochmals bekräf-
heit akzeptieren und mit ihr leben zu müssen. Besonders tige.
belastend ist dabei die stete Gefahr der Übertragung der (Beifall bei der SPD)
Krankheit, etwa auf den Partner oder auf Familienange-
hörige. All diese Herausforderungen machen es notwen- Wir sehen auch heute die ausführenden Länder, aber
dig, dass wir den Betroffenen zur Seite stehen. auch das Bundesgesundheitsministerium als Aufsichts-
behörde in der Pflicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN) Mit Blick auf die Kernforderungen des Gesetzent-
wurfs gebe ich zu bedenken, dass sowohl die defizitäre
Sozialdemokraten haben dies in der Vergangenheit in Finanzlage des Bundes als auch der Länder keinen Spiel-
Regierungsverantwortung getan. Wir haben im raum für eine Ausweitung der Mittel bietet. Jede dahin
Jahre 2000 gemeinsam mit dem Bündnis 90/Die Grünen gehende Forderung ist zurückzuweisen.
unter der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea
Fischer das Anti-D-Hilfegesetz auf den Weg gebracht. (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])
Wir haben dafür gesorgt, dass die Betroffenen und Ange- Ich fordere die Bundesregierung jedoch auf, den in
hörigen nach Anerkennung ihrer Schädigung durch Ein- der Vergangenheit bereits stattgefundenen Erfahrungs-
malzahlungen, Rentenbezüge und die Übernahme der austausch zu Fragen der einheitlichen Durchführung des
Kosten für Heil- und Krankenbehandlungen unterstützt Gesetzes wieder neu zu beleben, und rege eine erneute
(B) wurden. Für uns stehen die Belange der Patientinnen und Erörterung des Sachverhaltes im Rahmen der im kom- (D)
Patienten grundsätzlich im Mittelpunkt. menden Monat stattfindenden 84. Gesundheitsminister-
konferenz an.
Aufgrund unserer Politik haben wir heute die Unab-
hängige Patientenberatung. In der gemeinsamen Selbst- Nach Überweisung des Gesetzentwurfs an den zu-
verwaltung wirken Vertreterinnen und Vertreter der Pa- ständigen Ausschuss für Gesundheit wird es meines Er-
tienten mit, und die Betroffenen haben mit dem achtens besonders darauf ankommen, die betroffenen
Patientenbeauftragten der Bundesregierung eine zentrale Frauen anzuhören, um einen noch konkreteren Einblick
Anlaufstelle. zu erhalten. Abhilfe muss meines Erachtens in erster Li-
nie pragmatisch und primär im Rahmen einer Optimie-
(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) rung der bestehenden Anerkennungspraxis gesucht wer-
Wir sind noch nicht am Ziel. Mit unseren Vorschlägen den. Ein positives Ergebnis ist nur im Konsens zwischen
für ein modernes Patientenrechtegesetz wollen wir noch den beteiligten Akteuren zu erreichen.
einen Schritt weitergehen, um für Patientinnen und Pa- Was zählt, ist die Verbesserung der Situation der Be-
tienten Rechtssicherheit zu schaffen. Neben der unseres troffenen, für die das Gesetz einstmals mehrheitlich ver-
Erachtens dringend notwendigen Zusammenfassung von abschiedet wurde. Ihnen muss unsere ganze Aufmerk-
unterschiedlichen Rechten in einem einzigen Patienten- samkeit gelten.
rechtegesetz fordern wir grundsätzliche Beweiserleichte-
rungen bei Behandlungsfehlern. Hingegen lehnen wir Vielen Dank.
eine vollständige bzw. generelle Beweislastumkehr aus (Beifall bei der SPD)
heutiger Sicht aus guten Gründen ab.
Doch kommen wir zurück auf den hier zu diskutieren- Vizepräsident Eduard Oswald:
den Fall. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird jene Be- Wir haben zu danken. Vielen Dank, Kollege Lemme.
weislastumkehr für diesen speziellen Betroffenenkreis
gefordert. Denn nach über 30 Jahren besteht heute viel- Jetzt hätte nach meiner Rednerliste unsere Kollegin
fach das Problem der mangelnden Nachweisfähigkeit Christine Aschenberg-Dugnus für die Fraktion der FDP
von Hepatitis C. Auch der kausale Zusammenhang zwi- das Wort. Sie gibt ihre Rede zu Protokoll. Das ist so ver-
schen der Anti-D-Impfung in der DDR und der letztend- einbart.1)
lichen Erkrankung wird immer wieder infrage gestellt.
Ich stelle hier unmissverständlich klar: Diese Umstände 1) Anlage 10
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12415
Vizepräsident Eduard Oswald
(A) Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Harald Rente gezahlt. Eine solche Bewertung ist nur bis zu ei- (C)
Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte nem gewissen Grade objektivierbar, und sie ist weitge-
schön, Kollege Dr. Terpe. hend unabhängig davon, wer die Beweislast für die Ur-
sachen der gesundheitlichen Schädigung trägt.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpom-
Herr Präsident! Lassen Sie mich zunächst darauf hin- mern selbst als Arzt im Rahmen einer ständigen Arbeits-
weisen, dass auf der Regierungsbank ein neues Gesicht gruppe bei der Begutachtung solcher Fälle mitgewirkt.
zu sehen ist. Herzlichen Glückwunsch, Frau Staatssekre- Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kollegen, die
tärin, zu Ihrem neuen Amt. daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen Entschei-
dungen niemals einfach gemacht. Wir haben versucht,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verseuchung den Frauen auch in den Fällen gerecht zu werden, wo
von Blutprodukten mit Hepatitis-C-Viren und die daraus nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die schon
entstandenen Infektionen sind schon mehrfach Thema beschriebenen Depressionen oder Müdigkeitssymptome
im Parlament gewesen. Dies betraf nicht nur die Frauen, vorgelegen hat. Dabei hat man sich immer am wissen-
die in der DDR um das Jahr 1979 mit einer verunreinig- schaftlichen Standard orientiert.
ten Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wur-
den. Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die Ich will vor diesem Hintergrund nicht verhehlen, dass
sich in den 80er-Jahren mit Hepatitis-C-Viren durch ver- ich Zweifel habe, ob die von den Linken vorgeschlagene
seuchte Blutprodukte infizierten, obwohl staatliche Be- Lösung den Frauen weiterhilft. Vielleicht ist ein außerge-
hörden die Risiken bereits hinlänglich erkannt hatten. richtliches Verfahren auf Basis verbindlich verordneter
Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit dem Begutachtungskriterien, die immer wieder wissenschaft-
sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine gesetzli- lich angepasst werden müssen, in Gutachterausschüssen
che Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen erhalten der bessere Weg.
eine Entschädigung entweder als Einmalzahlung oder als Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der HCV-
Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
10 bzw. 30 Prozent einhergeht. So weit die gesetzliche
Regelung. Vizepräsident Eduard Oswald:
In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen; Wir haben Ihnen zu danken. Kollege Dr. Harald
das wissen wir alle. Dies betrifft vor allem die Frage, ob Terpe, vielen Dank.
die gesundheitliche Schädigung in einem ursächlichen Ich schließe die Aussprache.
(B) Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere (D)
dann, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
liegt; darüber hat es die meisten Diskussionen gegeben. wurfs auf Drucksache 17/5521 an die in der Tagesord-
Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit den nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere
betroffenen Frauen. Wir wissen jedoch, dass eine Reihe Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung so
unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schädigun- beschlossen.
gen durchaus auf eine Infektion mit Hepatitis C zurück- Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
zuführen ist, was man vielleicht primär nicht annehmen
würde. Dazu zählen neben den typischen Leberentzün- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
dungen mit Fibrosen Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lun- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
gen- und Gelenkerkrankungen sowie neuropsychiatri- zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
sche Erkrankungen wie Depressionen. In diesen Fällen und anderer Vorschriften
könnte die von den Linken vorgeschlagene Beweislast- – Drucksache 17/5311 –
umkehr möglicherweise eine Hilfe für einzelne betrof-
fene Frauen sein, die aus dem Anti-D-Hilfegesetz resul- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
tierenden Entschädigungsleistungen in Anspruch zu ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
nehmen. Ob diese Vermutung tatsächlich zutrifft, ob den
– Drucksache 17/5793 –
Frauen damit wirklich geholfen ist, werden wir sicher im
Laufe der weiteren parlamentarischen Diskussion klären Berichterstattung:
können. Abgeordneter Matthias W. Birkwald
Beweislastumkehr hin oder her, eines ist klar: Am – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Ende bleibt die Entschädigung im Rahmen des Anti-D- gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Hilfegesetzes auch dann eine Ermessensentscheidung,
– Drucksache 17/5796 –
wenn der Zusammenhang zwischen Infektion und Schä-
digung belegt ist; denn ein Gutachter entscheidet, wel- Berichterstattung:
chen Grad die Schädigung hat. Dieser Schädigungsgrad Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
bestimmt letztendlich darüber, ob eine Entschädigung Bettina Hagedorn
gezahlt wird und wenn, in welcher Form; das ist eine Dr. Claudia Winterstein
gutachterliche Frage. Liegt der Grad der Schädigung Roland Claus
beispielsweise unter 30 Prozent, wird keine monatliche Alexander Bonde
12416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
Erika Steinbach
(A) Ihre religiösen Bräuche sind untrennbar mit kulturellen fonds, wie mit dem Europäischen Sozialfonds, hält die (C)
Ausdrucksformen verbunden. Unser Antrag erwähnt EU Geldmittel bereit, die auch für die gesellschaftliche
auch, dass die Sprache der Roma, ihre Reinheitsgebote Integration der Roma und anderer benachteiligter
und ihr Rechtssystem feste Bestandteile ihrer Identität in Gruppen in Anspruch genommen werden können.
unterschiedlicher Intensität und Ausprägung sind.
Heute sind schätzungsweise 80 Prozent der Roma sess- Unter dem spanisch-belgisch-ungarischen Ratsvor-
haft. Mehr als 1 800 nationale Romaorganisationen ge- sitz wurde die soziale und wirtschaftliche Integration
hören dem European Roma and Travellers Forum an, der Roma zu einem Arbeitsschwerpunkt gemacht. Am
das eine privilegierte Stellung innerhalb des Europara- 5. April 2011 veröffentlichte die Europäische Kommis-
tes einnimmt und dem Teilnahme an den Entscheidungs- sion eine Mitteilung zu einem europäischen Rahmen für
prozessen des Europarates eingeräumt sowie dessen nationale Strategien zur Integration der Roma. Sie ver-
Unterstützung zugesichert werden. Auch die große Viel- anschlagt im EU-Haushalt dafür bis zu 26,5 Milliarden
falt innerhalb der Roma-Gemeinschaft bringt es mit Euro, um die Mitgliedstaaten bei ihren Maßnahmen zur
sich, dass keine pauschalen Lösungen für die Verbesse- Verbesserung der sozialen Integration auch der Minder-
rung der Situation dieser Minderheit aus dem Ärmel ge- heit der Roma zu unterstützen.
schüttelt werden können. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten zählen
Und doch sind bereits – ungeachtet der noch immer zu den Kopenhagener Kriterien. Diese müssten eigent-
in vielen Ländern Europas schwierigen Situation der lich alle Staaten erfüllen, bevor sie der Europäischen
Roma – erste Lösungsansätze gefunden, die es dringend Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen
zu implementieren gilt. Wichtig ist – das will ich betonen –, Bereichen auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfah-
dass sowohl die EU-Mitgliedstaaten mit ihren nicht den ren in der Frage der Roma sehr leichtfertig über gravie-
Roma angehörenden Bürgerinnen und Bürgern als auch rende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt,
die Roma und ihre Organisationen selbst in gemein- hinweggegangen. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür
schaftlicher Verantwortung an den notwendigen Verbes- dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das
serungen mitarbeiten wollen und müssen. Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu ei-
nem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem
Es reicht nicht, zu fordern und die Rahmenbedingun- Hintergrund, dass es in Ungarn selbst problematische
gen für eine Integration der Roma-Kinder und der Ju- Situationen gibt.
gendlichen ins Schulsystem der europäischen Staaten zu
schaffen. Die Roma müssen ihren Kindern auch die In Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskri-
Möglichkeit einräumen, die Schule zu besuchen. Der minierung noch eine Ausgrenzung der Roma. Aber es
gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche
(B) Anteil der Romakinder im Schulalter macht es dringend Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem (D)
notwendig, dass die staatlichen Schulsysteme die Kinder
aufnehmen. 35,7 Prozent der Roma sind unter 15 Jahre Hause vermutlich klar. Wichtig ist, dass die in Deutsch-
alt. Einer Erhebung des Open Society Institute aus dem land lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der
Jahr 2008 zufolge besuchen nur rund 10 Prozent der Ro- Teilhabe haben. Deutschland trägt bereits auf europäi-
makinder eine Sekundarschule, eine nur begrenzte Zahl scher Ebene zur Integration der Roma bereits auf viel-
schließt die Grundschule ab. Bildung jedoch ist der fältige Weise bei. In den Ländern des westlichen Balkans
Schlüssel zur Integration. Schule weist Lebenschancen fördert Deutschland aktiv sowohl in internationalen Fo-
zu und ist in den Mitgliedstaaten der EU eine unver- ren wie der OSZE und des Europarates als auch durch
zichtbare Institution der Sozialisation. verschiedene bilaterale Projekte die Integration der
Roma. Ein Beispiel ist die Förderung zahlreicher Pro-
Diese Chancen müssen durch die jungen Roma er- jekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen des Stabi-
griffen werden; denn der Mehrheit der Roma im er- litätspaktes sowie im Rahmen der Menschenrechte. Viel
werbsfähigen Alter fehlt die notwendige Bildung für gemeinsame Arbeit ist noch zu leisten, durch die Mit-
zahlreiche Arbeitsstellen. Oft jedoch fehlt der Wille, der gliedstaaten und alle Bürgerinnen und Bürger, Roma
die Voraussetzung für Integration ist, der Wille, neue wie Nichtroma. Integration ist immer eine gemeinsame
Wege zu gehen. Die Roma selbst sind aus ihren Traditio- Sache und kann auch nur durch das Zusammenwirken
nen heraus auf Separation bedacht. Nach wie vor sind der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gelingen.
Roma europaweit Intoleranz und Vorurteilen ausgesetzt.
Sie sind insbesondere von Diskriminierung betroffen,
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD):
vor allem in den gesellschaftlichen Bereichen des Woh-
nens, des Arbeitens, der Bildung und der medizinischen Der uns seit diesem Mittwoch morgen vorliegende
Versorgung. Diese Diskriminierung findet weniger Antrag der CDU/CSU und FDP zu der Situation der
durch die jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen, son- Sinti und Roma liest sich, wie sich Waschlappen anfüh-
dern aus dem Alltagsverständnis der Menschen heraus len. Keine einzige der zwölf Forderungen verlangt von
statt. der Bundesregierung in Zukunft ein Mehr an Engage-
ment. Stattdessen bleiben Sie Ihrem „Weiter so!“-Motto
Die Problemlage ist also sehr komplex. Umso begrü- treu. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie diesen Antrag tat-
ßenswerter sind die Ansätze auf europäischer Ebene. sächlich aus bloßer Verlegenheit eingebracht haben. Ihr
Für die Förderung der Integration der Roma steht be- mangelndes Interesse an dem Thema und Ihre man-
reits ein legislatives, finanzielles und politisches Instru- gelnde Handlungsbereitschaft bleiben dennoch nicht
mentarium zur Verfügung. Mit verschiedenen Struktur- verborgen.
Pascal Kober
(A) letzten Monaten mehrfach mit provokanten Aufmär- regierung in internationalen Foren wie der OSZE oder (C)
schen die ungarischen Roma in Angst und Schrecken dem Europarat. Das Auswärtige Amt fördert zahlreiche
versetzt. Wie es scheint, reicht dieses rechtsextreme Ge- Menschenrechtsprojekte zur Unterstützung der Sinti und
dankengut auch bis tief in die ungarische Polizei hinein. Roma im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Süd-
In vielen Ländern Europas sind Sinti und Roma Intole- osteuropa. Die Bundesregierung unterstützt EU-weite
ranz und Vorurteilen ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Kampagnen wie „Dosta!“, die durch Aufklärung zum
Alltag findet ihre Diskriminierung vor allem in den Be- Abbau von Vorurteilen und Ausgrenzung beitragen, und
reichen des Wohnens, des Arbeitens, der Bildung und macht sich in der EU dafür stark, die Europäische
der medizinischen Versorgung statt. Die Situation gro- Grundrechtecharta als Teil des Primärrechts konse-
ßer Teile der Sinti und Roma hat sich während der letz- quent in die Praxis umzusetzen.
ten Jahrzehnte in dieser Hinsicht erheblich verschlech-
tert. Heute wohnen diese Menschen häufig segregiert, Genau hier müssen wir unsere Arbeit fortsetzen und
teilweise kommt es zu einer Ghettoisierung, ihre Stadt- uns um eine europaweite Integration der Sinti und Roma
viertel werden stigmatisiert. Europaweit werden über- bemühen. Folgerichtig fordert unser Antrag daher die
durchschnittlich viele ihrer Kinder in Sonderschulen oder Bundesregierung auf, sich weiterhin bi- und multilateral
in reine Schulen für Sinti und Roma mit vereinfachtem für die Verbesserung der Situation der Sinti und Roma in
Lehrplan abgeschoben. Dadurch erhalten ihre Kinder Europa einzusetzen. Zoni Weisz hat uns ermahnt, es
eine deutlich schlechtere Schulbildung als ihre Altersge- dürfe nicht sein, dass Sinti und Roma im 21. Jahrhundert
nossen, verlieren jede Chance auf gesellschaftliche Inte- immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance
gration, Arbeit und damit auf individuelle Freiheit. Dies auf eine bessere Zukunft beraubt werden. Ich denke, un-
verstärkt Armut und Perspektivlosigkeit unter den Sinti ser Antrag zeugt davon, dass wir uns seine Mahnung zu
und Roma und fördert ihre soziale, kulturelle und wirt- Herzen nehmen.
schaftliche Ausgrenzung. Teilweise werden sie sogar Op-
fer von offener, fremdenfeindlicher, körperlicher Gewalt. Petra Pau (DIE LINKE):
Bereits zum dritten Mal befasst sich das Plenum des
Darüber hinaus ist uns als FDP besonders daran Deutschen Bundestages in diesem Jahr, also 2011, mit
gelegen, auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Über- der Situation der Sinti und Roma in der Geschichte und
durchschnittlich häufig werden Sinti und Roma Opfer aktuell, in Europa und hierzulande. Das ist bemerkens-
von Menschenhandel; in einigen EU-Staaten machen sie wert, aber auch nötig. Sinti und Roma sind die in Europa
bis zu 80 Prozent der Opfer aus. Meist geschieht dies am meisten – vielfach systematisch – diskriminierte Be-
zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangs- völkerungsgruppe. In Frankreich wurden sie des Landes
arbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der Armut die- verwiesen. In Rumänien müssen sie in Ghettos leben. In
(B) ser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart mit Perspek- der Slowakei wurde ihnen gleichberechtigte Bildung (D)
tivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zu verwehrt. In Ungarn trommeln rechte Schlägertrupps
rechtsstaatlichen Mitteln. Daher halte ich es für richtig, zur Hatz gegen sie, ohne dass der Staat die so bedrohten
dass unser Antrag die Bundesregierung auffordert, auch Sinti und Roma hinreichend schützt.
in Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels
verstärkt auf die Sinti und Roma zu achten. Aber auch die Bundesrepublik Deutschland ist nicht
frei von Schuld. Zwei Drittel aller hier lebenden Sinti
Unser vorliegender Antrag benennt all diese komple- und Roma fühlen sich benachteiligt und ausgegrenzt,
xen und interdependenten Probleme deutlich. Auch die schätzt der Zentralrat der Sinti und Roma ein. Und der
Bundesregierung hat diese Probleme erkannt und be- Deutsche Presserat gibt kund: In jeder seiner Sitzungen
teiligt sich aktiv an nachhaltigen Lösungen auf natio- müsse er sich mit Beschwerden zum medialen Umgang
naler, aber eben besonders auf europäischer Ebene. In mit Sinti und Roma befassen. Ich belasse es bei dieser
Deutschland – um nur zwei konkrete Beispiele zu knappen Schilderung. Aber schon sie zeigt: Es gibt aku-
nennen – arbeitet die Bundesregierung im Beirat der An- ten Handlungsbedarf.
tidiskriminierungsstelle des Bundes eng mit dem Zentral-
rat Deutscher Sinti und Roma zusammen. Sie unterstützt Die EU-Kommission hat Anfang April 2011 einen
das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti „Rahmen für nationale Strategien zur Integration der
und Roma in Heidelberg und stärkt damit die For- Roma bis 2020“ beschlossen. Nach einer umfangreichen
schungsmöglichkeiten in diesem Bereich. Auch die Analyse mit Handlungsempfehlungen mündet er in das
Bundesländer und Kommunen sind in Form von kulturel- „Fazit: Jetzt ist Handeln angezeigt“, und zwar im Drei-
len und sozialen Projekten sehr aktiv, um die gesell- klang „EU, national und regional“. Diesem Anliegen,
schaftliche Integration der Sinti und Roma zu fördern, so unterstelle ich positiv, folgen die CDU/CSU und die
wobei gleichzeitig ihre Identität, Kultur und Sprache FDP mit ihrem Antrag „Situation der Sinti und Roma in
gewahrt werden müssen. Europa verbessern“, zumal einige Passagen textgleich
mit der EU-Vorlage sind. Aber das ist noch kein Gütesie-
Anhand einiger Beispiele möchte ich außerdem kurz gel.
verdeutlichen, dass die Bundesregierung auch ihre in-
ternationalen Verpflichtungen und ihre Verantwortung In der Kürze der Zeit kann ich nur auf wenige Mängel
gegenüber den Sinti und Roma ernst nimmt. Aktuell ist hinweisen. Sie beginnen bei den zwölf Schlussfolgerun-
die Bundesregierung in vielerlei Hinsicht bemüht, ihre gen. Bestenfalls vier davon haben etwas mit der Lage
Integration in Deutschland und Europa zu unterstützen. der Sinti und Roma hierzulande zu tun. Zwei Drittel klin-
Dazu gehört nicht nur die aktive Rolle der Bundes- gen wie ein außenpolitisches Kommuniqué. Ich finde,
Tom Koenigs
(A) Minderheiten in das Kosovo abzuschieben. Erschwerend weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
kommt hinzu, dass deutsche Behörden Angehörige der LINKE
Roma oft ohne gültige Papiere in das Kosovo abschie-
Staatsminister für Ostdeutschland bestellen
ben. Ohne gültige Personenstandsdokumente können
aber keinerlei Hilfen oder Leistungen beantragt werden. – Drucksache 17/5522 –
Die Bundesregierung ist also dringend aufgefordert, Überweisungsvorschlag:
niemanden ohne gültige Papiere in das Kosovo zurück- Innenausschuss (f)
zuführen und das deutsch-kosovarische Rücknahmeab- Haushaltsausschuss
kommen für Roma aus dem Kosovo auszusetzen. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Besonders schwierig ist die Lage von Romakindern Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
im Kosovo. 37 Prozent von ihnen leben in extremer Ar- ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
mut, das heißt von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag.
Fast 5 000 Kinder sind von den durchgeführten oder ge- Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU):
planten deutschen Rückführungen in das Kosovo betrof- Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der Frak-
fen, zwei Drittel von ihnen sind hier in Deutschland tion Die Linke zum Thema „Staatsminister für Ost-
geboren. Bei ihnen handelt es sich nicht um eine „Rück- deutschland bestellen“. Mit der Bundestagsdrucksache
führung“, sondern um eine Abschiebung in ein fremdes 17/5522 fordert die Fraktion Die Linke die Berufung ei-
Land. Eine Studie von UNICEF hat ergeben, dass drei nes „Staatsministers für Ostdeutschland“ und deklariert
von vier zurückgeführten Kindern im Kosovo die Schule die Bestellung des Parlamentarischen Staatssekretärs
nicht mehr besuchen. Dieses Ergebnis ist alarmierend. beim Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Christoph
Ein beträchtlicher Anteil hat keine Geburtsurkunde und Bergner, als Zeichen der „Diskriminierung der Belange
kann damit auch das Recht auf Bildung, medizinische Ostdeutschlands“. Zudem bezeichnet die Fraktion Die
Versorgung oder soziale Unterstützung nicht durchset- Linke die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregie-
zen. Sowohl in Deutschland als auch im Kosovo müssen rung für die Neuen Bundesländer als Zeichen „fehlen-
viele Kinder in den Flüchtlingsfamilien wegen chroni- der Innovation und andauernder Ignoranz der Bundes-
scher Erkrankungen der Erwachsenen viel zu früh viel regierung beim Thema Ostdeutschland“.
zu viel Verantwortung übernehmen.
Wir können dieser Argumentation nicht folgen. Die
In Deutschland schränkt das Ausländer- und Asyl- CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ganz deutlich zum
recht den Zugang von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister
zu Bildung, medizinischer Versorgung und sozialer Teil- des Innern, Herrn Dr. Christoph Bergner. Im März 2011
habe gravierend ein. So müssen sie beispielsweise vor übernahm er die Aufgabe des Beauftragten der Bundes- (D)
(B)
Arztbesuchen eine behördliche Genehmigung einholen, regierung für die Neuen Bundesländer von Thomas de
damit Behandlungskosten übernommen werden. Statt Maizière, der zuvor Bundesinnenminister und zugleich
mit dem Finger auf osteuropäische Staaten zu zeigen, Beauftragter war.
sollte die Bundesregierung erst einmal vor der eigenen
Als Beauftragter koordiniert Herr Dr. Christoph
Haustür kehren. Beginnen könnte sie damit, dem Kin-
Bergner sehr wichtige Politikfelder der Bundesregie-
deswohl in allen Belangen oberste Priorität einzuräu-
rung für die neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-
men. In Deutschland hätte das zur Konsequenz, dass
Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
asyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen dahin-
Er vertritt deren Interessen nach innen und außen. Dazu
gehend geändert werden, dass Flüchtlingskinder nicht
arbeitet Herr Dr. Christoph Bergner mit den Bundes-
länger diskriminiert werden. Bei Entscheidungen über
ministerien und Regierungen der neuen Bundesländer
Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete muss
zusammen. Im Bundesministerium des Innern wird er in-
das Wohl des Kindes der ausschlaggebende Faktor sein.
haltlich vom Arbeitsstab „Angelegenheiten der Neuen
Kinder und Jugendliche aus dem Kosovo, die in
Bundesländer“ unterstützt. Innerhalb der Referate küm-
Deutschland gut integriert sind, sollten ein dauerhaftes
mern sich zahlreiche Mitarbeiter um einzelne wichtige
Bleiberecht erhalten. Schon aus humanitären Gründen
politische Belange. Die Themengebiete reichen von
sollten Romakinder nicht in das Kosovo zurückgeführt
Wirtschafts- und Investitionsförderung über Infrastruk-
werden. Sie würden in ein Land und in eine Umgebung
tur, Forschungs- und Gesundheitspolitik bis hin zur Auf-
verpflanzt, in der sie keinerlei Chancen auf ein men-
arbeitung des SED-Unrechts.
schenwürdiges Leben und eine normale Entwicklung ha-
ben. Bereits diese personelle Ausstattung spricht eindeutig
für eine hohe Priorität, die die Bundesregierung dem
Vizepräsident Eduard Oswald: Thema verleiht. Darüber hinaus ist Herr Dr. Christoph
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Bergner ehemaliger Ministerpräsident des Landes Sach-
Drucksache 17/5767 an die in der Tagesordnung aufge- sen-Anhalt und in seiner seit November 2005 ausgeüb-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit ten Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär beim
einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen. Bundesminister des Innern in besondere Weise geeignet,
die Belange wahrzunehmen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Die Forderung, dass die Funktion „Staatsminister für
Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Ostdeutschland“ 21 Jahre nach der Wiederherstellung
Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, der staatlichen Einheit Deutschland erfolgen soll, ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12427
Manfred Behrens (Börde)
(A) eindeutig der Klientelpolitik der Fraktion Die Linke ge- anständig, wenn man sich das eigentliche Ziel vor Au- (C)
schuldet, die sich vorzugsweise als Anwalt der Belange gen führt!
der neuen Länder versteht.
Es ist inzwischen eine neue Generation herange-
Ihre Behauptung, sehr geehrte Damen und Herren wachsen. Diese Generation ist 1990 geborenen und in-
von der Fraktion Die Linke, dass Ostdeutschland groß- zwischen 21 Jahre alt. Für diese jungen Bürgerinnen
flächig von ökonomischer Schwäche betroffen sei, ist und Bürger existiert kein Ostdeutschland und West-
schlichtweg falsch. Denn 20 Jahre nach dem Mauerfall deutschland. Für sie gibt es nur ein gemeinsames
hat die ostdeutsche Wirtschaft in vielen Bereichen auf- Deutschland. Und das ist positiv. Die Spaltungspolitik
geholt. Die Zahlen und Bilanzen der Forschungsinsti- der Fraktion Die Linke sollte diesen Prozess nicht stop-
tute sind eindeutig. Das Produktivitätsniveau in den pen dürfen. Insgesamt lehnt die CDU/CSU-Bundestags-
neuen Bundesländern ist seit der Wiedervereinigung um fraktion den Antrag damit allumfassend ab.
40 Prozent auf mehr als 70 Prozent gestiegen. Natürlich
ist der „Gesamtrückstand“ noch nicht aufgeholt, aber Dagmar Ziegler (SPD):
der Angleichungsprozess verläuft sehr ordentlich und
zufriedenstellend. Die Wirtschaftsleistung in den neuen Unbestritten ist, dass die ostdeutschen Bundesländer
Bundesländern steigt an. besondere Beachtung verdienen. Unbestritten ist auch,
dass sie diese notwendige Beachtung von dieser Bundes-
Es war unmittelbar nach der deutsch-deutschen Wie- regierung nicht erhalten. Schauen wir auf die letzten
dervereinigung schier unmöglich, die Wirtschaftsleis- Haushaltsberatungen, die massive soziale Einschnitte
tung von null auf hundert hochzufahren. Die Vorausset- zur Folge hatten, oder aber auch aktuell auf die ge-
zungen dafür waren einfach nicht gegeben. Inzwischen plante Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung,
hat sich dies geändert. Das haben wir der klugen Politik die im Wesentlichen darin besteht, dass die Herabstu-
der CDU-geführten Bundesregierung sowie der CDU- fung der Wasserwege ausschließlich den Osten Deutsch-
geführten Landesregierungen zu verdanken. lands betrifft. Wir stellen fest, dass die Belange Ost-
deutschlands nicht berücksichtigt werden. Im Gegenteil,
Auch die folgenden Jahre werden noch dazu genutzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre
die Wirtschaft in den neuen Bundesländern weiter zu un- Entscheidungen treffen Ostdeutschland stets besonders
terstützen, damit das Niveau der alten Bundesländer er- hart.
reicht werden kann. In den vergangenen zwei Jahrzehn-
ten hat sich die Wirtschaft in den neuen Bundesländern Ich glaube jedoch nicht, dass Ihre Politik davon ab-
sehr gut entwickelt. Der Fortschritt ist beachtlich und hängt, ob der Beauftragte Minister oder Staatssekretär
lobenswert. Vor allem gemessen an der Wirtschaftslage ist. Nein, ich glaube viel eher – und einen anderen
(B) vor dem Mauerfall ist dieser Fortschritt in Branden- Schluss lässt Ihre Politik nicht zu – , dass die Interessen (D)
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An- Ostdeutschlands generell keine hohe Priorität bei Ihnen
halt und Thüringen beachtlich. Ich wiederhole es gern in genießen – egal bei wem und in welcher Form dieses
aller Deutlichkeit: Die Aussage der Fraktion Die Linke, Amt auch angesiedelt ist! Anders lässt sich Ihr Verhalten
dass Ostdeutschland großflächig von ökonomischer nicht erklären. Wenn dann da noch Herr Bergner als Zu-
Schwäche betroffen sei, ist schlichtweg falsch. Schauen ständiger für Ostdeutschland in einem Interview sagt,
Sie sich die Erfolgsmodelle in den neuen Bundesländern die Aufgabe sei bescheidener geworden, bestätigt mich
an. Die Regionen im thüringischen Jena und in Sonne- das nur in meiner Auffassung. Wie kann man denn nur
berg weisen eine Arbeitslosenquote von 6 bzw. 7 Prozent davon reden, dass die Aufgabe bescheidener geworden
auf. Auch der gesamte Wartburgkreis um Eisenach hat sei? Wo wird denn hier der Maßstab angelegt? Wenn wir
aktuell 7 Prozent. Die Kaufkraft ist stark gestiegen. natürlich den Haushaltsplan mit seinen Kürzungen für
Ostdeutschland als Maßstab nehmen, lässt sich zwar
Nehmen Sie das Beispiel Sachsen-Anhalt. Der Land- schlussfolgern, dass die Koalition der Meinung ist, dass
kreise Börde weist mit 8,4 Prozent die geringste Quote in die Aufgabe „bescheidener“ geworden ist. Der Aufga-
Sachsen-Anhalt auf. Auch zahlreiche Regionen in Sach- benumfang hat sich aber mitnichten geändert, eher wohl
sen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wei- die Aufgabenbeschreibung, und das wird sich in Zukunft
sen ähnlich positive Zahlen auf. Insgesamt ist die Ent- noch deutlicher zeigen.
wicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft
sehr erfolgreich. Die CDU/CSU ist zudem fest ent- Es reicht heute schon nicht mehr und in naher Zu-
schlossen, diesen erfolgreichen Weg weiterzugehen. Die kunft schon gar nicht mehr aus, den Blick nur Richtung
CDU/CSU-Bundestagsfraktion fragt sich, wieso nach Ost und West zu wenden und hier miteinander zu verglei-
über zwei Jahrzehnten deutsch-deutscher Wiederver- chen. Das wäre zu kurz gesprungen. Die Disparitäten
einigung noch immer von „Ostdeutschland und West- zeichnen sich geografisch nämlich nicht nur zwischen
deutschland“ gesprochen wird. Das Ziel ist doch, eine Ost und West ab, wie der Antrag der Linken suggeriert,
Gesellschaft zu schaffen, in welcher der gesamtdeutsche sondern auch zunehmend zwischen dem Norden und
Gedanke dominiert und nicht gedanklich zwischen Ost- dem Süden Deutschlands. Wir müssen Deutschland und
und Westdeutschland unterschieden wird. Die Menschen seine Regionen ganzheitlich betrachten. Damit meine
sollen sich als „Deutsche“ fühlen, nicht als Ost- oder ich, dass wir in jeder Himmelsrichtung sowohl struktur-
Westdeutsche. Einzig und allein die Fraktion Die Linke schwache Regionen als auch prosperierende Gegenden
versucht, diese Begrifflichkeiten aufrechtzuerhalten und vorfinden. Das sind keine Charakteristika mehr, die man
damit ihre Spartenpolitik zu legitimieren. Das ist nicht typischerweise dem Osten oder dem Westen zuordnen
Dagmar Ziegler
(A) kann. Und eben dieser Entwicklung muss Rechnung ge- zu konzentrieren, wie wir die noch bestehenden Pro- (C)
tragen werden, zum Beispiel bei der Struktur der För- bleme inhaltlich lösen. Genau das haben alle Bundesre-
derprogramme. Es kommt nicht auf den Titel desjenigen gierungen seit 1990 gemacht, und das macht die jetzige
an, der sich insbesondere für die Belange Ostdeutsch- Bundesregierung mit Engagement und Weitsicht. Und
lands einsetzen soll. Es kommt darauf an, wie es derje- das vermisst man bei den Linken. Nur mit einem populis-
nige versteht, seine Aufgabe mit Leben zu erfüllen. Es ist tischen Etikettenwechsel werden Konzepte und Ideen
im weitesten Sinne nicht Aufgabe eines Einzelnen, son- nicht anders und vor allem nicht besser. Im Vordergrund
dern es müssen alle, in diesem Fall die gesamte Koali- muss also stehen, wie wir die nach wie vor bestehenden
tion, an einem Strang ziehen. Unserer Unterstützung für Probleme und Notwendigkeiten angehen, um die deut-
die ostdeutschen Belange, für die Interessen struktur- sche Einheit so bald wie möglich endgültig zu vollenden.
schwacher Regionen im Gesamten können Sie sich Dies möchte ich hier gerne noch einmal benennen: Das
sicher sein. Leider ist es hier mit Ihrem Enthusiasmus ist zum einen die immer noch sehr hohe Abwanderung.
nicht weit her. Das ist bedauerlich; denn hier geht es um Noch immer reißt der Strom vor allem junger, gut ausge-
die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Die bildeter Menschen vom Osten in den Westen nicht ab.
nächsten anstehenden Beratungen werden zeigen, wie Die Folge sind massive demografische Probleme: Über-
ernst Sie diese Thematik nehmen. alterung, Frauenmangel, Verödung von Städten und Re-
gionen. Darauf müssen wir uns einerseits einstellen,
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): weil die Entwicklung nicht ganz zurückgedreht werden
kann. Die Bundesregierung erarbeitet hierfür gerade
Gegenstand dieser Debatte ist ein Antrag der Partei
eine Demografiestrategie, die noch dieses Jahr zu-
Die Linke, in dem sie fordert, den Beauftragten der Bun-
kunftsweisende Maßnahmen aufzeigen wird, die auch
desregierung für die Neuen Bundesländer formell zum
auf den Westen angewendet werden können. Anderer-
„Staatsminister für Ostdeutschland“ im Bundeskanzler-
seits müssen wir auch die Ursachen bekämpfen. Richtig
amt zu machen. Ich persönlich komme übrigens aus
ist, dass die ostdeutschen Regionen im Durchschnitt bei
Thüringen, mitten in Deutschland, und fühle mich als
der Wirtschaftskraft, trotz aller positiven Entwicklun-
Mitteldeutscher. Ich frage mich also, warum wir die Auf-
gen, noch immer hinterherhinken. Ein Schlüssel, dies zu
gaben des jetzigen Beauftragten geografisch einschrän-
überwinden, liegt unter anderem in der Stärkung der
ken sollten. Schon von 1998 bis 2002 hatte der Beauf-
Innovationsfähigkeit von kleinen und mittleren Unter-
tragte den Titel eines Staatsministers. Dies lag aber an
nehmen in Verbindung mit wirtschaftsnahen For-
der Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes. In den
schungseinrichtungen. Auch hier ist die Bundesregie-
Ministerien heißt die gleiche Funktion „Staatssekretär“.
rung sehr engagiert, indem sie unter anderem die
Eine besonders kreative Idee ist das also nicht. Das ei-
Innovationsförderung auf hohem Niveau hält.
(B) gentliche Ziel, billige und plumpe Kritik, ist deutlich und (D)
hier nur in eine andere Verpackung gehüllt. Auch dieser Auf die neuen Länder werden massive Finanzierungs-
Antrag reiht sich ein in die Kategorie „Schublade“. Im- schwierigkeiten zukommen. Dem muss entgegengewirkt
mer wenn die Kreativität ausbleibt, greift man in die werden durch eine konsequente Durchführung des Soli-
Schublade und zieht einen Antrag. Deshalb ist der An- darpakts II und Übergangsregelungen für das Auslaufen
trag nicht ernst gemeint. Der vorgelegte Antrag beinhal- der EU-Förderung. Auch diesbezüglich hat die Bundes-
tet keine kreativen Ideen, wie der Aufbau Ost vollendet regierung unter Federführung des Bundesinnenministe-
werden kann. Entscheidend ist bei der Bewertung, ob er riums sehr gute Arbeit bei den Verhandlungen auf EU-
den Menschen in Ost- und Mitteldeutschland etwas Ebene geleistet und viel erreicht. Auch andere Ansatz-
bringt oder ob es sich um reine Symbolpolitik handelt. punkte hat die Bundesregierung erkannt und betreibt sie
Mit dem auf den ersten Blick wohlklingenden Posten ei- mit Nachdruck und Engagement. Diese sind:
nes „Staatsministers für den Osten“ will man die Men-
schen glauben machen, dass damit die Probleme besser – Anwerbung internationaler Investoren durch bessere
gelöst werden könnten. Dies ist nicht so. Nicht Titel, son- Vernetzung und Bekanntmachung der Vorzüge Ost-
dern Taten sind entscheidend. und Mitteldeutschlands im Ausland
Bemerkenswert ist, dass sich hier die Linke wieder – Sicherung des Fachkräftebedarfs durch regionen-
einmal als Anwalt der Ostdeutschen aufspielt, obwohl spezifische Ansätze
sie für die ganze Misere bis vor 20 Jahren, für die struk-
turellen Nachteile der Neuen Bundesländer verantwort- – Förderung des strukturellen Zusammenwachsens der
lich sind. Während ihrer 40-jährigen Regierungszeit und mittelosteuropäischen Regionen.
unter einer fatalen Ideologie, zu der sich einige Unver-
besserliche zurücksehnen, wurden in der ehemaligen Schließlich möchte ich auch betonen, dass wir die
DDR große Betriebe unwirtschaftlich und unproduktiv, Aufarbeitung des Unrechts der SED-Diktatur weiterhin
der Mittelstand komplett zerschlagen und Kleinstunter- vorantreiben müssen, um dieses Kapitel endlich ab-
nehmen jeglicher Bewegungsspielraum genommen. In- schließen zu können und die Versöhnung der Menschen
sofern klagen die Antragsteller hier Missstände an, für zu ermöglichen. Auch hier sind die Bemühungen dieser
die sie selbst die Hauptverantwortung tragen. Bundesregierung beispielhaft. So überarbeiten wir ge-
rade das Stasiunterlagengesetz und stellen sicher, dass
Statt irgendwelche „Postenplanspiele“ zu betreiben bei der Aufarbeitung nicht nachgelassen wird. Gerade
und „Funktionärsschach“ zu spielen, ist es deshalb we- an diesem Punkt haben sich die Urheber des vorgelegten
sentlich hilfreicher und produktiver, sich weiter darauf Antrags bislang nur durch Geschichtsklitterung und
(A) Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men, gerade in ländlichen Regionen, die durch den de- (C)
Die Fraktion Die Linke schlägt die Umbenennung des mografischen Wandel zusätzlich benachteiligt sind. Die
Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bun- wirtschaftliche Entwicklung stagniert und der Anstieg
desländer in „Staatsminister/in für Ostdeutschland“ des Bruttoinlandsprodukts im Osten war im letzten Jahr
vor. Insbesondere mit dem Recht zur Teilnahme an den niedriger als im Westen. Ostdeutschland hat nach wie
Sitzungen der Bundesregierung soll die Person mehr vor eine wesentlich höhere Arbeitslosenquote, das Brut-
Mitwirkungsrechte erhalten. tolohnniveau liegt bei rund 80 Prozent des Westniveaus.
Aber die aktuelle Politik der Bundesregierung erschwert
Ein genauer Blick in die Geschäftsordnung der Bun- den Angleichungsprozess, statt ihn voranzutreiben. Die
desregierung allerdings zeigt, dass Staatssekretäre auf Kürzungen der Bundesregierung, die mit steigenden So-
Wunsch des zuständigen Ministers ohnehin an den Kabi- zialausgaben bei den ostdeutschen Kommunen verbun-
nettssitzungen teilnehmen dürfen. Das gilt auch für Be- den sind, haben erhebliche strukturelle Auswirkungen.
amte aus den Ministerien, bei besonderem Wunsch und Es ist an der Zeit, dass eine Akzentverschiebung von In-
Antrag des Ministers. Ob die Politik für Ostdeutschland frastruktur- zu Innovationsförderung angeschoben wird.
wahrnehmbar ist, hängt doch nicht vom Titel auf der Vi- Angesichts der sinkenden Haushaltsbudgets muss eine
sitenkarte ab, sondern von der Persönlichkeit, die diese strategische Neuausrichtung der Förderpolitik jetzt und
Funktion mit konkreten Inhalten füllt. Liebe Kolleginnen nicht erst nach 2013 diskutiert werden. Das erfordert
und Kollegen von der Linken, nach Ihrem Vorschlag am eine ressortübergreifende Verankerung des Arbeitssta-
Anfang dieser Legislaturperiode zur „Einsetzung eines bes für die ostdeutschen Bundesländer im Bundeskanz-
Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebens- leramt.
verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“ ist es
nun der zweite Antrag, in dem Sie ausschließlich auf
Strukturveränderungen abzielen, ohne auf derzeit beste- Vizepräsident Eduard Oswald:
hende Handlungsspielräume einzugehen. Mit diesem Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Schaufensterantrag zeigen Sie leider nur, dass Ihnen of- Drucksache 17/5522 an die in der Tagesordnung aufge-
fensichtlich die politischen Ideen ausgehen. Statt Hand- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
lungsansätze für die vor uns liegenden Aufgaben in den einverstanden, somit ist die Überweisung auch beschlos-
Regionen Ostdeutschlands zu entwickeln, fallen Ihnen sen.
nur neue Gremien und Funktionen ein.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf:
Dennoch, wir teilen Ihre Kritik an der Bundesregie-
rung, die dem Aufgabenfeld Aufbau Ost ohne erkennba- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
res Konzept begegnet. Auch wir sehen den Bundesbeauf- Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton
(B) tragten für die neuen Länder im falschen Ressort Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak- (D)
angesiedelt. Der Arbeitsstab für die Angelegenheiten tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der neuen Bundesländer wurde Herrn Dr. Thomas de Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzi-
Maizière, CDU, aufgrund seiner Reputation und Erfah- sieren und die Wasser- und Schifffahrtsver-
rungen zugeordnet und so rein formal und nicht sachbe- waltung reformieren
zogen dem Innenministerium übertragen. Wir teilen zu-
dem die Ansicht, dass mit dem neuen Amtsinhaber – Drucksache 17/5056 –
Dr. Hans-Peter Friedrich, CSU, der sich bislang wenig
Überweisungsvorschlag:
mit aktuellen Fragestellungen Ostdeutschlands befasste, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
das Thema ganz aus dem gesellschaftlichen und politi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
schen Fokus zu rücken droht. Angesichts des auslaufen- Ausschuss für Tourismus
den Solidarpakts und des Auslaufens der EU-Ziel-1- Haushaltsausschuss
Förderung, der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
und der demografischen Verwerfungen in Ostdeutsch-
Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus,
land ist dringend ein Paradigmenwechsel im Aufbau Ost
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
geboten. Gefordert sind neue Politikansätze, neue ge-
LINKE
sellschaftliche Debatten.
Wir fordern die Bundeskanzlerin Frau Dr. Merkel Kein Personalabbau bei der Wasser- und
deshalb auf, die künftige Politik für die ostdeutschen Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökolo-
Bundesländer zur Chefsache zu erklären, das Amt des gischer Flusspolitik ausrichten
Bundesbeauftragen der Bundesregierung für die neuen – Drucksache 17/5548 –
Länder wieder im Kanzleramt zu verankern – so wie be-
reits in den Jahren 1998 bis 2002 – und es entsprechend Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
den Herausforderungen als Querschnittsressort mit ins- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
besondere finanziellen Handlungsspielräumen auszu- Ausschuss für Tourismus
statten. Haushaltsausschuss
Wir dürfen nicht vergessen: In Deutschland versteti- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
gen sich räumliche Disparitäten. Wir haben de facto Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
wirtschaftlich potente Wachstumskerne neben abgekop- ginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor, und ich ver-
pelten Regionen mit spezifischen strukturellen Proble- zichte auf die Verlesung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12431
(A) Matthias Lietz (CDU/CSU): den beförderten Tonnen pro Jahr vorzunehmen, sondern (C)
Im Dezember des letzten Jahres sprach ich zum An- weitere Faktoren in die Bewertung einfließen zu lassen
trag der SPD-Fraktion „Zukunftsfähigkeit der WSV si- oder in die Kategorisierung der Netzstruktur der Bun-
chern“. In meinen damaligen Ausführungen hatte ich deswasserstraßen nicht nur die messbaren Verkehrs-
kurz den Entwicklungsverlauf der Reform der Wasser- ströme auf Wasserstraßen, sondern das gesamte Ver-
und Schifffahrtsverwaltung skizziert, der bis dato statt- kehrsnetz zu analysieren und die vorhandenen bzw.
gefunden hatte. Diesen Verlauf müssen Sie sich nämlich geplante Schienen-, Straßen- und Hafeninfrastruktur so-
vor Augen führen, wenn Sie über den heutigen Stand der wie regionale und volkswirtschaftliche Kriterien, Um-
WSV-Reform sprechen. Ich führte aus, dass das Bundes- welt- und Naturschutzaspekte und die Entwicklung des
verkehrsministerium bereits 1999 die Projektgruppe Wassertourismus zu berücksichtigen –, werden in dieser
„Entwicklungskonzepte für eine zukunftsorientierte Anhörung auch eine wichtige Rolle spielen. Aufbauend
WSV – Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ ein- auf diesen Erkenntnissen, die in der Diskussion gewon-
richtete, die vor dem Hintergrund bisheriger und künfti- nen werden, wird die Koalition mit dem Verkehrsminis-
ger Personaleinsparungen sowie knapper werdender terium die weiteren Schritte, die für die Reform notwen-
Haushaltsmittel die künftige Aufgabenstruktur und kon- dig sind, analysieren. Dann wird es auch möglich sein,
krete Umsetzungsvorschläge ermitteln sollte. Ziel des zum Jahresende ein Gesamtkonzept zur Aufgaben- und
Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Was- Personalstruktur und zur Aufbauorganisation der WSV
ser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Mit Blick vorzulegen.
auf eine künftige Aufgabenstruktur der WSV und ihre
Kernaufgaben prüfte die Projektgruppe unter anderem: Dass dies nur im Dialog mit den Beschäftigten und
Welche Aufgaben müssen oder sollen durch die WSV mit ihren Interessenvertretungen möglich ist, habe ich be-
welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und reits in meiner ersten Rede zu diesem Thema deutlich
welche nicht? Welche Aufgaben können oder sollen gemacht. An dieser Stelle möchte ich noch mal meine
durch Dritte wahrgenommen werden? Wo können Auf- Bereitschaft zur weiteren, aktiven Zusammenarbeit mit
gaben sogar ganz entfallen? den Beteiligten erklären. Dem vorliegenden Antrag der
Grünen entnehme ich die grundsätzliche Bereitschaft,
Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt. Aber Veränderungen in der Struktur der WSV vorzunehmen.
anschließend passierte viele Jahre nichts – nämlich ge- Aber mit Blick auf die noch anstehenden Beratungen
nauso lange wie das Verkehrsministerium von der SPD und Anhörungen und den sich daraus ergebenden Dis-
geführt wurde. Die damalige Führung des Hauses hatte kussionsbedarf empfehle ich meiner Fraktion die Ableh-
sich lieber dafür entschieden, bestehende Strukturen der nung Ihres Antrages.
WSV zu zementieren, statt eine echte Reform der WSV in
(B) Angriff zu nehmen und diese zukunftsfest zu machen. Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Fraktion (D)
Die Linke, in ihrem Antrag notwendige Strukturverände-
Unter christlich-liberaler Führung hat das Bundes- rungen vorzunehmen und damit den Empfehlungen des
verkehrsministerium am 24. Januar 2011 einen Bericht Bundesrechnungshofs zu folgen, ist dieser ebenfalls ab-
vorgelegt, mit dem erstmals ein ernsthafter Schritt in die zulehnen.
vom Bundesrechnungshof schon seit Jahren angemahnte
Reform der WSV beschritten wird.
Hans-Werner Kammer (CDU/CSU):
Liebe Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
Grünen und der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge stam- des Bundes ist ein Thema, das für die Gewährleistung
men vom 16. März 2011 bzw. vom 14. April 2011 und eines zentralen Zweiges der Infrastruktur unseres Lan-
nehmen überwiegend Bezug auf den Bericht des Bundes- des von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Des-
verkehrsministeriums zur WSV-Reform vom 24. Januar halb begrüße ich es sehr, dass es auch die Beachtung der
2011. Allerdings sind wir in der Diskussion schon einen Opposition gefunden hat. Leider gehen die Ausführun-
Schritt weiter. gen der Antragsteller – wie so oft – in vieler Hinsicht
Am 29. April 2011 legte das Bundesverkehrsministe- fehl. Bitte lassen Sie mich zu einzelnen Punkten Stellung
rium seinen zweiten Bericht zur Reform der Wasser- und nehmen und so das Verständnis dieser Materie bei der
Schifffahrtsverwaltung vor, in dem es weitere Maßgaben Opposition zu erweitern. Zunächst möchte ich betonen,
des Haushaltsausschusses bezüglich der WSV-Reform dass es sich bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
erfüllt und Nachbesserungen zum Januarbericht liefert. des Bundes um eine leistungs- und serviceorientierte
Die ersten Schritte zu einer Reform der WSV sind also Organisation der Daseinsvorsorge mit hochmotivierten
getan. Und das große Echo, das damit ausgelöst wurde, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern handelt.
mahnt uns Parlamentarier, genau zu schauen, wie wir
den weiteren Reformweg beschreiten. Ebenso hat sich Die Fraktion der Linken, die schon in der Überschrift
ihres Antrages einen Personalabbau kategorisch ab-
der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in
seinen letzten Sitzungen ausführlich mit der Thematik lehnt, verkennt dies offensichtlich gründlich und ver-
befasst und für seine Sitzung am 29. Juni 2011 eine öf- wechselt die Daseinsvorsorge des Staates, die möglichst
günstig und effektiv mit unser aller Steuergeldern er-
fentliche Anhörung zu dem Thema beschlossen.
bracht werden muss, mit einem öffentlich geförderten
Die in Ihrem Antrag enthaltenen Ansätze, werte Da- zweiten oder dritten Arbeitsmarkt, der unantastbar sein
men und Herren der Grünen – wie zum Beispiel die Ka- muss. Dies ist natürlich ein großer Irrtum, der sich aber
tegorisierung der Bundeswasserstraßen nicht nur nach leicht durch die ideologischen Scheuklappen der Sozia-
Hans-Werner Kammer
(A) listen erklären lässt. Wir dagegen gehen mit den Steuer- tet viele der in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (C)
geldern, mit Geldern, die die werktätige Bevölkerung aufgeworfenen Fragen. Der vorliegende Bericht der
hart erarbeitet, verantwortungsbewusst um. Gewissen- Verwaltung ist als Arbeitsgrundlage für die parlamenta-
hafte Treuhänder verschwenden nicht das ihnen anver- rische Diskussion der Reform der Wasser- und Schiff-
traute Geld, sondern versuchen, es möglichst effektiv fahrtsverwaltung des Bundes gut geeignet. Dafür ge-
einzusetzen. Genau darum geht es unter anderem bei der bührt Bundesminister Dr. Ramsauer unser Dank. Dieser
von uns angestrebten Reform der Wasser- und Schiff- Bericht zeichnet in einer begrüßenswerten Klarheit die
fahrtsverwaltung des Bundes. Wir werden und müssen zentralen Linien der zu beschreitenden Reform mit kräf-
die Balance zwischen knappen Ressourcen, dem öffentli- tigen Strichen vor, die jedoch sicherlich an der einen
chen Interesse an einer funktionierenden Infrastruktur oder anderen Stelle neu gezogen werden müssen.
und den berechtigten Interessen der Beschäftigten her-
stellen. Genau diesen Zweck verfolgt und erläutert die Bedauerlicherweise unterliegt der Staat – wie jeder
nunmehr vorliegende Endfassung des zweiten Berichts Privatmensch auch – dem Zwang, mit den verfügbaren
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent- Mitteln auskommen und mit ihnen akzeptable Ergeb-
wicklung. Dieser Bericht ist – wie ich gleich erläutern nisse erzielen zu müssen. Dies gilt auch für den Bereich
werde – grundlegend für die parlamentarische Beratung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Ich
dieses Themas im Verkehrsausschuss des Bundestages. möchte dies für die ökonomisch weniger geschulten Kol-
Auch der zweite Teil der Überschrift des Antrags der So- legen von der Linken noch ein wenig plastischer ausdrü-
zialisten zeugt von einer völlig verfehlten Schwerpunkt- cken: Aus dem Geld, das wir haben, müssen wir das
setzung: Es ist selbstverständlich, dass ökologische As- Beste machen. Und genau dies werden wir nach vielen
pekte ausgewogen berücksichtigt werden, wenn eine so Jahren unerklärlicher Versäumnisse auch tatsächlich
komplexe Infrastruktur wie die der Wasserwege vorge- tun. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-
halten wird. entwicklung hat daher dankenswerterweise schon mit
der für dieses Haus typischen Transparenz und Stringenz
Es ist aber geradezu absurd, eine ökologische Fluss- Vorschläge gemacht, welche Wasserstraßen in welchem
politik – was dies auch immer sein mag – als zweitwich- Maße unterhalten werden sollen. Damit liegt dem Aus-
tigste Aufgabe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung schuss eine belastbare Grundlage für die Diskussionen
des Bundes zu identifizieren. Da sind unsere Kollegen der Fachpolitiker untereinander, aber auch mit den Be-
von der Linken auf einem völlig falschen Dampfer! Pri- troffenen vor. Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Verwal-
mär geht es darum, die Voraussetzungen dafür zu schaf- tung parlamentarische Entscheidungen durch präzise
fen, dass möglichst viele Güter mit dem umweltfreundli- Vorarbeiten erleichtert und beschleunigt. Aus meiner
chen Verkehrsmittel Schiff transportiert werden können. langjährigen kommunalpolitischen Tätigkeit weiß ich,
(B) Dies ist sicherlich ein effektiverer Umweltschutz als die dass sogar exzellente Vorlagen der Verwaltung im Rah- (D)
Verhinderung von Schiffstransporten durch eine unreflek- men der politischen Diskussion – insbesondere aufgrund
tierte Renaturierung von Gewässern. Dazu gehört vor al- des intensiven Dialogs mit den betroffenen Menschen –
lem, dass wir einen tragfähigen Spagat zwischen Durch- noch weiter optimiert werden können.
führungs- und Gewährleistungsverwaltung garantieren.
Ich glaube nicht, dass wir – wie von den Grünen ge-
Auch uns ist klar, dass eine Privatisierung von Aufgaben,
fordert – zur Überwachung der Umsetzung der Vor-
die nur von einem Oligopol von Anbietern erfüllt werden
schläge eine Regierungskommission „Wasserstraße“
können, zwar zu einer Senkung der Personalkosten führen
einsetzen müssen. Dies obliegt dem Deutschen Bundes-
mag, gewiss aber eine Steigerung der Gesamtkosten zei-
tag, dazu sind wir auch in der Lage. Ich bin absolut
tigt. Diese Gefahr hat das Bundesministerium für Verkehr,
überzeugt davon, dass die in dem Bericht aufgezeigten
Bau und Stadtentwicklung in dem Bericht auch ausdrück-
Restrukturierungsvorschläge nach einem vernünftigen
lich benannt. Daher gilt, dass Privatisierung weder – wie
Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die
von Teilern der Opposition immer wieder apostrophiert –
ich als motivierte und vernünftige Menschen kennenge-
ein das Gemeinwesen schädigendes Monster noch – wie
lernt habe, zu Ergebnissen führen werden, die alle Betei-
von Menschen ohne ökonomischen Sachverstand propa-
ligten werden tragen können.
giert – ein Allheilmittel oder Selbstzweck ist. Es kommt
hier – wie so oft im Leben – auf den Einzelfall an. Ich sehe der weiteren Entwicklung mit einem großen
Optimismus entgegen und bin sicher, dass am Ende eine
Eine angemessene Lösung ergibt sich nicht durch Lösung gefunden werden wird, die eine zukunftsfeste
eine ideologische Betrachtung, sondern durch eine kon- Wasserinfrastruktur und Wasser- und Schifffahrtsver-
krete Abwägung aller Umstände im Einzelfall. Dies waltung sichert. Die wenig zielführenden Anträge von
leugnen nur Ideologen! Ähnliches – und auch darauf sei Grünen und Linken werden von uns abgelehnt.
in diesem Zusammenhang noch einmal eindringlich hin-
gewiesen – gilt selbstverständlich auch für staatliches
Know-how. Es ist doch klar, dass die Auslagerung von Gustav Herzog (SPD):
Aufgaben nicht zu einem Totalverlust von Wissen bei Wir beraten heute die Anträge von Bündnis 90/Die
dem Staat, der Institution, der unsere Bürger vertrauen Grünen und der Linken, die sich beide mit der Reform
können, führen darf. Die Endfassung des zweiten Be- der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes be-
richts des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und schäftigen. Die SPD hat ihren Antrag „Zukunftsfähig-
Stadtentwicklung an den Deutschen Bundestag zur Re- keit der WSV sichern“ bereits am 1. Dezember 2010 ein-
form der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung beantwor- gebracht. Die WSV ist eine Bundesverwaltung, die – und
Gustav Herzog
(A) Zuletzt ein Wort zu den Anträgen. Einiges geht in die Betrachtung der Tonnage zu wenig ist, um die Bedeu- (C)
richtige Richtung, und bei vielen Punkten sehe ich auch tung einer Wasserstraße bemessen zu können. Die von
Übereinstimmung; doch die Grünen denken immer noch Ihnen hier gewünschte Präzisierung durch zusätzliche
in schwarz und weiß. Sie fordern zwar zur Kategorisie- Parameter wie Containereinheiten, Personenschifffahrt
rung der Wasserstraße zu Recht eine Erweiterung der oder den Wassertourismus gehen aus meiner Sicht in die
Kriterien, beurteilen die Wichtigkeit der Wasserstraße richtige Richtung. Allerdings springen Sie zu kurz; denn
aber selbst am aktuellen Verkehrsaufkommen. Liebe zur angemessenen Beurteilung bedarf es einer gesamt-
Kolleginnen und Kollegen, es gibt nicht nur „wichtige“ wirtschaftlichen Betrachtungsweise, bei der unter ande-
und „unwichtige“ Wasserstraßen, wenn unwichtig be- rem auch Wertschöpfungsketten und kombinierte Ver-
deutet, dass dort nur noch Gewässerpflege erfolgen soll. kehre mit einfließen müssen. Darüber hinaus wünsche
Im Ganzen weht in Ihrem Antrag der Hauch ökologi- ich mir, dass das Ministerium Transparenz darüber
scher Nostalgie, und Sie versuchen, einen Keil zwischen schafft, wie es zu seiner Verkehrsprognose gelangt ist.
Schifffahrt und Ökologie zu treiben. Für uns ist das kein
Widerspruch, ganz im Gegenteil. Den Schwenk der Lin- Im Übrigen muss an dieser Stelle darauf hingewiesen
ken nach ihrem Fehlgriff im ersten Haushaltsbeschluss werden, dass die Reformüberlegungen der christlich-li-
begrüße ich. Der Antrag hat mir aber entschieden zu beralen Koalition grundsätzlich erst einmal gar nichts
viele dirigistische und zudem unkonkrete Ansätze. Ich mit einer Kategorisierung der Wasserstraßen zu tun ha-
freue mich auf die weitere parlamentarische Auseinan- ben. Die Reform dient dem Zweck, die Wasser- und
dersetzung. Schifffahrtsstraßenverwaltung zukunftsfähig, effizient
und leistungsstark zu erhalten. Eine Kategorisierung
kann sinnvoll sein, darf aber natürlich erst erfolgen,
Torsten Staffeldt (FDP): wenn eine sorgfältige Aufgabenkritik erfolgte.
Die Diskussion über die Reform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes beschäftigt uns jetzt Darum ist die Anfrage der Grünen nach Vorlage ei-
schon seit einiger Zeit, und sie wird nicht von allen Sei- nes Gesamtkonzeptes zur Aufgaben- und Personalstruk-
ten immer mit der ihr angemessenen Objektivität ge- tur und der daraus abzuleitenden Aufbauorganisation
führt. Insbesondere Sozialdemokraten und Linkspartei sinnvoll. Gleiches gilt für den Aufgabenkatalog, in dem
lassen jegliche Sachlichkeit vermissen. Sie diskreditie- Sie eine Unterscheidung sämtlicher Tätigkeiten der
ren die Reformüberlegungen bei jeder Gelegenheit und WSV zwischen Gewährleistungs- und Durchführungs-
schrecken nicht einmal davor zurück, in der Öffentlich- verantwortung wünschen. Welchen Zweck eine Regie-
keit die Unwahrheit zu verbreiten. rungskommission erfüllen soll, erschließt sich mir nicht.
Glauben Sie denn ernsthaft, dass durch die Hinzuzie-
(B) Sie behaupten, die Regierungsfraktionen würden die hung zusätzlicher Verbände die Entscheidungsprozesse (D)
Verwaltung privatisieren wollen. Dieses ist schlicht die flexibler, zielgerichteter und effizienter erfolgen? Hier
Unwahrheit. Wir haben immer gesagt, dass wir überprü- habe ich den Eindruck, dass es Ihnen ausschließlich da-
fen wollen, ob und welche vergabefähigen Produktgrup- rum geht, Ihre eigene Klientel mit einzubringen, um der
pen es in der WSV gibt, die durch Vergabe an Dritte wirt- WSV zusätzliche Aufgaben aufzuerlegen, die nicht dem
schaftlicher zu betreiben sind, als wenn dieses in hoheitlichen Auftrag der Verwaltung entsprechen. Alles
Eigenleistung der Verwaltung geschieht. Im Sinne eines in allem haben die Grünen einen nicht ganz uninteres-
aktivierenden Staates können Aufgaben auch externali- santen Antrag vorgelegt, der aus meiner Sicht allerdings
siert werden. Ist dies nicht der Fall, so werden die Aufga- noch erhebliche Mängel aufweist. Über den Antrag der
ben weiter von der WSV wahrgenommen werden, ganz Linken habe ich genug gesagt. Ich freue mich auf die
nüchtern, sachlich und frei von irgendwelcher Ideologie. weiteren Beratungen.
In die beschriebene Richtung stößt auch der Antrag der
Linkspartei, eine Aneinanderreihung von objektiv fal-
Herbert Behrens (DIE LINKE):
schen Annahmen und Behauptungen, die überhaupt kein
Gesamtkonzept erkennen lassen. Sollten Ihre Vorstellun- Die Linke steht an der Seite der Beschäftigten der
gen Realität werden, ist die Zukunftsfähigkeit der WSV Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Ar-
gefährdet und mit ihr die Sicherheit und Leichtigkeit der beit der WSV so verändern, dass sie fit für die Zukunft
Schifffahrt. ist. Sie soll künftig stärker an einer ökologischen Fluss-
politik ausgerichtet werden. Die Regierungsparteien
Dem Antrag der Grünen hingegen kann ich eine ge- wollen die WSV zu einer sogenannten Gewährleistungs-
wisse Sympathie entgegenbringen. Nachdem Sie als Teil verwaltung machen. Die Beschäftigten dort sollen nur
der rot-grünen Regierung mit dafür verantwortlich wa- noch Arbeiten planen, fremdvergeben und kontrollieren,
ren, dass die Reformbemühungen des Kernaufgaben- ob auch alles richtig gemacht wird. Die Arbeitsplätze
papiers von 2001 gestoppt wurden, scheint ein Umdenk- von Wasserbauern, Binnenschiffern, Arbeitern und An-
prozess stattgefunden zu haben. So finden sich in Ihrem gestellten bei der WSV werden weitgehend überflüssig.
Antrag einige Ansätze, bei denen wir nah beieinander Das ist keine Reform, das ist die Zerschlagung der WSV.
sind. Diese Pläne müssen vom Tisch.
Im zweiten Bericht stellt das Bundesverkehrsministe- Die Sicherheit und der Betrieb auf den Flüssen liegt
rium auf eine Kategorisierung der Wasserstraßen auf im gesamtwirtschaftlichen Interesse. Die WSV ist für
der Basis der im Jahr 2025 prognostizierten beförderten den reibungslosen Ablauf auf einem der am stärksten be-
Tonnage ab. Wie Sie bin ich der Ansicht, dass die reine fahrenen Wasserstraßennetze verantwortlich, sie orga-
Christoph Strässer
(A) dings hat die Linksfraktion dies im Bündnis mit den seltenerweise einmal konkret formulierte Forderung, (C)
Koalitionsfraktionen abgelehnt. Flüchtlingskinder von 16 und 17 Jahren nach der Kin-
derrechtskonvention zu behandeln und verfahrensrecht-
Ein Großteil Ihrer zehn Forderungen ist in der Sub- lich nicht als Erwachsene einzustufen, zu 100 Prozent
stanz nicht falsch, in der konkreten Frage nach Umset- unterstützen. Auch unterstützen wir die Forderung der
zung fehlt fast alles. So ist es schön und richtig, zu for- Linken, dass allen Kindern, auch und vor allem denen
dern, Kinder- und Altersarmut mit allen erforderlichen ohne kontinuierliche Aufenthaltsgenehmigung, wie in
Maßnahmen zu bekämpfen und ihr vorzubeugen. Nun der Behindertenrechtskonvention und der Kinderrecht-
wäre man als interessierter Bürger diese Landes schon konvention rechtlich verbindlich vorgegeben, uneinge-
interessiert, zu erfahren, was denn nach Auffassung der schränkter Zugang zu Bildungsstätten gewährt werden
Linksfraktion diese „erforderlichen Maßnahmen“ sind. muss.
Antwort: Fehlanzeige.
Sie fordern in Ziffer 3 „Kindern und Jugendlichen Ja, es stimmt. Auch in Deutschland gibt es Defizite bei
(…) frühzeitig Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe der Umsetzung menschenrechtlicher Standards. Ein
und Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten einzu- Land, in dem alles zu 100 Prozent umgesetzt ist, gibt es
räumen und hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen“. nicht. Die Bundesrepublik hat fast alle Menschenrechts-
Prächtig! Wie wäre es denn mal mit eigenen Vorschlä- verträge gezeichnet und ratifiziert, bei der Implementie-
gen, so wie es die SPD immer wieder getan hat, zum Bei- rung gibt es noch einiges zu tun. Die SPD-Bundestags-
spiel eine Streichung der Übermittlungspflicht des § 87 fraktion wird alles tun, um die selbst gesetzten
Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, wonach Kinder ohne Ansprüche unseres Landes und unserer Gesellschaft
Aufenthaltsstatus von Schulen an die Ausländerbehör- auch umzusetzen, immer wieder und mit konkreten Vor-
den gemeldet werden müssen? Zuviel verlangt? schlägen. Wir tun dies auch, um unserer eigenen Glaub-
würdigkeit willen, wenn wir die Umsetzung der Men-
Des Weiteren fordern sie – ich zitiere –, „die soziale, schenrechte in anderen Staaten fordern. Mit einem
gesellschaftliche und politische Partizipation der in pauschalen Rundumschlag, der unser Land darstellt, als
Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von Ge- seien wir in der Zeit vor der Aufklärung steckengeblie-
schlecht, Behinderung, Herkunft, Religions- oder Kon- ben, werden wir diesem Ziel nicht gerecht.
fessionszugehörigkeit, Hautfarbe oder sozialem Status,
zu gewährleisten“. Auch das ist eine gute und richtige Ich würde mir wünschen, dass die Regierungskoali-
Forderung, die so pauschal und unkonkret jeder mittra- tion in ihrer Menschenrechtsarbeit endlich den innen-
gen möchte, der nicht als Rassist gelten will. Aber was politischen Aspekt ernster nimmt und die Linke endlich
bedeutet das konkret in politisches Handeln übersetzt. konkret brauchbare Sacharbeit im Menschenrechtsbe-
(B) Auf welcher Gesetzgebungsebene und mit welcher kon- reich vorlegen würde, die sich nicht an der Vermarktung (D)
kreten Gesetzgebungsinitiative soll diese Forderung in ihrer eigenen Thesen orientiert.
die Realität umgesetzt werden? Also ehrlich, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der Linken: Diskriminie- Serkan Tören (FDP):
rungsfreiheit für alle Menschen in Deutschland zu for- Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der
dern, ohne konkret zu benennen, was zum Beispiel bei Fraktion Die Linke „Vom Anspruch zur Wirklichkeit:
der Umsetzung des allgemeinen Gleichbehandlungsge- Menschenrechte in Deutschland schützen, respektieren
setzes schief läuft, um nur ein Beispiel zu nennen, ist für und gewährleisten“ ab. Der Antrag erschöpft sich in ei-
den, der politisch mit realen Gesetzgebungsinstrumen- nem Stakkato aus Behauptungen. Diese Behauptungen
ten tatsächlich etwas verändern will, zu wenig. Das werden in der Regel nicht belegt oder näher ausgeführt.
reicht vielleicht für eine öffentlichkeitswirksame Insze- So wird zum Beispiel davon gesprochen, es würden bei
nierung, aber nicht für die politisch-praktische Arbeit. der Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit Muslime
Wenn Sie in Ziffer 8 Ihres Antrages unter anderem benachteiligt.
eine „sanktionsfreie und bedarfsdeckende Mindest-
sicherung“ fordern, so sollten Sie das schon erläutern. Die verfassungsrechtlich garantierte innere und äu-
Meinen Sie das in der Gesellschaft diskutierte bedin- ßere Glaubensfreiheit in Deutschland ermöglicht auch
gungslose Grundeinkommen und damit eine Abkehr vom Muslimen das Praktizieren ihrer Religion ohne jegliche
Grundkonsens, nach dem gute Arbeit und Beschäftigung Einschränkungen. Der Antrag der Linken negiert in jeg-
und damit verbunden die Sicherung menschenwürdigen licher Hinsicht die Erfolge dieser christlich-liberalen
Lebens durch eigene Arbeitsleistung einen Wert an sich Koalition, welche im Koalitionsvertrag manifestiert und
darstellen? Oder meinen Sie mit Sanktionsfreiheit umgesetzt wurden. So haben wir das Bleiberecht gelo-
„nur“, dass bei staatlichen Transferleistungen, die von ckert. Bei der Residenzpflicht möchten wir eine hinrei-
allen, die Arbeit haben, mit erwirtschaftet werden, über- chende Mobilität, insbesondere im Hinblick auf eine zu-
haupt keine Regeln mehr gelten sollen? Fragen über gelassene Arbeitsaufnahme. Persönlich wünsche ich mir
Fragen, jedenfalls mehr als Antworten. auch ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Auslän-
der. Gerade als christlich-liberale Koalition haben wir
Aber, um nicht in den Verdacht zu geraten, genauso in unserem Koalitionsvertrag ein besonderes Augen-
schwarzmalerisch mit Ihrem Antrag umzugehen, wie merk auf die Menschenrechte im In- und Ausland gelegt.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das Maßgabe unserer Politik ist der Art. 1 Abs. 2 des Grund-
Bild der Menschenrechtslage in Deutschland zeichnen, gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, GG, der
möchte ich erwähnen, dass wir zum Beispiel Ihre nun lautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu un-
Katrin Werner
(A) Die Linke fordert einen sofortigen Abschiebestopp Wenn wir über den Menschenrechtsschutz in (C)
und einen menschenwürdigen Umgang mit Schutzsu- Deutschland sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass
chenden und Asylsuchenden. Das Asylbewerberleis- zuweilen Menschenrechtsverletzungen gar nicht von
tungsgesetz und die Residenzpflicht gehören abgeschafft; staatlichen Akteuren verursacht werden, sondern von
denn sie beschneiden elementare Menschenrechte. Es transnational agierenden Unternehmen, und dass auch
reicht nicht aus, nur an die Vernunft der Bundesregie- deutsche Unternehmen Menschenrechtsverletzungen be-
rung zu appellieren, dass sie die Würde und Rechte aller gehen. Der weltweite Rohstoffhunger führt dazu, dass
in Deutschland lebenden Menschen besser achten möge. Bodenschätze unter menschenrechtswidrigen Bedingun-
Die Linke fordert die Konkretisierung des Sozialstaats- gen gefördert und Waren zu unmenschlichen Bedingun-
gebots durch die Aufnahme sozialer Grundrechte in das gen produziert werden. Das Schielen auf Profit führt
Grundgesetz. Dies ist notwendig, um künftig Verletzun- dazu, dass Unternehmen die von Staaten begangenen
gen insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kul- Menschenrechtsverletzungen dulden oder zumindest in
turellen Menschenrechte in Deutschland besser zu be- fahrlässiger Weise fördern. Wir sehen aktuell an der
gegnen und vorzubeugen. Die vorhandenen deutlichen Klage von Opfern der Apartheid unter anderem gegen
Defizite vor allem in den Bereichen Armut, Arbeit, Woh- die Daimler AG, dass auch deutsche Unternehmen bei
nen, Gesundheitsversorgung und Bildung sind in aller- diesem Spiel beteiligt sein können. Was die Opfer dieser
erster Linie Menschenrechtsverletzungen, die umgehend Menschenrechtsverletzungen und Straftaten brauchen,
zu beseitigen sind. Nur in dem Maße, in dem Menschen sind keine warmen Worte, sondern rechtliche Möglich-
über soziale Grundrechte verfügen, werden Freiheits- keiten, auch noch nach langer Zeit ihre Schadenersatz-
rechte umfassend wirksam. Ohne ein Mindestmaß an so- ansprüche effektiv vor deutschen Gerichten geltend zu
zialer Gleichheit gibt es keine wirkliche Freiheit. Beides machen. Die konservativ-neoliberale Koalition schweigt
gehört zusammen, es sind die beiden Seiten derselben dazu. Das einzige was ihr einfällt, sind freiwillige
Menschenrechtsmedaille! Selbstverpflichtungen der Unternehmen, in denen sie
sich zur Einhaltung der Menschenrechte im Ausland
verpflichten können. Dieses Konzept aber hat sich über
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Jahrzehnte hinweg als weitestgehend gescheitert he-
Der Antrag der Fraktion Die Linke wählt einen An- rausgestellt. Um ihren extraterritorialen Staatenpflich-
satz, den wir sehr begrüßen: bei der Menschenrechts- ten nachzukommen, benötigt die Bundesrepublik endlich
politik nicht nur mit dem Finger auf ferne Staaten zu zei- Gesetze, die das Verhalten deutscher Unternehmen im
gen, sondern hier in Deutschland anzufangen. Die Ausland im Umgang mit den Menschenrechten klar re-
Universalität der Menschenrechte zwingt uns dazu, vor geln. Leider geht auch der Antrag der Fraktion Die
Linke hierauf nicht ein. Der vierte periodische Bericht
(B) unserer Haustür die gleichen Standards anzulegen, die über die Durchführung des Paktes über wirtschaftliche, (D)
wir von unseren internationalen Partnern weltweit ein-
fordern. soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen in
der Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 2001
Dass in anderen Staaten die Menschenrechte in viel kritisiert, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kultu-
stärkerer Weise als bei uns beeinträchtigt werden, ist uns rellen Rechte in Deutschland weniger Beachtung finden
klar. Mit Schrecken schauen wir auf Folter, Vertreibung, und geringer gesichert sind als die bürgerlichen und
willkürliche Verhaftungen und vieles mehr, vor dem wir politischen Rechte. Diese WSK-Rechte werden in
uns in Deutschland nicht zu fürchten brauchen. Doch Deutschland über das Sozialstaatsgebot geschützt und
auch in Deutschland gibt es menschenrechtliche Defi- gewährleistet. Leider begeht auch hier die aktuelle Bun-
zite. Sei es die Gewalt gegen Minderheiten, die Diskri- desregierung einen schweren Fehler, indem sie das Fa-
minierung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen kultativprotokoll zum UN-Sozialpakt nicht ratifiziert. Es
Gruppe, zunehmende Armut gerade von Kindern, wurde über viele Jahre verhandelt. Seine Ratifikation
Barrieren beim Zugang zu Bildung, ungleiche Bezah- würde für die seit 1973 für Deutschland verbürgten wirt-
lung von Frauen und Männern bis hin zum Pflegeskan- schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unter an-
dal im Alter – Verletzungen und Mängel ziehen sich derem eine Individualbeschwerdemöglichkeit etablie-
durch viele Bereiche. Menschen anderer Hautfarbe, an- ren. Deutschland war während der Entstehung des
Fakultativprotokolls ein verlässlicher Fürsprecher. Seit
derer Religion oder anderer sexueller Orientierung wer-
2009 aber prüft die Bundesregierung nun die deutsche
den auch in der Bundesrepublik Opfer von Hetze und
Ratifikation des Protokolls. Nachdem zunächst für Ende
tödlicher Gewalt, genauso wie Obdachlose oder Men-
2010 ein Kabinettsbeschluss über die Ratifikation ange-
schen mit Behinderungen. Und ein ums andere Mal wird
kündigt war, scheint nun der Prozess auf unbestimmte
die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht
Zeit ausgesetzt zu sein. Hat die Bundesregierung also
und dem Europäischen Gerichthof getadelt, endlich die tatsächlich Angst davor, in Individualbeschwerden auf
verfassungs- und europarechtswidrige Diskriminierung eigene Missstände hingewiesen zu werden? Ein bisschen
von Schwulen und Lesben zu beenden. Aber anstatt eine mehr Selbstvertrauen wäre hier angebracht: denn ganz
vorausschauende und menschenrechtskonforme Antidis- so schlimm, wie es der Antrag der Fraktion Die Linke
kriminierungspolitik zu betreiben, lässt sich Schwarz- darstellt, ist es um den deutschen Sozialstaat nicht be-
Gelb lieber in regelmäßigen Abständen von den Gerich- stellt. Eine Beschwerdeflut wird es also nicht geben.
ten einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen. Was ist
eigentlich aus den Gleichstellungsversprechen der Libe- Der Antrag der Fraktion Die Linke geht überdies von
ralen im Wahlkampf geworden? einem falschen Verständnis der wirtschaftlichen, sozia-
Ingbert Liebing
(A) Solange wir hier keine genaueren Informationen zum reich der Risikoforschung? Die Bundesregierung hat al- (C)
Sachverhalt haben, sollten wir uns allerdings mit vorei- lein 2010 14 Millionen Euro in Projekte der Risiko- und
ligen Verboten, wie in dem Antrag der Grünen gefordert, Begleitforschung investiert. Der Anteil an Projekten der
zurückhalten. Ressorts beläuft sich dabei derzeit auf 230 Millionen
Euro im Jahr und damit auf 6,2 Prozent; das ist interna-
Unstrittig dürfte sein, dass wir mehr Forschung über tional Spitze! Zum Vergleich: USA 5 Prozent, UK 4 Pro-
die genaue Wirkung von Nanosilber auf Mensch und zent und Japan 2,4 Prozent.
Umwelt brauchen. Dies wird bereits vom Bundesinstitut
für Risikobewertung und vielen anderen Forschungsein- Auch ich bin der Meinung, dass wir mehr Erkennt-
richtungen getan. Ein wissenschaftliches Monitoring nisse zu den potenziellen Risiken brauchen, bevor Nano-
und zugleich ein Sicherungssystem ist meiner Meinung technologie verstärkt in verbrauchernahen Produkten
nach erforderlich. Das ist ein wichtiges Thema, mit dem eingesetzt wird, aber wir brauchen keine Panikmache.
auch wir uns intensiv beschäftigen und das wir keines- Der Verbraucherschutz in Deutschland trägt dieser ho-
wegs auf die leichte Schulter nehmen. Nach Überwei- hen Verantwortung Rechnung. Nennen möchte ich das
sung des Antrages an die entsprechenden Ausschüsse laufende Projekt DaNa, das den Einfluss von unter-
wird hierüber in aller gebotenen Sorgfältigkeit noch ein- schiedlichen nanosilberhaltigen Materialien von gebun-
mal beraten werden müssen. denem Silber und gelösten Silbernanopartikeln auf
Organismen und Umwelt untersucht. Hier werden mög-
Florian Hahn (CDU/CSU): liche Wirkungen von Nanosilber geprüft, und es wird
Die medizinische Verwendung von Silber ist uralt. mehr Transparenz geschaffen.
Schon im alten Ägypten wurden Wunden mit Silberfolien Wichtig auch das Projekt UMSICHT: Es untersucht
behandelt. Silbersulfadiazin wurde in den 60er-Jahren das Verhalten und den Verbleib von Silbernanopartikeln
zu medizinischen Zwecken erfolgreich angewendet. in Textilien und beschäftigt sich mit der Gefährdungs-
Heute erlebt Silber angesichts einer steigenden Anzahl und Risikoabschätzung für Silbernanomaterialien auf
von antibiotikaresistenten Mikroorganismen in Form die Umwelt. Werden neue Chemikalien oder Materialien
von Nanosilber, das aufgrund anderer Eigenschaften entdeckt oder entwickelt, müssen sie nach der gesetzli-
eine höhere Wirksamkeit hat, eine neue Blüte. So ist bei- chen Vorgabe auf ihre Unbedenklichkeit getestet wer-
spielsweise die Beschichtung medizinischer Geräte zur den. Hierfür gibt es Chemikalien-, Lebensmittel-,
Aufrechterhaltung der Keimfreiheit ein ganz wichtiges Kosmetik- und Waschmittelverordnungen und weitere
Anwendungsgebiet. Regularien. Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe
Die Verunreinigungsgefahr durch Keime, die heute Prüfungsregister: So regelt beispielsweise REACH als
(B) ein nicht unerhebliches Problem in Krankenhäusern Verordnung die Registrierung, Bewertung, Zulassung (D)
darstellt, kann in Zukunft erheblich reduziert werden. und Beschränkung chemischer Stoffe.
Schon heute stecken sich in Deutschland jedes Jahr bis Mit den bestehenden rechtlichen Regelungen ist also
zu 1 Million Menschen in Kliniken mit multiresistenten ein umfassender Schutz des Verbrauchers gewährleistet.
Erregern an. Davon versterben 20 000 bis 40 000 Pa- Hersteller und Inverkehrbringer von Produkten, welche
tienten jährlich. Die bislang genutzte Desinfektion mit unter dem Einsatz von Nanotechnologie hergestellt
herkömmlichen Mitteln in Krankenhäusern ist oft unzu- werden, sind im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht für die
reichend, teuer und belastet zusätzlich die Umwelt. Einhaltung der verbraucherrechtlichen Vorschriften
Nanosilber wird wegen seiner hohen antibakteriellen verantwortlich. Auch müssen nach der europäischen
Eigenschaften aber nicht nur für medizinische Zwecke, Kosmetikverordnung von 2009 kosmetische Mittel, die
sondern auch in zahlreichen Produkten des Alltags Nanomaterialien enthalten, ab dem 1. Januar 2013 der
eingesetzt. In Lebensmitteln ist die Verwendung von Na- EU-Kommission vorab gemeldet werden. Die Bundes-
nosilber nicht zugelassen. Der Antrag der Fraktion regierung beschäftigt sich mit den verschiedenen Risi-
Bündnis 90/Die Grünen zielt auf ein vollständiges und ken, die sich im Bereich der Nanotechnologie ergeben
sofortiges Verbot der Verwendung von Nanosilber ab. können. So sieht der Nanoaktionsplan 2015 der Bundes-
Silber ist in sehr hohen Dosierungen bedenklich. Ob regierung eine aktive Begleitung der Diskussion auf na-
Nanosilber im täglichen Gebrauch allerdings ein Risiko tionaler und europäischer Ebene vor. Dieser Prozess ist
für Mensch und Umwelt darstellt, ist derzeit noch Ge- noch nicht abgeschlossen.
genstand laufender wissenschaftlicher Untersuchungen,
da noch zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt- Angesichts des noch laufenden Prozesses wissen-
schaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser neuen
nisse vorliegen. Die Anwendung von Nanosilber muss
verantwortungsvoll angegangen werden. Die offenen Technologie ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
Fragen, wie die nach eventuell auftretenden Resisten- übereilt und nicht zielführend. Es geht nicht um eine ge-
nerelle Erlaubnis oder um ein Verbot, sondern um eine
zen, müssen geklärt und Risiken ausgeschlossen werden.
sinnvolle und konstruktive Auseinandersetzung mit den
Es gilt zu klären, in welchen verbrauchernahen Pro- Chancen und den Risiken, die sich hier ergeben. Große
dukten Nanosilber überhaupt und in welcher Konzentra- Potenziale aus Zukunftstechnologien können nicht ein-
tion Verwendung findet. Auch die Auswirkungen auf das fach aufgrund von spekulativ geschürten Ängsten
Ökosystem, insbesondere die Belastung des Abwassers beiseite geschoben werden. Das Marktpotenzial für na-
und dessen Wiederaufbereitung in den Kläranlagen, notechnologisch basierte Produkte ist gewaltig. Nano-
müssen untersucht werden. Wo stehen wir heute im Be- silber ist nur ein Aspekt.
Rita Schwarzelühr-Sutter
(A) lässt dem Verbraucher die Wahlentscheidung, ob er Nano- wert. Neben einer verstärkten Risikoforschung brauchen (C)
produkte nutzen möchte oder nicht. Die Erfahrungen mit wir einen intensiven Dialog mit den Verbraucherinnen
dem Kraftstoff E10 in den letzten Monaten haben uns deut- und Verbrauchern darüber, welche Funktionen und Ver-
lich gemacht, dass der Verbraucher gerade bei der Einfüh- besserungen von Produkten, die mit Nanotechnologie
rung von neuen Produkten oder Bestandteilen mitgenom- erzielt werden können, die Gesellschaft überhaupt für
men werden muss. Das bedeutet, dass die Konsumenten nötig und sinnvoll hält.
frühzeitig und umfassend informiert und besonders über
alle Chancen und Risiken frühzeitig aufgeklärt werden
Dr. Lutz Knopek (FDP):
wollen. Keine noch so gute Technologie ist in der Lage,
sich durchzusetzen, solange sie nicht vom Verbraucher ak- Wir beraten heute in erster Lesung über einen Antrag
zeptiert wird. Deshalb plädiere ich für einen offenen Bür- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat,
gerdialog. Es ist die Aufgabe aller Akteure – der Industrie, ein zumindest temporäres Verbot von verbrauchernahen
der Wissenschaft, der Verbraucherorganisationen und Produkten mit sogenanntem Nanosilber zu erlassen. Be-
natürlich der Politik –, sich der öffentlichen Diskussion gründet wird dieser weitreichende Eingriff in das Markt-
über die Frage des Umgangs mit Nanotechnologie zu geschehen und die privaten Eigentumsrechte mit nicht
stellen. Nur weitreichende Aufklärung über Chancen auszuschließenden Gesundheits- und Umweltrisiken.
und Risiken schafft Vertrauen. Ganz konkret ist die Rede von einer möglichen toxischen
Wirkung von Nanosilber für den Menschen, von mögli-
Für Verbraucher ist es bisher beim Kauf kaum er- chen Risiken durch eine Resistenzbildung gegenüber
sichtlich, welche Produkte mittels Nanotechnologie her- Krankheitserregern und von Risiken durch einen mögli-
gestellt wurden oder Nanomaterialien enthalten. Wir chen Eintrag in die Umwelt. Alle drei Punkte sind ernst
müssen Markttransparenz für Verbraucherinnen und zu nehmen, halten aber einer kritischen Betrachtung des
Verbraucher durch ein öffentliches Produktregister derzeitigen Wissensstandes nicht statt. Ich bitte Sie da-
schaffen, das unter Beteiligung der Verbraucherver- her, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Lassen Sie
bände eingerichtet werden soll. Alle Produkte, die auf mich zur Erläuterung unserer Position zunächst ein
dem Markt sind, müssen gemeldet und mit den Ergebnis- paar allgemeine Ausführungen zur Thematik machen,
sen sämtlicher Studien zu der Wirkung und den Auswir- um dann auf die einzelnen Punkte des Grünen-Antrags
kungen aufgelistet werden. Jeder, der ein Nanoprodukt gesondert einzugehen.
erstmalig herstellen, importieren oder in den Verkehr
bringen will, muss verpflichtet werden, Informationen Seit langem ist Silber bekannt für seine antimikro-
über den Hersteller oder Importeur, die Identität des bielle Wirksamkeit. Bereits die alten Römer machten
Produktes sowie weitere Informationen über die im Pro- sich diese Eigenschaft zunutze und behandelten ihr Was-
(B) dukt enthaltenen Nanomaterialen an eine öffentliche ser mit Silbermünzen. In der Medizin spielt Silber seit (D)
Stelle zu melden. Selbstredend müssen vor allem dem 19. Jahrhundert eine Rolle. Es ist jedoch nicht das
Grundlageninformation und Handlungswissen in ver- reine Silber, welches gegen Bakterien aktiv ist, sondern
ständlicher Form vermittelt werden. es sind die freigesetzten Silberionen. Diese wirken auf
Bakterien toxisch, haben jedoch auf die Zellen von
Die Große Koalition hatte bereits 2009 im Bundestag Säugetieren keine schädliche Wirkung und werden von
die Bundesregierung aufgefordert, „eine Informations- Menschen in einer großen Konzentrationsspanne tole-
quelle zu schaffen, die Bevölkerung, Politik und Wirt- riert. Entgegen weit verbreiteter Annahme ist auch Na-
schaft über geltende Bestimmungen, Vorschriften und nosilber keine neue Erfindung der Nanotechnologien,
Empfehlungen informiert und durch die zuständigen sondern bereits seit mehr als 100 Jahren bekannt und in
Bundesbehörden laufend aktualisiert wird“. Dies muss verschiedenen Produkten im Einsatz. Die Schweizer
endlich umgesetzt werden. Hier ist Verbraucherministe- Forscher von der Eidgenössischen Materialprüfungs-
rin Aigner gefragt, endlich aktiv zu werden. Auch die und Forschungsanstalt EMPA haben dies vor kurzem in
Nano-Kommission empfiehlt in dem Schlussbericht die einem Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift
Einrichtung einer Beratungsstelle auf Ebene einer Bun- „Environmental Science & Technology“ mit dem Titel
desbehörde. Eine solche Beratungsstelle solle Erfahrun- „Nanosilber: Neuer Name – altbekannte Wirkung“ noch
gen aus der Anwendung der Kriterien zur vorläufigen einmal verdeutlicht. Ihr Fazit: „Nano bedeutet weder,
Einschätzung von Nanomaterialien sammeln und den dass etwas neu, noch, dass es von vorneherein schädlich
Erfahrungsaustausch organisieren. Im Sinne der Risiko- ist.“ Bereits in den 1920er-Jahren, als das sogenannte
vorsorge sollten verbrauchernahe Produkte mit Nanosil- kolloidale Silber auf den Markt kam, löste das zahlrei-
ber, solange eine fundierte Bewertung des Gesundheits- che Studien und entsprechende Regulierungen seitens
und Resistenzrisikos nicht getroffen werden kann, nicht der Behörden aus. So berücksichtigt etwa der Grenzwert
mehr auf den Markt gebracht werden. Ein Verbot des In- für Trinkwasser Silbereinträge in nanopartikularer
verkehrbringens von Produkten im verbrauchernahen Form. Lassen Sie mich nun auf die einzelnen Kritik-
Bereich, zumindest im freiverkäuflichen Bereich, halten punkte des Antrags der Grünen eingehen. Beginnen wir
wir für sinnvoll und notwendig. Die Möglichkeit, spe- mit einer möglichen Gesundheitsgefährdung. Das BfR
zielle Produkte zum Beispiel für Diabetiker noch im hat in seiner Stellungnahme vom Dezember 2009 vor al-
Fachhandel, zum Beispiel in Apotheken etc., zu erhalten, lem zwei Applikationen von Nanosilber bewertet: den
sollte bestehen bleiben. Bisher reagieren die Verbrau- Einsatz in Lebensmittelkontaktmaterialien und in Kos-
cher auf Nanoprodukte aufgeschlossen. Allerdings hal- metika. Für den Einsatz von Silberverbindungen in
ten wenige den Einsatz in Lebensmitteln für wünschens- kosmetischen Mitteln sieht das BfR derzeit keine wissen-
Karin Binder
(A) nologie aus. Für die Sicherheitsforschung und Risikobe- wie vor zu wenig gesicherte wissenschaftliche Erkennt- (C)
wertung im Rahmen der Vorsorge werden aber nur nisse über die spezifischen Wirkungen von Silberparti-
0,1 Prozent der Gelder aufgewendet. Mehr ist dem zu- keln in Nanogröße.“ Neuere Studien ergaben laut BfR
ständigen Bundesministerium für Ernährung, Landwirt- deutliche Hinweise auf bisher für Silber nicht bekannte
schaft und Verbraucherschutz die Gesundheit der Bür- Wirkungen. Dazu würden beispielsweise krankhafte Ver-
gerinnen und Bürger nicht wert. Das ist ein krasser änderungen von Gewebe in der Leber und in der Lunge
Gegensatz. Die Linke sagt: Das ist unverantwortlich. gehören. Über die Auswirkungen auf die Fortpflan-
zungsorgane des Menschen und über die krebsauslösen-
Wir nehmen zur Kenntnis: Die Erforschung und Be-
wertung von gesundheitlichen und umweltbezogenen den Potenziale gibt es laut BfR bisher zu wenige Er-
Risiken, die von Nanostoffen ausgehen, ist bisher weit- kenntnisse und Daten. Darüber hinaus besteht die
gehend vernachlässigt worden. Der Gesetzgeber ist der- Gefahr, dass durch die großflächige Verbreitung von Na-
zeit nicht in der Lage, wirksame Vorsorgemaßnahmen zu nosilber resistente Keime entstehen. Dann wäre Silber
treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht. Das ist offen- langfristig als wirksame Waffe gegen antibiotikaresis-
bar auch so gewollt. Viele Ergebnisse von Risikounter- tente Keime für die Medizin verloren.
suchungen, die mit Fördergeldern des Bundes finanziert Auch das Umweltbundesamt warnt vor Gefahren für
wurden, sind für die staatliche Vorsorge nicht verwert-
Wasserlebewesen und nützliche Bakterien durch Nano-
bar. Sie wurden durch Unternehmen vorrangig zur
silber, das sich zum Beispiel beim Waschen aus Textilien
Abschätzung betriebswirtschaftlicher Risiken vorge-
löst und über das Abwasser in die Umwelt gelangt. Alle
nommen. Sie dienen sogar dazu, die Gefahren, die von
diese Warnungen hat die Bundesregierung bisher igno-
Nanostoffen ausgehen können, in der Öffentlichkeit he-
riert. Das ist fahrlässig. Die Experten sagen: Es gibt
runterzuspielen. Folgerichtig heißt es dann auch im
Nanoreport der Bundesregierung, dass mögliche Risi- Gefahren für die Gesundheit, und wir wissen noch zu
ken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbraucher- wenig über die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.
, Arbeits- und Umweltschutz ein „Hemmnis bei der Ver- Deshalb müssen wir im Sinne des Vorsorgeprinzips und
marktung nanotechnologischer Produkte“ darstellen. im Sinne des Gesundheitsschutzes aktiv werden und die
Der Gesetzgeber ist gefordert, geeignete Vorsorgemaß- Verwendung von Nanosilber in verbrauchernahen Pro-
nahmen zu treffen. Das gilt besonders für den Schutz von dukten so schnell wie möglich einschränken.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Branche Bisher gibt es nicht einmal eine Kennzeichnungs-
der Nanotechnologie. Schnellstmöglich sollte eine ge-
pflicht für Produkte, die Nanopartikel enthalten. Die Ver-
setzliche Regulierung und Kontrolle von Nanostoffen
braucherinnen und Verbraucher haben keine Chance,
durchgesetzt werden. Auch die Fördermittel des Bundes
Produkte im Laden zu erkennen, die Nanosilber enthal-
(B) für die Risikobewertung sind deutlich zu erhöhen. Alle (D)
ten. Auf diesem Weg hält eine weitere Substanz Einzug in
Stoffe, die mindestens eine nanospezifische Eigenschaft
unseren Alltag und in die Umwelt, deren Wirkungen
aufweisen, sollten in einem behördlichen Register er-
fasst werden. Die Verbraucherinformation ist deutlich zu nicht abzuschätzen sind und bei der Gesundheitsgefähr-
verbessern. Die Bundesregierung fordern wir auf: Neh- dungen bisher nicht ausgeschlossen werden können.
men Sie die Bedenken Ihrer eigenen Experten ernst und Dabei gibt mir besonders zu denken, dass in anderen
setzen Sie das Verbot von Nanosilber durch. Gesund- Ländern viel strengere Entscheidungen zum Umgang
heitsvorsorge muss Vorfahrt haben. mit Nanosilber getroffen worden sind. In den USA gilt
Nanosilber seit 2007 als Pestizid. Auch auf europäischer
Ebene gab es bereits Bestrebungen, die Kennzeich-
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nungspflicht für Produkte mit Nanosilber zu regeln und
In der Nanotechnologie stecken unbestritten große ein Nanomaterialienregister einzuführen. Dieses Vorha-
Potenziale. Neue Technologien und ihre konkreten An- ben wurde bis heute leider vor allem durch die großen
wendungen haben nicht nur Vorteile, sie bergen oft auch Widerstände einiger Industrieverbände ausgebremst.
Risiken für Mensch und Umwelt. Dies gilt in besonderem Mit unserem Antrag wollen wir dafür sorgen, dass Be-
Maße für das Nanosilber, das zunehmend in Produkten wegung in dieses Thema kommt. Die Bundesregierung
des täglichen Bedarfs verwendet wird, etwa in geruchs- muss endlich tätig werden. Den schleichenden Einzug
hemmenden Sportsocken, in Zahnbürsten oder in Le- von Nanosilberpartikeln in unseren Alltag und in die
bensmittelverpackungen. Umwelt wollen wir verhindern, solange Gefahren für
Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt in Be- Mensch und Umwelt durch diese Substanz nicht ausge-
zug auf die Substanzen, über die wir heute hier beraten, schlossen werden können. Wir fordern deshalb, das In-
zu der eindeutigen Empfehlung, auf den Einsatz von Na- verkehrbringen von verbrauchernahen Produkten mit
nosilber in Lebensmitteln und Produkten des täglichen Nanosilber zu verbieten. Außerdem wollen wir, dass bis
Bedarfs zu verzichten, da die Datenlage eine abschlie- zum Verbot dieser Produkte eine Liste aller mit Nanosil-
ßende Bewertung der gesundheitlichen Risiken nicht er- ber produzierten und in Deutschland erhältlichen ver-
laubt. Diese Empfehlung wurde vor wenigen Wochen brauchernahen Produkte erstellt wird. Diese Liste muss
nach einem Workshop mit zahlreichen Experten durch leicht zugänglich sein und öffentlich gemacht werden.
das BfR noch einmal untermauert. Der BfR-Präsident, Die Menschen sollen bis zum Verbot in die Lage versetzt
Professor Dr. Dr. Andreas Hensel, kam nach der Veran- werden, Produkten, die Nanosilber enthalten, aus dem
staltung zu dem Schluss: „Die Diskussion hat die Mah- Weg zu gehen. Ich beantrage die Überweisung unseres
nung des BfR zur Vorsicht bestätigt, denn es gibt nach Antrags an die zuständigen Ausschüsse und die feder-
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12449
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Dr. Danckert, Peter SPD 12.05.2011 Leutert, Michael DIE LINKE 12.05.2011
Ernst, Klaus DIE LINKE 12.05.2011 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 12.05.2011
(B) Dr. Friedrich, (Hof) CDU/CSU 12.05.2011 Pau, Petra DIE LINKE 12.05.2011 (D)
Hans-Peter
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 12.05.2011
Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 12.05.2011
Schlecht, Michael DIE LINKE 12.05.2011
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 12.05.2011
Schnurr, Christoph FDP 12.05.2011
Gutting, Olav CDU/CSU 12.05.2011
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 12.05.2011
Hardt, Jürgen CDU/CSU 12.05.2011
Vogler, Kathrin DIE LINKE 12.05.2011
Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 12.05.2011
DIE GRÜNEN Werner, Katrin DIE LINKE 12.05.2011
(A) Klaus Barthel Dr. Karl Lauterbach FDP Dr. Christiane Ratjen- (C)
Sören Bartol Steffen-Claudio Lemme Damerau
Jens Ackermann
Bärbel Bas Burkhard Lischka Dr. Birgit Reinemund
Christine Aschenberg-
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Peter Röhlinger
Dugnus
Dirk Becker Kirsten Lühmann Dr. Stefan Ruppert
Daniel Bahr (Münster)
Lothar Binding (Heidelberg) Caren Marks Björn Sänger
Florian Bernschneider
Gerd Bollmann Katja Mast Frank Schäffler
Sebastian Blumenthal
Klaus Brandner Hilde Mattheis Jimmy Schulz
Claudia Bögel
Willi Brase Ullrich Meßmer Marina Schuster
Nicole Bracht-Bendt
Bernhard Brinkmann Franz Müntefering Dr. Erik Schweickert
Klaus Breil
(Hildesheim) Dr. Rolf Mützenich Werner Simmling
Rainer Brüderle
Edelgard Bulmahn Andrea Nahles Judith Skudelny
Angelika Brunkhorst
Marco Bülow Dietmar Nietan Dr. Hermann Otto Solms
Ernst Burgbacher
Ulla Burchardt Manfred Nink Joachim Spatz
Marco Buschmann
Martin Burkert Thomas Oppermann Torsten Staffeldt
Sylvia Canel
Petra Crone Holger Ortel Dr. Rainer Stinner
Helga Daub
Martin Dörmann Aydan Özoğuz Stephan Thomae
Reiner Deutschmann
Elvira Drobinski-Weiß Heinz Paula Florian Toncar
Dr. Bijan Djir-Sarai
Garrelt Duin Johannes Pflug Serkan Tören
Patrick Döring
Sebastian Edathy Joachim Poß Dr. Daniel Volk
Mechthild Dyckmans
Ingo Egloff Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Guido Westerwelle
Rainer Erdel
Siegmund Ehrmann Florian Pronold Dr. Claudia Winterstein
Jörg van Essen
Dr. h. c. Gernot Erler Mechthild Rawert Dr. Volker Wissing
Ulrike Flach
Petra Ernstberger Gerold Reichenbach Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Otto Fricke
Karin Evers-Meyer Dr. Carola Reimann Dr. Edmund Peter Geisen
Elke Ferner Sönke Rix DIE LINKE
Hans-Michael Goldmann
Gabriele Fograscher René Röspel Heinz Golombeck Agnes Alpers
Dr. Edgar Franke Dr. Ernst Dieter Rossmann Miriam Gruß Dr. Dietmar Bartsch
Dagmar Freitag Karin Roth (Esslingen) Joachim Günther (Plauen) Herbert Behrens
Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) Dr. Christel Happach-Kasan Karin Binder
Martin Gerster Marlene Rupprecht Heinz-Peter Haustein Matthias W. Birkwald
Iris Gleicke (Tuchenbach) Manuel Höferlin Christine Buchholz
Günter Gloser Anton Schaaf Elke Hoff Eva Bulling-Schröter
Ulrike Gottschalck Axel Schäfer (Bochum) Birgit Homburger Dr. Martina Bunge
(B) Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen Dr. Werner Hoyer Roland Claus (D)
Kerstin Griese Marianne Schieder Heiner Kamp Dr. Diether Dehm
Michael Groschek (Schwandorf) Michael Kauch Heidrun Dittrich
Michael Groß Werner Schieder (Weiden) Dr. Lutz Knopek Werner Dreibus
Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen) Pascal Kober Dr. Dagmar Enkelmann
Hans-Joachim Hacker Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Heinrich L. Kolb Nicole Gohlke
Bettina Hagedorn Carsten Schneider (Erfurt) Gudrun Kopp Annette Groth
Klaus Hagemann Ottmar Schreiner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dr. Gregor Gysi
Michael Hartmann Swen Schulz (Spandau) Sebastian Körber Inge Höger
(Wackernheim) Ewald Schurer Holger Krestel Andrej Hunko
Hubertus Heil (Peine) Frank Schwabe Patrick Kurth (Kyffhäuser) Ulla Jelpke
Rolf Hempelmann Dr. Martin Schwanholz Heinz Lanfermann Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Barbara Hendricks Rolf Schwanitz Sibylle Laurischk Katja Kipping
Gustav Herzog Stefan Schwartze Harald Leibrecht Harald Koch
Gabriele Hiller-Ohm Rita Schwarzelühr-Sutter Sabine Leutheusser- Jan Korte
Petra Hinz (Essen) Dr. Carsten Sieling Schnarrenberger Jutta Krellmann
Frank Hofmann (Volkach) Sonja Steffen Lars Lindemann Katrin Kunert
Dr. Eva Högl Peer Steinbrück Dr. Martin Lindner (Berlin) Caren Lay
Christel Humme Dr. Frank-Walter Steinmeier Michael Link (Heilbronn) Sabine Leidig
Josip Juratovic Christoph Strässer Dr. Erwin Lotter Ralph Lenkert
Oliver Kaczmarek Kerstin Tack Oliver Luksic Ulla Lötzer
Johannes Kahrs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Horst Meierhofer Thomas Lutze
Dr. h. c. Susanne Kastner Franz Thönnes Patrick Meinhardt Ulrich Maurer
Ulrich Kelber Wolfgang Tiefensee Gabriele Molitor Dorothee Menzner
Lars Klingbeil Rüdiger Veit Jan Mücke Niema Movassat
Hans-Ulrich Klose Ute Vogt Petra Müller (Aachen) Wolfgang Nešković
Dr. Bärbel Kofler Dr. Marlies Volkmer Burkhardt Müller-Sönksen Thomas Nord
Daniela Kolbe (Leipzig) Andrea Wicklein Dr. Martin Neumann Jens Petermann
Fritz Rudolf Körper Waltraud Wolff (Lausitz) Richard Pitterle
Nicolette Kressl (Wolmirstedt) Dirk Niebel Ingrid Remmers
Angelika Krüger-Leißner Uta Zapf Hans-Joachim Otto Paul Schäfer (Köln)
Ute Kumpf Dagmar Ziegler (Frankfurt) Dr. Ilja Seifert
Christine Lambrecht Manfred Zöllmer Cornelia Pieper Raju Sharma
Christian Lange (Backnang) Brigitte Zypries Gisela Piltz Dr. Petra Sitte
12452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Kersten Steinke Birgitt Bender Ute Koczy Dr. Hermann Ott (C)
Sabine Stüber Viola von Cramon-Taubadel Tom Koenigs Lisa Paus
Alexander Süßmair Ekin Deligöz Sylvia Kotting-Uhl Brigitte Pothmer
Dr. Kirsten Tackmann Katja Dörner Oliver Krischer Tabea Rößner
Frank Tempel Hans-Josef Fell Agnes Krumwiede Krista Sager
Dr. Axel Troost Dr. Thomas Gambke Fritz Kuhn Elisabeth Scharfenberg
Alexander Ulrich Kai Gehring Stephan Kühn Christine Scheel
Johanna Voß Katrin Göring-Eckardt Renate Künast Dr. Gerhard Schick
Sahra Wagenknecht Britta Haßelmann Markus Kurth Dr. Frithjof Schmidt
Halina Wawzyniak Bettina Herlitzius Undine Kurth (Quedlinburg) Dorothea Steiner
Harald Weinberg Priska Hinz (Herborn) Monika Lazar Dr. Wolfgang Strengmann-
Jörn Wunderlich Ulrike Höfken Nicole Maisch Kuhn
Sabine Zimmermann Dr. Anton Hofreiter Agnes Malczak Hans-Christian Ströbele
Bärbel Höhn Jerzy Montag Dr. Harald Terpe
BÜNDNIS 90/ Ingrid Hönlinger Kerstin Müller (Köln) Markus Tressel
DIE GRÜNEN Thilo Hoppe Beate Müller-Gemmeke Jürgen Trittin
Katja Keul Ingrid Nestle Daniela Wagner
Marieluise Beck (Bremen) Memet Kilic Dr. Konstantin von Notz Wolfgang Wieland
Volker Beck (Köln) Sven-Christian Kindler Omid Nouripour Dr. Valerie Wilms
Cornelia Behm Maria Anna Klein-Schmeink Friedrich Ostendorff Josef Philip Winkler
(A) gen eine weit weniger die Währungsstabilität gefähr- Indes übertrifft die Verschlimmerung der Schulden- (C)
dende Angelegenheit als ein Austritt von Staaten aus krise in der europäischen Peripherie und die Geschwin-
dem Euro-Raum. Er würde die Marktdisziplin der Euro- digkeit mit der sich die getroffenen Maßnahmen als wei-
Staaten stärken, einen Neustart ermöglichen und der EU testgehend wirkungslos erweisen, selbst unsere
eine Transferunion weitestgehend ersparen. Insofern ist Erwartungen vom Mai 2010: Während wir vor der Ent-
das, was wir mit dem Rettungsschirm und den Hilfspa- scheidung stehen, Portugal Bürgschaften zu gewähren,
keten für einzelne Mitgliedstaaten machen, Insolvenz- wird schon von neuen „Stabilisierungsmaßnahmen“ für
verschleppung, an der ich mich nicht beteiligen möchte. Griechenland gesprochen.
Deshalb kann ich auch getrost bei meiner Überzeu- Das Beispiel Griechenland mahnt uns, unsere Verant-
gung bleiben, die ich bereits im Zuge der Verabschie- wortung für die Interessen des deutschen Steuerzahlers
dung des Griechenlandpakets geäußert habe, dass die wahrzunehmen und ökonomischen Sachverstand nicht
privaten Gläubiger viel zu wenig am Rettungspaket be- zugunsten immer neuer Beschwörungen von sogenann-
teiligt wurden. ter europäischer Solidarität auszublenden. Der Optimis-
Auch mit der heutigen Entscheidung hilft Deutsch- mus, mit dem die Anpassungsmaßnahmen in Griechen-
land seinen Konkurrenten am Kapitalmarkt, der die land bei Gewährung der Bürgschaften als aussichtsreich
Hauptlast der Gewährleistung zu tragen hat, sich wieder und realisierbar dargestellt worden sind, ist bereits ein
billiger zu verschulden. Die europäische Schuldenblase Jahr später verflogen.
wird weiter aufgeblasen.
Dies wird sich nach unserer Überzeugung auch in
Der temporäre Rettungsschirm, alle Maßnahmen da- Portugal wiederholen. Wie könnte es auch anders sein?
raus, sowie der permanente Rettungsschirm in der vor- Ein weiterer Kapitaltransfer konterkariert gerade jene
liegenden Form sind die falsche Antwort auf die Krise, Konsolidierungsbemühungen und Anstrengungen zur
die keine des Euro ist, sondern eine Schulden- und Absenkung des Leistungsbilanzdefizits, die zu fördern er
Strukturkrise mancher Euro-Staaten. Es gibt Alternati- vorgibt. Die betroffenen Länder verlieren Zeit für ihre
ven zu diesen angeblich „alternativlosen“ Notstands- notwendige ökonomische Restrukturierung; der angebli-
maßnahmen; darin sehe ich mich mit an die 200 namhaf- che Zeitgewinn erweist sich als teuer erkauft durch
ten Wissenschaftlern einig. Bürgschaften, für die unsere Bürger in Haftung genom-
men werden.
Bei den Hilfsmaßnahmen für Portugal zeigt sich ein
(B) Anlage 4 ähnlicher Optimismus in neuem Gewand: Selbst unter (D)
Erklärung nach § 31 GO den – sehr günstigen – Basisdaten des vorliegenden
Konzeptes wird die Schuldenquote Portugals von jetzt
der Abgeordneten Alexander Funk, Dr. Peter 93 Prozent des BIP auf 108,6 Prozent im Jahr 2013 an-
Gauweiler, Manfred Kolbe, Klaus-Peter Willsch steigen. Als Zielprognose für 2040 werden 75 Prozent
und Christian Hirte (alle CDU/CSU) zur Ab- erlaubt – immerhin noch 15 Prozentpunkte über der zu-
stimmung über den Entschließungsantrag zu lässigen Höchstgrenze des Stabilitätspaktes!
der vereinbarten Debatte zum Hilfsantrag
Portugals (Zusatztagesordnungspunkt 1) Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen portugiesi-
schen Regierungskrise und der völlig offenen Positionie-
Mit der Zustimmung zu Kreditbürgschaften für Portu- rung der portugiesischen Regierung nach den Wahlen
gal in Höhe von 78 Milliarden Euro setzt die Bundesre- zweifeln wir nicht nur an, dass diese Zielmarken zu einer
gierung ihren nach unserer festen Überzeugung falschen Rückgewinnung des verlorenen Marktvertrauens und ei-
Weg des Umgangs mit der europäischen Staatsschulden- ner Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit führen
krise fort. könnten, sondern auch, dass ihre Erreichung realistisch
ist.
In der logischen Konsequenz unserer Ablehnung der
Bürgschaften für Griechenland und Irland, aber auch des Es mag uns Warnung für alle Verhandlungen im Zu-
EFSF insgesamt, und unserer massiven Bedenken gegen sammenhang mit Bürgschaftsübernahmen sein: Die por-
die Einrichtung eines dauerhaften Schuldentransferme- tugiesische Regierung erläutert selbst freimütig und of-
chanismus lehnen wir den Antrag der Bundesregierung fen, welche Kürzungen und Privatisierungen bis hin zur
hiermit ab. Veräußerung der hohen Goldbestände in den Verhand-
lungen vermieden werden konnten.
Die formaljuristischen und insbesondere makroökono-
mischen Kritikpunkte, die vom Gros der deutschen Volks- Für uns und für unsere Verantwortung gegenüber
wirtschaftslehre geteilt werden – angefangen von der Aus- Deutschland und seinen Bürgern macht es aber einmal
hebelung des Bail-out-Verbotes bis hin zur Aussetzung mehr deutlich, dass die Bewältigung des Schuldendesas-
markteigener Sanktionsmechanismen (steigende Zins- ters der Euro-Peripherie durch Kreditbürgschaften öko-
spreads, CDS-Anstieg) –, haben wir seit der Griechen- nomisch fragwürdig und haushälterisch mit hohen Risi-
landbürgschaft im Mai 2010 immer wieder dargelegt. ken für unser Land verbunden ist.
12454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) begrüßen auch die fleißigen polnischen, tschechischen Ich bin der festen Überzeugung, dass Zeitarbeit nicht (C)
und lettischen Menschen oder woher aus der Europäi- zur Abwicklung von Stammbelegschaften führen darf –
schen Union sie auch kommen wollen, um hier zu arbei- das tut sie aber auch nicht. Beim Thema Equal Pay wird
ten. ja schon dort an einer Lösung gearbeitet, wo dies auch
gemacht werden soll, nämlich in der Branche selbst.
Weil das ein so wichtiges Thema ist, zitiere ich noch Auch da bin ich optimistisch, dass wir bald einen guten
einmal das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Kompromiss sehen werden. Ich halte dies für eine ver-
schung, also das IAB, das in seiner Stellungnahme für nünftige und liberale Lösung. Wir waren auf die Arbeit-
die Anhörung wirklich eindeutig gewesen ist. Das IAB nehmerfreizügigkeit gut vorbereitet. Wirklich witzlos ist
sagt klipp und klar: „Mit gravierenden negativen Aus- dann schließlich Ihre Verknüpfung der Arbeitnehmer-
wirkungen auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft ist freizügigkeit mit der Mindestlohnfrage. Das ist einfach
demnach nicht zu rechnen.“ Das wusste auch jeder, der ein völlig herbeikonstruierter Zusammenhang. Wir ha-
sich vorher ernsthaft mit dem Thema beschäftigt hatte. ben ein gut funktionierendes Tarifsystem. Das zeigt sich
Angesichts dessen sind Ihre Panikanträge, liebe Kolle- ja auch gerade dort, wo besonders niedrige Löhne ge-
ginnen und Kollegen von der SPD und von der Linken, zahlt werden und auch keine höheren zu erwirtschaften
nichts weiter als ein unrühmlicher Versuch, auf einer sind, beispielsweise bei den Gebäudereinigern. Aber das
Angstwelle mitzuschwimmen, die Sie teilweise selbst zu wissen Sie ja besser als ich. Liebe Kolleginnen und Kol-
verantworten haben. Wenn wir zum Beispiel nach Groß- legen von der SPD, ihre neueste Auftragsstudie zum
britannien schauen, wo die Freizügigkeit bereits seit Thema war ja wieder einmal eine Offenbarung. Eine
2004 gilt, kann man überhaupt nicht von Arbeitsmarkt- neue Runde im fröhlichen Mindestlohndreisatz. Be-
problemen reden. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht schäftigungseffekte lieber einmal ausgespart, wer will
mit dem Mindestlohnargument, denn für unseren nörd- sich dazu schon Gedanken machen. Ich sage Ihnen: Das
lichen Nachbarn, für Dänemark, gilt genau dasselbe, und ist Arbeitsmarktpolitik aus der linken Mottenkiste –
einen gesetzlichen Mindestlohn haben die nicht. Soziale kommen Sie lieber mal in der Gegenwart an. Bei uns
Verwerfungen? Fehlanzeige! sieht man jetzt, was im Endeffekt rauskommen kann:
neue Chancen, weniger Bürokratie und vernünftige
Apropos Anhörung: Die Sachverständigen waren ja Maßnahmen für den Arbeitsmarkt, da, wo sie notwendig
ausgesprochen klar in ihren Aussagen. Leider hat die sind.
Opposition offensichtlich nicht zugehört. Sie hätten et-
was lernen können über die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Aber: Bis zum Jahr 2025 werden uns fünf bis sechs
Das IAB geht insgesamt von einem positiven Effekt für Millionen Erwerbstätige fehlen. Schon heute suchen Fir-
unsere Wirtschaft aus. Die Geschichte der echten Ar- men händeringend nach Fachkräften, vor allem in mathe-
(B) beitsmigration zeigt uns, dass Zuwanderer aus den neuen matischen, technischen sowie naturwissenschaftlichen (D)
Mitgliedstaaten vor allem jung, gut ausgebildet und Berufen. Und ich sage Ihnen: Ein fehlender Ingenieur im
hochmotiviert sein dürften. Genau solche Menschen Betrieb gefährdet weitere Arbeitsplätze. Deswegen müs-
brauchen wir in Deutschland, gerade wegen des Fach- sen wir alle inländischen Potenziale ausschöpfen und bei
kräftemangels. Hierbei rechnet das IAB mit einer Netto- der Steuerung der Zuwanderung besser werden. Wir
zuwanderung zwischen 100 000 und 140 000 jährlich. brauchen mehr Zuwanderung, sonst kommen wir ein-
Das lindert den Fachkräftemangel ein bisschen, beseitigt fach in Teufels Küche. Nur wenn wir gleichzeitig im In-
ihn aber keinesfalls. Vor allem wird diese Zahl aber nicht land wie im Ausland nach qualifizierten Fachkräften su-
unseren Arbeitsmarkt beschädigen. chen, werden wir die entsprechende Lücke schließen
können.
Abgesehen davon sind wesentliche Teile Ihrer An-
Zum Schluss möchte ich noch mal auf die Chancen
träge inzwischen vollkommen überholt. Bei der Zeitar- der Freizügigkeit zurückkommen. Durch die Europäi-
beit hat die Bundesregierung kühlen Kopf bewiesen und sche Union profitiert Deutschland immens. Wir können
vorgesorgt. Ihre Hauruckmethoden hätten allen gescha- aber nicht auf der einen Seite Nutznießer sein wollen
det und keinem genützt. Dass Sie allen Ernstes die Ar- und uns auf der anderen Seite abschotten. Genau diesen
beitnehmerfreizügigkeit zum Anlass genommen haben, Geist atmen aber Ihre Anträge, das hat für mich auch die
um Ihrem üblichen Zerstörungswahn gegenüber der Diskussion im Ausschuss gezeigt. Deswegen bleibt es
Zeitarbeitsbranche freien Lauf zu lassen, ist wirklich un- auch dabei: Wir lehnen Ihre Anträge ab.
angemessen.
In dieser Branche sind heute fast eine Million Men-
schen beschäftigt. Die Zeitarbeit hat wie keine andere Anlage 7
Branche Menschen eine Perspektive auf dem Arbeits- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung:
markt eröffnet. Die konjunkturelle Entwicklung wird
sich im Übrigen jetzt wieder abflachen. Ich vermute, – Antrag: Nach Cancún – Europäische Union
dass sich die Beschäftigtenzahlen in der Branche stabili- muss ihr Klimaschutzziel anheben
sieren werden. Schon jetzt hören wir ja davon, dass es – Beschlussempfehlung und Bericht:
die Zeitarbeit schwer hat, neue Mitarbeiter zu finden.
Kurzum, hier tritt genau das ein, was wir immer voraus- – Antrag: Vor Cancún – Mit Glaubwürdig-
gesagt hatten. Und das, was Sie immer vorausgesagt hat- keit zu einem globalen Klimaschutzab-
ten, tritt genau nicht ein. kommen
12456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) – Antrag: Internationaler Klimaschutz vor Außerdem sprechen auch binnenwirtschaftliche Gründe (C)
Cancún – Mit unterschiedlichen Ge- für Bewegung beim 20-Prozent-Ziel. Bliebe es beim
schwindigkeiten zum Ziel 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-Ziel
Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die
– Antrag: EU-Klimaschutzziel erhöhen Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden,
die Emissionseinsparungen erbringen; denn der Emis-
– Beschlussempfehlung und Bericht: Europäi-
sionshandel ist europäisch bestimmt, die anderen Sekto-
sches Klimaschutzziel für 2020 anheben
ren national. Am Ende würden vor allem die privaten
(Tagesordnungspunkt 11 a bis c) Haushalte, das kleine Gewerbe und die Verkehrswirt-
schaft die Lasten zu schultern haben. Wir sagen: Wir
brauchen eine Balance der Anstrengungen von Industrie
Michael Kauch (FDP): Deutschland ist und bleibt und privaten Haushalten.
Vorreiter beim Klimaschutz. Wir als christlich-liberale
Koalition haben Klimaschutzziele beschlossen, wie sie Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energiein-
noch keine Bundesregierung zuvor beschlossen hat: tensiven Branchen vermieden werden. Es ist wichtig, hier
40 Prozent unkonditioniert bis 2020, 80 bis 95 Prozent einen für alle gangbaren Weg zu finden. Produktionsver-
bis 2050. Das ist international vorbildlich. Dies ist auch lagerungen in Länder, die es mit dem Klimaschutz nicht
die Grundlage für den Weg in das Zeitalter der erneuer- ernst meinen, helfen niemandem, der Umwelt nicht und
baren Energien. Diesen gehen wir realistisch, seriös und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in Deutschland. Des-
fachlich fundiert an. Der schnellere Ausstieg aus der halb müssen wir ambitionierte Klimaschutzziele gegebe-
Kernkraft darf nicht zu einer Aufweichung unserer Kli- nenfalls mit Kompensationen für diejenigen energiein-
maschutzziele führen. tensiven Unternehmen verbinden, die im internationalen
Wettbewerb stehen.
Die globale Energiewende ist bis 2050 möglich. Sie
ist auch wirtschaftlich machbar, wenn wir sie richtig an-
gehen. Allerdings sind bis dahin noch viele Hausaufga- Anlage 8
ben zu machen, denn nur wenn alle an einem Strang zie-
hen und ihr Möglichstes tun, wird es gelingen, neben Zu Protokoll gegebene Rede
dem Ausstieg aus der Kernkraft den Anteil an fossilen
Brennstoffen zur Energiegewinnung massiv zu verrin- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
gern. Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgeset-
zes und des Schwarzarbeitsbekämfungsgeset-
Deutschland hat sich verpflichtet, eine 40-prozentige zes (Tagesordnungspunkt 12)
(B) (D)
CO2-Minderung bis 2020 und eine Minderung um 80 bis
95 Prozent bis 2050 zu erreichen, national und einseitig, Gabriele Molitor (FDP): Der Arbeitsmarkt in
ohne internationale Zugeständnisse. Das ist ein Signal Deutschland hat sich nach der Wirtschaftskrise exzellent
der Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegen- entwickelt. Laut Statistischem Bundesamt vom 28. April
über den Schwellen- und Entwicklungsländern. 2011 waren im März 2,73 Millionen Menschen erwerbs-
los; das sind 6,5 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr sind
Aber klar ist auch: Wir brauchen im internationalen
eine halbe Million Menschen mehr erwerbstätig. Das ist
Klimaschutz Mitstreiter; denn allein national werden wir
eine gute Nachricht.
nicht die Erfolge erzielen, die wir erzielen müssen.
„2 Grad“ als Perspektive werden wir nur dann schaffen, Der Zeitarbeitsbranche gehen die Mitarbeiter aus. Das
wenn wir andere Länder – die großen Emittenten dieser belegt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutsch-
Welt – ins Boot holen. Deutschland allein kann nur einen land dazu führt, dass Menschen direkt in den Unterneh-
Akzent setzen. Die anderen europäischen Staaten sind men Anstellung finden. Dieses Faktum zeigt auch, dass
gefordert, ein vergleichbares Signal zu geben. die Zeitarbeit für Unternehmen die Möglichkeit bietet, in
einer noch nicht stabilen guten Auftragslage Beschäf-
Die Einigung von Cancún war ein Teilerfolg. Wir ha- tigte zu gewinnen. Bei einer möglichen Abschwächung
ben eine Einigung erreicht, nach der die Industriestaaten der Geschäftslage stehen dann die Zeitarbeitsunterneh-
bis 2020 eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis men in der Verantwortung für die Mitarbeiter. Im Fe-
40 Prozent erreichen sollen. Wenn wir den Schwellen- bruar 2011 waren über 870 000 Arbeitnehmer in der
und Entwicklungsländern signalisieren wollen, dass der Zeitarbeit tätig, mit steigender Tendenz – IW-
Beschluss von Cancún mehr als schöne Worte bedeutet, Zeitarbeitsindex. Will die Zeitarbeit die Nachfrage wei-
und wenn wir sie zu weiterer Kooperation bewegen wol- ter befriedigen, so muss sie noch stärker dahin gehend
len, dann muss sich die EU bewegen. Sie sollte ihr bis- aktiv werden, bislang arbeitslose Menschen zu beschäf-
heriges Ziel der Verringerung der CO2-Emissionen um tigen.
20 Prozent noch in diesem Jahr anheben. Allerdings
wäre ein einseitiges Anheben auf 30 Prozent ein zu gro- Beide Seiten können so voneinander profitieren.
ßer Schritt, denn dann würde die EU ihre Verhandlungs- Menschen, die schon lange Arbeit suchen, aber keine
position schon aufgeben, obwohl Cancún eben nur ein finden, haben nun die Chance, wieder im Arbeitsmarkt
Teilerfolg war. Der Mittelweg, den die Kommission vor- Fuß zu fassen. Die Unternehmen der Zeitarbeit können
sieht, erscheint mir eine sinnvolle Größenordnung vor- ihre personellen Engpässe ausgleichen, indem sie das
zunehmen. ungenutzte, aber vorhandene Potenzial an Arbeitskräften
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12457
(A) ausschöpfen. Darüber hinaus wird aber in Deutschland ziales durch Erlass einer Rechtsverordnung einen tarif- (C)
in den kommenden Jahren auch der Fachkräftemangel vertraglichen Mindestlohn festsetzen kann. Wir gehen
ein wirkliches Problem auf dem Arbeitsmarkt sein. davon aus, dass die Verordnung zum Juli 2011 in Kraft
Fachkräfte aus dem Ausland werden dringend ge- treten kann. Die Höhe der Lohnuntergrenze wird sich
braucht. Das ist nichts Neues. Diese Aussage hört man in nach einem gemeinsamen Vorschlag der in der Zeitarbeit
den letzten Monaten immer häufiger. Dies sagte gestern geltenden tariflichen Mindestlöhne richten.
auch der Verbandspräsident Volker Enkerts vom Bun- Um zu gewährleisten, dass die geltenden Lohnunter-
desarbeitgeberverband der Personaldienstleister gegen- grenzen auch eingehalten werden, sind Kontrollen nötig,
über der Zeitung Die Welt vom 11. Mai 2011. die in die Zuständigkeit der Zollverwaltung fallen. Im
Um dem Fachkräftemangel und dem demografischen Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas-
Wandel der Gesellschaft entgegenzuwirken, gibt es zwei sungsgesetzes konnten diese Fragen nicht mitgeregelt
Möglichkeiten, die beide genutzt werden müssen: Zum werden, da die vereinbarte sinngemäße Übertragung der
einen muss das Potenzial von Menschen im eigenen Kontroll- und Sanktionsvorschriften vom Arbeitnehmer-
Land und zum anderen aus dem Ausland besser genutzt Entsendegesetz in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
werden. Die Politik hat das Thema aufgegriffen: Die einer sorgfältigen Prüfung bedurfte, die das Gesetzge-
Bundesregierung hat ein Konzeptpapier vorgelegt zur bungsverfahren zur Ermöglichung einer Lohnunter-
„Fachkräftesicherung“, eine neue parteiübergreifende grenze unnötig verzögert hätte.
13-köpfige Kommission will bis zum Herbst Lösungs- Der vorliegende Gesetzentwurf überträgt nun die be-
vorschläge erarbeiten. währten Kontroll- und Sanktionsmechanismen aus dem
Arbeitnehmer-Entsendegesetz in das Arbeitnehmerüber-
Das Konzeptpapier „Fachkräftesicherung“ der Bun-
lassungsgesetz. Damit unterstützt die FDP die im Ver-
desregierung stellt fest, dass das Potenzial an Erwerbs- mittlungsverfahren zu den Hartz-IV-Regelsätzen getrof-
personen, also an Menschen, die arbeiten können, bis fenen Vereinbarungen zur Lohnuntergrenze in der
2025 um 6,5 Millionen sinken wird. Ungenutzte Reser- Zeitarbeit. Stimmt der Bundesrat dem Gesetzentwurf zu,
ven möglicher Arbeitskräfte müssen jetzt also schleu- wird das Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig vor Erlass
nigst aktiviert werden. Hierzu gehören: der Verordnung für die Lohnuntergrenze in der Zeitar-
– junge Leute ohne Schulabschluss beit in Kraft treten.
– junge Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbil- Wichtig festzuhalten ist mir der folgende Punkt: Mit
dung der Einführung einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit
konnten wir der Sorge der Tarifpartner in der Zeitarbeit,
– in Teilzeit arbeitende Frauen und Mütter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften entge-
(B) genwirken, dass durch ein Überangebot von Arbeitsu- (D)
– Menschen mit Behinderung
chenden aus dem europäischen Ausland Lohndruck ent-
Insgesamt könnten 3,8 Millionen zusätzliche Arbeits- steht und die Zeitarbeit erneut in Verruf gerät.
kräfte mobilisiert werden.
Das Verfahren zur Festlegung der Lohnuntergrenze ist
Wir sind auf Fachkräfte aus dem Ausland angewie- im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt, und zwar
sen. Wenn die Wirtschaft sich in den kommenden Jahren auf der Grundlage der in der Zeitarbeit geltenden unters-
weiterhin so positiv entwickelt, wie es momentan der ten tarifvertraglichen Entgelte. Für die deutschen Be-
Fall ist, können wir den Bedarf an Arbeitskräften nicht schäftigten in der Zeitarbeit wird sich dadurch kaum et-
allein mit inländischen Bewerberinnen und Bewerbern was ändern, denn bereits heute gelten die Tarifverträge
decken. Wir Liberalen haben immer betont, dass wir in der Zeitarbeit für fast alle Beschäftigten der Branche.
nicht erwarten, dass sich die volle Arbeitnehmerfreizü- Entscheidend ist, dass ausländische Tarifverträge vom
gigkeit negativ auf den deutschen Arbeitsmarkt auswir- Grundsatz des Equal Pay nur bis zu der in Deutschland
ken wird. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die geltenden Lohnuntergrenze abweichen können. Lohn-
Zahl ausländischer Zeitarbeitnehmer in Deutschland dumping kann somit vermieden werden.
überschaubar bleiben wird.
Zeitarbeit ist ein flexibles Instrument am Arbeits-
Laut einer vor zwei Wochen vorgelegten Studie des markt. Wir Liberale wollen dieses Instrument erhalten
Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, IAB, und stärken, weil es gerade geringqualifizierten Arbeits-
– zum Stichtag 1. Mai 2011 – über die in Deutschland kräften und Langzeitarbeitslosen zugutekommt.
gültige Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle EU-Staaten
wird davon ausgegangen, dass zunächst jährlich zwi- Die christlich-liberale Koalition hat nunmehr die ge-
schen 100 000 und 140 000 Menschen aus den Beitritts- setzlichen Voraussetzungen geschaffen, um missbräuch-
ländern zusätzlich nach Deutschland kommen werden. lichen Entwicklungen in der Zeitarbeit entgegenzutreten.
In den folgenden Jahren sinken diese Zahlen. Für das Dies ist der Fall, wenn Zeitarbeit zum Zwecke der Lohn-
Jahr 2020 wird prognostiziert, dass bis zu 900 000 zu- differenzierung nach unten eingesetzt wird und Stamm-
sätzliche Migranten aus den acht Beitrittsländern in belegschaften systematisch durch Zeitarbeitskräfte
Deutschland leben. ersetzt werden. Mit der Lohnuntergrenze werden eventu-
elle Missbräuche durch Zeitarbeitskräfte, die aus dem
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung Ausland nach Deutschland entsendet werden, verhindert.
einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit liegen bereits Zudem wollen wir abwarten, ob sich die Tarifpartner
vor. Im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, ist vor- auch auf eine Regelung zur Geltung des Equal Pay ver-
gesehen, dass das Bundesministerium für Arbeit und So- ständigen können.
12458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Ich bin überzeugt, dass all diese Maßnahmen dazu chen Anbietern. Jede Familie soll selbst entscheiden (C)
beitragen, dass die Zeitarbeit ihre eigentliche Aufgabe können, welche Art von Betreuung sie wählt. Eine Ver-
als Brücke in Beschäftigung noch besser wahrnehmen staatlichung der Erziehung lehnen wir Liberalen in aller
kann als bisher. Deutlichkeit ab! Was wir wollen, ist Flexibilität in der
Lebensplanung. Die Großfamilie aus dem Allgäu
braucht ein anderes Betreuungsangebot als die Berliner
Anlage 9 Patchworkfamilie, und dafür müssen wir passgenaue Lö-
sungen finden.
Zu Protokoll gegebene Rede
Die Betreuungsquote von 35 Prozent ist im Übrigen
zur Beratung des Antrags: Neuen „Krippengip- ja von vornherein als Mittelwert angesetzt gewesen. Das
fel“ einberufen – Ausbau der frühkindlichen müssten Sie besser wissen als ich, schließlich wurde es
Bildung und Betreuung voranbringen (Tages- unter Ihrer Regierungsbeteiligung beschlossen. Natür-
ordnungspunkt 13) lich ist der Bedarf in Ballungsgebieten höher als in länd-
lichen Gebieten, wo Betreuungsangebote traditionell
weniger in Anspruch genommen werden. Auch der Un-
Miriam Gruß (FDP): Sie wissen ja: Ich habe selbst
terschied zwischen Ost und West muss kein Problem
schon mehrfach einen neuen Krippengipfel gefordert. sein – solange alle, die Betreuung brauchen, dazu die
Da der letzte Krippengipfel vier Jahre zurückliegt, Chance bekommen.
müssen sich Bund und Länder unbedingt wieder zusam-
mensetzen. Sobald der Rechtsanspruch auf einen Krip- Beides muss möglich sein: dass man seine Kinder zu
penplatz greift, soll schließlich alles reibungslos funktio- Hause betreut oder dass man sie in Betreuung gibt. Aber
nieren. Sie sprechen also ein ganz richtiges Anliegen an – in diesem zweiten Fall – und das ist mir ganz wichtig! –
aber die Schwerpunkte müssen anders liegen, und des- muss das Angebot nicht einfach nur vorhanden sein,
halb lehnen wir Ihren Antrag ab. sondern es muss auch eine gute Betreuung sein.
Seit unserem Antrag vom letzten November „Faire Mich stört an Ihrem Antrag, dass Sie nur die Quanti-
Teilhabechancen von Anfang an“ hat sich einiges be- tät, aber weniger die Qualität im Blick haben. Kinder
wegt. Das Familienministerium wird demnächst aktuelle sollen ja nicht nur verwahrt werden, sondern in der Be-
Zahlen veröffentlichen. Im Rahmen des Investitionspro- treuungszeit auch aktiv gefördert werden. Darauf muss
gramms „Kinderbetreuungsfinanzierung“ gibt der Bund der nächste Krippengipfel seinen Schwerpunkt legen:
bis 2013 gut 2,15 Milliarden Euro aus, um Investitionen Wie können wir 2013 garantieren, dass Eltern ihre Kin-
der Länder und Gemeinden in Tageseinrichtungen und der mit gutem Gewissen in die Betreuung geben? Denn
wir alle wissen: Gerade in den ersten Lebensjahren wer-
(B) Tagespflege für Kinder unter drei Jahren zu finanzieren. den die Weichen für ein erfülltes und erfolgreiches Le- (D)
Das fruchtet – wir werden bis 2013 den Mittelwert von
ben gelegt. In einer guten Betreuung können Kinder ihre
35 Prozent Betreuungsquote erreichen. Der quantitative
Sprachkenntnisse verbessern, sie üben sich im kreativen
Ausbau kommt voran. Arbeiten und lernen die berühmten Social Skills.
Der Fachkräftemangel ist ein anderer Punkt. Wir haben Ein solches hochwertiges, flexibles Betreuungsange-
darauf in unserem Antrag selbst aufmerksam gemacht: bot kann es nur geben, wenn wir eine Vielzahl an Anbie-
Bis 2013 werden rund 35 000 bis 40 000 Vollzeitstellen in tern haben. Wir Liberale wollen kein Muss, sondern ein
Tageseinrichtungen und rund 25 000 Tagespflegeperso- Kann. Nicht alles muss über den Staat laufen, und auch
nen benötigt. Da ein Großteil des pädagogischen Perso- nicht immer im Zuge eines Rechtsanspruchs. Deshalb
nals über 50 Jahre alt ist, wird der Mangel bald sogar noch setze ich auf den Dreiklang aus staatlichen, privatge-
größer sein. Ich frage mich nur: Wieso nehmen Sie als werblichen und betrieblichen Betreuungsangeboten.
SPD das erst jetzt in den Blick? Wieso haben Sie die letzte
Regierungsbeteiligung nicht dazu genutzt, die Weichen zu Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der sich
stellen? Qualifiziertes Personal fällt schließlich nicht vom jede Familie selbst flexibel ihr Betreuungsmodell aus-
Himmel, sondern wird über Jahre hinweg ausgebildet. wählen kann. Dafür leistet die christlich-liberale Koali-
Erst die christlich-liberale Koalition hat sich dieser Pro- tion wichtige Arbeit, die das finanziell Machbare voll
blematik angenommen. Wir sind auch die ersten, die die ausschöpft.
Attraktivität der Erziehungsberufe für Männer steigern
wollen. Schwarz-Gelb hat die Programme „MEHR Män-
ner in Kitas“ und den Boys’ Day ins Leben gerufen. Vor Anlage 10
allem in den Köpfen muss sich etwas ändern – und das
dauert. Ihre letzte Regierung hat da wertvolle Zeit ver- Zu Protokoll gegebene Rede
schenkt, um den Mentalitätswandel einzuleiten. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Leider wird aus Ihrem Antrag deutlich, dass Sie mal Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes (Tagesord-
wieder den typischen SPD-Ansatz wählen: Mehr Staat! nungspunkt 15)
Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung und staatli-
che Betreuungsangebote können aber nicht der einzige Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Die FDP-
Weg sein, um die Betreuung auszubauen. Ich lehne das Bundestagsfraktion bedauert es sehr, dass in den Jahren
nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ideellen 1978/1979 in der DDR mehrere Tausend Frauen bei ei-
Gründen ab. Wichtig ist ein vielseitiges Betreuungsange- ner gesetzlich vorgeschriebenen Anti-D-Immunprophy-
bot, also ein Mix aus staatlichen, privaten und gewerbli- laxe zum Schutz neugeborener Kinder mit dem Hepati-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12459
(A) tis-C-Virus infiziert worden sind. Selbstverständlich wegen homosexueller Handlungen Verurteilten (C)
muss auch gut drei Jahrzehnte später gewährleistet wer- (Tagesordnungspunkt 17)
den, dass den Betroffenen eine angemessene Hilfe zuteil
wird.
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Uns liegt ein Antrag
Sie alle kennen sicherlich den Werdegang des zum der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entschädigung
1. Januar 2000 in Kraft getretenen Gesetzes über die nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Hand-
Hilfe durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepati- lungen Verurteilter vor, der in ähnlicher Form bereits un-
tis-C-Virus infizierte Personen, das sogenannte Anti-D- zählige Male Gegenstand der Verhandlungen war. Es sei
Hilfegesetz. Das Anti-D-Hilfegesetz stellt eine eigen- an dieser Stelle vorangestellt, dass Homosexuelle in
ständige Rechtsgrundlage dar und ist nicht Bestandteil Deutschland viele Jahre in höchstem Maße diskriminiert
des sozialen Entschädigungsrechts im Sinne des § 5 des und stigmatisiert wurden. Diese schreckliche Realität
Ersten Buches Sozialgesetzbuch. steht hier völlig außer Frage, und diesbezüglich hat der
Bundestag in einer Entschließung, in der er sich mit der
Ich bin der Auffassung, dass mit diesem Gesetz ein Strafverfolgungspraxis nach 1945 befasste (Bundestags-
angemessenes Prozedere geschaffen worden ist. Das Ge- drucksache 14/4894), sein Bedauern ausgedrückt. Es
setz sieht Einmalzahlungen und die Zahlung von monat- geht aber in der Diskussion um etwas anderes, nämlich
lichen Renten vor, die sich in der Höhe nach dem Grad ob man rückwirkend die deutsche Rechtsordnung und
der Schädigungsfolgen bestimmen. Die Einmalzahlun- damit unsere Rechtsstaatlichkeit aushebeln darf.
gen, die vom Bund in vollem Umfang getragen werden,
So fordert nun die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sind zum größten Teil im Jahr 2000 an die betroffenen
einfallsreich beinahe wortgleich zu ihrem Antrag aus der
Frauen ausgezahlt worden. Der Bundesanteil an den
vergangenen Legislaturperiode eine pauschale Aufhe-
Rentenzahlungen beträgt 50 Prozent. Die medizinische
bung der nach dem Kriegsende in der Bundesrepublik
Behandlung der Schädigungsfolgen wird ausschließlich
Deutschland und in der DDR erfolgten Verurteilungen
von den Ländern getragen.
wegen Verstoßes gegen die §§ 175 ff. StGB sowie eine
Ich bin der Überzeugung, dass das bestehende Hilfe- Entschädigung für die nach diesen Vorschriften Verur-
system wohlaustariert ist und den Interessen derer ge- teilten, wie dies bereits für die entsprechenden Urteile in
recht wird, die unter den Vorfällen der Jahre 1978/1979 der NS-Zeit im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti-
zu leiden haben. Gleichwohl kann man natürlich prüfen, scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege erfolgt ist.
was im Antrag der Linken thematisiert wird: Ist es ange- Im Kern kann man also sagen: Sie fordern die Aufhe-
messen geregelt, wie mit denjenigen umgegangen wer- bung unseres im Grundgesetz normierten Gewaltentei-
(B) den soll, bei denen die Versorgungsämter Einmalzahlun- lungsprinzips, namentlich die Verpflichtung, die Staats- (D)
gen und monatliche Renten abweisen, weil die akte der jeweils anderen Staatsgewalten als rechtsgültig
Geschädigten offenbar nicht nachweisen können, dass anzuerkennen. Damit nehmen sie eine folgenschwere
ihre Schädigungen Folgen der durch die Anti-D-Immun- Absage an unsere Rechtssicherheit in Kauf. Das kann
prophylaxe entstandenen Hepatitis-C-Virus-Infektion wohl kaum ein ernstgemeinter Schachzug ihrerseits sein,
sind? Ich glaube nicht, dass wir diese Frage hier und schon gar nicht vor dem Hintergrund der Ablehnung des
heute abschließend beantworten können. Die FDP-Bun- im Jahr 2000 von der PDS eingebrachten Antrags mit
destagsfraktion und auch das Bundesgesundheitsministe- ähnlicher Forderung, den sie als Koalitionspartner da-
rium werden aber ihren Teil dazu beitragen, zu einer trag- mals mit eben genannter Begründung ablehnten. Mehr-
fähigen Lösung für die Betroffenen zu gelangen, wenn fach hat sich der Deutsche Bundestag bereits mit der
sich erweisen sollte, dass das jetzige System Mängel auf- Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung von Ho-
weist. Eine Absage erteile ich Ihnen jedoch, wenn wir mosexuellen in der NS-Zeit befasst. Mit dem 2. NS-Auf-
über einen generelle Beweislastumkehr debattieren. Sie hebungsgesetz wurden die insoweit ergangenen Urteile
fordern, dass die Betroffenen in Zukunft nicht mehr nach- pauschal aufgehoben und Betroffene rehabilitiert. Zuvor
weisen müssen, dass die Wahrscheinlichkeit des ursäch- hat der Bundestag aber auch, in deutlichem Unterschied
lichen Zusammenhangs zwischen der Schädigungsfolge zur staatsterroristischen Verfolgung der NS-Zeit, ent-
und der Hepatitis-C-Virus-Infektion besteht. Sie leiten schieden, die nach 1945 ergangenen Urteile nicht aufzu-
dann aus einer grundsätzlichen Vermutung, dass das heben, weil das BVerfG im Jahre 1957 die in der Bun-
schon so gewesen sein muss, einen generellen Rechtsan- desrepublik Deutschland bis 1969 gültige Fassung der
spruch auf Zahlungen ab. Das ist keine zielführende He- §§ 175 ff. StGB als verfassungskonform bewertet hat.
rangehensweise. Die von Ihnen geforderte Beweislast-
umkehr wird es mit uns nicht geben. Denn wir stehen für Natürlich erscheint es aus heutiger Sicht unvereinbar
eine vernünftige Beweislastverteilung. mit dem Grundgesetz, einvernehmliche gleichge-
schlechtliche Handlungen unter Strafe zu stellen. Und
selbstverständlich muss unsere Rechtsordnung unserer
Anlage 11 gesellschaftlichen Weiterentwicklung Rechnung tragen.
Die Veränderungen können und dürfen aber auf keinen
Zu Protokoll gegebene Reden Fall dazu führen, Entscheidungen des demokratischen
Rechtsstaates und seiner Gerichte pauschal als Unrecht
zur Beratung des Antrags: Rehabilitierung und zu bewerten. Damit würde unserer rechtsstaatlichen
Entschädigung der nach 1945 in Deutschland Ordnung jegliche Berechtigungsgrundlage entzogen.
12460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Sonja Steffen (SPD): Wir reden heute über einen Hier wird abzuwägen sein zwischen dem Grundsatz der (C)
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur gesetz- Gewaltenteilung und dem ebenfalls rechtsstaatlich ga-
lichen Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homo- rantierten Grundsatz der Rechtssicherheit auf der einen
sexuellen Männer. Seite und dem Recht der freien Entfaltung der Persön-
lichkeit und der Menschenwürde auf der anderen Seite;
Vor fast genau neun Jahren hat der Deutsche Bundes- denn dieses Recht schließt auch das Recht auf die sexu-
tag eine Ergänzung der NS-Aufhebungsgesetze beschlos- elle Identität mit ein.
sen: Urteile, die in der NS-Zeit nach den §§ 175 und
175 a RStGB gegen Homosexuelle und Wehrmachtsde- Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass
serteure ergangen waren, wurden aufgehoben. Vollkom- die SPD bereits 1927 auf ihrem Parteitag die „Abschaf-
men richtig hat die Gesetzesbegründung diese Urteile als fung der Bestrafung des Ehebruchs und widernatürlichen
Unrechtsurteile bezeichnet, die – ich zitiere – „typischer Verkehrs“ in ihr Parteiprogramm aufgenommen hat. Die
Ausdruck nationalsozialistischen Gedankengutes“ seien. sozialdemokratische Reichstagsfraktion wurde dement-
Außer Acht gelassen wurde bislang jedoch, dass die am sprechend aufgefordert, „eine gründliche Umgestaltung
28. Juni 1935 vom nationalsozialistischen Regime be- im Sinne der sozialdemokratischen Forderungen durch-
schlossene Verschärfung des Gesetzes für alle Verurtei- zusetzen.“ Auch der 39. Deutsche Juristentag 1951 in
lungen bis zur großen Strafrechtsreform am 25. Juni Stuttgart gab die Empfehlung ab, homosexuelle Hand-
1969 in der Bundesrepublik Deutschland weiter gültig lungen zwischen erwachsenen Männern für straflos zu
waren. Zwischen 1949 und 1969 kam es in Westdeutsch- erklären. Anknüpfungspunkt des Deutschen Juristenta-
land zu etwa 50 000 rechtskräftigen Verurteilungen nach ges waren die liberalen Weimarer Reformansätze und
dem § 175, die bis heute Gültigkeit besitzen. Auch in der die damalige Empfehlung des 21. Strafrechtsausschusses
früheren DDR kam es zu Verurteilungen, auch wenn dort aus dem Jahre 1929. Ich freue mich auf weitere Diskus-
die in der NS-Zeit vorgenommene Verschärfung des sionen.
§ 175 bereits 1950 zurückgenommen wurde.
Erstmalig 1981 hat der Europäische Gerichtshof für Jörg van Essen (FDP): Anfang der 90er-Jahre war
Menschenrechte in seiner Rechtsprechung die Aufrecht- ich Berichterstatter des Deutschen Bundestages, als wir
erhaltung strafrechtlicher Sanktionen für einvernehmli- den § 175 viel zu spät aufgehoben haben. Ich war auch
che sexuelle Kontakte unter Männern als Verstoß gegen Berichterstatter im Jahre 2000, als wir uns einvernehm-
Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ge- lich darauf geeinigt haben, hinsichtlich des nachkonsti-
kennzeichnet. Folge dieses Urteils hätte eine endgültige tutionellen Rechts der Bundesrepublik Deutschland eine
Abschaffung des § 175 StGB bedeuten müssen. Völlig andere Vorgehensweise als bei den Terrorurteilen des
gestrichen wurde die Vorschrift jedoch erst am 31. Mai Naziregimes zu wählen. Uns war es nämlich wichtig, (D)
(B)
1994. Der Deutsche Bundestag hat damals anerkannt, beides unterschiedlich zu behandeln. Ich lege weiterhin
dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafandro- Wert darauf, dass wir das auch tun. Auch 2009 war ich
hung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenrechts- Berichterstatter, als Sie schon einmal diesen Antrag ge-
würde verletzt worden sind. Nach geltender Rechtslage stellt haben. Ich stimme immer noch der Aussage in dem
jedoch sind die nach 1945 erfolgten Verurteilungen we- Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu, dass in Deutsch-
gen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller land auch nach 1945 die strafrechtliche Verfolgung von
Handlungen zwischen erwachsenen Menschen kein Un- Homosexuellen ein Klima der Angst und der Einschüch-
recht. Erforderlich wäre daher die Feststellung des Ge- terung erzeugte. Ich stimme auch der Aussage zu, dass
setzgebers, dass es sich bei den erfolgten Verurteilungen die strafrechtliche Verfolgung einherging mit einer ge-
aus gegenwärtiger Perspektive tatsächlich um Unrecht sellschaftlichen Ächtung von Homosexualität.
handelt. Der Bundestag als Gesetzgeber müsste zunächst
anerkennen, dass strafrechtliches Unrecht auch in der In meinem Beruf als Oberstaatsanwalt habe ich sehr
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschehen viele Urteile aus den 50er-Jahren gesehen. Ich muss ge-
ist, und er müsste sich zu entsprechenden Konsequenzen stehen, dass mir die Haare nicht nur bei den Urteilen
bereitfinden, beispielsweise in der Aufhebung sämtli- nach § 175 zu Berge gestanden haben, sondern ich fest-
cher Urteile durch den Gesetzgeber in der Form eines stellen musste, dass auch in vielen anderen Bereichen
Aufhebungsgesetzes. Urteile gefällt worden sind, für die wir uns heute ehrlich
schämen müssen. Ich will nicht nur die homosexuellen
Allerdings bestehen hier verfassungsrechtliche Be- Menschen ansprechen, sondern in diesem Zusammen-
denken, über die im Rahmen der parlamentarischen De- hang beispielsweise auch den Straftatbestand der Kuppe-
batte nachzudenken sein wird: Aus dem grundgesetzlich lei. Die FDP-Bundestagsfraktion hat nie einen Zweifel
normierten Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass jede der daran gelassen, dass die Urteile von deutschen Gerichten
drei Staatsgewalten grundsätzlich verpflichtet ist, die in den 50er-Jahren aus heutiger Sicht auf völliges Unver-
von den anderen beiden Staatsgewalten erlassenen ständnis stoßen müssen. So hat das Bundesverfassungs-
Staatsakte anzuerkennen und als rechtsgültig zu behan- gericht noch in einem Urteil von 1957 festgestellt, dass
deln. Auch das Bundesverfassungsgericht hat darauf die gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen
hingewiesen, dass Gesetze, die rückwirkend in die das Sittengesetz verstößt.
Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen eingreifen, den
Grundsatz der Gewaltenteilung berühren. Daher wird Eine strafrechtliche Verfolgung und eine Verurteilung
hier sorgfältig zu prüfen sein, ob ein Abweichen von die- wegen einer Tat nach § 175 StGB war geeignet, ganze
sem Prinzip aus zwingenden Gründen gerechtfertigt ist. Lebensbiografien zu zerstören. Für die Betroffenen hatte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12461
(A) eine derartige Verurteilung weitreichende Konsequenzen Es bleibt daher bei der grundsätzlichen Frage, ob der (C)
in alle Lebensbereiche hinein. Es war daher richtig und Gesetzgeber gut beraten ist, wenn er nachkonstitutionel-
notwendig, dass der Deutsche Bundestag bereits in der les Recht unter Geltung des Grundgesetzes aufhebt. In
14. Wahlperiode einmütig bekundet hat, dass die in der einer Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses,
BRD und DDR fortbestehende Strafandrohung für ho- Pet 4-16-07-4500-011779, wird richtig ausgeführt: „Eine
mosexuelle Männer die Betroffenen in ihrer Menschen- Anhebung nachkonstitutioneller Urteile durch Gesetz
würde verletzt hat. Der Bundestag hat bekräftigt, dass widerspräche ferner dem Rechtsstaatsprinzip. Es enthält
die Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung von
Beziehungen gegen die Europäische Menschenrechts- Rechtssicherheit; diese verlangt einen geregelten Verlauf
konvention und nach heutigem Verständnis auch gegen des Rechtsfindungsverfahrens und auch einen Ab-
das freiheitliche Menschenbild des Grundgesetzes ver- schluss, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist. Stün-
stößt. Der Bundestag hat damit einen Weg gefunden, um den rechtskräftige Urteile zur Disposition des Gesetzge-
den Opfern ihre Ehre wiederzugeben und sich bei all de- bers, wäre die Sicherheit dieses Rechts nicht mehr
nen zu entschuldigen, die im Namen des Staates zu lei- gewährleistet“. Ich bin der Meinung, der Gesetzgeber
hat in der 14. Wahlperiode einen angemessenen Weg ge-
den hatten und denen Unrecht widerfahren ist.
funden, um die Ehre der Opfer wiederherzustellen. Ein
Ich stimme dem vorliegenden Antrag dennoch nicht weiteres Handeln des Gesetzgebers ist daher nicht mehr
zu. Aus meiner Sicht machen es sich die Antragsteller zu erforderlich.
einfach, wenn sie die Aufhebung der wegen § 175 StGB In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden
ergangenen Urteile nach 1945 fordern. Mit Stolz schauen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
wir auf unsere Verfassung und unsere freiheitlich-demo- Menschenrechte angesprochen. Es ist berechtigt, die
kratische Grundordnung. Über 60 Jahre Grundgesetz be- Frage aufzuwerfen, wie der Gesetzgeber mit den Wir-
deuten mehr als 60 Jahre Freiheit, Demokratie und kungen von Urteilen des Europäischen Menschenge-
Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist es rechts- richtshofs umgeht. Diese Frage ist jedoch allgemein zu
systematisch höchst bedenklich, die Forderung nach diskutieren und nicht auf die Verurteilungen nach § 175
Aufhebung von Urteilen der Gerichte nach 1945 zu stel- StGB zu beschränken. Es ist ein allgemeines Problem,
len. Es ist schon ein elementarer Unterschied, über die dass die Staaten bezüglich der Entschädigung häufig
Aufhebung von Urteilen zu diskutieren, die während ei- säumig sind. Die Probleme, die um diesen Sachverhalt
nes Unrechtsregimes oder jene, die von unabhängigen kreisen, sind vielschichtig und müssen an anderer Stelle
Gerichten in einem demokratischen Rechtsstaat ergan- diskutiert werden.
gen sind. Die Urteile wegen § 175 Reichsstrafgesetz-
(B) buch sind vom Gesetzgeber in der 14. Wahlperiode (D)
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Verfolgung Homo-
durch das NS-Aufhebungsgesetz zu Recht aufgehoben sexueller gehört zu den größten Menschenrechtsverlet-
worden. Die Maßstäbe, die seinerzeit an das Aufhe- zungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
bungsgesetz angelegt wurden, können nicht in gleicher Die Bundesrepublik Deutschland hat den § 175 in der
Weise für die Urteile gelten, die nach 1945 ergangen von den Nazis verschärften Fassung einfach übernom-
sind. Es hat, insbesondere in den 50er-Jahren, in der men und circa 50 000 Männer deswegen in den Knast
BRD eine Reihe von strafgerichtlichen Entscheidungen geworfen, und zwar nicht etwa wegen Gewalttaten, son-
gegeben, die heute auf völliges Unverständnis stoßen. dern nur, weil sie schwul waren und sogar bereits dann,
Insbesondere Verurteilungen wegen Kuppelei sind mit wenn ihnen lediglich homosexuelle Kontakte unterstellt
dem heutigen Rechtsempfinden nicht vereinbar. Es hat wurden. In der DDR hat es 3 000 bis 4 000 Verurteilun-
zahlreiche Urteile gegeben, wo die Gerichte unter ande- gen gegeben, in der Regel auf der Basis der früheren
rem mit Blick auf das Sittengesetz wegen kleinster Ver- Weimarer Gesetzesfassung, die auch schon schlimm ge-
gehen hohe Strafen ausgesprochen haben. Auch solche nug war. Die massiven Verfolgungen endeten in der
Entscheidungen sind aus heutiger Sicht nur schwer nach- DDR gegen Ende der 1950er-Jahre, in der BRD erst
zuvollziehen. Würde man den vorliegenden Anträgen 1969. Wir meinen: Die Homosexuellenverfolgung in Ost
folgen, würden den Verurteilungen nach § 175 StGB und West war Unrecht, und die Homosexuellen müssen
weitere Urteile folgen müssen, bei denen zu überlegen entschädigt werden!
wäre, sie nachträglich aufzuheben. Die isolierte Betrach- Es gibt vereinzelt das rechtssystematische Bedenken,
tung der Urteile wegen § 175 StGB führt zu einer will- man könne Urteile eines Rechtsstaates nicht so einfach
kürlichen Ungleichbehandlung gegenüber all denjenigen aufheben wie die Urteile der Nazijustiz. Aber man muss
Opfern, gegen die Urteile wegen ähnlicher Vergehen er- sich klarmachen: Die Urteile gegen Homosexuelle ent-
gangen sind. Wer in diesem Zusammenhang eine Ent- sprangen geradezu dem Ungeist und teilweise dem
scheidung trifft, muss sich fragen lassen – gerade weil Wortlaut des Nazisystems. Für die Homosexuellen sei
homosexuelle Menschen zu Recht sehr viel Wert darauf das Dritte Reich noch nicht zu Ende, hatte schon 1963
legen, dass sie gleich behandelt werden –, warum wir der Historiker Hans-Joachim Schoeps gemahnt. Und
hier gegebenenfalls eine Ungleichbehandlung gegenüber wenn in einem deutschen Strafgesetzbuch noch nach der
denjenigen herbeiführen, die beispielsweise wegen Ver- Befreiung vom Faschismus typisches Naziunrecht fort-
stoßes gegen den Kuppeleiparagrafen verurteilt worden geschrieben wurde, dann reicht es nicht, dieses Unrecht
sind. Diese Frage müssen sich heute die Antragsteller nur zu bedauern, wie es der Deutsche Bundestag erst-
ebenfalls stellen. mals im Jahre 2000 machte. Es muss vielmehr auch eine
12462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) materielle Entschädigung erfolgen; denn man muss sich Der Deutsche Bundestag hat bereits im Jahr 2000 in (C)
die Konsequenzen dieses Unrechts vor Augen führen: einer einstimmig angenommenen Resolution deutlich
Im Namen des Gesetzes wurden ganze Biografien zer- gemacht, dass „die Verfolgung gleichgeschlechtlicher
stört. Schon die über 100 000 Ermittlungsverfahren, die Beziehungen gegen die Europäische Menschenrechtsch-
es in der BRD gab, bedeuteten für die Betroffenen häu- arta und nach heutigem Verständnis auch gegen das frei-
fig genug den sozialen Tod, auch ohne gerichtliches Ur- heitliche Menschenbild des Grundgesetzes verstoßen“
teil. Es genügte der Verdacht, schwul zu sein, um Woh- habe. Alle Fraktionen stimmten damals bereits überein,
nung, Arbeitsplatz und gesellschaftliche Stellung zu dass „homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde
verlieren. Das kann man nicht mit Worten wiedergutma- verletzt wurden“. Diese Position ist Konsens im Hohen
chen. Haus, und ich fordere Sie auf, diese Position heute zu
bestätigen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Im
Schwule Männer mussten sich selbst verleugnen, sie
Jahr 2002 wurden dann diejenigen Opfer des § 175 reha-
mussten sich verstecken, sie mussten in permanenter
bilitiert, die unter der NS-Diktatur verfolgt und verurteilt
Angst vor Verfolgung, Inhaftierung und Diffamierung
wurden. Für die Opfer aber, die nach 1945 nach demsel-
leben. Es ging letztlich darum, sie im intimsten Kernbe-
ben Unrechtsparagrafen verurteilt wurden, steht dies aus.
reich ihrer Persönlichkeit zu brechen. Der Europäische
Die Kolleginnen und Kollegen von der Union und der
Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits klargestellt,
FDP argumentierten in dieser Frage in der Vergangen-
dass es sich hier um schwerste Menschenrechtsver-
heit mit dem Rechtsstaatsprinzip. Einmal erlassene Ur-
letzungen gehandelt hat. In diesem Geiste sehen wir üb-
rigens auch die Entscheidung des Europäischen Ge- teile dürften ihrer Meinung nach nicht zur Disposition
richtshofes von dieser Woche, dass homosexuelle gestellt werden; denn die Verfassung garantiere Rechts-
Lebensgemeinschaften finanziell und rentenpolitisch sicherheit.
gleichberechtigt sind. Das ist eine berechtigte Ohrfeige Mit dieser Argumentation verkennen Sie den Sinn der
für alle, die Lesben und Schwule benachteiligen wollen. Rechtsstaatsgarantie: Ziel ist es, die Bürgerinnen und
Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags ist ganz Bürger vor Willkürentscheidungen des Staates und sei-
klar berechtigt. In einem Punkt widerspreche ich aller- ner Institutionen zu schützen und sicherzustellen, dass
dings: Das Ansinnen, die Abwicklung von Entschädigun- sie nicht in ihren Rechten im Nachhinein durch neue Ge-
gen dem Magnus-Hirschfeld-Institut zu überlassen, ist setzgebung beschnitten werden. In diesem Fall geht es
kontraproduktiv. Das Institut ist ein Forschungsinstitut. aber darum, vom Staat selbst begangenes Unrecht auch
Es kann und soll auch das Ausmaß der Homosexuellen- Unrecht zu nennen und wiedergutzumachen. Ich frage
verfolgung ergründen, aber ihm die konkrete Entschädi- Sie: Können wir es wirklich vertreten, zu sagen, dass
menschenrechtswidrige Urteile nur wiedergutgemacht
(B) gungsarbeit aufzubürden, brächte eine bürokratische Be- (D)
lastung mit sich, die die Forschungsarbeit ersticken werden, wenn sie von einer Diktatur verhängt wurden?
würde. Darüber können wir uns hoffentlich noch verstän- Wie können wir einem Opfer des § 175 in die Augen se-
digen. hen und ihm sagen: Es tut mir leid, Sie wurden zu spät
verurteilt! – Liegt es nicht gerade im Wesen der Demo-
kratie, dass sie in der Lage ist, begangene Fehler zu be-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kennen und aus ihnen zu lernen? Meine Fraktion legt
Wir sind uns einig, dass es eine Menschenrechtsverlet-
heute einen Antrag zur Debatte vor, der sich genau die-
zung war, schwule Männer bis 1994 nach dem berüch-
ses zum Ziel setzt. Wir wollen, dass die Unrechtsurteile
tigten § 175 zu verurteilen, obwohl sie nichts falsch ge-
aufgehoben, die Betroffenen rehabilitiert und entschä-
macht haben. Ihr vermeintliches Verbrechen war es,
digt werden. Es ist höchste Zeit: denn wieder einmal
anders zu lieben als die Mehrheit in unserem Land. Es
dauert die Diskussion viel zu lange, sodass viele Betrof-
bleibt aber ein Skandal, dass in der Bundesrepublik
fene schon nicht mehr am Leben sind. Wenn die Bundes-
Deutschland weiterhin Männer mit dem Stigma leben
regierung die beabsichtigte Markus-Hirschfeld-Stiftung
müssen, vorbestraft zu sein, weil sie schwul sind. In der
auf den Weg bringt, sollte es eine ihrer ersten Aufgaben
Bundesrepublik galt bis 1969 der von den Nazis ver-
schärfte § 175 unverändert fort. Für schwule Männer sein, die Opfer dieser menschenrechtswidrigen Strafver-
brachte die Befreiung von 1945 deswegen nicht die Frei- folgung zu entschädigen.
heit. Statt ins Konzentrationslager ging es nun in ein de-
mokratisch legitimiertes Gefängnis. Es blieb die Angst
vor Denunziation und Razzien. Bis zu 60 000 Männer Anlage 12
wurden Schätzungen zufolge in den Jahren von 1945 bis
1969 aufgrund des § 175 verurteilt. Das bedeutete auch Zu Protokoll gegebene Reden
das Ende von Karrieren, häufig eine Entfremdung von den zur Beratung:
Familien und die Zerstörung von Lebensglück. Mit der
Strafrechtsreform 1969 wurde der § 175 entschärft, aber – Beschlussempfehlung und Bericht: Gesund-
nicht beseitigt. Noch einmal wurden 3 545 Menschen ver- heit ist eine globales öffentliches Gut – Rolle
urteilt, bis 1994 die endgültige Abschaffung erfolgte. der Weltgesundheitsorganisation WHO in
Auch in der DDR wurden Schwule verfolgt, wenn auch in der „Global Health Governance“ stärken
geringerem Ausmaße. Die gesellschaftliche Ausgrenzung
und Ächtung bestand aber auch im SED-Staat, im sozia- – Beschlussempfehlung und Bericht: „Global
listischen Teil Deutschlands fort. Health Governance“ stärken – Gesundheits-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12463
(A) versorgung in Entwicklungs- und Schwel- eingesetzt werden. Genau das entspricht auch der Linie (C)
lenländern voranbringen der Bundesregierung.
– Antrag: Vertrag zwischen IAEO und WHO Nun wird in den vorliegenden Anträgen gefordert, die
vom Mai 1959 kündigen – Für eine unab- Regulärbeiträge im Verhältnis zu den freiwilligen Beiträ-
hängige und effektive WHO gen kurzfristig wesentlich zu erhöhen. Dies stellt keine
realistische Forderung dar: Denn den Mitgliedstaaten
(Tagesordnungspunkt 19 a und b, Zusatztages- geht es zunächst einmal darum, zu wissen, für welche
ordnungspunkt 6) Maßnahmen das von ihnen zur Verfügung gestellte Geld
verwendet wird. Da sind wir wieder beim Thema der
Transparenz und der effizienten Verwendung von Geld-
Stephan Stracke (CDU/CSU): Ich begrüße es, dass mitteln. Daneben fordern SPD und Grüne, die bewährte
sich die Fraktionen der SPD und der Grünen mit ihren Zusammenarbeit zwischen WHO und IAEO aufzukündi-
Anträgen für eine Stärkung der WHO aussprechen. Die gen. Aber dabei geht es Ihnen primär gar nicht um die
WHO ist als Sonderorganisation der Vereinten Nationen WHO. Vielmehr geht es Ihnen darum, aus tagesaktuel-
für den Bereich Gesundheit unverzichtbar. Gerade der lem Anlass gegen die Kernkraft Stimmung zu machen.
Globalisierungsprozess und die damit einhergehende Dies ist ein ganz durchsichtiger Zweck! Hier und heute
Verknüpfung von gesundheitspolitischen Fragestellun- ist aber die falsche Plattform dafür; denn heute muss die
gen mit anderen Politikfeldern verdeutlicht, vor welchen WHO im Zentrum stehen. Dies gilt umso mehr, als wir
Herausforderungen die Welt steht. Diese Entwicklungen alle wissen, dass die Bundesregierung zurzeit intensiv
machen auch vor der WHO nicht halt. Deshalb hat die daran arbeitet, den Umstieg in die erneuerbaren Energien
WHO-Generaldirektorin Dr. Margaret Chan Anfang schneller zu bewerkstelligen als bislang vorgesehen.
2010 eine Reformdiskussion angestoßen, die die WHO
neu ausrichten soll. Dabei soll die WHO in ihrer Rolle Aus offenkundigen Gründen wird versucht, ein Ge-
als übergeordneter und koordinierender Akteur in der geneinander von WHO und IAEO aufzubauen. Natürlich
globalen Gesundheitspolitik gestärkt werden. hat in diesem Ihrem Spiel die IAEO die Rolle des Böse-
wichts. Und diese Rolle wird ihr allein deshalb zugewie-
Sowohl die Bundesregierung als auch die christlich- sen, weil sie sich satzungsgemäß mit Kernenergie be-
liberale Koalition unterstützen diesen Reformprozess. fasst. Dabei fällt selbstverständlich unter den Tisch, dass
Schwerpunkt der Reformdiskussion aus deutscher Sicht die IAEO im Jahre 2005 den Friedensnobelpreis erhalten
ist es, die Rolle der WHO auf ihre Kernfunktionen zu hat.
konzentrieren. Ziel ist es dabei, eine klare Aufgabentei-
lung zu erreichen, die die Abgrenzung der WHO zu den In Ihren Anträgen erwecken Sie den Eindruck, als sei
(B) anderen Akteuren der globalen Gesundheitspolitik deut- die WHO in ihrer Unabhängigkeit durch ein Abkommen (D)
lich macht. Dies bedeutet, dass sich die WHO in Zukunft aus dem Jahr 1959 mit der IAEO beschränkt. Auch das
auf Standardisierung und Normsetzung, Koordinierung ist falsch. Zunächst einmal handelt es sich hier nicht um
sowie Evaluierung konzentrieren sollte. Die Bereiche ein irgendwie geartetes Sonderabkommen, sondern um
der Finanzierung und operativen Umsetzung sollten da- ein Standardabkommen, wie es zwischen den Institutio-
gegen anderen Akteuren überlassen werden. Im Ergebnis nen der Vereinten Nationen und anderen internationalen
werden dadurch Ineffizienzen und Dopplungen vermie- Organisationen gänzlich üblich ist. Es dient lediglich
den. dem allgemeinen Zweck, die Arbeitsfelder der betroffe-
nen Organisationen aufeinander abzustimmen und Inef-
Hierfür bringt sich Deutschland wie kaum ein anderer fizienzen zu vermeiden. Zudem entsprechen die Feststel-
Mitgliedstaat in den offiziellen WHO-Gremien kon- lungen der Grünen in drei wesentlichen Punkten nicht
struktiv ein. Beispielhaft genannt seien die Gespräche der Realität:
zwischen der Generalsekretärin Dr. Chan und den Bun-
Erstens. Mir ist völlig unklar, wie Sie zu der An-
desministern Dr. Rösler und Niebel im November 2010
nahme kommen, das Abkommen zwischen der IAEO
sowie eigene Veranstaltungen wie der viel beachtete
und der WHO sei 40 Jahre lang geheim gehalten wor-
Workshop am Rande des Exekutivrats im Januar 2011.
den. Das Abkommen wurde 1959 von der Weltgesund-
All das zeigt: Die vorliegenden Anträge beinhalten in-
heitsversammlung, also der Gesamtheit der WHO-Mit-
haltlich im Wesentlichen nichts Neues. Die Aufforde-
gliedstaaten, verabschiedet. Glauben Sie ernsthaft, dass
rung zum Handeln geht ins Leere; denn offensichtlich
die Mitgliedstaaten nicht wussten, was sie da verab-
wollte oder konnte die Opposition nicht wahrnehmen,
schiedeten? Es ist ein Popanz, den Sie hier aufbauen.
welche Aktivitäten die Bundesregierung im Zuge der Der einzige Bereich, in dem Stillschweigen vereinbart
Reformdebatte bereits entfaltet hat. Noch eine Anmer-
wurde, betrifft das Thema des Datenschutzes. Dass die
kung zur WHO-Finanzierung: Die Bundesregierung be- Grünen die Gewährleistung von Datenschutz kritisieren,
gleitet auch diesen Reformprozess auf das Intensivste ist ein erstaunlicher Vorgang.
und bringt sich zielgerichtet mit ein. Im Unterausschuss
Gesundheit für Entwicklungsländer kam aus den Reihen Zweitens. Das Abkommen steht in keinerlei Weise ei-
der Grünen natürlich stereotyp zunächst einmal die For- ner unabhängigen Forschung und Bewertung durch die
derung, dass die WHO mit mehr finanziellen Mitteln WHO entgegen. Dies ergibt sich schon aus der Ausge-
auszustatten sei. Einer solchen Forderung hat selbst die staltung als Rahmenabkommen. Dessen einziger Zweck
WHO-Generaldirektorin Dr. Chan eine Absage erteilt. ist es, Doppelarbeit zu vermeiden. Auch aus dem Text
Ihr ist es wichtig, dass die vorhandenen Mittel effizienter des Abkommens ergibt sich nicht, dass die WHO in ir-
12464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) gendeiner Weise untergeordnet oder weisungsgebunden system – inklusive gut ausgebildetem medizinischen (C)
ist. Die Regelungen lassen weder den Schluss zu, dass Personal und in der Regel bestmöglicher Versorgung.
die Vereinbarung die von der Satzung der WHO vorge-
schriebene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beein- In anderen Teilen der Welt bedeutet Krankheit aber
trächtigt, noch ergibt sich daraus, dass sich die WHO ei- oft einen Fall ins Bodenlose, für den Kranken persön-
ner anderen Organisation in einem ihrer Arbeitsfelder lich, aber auch für die gesamte Familie, die neben der
unterwerfen muss. Dies hat die WHO selbst in einer psychischen Belastung die ökonomischen Folgen der
Stellungnahme aus dem Jahr 2001 umfassend bestätigt. Krankheit wie Behandlungskosten und entgangenes Ein-
Weder rechtlich noch praktisch entsteht durch das Ab- kommen schultern muss.
kommen irgendeine Beeinträchtigung der unabhängigen
Sehr viele Krankheiten, unter denen Menschen in
Arbeit der WHO.
Entwicklungsländern zu leiden haben, sind armutsbe-
Drittens. Die Grünen kritisieren, dass die WHO an- dingt und in den Industrienationen schon lange kein
geblich im Rahmen der Katastrophe von Fukushima ihre Thema mehr bzw. nie gewesen. HIV/Aids, Tuberkulose,
Aufgaben nicht wahrgenommen und insbesondere aus Malaria und die vernachlässigten und armutsbedingten
Personalmangel keine eigenständigen Messungen der Krankheiten nehmen Milliarden Menschen weltweit in
Strahlenwerte vorgenommen habe. Auch diese Behaup- ihre furchtbare Geiselhaft. Nicht funktionierende oder
tung entbehrt jeglicher Grundlage. Die WHO nutzt be- nicht existente nationale Gesundheitssysteme erschwe-
kanntlich weltweit ein internationales Netzwerk von ren bzw. behindern die Befreiung von diesen Krank-
40 Kollaborationszentren – zwei davon in Hiroshima heitslasten. Kurzum gesprochen: Sehr vielen Menschen
und Nagasaki. Das ist äußerst sinnvoll und nicht zu kriti- ist ihr Grundrecht auf den höchstmöglich zu erreichen-
sieren. Jetzt gebe ich den Grünen einmal einen Tipp: Be- den Gesundheitsstand verwehrt.
vor Sie das nächste Mal wieder meinen, auf die Schnelle
Es ist nun aber nicht so, als würde die Welt tatenlos
irgendeinen Antrag zu irgendeinem Thema in die Welt
zusehen. Weltweit haben Regierungen und die Zivilge-
setzen zu müssen, böte es sich an, sich im Vorfeld da-
sellschaft dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit
rüber zu informieren, ob Ihre Thesen auch zutreffen. Ich
den Kampf angesagt und engagieren sich vorbildlich für
habe bei der WHO nachgefragt, warum sie denn derzeit
mehr globale Gesundheit und damit mehr globale Ge-
in Fukushima nicht vor Ort ist. Von dort höre ich dann,
rechtigkeit. Aber leider ist gut gemeint nicht immer bis in
dass dies nichts, aber auch gar nichts mit der behaupte-
die letzte Konsequenz gut gemacht. Mittlerweile gibt es
ten mangelnden Personalausstattung zu tun habe. Im
allein im Gesundheitssektor 100 weltweite Partnerschaf-
Gegenteil: In der WHO herrscht kein Personalmangel.
ten, die alle ihre eigenen Bereitstellungsmethoden, Eva-
Vielmehr sollten aus guten Gründen kurz nach einer Ka-
(B) luierungssysteme und Zeitrahmen haben. Damit sind die (D)
tastrophe nicht zu viele Menschen vor Ort sein, um die
Gesundheitsministerien der Entwicklungsländer in zu-
Rettungsaktionen nicht zu behindern. Zudem steht kurz
nehmendem Maße überfordert. Ich kann mir nicht helfen,
nach einer Katastrophe eher die strukturelle Arbeit im
aber vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild von
Vordergrund. Die WHO befasst sich vor allem mit der
unzähligen Organisationen und Partnerschaften, die zwar
wissenschaftlichen Aufarbeitung. Hierfür benutzt sie
alle mit nachvollziehbaren, richtigen und hehren Ansprü-
viele verschiedene Quellen, im Fukushima-Fall zum
chen auftreten, aber im Ergebnis aufgrund der Vielzahl
Beispiel die von Tepco, der japanischen Regierung und
wie ein Heuschreckenschwarm über die jeweiligen Ge-
anderen Organisationen. Das zeigt: Die WHO nimmt
sundheitsministerien herfallen. Sie binden mit ihren je-
ihre Aufgaben kraftvoll wahr.
weiligen unterschiedlichen Anforderungen die Ressour-
Die von SPD und Grünen vorgebrachten Bedenken ei- cen, die dann an anderer Stelle für die Bewältigung der
ner Beschränkung der WHO durch die Zusammenarbeit immensen Probleme im Gesundheitsbereich fehlen. Des-
mit der IAEO gehen ins Leere. Einen Handlungsbedarf wegen, liebe Frau Roth, lieber Herr Kekeritz, sind wir
kann ich daher derzeit nicht erkennen. Es ist bedauerlich, uns, glaube ich, alle einig: Nur mit mehr Koordination
dass die Opposition nicht die notwendige Reformdiskus- und Kooperation in der globalen Gesundheitsarchitektur
sion zur Zukunft der WHO in den Mittelpunkt stellt, son- wird die Hilfe im Gesundheitssektor nachhaltig besser
dern auf Nebenschauplätze setzt. Wir, die christlich-libe- und effizienter werden.
rale Koalition, befassen uns weiterhin mit dem
Wenn ich dann in Ihrem Antrag, liebe Frau Roth, lese,
Wichtigen: der Neuaufstellung der WHO. Wir wollen
dass allein in dem kleinen Land Haiti 450 NGOs im Ge-
eine starke WHO. Hierfür setzt sich die Bundesregierung
sundheitsbereich mehr oder weniger unkoordiniert und
schon seit langem intensiv und auf allen Ebenen ein. Wir
unkontrolliert vor sich hin wursteln, dann bestärkt das
wünschen ihr bei den anstehenden Verhandlungen viel
meine Forderung nach mehr Koordination, und zwar
Erfolg.
möglichst schnell. Darum, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Opposition, sollten wir uns vorrangig kümmern,
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): „Gesundheit und wir sollten dies nicht nur einfach niederschreiben.
ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Wir sollten auch nicht – wie in Ihren Anträgen gesche-
Wie wahr dieses Zitat ist, weiß jeder, der schon einmal hen – Forderungen aufstellen, die tatsächlich schon
ernsthaft erkrankt ist oder eine schwere Krankheit im na- längst Regierungshandeln sind. Die WHO ist die einzig
hen Umfeld miterlebt hat. Bei uns in Deutschland greift universell legitimierte Organisation in der globalen Ge-
im Krankheitsfall ein gut funktionierendes Gesundheits- sundheitspolitik, die bei der Koordination der Hilfe im
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12465
(A) Gesundheitsbereich mehr Verantwortung übernehmen Dr. Marlies Volkmer (SPD): In der nächsten Woche (C)
sollte – ja, sogar muss. werden in Genf auf der Weltgesundheitsversammlung
Allein die WHO kann diese übergeordnete Koordinie- die Weichen für eine Reform der Weltgesundheitsorgani-
rungsrolle übernehmen, um Dopplungen und Ineffizien- sation (WHO) gestellt, ein Ereignis von immenser Be-
zen bei den Akteuren im globalen Gesundheitsbereich zu deutung für uns und für die Menschen auf der ganzen
verhindern. Was die heute im Bundestag beratenen An- Welt. Aber leider ist die Regierungskoalition, insbeson-
träge zur Rolle der WHO angehen, so werden wir diese dere die FDP, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass
ablehnen, da sie überflüssig sind. Die Bundesregierung man sich um solche Dinge nicht kümmern kann. Liebe
setzt bereits einen großen Teil der Forderungen zum Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition,
Thema WHO umfassend um. Das, was Sie fordern, ist um Ihnen noch einmal kurz zu verdeutlichen, worum es
also bereits Regierungshandeln. geht: Die WHO war es, die beispielsweise die Pocken
weltweit ausgerottet hat. Noch in den 1950er-Jahren gab
Die Bundesregierung muss hier nicht mehr durch An-
es in Europa Pockenepidemien, die Tote forderten. 1980
träge der Opposition überzeugt werden; denn die Haupt-
konnte dann die WHO bekannt geben, dass die Pocken
forderungen der Anträge hat sie sich längst schon auf die
weltweit ausgerottet seien. Die Gefahren, die von Infek-
Fahnen geschrieben. Es ist aber schön, Anträge der Op-
position zu lesen, die in weiten Teilen das aktuelle Re- tionskrankheiten ausgehen sowie Gesundheitsfragen,
gierungshandeln beschreiben. Das ist nun beileibe nicht zum Beispiel im Zusammenhang mit Atomkraft, sind in
immer so! Wären dies hier keine Anträge, sondern wäre unserer globalisierten Welt ungleich größer, als sie noch
dies eine Resolution gewesen, hätten sich sicherlich alle im vergangenen Jahrhundert waren. Nationalstaatliches
Fraktionen dieser inhaltlich anschließen können. Voraus- Handeln reicht nicht mehr aus. Deswegen ist die WHO
setzung wäre natürlich gewesen, dass die Einleitung mit als weltumspannende Organisation unverzichtbar. Doch
einem Lob an die Bundesregierung begonnen hätte, da die Regierungskoalition ist zu beschäftigt mit Personal-
die Forderungen fast vollständig das bisherige Handeln fragen. Da hat man keine Zeit für Menschheitsfragen.
der Bundesregierung wiedergeben. Es zeigt mir aber, Mit der Gründung der WHO hat sich die Weltgemein-
dass viel Einigkeit über die Rolle der WHO besteht. schaft bereits 1948 als weitsichtig erwiesen. Heute, über
60 Jahre später, ist die Organisation so notwendig wie
Erstens. Die WHO muss die globale Koordinations-
damals. Jedoch hat sich der Rahmen verändert. Eine Re-
rolle in der weltweiten Gesundheitsarchitektur überneh-
men. Zweitens. Die Gesundheitssystemstärkung muss form der Organisation ist notwendig, damit sie auch in
weiterhin bei der WHO ganz oben auf der Agenda ste- Zukunft ihren Aufgaben vollumfänglich gerecht werden
hen. Drittens. Die Finanzierung der WHO muss refor- kann.
(B) miert werden. Viertens. Die Entscheidungsprozesse der (D)
Einer grundsätzlichen Reform bedarf die Finanzie-
WHO müssen transparenter werden.
rung der WHO. In den vergangenen Jahren hat sich der
Ich will nur einige Punkte nennen, für die die Bundes- Anteil der freiwilligen, aber zweckgebundenen Mittel
regierung sich im Rahmen der WHO-Reform einsetzt. immer weiter erhöht. Nach dem Motto „Wer die Musik
Ziel dieser Reform ist eine Stärkung der Weltgesund- zahlt, sucht sie auch aus“ haben sich die Geber in zuneh-
heitsorganisation insgesamt. Mit dieser Stärkung wird mendem Maße nur noch an von ihnen definierten Aufga-
auch der Einfluss der WHO als Anwältin der öffentli- ben der WHO beteiligt. Dies hat dazu geführt, dass die
chen Gesundheit auf andere Politikbereiche spürbar ge- unterschiedlichen Abteilungen der WHO in Konkurrenz
stärkt werden. Was die Forderung im SPD-Antrag und zueinander stehen, statt sich abgestimmt den Kernauf-
den Antrag der Grünen zur Unabhängigkeit der WHO gaben der WHO zu widmen. Das muss sich ändern. Die
von der Internationalen Atomenergie-Organisation an- WHO muss finanziell in die Lage versetzt werden, ihren
geht, so halte ich diese für unbegründet. Ich kann keine Aufgaben als unabhängiges Gremium nachzukommen.
Anhaltspunkte erkennen, dass die Unabhängigkeit und
Unparteilichkeit der WHO beeinträchtigt wären oder Ein zweiter wesentlicher Punkt der Reform muss ein
dass sich die WHO einer anderen Organisation unter- erhöhtes Maß an Transparenz sein. Die Zivilgesellschaft
werfen müsse. Dies hat die WHO auch in einer Stellung- muss an den Entscheidungsfindungen ebenso beteiligt
nahme bestätigt. Aus diesem Grund lehnen wir auch den werden wie die Industrie. Nur so kann gewährleistet
Antrag der Grünen, der eine Aufkündigung des Vertra- werden, dass niemandes Interessen auf Kosten der ande-
ges zwischen der Internationalen Atomenergie-Organi- ren durchgesetzt werden. Die WHO selbst vermeidet so,
sation und der WHO fordert, ab. „Gesundheit ist nicht in den Verdacht einseitiger Interessenvertretung zu gera-
alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“ – Wir brau-
ten.
chen eine starke WHO, damit weniger Menschen auf-
grund von Krankheit ins Nichts fallen und weltweit mehr Der von den Grünen vorgelegte Antrag ist von der In-
Menschen zu ihrem Recht auf das für sie erreichbare tention her nicht schlecht, aber er konzentriert sich aus-
Höchstmaß an Gesundheit kommen. schließlich auf die Entwicklungs- und Schwellenländer
Die WHO muss bei der Koordination der globalen und spart das Thema Finanzierung fast vollständig aus.
Gesundheitsarchitektur die Führungsrolle innehaben. Ich Die Koalition ist mit sich beschäftigt und hat, wie immer
bin froh, dass die Bundesregierung sich aktiv und inten- bei den großen internationalen Themen, keine Ideen
siv in die Reformdebatte der WHO einbringt und sich für oder Vorstellungen. Unser Antrag zeigt den richtigen
eine Stärkung der Weltgesundheitsorganisation einsetzt. Weg. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
12466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Karin Roth (Esslingen) (SPD): Dass wir heute über Abstimmung im Ausschuss, jetzt unserem Antrag zu- (C)
drei Anträge zum selben Thema beraten, die aus unter- stimmen.
schiedlichen Ausschüssen kommen, zeigt bereits einen
Teil der Herausforderung, der wir uns stellen. Und auch Helga Daub (FDP): Dr. Margaret Chan, die General-
das Nichtvorliegen irgendwelcher Ideen seitens der Re- direktorin der WHO, hat sich auf der Sitzung des Execu-
gierungskoalition sagt einiges sehr deutlich. Aber im tive Board am 22. Januar dieses Jahres noch einmal sehr
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- deutlich zu der dringend notwendigen Reform der WHO
wicklung konnten wir von unseren Kolleginnen der Re- geäußert und dies auch hier im Unterausschuss Gesund-
gierungskoalition vernehmen, dass sie inhaltlich unse- heit in Entwicklungsländern vorgetragen. Gewohnt sind
rem Antrag gerne zugestimmt hätten. Wir müssen also wir eigentlich, dass sich Organisationen gerne zieren,
annehmen, dass ihre Ablehnung rein parteitaktische wenn es um Veränderungen im eigenen Hause geht.
Gründe hatte. Die Weltgesundheitsorganisation, ihre Dr. Chans Forderungen nach einer Stärkung der WHO
Aufgaben und ihre Aktivitäten betreffen heutzutage in als „Global Health Governance“ gehen Hand in Hand
besonders starker Weise die Länder, deren Gesundheits- mit ihren Bestrebungen, sowohl die Finanzierung als
systeme noch nicht so weit entwickelt sind. Das ist rich- auch das Management zu reformieren. Die konkreten
tig. Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Gesund- Vorschläge wird Dr. Chan auf der 64. Sitzung der World
heit ist ein globales öffentliches Gut. Alle Fragen der Health Assembly, WHA, vorstellen, die vom 16. bis
Vorsorge und Interventionen im Bereich Gesundheit tref- 24. Mai in Genf stattfindet. Dies wird ein weiterer wich-
fen uns in gleichem Maße. Deswegen greift es viel zu tiger Diskussionsbaustein sein, wenn wir als Bundestag
kurz, wenn man eine Reform der WHO rein aus dem ent- über diesen Tag hinaus über die Rolle der WHO debat-
wicklungspolitischen Blickwinkel angehen möchte. Ich tieren.
sage dies, auch wenn ich Entwicklungspolitikerin bin.
Aber ohne beispielsweise eine grundlegende Finanzre- Zum Antrag der Grünen, den wir im Oktober letzten
form, wie meine Kollegin Marlies Volkmer sie angespro- Jahres bereits in diesem Haus debattiert haben, liegt nun
chen hat, hat die WHO keine Zukunft. Aus entwicklungs- auch die Beschlussempfehlung des AWZ vor. Wie Sie
politischer Sicht gibt es mehrere Bereiche, in denen wissen, konnten wir als FDP-Fraktion trotz vieler Ge-
Reformen notwendig sind. Um die WHO im Geflecht der meinsamkeiten in der Zielsetzung dem Antrag im Aus-
zahlreichen Akteure in internationalen Gesundheitsfra- schuss nicht zustimmen. Gerne möchte ich noch einmal
gen zu stärken und ihr die – schon bei der Gründung zu- auf einige Aspekte eingehen, die auch den Antrag der
gedachte – Führungsrolle wiederzugeben, muss die SPD-Fraktion mit einbeziehen.
WHO als normsetzende Organisation festgeschrieben
werden, auch in Grundsatzfragen von Gesundheitssyste- Die globale Gesundheitspolitik ist immer komplexer
(B) men. Es ist wenig zielführend, wenn alle möglichen Or- geworden, was eine Neuausrichtung der Rolle der WHO (D)
ganisationen und Staaten zwar guten Willens sind, sich in der globalen Gesundheitsarchitektur unabdingbar
aber gegenseitig blockieren, statt sich zu koordinieren. macht. Wir als Liberale freuen uns über die im März be-
Als bestehende Organisation ist die WHO geradezu prä- schlossene engere Kooperation zwischen EU-Kommis-
destiniert für diese Aufgabe. Gleichzeitig sollte sie zu ei- sion und WHO. Ich denke, auch dies ist ein wichtiger
ner „One Stop Agency“ ausgebaut werden. Nur so kön- Schritt, die Stärkung der globalen Gesundheitszusam-
nen in Zukunft eine bessere Geberkoordination erreicht, menarbeit voranzutreiben, und ein Anstoß, die nötigen
die Überforderung vorhandener Strukturen vermieden Reformen zu unterstützen. Im letzten Jahr – hier sei auch
und ein effizienter Aufbau von Gesundheitssystemen ge- ein Lob über die Fraktionsgrenzen erlaubt – haben Sie in
währleistet werden. Ihrem Antrag wichtige Punkte angesprochen und sach-
lich und fachlich richtig aufgezeigt. Wir sind in vielen
Ein entscheidendes Thema für die Zukunft der WHO Bereichen einer Meinung. So betonen auch wir den
wird die Transparenz sein, mit der künftig Entscheidun- Handlungsbedarf bezüglich der Koordination, Über-
gen getroffen werden. Gerade in jüngster Zeit geriet die sichtlichkeit und Effizienz der WHO und ihre künftige
WHO in die Kritik, weil ihr eine zu starke Einfluss- Rolle betreffend. Was die Kooperation mit anderen Insti-
nahme der Pharmaindustrie unterstellt wurde. Es muss tutionen angeht, habe ich eben bereits die Europäische
also für die Zukunft ein Mechanismus installiert werden, Kommission erwähnt, aber auch die Zusammenarbeit
der eine Beteiligung auch der Zivilgesellschaft garan- mit der WTO, WIPO und UNCTAD muss weiter ver-
tiert. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz steigen mit Betei- stärkt werden. Wir stimmen mit der Bundesregierung in
ligung und Transparenz. Wenn alle überzeugt sind, dass der Einschätzung überein, dass sich die WHO auf ihre
ihre Bedürfnisse zumindest wahrgenommen werden, Kernfunktionen, also Normsetzung, Koordinierung und
werden wir mithilfe der WHO einen großen Schritt zur Evaluierung, konzentrieren sollte. Finanzierung und
Verbesserung der gesundheitlichen Situation auf der ge- operative Umsetzung sollte sie hauptsächlich anderen
samten Welt schaffen. Tragen Sie zur Verbesserung der Akteuren der globalen Gesundheitspolitik überlassen. Es
gesundheitlichen Situation aller Menschen bei. Stimmen ist die normative Funktion der WHO, die bei der Stär-
Sie für unseren Antrag. Zum Schluss sei noch ange- kung von Gesundheitssystemen eine herausgehobene
merkt, dass es gut ist, dass die Grünen nun auch das Rolle spielt. Die Konzentration auf die Kernfunktionen
Thema der atomaren Gefahren und die Rolle der WHO bedeutet für die WHO auch, dass eine inhaltliche Kon-
aufgegriffen haben, welches sie noch gestern im Aus- zentration vorangebracht werden soll. Weniger krank-
schuss als überflüssig diskreditierten. Sie hätten sich die heitsspezifisch, mehr hin zu einer systemischen Ausrich-
Nachtschicht sparen können, wenn Sie, entgegen der tung. Die Bundesregierung betont zu Recht die Relevanz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12467
(A) des horizontalen Ansatzes der Gesundheitssystemstär- Einen Meilenstein für die Entwicklung der Weltge- (C)
kung, der Themen wie Prävention und Gesundheitsför- sundheit bildete die WHO-Strategie „Gesundheit für alle
derung in Bezug auf alle Krankheitstypen integriert. Mit im 21. Jahrhundert“. „Gesundheit für alle“ als wesent-
einer Straffung der Kernkompetenzen würde auch eine licher Bestandteil der menschlichen Entwicklung, das ist
Begrenzung des Finanzbedarfs der WHO erreicht, was ein hehres Ziel, für dessen Umsetzung nach wie vor un-
die Organisation in ihrer Handlungsfähigkeit stärkt. endlich viel getan werden muss, wenn man bedenkt, dass
mindestens 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu
Wir können bezüglich der WHO und im Hinblick auf Gesundheitsversorgung haben, da sie in extremer Armut
die Anträge sowohl der Grünen für den entwicklungspo- leben. Doch warum sind wir eigentlich so weit weg vom
litischen Bereich als auch für den gesundheitspolitischen Ziel „Gesundheit für alle“? Der Grund liegt in der neo-
Antrag der SPD viele Gemeinsamkeiten im Grundsatz liberalen Politik der letzten Jahrzehnte: Denn sie bedeu-
finden. Was die konkrete Ausgestaltung angeht, haben tet für Milliarden Menschen Armut, Hunger, Krieg und
wir nicht nur in den entsprechenden Ausschüssen, son- soziale Missstände, wodurch ihnen gesunde Lebensbe-
dern auch heute die Unterschiede debattiert. dingungen vorenthalten werden. Der Neoliberalismus
hat auch vor den Toren der WHO nicht halt gemacht.
Als Entwicklungspolitikerin möchte ich einen Punkt Auf dem Papier sieht es zwar schön aus, dass im Ent-
noch einmal aufgreifen, der für die FDP-Fraktion von scheidungsgremium jeder Staat genau eine Stimme hat.
hoher Bedeutung ist und bleibt. Es ist nicht neu, dass wir Die Realität ist leider anders: Der größte Finanzgeber,
als Liberale und als Koalition großen Wert darauf legen, die USA, aber auch etliche europäische Staaten, geben
auch bilaterale Unterstützung im Gesundheitsbereich zu ihre Beiträge nur noch projektgebunden und können so-
leisten. Der Antrag zeigt eine zu hohe, einseitige Kon- mit diktieren, was mit diesem Geld geschieht. Wer am
zentration auf die WHO, selbst wenn Reform- und Stär- meisten Geld hat, bestimmt also auch die Aktivitäten der
kungsprozess perfekt verlaufen würden. Weltgesundheitsorganisation. Das kann nicht im Sinne
der WHO-Verfassung sein. Hier brauchen wir eine
Für die Verbesserung der Gesundheitssysteme vor Ort Rückkehr zu einer verlässlichen und nicht zweckgebun-
sind die Länder unabdingbare Partner. Die Zusammenar- den Finanzierung der regulären Aufgaben der WHO.
beit mit den Partnerländern, mit NGOs und dem Privat-
sektor – sowohl in Deutschland als auch im jeweiligen Ebenso dringend benötigt die WHO eine Reform ih-
Land – ist zentral für den Erfolg unserer Politik. Die rer Struktur. Die SPD fordert in ihrem Antrag mehr
WHO hat eine sehr wichtige Rolle, die durch einen ge- Transparenz bei den Entscheidungen, und das unterstützt
lungenen Reformprozess weiter gefestigt werden muss. die Linke. Schwieriger wird es allerdings mit der SPD-
Forderung, auch die Pharmakonzerne stärker zu beteili-
(B) Wir sehen gespannt den weiteren Reformschritten gen. Damit bekommen diese mehr Einfluss auf die (D)
entgegen, vor allem auch der Vorstellung der Reform- WHO. Diese Forderung der SPD dient damit letztlich
pläne durch Margaret Chan in Genf. Deutschland hat nur den Interessen der Pharmalobby und wird von uns
sich an der informellen Konsultation „Zukunft der abgelehnt. Die WHO als zentrale Koordinierungsstelle
WHO-Finanzierung“ beteiligt und wird auch den weite- der globalen Gesundheitssysteme steht ohnehin schon
ren Reformprozess in den WHO-Gremien konstruktiv im Fokus der Interessen gieriger Unternehmen. Unrühm-
begleiten. Die FDP-Fraktion wird, ebenso wie die Bun- liche Publicity erlangte die WHO im Rahmen der
desregierung, in dieser Weiterentwicklung ein verlässli- Schweinegrippe. Die Ausrufung der Pandemie-Gefahr
cher Partner sein. sicherte vor allem zwei Konzernen Milliarden Profit:
GlaxoSmithKline, dem als Hersteller des Impfstoffs
Niema Movassat (DIE LINKE): Als die Welt-
Pandemrix somit die Abnahme durch viele Länderregie-
gesundheitsorganisation WHO vor 63 Jahren als Sonder- rungen garantiert war, und Roche, der das Grippemittel
Tamiflu produziert.
organisation der Vereinten Nationen gegründet wurde,
um das internationale öffentliche Gesundheitswesen zu Genau diese beiden Konzerne gaben große Geldbe-
koordinieren, machte sie auch gleich Furore mit ihrer träge an mehrere Wissenschaftler, die mit der Erarbei-
Definition von Gesundheit: Denn Gesundheit ist dem- tung der WHO-Richtlinien betraut waren. Und die WHO
nach „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geisti- mauert und weigert sich, sämtliche Kontakte ihrer Bera-
gen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen ter mit der Pharmaindustrie offenzulegen, ja zum Teil
von Krankheit oder Gebrechen“. Das war damals sozial deckt die Organisation noch nicht einmal deren Namen
und revolutionär. In Entwicklungs- und Schwellenlän- auf. Wenn hier nicht schnellstens Transparenz geschaf-
dern ist Gesundheit in dieser Definition bis heute eine fen wird, verspielt die WHO das Vertrauen insbesondere
Utopie: So wird es auch bleiben, wenn wir uns nicht bei den Menschen, die auf ihre Hilfe angewiesen sind.
stärker dafür einsetzen, dass die Gesundheitsversorgung Wenn die Struktur der WHO nun geändert werden soll,
in diesen Ländern grundlegend verbessert wird. Wir soll- dann muss dies einer Rückkehr zu ihren ursprünglichen
ten daher alle gemeinsam das Ziel haben, diese Utopie Zielen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit dienen.
Wirklichkeit werden zu lassen. Somit unterstützt Die Jegliche Interessenskonflikte innerhalb der WHO blen-
Linke das Ziel des SPD-Antrags, die WHO als Koordi- det die SPD in ihrem Antrag völlig aus. Daher wird Die
natorin im Bereich Global Health Governance und somit Linke dem SPD Antrag nicht zustimmen. Auch plädie-
vor allem die armutsorientierte Krankheitsbekämpfung ren wir im Gegensatz zur SPD für mehr Eigenverantwor-
zu stärken. tung der Länder: Die Menschen in den einzelnen Län-
12468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) dern und die nationalen Regierungen sollen die Nur durch eine planmäßige, allgemein akzeptierte (C)
Zielsetzung der Gesundheitspolitik vorgeben, über die Koordination können die Gesundheitssysteme in den
WHO können diese koordiniert und gemeinsame Stan- Partnerländern zu effizienten und wirksamen Instrumen-
dards definiert werden. ten umgebaut werden. Alle Welt spricht von Globalisie-
rung. Unabhängig von der Bewertung der Globalisie-
Eine Stärkung der Ownership der Entwicklungs- und rung ist unbestritten, dass Globalisierung begleitet und
Schwellenländer fordert auch der Antrag von Bünd- auch im Sinne einer fairen und sozial gerechten Ent-
nis 90/Die Grünen. Darüber hinaus setzt er sich für die wicklung gesteuert werden muss. Die Freiheitsrechte
Beseitigung der ineffizienten Vielfalt von gesundheits- und das „Ownership“ der Partnerländer werden dadurch
bezogenen Initiativen ein, welche die selbstbestimmte nicht beeinträchtigt.
Umsetzung nationaler Gesundheitsstrategien behindern.
Daher stimmt die Linke dem Antrag von Bündnis 90/ Damit die WHO diese Aufgabe übernehmen kann,
Die Grünen zu. Ebenso stimmen wir dem Antrag von muss dringend eine WHO-Reform durchgeführt werden.
Bündnis 90/Die Grünen zu, den Vertrag zwischen der Transparenz, Unabhängigkeit, auskömmliche Finanzie-
IAEO und der WHO vom Mai 1959 zu kündigen, denn rung, Einbeziehung der Gesundheitsinitiativen, gute
nur mit einer unabhängigen WHO können wir uns dem Koordination und Herstellung von Kohärenz zwischen
Ziel, die Global Health Governance zu stärken, annä- den Programmen und Partnern gehören unbedingt dazu.
hern. Hierzu könnte ein neu zu schaffendes „Komitee C“ ein
geeigneter organisatorischer Rahmen sein. In den letzten
Das Bestreben, die WHO als Koordinatorin der Glo- Jahrzehnten hat die Bedeutung der WHO ständig abge-
bal Health Governance effektiver und transparenter zu nommen, private Player haben oftmals ihre Rolle über-
gestalten, scheint stark zu sein. Es darf jedoch nicht bei nommen. Die Erreichung der MDGs im Gesundheitsbe-
Reformansätzen bleiben. Die globalen Anstrengungen, reich ist von einer gestärkten, von den internationalen
eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung für alle Gesundheitsinitiativen akzeptierten WHO abhängig.
Menschen weltweit zu schaffen, müssen erhöht werden. Deshalb muss Politik heute im Interesse der Menschen
Im 21. Jahrhundert darf eine bestmögliche gesundheit- in Entwicklungsländern massiv dazu beitragen, dass die
liche Versorgung kein Luxusgut bleiben. Denn Gesund- WHO die beschriebene Aufgabe auch tatsächlich über-
heit ist und bleibt ein elementares Menschenrecht. nehmen kann. Die WHO muss ihre Unabhängigkeit zu-
rückgewinnen. Im Zusatzantrag fordern wir die Kündi-
gung des 1959 geschlossenen Vertrages zwischen WHO
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der und IAEO. Fukushima hat gezeigt, dass im Falle von nu-
Unterausschuss für Gesundheit in Entwicklungsländern klearen Katastrophen eine unabhängige Bewertung der
(B) beleuchtet immer wieder die dortige Gesundheitssitua- Situation vor Ort absolut notwendig ist. Die vom Betrei- (D)
tion. Es sind sehr viele positive Entwicklungen zu sehen, ber des AKW Fukushima, Tepco, durchgeführten Mes-
wenngleich wir noch unendlich weit weg sind von einer sungen wurden gefälscht, von der japanischen Regie-
zufriedenstellenden Gesundheitsversorgung in diesen rung ungeprüft übernommen und auch von der IAEO
Ländern. Ein Kernproblem einer nachhaltigen und sozial nicht hinterfragt. Bald stellte sich heraus, dass die Veröf-
angemessenen Gesundheitsversorgung stellt das Fehlen fentlichungen der Messungen geschönt waren und die
von verlässlichen, finanzierbaren und bedarfsgerechten Bevölkerung belogen wurde.
Gesundheitsstrukturen dar. In den letzten Jahren sind
viele Ideen entwickelt worden. Einige Länder haben an- Die Bundesregierung meint zwar, dass es nicht Auf-
gabe der WHO sei, Messungen durchzuführen sowie
gefangen, Systeme zu etablieren und sie möchten ihre
diese zu veröffentlichen und Verhaltensempfehlungen
Ansätze ausweiten. Die Frage, welches Gesundheitssys-
abzugeben. Wir sehen das grundsätzlich anders. Die
tem angemessen ist, müssen die Länder letztlich selbst
Menschen vor Ort, aber auch die Weltöffentlichkeit ha-
entscheiden. Wichtig ist allerdings, dass durch seriöse
ben einen Anspruch auf nicht gefälschte Informationen.
Mindeststandardsetzung den Ländern ein Orientierungs- Deshalb ist die WHO auch nach ihrem eigenen Verständ-
rahmen gegeben wird, an der sich die Politik orientieren nis natürlich für die Veröffentlichung zuständig. Aller-
muss. Die einzige Organisation, die die Standardsetzung dings verhindert der Vertrag zwischen WHO und IAEO
übernehmen kann, ist die WHO. Sie ist aufgrund ihrer eine unabhängige und objektive Berichterstattung und
völkerrechtlichen Sonderrolle hierfür legitimiert und von angemessene Empfehlungen. Der Vertrag sieht vor, dass
der Völkergemeinschaft vorgesehen. Voraussetzung da- Veröffentlichungen und Untersuchungen zu den Auswir-
für sind aber Reformen, um auch die Kompetenzen bei kungen ionisierender Strahlung nur nach Absprache und
der WHO wieder oder neu zu schaffen. Unser Antrag im Einvernehmen mit der IAEO erfolgen sollen. Die
zielt darauf ab, die derzeitigen undurchsichtigen und in- rechtliche Bedeutung des Modalverbs „sollen“ ist ein-
effizienten Strukturen bei den globalen Gesundheitsini- deutig. Gleichzeitig bestätigt dieser Satz auch, dass die
tiativen überschaubar und transparenter zu gestalten. Die WHO die Aufgabe hat, Erkenntnisse, Messungen und
zentrale Rolle bei der Koordination der Akteure der glo- Empfehlungen im Ernstfall zu veröffentlichen. Wie stark
balen Gesundheitspolitik wie UNAIDS, GAVI, der Glo- der Einfluss der IAEO auf die WHO ist, wurde durch die
bale Fonds, Weltbank, UNICEF, UNFPA, Bill-und- Tschernobyl-Katastrophe dokumentiert. Es wurden etwa
Melinda-Gates-Stiftung, aber auch christlich getragene 700 Studien zu den Auswirkungen erstellt. Davon
Organisationen, die seit Jahrzehnten im Gesundheitsbe- konnte die WHO allerdings nur zwölf veröffentlichen.
reich aktiv sind, kann nur die WHO übernehmen. Der damalige Generalsekretär der WHO, Nakashima,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12469
(A) begründete dies mit dem enormen Druck, den sich die gegenkommen erhalten, um die ihnen zustehende (C)
WHO durch die IAEO ausgesetzt sah. Jeder Vertrag Förderung auch abzurufen.
muss nach einer bestimmten Laufzeit auf seinen Inhalt
und seine Sinnhaftigkeit überprüft werden. Die Aufga- Aus meinem Wahlkreis und aus meiner Arbeit als
bengebiete der WHO und IAEO sind grundverschieden. Heilsarmeeoffizier kenne ich diese Familien sehr gut,
Die Aussage der Bundesregierung, dass es einfach sinn- und ich weiß, wie knapp es finanziell bei vielen zugeht.
voll sei, Absprachen zwischen UN-Organisationen zu Die Empfänger der Bildungsgutscheine taten sich zu-
treffen, kann nur teilweise akzeptiert werden. Sobald die nächst schwer, die Anträge zu stellen und die Mittel ab-
eigentliche Aufgabenstellung ad absurdum geführt wird, zurufen. Die Medien haben das lautstark angeprangert.
ist so ein Vertrag nur noch als grotesk zu bezeichnen. Wie ich denke, war diese Kritik teilweise überzogen,
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Stel- und es wurde zu Unrecht skandalisiert; denn nicht das
lung und ihren Sitz in der Weltgesundheitsversammlung Gesetz an sich ist schlecht gemacht, sondern die spe-
Mitte Mai dieses Jahres und im Exekutivrat der WHO zu zielle Zielgruppe ist schwer zu erreichen. Ich denke an
benutzen, um die notwendigen Reformen voranzutreiben Alleinerziehende – die müssen ihre Kinder versorgen,
und insbesondere die Kündigung des Vertrages zwischen gehen vielfach einem Beruf nach, erledigen den Haus-
WHO und IAEO zu beantragen. Ob ein neuer Vertrag halt und dann kommt zu allem anderen noch der – ich
zwischen den beiden Organisationen sinnvoll ist, sage es mal so salopp – „Behördenkrams“ obendrauf. Da
braucht hier nicht diskutiert zu werden. Das müssen dauert es manchmal einfach länger, alles zu erledigen.
diese Einrichtungen selbst entscheiden. Eine Dominanz Ich denke an kranke Menschen, seien sie körperlich
des einen über den anderen darf es nicht geben. krank, seien sie psychisch behindert oder vielleicht
suchtkrank. Das ist nicht ihre Schuld. Aber es ist auch
kein Fehler des Gesetzes. Diese Menschen brauchen
Anlage 13 passgenaue Hilfen und Unterstützung – und das wie-
derum braucht Zeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Insofern sind es absolut normale Startschwierigkei-
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ten, mit denen diese neue Förderung zu kämpfen hat, ge-
Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und rade wenn sie alle Beteiligten mitnehmen will.
anderer Vorschriften (Zusatztagesordnungs-
punkt 4) Für eine Bewertung der Maßnahmen ist es noch viel zu
früh, doch sie kommen immer besser an, werden ver-
mehrt abgerufen. In meiner Heimatstadt Chemnitz wird
Frank Heinrich (CDU/CSU): Zu dem heute in zwei- berichtet, dass dies schon über ein Drittel der Anspruchs-
(B) ter und dritter Lesung zu debattierenden Gesetzentwurf berechtigten getan hat. Das ist übrigens der positive Ne- (D)
herrscht erfreulicherweise fraktionsübergreifend weitest- beneffekt der Medienschelte: Bürger haben ihre Ansprü-
gehend Zustimmung. Der Änderungsantrag der Koali- che erkannt und fordern sie nun ein. Das ist gut und
tionsfraktionen auf Ausschussdrucksache 17(11)529 richtig, und es ist im Sinne des Erfinders – oder besser der
wurde einstimmig angenommen, der Gesetzentwurf in Erfinderin: Ursula von der Leyen. Und diese wiederum
der Fassung des genannten Änderungsantrages mit den steht stellvertretend für die Familien- und Sozialpolitik
Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP bei Stimmenthal- der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion: Bil-
tung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- dung für Kinder, dafür machen wir uns stark.
nen. Die Hinweise, die der Weiße Ring im Rahmen der
Debatten eingebracht hat, nehmen wir gleichwohl ernst
und werden sie auch in Zukunft mit bedenken. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Die Beratungen
zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Bundesver-
Der Änderungsantrag hat vor allem klarstellenden sorgungsgesetzes im Ausschuss für Arbeit und Soziales
Charakter und setzt den Beschluss des Bundesrates vom waren sehr konstruktiv. Bedenken der Expertenver-
18. März 2011 um. Damit wird nun sichergestellt, dass bände, die von den Oppositionsfraktionen thematisiert
die Ost-West-Anpassung allen Berechtigten zugute- worden sind, sind ernsthaft diskutiert worden.
kommt und dass der Stichtag für den zeitlichen Gel-
tungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes, OEG, in Dazu gehört beispielsweise der Punkt, der insbeson-
den neuen Ländern korrekt benannt ist. dere vom Verein Weißer Ring angesprochen worden ist:
Kann es dadurch, dass Ansparungen aus Leistungen des
Darüber hinaus haben wir als Regierungskoalition mit sozialen Entschädigungsrechtes als Vermögen einzusetzen
dem Änderungsantrag ein Versprechen eingelöst, das das sind, zu unzulässigen Härten bei den Betroffenen kommen?
Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder in Familien, die Einhellig wurde im Ausschuss diskutiert, dass dies nicht
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II sein dürfe. Ich begrüße es daher, dass der sozialpolitische
bzw. Sozialhilfe nach dem SGB XII beziehen, betrifft: Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Herr Schiewerling, zu-
Die Frist für die Beantragung rückwirkender Leistungen gesagt hat, dass dieser Sachverhalt außerhalb dieses Gesetz-
aus diesem Bildungspaket wurde bis zum 30. Juni 2011 gebungsverfahrens geprüft werden solle. Wir begrüßen dies
verlängert. Mit dieser Regelung wird eine zwischen ausdrücklich, weil es eine Verschlechterung für die Betrof-
Bund, Ländern und Kommunen getroffene Vereinbarung fenen nicht geben darf.
umgesetzt. Es freut mich sehr, dass dieser Konsens er-
reicht wurde. Es ist ganz in meinem Sinne, dass die an- Wir alle wissen, dass es sich mittlerweile nicht mehr
spruchsberechtigten Familien unser größtmögliches Ent- überzeugend vermitteln lässt, warum unterschiedliche
12470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) Leistungshöhen im sozialen Entschädigungsrecht oder sicher, dass künftig niemand eine geringere Leistung als (C)
unterschiedliche Rentenberechnungssysteme in Ost und bisher erhalten wird. Zudem verändern wir die Aus-
West existieren. Es ist ein wichtiges Anliegen unserer landsversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz,
Fraktion, dass Opfer in Ost und West nicht länger be- wie sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
nachteiligt werden. Es wird mit diesem Entwurf der Re- vom 4. Dezember 2008 notwendig geworden ist. Die ak-
gierung klargestellt, dass es keine Wertigkeit von Opfern tuellen Regelungen zur Versorgung von Kriegsopfern in
geben kann. ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union verstoßen nach dem Urteil gegen EU-
Auch die Umsetzung des EuGH-Urteils in der Aus-
landsversorgung ist richtig. Hier wäre es nicht verständ- Recht. Durch die vorgesehene Änderung wird das Recht
lich gewesen, wenn zukünftig nunmehr alle Leistungs- der Auslandsversorgung sowohl vereinfacht und entbü-
berechtigten mit Wohnsitz in EU-Mitgliedstaaten die rokratisiert als auch mit dem Ziel einer einheitlichen
gleichen Leistungen erhalten hätten, aber weiterhin eine Auslandsversorgung, auch außerhalb der Europäischen
Schlechterstellung für Leistungsberechtigte mit Wohn- Union, verbunden.
sitz außerhalb der EU gegeben wäre. Zukünftig erfolgt Zudem enthält der Teil zur Änderung des Bundesver-
eine einheitliche Auslandsversorgung und -fürsorge für sorgungsgesetzes noch einige redaktionelle Änderungen,
alle Berechtigten im Ausland. die durch die Änderung anderer Gesetze sowie durch
Als Behindertenbeauftragte der SPD-Fraktion be- Rechtsprechung notwendig geworden sind. Ein zweiter
grüße ich zudem die Klarstellungen zum Persönlichen Punkt des Gesetzes steht jedoch mehr im Fokus der Öf-
Budget sowie den Erweiterungen beim Assistenzpflege- fentlichkeit und zeigt auch, wie handlungsfähig Politik
bedarfsgesetz, wobei für die Zukunft weitere Verbesse- ist. Es geht dabei um die Fristen für die Anträge von
rungen bei der bedarfsgerechten Assistenz notwendig Leistungen aus dem Bildungspaket.
sind.
Mit dem Beschluss der Leistungsreform im SGB II
Die Erweiterung der Frist für die nachträgliche Bean- haben wir erstmals den Bildungs- und Teilhabebedarf
tragung von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilha- von Kindern, deren Eltern in ALG-II-Bezug sind, be-
bepaket haben wir als SPD gefordert – nun wird sie mit rücksichtigt. Für die Beantragung der Leistungen für
diesem Gesetz endlich umgesetzt. Bildung und Teilhabe wurde damals eine erste Frist bis
Das Paket wird bundesweit ganz unterschiedlich zum 30. April dieses Jahres eingeräumt. Zuständige An-
angenommen; dies sieht man an der Zahl der Antrags- sprechpartner für die Anträge sind die Kommunen, die
eingänge: Sind es in dem einen Kreis gerade einmal durch die Jobcenter die Verwaltung und Durchführung
des Bildungspakets in der Hand haben.
(B) 2 Prozent der Anspruchsberechtigten, die Leistungen be- (D)
antragt haben, sind es in einer anderen Region zwischen
Mitte April mussten wir jedoch vernehmen, dass es je
20 und 30 Prozent. Die Umsetzung braucht eine längere
nach Kommune sehr unterschiedliche Zahlen über die
Anlaufphase, deshalb ist es gut, wenn die Menschen jetzt
Anzahl der Antragstellungen gab. Ich möchte an dieser
zwei Monate länger Zeit haben, ihre Ansprüche rückwir-
kend geltend zu machen. Wir begrüßen diese Fristver- Stelle jedoch auch betonen, dass die in den Medien kur-
längerung daher ausdrücklich. sierende geringe Zahl von 2,5 Prozent der Eltern, die
Mittel des Bildungspakets beantragt hätten, so nicht
Der Entwurf ist somit zustimmungsfähig. stimmt. Viele Kommunen hatten deutlich höhere An-
tragszahlen zu vermelden.
Pascal Kober (FDP): Mit dem heute zu beratenden
Wir haben jedoch vor der Tatsache, dass die Nach-
Gesetzentwurf verfolgt die Regierungskoalition das Ziel,
frage nach dem Bildungspaket bisher noch nicht zufrie-
Änderungen in zwei Themenfeldern umzusetzen. Zum
denstellend ist, die Augen nicht verschlossen, weil wir
einen wollen wir das Bundesversorgungsgesetz 20 Jahre
wollen, dass die Leistungen auch zum Wohle der Kinder
nach der deutschen Wiedervereinigung der Realität in
Deutschland anpassen. Daher sieht der Gesetzentwurf abgerufen werden. Daher hat die Regierung schnell ge-
vor, dass es eine Angleichung der Rentenleistungen nach handelt und am 21. April 2011 einen runden Tisch unter
dem Bundesversorgungsgesetz geben wird. Wir kom- Beteiligung der Länder und der Kommunen einberufen.
men damit einer langjährigen Forderungen der Betroffe- Dabei wurde vereinbart, die Frist bis zu der die ersten
nen und vieler Verbände nach. Es sind von dieser Ände- Leistungen beantragt und rückerstattet werden können,
rung zwar „nur“ 40 000 Personen betroffen, für diese ist bis zum 30. Juni 2011 zu verlängern. Ich halte dies für
es jedoch ein deutlicher Fortschritt und ein Stück mehr ein gutes und unbürokratisches Vorgehen. In der Zwi-
Gerechtigkeit. Wir machen damit einen weiteren Schritt schenzeit werden sowohl die Kommunen als auch das
hin zu einheitlichen Rechtsverhältnissen in ganz Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch einmal
Deutschland und damit letzten Endes zur Verwirkli-
eine Informationsoffensive zum Bildungspaket starten.
chung der deutschen Einheit.
Schon die letzten Tage und Wochen haben gezeigt, dass
Zusätzlich vereinfachen wir die Berechnung des Be- die Zahl der Anträge deutlich nach oben gegangen ist.
rufsschadensausgleiches, wobei in Bestandsfällen die Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in einigen Wochen
Vergleichseinkommen zu einem Stichtag festgestellt und eine zufriedenstellende Zahl an Anträgen haben werden
dann in den Folgejahren um den Faktor der Rentenan- und das Bildungs- und Teilhabepaket damit zu einem Er-
passung erhöht werden. Eine Besitzstandsregelung stellt folg wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12471
(A) Frank Tempel (DIE LINKE): Die Linke begrüßt aus- gerung für die rückwirkende Inanspruchnahme der Leis- (C)
drücklich, dass 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die tungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das ist ein
Leistungen im sozialen Entschädigungsrecht angegli- Akt konstruktiver Schadensbegrenzung, der aus Sicht
chen werden sollen. Das ist ein wichtiger Schritt. Trotz- der Fraktion Die Linke jedoch nicht ausreicht, um die
dem gibt es noch einiges zu tun: Ich erinnere nur an die grundrechtlich verbürgten Ansprüche der betroffenen
von allen Bundesregierungen verschleppte, längst über- Kinder tatsächlich durchzusetzen. Die Linke fordert des-
fällige Angleichung der Renten in Ostdeutschland auf halb, dass als Sofortmaßnahme die für die Monate Ja-
das Westniveau. Es ist zudem dringend geboten, die Ur- nuar bis April 2011 im Budget vorgesehenen Mittel des
teile des Europäischen Gerichtshofs, EuGH, zur Aus- Bildungspakets ohne Vorlage eines Nachweises pauschal
landsversorgung gesetzlich umzusetzen. Die Entschädi- an alle leistungsberechtigten Kinder ausgezahlt werden.
gung bei einem Wohnsitz im Ausland soll vereinfacht Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass die In-
werden. Obwohl der Gesetzentwurf insgesamt akzepta- formationen über das Bildungs- und Teilhabepaket auch
bel ist, müssen wir ihn an einigen Stellen klar kritisieren. tatsächlich bei den betroffenen Familien ankommen.
Hier muss nachgebessert werden: Deshalb müssen alle leistungsberechtigten Familien an-
geschrieben und umfassend über ihre Rechte aufgeklärt
Erstens. Durch den neugefassten § 87 des Bundesver- werden.
sorgungsgesetzes, BVG, wird das Vergleichseinkommen,
das zur Berechnung der Entschädigungsleistung heran-
gezogen wird, vereinheitlicht und zukünftig anhand der Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie
Entwicklung der gesetzlichen Renten und nicht der Be- bereits in meiner Rede zur ersten Beratung des Gesetz-
amtenbesoldung fortgeschrieben. Damit bleibt die Ent- entwurfes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
schädigung aufgrund der Dämpfungsfaktoren in der ge- und anderer Vorschriften betont, begrüßen wir im Gro-
setzlichen Rentenversicherung hinter der Inflation ßen und Ganzen die von der Bundesregierung vorge-
zurück. Welche Auswirkungen die vereinheitlichten Ver- schlagenen Änderungen. Auch der zur abschließenden
gleichseinkommen hätten, ist ohne die Berufsschadens- Beratung in den federführenden Arbeits- und Sozialaus-
ausgleichsverordnung allerdings nicht absehbar. schuss eingebrachte Änderungsantrag der Koalitions-
fraktionen findet unsere Unterstützung. Bevor ich jedoch
Zweitens. Der Entwurf sieht eine Ausweitung des noch einmal detaillierter auf die positiven gesetzlichen
persönlichen Budgets vor. Unter den gegebenen Um- Neuerungen eingehe, möchte ich Ihnen erklären, warum
ständen finden wir dies bedenklich, da so ein Anreiz auf die grüne Bundestagsfraktion dem vorgelegten Gesetz-
schlechte Beschäftigung und Bezahlung gegeben wird. entwurf letztlich nicht zustimmen wird und sich ihrer
Stimme enthält:
Drittens. Bisher sind Grundrenten nicht bei der Be-
(B) darfsprüfung als Einkommen angerechnet worden. Seit (D)
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass an-
dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2010 gesparte oder nachgezahlte Leistungen nach dem Bun-
gilt das auch für Vermögen, das aus Grundrenten ange- desversorgungsgesetz und damit auch Grundrenten auf
spart worden ist. Künftig soll nun das aus Grundrenten das Vermögen angerechnet werden sollen. Dies soll dann
angesparte Vermögen angerechnet werden. Der Weiße eintreten, wenn der Bedarf nicht ausschließlich schädi-
Ring greift zu Recht eine wichtige Feststellung aus dem gungsbedingt ist. Eine solche Ungleichbehandlung halten
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Mai 2010 wir für äußerst ungerecht und gravierend, geht sie doch
auf. Das Gericht betont insbesondere den immateriellen am eigentlichen Zweck der Entschädigungen nach dem
Zweck der Beschädigtengrundrente. Es ist – ich zitiere – Bundesversorgungsgesetz und dessen Nebengesetzen
„davon auszugehen, dass die Beschädigtengrundrente (Opferentschädigungsgesetz, Strafrechtliches Rehabili-
nach § 31 BVG wesentlich von der Vorstellung des ide- tierungsgesetz, Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungs-
ellen Ausgleichs eines vom Einzelnen für die staatliche gesetz, Soldatenversorgungsgesetz, Zivildienstgesetz)
Gemeinschaft erbrachten gesundheitlichen Sonderopfers vorbei. Zudem sind die Voraussetzungen zum Nachweis
geprägt wird.“ (BVerwG 5 C 7.09, Rz 26). Die Linke eines „ausschließlich schädigungsbedingten Bedarfs“
schließt sich der Forderung des Weißen Rings an, dass recht hoch. So definierte das Bundesverwaltungsgericht
das aus der Grundrente gebildete Vermögen anrech- am 28. Juni 1995, dass gemäß § 25 c Abs. III 2 Bundes-
nungsfrei bleiben muss. versorgungsgesetz ein „ausschließlicher“ schädigungs-
bedingter Bedarf einen besonders engen kausalen Zu-
Auf den Änderungsantrag aus den Fraktionen der sammenhang zwischen den gesundheitlichen Folgen der
CDU/CSU und FDP möchte ich gesondert eingehen. Die Schädigung und dem gegenständlichen Bedarf (zum
Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung des Bildungs- Beispiel Erholungshilfe) bezeichnete. Danach würde es
und Teilhabepakets entstanden sind, waren ganz ohne nicht ausreichen, dass die Schädigungsfolgen nur annä-
hellseherische Fähigkeiten vorhersehbar. Es ist und hernd gleichwertige Bedingungen oder nicht unerhebli-
bleibt ein Irrsinn, die Leistungen über individuell zu be- che Mitbedingungen für das Entstehen des Bedarfs
antragende Gutscheine zu organisieren. Das ohnehin aus seien. Daraus ergibt sich, dass die Leistung nur dann ge-
Sicht der Linken eher mickrige Paketchen droht im büro- währt wird, wenn ein unmittelbarer Bedarf geltend ge-
kratischen Nirwana zu versacken. Es dient eher der poli- macht wird. Das Ansparen von Leistungen ist in diesen
tischen Propaganda als der Aufklärung, wenn Werbung Fällen fast ausgeschlossen.
in Kinos ausgestrahlt wird, deren Eintrittsgeld sich
Hartz-IV-Betroffene traurigerweise oft gar nicht leisten Zwar ist es richtig, dass die bisherige Praxis, auch ge-
können. Selbstverständlich begrüßen wir die Fristverlän- stützt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
12472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) richts, davon ausging, angesparte bzw. nachgezahlte währleistet, dass durch die Neuordnung des Berufsscha- (C)
Leistungen, sofern sie nicht ausschließlich schädigungs- densausgleiches niemand in Zukunft geringere Leistun-
bedingter Natur waren, auf das Vermögen anzurechnen. gen erhalten wird.
Da aber solche Leistungen nicht nur dem Zweck des ma-
teriellen Schadensausgleiches dienen, sondern in zuneh- Der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen unter
mendem Maße immer auch eine Genugtuungsfunktion 3. stellt zudem fest, dass die Antragsfrist für rückwir-
für erlittenes Unrecht bzw. Leid darstellen, ist es unserer kende Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket
Auffassung nach nicht mehr gerechtfertigt, eigenes Ver- nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
mögen einzusetzen. Erhält beispielsweise ein Opfer von bis zum 30. Juni 2011 verlängert werden. Diese Ände-
Straftaten Leistungen nach dem Opferentschädigungsge- rungen sind ganz in unserem Sinne.
setz, die nach vorgesehener gesetzlicher Lage nicht aus-
schließlich schädigungsbedingter Natur sind, sehen
CDU, CSU und FDP nicht vor, dass die betroffene Per- Anlage 14
son Entschädigungsleistungen ansparen kann, um mögli- Zu Protokoll gegebene Reden
che spätere Investitionen, etwa für besondere Hilfsmit-
tel, zu tätigen. Der zunehmend wichtigen Entschädigung zur Beratung des Antrags: zu dem Vorschlag
für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, für eine Verordnung des Europäischen Parla-
etwa als Genugtuung für erlittenes Unrecht, wird von ments und des Rates zur Festlegung der techni-
dieser Bundesregierung keine Rechnung getragen. schen Vorschriften für Überweisungen und
Lastschriften in Euro und zur Änderung der
Die geplante Regelung widerspricht zudem einer Ent- Verordnung (EG) Nr. 924/2009 vom 16. Dezem-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai ber 2010 – KOM (2010) 775 endg.
2010 (BVerwG 5 C 7.09). Das Gericht vertritt die Auf- Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-
fassung, dass durch das Ansparen etwa die zum Vermö- lich gestalten
gen gewordene Beschädigtengrundrente zwei Zwecke (Zusatztagesordnungspunkt 5)
erfülle. So heißt es: „Sie ist nämlich eine Sozialleistung,
die zwar einerseits typisierend und pauschalierend einen
besonderen schädigungs- oder behinderungsbedingten Peter Aumer (CDU/CSU): Der Begriff Einheitlicher
Mehrbedarf abdecken soll (BSG, Urteil vom 28. Juli Euro-Zahlungsverkehrsraum – in Englisch: Single Euro
1999 – B 9 VG 6/98 R – FEVS 51, 202), andererseits Payments Area, abgekürzt SEPA – bezeichnet im Bank-
aber maßgeblich dadurch geprägt ist, dass sie als Ent- wesen das Projekt eines europaweit einheitlichen Zah-
schädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen In- lungsraums für Transaktionen. In diesem Zahlungsraum
(B) tegrität immateriellen (ideellen) Zwecken wie der Ge- sollen für Kunden keine Unterschiede mehr zwischen (D)
nugtuung für erlittenes Unrecht dient.“ Letzteres gelte nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen er-
insbesondere für Opfer von Straftaten, „die gerade auch kennbar sein. Dieses Projekt wird in den kommenden
Wochen in eine Verordnung münden, was die christlich-
deshalb entschädigt werden, weil sie einen (erheblichen)
liberale Koalition begrüßt. Jedoch berücksichtigt der
Schaden an immateriellen Rechtsgütern erlitten haben“.
Vorschlag der Europäischen Kommission noch nicht in
Ähnlich äußert sich der Weiße Ring in seiner schrift- ausreichendem Maße die deutschen Interessen.
lichen Stellungnahme an den Arbeits- und Sozialaus- Das deutsche Lastschriftverfahren ist in seiner Art eu-
schuss. Die Grundrente etwa verfolge immaterielle Zwe- ropaweit einzigartig. In keinem anderen europäischen
cke und stelle den Ausgleich für erlittenes Leid dar. Ein Land wird dieses Verfahren angewandt. Andererseits
Zugriff auf diese Beträge, so der Weiße Ring, könne aus wird in keinem anderen Land mittels Lastschriftverfah-
Opferschutzgesichtspunkten nicht akzeptiert werden. ren mehr Geld umgesetzt wie in Deutschland. Mit 8 Mil-
Die Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts würde liarden Lastschrifttransaktionen pro Jahr ist es das wich-
auch von der Literatur geteilt, heißt es weiter. tigste Zahlverfahren der Europäischen Union. Das hat
auch die Europäische Union erkannt, weswegen es mit
Ich finde es insgesamt sehr bedauerlich, dass die Ko-
dem Verordnungsvorschlag auch ein SEPA-Lastschrift-
alitionsfraktionen diesen Argumenten in den parlamen- verfahren einführen wird. Wir begrüßen dies als christ-
tarischen Verhandlungen nicht zugänglich waren. Ich lich-liberale Koalition. Für die Umsetzung – Migration –
hoffe, wir können diese Regelung – wie von der Unions- der dauerhaft bestehenden 700 Millionen Einzugser-
fraktion angekündigt – auf die genannten Punkte hin mächtigungen in Deutschland benötigen wir jedoch eine
überprüfen. rechtssichere und aus Sicht der Verbraucher einfache
Darüber hinaus schreibt der Gesetzentwurf wie ge- und kontrollierbare Lösung. Denn letztendlich ist es der
sagt durchaus positive Regelungen fest. Die volle An- Verbraucher als Endnutzer, von dessen Konto Lastschrif-
gleichung der Höhe der Entschädigungs- und Renten- ten abgebucht werden, sei es die monatliche Telefon-
rechnung, die Miete, die Kosten für Strom, Gas oder
leistungen stellt hingegen einen wichtigen Schritt zur
auch der Mitgliedsbeitrag des Sportvereins. Die Migra-
Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse in ganz
tion muss für den Verbraucher erkennbar und transparent
Deutschland dar und ist daher zu begrüßen. In den neuen sein.
Ländern profitieren hiervon rund 40 000 Menschen. Es
ist gut, dass die Koalitionsfraktionen mit dem vorgeleg- Im bisherigen deutschen Lastschriftverfahren hat der
ten Änderungsantrag die Stellungnahme des Bundesrates Verbraucher Rechtssicherheit durch sein sechswöchiges
aufgenommen haben. Eine Besitzstandsregelung ge- Widerspruchsrecht. Der Verbraucher kann nach Eingang
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12473
(A) der Lastschrift ohne Angabe von Gründen dieser wider- schon jetzt aktiv durch begleitende Informationsmaß- (C)
sprechen. Das Geld wird damit sofort auf dem Konto des nahmen sowie durch eine am Kunden ausgerichtete Auf-
Verbrauchers wieder gutgeschrieben. Zwar wird es die- klärungskampagne zu beheben, eine Umstellung beste-
ses Produkt auch auf europäischer Ebene geben, jedoch hender Einzugsermächtigungen auf das SEPA-Mandat
ist es nur ein Basisprodukt. Das heißt, dass es in Zukunft im Wege einer Änderung der Allgemeinen Geschäftsbe-
Lastschriftprodukte geben kann, die ein kostenloses Er- dingungen selbstständig, rechtssicher und innerhalb der
stattungsrecht des Kunden nicht vorsehen. Um die nächsten zwölf Monate ab Beschluss dieses Antrages
Rechte der Verbraucher zu wahren, fordert die Union da- herbeizuführen sowie unmittelbar die für diese Lösung
her, dass dem einzelnen Mitgliedstaat die Möglichkeit notwendigen Vorbereitungen zu treffen und die Beteilig-
eingeräumt werden soll, selber zu entscheiden, ob in die- ten, insbesondere auch den Deutschen Bundestag, über
sem Land diese Produkte angeboten werden dürfen. Da- die Maßnahmen und den genauen Zeitplan hinreichend
mit soll sichergestellt werden, dass das bisher beste- zu informieren, um gegebenenfalls gesetzgeberischen
hende voraussetzungslose Erstattungsrecht auch Handlungsbedarf so frühzeitig vor dem Enddatum zu er-
weiterhin für den deutschen Verbraucher beibehalten kennen, dass diesem im Gesetzgebungsverfahren nach-
wird. Es gibt noch eine weitere Einzigartigkeit, das soge- gekommen werden kann, verbraucherfreundliche Kon-
nannte ELV, das elektronische Lastschriftverfahren. Die- vertierungsmöglichkeiten – mittels derer inländische
ses Verfahren wurde vom deutschen Handel entwickelt Kundenkennungen rechtssicher auf das SEPA-Format
und hat sich in Deutschland bewährt. Das ELV ist ein überführt werden – am Markt kostenfrei anzubieten, da-
kostengünstiges Lastschriftverfahren, bei dem der mit die Verbraucher in Deutschland für inländische
Kunde mittels seiner Bankkarte bezahlt und der Zahlbe-
Überweisungen auch in Zukunft die ihnen geläufigen
trag von seinem Konto abgebucht wird. Zwar soll es in
Kundenkennungen verwenden können, zugunsten der
Zukunft auch ein vergleichbares europäisches Produkt
Verbraucher in Deutschland auch weiterhin ausschließ-
geben; jedoch steht noch nicht fest, wann dieses auf dem
Markt angeboten wird. Die christlich-liberale Koalition lich Lastschriftverfahren am Markt anzubieten oder zu
setzt sich deswegen dafür ein, dass für den Übergangs- verwenden, bei denen ein voraussetzungsloses Erstat-
zeitraum das deutsche ELV erhalten bleibt. tungsrecht des Zahlungspflichtigen vorgesehen ist, und
mit dem European Payments Council zeitnah ein mit
Aber nicht nur die Bundesregierung soll durch diesen dem elektronischen Lastschriftverfahren vergleichbares
Entschließungsantrag aufgefordert werden, sich für die kostengünstiges europäisches Produkt zu entwickeln.
deutschen Verbraucherinteressen in Europa einzusetzen,
Nur durch eine bürgerfreundliche Gestaltung des eu-
sondern auch die Kreditwirtschaft. Der Verbraucher wird
ropäischen Zahlungsverkehrs werden die neuen Formate
den Umstellungsprozess nur akzeptieren, wenn dieser
angenommen. Die Kinder von heute sollen morgen in ei-
Prozess transparent verläuft. Die SEPA-Produkte bzw.
(B) nem grenzenlosen Europa leben, an dem auch im euro- (D)
das SEPA-Format müssen durch eine am Kunden orien-
päischen Zahlungsverkehr der Euro an den Grenzen
tierte Aufklärungskampagne vorangetrieben werden.
nicht mehr haltmacht.
Die Kreditwirtschaft soll aufgefordert werden, dem Ver-
braucher anschaulich und unverzüglich verständlich zu
machen, dass durch die Umstellung dem Kunden keine Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Der vorliegende
Nachteile entstehen, seine Rechte nicht geschmälert Entschließungsantrag begrüßt die Initiative der Europäi-
werden und er sich auch bezüglich der Kosten nicht schen Kommission zur Verwirklichung des einheitlichen
schlechterstellt als vorher. Euro-Zahlungsverkehrsraums.
Daher fordert die christlich-liberale Koalition die Der einheitliche Euro-Zahlungsverkehrsraum, das
Bundesregierung dazu auf, sich in den Ratsverhandlun- heißt SEPA, wird kommen. Das ist gut und richtig.
gen von den bisher dargestellten Überlegungen leiten zu SEPA ist ein wichtiger Bestandteil des Binnenmarktes
lassen und dafür einzutreten, dass für das Überweisungs- und hilft auf Dauer, unnötige Kosten durch einen zer-
verfahren und das Lastschriftverfahren einheitliche splitterten Zahlungsverkehrsraum in Europa zu ver-
Übergangsfristen von 48 Monaten festgelegt werden, die meiden. Die Kommission ist aktiv geworden, weil der
Verbraucher für inländische Überweisungen in Deutsch- Umstellungsprozess nicht in der Geschwindigkeit vo-
land die ihnen geläufigen Kundenkennungen, die kurz rangetrieben wurde, wie wir es uns gewünscht hätten.
und dadurch verbraucherfreundlich sind, auch nach dem Europaweit liegt beispielsweise der Anteil von SEPA-
Enddatum noch nutzen können, zugunsten von Verbrau- Überweisungen bei unter 10 Prozent aller Euro-Über-
chern Zahlungsdienstleister in Deutschland ausschließ- weisungen. Die deutschen Werte liegen noch deutlich
lich Lastschriften zur Einlösung annehmen dürfen, bei darunter. In anderen europäischen Staaten ist die Um-
denen ein voraussetzungsloses Erstattungsrecht des Zah- stellung dagegen teilweise schon weit fortgeschritten.
lungspflichtigen vorgesehen ist und das bewährte elek- Ich hätte es besser gefunden, wenn die Kreditwirtschaft
tronische Lastschriftverfahren für einen Übergangszeit- selbst – auf freiwilliger Basis – diesen Umstellungspro-
raum weiter genutzt werden kann, der erst endet, wenn zess entschiedener und schneller vorangetrieben hätte.
ein mit dem ELV vergleichbares europäisches Produkt Leider ist es dazu nicht gekommen. Deswegen ist es nur
durch die Kreditwirtschaft am Markt angeboten wird. konsequent, dass die Kommission auf das Tempo drückt.
Allerdings sind mit dem Vorschlag der Kommission
Darüber hinaus fordern wir die Kreditwirtschaft dazu auch einige Nachteile verbunden. Um Umstellungspro-
auf, den Umstellungsprozess auf SEPA transparent zu bleme, einen unnötigen bürokratischen Aufwand und
gestalten und Informationsdefizite auf der Nutzerseite eine mangelnde Akzeptanz bei den Nutzern zu vermei-
12474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) den, ist es daher wichtig, neben den berechtigten Interes- gen einzusetzen. Aber nicht nur die Regierung ist gefor- (C)
sen der Kreditwirtschaft insbesondere die Interessen der dert. Die Kreditwirtschaft wird einen wesentlichen Bei-
Verbraucher in den Mittelpunkt zu stellen. Aufzuhalten trag leisten müssen, um die Umstellung auf einheitliche
ist der SEPA-Prozess, wie bereits ausgeführt, nicht. Da- europäische Zahlungsverkehrsprodukte in Deutschland
her geht es jetzt darum, diesen Prozess angesichts der zu einem Erfolg zu machen. So liegt es vor allem im
Besonderheiten des deutschen Zahlungsverkehrs ver- Verantwortungsbereich der Kreditwirtschaft, eine einfa-
nünftig zu gestalten. Und genau das möchten wir mit un- che Migration der Lastschriftaufträge sicherzustellen,
serem Entschließungsantrag auf den Weg bringen. Fol- ihre Kunden zu informieren und einfache Konvertie-
gende Punkte erscheinen uns dabei besonders wichtig: rungsmöglichkeiten für die Weiternutzung der bisheri-
gen Kontonummern anzubieten.
Erstens. Es ist richtig, verbindliche Enddaten für das
Weiterbestehen der nationalen Überweisungs- und Last- Ich bin zuversichtlich, dass die Umstellung auf die
schriftsysteme einzuführen, um Planungs- und Rechts- einheitlichen Zahlungsverkehrsinstrumente bei Berück-
sicherheit zu schaffen. Für eine erfolgreiche Umstellung sichtigung unserer Forderungen Vorteile für Verbraucher
auf SEPA-Überweisungen und -Lastschriften ist aber und Kreditwirtschaft bietet. Für die Übergangsperiode
eine deutlich längere Frist erforderlich. Dies böte auch muss unnötige Bürokratie vermieden und eine prakti-
die Gelegenheit, Verbraucher und Endnutzer besser zu kable Lösung für Handel und Verbraucher gefunden
informieren. werden. Letztlich wollen wir alle einen europäischen
Binnenmarkt. Wenn wir das ernst meinen, dann müssen
Zweitens. Angesichts des hohen Anteils von Last- wir konsequenterweise akzeptieren, dass nicht alle Re-
schriftzahlungen in Deutschland ist es von besonderem gelungen eins zu eins den bisher gewohnten deutschen
Interesse, bestehende Lastschriftaufträge so einfach wie Regelungen entsprechen. Regelungen zum europäi-
möglich auf das neue SEPA-Lastschriftverfahren zu schen Binnenmarkt können nicht allen deutschen Beson-
übertragen. Daher fordern wir die Kreditwirtschaft auf, derheiten gerecht werden; denn diese europäischen Re-
eine Umstellung durch eine praktische und rechtssichere gelungen, ob Verordnungen oder Richtlinien, sind immer
Änderung ihrer AGB zu ermöglichen. ein Kompromiss – und eben nicht die Übertragung von
Drittens. In Deutschland sollen weiterhin lediglich deutschen Vorschriften auf die europäische Ebene. Und
Lastschriftverfahren angeboten werden, bei denen ein ich glaube, das ist auch gut so. Daher lohnt es sich, sich
voraussetzungsloses Erstattungsverfahren möglich ist. in den Verhandlungen auf die wesentlichen Interessen zu
Diese Erstattungsmöglichkeit hat wesentlich zur Akzep- konzentrieren und nicht an jeder Stelle „deutsche“ Be-
tanz und Verbreitung dieses Zahlungsverkehrsinstru- sitzstände zu verteidigen, so gerechtfertigt und nachvoll-
ments beigetragen. Durch eine Umstellung auf SEPA- ziehbar dies im Einzelfall auch sein mag. Ich denke, dem
(B) Lastschriften sollte dieses Verbraucherrecht nicht beein- kommen wir mit unserem Entschließungsantrag nach. (D)
trächtigt werden. Ich freue mich, dass auch die SPD und die Grünen die
Anliegen unseres Antrages unterstützen. Damit senden
Viertens. Das im Handel weit verbreitete elektroni- wir ein deutliches Zeichen in die Beratungen des Euro-
sche Lastschriftverfahren sollte für einen Übergangszeit- päischen Parlaments und geben der Bundesregierung
raum erhalten bleiben, bis ein vergleichbares europäi- Rückhalt für die Verhandlungen im Europäischen Rat.
sches Produkt angeboten wird.
Fünftens. Im Interesse der Verbraucher ist es auch, die Martin Gerster (SPD): Es ist schon etwas Besonde-
gewohnten Kontonummern und Bankleitzahlen nach ei- res, wenn Zahlen und Nummern einen Eigennamen be-
ner Umstellung auf SEPA-Überweisungen weiter nutzen kommen. So etwas kennt man normalerweise eher aus
zu können. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, der Mathematik als aus der Politik. Und gerade im nor-
sich für eine Weiternutzungsmöglichkeit einzusetzen. malerweise recht nüchternen Bereich der Finanzpolitik
Die Kreditwirtschaft ist aufgefordert, eine verbraucher- dürfte es vermutlich noch seltener vorkommen, dass der-
freundliche, kostenlose Konvertierungsmöglichkeit an- art abstrakte Dinge unter hochemotionalen Spitznamen
zubieten. abgehandelt werden.
Sechstens. Für den Erfolg und die Akzeptanz der Im Zuge der Einführung der SEPA, des einheitlichen
neuen Zahlungsverkehrsprodukte wird eine deutlich bes- europäischen Zahlungsraums, haben wir es nun mit ge-
sere Information der Endnutzer und Verbraucher über nau so einem Fall zu tun: Die Nummer, um die es nun
die anstehenden Änderungen entscheidend sein. Wir er- geht, hat 22 Stellen und soll vereinzelt „IBAN die
warten daher von der Kreditwirtschaft, dass sie ihre Schreckliche“ getauft worden sein. Gleich vorweg: Ich
Kunden über die anstehenden Änderungen ausreichend halte die Aufregung, mit der zum Teil über die seit län-
aufklärt; denn die Verunsicherung ist immer noch sehr gerem anstehende Einführung der 22-stelligen Konto-
groß. Beispielsweise wird die Gefahr, alle Aufträge neu nummern diskutiert wird, für übertrieben. Auch halte ich
erteilen zu müssen, angesichts des übereinstimmenden es für falsch, die SEPA-Einführung auf die Durchset-
Willens aller Beteiligter auf europäischer und nationaler zung des IBAN-Standards zu verkürzen. Hinter SEPA
Ebene, eine einfache Migration der Aufträge zu ermögli- steht das Bestreben, künftig einheitliche Verfahren und
chen, eher überschätzt. Auch wird zum Beispiel der Vor- Standards im Euro-Zahlungsverkehr zu schaffen und so-
teil der in die IBAN eingebauten Prüfziffern bisher kaum mit einen einheitlichen Binnenmarkt in diesem Sektor
wahrgenommen. Wir fordern die Bundesregierung auf, zuermöglichen. Unterschiedliche nationale Lastschrift-
sich für diese Anliegen in den anstehenden Verhandlun- und Überweisungsverfahren stehen dieser Idee im Wege.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12475
(A) Es hat sich gezeigt, dass die gesteckten Ziele auf dem lange weiter angewandt werden dürfen, bis auf euro- (C)
Wege der freiwilligen Einführung kaum zu erreichen päischer Ebene eine vergleichbare SEPA-kompatible Lö-
sein würden. Deshalb hat die EU-Kommission im De- sung gefunden ist. Überdies wäre es sehr hilfreich, das
zember 2010 vorgeschlagen, auf dem Wege einer Ver- kundenfreundlichere deutsche Widerspruchsrecht gegen
ordnung verbindliche Übergangsfristen für die Nutzung eingezogene Lastschriften zu erhalten. Man wird sehen
der IBAN einzuführen. müssen, was die Bundesregierung im Zuge der Verhand-
lungen im Rat und im Europäischen Parlament erreichen
Was verspricht man sich davon? Gelingt die flächen- kann.
deckende Einführung der SEPA-Standards, werden vor
allem Auslandsüberweisungen schneller und einfacher. Innerhalb Europas fehlt es Deutschland in dieser
Lastschriften können im Rahmen der SEPA grenzüber- Frage an Verbündeten. Umso wichtiger ist das Signal,
schreitend erteilt werden. Davon profitieren wir auch in das wir mit dem heute zur Abstimmung vorliegenden
Deutschland und das nicht nur im Bereich multinationa- Antrag setzen wollen. Einen ähnlichen Schritt hatte ich
ler Unternehmen. Richtig ist aber auch, dass die Men- schon Anfang Februar im Zuge der Ausschussberatun-
schen in Deutschland nicht im gleichen Umfang von den gen angeregt. Damals meinte ich über alle Fraktions-
Vorzügen des neuen Systems profitieren werden, wie es grenzen hinweg Interesse an der gemeinsamen Formulie-
in kleineren Länder, zum Beispiel den Beneluxstaaten, rung einer parlamentarischen Initiative zu erkennen, die
der Fall sein dürfte. Denn hier geht ein merklich größe- unsere Position im Verhandlungsprozess stärken könnte.
rer Anteil von Überweisungen ins benachbarte Ausland. Doch trotz aller anders lautenden Bekundungen haben
Deutschland ist der größte Zahlungsmarkt innerhalb der Bundesregierung und Koalition bis in letzter Minute die
EU und greift am intensivsten auf Lastschriftverfahren Chance nicht genutzt, uns als Opposition ernsthaft einzu-
zurück. binden. Während die Kolleginnen und Kollegen im EU-
Parlament offensichtlich proaktiv auf dem Laufenden ge-
Deshalb müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die halten wurde, hielten es Bundesregierung und Koalition
anstehende Umsetzung der Verordnung unsere Verbrau- bis kurz vor Toresschluss offenbar nicht für erforderlich,
cher, unsere Unternehmen und die Kreditwirtschaft vor die parlamentarische Opposition im Deutschen Bundes-
einige Herausforderungen stellen wird. Viele können tag in Sachen Information und Mitsprache mit einzube-
nicht nachvollziehen, warum ein gut etabliertes Last- ziehen. Schade.
schriftsystem wie das deutsche elektronische Lastschrift-
verfahren, ELV, im Zuge einer solchen Europäisierung Bis Montagnachmittag gab es keinerlei Anzeichen,
aufgegeben werden soll. Insgesamt ist SEPA hierzulande dass überhaupt eine Entschließung in Vorbereitung ist.
noch kaum im Bewusstsein der Menschen angekommen. Erst am Dienstagnachmittag wurde uns die Vorlage des
Textes zugestellt, über den wir ohne Beratung in den zu- (D)
(B) Statt solider Information herrscht tendenziell Verunsi-
cherung, und nach meiner Auffassung reichen die bishe- ständigen Gremien hätten abstimmen sollen. Als Sozial-
rigen Bemühungen nicht aus, über die Funktionsweise demokraten freut es uns natürlich, dass wir letztendlich
oder die Vor- und Nachteile von SEPA und der damit doch die Gelegenheit hatten, uns spontan in die inhaltli-
verbundenen Richtlinien aufzuklären. Vor allem steht che Weiterentwicklung des Antrags einzubringen. Aber
nach wie vor die Angst im Raum, dass es nicht möglich es hätte Ihnen besser zu Gesicht gestanden, rechtzeitig
sein wird, erteilte Einzugsermächtigungen problemlos in mit allen Seiten in Kontakt zu treten und eine anständige
SEPA-Mandate umzuwandeln. Um einmal den Maßstab Beratung des Antrags zu ermöglichen. Die ernsthafte
der Umstellung zu verdeutlichen: Wir sprechen hier von und aufrichtige Suche nach fraktionsübergreifender Un-
einer Zahl von 700 Millionen erteilter Abbuchungser- terstützung aus den Reihen der Opposition sieht meiner
laubnisse. Speziell Vereine und gemeinnützige Organisa- Meinung nach anders aus, als Sie es hier vorgemacht ha-
tionen fürchten, von ihren Mitgliedern neue SEPA-kom- ben.
patible Einzugsermächtigen einholen zu müssen. Diese Mit Blick auf das Ergebnis: Uns war es wichtig fest-
Belastung wäre finanziell und organisatorisch unzumut- zuschreiben, dass die Bundesregierung klar in der Pflicht
bar. ist, die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher
Zwar sind wir optimistisch, dass es auf diesem Feld nicht nur bei den Verhandlungen in Brüssel, sondern
gelingen wird, eine unbürokratische Lösung zu finden auch im Zusammenspiel mit der deutschen Kreditwirt-
und diese gemeinsam mit der deutschen Kreditwirtschaft schaft zu vertreten. Denn es ist entscheidend, dass auch
umzusetzen. Dennoch ist es wichtig, bei den in Brüssel von Regierungsseite alles dafür getan wird, die Öffent-
anstehenden Verhandlungen deutliche Zeichen zu set- lichkeit ausreichend über die Hintergründe der SEPA-
zen, dass die abschließende Regelung möglichst allen Umstellung aufzuklären und dem verbreiteten Miss-
Besonderheiten der deutschen Situation gerecht wird. trauen entgegenzuwirken, wo es richtig und notwendig
ist.
Das bezieht sich zunächst auf die Frage hinreichend
langer Übergangsfristen, die für die erfolgreiche Umset- Mit dieser Klarstellung können wir dem Antrag zu-
zung – und letztlich die Akzeptanz – der SEPA-Regelun- stimmen und wünschen ihm möglichst breite Unterstüt-
gen essenziell wichtig sind. Ideal wäre es natürlich, den zung aus allen Fraktionen des Hauses.
Verbraucherinnen und Verbrauchern auch nach der Um-
stellung zu ermöglichen, die alten Kontonummern und Frank Schäffler (FDP): Wir geben der Regierung
Bankleitzahlen zu verwenden, wenn es um inländische für die schon Ende des Monats auf europäischer Ebene
Überweisungen geht. Ebenso sollte das deutsche ELV so stattfindenden Verhandlungen eine wichtige Handrei-
12476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) chung mit auf den Weg, mit der wir die Bedeutung der abgeschafft wird. Man stelle sich den Unmut vor, wenn (C)
Schaffung eines einheitlichen Euro-Zahlungsraums un- wir ein solches Gesetz im Bundestag beschlössen.
terstreichen. Aus unserer Sicht wäre die erstbeste Lö-
Daher ist es richtig, dass wir die Bundesregierung
sung gewesen, wenn wir die Vereinheitlichung dem
auffordern, für den übergangsweisen Erhalt der deut-
Markt überlassen hätten können. Die großen deutschen
schen Lastschriftverfahren einzutreten. Ebenso richtig
Privatbanken und zunehmend auch ihre kleineren Bran-
ist es, dass wir die Kreditwirtschaft zur Entwicklung ei-
chenkollegen verstehen sich eher als europäisch denn als
nes Produkts auffordern, das den deutschen Lösungen
deutsch handelnde Unternehmen. Sie sind im Binnen-
vergleichbar ist.
markt nicht weniger zu Hause als in Deutschland, sie
agieren in Paris, London und Frankfurt gleichermaßen.
Früher oder später wäre es daher zu einem marktgetrie- Harald Koch (DIE LINKE): Das Ziel, einen einheit-
benen Vereinheitlichungsprozess auf europäischer Ebene lichen Euro-Zahlungsverkehrsraum (SEPA) zu schaffen,
gekommen. also bargeldlose Zahlungsverfahren in den Teilnehmer-
ländern zu standardisieren, sodass es für Bankkunden
Das hat historische Vorbilder. So gibt es etwa für das keine Unterschiede zwischen nationalen und grenzüber-
deutsche System aus Kontonummer und Bankleitzahl schreitenden Zahlungen mehr gibt, begrüßen wir. Doch
keine gesetzliche Grundlage. Die Banken selbst haben sollte man berücksichtigen, dass der grenzüberschrei-
mit innovativer Kraft einen einheitlichen Zahlungsraum tende Zahlungsverkehr nur einen sehr geringen Prozent-
in Deutschland geschaffen. Im Laufe der Zeit hätten sich satz des gesamten Zahlungsverkehrs ausmacht. In allen
auch die europäischen Banken auf ein einheitliches Sys- Mitgliedstaaten waren Ende 2010 weniger als 10 Prozent
tem geeinigt. Nicht immer braucht es den Staat. Der im- aller Überweisungen und weniger als 0,1 Prozent der
merwährende Kostendruck, dem gewinnorientierte Un- Lastschriften SEPA-Produkte. Dies zeugt auch davon,
ternehmen ausgesetzt sind, treibt die Unternehmen dazu dass SEPA-Verfahren wenig anerkannt sind und die
an, sich auf sinnvolle Lösungen zu einigen. Nachfrage mäßig ist.
Nun hat sich die Kommission entschlossen, dem Für die Masse der Verbraucherinnen und Verbraucher
marktgetriebenen Prozess zuvorzukommen. Mit ihrem hat der inländische Zahlungsverkehr und seine Ausge-
Vorhaben beabsichtigt sie, einheitliche Standards zu set- staltung die größte Bedeutung. Hierauf muss man auch
zen, an deren Ausarbeitung die wichtigen Interessenver- bei der Errichtung eines europäischen Zahlungsverkehrs-
bände der europäischen Banken intensiv beteiligt waren. binnenmarktes Rücksicht nehmen. Die Kundenkennun-
Diese einheitlichen Standards werden erhebliche Kosten- gen in Deutschland, Kontonummer und Bankleitzahl,
einsparungen für die Banken mit sich bringen. Insofern sind vertraut, anerkannt, relativ kurz und verbraucher-
(B) haben wir mit dem Vorhaben der Kommission eine freundlich. Mit der 22-stelligen europäischen Kontonum- (D)
zweitbeste Lösung. Nichtsdestotrotz ist dies eine gute mer IBAN und der bis zu 11-stelligen Bankleitzahl BIC
Lösung; denn das wesentliche Ziel der Kosteneinsparun- werden die Bankkunden, gerade ältere Menschen, schnell
gen bei der Abwicklung innereuropäischer Zahlungen überfordert. Die Zahlen- und Buchstabenflut ist sehr feh-
wird erreicht. Die Regelung auf europäischer Ebene leranfällig; Zahlendreher gehen letztlich zulasten des
bringt aber – das ist ein typisches Problem – Schwierig- Verbrauchers.
keiten im Hinblick auf unsere nationalen Besonderheiten Auch das in Deutschland vom Handel entwickelte
mit sich. Unsere Lastschriftverfahren haben sich über elektronische Lastschriftverfahren ist ein Erfolgsmo-
die Jahre herausgebildet. Sie funktionieren außerordent- dell. Wie die Verbraucherzentralen befürchtet die Linke,
lich gut. Sie genießen eine hervorragende Akzeptanz in dass durch Nivellierung der rechtlichen und technischen
der Bevölkerung. Es existiert eine sehr hohe Rechtssi- Standards im Zuge der SEPA-Lastschrift sinnvolle und
cherheit für Banken und Kunden durch eine über die kostengünstige Errungenschaften über Bord geworfen
Jahre gewachsene Rechtsprechung. Die Vorteilhaftigkeit werden. Der Wegfall des bewährten Lastschriftverfah-
des Systems zeigt sich an seiner millionenfachen Ver- rens würde dazu führen, dass viele Vereine, Verbände,
wendung. Zu dieser kommt es nur, weil Banken und Bürgerinitiativen, aber auch Firmen bei ihren Mitglie-
Kunden gleichermaßen davon profitieren. Die Abkehr dern und Kunden Unterschriften neu einfordern müssen.
von diesem System wird den Verbrauchern schwerfallen. Dieser Aufwand mit allen dazugehörigen Unwägbarkei-
Es ist daher die Aufgabe der Branche, für die Akzeptanz ten wie zusätzliche Kosten ist überflüssig und darf den
ihrer neuen SEPA-Produkte zu sorgen. Um den Über- Betroffenen nicht zugemutet werden. Es leuchtet insge-
gang zu erleichtern, fordern wir weiter von der Bundes- samt nicht ein, warum die gut funktionierenden inländi-
regierung eine lange Übergangsperiode, während derer schen Zahlungsarten, ohne intensiv mögliche Folgen zu
die Verbraucher von den alten bewährten Verfahren Ge- bedenken, abgeschafft oder dramatisch verschlechtert
brauch machen können. Das ist sinnvoll, stärkt die werden sollen! Insofern ist der Antrag von Union und
Akzeptanz des neuen Verfahrens und sorgt für eine rei- FDP nicht schlecht und greift einige wichtige Forderun-
bungslose Umstellung. gen auf.
Wichtigster Punkt ist die Beibehaltung des von der Die Linke will ebenfalls die Voraussetzungen dafür
Rechtsprechung entwickelten Schutzniveaus. Die Rück- schaffen, auch nach Ende der Übergangsfrist Kontonum-
gabe von Lastschriften ist für die Verbraucher in langen mer und Bankleitzahl weiter nutzen zu können. Ein
Fristen und gebührenfrei möglich. Wir wollen nicht, zwingendes voraussetzungsloses Erstattungsrecht – das
dass über den europäischen Umweg dieses Schutzniveau heißt, bei erteilter Einzugsermächtigung hat der Zah-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011 12477
(A) lungspflichtige das Recht, der Kontobelastung fristge- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
mäß ohne Angabe von Gründen zu widersprechen – se- Zunächst zum Verfahren. Dass wir hier einen Antrag zu
hen wir als dringend geboten an. Hier sollten aus unserer dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine
Sicht einzelne Mitgliedstaaten nicht ausscheren und Pro- „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Ra-
dukte ohne Erstattungsrecht verwenden dürfen. tes zur Festlegung der technischen Vorschriften für
Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Ände-
Die Linke begrüßt zugleich, dass sich die Bundesre-
rung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009“ diskutieren, ist
gierung zumindest an dieser Stelle nicht komplett zum
willfährigen Handlanger der Kreditwirtschaft machen gut. Unverständlich ist, warum wir ihn ohne inhaltliche
lässt und so unter anderem von ihr verbraucherfreundli- Ausschussberatung heute abstimmen müssen. Dass es
che, entgeltfreie Konvertierungsmöglichkeiten fordert. jetzt so eilt, kann bei einer europäischen Gesetzgebungs-
Damit sollen inländische Kundenkennungen rechtssicher initiative, die seit Monaten bekannt ist, nur auf Versäum-
auf das SEPA-Format überführt werden. Es ist an der nisse in den Reihen der Koalition zurückgehen. Und
Zeit, dass die Kreditwirtschaft die zweifelsohne vorhan- noch unverständlicher ist es, dass die Koalitionsfraktio-
denen technischen Möglichkeiten auch nutzt. nen noch nicht einmal versucht haben, zu einem gemein-
samen Antrag mit der Opposition zu kommen, wie wir
Uns hätten im Antrag an dieser Stelle noch explizite das in der Vergangenheit häufig erfolgreich gemacht ha-
Hinweise auf Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestim- ben und nachdem in einer früheren Befassung zum
mungen sowie auf Schutzmaßnahmen gegen Betrug, Thema im Finanzausschuss große Übereinstimmungen
zum Beispiel Sicherheitssysteme mit Prüfzifferverfah- erkennbar waren. Schließlich gibt es Stellungnahmen
ren, gefreut. des Bundestags zu europäischen Themen ein besonderes
Die Antragssteller fordern schließlich, dass das elek- Gewicht, wenn wir gemeinsam vorgehen. Inhaltlich kön-
tronische Lastschriftverfahren für eine Übergangszeit nen wir dem Antrag der Koalitionsparteien zustimmen.
weitergenutzt werden kann, die dann endet, wenn ein Wir Grünen befürworten die zugrunde liegende Ziel-
vergleichbares europäisches Produkt durch die Kredit- setzung der Kommission, den europäischen Zahlungsver-
wirtschaft angeboten wird. kehr durch einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrs-
An dieser Stelle ist Ihr Antrag viel zu schwammig. raum, Single Euro Payments Area, im Sinne einer
Sie hätten schon die Alternative genauer ausführen müs- Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes zu ver-
sen. Man muss sich fragen, ob im Endeffekt die Pro- einfachen. Allerdings bringt die im Verordnungsvor-
dukte wirklich vergleichbar sind oder letztlich doch für schlag vorgesehene komplette Umstellung auf den ein-
die Verbraucherinnen und Verbraucher ein kostenpflich- heitlichen Euro-Zahlungsraum in der derzeitigen Fassung
(B)
tiges Produkt auf den Markt gebracht wird. Im Antrag ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutsch- (D)
an einer Stelle die Rede von einem „kostengünstigen“ land Nachteile mit sich. Aus diesem Grund fordern wir
Produkt. Das gibt zu denken, wenn man berücksichtigt, die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der Ratsver-
dass bislang das elektronische Lastschriftverfahren für handlungen im Sinne der folgenden Überlegungen einzu-
die Endkunden kostenfrei war. setzen: Zunächst muss man feststellen, dass der Verord-
nungsvorschlag einige Probleme nicht berücksichtigt, die
Alles in allem wird die Branche mit der Einführung sich im Lichte der Umstellung von dem nationalen auf
von SEPA Effizienzgewinne in Milliardenhöhe verbu- das europäische Zahlungsregelungsregime ergeben. So
chen können. Sorgen Sie dafür, dass diese nicht einfach ist die Vorgabe von Fristen für das Weiterbestehen der
„eingesackt“, sondern an die Verbraucherinnen und Ver- nationalen Überweisungs- und Lastschriftverfahren zwar
braucher weitergegeben werden! erforderlich, um Planungs- und Rechtssicherheit für Ver-
Im Zuge des SEPA-Verfahrens fallen einem dann braucherinnen und Verbraucher als auch für Zahlungs-
noch zwei weitere Dinge auf: Zum einen ist es verwun- dienstleister zu schaffen. Gleichzeitig muss aber sicher-
derlich, dass die Kreditbranche hier nicht in der Lage ist, gestellt werden, dass es für das Überweisungs- und
Fragen des Zahlungsverkehrs, der einer ihrer Kernberei- Lastschriftverfahren einen gemeinsamen Endtermin so-
che ist, intern und selbstständig zu klären und stattdessen wie eine angemessene Übergangsfrist gibt. Das ist not-
der Staat eingreifen muss. Zum anderen zeigt sich wie- wendig, um den Übergangsprozess vom nationalen
der einmal allzu deutlich, dass die auf der EU-Ebene an- Rechtsrahmen hin zu SEPA-Produkten für Verbrauche-
gestrebte Harmonisierung oftmals zulasten der Verbrau- rinnen und Verbraucher so transparent wie möglich zu
cherinteressen geht. gestalten.
Abschließend bedauere ich, dass dieser Antrag nicht Gleichzeitig muss darauf hingewirkt werden, dass in
regulär im Finanzausschuss aufgesetzt und behandelt den Verordnungsvorschlag aufgenommen wird, dass
wurde. Dadurch fand keine vernünftige Beratung statt, Verbraucherinnen und Verbraucher für inländische Zah-
und viele Fragen blieben unbeantwortet im Raum ste- lungen in Deutschland die ihnen bisher vertrauten und
hen. Union und FDP wollten dies alles alleine durchzie- im Verhältnis zur IBAN, International Bank Account
hen. Gemeinsames Handeln mit den Oppositionsfraktio- Number, bzw. BIC, Bank Identifier Code, kurzen Kun-
nen hätte Fragezeichen verschwinden und den Antrag denkennungen, Kontonummer und Bankleitzahl, auch
besser machen können. Aus den genannten Gründen ent- weiterhin nutzen können. Die bisher im Verordnungs-
hält sich die Fraktion Die Linke bei diesem Antrag. entwurf vorgesehene verpflichtende Angabe der IBAN
12478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2011
(A) im Überweisungsauftrag durch den Verbraucher ist un- Weiterhin muss sich die Bundesregierung mit Nach- (C)
nötig. druck dafür einsetzen, dass die Kreditwirtschaft die Um-
stellung bestehender Einzugsermächtigungen auf SEPA-
Zugleich sollte der Zahlungsdienstleister für die Um- Lastschriftmandate rechtzeitig vornimmt und dafür ver-
wandlung von Kontonummer und Bankleitzahl in IBAN, braucherfreundliche und praxisnahe Lösungen schafft.
für die schon heute automatische und kostengünstige Falls hier gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehen
Programme bestehen, Verbrauchern kein Entgelt in sollte, muss das dem Bundestag rechtzeitig mitgeteilt
Rechnung stellen dürfen. werden. In diesem Zusammenhang fordern wir von der
Des Weiteren muss im Sinne der Verbraucherinnen Kreditwirtschaft, rechtzeitig vor der Umstellung auf die
und Verbraucher dafür Sorge getragen werden, dass kos- SEPA-Produkte die Verbraucherinnen und Verbraucher
tengünstige und bewährte Zahlungsverkehrsprodukte im Rahmen einer Informationskampagne aktiv aufzuklä-
weiterhin Bestand haben können. Das kartengestützte ren. Immerhin zeigte sich erst kürzlich im Rahmen der
und kostengünstige elektronische Lastschriftverfahren Einführung der Kraftstoffsorte E 10, welche Unsicher-
soll so lange erhalten bleiben, bis ein vergleichbares eu- heit und Unzufriedenheit eine ausbleibende bzw. ver-
ropäisches Produkt am Markt angeboten wird. Eine Ab- fehlte Informationspolitik seitens Bundesregierung und
schaffung des elektronischen Lastschriftverfahrens Wirtschaft bei Verbraucherinnen und Verbrauchern er-
brächte eine nicht wünschenswerte Verringerung des zeugen kann.
Wettbewerbs unter den Zahlungsverkehrsprodukten mit
sich. Abschließend möchte ich betonen, dass dringend si-
chergestellt werden muss, dass es künftig faire Kosten
Gleichfalls ist zu berücksichtigen, dass das Einzugs- für SEPA-Produkte gibt. Jedenfalls sollten Verbrauche-
ermächtigungsverfahren bislang das Recht vorsieht, der rinnen und Verbraucher keine höheren Gebühren zu zah-
Belastung des Kontos innerhalb einer Frist ohne Nen- len haben, als sie diese für vergleichbare Überweisungen
nung eines Grundes zu widersprechen, und damit einen und Lastschriften nach bisherigem Regelungsregime ge-
effektiven Schutz vor unberechtigten Abbuchungen ge- zahlt hätten. Gewährleistet werden kann das, indem in
währt. Diese Widerspruchsmöglichkeit als Korrektiv für Art. 6 des Verordnungsvorschlags eine entsprechende
unberechtigte Belastungen muss erhalten bleiben. Um Höchstpreisgrenze eingefügt wird. Damit wäre zugleich
einen effektiven Schutz vor unberechtigten Zahlungen sichergestellt, dass keine Umstellungskosten auf Ver-
zu gewährleisten, braucht es effektive Kundenrechte. braucherinnen und Verbraucher abgewälzt werden.
(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980